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German Pages [383] Year 2008
Eckhard Romanus
Soziale Gerechtigkeit, Verantwortung und Wrde Der egalitre Liberalismus nach John Rawls und Ronald Dworkin
BAND 80 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495996959
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Der Autor über sein Buch: Nach liberaler Aufassung bezeichnet soziale Gerechtigkeit die moralische Intuition, dass die Lebensaussichten der Menschen von ihren eigenen Entscheidungen abhängen sollten, nicht aber von den sozialen Umständen, für die sie nichts können. Dieser grundlegende Gedanke hat eine Kehrseite: Soziale Ungleichheiten, die sich auf die freiwilligen Entscheidungen der Menschen zurückführen lassen, gelten als gerechtfertigt. Die Verantwortung des Wohlfahrtsstaats für die Bedingungen gleicher Freiheit findet in der Idee der primären Verantwortung der Person für das Gelingen ihres Lebens ihre Grenze. Die Frage, wie sie zu ziehen sei, ist freilich nicht nur Gegenstand politischer Kontroversen über die Zukunft des Sozialstaats, sondern auch in der philosophischen Debatte seit Rawls heftig umstritten. In seinem Buch unterscheidet Eckhard Romanus drei Kontexte sozialer Gerechtigkeit, in denen jeweils ein besonderes Gerechtigkeitsprinzip zur Anwendung gelangt: Chancengleichheit, Tausch- bzw. Kooperationsgerechtigkeit und soziale Sicherheit. Erst diese Unterscheidung ermöglicht ein kritisches Verständnis der Idee der Eigenverantwortung, die mehr sein soll als eine mythologische Rechtfertigung des ökonomischen Laisser-faire. Diese komplexe Konzeption sozialer Gerechtigkeit folgt aus dem Grundsatz des Respekts der Menschenwürde aller Gesellschaftsmitglieder. Gerechtigkeit richtet sich – so die grundlegende These – gegen solche Machtungleichheiten im sozioökonomischen Kontext, die die Menschen demütigen. Somit ist dieses Buch eine Verteidigung des Egalitarismus gegen seine Gegner. Der Autor: Eckhard Romanus, geb. 1969, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte, Promotion 2004, z. Z. Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt/M.
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 80
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Eckhard Romanus
Soziale Gerechtigkeit, Verantwortung und Wrde Der egalitre Liberalismus nach John Rawls und Ronald Dworkin
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495996959 .
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Originalausgabe Zugl.: Frankfurt/M., Univ., Diss., 2004 Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2008 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SansSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2008 www.difo-druck.de ISBN 978-3-495-48280-3
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Inhaltsverzeichnis
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rawls über Chancengleichheit, Eigenverantwortung und Selbstachtung. Zur Begründung einer egalitaristischen Auffassung von Chancengleichheit . . . . . . . . . . . .
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2.1 Zum Ursprung des klassischen Chancengleichheitsgedankens: Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rawls: Chancengleichheit, Verdienst und natürliche Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Exkurs: Zum Begriff des Verdienstes . . . . . . . . . . . 2.4 Zum Vorrang des Verdienstes bei Rawls . . . . . . . . . 2.5 Die Begründung des Chancengleichheitsprinzips und seines Vorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Geht der Vorrang des Chancengleichheitsprinzips zu weit? Zum Wert der Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Unparteilichkeit und Eigenverantwortung im Kontext der Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit . . . . . . .
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Der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Ethik in Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit . . . . . .
3.1 Zum Begriff ethischer Verantwortung: Charles Taylors Konzept starker Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Liberalismus und das gute Leben . . . . . . . . . . . . 3.3 Willkürliche vs. kritische Interessen . . . . . . . . . . 3.4 Soziale Gerechtigkeit und Selbstverantwortung . . . . 3.5 Der Wert subjektiver Überzeugungen . . . . . . . . .
26 33 37 48 52 62 68
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. 79 . 90 . 93 . 96 . 114
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Inhaltsverzeichnis
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Über die Grundlagen einer liberalen Theorie sozialer Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
4.1 Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Freiheit und Gleichheit als konkurrierende Werte 4.3 Recht und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Dworkins Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Freiheit vs. Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Brückenstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Freiheit und soziale Verantwortung . . . . . . . .
. . . . 124 . . . . 128 . . . . 134 . . . . 134 . . . . 137 . . . . 143 . . . . 152
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.1 Statusgleichheit vs. Verteilungsgleichheit . . . . . . . . 164 5.2 Dworkins »partnerschaftliches« Demokratiemodell . . . 178
5
Politische Gleichheit
6
Marktgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Gleiche Marktfreiheiten: Das Versteigerungsmodell Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit« . . . . Einkommen und Verdienst . . . . . . . . . . . . . Das Versicherungsmodell I: Workfare . . . . . . . »Schicksalsgleichheit« vs. Kooperationsgerechtigkeit
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Versicherungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 241
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188 194 203 209 226
7.1 Grundlagen der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . 242 7.2 Das Versicherungsmodell II: Krankenversicherung . . . . 261 7.3 Das Versicherungsmodell III: Arbeitslosenversicherung . 284
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Recht auf Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
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Was ist Arbeit? Über das Verhältnis von Familien- und Erwerbsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
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Inhaltsverzeichnis
10 Schluss: Egalitarismus im Kontext sozialer Gerechtigkeit 10.1 Moralischer Egalitarismus . . . . . . . . 10.2 Chancengleichheit, Familie und Suffizienz 10.3 Anerkennung statt Achtung? . . . . . . . 10.4 Würde und Gleichheit . . . . . . . . . . . 10.5 Würde und soziale Sicherheit . . . . . . . 10.6 Würde und Chancengleichheit . . . . . . 10.7 Würde und Tauschgerechtigkeit . . . . . 10.8 Vier Prinzipien sozialer Gerechtigkeit . .
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315 316 321 331 346 349 361 366 370
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
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1 Einleitung
Beginnen wir mit einem prominenten Beispiel, der Parabel über den Weinberg bei Matthäus (20:1–16)! Die Parabel handelt vom Besitzer eines Weinbergs, der früh am Morgen ausgeht, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Er vereinbart mit den Tagelöhnern einen Silbergroschen als Lohn und schickt sie in den Weinberg. Nach drei Stunden geht er wieder auf den Markt, findet weitere Tagelöhner und schickt sie ebenfalls dorthin. Im Verlauf des Tages stellt der Weinbergbesitzer weitere Tagelöhner ein, nach sechs, nach neun und nach elf Stunden. Am Ende des Tages erhalten alle Arbeiter den gleichen Lohn: den Silbergroschen, den der Hausherr mit den zuerst eingestellten Tagelöhnern vereinbart hat. Die fühlen sich nun ungerecht behandelt. Wie kann das sein, dass sie für zwölf Stunden Arbeit den gleichen Lohn erhalten wie die Arbeiter, die nur eine Stunde gearbeitet haben? »Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.« (20:12) Der Hausherr antwortet, dass er kein Unrecht tue, da er den vereinbarten Lohn zahle. Ansonsten habe er die Macht, mit seinem Eigentum zu tun, was er wolle. Nach Ansicht der Tagelöhner, die den ganzen Tag gearbeitet haben, handelt der Besitzer des Weinbergs ungerecht. Es ist willkürlich, allen Tagelöhnern den gleichen Lohn zu zahlen, ohne die ungleiche Leistung zu berücksichtigen. 1 Die Verteilungsgerechtigkeit verlangt, dass eine Gütermenge unparteiisch verteilt wird, dass alle, die Ansprüche auf Güter geltend machen können, in gleicher Weise behandelt werden. »Zank und Streit«, schreibt Aristoteles, kommen daher, Avishai Margalit zufolge ist das Handeln des Weinbergbesitzers ein Beispiel dafür, was er »falsche Gleichheit« nennt. In seinem Verhalten drücke sich mangelnder Respekt vor den Leistungen der zuerst eingestellten Arbeiter aus: Avishai Margalit, »Menschenwürdige Gleichheit«, in: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, hrsg. von Angelika Krebs, Frankfurt/M. 2000, 107–116; hier S. 114 ff.
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Einleitung
»dass entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen«. 2 Es ist nach Aristoteles ein Gebot der Fairness, die unterschiedliche Würdigkeit der Personen bei der Verteilung eines Gutes zu berücksichtigen. Sind die Personen in einer für die Verteilung relevanten Hinsicht gleich, steht ihnen ein gleicher Anteil zu; sind sie in einer für die Verteilung relevanten Hinsicht ungleich, müssen die Güteranteile in einem proportionalen Verhältnis zur ungleichen Würdigkeit der Personen stehen, zu ihrem Verdienst. Aristoteles bringt hier das Kriterium der Unparteilichkeit im Kontext distributiver Gerechtigkeit auf den Begriff. Alle Verteilungsadressaten haben einen Anspruch auf Gleichbehandlung, d. h. auf die unparteiische Berücksichtigung ihres Anspruches auf einen fairen Güteranteil. Sind die Verdienstgründe graduierbar, muss das besondere Verdienst durch einen größeren Anteil gewürdigt werden, ansonsten erhielten Personen mit größerem Verdienst nicht das, was ihnen zukommt. Ihre Ansprüche würden nicht in gleicher Weise berücksichtigt, wie die Ansprüche derer, die weniger verdienen. 3 Gleiche Verteilung bei ungleichem Verdienst bedeutet also ungleiche Berücksichtigung der Ansprüche auf das, was einem zukommt. Aristoteles bezeichnet dieses formale, komparative Gerechtigkeitskriterium als eine geometrische Proportion: Die Ansprüche mindestens zweier Personen sind mit den Gütern, die sie erhalten, auf die genannte Weise zu vergleichen. 4 Der Weinbergbesitzer beurteilt die Verteilung aus einer anderen Perspektive: Er hält sich an die mit den Tagelöhnern getroffene Vereinbarung und meint daher, gerecht zu handeln. Das ist die Perspektive der Tauschgerechtigkeit. Er unterstellt, dass die Vereinbarung gerecht sei, weil sie von den Tagelöhnern freiwillig eingegangen sei. Auch in der Perspektive der Tauschgerechtigkeit erfordert die Unparteilichkeit die Herstellung einer Gleichheit zwischen den Personen, aber nicht als eine proportionale, so Aristoteles, sondern als arithmetische Gleichheit. 5 Die ausgleichende Gerechtigkeit verlangt, dass zwischen den Personen ein egalitärer Status gewahrt bleibt; zwischen ihnen herrscht strikte Reziprozität: als Verhältnis des wechselseitigen Vorteils im Tausch, dem von Aristoteles so genannten freiwil2 3 4 5
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Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Günther Bien, Hamburg 1995, 1131a 23. Vgl. Ernst Tugendhat, Dialog in Leticia, Frankfurt/M. 1997, S. 79. Aristoteles, a. a. O., 1131b 14. Ebd., 1132a 1.
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Einleitung
ligen Verkehr. 6 Tauschgerechtigkeit verlangt die Gleichwertigkeit der getauschten Güter. Keine Partei darf von der anderen mehr verlangen, als sie selbst zu geben bereit ist. Die Ansprüche auf Gegenleistung, die die Tauschparteien wechselseitig aneinander richten, sind nicht graduierbar. Tauschgerechtigkeit setzt die gleiche Würdigkeit, den gleichen Status der Parteien voraus. Das gilt auch im Kontext des Strafrechts, dem von Aristoteles so genannten unfreiwilligen Verkehr, wo die korrektive Gerechtigkeit zur Anwendung gelangt. Hier gilt es die Machtungleichheit zwischen Täter und Opfer auszugleichen. 7 Es gibt noch eine dritte Perspektive zu unterscheiden, diejenige der so genannten nichtkomparativen Gerechtigkeit. 8 Was ist mit den Tagelöhnern, die keine Arbeit gefunden haben? Was haben die am Ende des Tages zu essen? Nach der nichtkomparativen Gerechtigkeit müssen wir darauf achten, dass Menschen gemessen an absoluten Maßstäben genug bekommen. Niemand darf unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben; alle Menschen müssen ihre grundlegenden Bedürfnisse stillen können. 9 Um das zu beurteilen, ist es zunächst uninteressant, was andere besitzen oder gerechterweise fordern können. Als eine reduktionistische Theorie sozialer Gerechtigkeit können wir nun eine Position bezeichnen, die eine der drei Beurteilungsperspektiven – der distributiven, der ausgleichenden oder der nichtkomparativen Gerechtigkeit – zum einzigen Gerechtigkeitsmaßstab erklärt. Der sogenannte Nonegalitarismus reduziert die Gerechtigkeit auf die Forderung, dass Menschen gemessen an absoluten Maßstäben menschenwürdigen Daseins über genügend Güter verfügen müssen. Vertreter dieser Position kritisieren ein distributives Konzept sozialer Gerechtigkeit. Die ungleiche Verteilung sozialer Güter stelle keine intrinsische Ungerechtigkeit dar. Wenn wir soziale Ebd., 1131a 3. Vgl. Konrad Marc-Wogau, »Aristotle’s Theory of Corrective Justice and Reciprocity«, in: ders., Philosophical Essays, Copenhagen 1967, S. 21–40. 8 Die Unterscheidung zwischen komparativer und nichtkomparativer Gerechtigkeit geht zurück auf Joel Feinberg, »Noncomparative Justice«, in: Philosophcal Review 83/ 1974, S. 297–338. 9 Vgl. Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt/M., 2002, S. 132 ff. Es kann hier zunächst offen bleiben, ob und weshalb es sich hierbei um eine Forderung der Gerechtigkeit und nicht der Wohltätigkeit handelt. 6 7
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Einleitung
Ungleichheiten als ungerecht verurteilten, würden wir nicht die eigentlichen Gründe unseres normativen Urteils benennen. Sozial ungerecht sei es, wenn Menschen in Armut und in elenden Verhältnissen lebten. Um ein solches Urteil zu treffen, müssen wir über normative Kriterien verfügen, was ein menschenwürdiges Leben auszeichnet. Weil die ungleiche Verteilung sozialer Güter nichts darüber aussage, wie gut oder schlecht es den Menschen geht, habe Gleichheit keinen normativen Wert: Wir können Güter auch so verteilen, dass es allen gleichermaßen schlecht geht, aber das ist eine unsinnige Forderung. 10 Das Argument ist in einer Hinsicht richtig, in einer anderen falsch. Richtig ist, dass die Bekämpfung von Armut eine der dringlichsten Forderungen sozialer Gerechtigkeit darstellt, die wir nur über den normativen Wert eines Existenzminimums begründen können, das es nicht zu unterschreiten gilt. Armut und ungleicher Güterbesitz sind nicht identisch. Falsch ist aber die radikale Schlussfolgerung, die aus dieser begrifflichen Klärung gezogen wird. Gerechtigkeit sei gerade nicht wesentlich relational zu fassen, indem man die Gerechtigkeitsansprüche von Menschen miteinander vergleicht, sondern sei ausschließlich nichtkomparativer Natur. Die Gerechtigkeitsforderungen von Personen seien absolut zu verstehen, sie setzten absolute Standards voraus, die es im Namen der Gerechtigkeit zu erfüllen gelte. Wenn eine andere Person auch einen Anspruch auf ein Gut besitzt, dann deswegen, weil auch sie Trägerin eines Gerechtigkeitsanspruches sei, und nicht, weil andere über Dinge verfügen, die sie nicht besitzt. Das, was einer Person zukommt, bestimme sich niemals durch Vergleich mit dem, was einer anderen zukommt. 11 Wenn das richtig ist, dann verstehen wir die Klage der Tagelöhner in der Parabel nicht mehr. Ist ein Silbergroschen pro Tag nicht genug? 12 Genauso wenig sind wir in der Lage, einen Tausch als geDer radikalste Vertreter dieser Position ist: Harry Frankfurt, »Gleichheit und Achtung«, in: Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 38–49. Subtilere Versionen dieser Position vertreten Angelika Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O.; Joseph Raz, »Strenger und rhetorischer Egalitarismus«, in: Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 50–80; Derek Parfit, »Gleichheit und Vorrangigkeit«, in: Krebs, Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 81–106. 11 Vgl. Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 120 ff. 12 Der Anhänger der nonegalitaristischen Position könnte einwenden, dass die ungleiche Entlohnung der Tagelöhner deshalb ungerecht sei, weil der Besitzer des Weinbergs 10
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Einleitung
recht oder ungerecht zu beurteilen. Das, was einer Person im Tausch gerechterweise zukommt, bestimmt sich dadurch, was sie einer anderen Person gibt und umgekehrt. Dass Menschen Tauschverhältnisse eingehen, ist für den Anhänger der nichtkomparativen Position offenbar gerechtigkeitsirrelevant. Soziale Gerechtigkeit reduziert sich auf die Forderung der Erfüllung grundlegender Bedarfskriterien. Das aber bleibt eine bloße Behauptung, die von den Anhängern dieser Position nicht weiter begründet wird. Was bezeichnen wir nun als Egalitarismus? Gegen welche Gerechtigkeitsauffassung wendet sich der Nonegalitarist? Da ist zunächst die These von der normativen Präsumtion der Gleichverteilung aller sozialen Güter. Rawls hat in seiner Theorie der Gerechtigkeit als allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung das folgende Prinzip genannt: Alle sozialen Grundgüter sind gleich zu verteilen, es sei denn, die ungleiche Verteilung gereiche allen Bürgern zum individuellen Vorteil. 13 Egalitarismus bezeichnet nach der Präsumtionsthese den intrinsischen Wert eines gleichen Güteranteils, gegenüber dem ungleiche Verteilungen zu rechtfertigen seien. Rawls hat das freilich so nie behauptet, sondern begründet, warum die Gleichverteilungsprämisse gerecht sei. 14 Nicht so aber Vertreter der Gleichverteilungsdoktrin, die die Forderung aufstellen, dass jedes beliebige Gut gleich zu verteilen sei und dass gegenüber dieser Prima-facieRegel jede ungleiche Verteilung begründet werden müsse. Ernst Tugendhat hat das am berühmten Beispiel einer Tortenverteilung plausibel machen wollen. Ist die an die Kinder Torte verteilende Mutter nicht dazu verpflichtet, jedem Kind ein gleich großes Stück zu geben? Es möge Gründe geben, von dieser Regel abzuweichen, aber das müsse sich gegenüber dem Prima-facie-Recht auf einen gleichen Anteil rechtfertigen lassen. 15 Natürlich ist das Unsinn. Was ist, wenn die Mutter Hustensaft oder Geld fürs Rasenmähen verteilt? Hat dann einen Silbergroschen Lohn pro Arbeitstag vereinbart habe, und gemessen an diesem absoluten Standard sei die Entlohnung der später Eingestellten ungerecht. Aber wieso soll es ungerecht sein, nur für eine Stunde Arbeit einen Silbergroschen zu bekommen? Auch das war vereinbart. Wenn das ungerecht ist, dann deshalb, so Aristoteles, weil wir die Gerechtigkeitsansprüche und die Güteranteile der Tagelöhner miteinander vergleichen müssen. 13 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1979, S. 83. 14 Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit. 15 Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S 373 ff. Vgl. auch Peter Koller, »Soziale Güter und soziale Gerechtigkeit«, in: Theorien der Gerechtigkeit. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 56, hrsg. von Hans-Joachim Koch A
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Einleitung
jedes Kind einen Prima-facie-Anspruch auf einen gleich großen Löffel 16 bzw. Geldanteil, gleichgültig, ob es Husten bzw. den Rasen gemäht hat? Wenn wir das verneinen, müssen wir nicht den Wert der Gleichheit bestreiten. 17 Offenbar ist er hier falsch bestimmt worden. Unter Egalitarismus firmiert hingegen seit Rawls die Idee, dass der Gegenstand sozialer Gerechtigkeit der Einfluss gesellschaftlicher Institutionen auf die Lebenschancen der Menschen sei. Die Verteilung sozialer Güter gilt dann als gerecht, wenn sie aus den eigenen Entscheidungen der Menschen resultiert. Der Egalitarismus bezeichnet die moralische Intuition, wie Angelika Krebs richtig feststellt, dass Gerechtigkeit in der Schaffung gleicher Lebensaussichten für alle Menschen bestehe. 18 Soziale Gerechtigkeit meint Chancengleichheit; das ist eine weithin geteilte Überzeugung seit der Gerechtigkeitstheorie von Rawls gewesen. 19 Das ist aber etwas ganz anderes als die Gleichverteilungsdoktrin. Die behauptet den Eigenwert einer Gleichverteilung von irgendwas, ohne zu klären, in welcher Hinsicht und aus welchem Grund Personen gleichgestellt sein sollen. Der Chancenegalitarismus ist dagegen vor allem durch einen zweiten Wert charakterisiert: die Freiheit. Die Menschen sollten die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Vorstellungen eines guten Lebens zu verfolgen. Soziale Gerechtigkeit verlangt daher nach einer Gleichheit ex ante, als Forderung nach gleichen Startchancen, z. B. durch ein alle Bürger inkludierendes Bildungssystem. Die Lebensumstände, in die die Menschen hineingeboren werden, müssen angeglichen werden. Niemand soll durch Lebensumstände, die er selbst nicht zu verantworten hat, gegenüber anderen benachteiligt werden. Das ist eine liberale Auffassung sozialer Gerechtigkeit, die durch einen Grundsatz gleicher Freiheit charakterisiert ist. 20
u. a., Stuttgart 1994, S. 79–104; Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M. 2004. 16 Was einer Bestrafung der nicht hustenden Kinder gleichkommt, wenn der Saft bitter ist. 17 So aber Thomas Schramme, »Die Anmaßung der Gleichheitsvoraussetzung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/2003, S. 255–273. 18 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 95. 19 Vgl. Gerald A. Cohen, »On the Currency of Egalitarian Justice«, in: Ethics 99/1989, S. 906–944; Will Kymlicka, Politische Philosophie heute. Eine Einführung, Frankfurt/M und New York, 1997, Kap. 3. 20 Über den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit haben sich die Vertreter der nonegalitaristischen Position bisher keine Gedanken gemacht.
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Dieser Grundsatz hat eine Kehrseite: Wenn das erfolgreiche Verfolgen des eigenen Lebensplans von den eigenen Entscheidungen der Person, und nicht – so das Ideal – von deren Lebensumständen abhängen soll, dann sind soziale Ungleichheiten, die sich auf die freiwilligen Entscheidungen der Menschen zurückführen lassen, gerecht. Zur Freiheit zählt so immer auch die Idee der Eigenverantwortlichkeit. »Einer der zentralen Werte des Liberalismus ist«, so Ronald Dworkin als einer der vehementesten Verfechter dieser Idee, »die ethische Verantwortung eines jeden Menschen für sein eigenes Leben.« 21 Die Verantwortung des liberalen Wohlfahrtsstaats für die Bedingungen gleicher Freiheit findet in der Idee der Verantwortung des Selbst für sein Wohlergehen ihre Grenze. Wo diese Grenze verläuft, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. In der systematischen Auseinandersetzung mit den Gerechtigkeitstheorien von Rawls und vor allem der von Dworkin soll eine komplexe Auffassung sozialer Gerechtigkeit skizziert werden. Über die Rolle der Verantwortlichkeit der Menschen für das Gelingen ihres Lebens lässt sich nur sinnvoll reden, wenn alle drei oben genannten Beurteilungsperspektiven der Gerechtigkeit berücksichtigt werden. Es gilt an die Einsicht Michael Walzers anzuknüpfen, dass Prinzipien sozialer Gerechtigkeit den besonderen Charakter der sozialen Güter berücksichtigen müssen, deren Verteilung sie jeweils regeln. Die Verteilung medizinischer Fürsorge verlangt nach anderen Gerechtigkeitskriterien als die Verteilungsverfahren sozialer Positionen. Einkommen scheint ein Gut zu sein, das Gegenstand der Tauschgerechtigkeit ist usw. 22 Das bedeutet, dass auch der Chancenegalitarismus, der die philosophische Debatte um ein angemessenes Verständnis sozialer Gerechtigkeit bis in die neunziger Jahre dominiert hat, 23 eine reduktionistische Position darstellt. Es ist nicht selbstverständlich, den Egalitarismus mit einer bestimmten Konzeption von ChancengleichRonald Dworkin, »Moral und Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit«, in: Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, hrsg. von Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt/M. 2000, S. 153–182; hier S. 176. 22 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralismus und Gleichheit, Frankfurt/M. u. New York, 1992. Vgl. auch David Miller, Principles of Social Justice, Cambridge, Mass. 1999. 23 Vgl. Gerald A. Cohen, »Equality of What? On Welfare, Goods, and Capabilities«, in: The Quality of Life, hrsg. von Martha Nussbaum und Amartya Sen, Oxford 1993, S. 9– 29. 21
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Einleitung
heit gleichzusetzen. 24 Die Identifikation sozialer Gerechtigkeit mit einer bestimmten Auffassung von Chancengleichheit ignoriert die Perspektive der Tauschgerechtigkeit, die z. B. auf dem Arbeitsmarkt Anwendung findet. Eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs sozialer Gerechtigkeit auf Tauschverhältnisse hingegen wird der Idee des Wohlfahrtsstaates als einer Institution der Versicherung gegen existentielle Risiken nicht gerecht. Eine angemessene Diskussion über den Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Eigenverantwortung setzt ein komplexes Gerechtigkeitsverständnis voraus. Wenn in aktuellen sozialpolitischen Debatten von der Verantwortung des Einzelnen für sein Wohlergehen die Rede ist, dann dient dieser Begriff nur allzu häufig dafür, ein »geschrumpftes« Verständnis sozialer Gerechtigkeit zu propagieren, das die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates auf die Verantwortung für faire Startchancen für alle auf dem Arbeitsmarkt durch Bildung reduziert. Diese Auffassung sozialer Gerechtigkeit als einer »Wettlauftheorie« drängt die Ideen der Statusgleichheit der Bürger auf dem freien Markt und der Solidarität mit den Hilfsbedürftigen und Schwachen in den Hintergrund. 25 Andererseits gilt aber auch, dass ein Verständnis von Solidarität nichts wert ist, das die Eigenverantwortlichkeit der Menschen nicht berücksichtigt, die der geschuldeten Solidarität Grenzen setzt. Um der Wettlauftheorie entgegenzutreten, muss man den Begriff der Eigenverantwortung ernst nehmen. Dass die Arbeit ihren Ausgang bei Rawls nimmt (Kapitel 2), versteht sich beinahe von selbst. Es ist Rawls gewesen, der der philosophischen Debatte um ein angemessenes Verständnis sozialer Gerechtigkeit seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute ihre Gestalt gegeben hat. Er hat seinen zweiten GerechtigkeitsgrundVgl. Elizabeth S. Anderson, »Warum eigentlich Gleichheit?«, in: Krebs (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 117–171. 25 Der damalige Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Olaf Scholz, hat 2003 den Sozialdemokratismus einer reduzierten Vorstellung sozialer Gerechtigkeit anpassen wollen. Die primäre Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sei es, Ursachen von Arbeitslosigkeit zu beseitigen und für eine »entschlossene Ausweitung von Bildungschancen und Bildungszugängen auf allen Ebenen der Gesellschaft« zu sorgen, damit die Menschen sich den Anforderungen des Arbeitsmarktes stellen könnten. »Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe und der Chancen ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergeschützte Nichtarbeit.« Vgl. Olaf Scholz, »Gerechtigkeit und Solidarische Mitte im 21. Jahrhundert. 13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaats und die Zukunft sozialdemokratischer Politik«, in: Frankfurter Rundschau vom 07. 08. 2003. 24
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Einleitung
satz – als ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit im engeren Sinne – als eine logische Weiterentwicklung der klassisch-liberalen Idee der Chancengleichheit verstanden: Soziale Ungleichheiten müssen das Ergebnis der eigenen Anstrengungen der Menschen sein. Sie dürfen nicht aus Umständen resultieren, für die die Bevorzugten oder Benachteiligten nichts können. Es sei daher ungerecht, Menschen auf dem freien Markt besondere Begünstigungen zu gewähren, weil die individuellen Leistungen im Letzten als Ausdruck unverdienter Bevorzugung durch angeborene Talente zu verstehen seien. Niemand könne daher durch eigenes Handeln Ansprüche auf Güter erwerben, wenn es nicht den besonders Benachteiligten zugute komme. Rawls desavouiert – wirkmächtig – die Idee der Eigenverantwortung. Gleichzeitig aber räumt er der Chancengleichheit einen Vorrang gegenüber dem Prinzip ein, dass soziale Ungleichheiten nur dann legitim seien, wenn sie den am schlechtesten Gestellten nutzen. Seine verdienstfeindliche Position ist inkohärent: Es wird sich zeigen, dass sich mit Rawls ein ganz anderes Argument für das Prinzip der Chancengleichheit konstruieren lässt. Dieses Argument gründet nicht auf einer Idee der »Schicksalsgleichheit« aller Bürger, sondern auf der Idee der Würde. Chancengleichheit ist ein Gebot des Schutzes der Selbstachtung aller Bürger. Mit Dworkin wendet sich die vorliegende Arbeit einem Autoren zu, der wie Rawls einen egalitären – sozialdemokratischen – Liberalismus vertritt, aber anders als dieser der Idee der Eigenverantwortung wieder zu ihrem Recht verhelfen möchte. Dworkins Gerechtigkeitstheorie 26 soll kritisch-systematisch diskutiert und ihre Aktualität und praktische Relevanz bewiesen werden. 27 Dworkin versammelt in seinem 2000 zuerst erschienenen Buch »Sovereign Virtue« seine wichtigsten rechts- und gerechtigkeitsphilosophischen Arbeiten seit den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in z. T. überarbeiteter Form und ergänzt sie um neue Kapitel, die die praktische Anwendung seiner Theorie zum Gegenstand haben: Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge, Mass. 2002. 27 Die praktische Relevanz der Gerechtigkeitstheorie Dworkins wird hingegen von Wolfgang Kersting und Christine Chwaszcza heftig bestritten: Christine Chwaszcza, »Vorpolitische Gleichheit? Ronald Dworkins autonomieethische Begründung einer wertneutralen Theorie distributiver Gerechtigkeit«, in: Politische Philosophie des Sozialstaats, hrsg. von Wolfgang Kersting, Weilerswist 2000, S. 159–201; Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, insbes. S. 172–280. Kersting sieht insgesamt den egalitären Liberalismus von Rawls und Dworkin als »gescheitert« an. Freilich sind beide Autoren in erster Linie daran interessiert, die Theorien von Rawls 26
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Einleitung
Das dritte und das vierte Kapitel haben grundlegenden Charakter. Im dritten Kapitel wird der Begriff ethischer Verantwortung geklärt. Darunter sei die reflexive Fähigkeit der Person verstanden, die eigenen Interessen und Präferenzen in der Perspektive der ersten Person singular kritisch zu bewerten. Konzeptionen politischer und sozialer Gerechtigkeit müssten, so Dworkin, in einer »Kontinuität« zu unserem Selbstverständnis als verantwortlich Handelnde stehen. Das bedeutet, dass wir klären müssen, was legitime Interessen der Bürger sind, um, abstrakt gesprochen, einen Standpunkt der unparteiischen Interessenberücksichtigung zu konstruieren. Gerechtigkeitsansprüche, die das Individuum an die politische Gemeinschaft richtet, müssen immer auch die Kosten berücksichtigen, die denen entstehen, die diese Ansprüche zu begleichen haben. Mit diesem Grundgedanken richtet sich Dworkin gegen Rawls’ Konstruktion des unparteiischen Standpunkts, der uns dazu auffordert, die Güterverteilung allein aus der Perspektive einer bestimmten sozialen Schicht zu beurteilen (Abschnitt 2.7). Im vierten Kapitel wird mit Dworkin eine liberale Vorstellung sozialer Gerechtigkeit entwickelt, die auf dem normativen Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit gründet und von einer libertären Absolutsetzung individueller Freiheit auf dem Markt zu unterscheiden ist. Liberale Gleichheit meint die Statusgleichheit der Bürger. Der Libertarismus hingegen propagiert ökonomische Macht. Die Idee der Statusgleichheit ist vor allem für eine der grundlegendsten Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit in Anschlag zu bringen, der Abgrenzung des Bereichs des Politischen von der Sphäre des Marktes. Dworkin begründet sie vor dem Hintergrund einer Idee politischer Gleichheit (Kapitel 5). Im sechsten Kapitel wird Dworkins Versuch diskutiert, die Prinzipien eines fairen Marktes nach dem Modell einer Versteigerung zu konstruieren. Nach Dworkin ist die Idee eines freien Marktes – unter der Bedingung gleicher Partizipation – eines der zentralen Anliegen des Liberalismus. Als ein dezentrales Verteilungsverfahren werde der Markt der Rolle der Eigenverantwortung der Person in besonderer Weise gerecht. Dworkin versucht durch eine komplexe Kombination des Auktions- mit einem Versicherungsmodell ein Verfahren zu bestimmen, das die Einkommensverteilung weitestgehend von den eigenen Entscheidungen der Menschen abhängig und von deren Leund Dworkin zu widerlegen, statt in einen systematisch fruchtbaren Dialog mit beiden Philosophen zu treten.
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Einleitung
bensumständen unabhängig machen soll. Das Ergebnis ist allerdings sehr enttäuschend: Dworkin kombiniert das Prinzip der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt mit der Forderung nach einem Mindesteinkommen durch Kombilöhne. Letztere wird hier zurückgewiesen: Dworkin »vergisst« die Perspektive der Tauschgerechtigkeit, die doch neben der Chancengleichheit im Kontext der Einkommensgerechtigkeit zwingend zu berücksichtigen ist. Dort macht das Versicherungsmodell keinen Sinn; es ist vielmehr als ein Verteilungsverfahren zu würdigen, das die Idee der Eigenverantwortung auch für den Solidaritätsgedanken einklagt. 28 Das wird am Beispiel der Kranken- und der Arbeitslosenversicherung im siebten Kapitel diskutiert. Ein faires Verteilungsverfahren von Bedarfsgütern muss immer auch die Lasten der Solidarität Leistenden berücksichtigen. Der Begriff der Solidarität setzt allerdings voraus, dass geklärt ist, gegen welche Lebensrisiken die Bürger sich gemeinsam schützen sollen. Die normativen Wertprämissen des Versicherungsmodells müssen bestimmt werden, bevor es sich diskutieren lässt. Im achten Kapitel wird die Frage verhandelt, ob es ein Recht auf Arbeit gebe. Arbeit ist für eine eigenverantwortete Existenz, für ein Leben in Würde unverzichtbar. Die Bereitschaft zur Arbeit ist daher nicht nur eine Verpflichtung in einem fairen Arbeitslosenversicherungsmodell, wie Dworkin es beschreibt. Allerdings kann die Rede eines Rechts auf Arbeit nicht das Problem seiner Einklagbarkeit verschleiern. Die Frage nach einem Recht auf Arbeit kann nicht unabhängig davon berücksichtigt werden, ob es nicht in der Gesellschaft verdeckte, soll heißen: ökonomisch nicht anerkannte Arbeit gebe. Gegenstand des neunten Kapitels ist somit die in der Politik und neuerdings auch in der Philosophie diskutierte Frage, in welchem Verhältnis Erwerbs- und Familienarbeit stehen. Müssen wir nicht das Großziehen Dworkins Idee, die faire Verteilung von Bedarfsgütern nach den normativen Prinzipien einer Versicherung zu konstruieren wird weitgehend ignoriert. Das gilt sowohl für Chwaszcza (a. a. O.) und Kersting (a. a. O.) als auch für Bernd Ladwig. Dieser wendet sich in seinem Buch Gerechtigkeit und Verantwortung mit Dworkin gegen Theorien der Wohlfahrtsgleichheit, die die (Chancen auf) Präferenzerfüllung der Individuen angleichen wollen. Stattdessen listet er Ressourcen auf, die Bürger als Gelingensvoraussetzungen eines selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Lebens brauchen: Bernd Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin 2000. Der Streit zwischen Ressourcen- und Wohlfahrtegalitaristen wird in der vorliegenden Studie hingegen nur am Rande diskutiert (Abschnitte 3.4 und 6.1).
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von Kindern, vor dem Hintergrund kultureller Rollenzuweisungen und des demographischen Wandels, als ökonomische Arbeit neu bewerten? Gehört Kindererziehung entlohnt? Diese Frage wird hier verneint. Der Versuch, das Großziehen von Kindern als ökonomische Arbeit zu kategorisieren, scheitert. Das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Familienarbeit ist vielmehr so zu bestimmen, dass letztere nicht einseitig einem Teil der Bevölkerung, den Frauen, aufgebürdet wird. Im letzten Kapitel wird schließlich ein eigenes Konzept sozialer Gerechtigkeit skizziert. Dafür werden mehrere Argumentationsstränge zusammengeführt und in der These verdichtet, dass Arbeit die zentrale Kategorie sozialer Gerechtigkeit sei. Arbeit ist die notwendige Bedingung einer Existenz in Würde. Das muss aber nun komplex verstanden werden. Arbeit dient nicht nur der Existenzsicherung, sondern ist sowohl als ein Gegenstand der Selbstverwirklichung als auch selbstverständlich als ein Tauschverhältnis zu würdigen. Dementsprechend verlangt soziale Gerechtigkeit im Mindesten neben dem gerechtfertigten Anspruch auf Arbeit, nach sozialer Sicherheit, Chancengleichheit und Tauschgerechtigkeit. Ob das alles sei, wird hier nicht behauptet. Zumindest aber sind diese vier Prinzipien unerlässlich, wenn die Statusgleichheit aller Bürger im sozioökonomischen Kontext ernst genommen werden soll. Die vorliegende Arbeit stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die ich im Sommersemester 2004 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main eingereicht habe. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann für die engagierte und interessierte Betreuung der Arbeit. Herzlich danken möchte ich ebenfalls Prof. Dr. Marcus Willaschek für die Übernahme des zweiten Gutachtens sowie den Herausgebern von »Praktische Philosophie« für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Erleichtert wurde mir die Veröffentlichung des Buches durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Auch dafür möchte ich meinen Dank aussprechen. Nicht zuletzt aber möchte ich meinen Eltern, Irmgard Romanus und Wolfgang Romanus, nachdrücklich danken, auf deren Unterstützung ich mich stets verlassen konnte.
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2 Rawls über Chancengleichheit, Eigenverantwortung und Selbstachtung. Zur Begründung einer egalitaristischen Auffassung von Chancengleichheit
Für Rawls ist der »erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.« 1 Die Verfassung legt fest, welche Freiheiten den Bürgern zukommen und wer die politische Macht ausübt. Das ist der Gegenstand der politischen Gerechtigkeit. Die soziale Gerechtigkeit hat die sozialen und ökonomischen Institutionen zu ihrem Gegenstand, die teilweise durch die Gesetzgebung bestimmt werden: Beispiele sind die gesetzliche Regelung der Eigentumsverteilung, der Freiheit, Verträge zu schließen, und der Auswahlverfahren für die Zuweisung sozialer Positionen. In diesem Kapitel befassen wir uns mit Rawls’ Auffassung sozialer Gerechtigkeit. »Zusammengenommen legen die wichtigsten Institutionen die Rechte und Pflichten der Menschen fest und beeinflussen ihre Lebenschancen, was sie werden können und wie gut es ihnen gehen wird. Die Grundstruktur ist der Hauptgegenstand der Gerechtigkeit, weil ihre Wirkungen so tiefgreifend und von Anfang an vorhanden sind. Intuitiv stellen wir uns vor, dass sie verschiedene soziale Positionen enthält, und dass die Menschen, die in sie hineingeboren werden, verschiedene Lebenschancen haben, die teilweise vom politischen System und von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen abhängen. Die gesellschaftlichen Institutionen begünstigen also gewisse Ausgangspositionen. Dies sind besonders tiefgreifende Ungleichheiten.« 2
Was Rawls hier als den Gegenstand der Gerechtigkeit beschreibt, ist bereits durch eine liberale Auffassung sozialer Gerechtigkeit bestimmt. Der Liberalismus lässt sich ganz allgemein durch zwei grundlegende Ideen charakterisieren: Zum einen ist das die Idee der Souveränität des Subjekts. Die Ausübung politischer Macht fin1 2
Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 23. Ebd. A
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det in der Freiheit des Individuums, sein Leben selbstbestimmt zu führen, ihre Grenze. Die individuelle Autonomie verlangt nach Grundfreiheiten wie der Gewissensfreiheit, der Religionsfreiheit oder der Gedankenfreiheit. Die zweite grundlegende Idee des Liberalismus ist die Statusgleichheit der Bürger als Rechtsgenossen. Dieser Gedanke richtet sich gegen soziale Hierarchien, Privilegien und Vorherrschaft, kurz: gegen die asymmetrische Ausübung von Macht zwischen den Bürgern. Aus dieser Idee entspringt der demokratische Impuls des Liberalismus: gleiche Staatsbürgerschaft, gleiches Wahlrecht, das Recht, Ämter zu bekleiden, die Abschaffung vererbter politischer Macht, zusammengefasst: die egalitäre Idee der Volkssouveränität. 3 Auch die liberale Auffassung sozialer Gerechtigkeit ist durch eine Freiheitsidee geprägt: Alle Bürger müssen ihres Glückes Schmied sein können, soll heißen: soziale Ungleichheiten, klassisch definiert über den Besitz von Eigentum, sind nur dann legitim, wenn sie aus den eigenen Anstrengungen der Individuen resultieren. Im Zentrum der liberalen Auffassung von sozialer Gerechtigkeit steht somit der Verdienstgedanke. Vor dem Hintergrund der rechtlich gesicherten gleichen Freiheiten der Bürger ist die Person für das Gelingen ihres Lebens selbst verantwortlich. Soziale Gerechtigkeit ist mit Chancengleichheit identisch. Nach Rawls zeichnet sich eine wohlgeordnete Gesellschaft dadurch aus, dass sie durch zwei Gerechtigkeitsgrundsätze wirksam reguliert wird: »(a) Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur der politischen) Freiheiten garantiert. (b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.« 4
Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in einer Rangordnung. Der liberalen Auffassung politischer Gerechtigkeit (a) kommt im Konflikt3 Vgl. Thomas Nagel, »Rawls and Liberalism«, in: ders, Concealment and Exposure and Other Essays, Oxford 2002, S. 87–106; hier S. 88 f. 4 John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 2003, S. 69 f.
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fall Vorrang gegenüber den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit (b) zu. Die Ansprüche auf den Zugang zu Ämtern und Positionen übertrumpfen im Falle des Konflikts die Ansprüche der in der Einkommens- und Vermögenshierarchie unten Stehenden. Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze sind Ausdruck einer grundlegenden Gleichheitsidee: Nur solche die Gesellschaft ordnenden Regeln sind gerecht, die gegenüber allen diesen Regeln unterworfenen Bürgern gleichermaßen gerechtfertigt werden können. Zu diesem Zweck werden die Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls als das Ergebnis einer hypothetischen Übereinkunft der Bürger dargestellt. Unter fairen Bedingungen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger garantieren, würden diese die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze als letztverbindliche Regeln ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens in ihrem eigenen Interesse akzeptieren. Rawls beschreibt durch den so genannten Schleier des Nichtwissens den unparteiischen Standpunkt, von dem aus die Gerechtigkeit der Institutionen der Gesellschaft beurteilt werden soll. Im Zustand der Unwissenheit über die eigene Individualität garantieren die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze den größten Anteil an solchen Gütern, die die notwendigen Voraussetzungen eines gelingenden Lebens sind. Das sind die Grundfreiheiten des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes, der Zugang zu vorteilhaften Positionen und Einkommen und Vermögen, deren faire Verteilung der zweite Grundsatz regelt. Dieser Grundsatz sozialer Gerechtigkeit wird durch zwei Argumente getragen: zum einen das genannte vertragstheoretische Argument, das die allgemeine Zustimmungsfähigkeit beider Grundsätze verbürgen soll. Zum anderen aber gründet seine Konzeption sozialer Gerechtigkeit auf einer Kritik an der Art und Weise, wie der klassische Liberalismus das oben genannte Verdienstprinzip deutet. Dieses zweite, von Will Kymlicka so genannte intuitive Argument, soll Rawls’ Konzeption sozialer Gerechtigkeit in ein Überlegungsgleichgewicht mit unseren Auffassungen von Chancengleichheit bringen. 5 Die sind – so Rawls – durch die genannte klassische Idee geprägt, dass soziale Ungleichheiten nicht aus unverantworteten Umständen resultieren dürfen. Erst sein eigener Gerechtigkeitsgrundsatz als eine Idee »demokratischer Chancengleichheit« werde diesem Prinzip vollständig gerecht. Dessen meritokratisches Verdienstprinzip, dem bereits Kant in seiner Rechtsleh5
Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 59 ff. A
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re philosophischen Ausdruck verliehen hat (2.1), möchte Rawls aber ad absurdum führen (2.2). Seine verdienstfeindliche Position wird in diesem Kapitel zurückgewiesen (2.3 und 2.4). Es wird begründet, dass Rawls durch sein intuitives Argument die hinter dem Chancengleichheitsprinzip stehende Gerechtigkeitsidee falsch gedeutet hat. Vor dem Hintergrund seiner formalen Theorie des guten Lebens wird Chancengleichheit dagegen als ein Prinzip der Statusgleichheit (2.5) identifiziert, das die gleiche Zugehörigkeit der Bürger zur Gesellschaft verlangt. Keine Konzeption von »Schicksalsgleichheit«, sondern der Schutz der Selbstachtung der Bürger fordert den gleichen Zugang zu qualifizierten beruflichen Positionen und Bildung (2.6). Der letzte Abschnitt (2.7) hat die Herleitung des Differenzprinzips im Urzustand zu seinem Gegenstand. Zweck dieses Kapitels ist die Überleitung zum zweiten Kapitel dieser Arbeit, das sich Dworkins Auffassung des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Ethik widmet. Die unterschiedlichen Positionen von Rawls und Dworkin sollen einander gegenübergestellt werden. Nach Dworkin setzt die Frage nach der unparteiischen Berücksichtigung der Interessen der Bürger auf soziale Leistungen eine abstrakte Konzeption von Ethik voraus, die dem Subjekt die Fähigkeit der kritischen Bewertung der eigenen Präferenzen zuschreibt. Was ein legitimes Interesse ist, lässt sich nicht unabhängig davon bestimmen, in welchem Umfang das Subjekt verantwortlich für das Gelingen seines Lebens ist. Dworkin antwortet damit auf das Defizit von Gerechtigkeitstheorien, die der kritischen Fähigkeit der Bewertung der eigenen Präferenzen in der Perspektive der ersten Person singular nur unzureichend gerecht werden, was am Beispiel von Rawls beschrieben wird.
2.1 Zum Ursprung des klassischen Chancengleichheitsgedankens: Kant Kant formuliert mit seiner Eigentumstheorie die klassische liberale Auffassung von sozialer Gerechtigkeit als Chancengleichheit. In seiner Rechtsphilosophie entwickelt Kant die Bedingungen, unter denen das Individuum seiner Handlungsfreiheit (in Kants Worten: seiner »Willkürfreiheit«) teilhaftig werden kann. Im Zentrum der Kantischen Rechtsphilosophie steht das subjektive Recht auf Freiheit. Das angeborene Menschenrecht ist nur ein einziges: »Freiheit« als 26
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die »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür«. 6 Kant definiert hier dieses Freiheitsrecht ausschließlich negativ, durch die Abwesenheit von Freiheitshindernissen (die nötigende Willkür anderer). Eine Person A ist frei von X nach Belieben »zu tun oder zu lassen«. 7 Als ein Recht adressiert es sich an andere Personen. A hat gegenüber B das Recht nach Belieben zu tun oder zu lassen (Willkürfreiheit). Kant zufolge enthält das Menschenrecht auf Freiheit bereits die »angeborene Gleichheit«, weil das analytisch mit der Befugnis zu zwingen verbundene Recht auf die Bedingung strikter Reziprozität eingeschränkt ist. 8 A hat nur dann gegenüber B das Recht auf Willkürfreiheit, wenn auch B das gleiche Recht auf Willkürfreiheit gegenüber A einfordern kann. Das angeborene Freiheitsrecht ist dergestalt ein Recht auf gleiche Freiheit. Es richtet sich gegen alle Statusunterschiede, die den Menschen von Geburt an aufgezwungen werden, so als ob es deren Schicksal wäre, eine sozial untergeordnete Stellung einnehmen zu müssen. Niemand hat das einseitige Recht, mir seinen Willen aufzuzwingen. Das Kantische Freiheitsrecht richtet sich symmetrisch an den jeweils anderen und bestimmt solcherart den egalitären Status der Menschen untereinander. Der Rechtsbegriff Kants ist einseitiger Macht, Unterdrückung und Unterordnung entgegengesetzt. Er unterscheidet zwischen rechtmäßiger Befugnis zu zwingen und Gewalt. Kant lässt uns in der Einleitung in die Rechtslehre im Unklaren darüber, worin das angeborene Menschenrecht auf Freiheit genau besteht. Das Reziprozitätskriterium ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für legitime Freiheitseinschränkungen. Wie unterscheiden wir zwischen legitimen und illegitimen Freiheitseinschränkungen, die die Freiheit aller gleichermaßen einschränken? Das Kriterium von Recht und Unrecht muss also nicht nur in horizontaler Perspektive bestimmt werden, sondern auch vertikal: Es sind die Rechtsunterworfenen selbst, die – modern formuliert – die Autoren des Rechts sein müssen. Nur wenn die Gesetze einem demokratischen Verfahren der Rechtsetzung »entspringen«, können sie Legitimität beanspruchen. Das Recht muss den allgemeinen Willen des 6 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Teil 1: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Werkausgabe Band VIII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, AB 45 7 Kant, Rechtslehre a. a. O., AB 5 8 Ebd., AB 45 f.
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Volkes widerspiegeln, denn dem willentlich Zustimmenden kann kein Unrecht geschehen. 9 Umgekehrt hängt die Legitimität des demokratischen Rechtsetzungsverfahrens nicht nur am egalitären Status der Staatsbürger, sondern ist auch auf weltanschauliche Neutralität verpflichtet: Unter dem »Prinzip der Freiheit« versteht Kant ein Recht auf Selbstbestimmung: Ein »jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt«, unter der Bedingung des gleichen Rechts des anderen wohlgemerkt. 10 Das Individuum hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, ein Recht auf ethische Autonomie. Auch im Zentrum der kantischen Eigentumstheorie steht der Wert individueller Freiheit. Eigentum bezeichnet das subjektive Recht, nach eigenem Belieben über Sachen verfügen zu können, ohne vom Willen einer anderen Person abhängig zu sein. Aber Kant hat hier ein neues Freiheitsprinzip entdeckt. Wir können nur dann von Eigentum sprechen, wenn wir den rechtlichen Besitz einer Sache nicht physisch verstehen. Eine Sache ist rechtlich mein auch dann, wenn ich sie gerade nicht gebrauche und dadurch physisch als das Meine deklarieren kann. Eigentum verleiht mir die Befugnis, andere vom Gebrauch meiner Sachen auszuschließen, über die physische Innehabung hinaus. Wie aber kann das Recht sein? Mit welchem Recht kann ich andere vom Zugriff auf Sachen ausschließen, wenn ich sie gerade nicht gebrauche und also offenbar nicht durch diesen Zugriff in meinem Handeln eingeschränkt werde? 11 Vor dem Hintergrund des abstrakten Freiheitskonzepts des allgemeinen Rechtsbegriffs ist die dem Eigentumsbegriff zugrunde liegende Freiheitsauffassung unverständlich. Was für einen rechtmäßigen Grund soll es also für andere geben, sich des Gebrauchs meiner Sachen zu enthalten? Wie wird die Freiheit des Eigentümers mit der Freiheit der anderen in Übereinstimmung gebracht? Kants Antwort lautet, dass Eigentum ein Gebot der Freiheit ist. Es wäre ein »Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst«, wollte man die Freiheit, über Sachen verfügen zu können, nur auf die Ebd., A 165 f., B 196. Immanuel Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, in: Werkausgabe Band XI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, A 235. 11 Vgl. Reinhardt Brandt, »Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre«, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin 1982, S. 233–285. 9
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schiere physische Innehabung eingrenzen. 12 Eigentum ist die Freiheit zukünftigen Handelns. Daher muss es auch legitim sein, die Willkürfreiheit anderer im beschriebenen Sinne einzuschränken. Das aber setzt zum einen voraus, dass die Macht des exklusiven Besitzes zu einem Recht wird. Zum anderen muss Kant zeigen, wie ich rechtmäßig Eigentümer einer Sache werde, denn anders als das angeborene Freiheitsrecht, ist Eigentum ein erworbenes Recht. Wenn Eigentum ein Gebot der Freiheit ist, dann muss es möglich sein, »einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben«. 13 Es kann also keinen rechtmäßigen Grund geben, mich daran zu hindern, Eigentum auf irgendeine Weise zu erwerben. Weil wir jedoch alles schon im Besitz von anderen vorfinden und wir deren Besitz als Eigentumsrecht anerkennen müssen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Güter durch Tausch zu erwerben. Durch diesen Tausch jedoch lösen wir unser ursprüngliches Recht auf Inbesitznahme von Sachen nicht ein, weil der Tausch bereits eine Eigentumsordnung voraussetzt, die ja allererst als Ausdruck des egalitären Rechts, Sachen in Besitz nehmen zu dürfen, normativ begründet werden soll. Die Eigentumserwerbung durch Tausch muss also auf einen rechtmäßigen Ursprung zurückgeführt werden. Zu diesem Zweck konstruiert Kant als Gedankenexperiment das Verfahren einer ursprünglichen Erwerbung, der rechtmäßigen Erstaneignung. In einem Urzustand der Privateigentumslosigkeit sind die Menschen im Gemeinbesitz des Erdbodens. 14 Darunter versteht Kant das Erstaneignungsrecht eines jeden, das dem allgemeinen Willen entspricht, in den Genuss der Eigentümerfreiheit zu gelangen. Dieses Recht wird nun im Gedankenexperiment allerdings durch eine Art Wettlauf wahrgenommen: Die »Priorität der Zeit« und die Fähigkeit das dergestalt Erworbene mit »Gewalt« zu verteidigen, entscheiden darüber, wer nach der Durchführung dieses Verfahrens was und wie viel mit Recht besitzt. 15 Über die Vernünftigkeit dieses Erstaneignungsverfahrens ist viel gerätselt worden. 16 Was ist das für ein eigenartiges normatives Kant, Rechtslehre, a. a. O., § 2. Ebd., AB 57. 14 Die Erstaneignung kann Kant zufolge nur am Boden stattfinden, weil eine Sache mir nur dann gehöre, wenn ich auch den Boden, auf der sie sich befindet, rechtmäßig besitze. 15 Kant, Rechtslehre, a. a. O., AB 78, 79. 16 Insbesondere drängt sich natürlich die Frage auf, was denn metaphysisch an diesem Konstrukt distributiver Gerechtigkeit sei. In einem jüngst erschienenen Aufsatz vertei12 13
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Urteil, eine Eigentumsordnung daraufhin zu betrachten, als ob sie das Ergebnis eines solchen fiktiven Wettlaufs wäre? Was wird aus dem egalitären Recht der Inbesitznahme von Sachen in einem faktischen Zustand der Eigentumsungleichheit, also in einem Zustand, in dem schon alle Dinge im Privatbesitz sind? Die Antwort liefert Kants Auffassung von sozialer Gleichheit als formaler Chancengleichheit, die er im Gemeinspruchaufsatz expliziert: »Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder an Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer ihnen und an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere; so dass des einen Wohlfahrt sehr vom Willen des anderen abhängt (des Armen vom Reichen), dass der eine gehorsam sein muss (wie das Kind den Eltern, oder das Weib dem Mann) und der andere ihm befiehlt, dass der eine dient (als Tagelöhner) der andere lohnt, u. s. w. Aber dem Rechte nach […] sind sie dennoch, als Untertanen, alle einander gleich; weil keiner jemanden anders zwingen kann, als durch das öffentliche Gesetz (und den Vollzieher desselben, das Staatsoberhaupt), durch dieses aber auch jeder andere ihm in gleicher Maße widersteht […]. Aus dieser Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen als Untertanen geht nun auch die Formel hervor: Jedes Glied desselben muss zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertanen zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prägorativ (als Privilegatien für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten.« 17
Diese Konzeption von Chancengleichheit muss man nun in die Eigentumstheorie zurückprojizieren, in die Verfahrensbedingungen der prima occupatio. Kant kann nur dann sagen, dass die Erstaneignung dem allgemeinen Willen auf Eigentum entspricht, wenn alle digt Peter Unruh Kants Aneignungskonstrukt. Kant habe die ursprüngliche Erwerbung keineswegs an ein kontingentes temporales Kriterium gebunden: »Wenn eine ursprüngliche Erwerbung […] nur an einem solchen Gegenstand stattfinden kann, der niemand anderem angehört, dann bleibt als vernunftrechtlicher Maßstab nur die Priorität in der Zeit.« Das ist natürlich ein Fehlschluss. Daraus, dass die ursprüngliche Erwerbung nicht durch Tausch stattfinden kann, folgt keineswegs, dass als einziges Aneignungsverfahren eine Art Wettlauf übrig bliebe: Peter Unruh, »Die vernunftrechtliche Eigentumsbegründung bei Kant«, in: Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas, hrsg. von Andreas Eckl und Bernd Ludwig, München 2005, S. 133–147; hier S. 141 f. 17 Kant, »Gemeinspruch«, a. a. O., A 239 f.
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die gleiche Chance haben, von ihrem Erstaneignungsrecht Gebrauch zu machen. Kants Eigentumstheorie ist derart ein Paradebeispiel so genannter Wettlauftheorien (starting-gate theories) der Gerechtigkeit: Unter der Voraussetzung gleicher Startbedingungen ist es gerecht, dass Personen das behalten und als rechtmäßigen Besitz deklarieren können, was sie sich durch eigene Initiative, also eigenes Handeln angeeignet haben. 18 Weil die Umstände der Startbedingungen des Aneignungsverfahrens für jede Person gleich sind, lässt sich sagen, dass das, was Personen in ihren Besitz bringen, auf eigenen Leistungen gründet und nicht auf nichtverantworteten Begünstigungen. Die Gerechtigkeit der Verfahrensbedingungen überträgt sich so auf das Verfahrensergebnis. Die Eigentumsverteilung mag in ihrem Ergebnis extreme Ungleichheiten hervorbringen, sie ist jedoch egalitär als Ergebnis eines Verfahrens, das niemanden bei der Inbesitznahme bevorzugt oder benachteiligt. Genauer heißt das: Niemand wird daran gehindert, das zu tun, worauf er ein Recht hat. Und genau diese Verfahrensbedingung muss jede Eigentumsordnung erfüllen. Sie genügt dann dem egalitären Prinzip, dass Eigentum auf eigenen Anstrengungen gründen solle, und das heißt eben, dass niemand weniger oder keinen Besitz haben darf aufgrund von Umständen, die er nicht zu verantworten hat. Es ist also nicht allein der Erwerb einer Sache, durch den ich das Recht am exklusiven Gebrauch dieser Sache erwerbe. Es ist das Verfahren der Eigentumsübertragung, die allein als negative Freiheit definierte Chancengleichheit des rechtlich ungehinderten Erwerbenkönnens von Eigentum. Es ist gleiches Recht, wenn A sein Eigentum vor dem Eingriff von B, der nichts besitzt, schützt, obwohl dem Recht auf exklusiven Gebrauch von A kein Recht von B korrespondiert und so der Eigentumstitel ein soziales Verhältnis einseitiger Macht stiftet. A hat seine vom Recht garantierte Freiheit des Eigentumserwerbs wahrgenommen, aber nicht B, obwohl ihm das gleiche Recht eingeräumt wurde. Also gründet das Rechtsverhältnis zwischen A und B auf den freien Entscheidungen beider und ist gerecht. Anders gesagt: Eigentumstitel sind selbstverantwortete Rechte. Es ist dieses Freiheitsprinzip, das hinter Kants Eigentumstheorie steht und das von der durch Eigentum garantierten Freiheit bereits vorausgesetzt wird. Bekanntlich mündet Kants Eigentumstheorie in der Verpflichtung, Institutionen zu schaffen, die die Eigentumsrechte der Indivi18
Vgl. Abschnitt 6.4 dieser Arbeit. A
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duen unparteiisch bestimmen und mit unwiderstehlicher Macht sichern. Die »Anmaßung«, andere vom Gebrauch des von mir rechtmäßig Erworbenen auszuschließen, impliziere gleichzeitig meine Anerkennung der Eigentumsrechte anderer. 19 Das aber hat die Verpflichtung zur Folge, die institutionellen Bedingungen zu schaffen, unter denen jedem das Seine teilhaftig werden kann. Erst wenn die Rechtsparteien ihre Macht auf den Staat übertragen, kann es Recht im vollgültigen Sinne geben. Aber der peremtorische Status des Rechts im status civilis ändert nichts an der Eigentumsverteilung. Zwar ist die Legitimität der Gesetzgebung an den allgemeinen Willen gebunden: »Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.« 20 Aber der allgemeine Wille ist bei Kant auf die Eigentümer eingeschränkt. Der aktive Staatsbürgerstatus, die »Fähigkeit der Stimmgebung« komme nur denjenigen zu, die durch ihr Eigentum ökonomische Selbständigkeit erlangt haben, so dass ihre Existenz nicht von der Willkür eines anderen abhänge. 21 Mit dem Kriterium der ökonomischen Selbständigkeit definiert Kant nun einen Eigentumsbegriff, der auf einem vollkommen neuen Freiheitskonzept gründet. In der dem Privatrecht zugeordneten Eigentumstheorie findet er sich nicht. Durch den derart willkürlich verknüpften Zusammenhang zwischen bürgerlicher Selbständigkeit und politischer Freiheit ist die (zumindest das Eigentum betreffende) Gesetzgebung der Gerechtigkeitsforderung entbunden, die Interessen aller Bürger, also auch der ökonomisch unselbständigen, gleichermaßen zu berücksichtigen. Diese Herabwürdigung der Eigentumslosen wird von Kant allerdings im Sinne seiner Eigentumstheorie ermäßigt: Die Gesetze dürften niemanden daran hindern, sich zum bürgerlich selbständigen aktiven Staatsbürger »empor arbeiten zu können«. 22 Das formale Chancengleichheitprinzip fundiert damit auch Kants Auffassung politischer Gerechtigkeit.
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Kant, Rechtslehre, a. a. O., § 8. Ebd., § 46. Ebd. Ebd., A 169 B 199.
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Rawls: Chancengleichheit, Verdienst und natürliche Ungleichheit
2.2 Rawls: Chancengleichheit, Verdienst und natürliche Ungleichheit Rawls entwickelt in zwei Schritten aus dem Defizit der klassischen liberalen Auffassung von Chancengleichheit seinen zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz, der die Prinzipien einer sozial gerechten Marktwirtschaft definiert. Darunter versteht Rawls eine freie Marktwirtschaft, deren Effizienz »zu jedermanns Vorteil«, d. h. Pareto-optimal sein muss, und in der Positionen und Ämter allen Menschen, die sie erlangen möchten, offen stehen. Unter der Voraussetzung der Geltung der gleichen Bürgerrechte ist der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ein Prinzip erlaubter gesellschaftlicher Ungleichheiten. Rawls unterscheidet nun drei Konzeptionen von Chancengleichheit, die darum konkurrieren, die gerechte Ausdeutung dieses Grundgedankens sozialer Marktwirtschaft zu sein: (1) Das »System der natürlichen Freiheit« ist ein sozioökonomisches System des Laisser-faire, das das Verteilungsverfahren des freien Marktes als gerecht auszeichnet, »weil jeder wenigstens die gleichen gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen hat«. 23 Durch die Rahmenbedingungen negativer Chancengleichheit gelten die Tauschbeziehungen der Marktpartner als gerecht und mitfolgend die Besitzverhältnisse, die sich daraus ergeben. (2) Die »liberale Auffassung« sozialer Gerechtigkeit vertritt darüber hinaus eine Konzeption positiver Chancengleichheit: Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Bereitschaft, sie einzusetzen, müssen gleiche Erfolgsaussichten haben, vorteilhafte soziale Positionen zu erreichen, »unabhängig von ihrer anfänglichen gesellschaftlichen Stellung.« 24 Unter dieser einschränkenden Bedingung sind die Ergebnisse des freien Marktes gerecht: »Die Aussichten von Menschen mit gleichen Fähigkeiten und Motiven dürfen nicht von ihrer sozialen Schicht abhängen.« 25 (3) Im System demokratischer Gleichheit schließlich wird das Prinzip positiver Chancengleichheit um das Differenzprinzip ergänzt. Der Grundsatz liberaler Chancengleichheit bleibt auf die 23 24 25
Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. A
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Verteilung gesellschaftlicher Positionen eingeschränkt, die Einkommens- und Vermögensverteilung regelt das Differenzprinzip. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz soll so den »Einfluss natürlicher Fähigkeiten auf die Einkommens- und Vermögensverteilung« mildern. 26 Niemand darf aufgrund seines Mangels an marktgängigen Fähigkeiten, insofern diese auf angeborene Anlagen zurückzuführen sind, benachteiligt werden. Wer im Konkurrenzkampf liberaler Chancengleichheit schlechtere Startchancen hat als andere, die er nicht zu verantworten hat, verdient im System demokratischer Chancengleichheit einen Ausgleich im Sinne des Differenzprinzips. Rawls’ Argument für die dritte Konzeption einer sozialen Marktwirtschaft ist, dass sowohl die erste als auch die zweite Konzeption als ungerecht zu qualifizieren sind, wenn wir sie mit dem Grundgedanken sozialer Gerechtigkeit konfrontieren, auf dem das Chancengleichheitsprinzip basiert. Erst in einer durch demokratische Chancengleichheit wohlgeordneten Gesellschaft werden alle Bürger gleich behandelt, werden Individuen nicht für Dinge begünstigt oder benachteiligt, für die sie nicht das Mindeste können. Diese Definition sozialer Gleichheit 27 akzeptieren alle drei Vertreter einer besonderen Auffassung von Chancengleichheit, allein das dritte Prinzip wird ihr jedoch vollständig gerecht. Wir müssen also, um Rawls’ Argument zu verstehen, die Gerechtigkeitsprinzipien des Systems natürlicher Freiheit betrachten. Das Prinzip negativer Chancengleichheit verurteilt Nepotismus und soziale Hierarchien aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Religion usw. als ungerecht. Soziale Ungleichheiten dürfen nicht das Ergebnis rechtlicher Schranken sein, sondern müssen ausschließlich durch die eigenen Anstrengungen und Leistungen von Menschen erlangt werden können. Der Leistungsgedanke tritt an die Stelle ererbter Privilegien. »Jedes Glied« des Gemeinwesens muss, so Kant als ein prominenter Verfechter des Systems natürlicher Freiheit, »zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können«. 28 Das System der naEbd. Vgl. Thomas Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, Paderborn 1994, S. 152. 28 Immanuel Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt 26 27
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türlichen Freiheit beschreibt das Ideal einer Gesellschaft, in der die Chance jeder Person, soziale Positionen zu erreichen, allein von ihrem Talent und Fleiß abhängt. 29 Die Meritokratie erhebt das Verdienst zum alleinigen Maßstab einer gerechten Verteilung: Die Person hat alle sozialen Güter verdient, die die Früchte ihrer eigenen Anstrengungen sind. Ererbte Privilegien können einer Person nicht zugerechnet werden, »weil Geburt keine Tat desjenigen ist, der geboren wird.«, so Kant seine meritokratische Auffassung von sozialer Gleichheit auf den Punkt bringend. 30 Alle sozioökonomischen Ungleichheiten, die sich vor dem Hintergrund der rechtlichen Statusgleichheit der Bürger ergeben, fallen so in den Verantwortungsbereich des Einzelnen. Es kann daher nicht Aufgabe des Staates sein, durch Umverteilungen eine weiter gehende soziale Gleichheit zwischen den Menschen anzustreben. Der Vertreter des Gedankens liberaler Chancengleichheit erinnert nun den Libertären daran, dass sein Konzept deontologischer Verfahrensgerechtigkeit 31 seinem eigenen Verdienstprinzip nicht gerecht wird. Das Verfahren wird durch moralisch willkürliche Faktoren, z. B. die Klassenlage, beeinflusst. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit wird anders gedeutet. Das Verdienstprinzip des Systems natürlicher Freiheit ist insofern durch moralischen Zufall bestimmt, als der Person die Bevorzugung durch ihr soziales Herkunftsmilieu angerechnet wird, so als ob sie selbst dafür verantwortlich wäre, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden zu sein. Der Vertreter liberaler Chancengleichheit fordert daher ein weit gehend inkludierendes Ausbildungssystem, das gleiche Bildungschancen für alle sicher stellen soll. »Die Möglichkeit, sich das Wissen und Können seiner Kultur anzueignen, sollte nicht von der Klassenlage abhängen, und das Schulsystem, ob öffentlich oder privat, sollte auf den Abbau von Klassenschranken ausgerichtet sein.« 32 Aufgrund der deontologischen Prämisse, dass einer Person eine Handlung nur dann zuzurechnen ist, wenn sie diese verantwortet hat, gilt: Wenn das, was eine Person tut, in relevanter Weise von Faktoren abhängt, die außerhalb der Kontrolle der Person liegen, darf die aber nicht für die Praxis«, in: Werkausgabe Band XI hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1996, A 239. 29 Vgl. David Miller, Principles of Social Justice, a. a. O., S. 177. 30 Kant, »Gemeinspruch,« a. a. O., A 240. 31 Vgl. den folgenden Abschnitt (2.3). 32 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 94. A
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Handlung dieser Person kein Gegenstand einer moralischen Bewertung sein. 33 Eine Handlung, die als Grund für ein Verdienst gilt, ist Gegenstand einer moralischen Bewertung: Eine Person hat durch das, was sie getan hat, einen moralisch gerechtfertigten Anspruch auf ein Gut erworben. Der Verdienstgrund, soll er der Bedingung der Kontrollierbarkeit genügen, darf daher keine Eigenschaft sein, die die Person nicht zu verantworten hat. Eigenschaften wie die »ererbte« Klassenlage zählen nicht zum moralischen Personsein. Komplizierter wird die Sache, wenn die Handlung, auf der das Verdienst gründet, teilweise durch Faktoren beeinflusst wird, die der Handelnde nicht unter Kontrolle hat. Man bezeichnet solche externen Faktoren, die Gegenstand unserer moralischen Beurteilung sind, als moralischen Zufall. 34 Das aber scheint unserer Vorstellung moralischer Subjektivität zu widersprechen, die besagt, dass eine Person nur für das, was sie tut, verantwortlich sein kann. Es scheint moralisch willkürlich zu sein, eine Person für etwas, das sie nicht unter Kontrolle hat, dessen Urheber sie nicht ist, zum Gegenstand einer moralischen Bewertung zu machen. Als eine moralische Diskriminierung können wir bezeichnen, wenn Zufälligkeiten das Handeln von Personen in ungleicher Weise beeinflussen, wir sie aber dennoch gleichermaßen moralisch beurteilen. Darauf gründet das Argument für die liberale Chancengleichheit. Rawls’ Argument für den Gleichheitsgedanken seines zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes ist nun das folgende: Wenn der Liberale über sein Verdienstprinzip reflektiert, wird er nicht umhinkönnen einzugestehen, dass nicht nur die Zufälligkeiten der äußeren Umstände – also die soziale Klassenlage, in die die Person hineingeboren wird –, sondern auch die Zufälligkeit der Konstitution der Person – ihre angeborenen Begabungen – die Verdienstbasis in einer moralisch relevanten, also ungleichen Weise beeinflussen. Das liberale Verdienstprinzip gründet auf moralischem Zufall und kann daher kein grundlegendes Prinzip sozialer Gerechtigkeit sein. Es diskriminiert Personen aufgrund ihrer ungleichen naturgegebenen Konstitution. Der liberale Verdienstgedanke drängt, so Rawls’ radikales Argument, gewissermaßen zu seiner eigenen Entwertung.
Thomas Nagel, »Glück gehabt! Zufall als moralisches Problem«, in: ders., Über das Leben die Seele und den Tod, Königstein, Taunus 1984, S. 39–54; hier S. 40. 34 Ebd. 33
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Exkurs: Zum Begriff des Verdienstes
Das Argument von der Unverdientheit der eigenen Begabung führt Rawls also zu einer Ausdifferenzierung seines Grundsatzes sozialer Gerechtigkeit. Anders als die libertäre und die liberale Position unterscheidet Rawls zwei Sphären der sozialen Gerechtigkeit: Die Sphäre der Verteilung beruflicher Positionen und die Sphäre der Verteilung des materiellen Wohlstands. Der Geltungsbereich der Chancengleichheit bleibt auf die Verteilung beruflicher Positionen eingeschränkt und soll so seines meritokratischen Charakters beraubt werden. Die Talentierten und Tüchtigen dürfen keinen alleinigen Anspruch auf soziale Begünstigungen haben. Diese abstrakte Intuition bezeichnet gegenüber dem Prinzipienmonismus der anderen beiden Auffassungen von Chancengleichheit einen Gerechtigkeitsfortschritt. Aber er ist teuer erkauft. Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist gemäß dem Differenzprinzip nurmehr konsequentialistisch zu rechtfertigen, als Anreiz für Profitstreben, das die Menschen dazu motiviert, durch produktive Leistungen den gesellschaftlichen Wohlstand zu maximieren. Dieser ist im Sinne des Differenzprinzips so zu verteilen, dass die in der Einkommens- und Vermögenspyramide unten Stehenden einen größtmöglichen Nutzenzuwachs erhalten. Wenn aber das Zufallsglück angeborenen Talents die Zurechenbarkeit eigenen erfolgreichen Handelns auf dem Markt zerstört, ist damit eine Position benannt, die das Verdienst als ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit entwertet. Niemand kann sich durch eigenes Handeln Ansprüche auf soziale Begünstigungen selbst zurechnen. Eine derart radikal verdienstfeindliche Position widerspricht egalitaristischen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und liberalen Grundgedanken von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie selbst. Um diese These zu begründen, muss aber zunächst der Begriff des Verdienstes genauer analysiert werden.
2.3 Exkurs: Zum Begriff des Verdienstes Was für eine Art Recht ist das Verdienst? Wenn wir die Frage in dieser Abstraktheit stellen, erwarten wir eine Analyse des Begriffs, die allen seinen verschiedenen Verwendungsweisen gemein ist. Denn ganz unterschiedliche Dinge, Güter und Übel, können verdient werden: Auszeichnungen und Preise, Prüfungsnoten, Belohnungen und Strafen, Wertschätzungen und Missfallen, Wiedergutmachungen A
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Rawls über Chancengleichheit, Eigenverantwortung und Selbstachtung
usw. 35 Der Begriff des Verdienstes soll hier aber nicht in seiner umfassenden Bedeutung bestimmt werden. Es geht primär um eine Analyse des Begriffs im Zusammenhang mit der Idee der Chancengleichheit. Unter einer Chance versteht man die Möglichkeit, eine Handlungsoption wahrzunehmen. Chancengleichheit ist ein Gerechtigkeitsprinzip, dass die gleiche Möglichkeit für einen Personenkreis fordert, Ansprüche auf Güter durch eigenes Handeln zu erwerben. Diese selbst erworbenen Ansprüche können wir als Verdienst bezeichnen: Eine Person P hat ein Gut G aufgrund einer Handlung H verdient. H gilt als Verdienstgrund nur dann, wenn H im relevanten Sinne Ps Handlung ist. P ist verantwortlich für H, das heißt, es lag in Ps Macht, H zu tun oder nicht zu tun. Des Weiteren hat P H intendiert, so dass wir H als Ps Handlung bezeichnen können. 36 Auf die Verteilung welcher Güter findet das Gerechtigkeitsprinzip der Chancengleichheit Anwendung? Bernard Williams zufolge sind dies Güter, für die Folgendes gilt: Es sind erstens weithin begehrte Güter, die ihrem »Besitzer«, so kann man hinzufügen, gegenüber anderen Personen, die das Gut nicht besitzen, einen Vorteil verschaffen. Nicht der Wunsch oder das Bedürfnis begründet zweitens einen legitimen Anspruch auf das Gut, sondern ausschließlich die erfolgreiche eigene Anstrengung, das Gut zu erreichen. Das hängt damit zusammen, dass drittens Bedingungen des Zugangs erforderlich sind, die nicht jeder erfüllt. 37 Welche Handlungen sind nun relevante Verdienstgründe der in Frage stehenden Güter? Das hängt, so Williams, von der »wesentlichen Beschaffenheit« des Gutes ab. Williams führt als Beispiel die Verteilung von Schulbildung an. Wenn Privatschulen eine bessere Bildung vermitteln und Kinder aus wohlhabenden Familien so eine bessere Schulausbildung erhalten, die sie im Konkurrenzkampf um vorteilhafte soziale Positionen bevorzugt, dann verstößt diese Praxis gegen den Verdienstgedanken. Nicht alle Kinder, die gleich vielversprechend oder intelligent sind, können einen Anspruch auf eine höhere Ausbildung geltend machen. 38 Das Vermögen der Familie ist der Vgl. Joel Feinberg, »Justice and Personal Desert«, in: Pojman/McLeod, a. a. O., S. 73. Vgl. David Miller, »The Concept of Desert«, in: ders., Principles of Social Justice, Cambridge, Mass., 1999, S. 131–155; hier S. 133 ff. 37 Bernard Williams, »Der Gleichheitsgedanke«, in: ders., Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, S. 363–379; hier S. 387. 38 Williams, a. a. O., S. 386. 35 36
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Exkurs: Zum Begriff des Verdienstes
wirksame Grund für Ansprüche auf das betreffende Gut. Nicht nur stehen aber ererbte Privilegien als Distributionsgrund in keinem Zusammenhang zu Sinn und Zweck 39 des Gutes, sie sind auch keine Eigenschaften, die Personen durch eigenes Handeln als Verdienstgrund erwerben könnten. Die ungleiche Verteilung des sozialen Gutes der Schulbildung ist in diesem Fall ungerecht, weil sie unverdient ist. Im Verdienstgedanken verbirgt sich so immer auch das Werturteil, dass es gut ist, dass Ansprüche auf gewisse Güter nur durch eigene Handlungen erworben werden. Das Verdienst ist ein wesentlich komparativer Gerechtigkeitsstandard. Betrachten wir die Verteilung von Gütern, bei der die Qualifikation als besondere Verdienstbasis gilt, also berufliche Positionen. Michael Walzer bezeichnet als Amt jedweden Posten, »an dem die politische Gemeinschaft als Ganze Interesse nimmt, indem sie die Person, die den Posten innehaben soll, entweder direkt auswählt oder die Verfahren festlegt, nach denen sie ausgewählt werden soll.« 40 Das Amt ist eine soziale Position, die mit einer bestimmten Funktion, der Herstellung von Gütern, Dienstleistungen oder Machtbefugnissen, verbunden ist. Walzer macht darauf aufmerksam, dass das Amt in zweierlei Hinsicht ein Gut ist. Es ist ein Gut für den Amtsträger, der durch sein Amt einen sozialen oder ökonomischen Vorteil gegenüber anderen hat, und es ist ein Gut für die Nutznießer des Amtes, die »Klienten, Patienten und Konsumenten von Gütern und Dienstleistungen, die sich auf die Kompetenz von Amtsinhabern verlassen müssen.« 41 Die Funktion des Amtes bestimmt die Qualifikation als Verdienstgrund. 42 Das meint Williams, wenn er schreibt, dass die Verdienstkriterien in Bezug auf die jeweiligen Ämter rational sein müssen. Eine Person P hat einen Anspruch auf ein Gut G, wenn sie die von G geforderte Qualifikation Q erworben hat. 43 In dieser dreiEs sei denn, wir betrachteten Bildung als soziales Privileg. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 195. 41 Ebd., S. 198. 42 Diese einfache Tatsache wird gelegentlich übersehen. Es ist grotesk, Verteilungskriterien zu konstruieren, die die intrinsische Qualität der Funktion von Ämtern nicht berücksichtigen. Vgl. Norman Daniels, »Merit and Meritocracy«, in: Pojman/McLeod, a. a. O., S. 224–233; Andrew Mason, »Equality of Opportunity, Old and New«, in: Ethics 111/2001, S. 760–781. 43 Die Dinge verhalten sich natürlich komplizierter. Bei der Vergabe von Ämtern begründet die Qualifikation nicht schon einen Anspruch auf das Amt, sondern das Recht auf gleiche Berücksichtigung im Auswahlverfahren: Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 205. 39 40
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stelligen Relation taucht keine zweite Person auf. Der Verdienstgrund Q bezeichnet einen absoluten Standard, den Personen erfüllen müssen, und ist daher wesentlich nichtkomparativer Natur. 44 Das Verdienst ist aber der Grund für die Bevorzugung einer Person gegenüber einer anderen, die kein oder weniger Verdienst besitzt, und in diesem Sinn auch ein komparatives Gerechtigkeitsurteil. Q ist daher nur ein notwendiger, kein hinreichender Verdienstgrund. Q gründet nur dann ausschließlich auf den eigenen Leistungen von P, wenn niemand anderes ohne eigenes Verschulden daran gehindert wurde, Q zu erwerben und wenn niemand anderes, der Q erworben hat, ohne eigenes Verschulden bei der Verteilung von G nicht berücksichtigt wurde. Nur unter diesen beiden Bedingungen können wir sagen, dass P im Wettbewerb um G einen Anspruch auf G und also seine Bevorzugung allein durch eigene Leistung erworben hat. Unser Verdienst ist ein Kriterium der Verfahrensgerechtigkeit. Wir beurteilen nicht primär die Gerechtigkeitsansprüche einer Einzelperson, sondern das gesellschaftliche System der Institutionen, die durch öffentliche Regeln die Verteilung von Gütern bestimmen. Wie beeinflusst die Grundstruktur der Gesellschaft, um mit Rawls zu sprechen, die Lebenspläne der Gesellschaftsmitglieder? Besitzen alle, die G erreichen möchten, die gleiche Chance, Q als Verdienstbasis zu erwerben? Wäre z. B. ein Hochschulzeugnis als Qualifikation hinreichende Verdienstbasis, könnte es dennoch der Fall sein, dass Menschen vom Zugang zu Ämtern ausgeschlossen werden, die aufgrund gesellschaftlicher Umstände keine Möglichkeit hatten, sich durch eine entsprechende Schulbildung für die Hochschule zu qualifizieren. Das Verdienst ist ein Gerechtigkeitskriterium nur in einem Verfahren der Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder. Auch wenn A sich durch eigene Anstrengungen für das Gut G qualifiziert hat, so ist er doch gegenüber B, der keine Chance hatte, sich im Bildungssystem der Gesellschaft zu qualifizieren, bei der Verteilung von G begünstigt. Diese Begünstigung gegenüber B hat A aber nicht zu verantworten. A hat seine Begünstigung gegenüber B nicht verdient. Im Zentrum des Prinzips der Chancengleichheit steht so ein Begriff freier, verantworteter Handlungen. Nur wenn Personen verantwortlich für ihre Handlungen sind, können wir zwischen verantworteten und nichtverantworteten Benachteiligungen unterscheiden. Verdienstfeindliche Positionen, die jedes Verdienst als Ausdruck 44
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Qualifikation ist natürlich ein graduierbarer Begriff.
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einer nichtverantworteten Bevorzugung denunzieren, weil Verdienste im Letzten nicht auf Handlungen, sondern auf kontingenten personalen Eigenschaften wie z. B. das Talent gründeten, müssen daher konsequenterweise das Prinzip der Chancengleichheit verabschieden. Die verdienstfeindliche Position kennt keine Güter, die Menschen durch eigene Handlungen rechtmäßig erwerben. Der Vertreter der verdienstfeindlichen Position wird diesen letzten Satz zurückweisen. Nicht jede durch eigenes Handeln erworbene Berechtigung ist ein Verdienst im oben beschriebenen Sinne. Der Begriff des Verdienstes ist noch nicht hinreichend bestimmt. Auf Joel Feinberg geht die Unterscheidung zwischen Verdienst und Berechtigung (entitlement) zurück. Beides sind Arten und Weisen der Qualifikation, die sich aber in der Hinsicht ihres normativen Geltungsanspruchs unterscheiden. Beispielsweise qualifiziert sich der Präsident in einer Demokratie für sein Amt, indem er die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt. Er hat daher einen berechtigten Anspruch auf das Amt. Es macht aber auch Sinn zu sagen, dass der Präsident das Amt nicht verdient hat, wenn er keinen Gerechtigkeitssinn oder keine wirtschaftliche Kompetenz besitzt. 45 Feinberg schlussfolgert daraus, dass Verdienste präinstitutionelle moralische Ansprüche sind, die von legalen oder konventionellen, also positiv geltenden Rechtsansprüchen, Berechtigungen, zu unterscheiden sind. Sie sind insofern naturrechtsanaloge moralische Ansprüche, als sie die Normativität geltender Regeln allererst bewerten. Sie sind aber von anderen moralischen Rechten, z. B. Menschenrechten, dadurch unterschieden, dass sie eine schwächere normative Dignität besitzen: Verdienste sind normativ gültig in einem ceteribis paribus oder pro tanto Sinn. Wenn eine Person X verdient, ist das ein starker Grund, ihr X zu geben, aber kein Grund, der nicht durch andere konkurrierende Rechte übertrumpft werden könnte. 46 Das, wozu wir berechtigt sind, muss nicht verdient sein, und das, was wir verdienen, muss nicht berechtigt sein. Wenn wir unter Verdienst ein Gerechtigkeitskriterium verstehen und wenn wir Gerechtigkeit nicht mit der Geltung positiver Regelsysteme verwechseln, folgt trivialerweise, dass Verdienst und Berechtigung zu unterscheiden sind. Regeln können gerecht oder ungerecht sein. Aber wie ist die präinstitutionelle Gültigkeit von Ver45 46
Feinberg, »Desert«, a. a. O., S. 71 f. Ebd., S. 73. A
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dienstansprüchen genauer zu verstehen? Sollen wir sagen, dass bestimmte Personen ein Recht darauf haben, dass Institutionen geschaffen werden, die ihre Handlungen belohnen? Haben z. B. Marathonläufer ein Recht darauf, dass wir Wettkämpfe veranstalten, um den schnellsten Läufer zu küren? Das Verdienst ist kein von Institutionen unabhängiges Gerechtigkeitskriterium. 47 Ohne eine Institution, die bestimmte Handlungen belohnt, gäbe es kein Gut, das verdient werden könnte. Niemand kann eine Goldmedaille für athletische Leistungen gewinnen, wenn es keine Institution wie die Olympischen Spiele gibt, die Goldmedaillen verteilt. Aber auch die Verdienstbasis setzt Institutionen voraus. Es gibt keinen Grund, eine athletische Leistung zu honorieren, die nicht in einem athletischen Wettkampf vollzogen wird. Wenn keine Institution existiert, die bestimmte Handlungen als verdienstvoll auszeichnet, gibt es keinen Grund das Handeln von Personen zu belohnen. 48 Das Verdienst scheint somit ein abgeleitetes, kein grundlegendes Gerechtigkeitskriterium zu sein. Das ist offensichtlich bei moralischem Verdienst der Fall. Die Würdigkeit, glückselig zu werden, das Kantisch verdiente Glück, setzt eine Bestimmung des moralischen Werts der Person voraus. Das Gleiche gilt für das negative Verdienst der Strafe. Auch verdiente Bestrafung setzt Maßstäbe von Recht und Unrecht voraus. Beides sind Verdienste, die aus der moralischen Bewertung der Gesinnung bzw. des Handelns abgeleitet sind. Was moralisch richtig und falsch, was Recht und Unrecht ist, resultiert nicht aus dem Verdienstkriterium, sondern umgekehrt. In einer gewissen Analogie hierzu gibt es die Auffassung, dass auch im Kontext sozialer Gerechtigkeit das Verdienst nur ein abgeleitetes Kriterium der Gerechtigkeit sei. 49 Die Institutionen der Gesellschaft werden nicht danach bewertet, ob sie den Gesellschaftsmitgliedern das geben, was sie verdienen, sondern es sind die normativen Verfahrensregeln selbst, die allererst festlegen, worauf Personen berechtigte Ansprüche geltend machen können. Das ist Rawls’ Auffassung von Verfahrensgerechtigkeit, die seinem Differenzprinzip zugrunde liegt. Faire Rahmenbedingungen garanVgl. Miller, »Desert«, a. a. O., S. 138 ff. Ebd. 49 Selbstverständlich begründet sich der Anspruch auf soziale Güter nicht durch die moralische Gesinnung der Gesellschaftsmitglieder. Daher ist hier von Analogie die Rede. 47 48
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tieren ein Distributionsverfahren, das »auch wirklich durchgeführt werden muss«, um die gerechten Verfahrensergebnisse zu bestimmen. 50 Um Rawls’ Konzeption einer solchen Verfahrensgerechtigkeit zu verstehen, müssen zwei Konzeptionen von Verfahrensgerechtigkeit unterschieden werden: deontologische und konsequentialistische bzw. teleologische Konzeptionen. Letztere bewerten die Folgen des Verfahrens der Güterverteilung. Es wird gefragt, ob eine Verteilung zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand, Freiheit, Gleichheit usw. führt. Deontologische Theorien der Verfahrensgerechtigkeit hingegen bewerten die Ursachen der durch die Institutionen der Gesellschaft herbeigeführten Verteilungsstruktur. Eine Verteilung ist gerecht, wenn die Art und Weise, wie sie herbeigeführt wurde, kein Gesellschaftsmitglied diskriminiert. 51 Aus dieser Unterscheidung ergeben sich nun zwei Möglichkeiten der Bewertung personalen Verdienstes. 52 (1) Instrumentelles Verdienst: Handlungen von Personen werden aufgrund ihrer guten Konsequenzen belohnt. Ein Beispiel für das instrumentelle Verdienst ist die Idee der Anreize für besonders produktive Tätigkeiten. Ein Wirtschaftssystem, dass durch Lohn- und Vermögensungleichheiten Anreize schafft, die die Menschen zu produktiven Leistungen motivieren, führt zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand als ein System, das stärker an Lohn- und Vermögensgleichheiten orientiert ist. Personen haben also ihren größeren Anteil an materiellen Gütern genau dann verdient, wenn das Verfahren der Ungleichverteilung gute Konsequenzen hat. Wirkte die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht als Leistungsanreiz, hätte niemand seinen Wohlstand verdient. Das Verdienst ist geltungslogisch der Idee einer guten Gesellschaft nachgeordnet, die der zentrale Wert dieser Position ist. Handlungen als Basis für Verdienstansprüche werden nur danach beurteilt, inwiefern sie zu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 108. Zur Unterscheidung von deontologischen und teleologischen Theorien der Verfahrensgerechtigkeit vgl. Thomas Nagel, »Justice and Nature«, in: ders, Concealment and Exposure and other Essays, Oxford 2002, S. 113–133; hier S. 114 ff. und Derek Parfit, a. a. O., S. 88 ff. 52 Zur folgenden Unterscheidung vgl. Amartya Sen, »Merit and Justice«, in: Meritocracy and Economic Inequality, hrsg. von Kenneth Arrow u. a., Princeton 2000, S. 5– 15; hier S. 8. 50 51
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diesem Wert beitragen. Die Person hat ein Gut aufgrund einer eigenen Handlung genau dann verdient, wenn die Handlung gute Folgen hat. (2) Intrinsisches Verdienst: Handlungen werden aufgrund ihrer Eigenschaften, nicht ihrer Folgen beurteilt. Das ist der Verdienstgedanke, der uns oben im Kontext des Prinzips der Chancengleichheit beschäftigt hat. Ein einfaches Beispiel mag diese Unterscheidung veranschaulichen. Betrachten wir die Gerechtigkeitsforderung, wonach Frauen und Männer gleichen Lohn für gleiche Arbeit verdienen. Dieses Prinzip lässt sich dadurch rechtfertigen, dass man auf die möglichen guten Konsequenzen einer gleichen Entlohnung aufmerksam macht: Wenn Frauen einen größeren Anreiz haben, mit Männern um Ämter zu konkurrieren, steigt durch den Wettbewerbsdruck die Notwendigkeit zu besserer Qualifikation. Das wiederum führt zu größerer Produktivität und gesellschaftlichem Wohlstand usw. Nach einem deontologischen Standard hingegen ist die Ungleichverteilung von Einkommen in diesem Fall falsch, weil sie ungerecht ist. Das Verfahren der Verteilung von Einkommen gründet auf einem diskriminierenden Standard der Bewertung von Arbeit. Es gibt keinen Grund der Bevorzugung oder Benachteiligung von Männern gegenüber Frauen, den Personen als Verdienstbasis durch eigene Handlungen erwerben könnten. Das Beispiel macht deutlich, dass der Verdienstgedanke seinen Ort nur in deontologischen Theorien der Verfahrensgerechtigkeit hat. Was Rawls hier als Verfahrensgerechtigkeit beschreibt, ist Ausdruck des moralischen Konsequenzialismus’ seines Differenzprinzips: Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist gerecht, wenn sie den am stärksten Benachteiligten den größten Vorteil bringt. In diesem Fall haben die besser Verdienenden »berechtigte Erwartungen« auf die Früchte ihrer Arbeit. Berechtigt sind die Erwartungen auf einen größeren Verdienst, weil er als Leistungsanreiz Menschen dazu motiviert, produktiv tätig zu werden. »Ihre besseren Aussichten wirken als Anreize zur Verbesserung der Wirtschaft, Neuerungen werden rascher eingeführt, und so weiter.« 53 Kein gesellschaftlicher Wohlstand ohne Profitstreben. Wenn aber die durch die wirtschaftlichen Institutionen verantwortete Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht den Nutzeffekt für die am stärksten 53
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benachteiligten Gesellschaftsmitglieder hat, rechtfertigt das Differenzprinzip Umverteilungen, ganz unabhängig davon, was die Bürger für ihr Einkommen und Vermögen getan haben. Forderungen nach Einkommensgerechtigkeit, wie die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit oder die Forderung nach Anerkennung besonderer Leistungen oder die Berücksichtigung ungleicher Arbeitszeiten, sind völlig uninteressant, weil das Differenzprinzip die Tätigkeiten der Bürger als Basis für Gerechtigkeitsansprüche nicht berücksichtigt. Vielmehr sind nach dem Differenzprinzip diese Forderungen ungerecht, wenn zufälligerweise der Nachweis erbracht wird, dass sie mit den Interessen der am stärksten Benachteiligten in Konflikt geraten. 54 Berechtigte Erwartungen haben ausschließlich hypothetischen Charakter. 55 Daher sieht sich Rawls gezwungen auch im Kontext der Einkommens- und Vermögensverteilung dem antidiskriminatorischen Chancengleichheitsprinzip Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip einzuräumen: Bestimmte diskriminierende Gründe für ungleiches Einkommen und Vermögen sind in jedem Fall ungerecht, auch dann wenn sie den besonders schlecht Gestellten nutzen. 56 Die Gegenüberstellung von deontologischen und konsequentialistischen Modellen der Verfahrensgerechtigkeit macht deutlich, dass der Verdienstgedanke insofern präinstitutioneller Natur ist, als er, wie Miller schreibt, dem, was als gerechtes gesellschaftliches Distributionsverfahren von Gütern gelten kann, substantielle Grenzen setzt. 57 Deontologische Modelle der Verfahrensgerechtigkeit beurteilen Institutionen danach, ob die Gründe für einen bestimmten Verteilungszustand die Ansprüche von Personen auf Güter fair berücksichtigen. Gefragt wird, ob der Zustand der Güterverteilung in einer Art und Weise herbeigeführt wurde, die niemandes Verdienstansprüche verletzt. Konsequentialistische Modelle der Verfahrensgerechtigkeit sind zukunftszugewandt. Sie beurteilen ein Verfahren Miller, »Desert«, a. a. O., S. 141 und S. 151 f. Die Rechtfertigung sozioökonomischer Ungleichheiten als Anreizsystem für größere Produktivität basiert, so Sen, auf der Logik der Erpressung. Es ist notwendig, Menschen einen größeren Anteil zuzugestehen, weil das die einzige Möglichkeit ist, einen Nutzen zu erzielen. An sich aber ist es schlecht, wenn sie mehr bekommen als andere, weil und insofern ein Nutzenkriterium der einzige Grund ist, warum Ungleichheiten gerechtfertigt werden können: Sen, »Merit and Justice«, a. a. O., S. 13. 56 John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt/M. 2003, S. 112 ff. 57 Ebd., S. 141. 54 55
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der Güterverteilung nach seinem Ergebnis, ganz unabhängig davon, wie die Art und Weise der Güterverteilung die Rechte und Ansprüche von Personen oder sozialen Gruppen berücksichtigt, wie sie also herbeigeführt wurde. Bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen gibt es keine Rechte und Verdienstansprüche zu berücksichtigen, die mit dem Nutzenkriterium des Differenzprinzips konkurrieren. Rawls begründet diese Abart des Konsequentialismus aber deontologisch: Nicht, weil es gut ist, wenn die am stärksten Benachteiligten einen Vorteil haben, ist das Differenzprinzip gerechtfertigt, sondern weil alle intrinsischen Verdienstansprüche auf einen größeren Anteil an Einkommen und Vermögen notwendig auf einen diskriminierenden Gerechtigkeitsstandard zurückzuführen sind. 58 Rawls hat auf diese Weise den Verdienstgedanken in der politischen Philosophie in Verruf gebracht. So vertritt Amartya Sen in seinem Aufsatz »Merit and Justice« die These, dass der Verdienstgedanke als Kriterium sozialer Gerechtigkeit nurmehr instrumentell zu fassen sei. Die durch eigene Tätigkeit begründeten Ansprüche von Personen seien rein kontingenter Natur, abgeleitet aus der normativen Idee einer guten Gesellschaft, zu der diese Tätigkeiten beitragen. Im Zentrum und an erster Stelle stehe daher immer die Frage, »as to what the ›valued consequences‹ are and how the success and failure of a society are to be judged.« 59 Sen veranschaulicht seine These an einem Beispiel. Kurz nach der Unabhängigkeit führte die Regierung Indiens eine Politik der bevorzugten Einstellung in den öffentlichen Dienst von Kandidaten aus unteren Kasten ein, »reserving a certain proportion of places for them minimally, although recruitment in gerneral was governed by examination. The argument defending this preference system was partly based on some notion of fairness to the candidates (given the educational and social handicap typically experienced by lower caste candidates), but more important, it was argued that the reduction of inequality in the society at large depended on breaking the effective monopoly of upper-caste civil servants.« 60 Die bevorzugte Einstellung gründete auf einem instrumentellen Verdienstgedanken. Ziel des Einstellungsverfahrens war eine egalitäre Gesellschaft. Was Sen hier beschreibt, ist jedoch etwas ganz anderes als 58 59 60
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Nagel, »Justice and Nature«, a. a. O., S. 116 f. Sen, »Merit and Justice«, a. a. O., S. 9. Ebd., S. 10.
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Rawls’ Modell einer an den Verteilungsergebnissen orientierten Verfahrensgerechtigkeit. Das Differenzprinzip ist Ausdruck eines intrinsischen Konsequentialismus. Danach ist es gerechtfertigt, bestimmte Güter ausschließlich nach Nutzenkriterien zu verteilen. Quotierungen dagegen lassen sich nur als provisorischer Konsequentialismus rechtfertigen. Die Idee einer guten Gesellschaft, die dieser Reformpolitik zugrunde lag, ist eine solche, in der Menschen nicht diskriminiert werden, in der es keine Statushierarchien zwischen den Gesellschaftsmitgliedern gibt. Daraus folgt, dass öffentliche Ämter ausschließlich auf der Basis von Qualifikation vergeben werden müssen, und nicht aufgrund von Eigenschaften der Bewerber, die soziale Hierarchien begründen. Ziel einer solchen Maßnahme ist also eine Gesellschaft, die durch individuelle Rechte und im Fall der Verteilung von Ämtern durch den Verdienstgedanken charakterisiert ist. Das Beispiel aus Indien verhält sich daher genau umgekehrt zu Sens These: Eine gute Gesellschaft verteilt Ämter aufgrund von Verdienst. Wir müssen also die Verdienstkriterien kennen, um die gute Gesellschaft zu beschreiben. Ziel der Quotierung ist die Aufhebung der Quotierung. Bevorzugte Einstellungen bedeuten eine Abweichung vom Prinzip der Chancengleichheit, weil sie Personen aufgrund von Eigenschaften, nicht von Qualifikationen bevorzugen. 61 Sie sind daher nur als Mittel zu rechtfertigen, um einen Zustand herbeizuführen, indem nur noch die Qualifikation das Recht auf Berücksichtigung in Einstellungsverfahren begründet. 62 Das Verdienst ist ein wichtiges Prinzip sozialer Gerechtigkeit im Kontext der Verteilung von sozialen Positionen, ohne das antidiskriminatorische Forderungen nach Chancengleichheit gegenstandslos würden.
Quotierungen werden daher auch als »umgekehrte Diskriminierung« bezeichnet. Quotierungen, die in der Vergangenheit diskriminierte und unterdrückte soziale Gruppen bevorzugen, sind daher nur beschränkt im Sinne von Wiedergutmachungen zu bewerten. Es ist ein Gebot korrektiver Gerechtigkeit, die Spätfolgen von Unrecht zu beseitigen, das der Quotierung besondere Dignität verleiht. Vergessen werden darf aber nicht die Benachteiligung der Mitbewerber, die sich nicht im Sinne korrektiver Gerechtigkeit rechtfertigen lässt: Die werden aufgrund von Faktoren bestraft, die sie nicht zu verantworten haben.
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2.4 Zum Vorrang des Verdienstes bei Rawls Rawls unterscheidet nun, wie Thomas Nagel hervorhebt, drei Kategorien von Ursachen, die die Lebenschancen der Menschen in einer gerechtigkeitsrelevanten Art und Weise beeinflussen. Das System der natürlichen Gleichheit wendet sich gegen absichtliche Diskriminierung, gegen den rechtlich erzwungenen Ausschluss von Individuen vom Zugang zu gesellschaftlichen Positionen aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit. Die Auffassung liberaler Chancengleichheit verurteilt zusätzlich die Auswirkungen der Klassenlage des Individuums. Sie richtet sich gegen ererbte Klassenvorteile. Wie gerecht auch immer der Erwerb des Besitzes der Vorfahren war, die Vorteile ihres familiären Herkommens sind der Person nicht als eigenes Verdienst anzurechnen. Chancenungleichheit aufgrund vererbter Privilegien ist aber nicht das Ergebnis vorsätzlicher Diskriminierung, sondern »das pure Nebenprodukt der Wirkungsweise des Gesellschaftssystems, das auch soziale Mobilität zulässt.« 63 Ungleiche Lebenschancen durch die natürliche Begabungsausstattung schließlich sind nicht in erster Linie gesellschaftlich (direkt oder indirekt) verursacht. »Der Begabungsfaktor ist eine strikt interne Eigenschaft des Individuums und weitaus mehr ein Aspekt dessen, was ein Mensch an ihm selbst ist als die Faktoren der Diskriminierung und Klassenlage, obschon sie natürlich erst vermöge seiner gesellschaftlichen Interaktion mit anderen zu materiellem Gewinn führt.« 64 Wieso ist die Gesellschaft für Ungleichheiten, die doch der Natur anzulasten sind, verantwortlich? Nach Nagel ist die Gesellschaft für einen bestimmten Verteilungszustand nicht nur dann verantwortlich, wenn sie ihn absichtlich herbeiführt (positive Verantwortlichkeit), sondern auch dann, wenn sie auch einen anderen herbeiführen könnte. Er nennt dies das Kriterium negativer Verantwortlichkeit. 65 Das ist natürlich noch kein Grund, einen bestimmten Verteilungszustand als ungerecht zu qualifizieren. Wir könnten ansonsten jeden beliebigen Zustand, der sich gesellschaftlich verändern ließe, als ungerecht bezeichnen, ohne aber einen besonderen Grund zu nennen, wieso die Gesellschaft eine Änderung herbeiführen sollte. Nach Rawls ist der Einfluss natürlicher 63 64 65
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Nagel, Gleichheit und Parteilichkeit, a. a. O., S. 149. Ebd., S. 150. Ebd., S. 140.
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Zum Vorrang des Verdienstes bei Rawls
Begabung auf die Verteilung der gesellschaftlichen Grundgüter ungerecht, weil die Gesellschaft es zulässt, dass Menschen für unverdiente Benachteiligungen bestraft werden. Alle drei Ursachen von Chancenungleichheit verstoßen nach Rawls gegen ein und dasselbe abstrakte Gerechtigkeitsprinzip: Alle sozialen Ungleichheiten müssen das Ergebnis der freiwilligen Handlungen der Menschen sein. Sind aber alle Ungleichheiten, die nicht das Ergebnis der freiwilligen Handlungen der Menschen sind, gleichermaßen ungerecht? Nagel zufolge tendieren wir bei den drei genannten Ungerechtigkeitsfaktoren »zu einer unterschiedlichen ethischen Gewichtung«. 66 Wir machen einen Unterschied zwischen vorsätzlichen Diskriminierungen, in denen sich der Wille äußert, bestimmte gesellschaftliche Gruppen vom Zugang zu vorteilhaften sozialen Positionen auszuschließen, und solchen Diskriminierungen, die überwiegend das Ergebnis von Unterlassungen (als Nebenprodukt eines marktwirtschaftlichen Systems) sind. Dieser Unterschied verleiht beispielsweise der Forderung nach positiver Chancengleichheit für gesellschaftliche Gruppen besondere Dignität, die in der Vergangenheit vorsätzlich diskriminiert wurden, aber auch nach Wegfall der rechtlichen Schranken insbesondere ökonomisch benachteiligt sind. 67 Wenn das richtig ist, dann hat der Einfluss von Lebensumständen auf die Verteilung der sozialen Grundgüter ein unterschiedliches moralisches Gewicht: Die Zugehörigkeit zu einer (in der Vergangenheit diskriminierten) gesellschaftlichen Gruppe ist anders zu gewichten als der Mangel an marktgängigen Talenten. Die besondere Merkwürdigkeit des Arguments von der Unverdientheit der eigenen Begabung liegt aber nun in der Paradoxie der Eliminierung desjenigen Kriteriums, das dieser moralischen Beurteilung zugrunde liegt: des Verdienstes. Nach welchen Kriterien sollen wir den Verstoß gegen den negativen und positiven Chancengleichheitsgedanken verurteilen, wenn es in sich ungerecht ist, wenn Menschen durch die Ausbildung ihrer natürlichen Talente intrinsische Ansprüche auf vorteilhafte soziale Positionen erwerben? Das Prinzip der Chancengleichheit, sowohl in seiner negativen als auch in der positiven Formulierung, gründet auf dem Verdienstgedanken. Wir können nicht beides gleichzeitig als moralisch gültig anerkennen: (1) das verdienstfeindliche Argument und (2) die Idee sozialer Mobi66 67
Ebd., S. 153. Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., Kap. 12. A
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Rawls über Chancengleichheit, Eigenverantwortung und Selbstachtung
lität, die das Prinzip der Chancengleichheit ausdrückt. Wir müssen uns entweder für (1) oder (2) entscheiden. So vertritt beispielsweise Andrew Mason eine Auffassung von Chancengleichheit, die die Offenheit sozialer Positionen für alle diejenigen, die sich für sie qualifizieren wollen, einschränkt: »what may count as a qualification for a job is constrained in some way by the aim of preventing people from suffering disadvantage for which they cannot legitimately be held responsible.« 68 Die Qualifikation ist für Mason keine hinreichende Verdienstbasis. Ob eine Person einen Anspruch auf ein Amt erwirbt, hängt davon ab, ob ihr Erfolg einer anderen, weniger begabten Person nutzt. Das ist nicht Rawls’ Position. Er unterscheidet anders als die meritokratische Auffassung von Chancengleichheit streng zwischen der Gerechtigkeit der Verteilung vorteilhafter sozialer Positionen und der Gerechtigkeit der Verteilung von Einkommen und Vermögen, also den ökonomischen Gratifikationen der Positionen. Der normative Konsequentialismus des Differenzprinzips hat daher nicht die Verteilung aller sozialen Vorteile zu seinem Anwendungsgegenstand, sondern nur die Einkommens- und Vermögensungleichheit. Das Prinzip liberaler Chancengleichheit regelt hingegen die Verteilung der Ämter. Das bedeutet, dass Rawls keine verdienstfeindliche Position vertritt. Gesellschaftliche Positionen müssen allen offen stehen, die sie erreichen wollen und können. Rawls hat den Verdienstgedanken also nicht nur nicht verabschiedet. Er weist ihm auch einen geltungslogischen Vorrang gegenüber der Begünstigung der in der Einkommensund Vermögenshierarchie am meisten Benachteiligten zu. Der Vorrang des Chancengleichheitsprinzips macht nur Sinn, wenn wir annehmen, dass es mit dem Differenzprinzip in Konflikt geraten kann. Nach Rawls ist es eine nicht zu rechtfertigende Ungerechtigkeit, wenn Personen um eines ökonomischen Nutzens willen, wie immer wir den verteilen mögen, die Möglichkeit verwehrt wird, sich für besondere Positionen zu qualifizieren. Auch ein zu erwartender Nutzen für die natürlich Benachteiligten kann eine solche Diskriminierung nicht rechtfertigen. Darin spricht sich, so Thomas Nagel, die implizite Überzeugung aus, dass Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Ethnie und sozialer Klasse wesentlich ungerechter sind als die vermeintliche Diskriminierung, die den Minderbegabten widerfährt. Hinter dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz stünden 68
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Mason, »Equality of Opportunity«, a. a. O., S. 779.
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Zum Vorrang des Verdienstes bei Rawls
daher zwei unterschiedliche Ideen. Die eine ist die allgemeine Idee, dass alle Ursachen für soziale Ungleichheiten, die das Individuum nicht zu verantworten hat, moralisch willkürlich sind. Die andere Idee bezeichnet die unterschiedliche Illegitimität von unterschiedlichen Typen von Ursachen sozialer Ungleichheiten. »The idea is that preservation of equal opportunity can warrant the sacrifice of the interests of the worst-off class, and the sacrifice of more general socioeconomic equality.« 69 Obwohl doch angeblich niemand seine eigene Begabung verdient hat und mitfolgend nichts, was durch den Einsatz dieser Begabung verursacht wurde, gilt die Bereitschaft, seine Talente zu Fähigkeiten zu entwickeln, um sich für Ämter zu qualifizieren, als Rechtfertigungsgrund, das Ausgleichsprinzip für unverdientes Talent im Konfliktfall zu übertrumpfen. Für diese Auffassung muss es Gründe geben. Zwei Perspektiven sind zu unterscheiden: die Perspektive der Gesellschaft, also derjenigen, die diskriminieren, und die Perspektive derjenigen, die diskriminiert werden. Aus der ersten Perspektive könnte man als Grund anführen, dass vorsätzliche Diskriminierung besonders ungerecht sei, weil darin der Wille zum Ausdruck gelange, die Gesellschaft hierarchisch zu strukturieren und einem Teil der Bürger den Status der gleichen Mitgliedschaft abzusprechen. Aber Rawls räumt auch der Idee positiver Chancengleichheit einen Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip ein. Auch die ungleichen Effekte der Klassenlage sind ungerechter als die ungleichen Effekte angeborenen Talents. Im Konfliktfall, wenn die Gesellschaft entscheiden muss, ob sie knappe Ressourcen in das Bildungssystem investieren oder ob sie das Wohlstandsniveau der am meisten Benachteiligten anheben soll, plädiert Rawls implizit dafür, so Nagel zutreffend, die Interessen der letzteren zu opfern. »If in these circumstances one gave priority to equal chances for those who are capable of advanced education over a rise in the social minimum for those who are not, it would mean that one regard the arbitrary influence of class on people’s life propects as more unfair than the arbitrary influence of the natural lottery – that one thought it was more important to protect social mobility than to diminish inequality of reward.« 70
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Nagel, »Justice and Nature«, a. a. O., S. 121 f. Nagel, »Justice and Nature«, a. a. O., S. 122. A
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Rawls über Chancengleichheit, Eigenverantwortung und Selbstachtung
Den entscheidenden Grund für den Vorrang des Prinzips liberaler Chancengleichheit vor dem Differenzprinzip müssen wir in der Perspektive derjenigen suchen, die Ämter erstreben. Was für ein Gut ist ein Amt, eine mit Vorteilen ausgestattete soziale Position, für die sich Menschen qualifizieren müssen? Nagel versäumt es diese Frage zu stellen. Seine Kritik an der Gleichheitsauffassung, die dem Differenzprinzip zugrunde liegt, bleibt daher unvollständig. Der Vorrang des Chancengleichheitsgedankens vor dem Differenzprinzip bedeutet, dass vorteilhafte soziale Positionen und Wohlstandsmaximierung die Gegenstände inkommensurabler Interessen bezeichnen. Ansonsten würde der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz von den Personen im Urzustand nicht gewählt. Der Ausschluss von sozialen Positionen ist für Bürger nicht hinnehmbar, und zwar auch dann nicht, wenn er die Bedingung größeren Wohlstands sein sollte. Das besagt der »Grundsatz der Offenheit der Positionen«. »Dieser drückt die Überzeugung aus, wenn einige Positionen nicht in einer für alle fairen Weise offen seien, dann könnten sich die Ausgeschlossenen mit Recht ungerecht behandelt fühlen, auch wenn sie Vorteile von den größeren Anstrengungen derer haben, die die Positionen besitzen dürfen. Sie hätten ein Recht, unzufrieden zu sein, weil sie nicht nur von gewissen äußeren Vorteilen des Amtes ausgeschlossen sind, sondern auch von der Selbstverwirklichung in Form der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten mit Können und Hingabe, einer der Hauptformen des menschlichen Wohls.« 71
Die Parteien im Urzustand werden den Grundsatz der Offenheit der Positionen nur wählen, wenn das Erreichen von Ämtern ein besonderes Gut darstellt, das im Konfliktfall einem höheren Einkommen vorzuziehen ist. »Selbstverwirklichung« scheint in diesem Kontext der Schlüsselbegriff zu sein.
2.5 Die Begründung des Chancengleichheitsprinzips und seines Vorrangs Der Gegenstand der Gerechtigkeit ist der Einfluss der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen auf die Lebensaussichten der Bürger. Die politischen und sozioökonomischen Institutionen verteilen Güter, die die soziale Position der Bürger bestimmen. Insofern hängen 71
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Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 105.
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Die Begründung des Chancengleichheitsprinzips und seines Vorrangs
die Lebensaussichten »teilweise vom politischen System und von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen« ab. 72 Die Menschen müssen über die Grundfreiheiten, Chancen und Einkommen und Vermögen verfügen, wenn sie ihre Lebensziele – gleichgültig welchen Inhalt diese haben – erfolgreich verfolgen wollen. Der objektive instrumentelle Wert dieser Grundgüter macht sie zum Anwendungsfall der Gerechtigkeit. Nun ist aber klar geworden, dass diese einfache Konzeption der Grundgüter als Allzweckmittel nicht weit trägt. Denn die hierarchische Ordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze setzt eine ebenso hierarchische, also unterschiedliche Wertigkeit der Grundgüter voraus. Der Grundsatz der Offenheit der Positionen besagt, dass die Bürger ein stärkeres Interesse an der Angleichung der Chancen auf berufliche Positionen nehmen als an einer fairen Verteilung des materiellen Wohlstandes. Es ist ihnen also ungleich wichtiger, erfolgreich vorteilhafte berufliche Positionen zu erstreben als einen möglichst großen Anteil des gesellschaftlichen Wohlstands zu erhalten. Das lässt sich nur vor dem Hintergrund einer, wie Rawls das nennt, vollständigen Konzeption des guten Lebens erklären. Zu was für einer Art Leben befähigen die Grundgüter den Menschen? Rawls muss plausibel machen können, dass ein höher qualifizierter Beruf für das Leben der Menschen wertvoller ist als materieller Wohlstand. Im siebten Kapitel der Theorie der Gerechtigkeit beschreibt Rawls die abstrakte, also formale Idee eines gelingenden Lebens. Worin inhaltlich ein gutes, erfolgreiches Leben besteht, muss eine liberale Gerechtigkeitstheorie offen lassen. Aber das menschliche Leben muss einige vernünftige Bedingungen erfüllen, soll es in einem objektiven Sinne gelingen. Diese Bedingungen formulieren das Gute als Ziel, und zwar als ein letztes, umfassendes Ziel: das Lebensglück. Voraussetzung von Rawls’ formaler Konzeption des Guten ist, dass der Mensch ein Wesen ist, das einen Begriff von Zukunft hat. Der Mensch ist nicht nur an seinem augenblicklichen, sondern auch an seinem zukünftigen Wohl interessiert. Wir sehen uns als Personen mit einem zeitlich erstreckten Leben. 73 Daher lässt sich die Frage, was ein gutes Leben auszeichnet, für uns sinnvoll stellen. Über das eigene Leben nachdenken bedeutet so Rawls zufolge einen Lebensplan zu entwerfen, der meine kurzfristigen Interessen und langfristigen Ziele auf eine kohärente Weise zu einem sinnvollen Ganzen ord72 73
Ebd., S. 23. Ebd., S. 462. A
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net. Ein guter Lebensplan ist nach den Grundsätzen der vernünftigen Entscheidung und durch die abwägende Vernunft strukturiert. 74 Vor allem aber – und das ist in unserem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung – muss eine vernünftige Lebensplanung ein »Grundprinzip der Motivation« berücksichtigen, das für Rawls eine Naturtatsache ist. Er vertritt die anthropologische Prämisse, dass Menschen danach streben, ihr Begabungspotential zu entwickeln und zu Fähigkeiten auszubilden. Dieses Streben nach der Verwirklichung angeborener Talente bezeichnet Rawls als Aristotelischen Grundsatz: »Unter sonst gleichen Umständen möchten die Menschen gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist. Der intuitive Gedanke ist hier der, dass Menschen etwas lieber tun, wenn sie es besser können, und dass sie von zwei gleich gut beherrschten Tätigkeiten diejenige vorziehen, die mehr und kompliziertere und scharfsinnigere Urteile verlangt.« 75 Als ein Grundprinzip der Motivation besagt der Grundsatz nicht, dass wir immer schon unsere Selbstvervollkommnung erstreben. »Entgegengesetzte Neigungen können die Entwicklung von Fähigkeiten und das Bedürfnis nach komplizierteren Tätigkeiten hemmen. Mit dem Hinarbeiten auf einen erhofften Erfolg sind verschiedene psychische wie soziale Risiken verbunden, und die Angst vor ihnen kann die ursprüngliche Neigung überwiegen.« 76 Der Aristotelische Grundsatz ist ein normatives Prinzip, ein, im Kantischen Sinne, Imperativ der Selbstvervollkommnung. Freilich ist er inhaltlich unbestimmt. Die Menschen haben unterschiedliche angeborene Begabungen und ganz unterschiedliche Überzeugungen davon, welche anspruchsvollen Fähigkeiten erstrebenswert sind. Der Aristotelische Grundsatz schreibt also nicht vor, welche Tätigkeiten vorzugswürdig sind, wenn sie nur hinreichend kompliziert sind und scharfsinnigere Urteile voraussetzen. 77 Das Prinzip enthält also z. B. kein Werturteil darüber, dass geistige Begabungen handwerklichen Talenten überlegen seien. Vgl. dazu den letzten Abschnitt dieses Kapitels (2.7). Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 464 f. 76 Ebd., S. 467 f. 77 Rawls veranschaulicht das an dem skurrilen Beispiel eines Mannes, dessen Leidenschaft darin besteht, »Grashalme in verschiedenen geometrisch geformten Gebieten wie Parkflächen und gut instandgehaltenen Rasenstücken zu zählen«: Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 471. 74 75
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Vor dem Hintergrund dieser formalen Bedingung eines gelingenden Lebens wird leicht verständlich, wie sich der Vorrang des Chancengleichheitsprinzips vor dem Differenzprinzip begründen lässt. Berufliche Positionen, die anspruchsvollere Qualifikationen erfordern, haben einen intrinsischen Wert, der sich nach dem Selbstverwirklichungspotenzial für den Inhaber des Berufs bemisst. Die Menschen werden sich also, wenn sie ihr Leben vernünftig planen, für solche Berufe entscheiden, deren Qualifikationsanforderungen anspruchsvoller sind und ihrem Begabungspotential am besten entsprechen. Aber ungeachtet der inhaltlichen Unbestimmtheit des Aristotelischen Grundsatzes ist die Begründung des ethischen Vorrangs der Chancen auf vorteilhafte berufliche Positionen gegenüber Einkommen und Vermögen dem Einwand der Antiliberalität ausgesetzt. Ist der Grundsatz der Offenheit sozialer Positionen nicht Ausdruck einer allzu romantischen Vorstellung vom Arbeitsmarkt? Hat Arbeit nicht vor allem einen instrumentellen Wert als Mittel zum Erwerb des Lebensunterhalts? Muss Rawls nicht die anfechtbare These behaupten, dass es unter sonst gleichen Umständen irrational sei, einen gut bezahlten, aber weniger qualifizierten Beruf, einem qualifizierteren, schlechter bezahlten vorzuziehen? Verstößt der Grundsatz der Offenheit der Positionen also gegen das liberale Neutralitätsgebot gegenüber unterschiedlichen Konzeptionen des Guten? 78 Das Gegenteil ist der Fall! Tatsächlich ist der Aristotelische Grundsatz ein Bestandteil einer jeden liberalen Theorie politischer und sozialer Gerechtigkeit, die das verfassungsmäßig garantierte Grundrecht der Person auf freie Berufswahl und den Chancengleichheitsgedanken ernst nimmt. Ersteres beziehen wir hier auf die negative Freiheit der Person, ungehindert eigene Berufsentscheidungen treffen zu können, den Letzteren auf die Möglichkeiten, die einer Person zur Verfügung stehen, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Das Grundrecht der Person auf freie Berufswahl wird dabei im Wesentlichen als eine Forderung der Autonomie verstanden, der Grundsatz der Offenheit der Positionen als eine Forderung der Gleichheit. Die Unterscheidung soll im Folgenden deutlich werden: Das Grundrecht auf freie Berufswahl sichert die Autonomie der Person, einen Vgl. Richard Arneson, »Against Rawlsian Equality of Opportunity«, in: Philosophical Studies 93/1999, S. 77–112, insbes. S. 97 ff. und Mathew Clayton, »Rawls and Natural Aristocracy«, in: Croatian Journal of Philosophy 1/2001, S. 239–259, insbes. S. 254 f.
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solchen Beruf zu ergreifen, der ihren subjektiven Vorstellungen eines guten Lebens am nächsten kommt. Wie ist dieses liberale Grundrecht aber anders zu begründen als durch den Nachweis der besonderen Bedeutung dieser Wahl für das gelingende Leben der Person? 79 Das setzt die Anerkennung dessen voraus, was Rawls den Aristotelischen Grundsatz nennt. Dieser begründet demnach als eine formale Bedingung des guten Lebens einen antipaternalistischen Gerechtigkeitsgrundsatz. Sollen aber Chancen ein vom Grundrecht auf freie Berufswahl zu unterscheidendes Grundgut sein, muss der vorrangige Wert dieses Gutes anders begründet werden können. Chancengleichheit so verstanden wendet sich gegen insbesondere durch soziale Faktoren bedingte ungleiche Möglichkeiten, vorteilhafte berufliche Positionen zu erreichen, bei gleichem negativen Recht, freie Berufsentscheidungen treffen zu können. Das Argument für den Grundsatz der Offenheit der Positionen, das sich mit Rawls rekonstruieren lässt, verweist auf den engen Zusammenhang zwischen dem Grundgut der Chancen und dem für Rawls wichtigsten Grundgut überhaupt, den sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Die Selbstachtung hat Rawls zufolge zwei Seiten: das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen. Ersteres meint die »sichere Überzeugung, dass die eigene Vorstellung vom Guten, der eigene Lebensplan, wert ist, verwirklicht zu werden.« 80 Wenn die Lebensziele wertlos sind, ist auch das Streben nach ihnen ohne Wert. »Alles Streben und alle Tätigkeit wird schal und leer, man versinkt in Teilnahmslosigkeit und Zynismus.« 81 Das Selbstvertrauen bezeichnet das »Vertrauen in die eigene Fähigkeit, seine Absichten, soweit es einem möglich ist, auszuführen.« 82 Ohne Selbstvertrauen werden die Lebensziele zu bloßen Wünschen. Bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze »möchten die Menschen im Urzustand fast um jeden Preis die sozialen Verhältnisse vermeiden, die die Selbstachtung untergraben.« 83 Die Selbstachtung ist also eine interne, soll heißen, die Motivationsstruktur selbst betreffende Bedingung erfolgreichen Handelns. Daher tendiert Rawls dazu, die Selbstachtung als das wichtigste Grundgut zu verstehen. 79 80 81 82 83
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Vgl. Kap. 3 dieser Arbeit. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 479. Ebd. Ebd. Ebd.
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Rawls unterscheidet nun zwei Bedingungen, die für das Selbstwertgefühl entscheidend sind. Zum einen ist das das Vorhandensein eines Lebensplans, der insbesondere dem Aristotelischen Grundsatz entspricht. Der Lebensplan muss das vorhandene Begabungspotential verwirklichen und zu Fähigkeiten entwickeln, die der Person das Gefühl vermitteln, dass sie etwas Besonderes kann. »Jemand hat im allgemeinen mehr Vertrauen in den eigenen Wert, wenn seine Fähigkeiten völlig ausgeschöpft werden, und zwar auf hinreichend komplizierte und verfeinerte Weise.« 84 Zum anderen ist aber auch die soziale Dimension des Selbstwertgefühls zu beachten: »die Wertschätzung und Bestätigung der eigenen Person und ihrer Handlungen durch andere, die die gleiche Wertschätzung genießen, und in deren Gesellschaft man sich wohl fühlt.« 85 Das Selbstwertgefühl hängt also auch von der Anerkennung ab, die andere unseren Fähigkeiten zollen. Und umgekehrt richtet sich die Anerkennung auf solche Fähigkeiten, die bei den Mitmenschen »Bewunderung erregen oder ihnen Freude bereiten«. 86 Im Streben nach Selbstverwirklichung gemäß dem Aristotelischen Grundsatz sucht die Person immer auch die soziale Anerkennung ihrer Besonderheit. Das Gefühl nichts zu können, was bei anderen Bewunderung und Wertschätzung hervorruft, bezeichnet Rawls als Scham. 87 Mit diesem Begriff von Selbstachtung als einer zentralen Voraussetzung eines gelingenden Lebens besitzen wir das argumentative Rüstzeug, um den Vorrang des Chancengleichheitsgedankens vor dem Differenzprinzip zu begründen. Bürgern, die nur wenig oder keine Chancen auf anspruchsvolle berufliche Positionen haben, wird nicht nur die Möglichkeit genommen, sich selbst zu verwirklichen, indem sie einen Beruf ergreifen können, der ihren Begabungen, mit denen sie sich identifizieren, am besten entspricht. Es wird ihnen auch die Möglichkeit verbaut, soziale Anerkennung im Beruf zu finden. Aber es ist nicht diese versagte Anerkennung, die der eigentliche Skandal ist. Die Selbstachtung beschädigend ist insbesondere das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, die keine oder verschwindet geringe Chancen hat, besondere Qualifikationen voraussetzende berufliche Positionen zu erreichen. Den Aus84 85 86 87
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geschlossenen widerfährt derart eine soziale Missachtung, so als ob deren Fähigkeiten gegenüber den Privilegierteren weniger wert wären. Sie werden de facto als Menschen zweiter Klasse, als Minderbefähigte behandelt. Das ist eine soziale Demütigung, die auch durch einen monetären Ausgleich nicht aufgewogen werden kann. Selbstachtung lässt sich nicht erkaufen. 88 Man muss also in Anlehnung an Avishai Margalit zwischen dem Selbstwertgefühl und der Selbstachtung unterscheiden. 89 Diese Unterscheidung wird so nicht von Rawls getroffen: Selbstachtung ist der Oberbegriff zum Selbstwertgefühl, der Überzeugung des Werts der eigenen Lebensziele, und zum Selbstvertrauen, dem Bewusstsein der Fähigkeit, die gesteckten Ziele zu erreichen. Das Selbstwertgefühl ist also Teil der Selbstachtung. Die Unterscheidung beider Begriffe 90 ist aber nun folgende: Das Selbstwertgefühl bezieht sich auf die Leistungen der Person, auf ihre Fähigkeiten und auf die Anerkennung, die diesen von anderen gezollt wird. Die Selbstachtung hingegen gründet auf dem egalitären Status der Person, anderen Menschen »auf der gleichen Augenhöhe« begegnen zu können. Leistungen werden wertgeschätzt, sie können besser oder schlechter sein; deswegen ist ihre Evaluation durch andere graduierbar. Der egalitäre Status einer Person gründet sich dagegen auf einem moralischem Wert, der als solcher nicht graduierbar ist. Die diesem Wert entgegengebrachte Wertschätzung bezeichnet man kantisch als Achtung. Durch Leistung hingegen erstrebt die Person die Anerkennung ihrer Besonderheit, der Vorzugswürdigkeit ihrer Talente und Fähigkeiten, durch die sie sich von anderen unterscheidet. Die Geringschätzung der Leistungen einer Person verletzt ihr Selbstwertgefühl und kann eine Kränkung bedeuten, insofern sie das Vertrauen in den Wert der eigenen Fähigkeiten zerstört. Die Missachtung der Person dagegen betrifft ihren Wert als Mensch. Missachtung besteht daher in der Behauptung, dass die Betroffene einen geringeren Wert als Ein zweites Argument lässt sich vor dem Hintergrund einer weiteren Eigenschaft höher qualifizierter beruflicher Positionen skizzieren. Diese sind in einer hochdifferenziert arbeitsteiligen Ökonomie oft mit Macht und Verantwortung verbunden. Der Ausschluss vom Zugang zu solchen Positionen besiegelt daher den Status des Untergeordnetseins der Ausgeschlossenen. 89 Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt/M. 1999, S. 64 ff. 90 Vgl. zur Unterscheidung von »Anerkennung« und »Achtung« Kap. 10, insbesondere Abschnitt 10.3. 88
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Mensch hat. Das ist – im Unterschied zur Kränkung – eine Demütigung. In unserem Kontext besteht die Demütigung in einer stigmatisierenden Stereotypisierung: Eigenschaften, die eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit definieren und nicht erworben sind, werden als Grund einer Minderbefähigung herabgewürdigt. Demütigung besteht aber genauer darin, dem Opfer jede Möglichkeit zu nehmen, durch eigenes Handeln seine Gleichrangigkeit als Mensch zu beweisen. Neben vorsätzlichen Diskriminierungen ist diese Unfreiheit der Grund für ein berechtigtes Gefühl des Gedemütigtseins. Neben der Achtung der Autonomie der Einzelnen, eigene Berufsentscheidungen zu treffen, begründet also die Achtung vor der Würde der Bürger den chancengleichen Zugang zu Bildung (um sich für berufliche Positionen qualifizieren zu können). Gegen dieses Argument für den Vorrang des Chancengleichheitsprinzips vor dem Differenzprinzip liegt ein Einwand nahe, der von Richard Arneson 91 , und Thomas Pogge 92 vorgebracht wird. Wenn das richtig ist, dass der Ausschluss von den Chancen auf den Erwerb der erforderlichen Berufsqualifikationen die Selbstachtung der Betroffenen beschädigt, was wird dann, auch und gerade bei der vollständigen Erfüllung des Chancengleichheitsprinzips, aus der Selbstachtung derjenigen, die nicht die nötigen Begabungen besitzen, um sich für anspruchsvolle Berufe zu qualifizieren? Haben die nun nicht allen Grund sich als Menschen zweiter Klasse behandelt zu fühlen? Dieser Einwand betont also weniger die Unfreiwilligkeit eines angeborenen Talentmangels und so mitfolgend die Unverdientheit der daraus folgenden sozialen Schlechterstellung als vielmehr die soziale Demütigung und Missachtung der am wenigsten Begabten. Das sei die Kehrseite, die normative Blindheit des Chancengleichheitsgedankens. Er fordere die Gleichbehandlung der Begabten auf Kosten des Ausschlusses der Unbegabten. Er zerstöre so die sozialen Grundlagen der Selbstachtung der durch mangelndes Talent am schlechtesten Gestellten. Weit gefehlt also den Grundsatz der Offenheit der Positionen, den Vorrang der Chancengleichheit, begründet zu haben, haben wir, so scheint es, ein neues Argument gefunden, das Differenzprinzip auch innerhalb des Kontextes der Verteilung sozialer Positionen anzuwenden. Die Talentierten haben nur dann
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Arneson, »Against Rawlsian Equality of Opportunity«, a. a. O., S. 104 f. Thomas Pogge, John Rawls, München 1994, S. 105 f. A
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einen Anspruch auf Bevorzugung bei der Vergabe sozialer Positionen, wenn das den am wenigsten Talentierten nutzt. Ist dieser Einwand überzeugend? Diese Kritiker der Chancengleichheit übersehen eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gütern, die bereits implizit im Kontext der Analyse des Verdienstbegriffs getroffen wurde: zum einen Güter, die in erster Linie für deren Besitzer gut sind, und zum anderen Güter, die sowohl für deren Inhaber als auch für andere Wert besitzen. 93 Einkommen und Vermögen zählen zu der ersten Kategorie Güter, sie sind wesentlich Besitzgüter, berufliche Positionen hingegen gehören sicherlich zur zweiten Kategorie. So ist z. B. das Einkommen einer Ärztin nur in einem kontingenten Sinne gut für andere, etwa wenn sie einen Teil für einen guten Zweck spendet. Die Tätigkeit der Ärztin ist aber in erster Linie für andere gut. Durch diese Unterscheidung ist erklärt, warum das Differenzprinzip nur im Kontext der Einkommens- und Vermögensverteilung Anwendung findet. Arneson und Pogge zufolge dürfte, um beim Beispiel zu bleiben, die Gesellschaft nur dann Geld in die Ausbildung investieren, wenn das der Person mit den geringsten Chancen auf qualifizierte berufliche Positionen – dem ungelernten Hilfsarbeiter als repräsentativer Person – nutzt. Was ist aber, wenn der Hilfsarbeiter krank wird? Und was ist, wenn die Kinder des Hilfsarbeiters Medizin studieren möchten? Es bleibt zunächst völlig unklar, warum sich der ungelernte Hilfsarbeiter von der hochqualifizierten Tätigkeit der Ärztin gedemütigt fühlen muss, solange er sich nicht zu einer gesellschaftlichen Gruppe zugehörig weiß, der die Möglichkeit der Qualifikation für solche Positionen verwehrt bleibt. Genau eine solche Zuordnung setzen diese Kritiker des Chancengleichheitsgedankens aber voraus, indem sie das Innehaben einer schlechter qualifizierten beruflichen Position mit einer Minderbegabung gleichsetzen und ausgerechnet durch diese Minderbegabung der Betroffenen Kompensationsansprüche begründen. Mit Elizabeth Anderson ist zu fragen, ob nicht das eine Demütigung darstellt, wenn die Betroffenen derart zum Ziel eines abschätzigen Mitleids werden? 94 Gleichwohl enthält diese Kritik am Chancengleichheitsgedanken einen wahren Kern. Chancengleichheit ist ein Prinzip distributiVgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit a. a. O., S. 482. Elizabeth Anderson, »Warum eigentlich Gleichheit?«, in: Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 117–171; hier insbes. S. 137 ff.
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ver Gerechtigkeit. Für Rawls sind mit Macht und Verantwortung ausgestattete berufliche Positionen Güter, die aus der Beurteilungsperspektive der Verteilungsgerechtigkeit gut sind für den Amtsträger. Der freie Zugang gemäß dem Chancengleichheitsprinzip rechtfertigt die ungleiche Verteilung dieser Positionen. Aus der Perspektive der distributiven Gerechtigkeit allein wird daher die hierarchisch strukturierte Aufteilung der Arbeit unhinterfragt vorausgesetzt und gerechtfertigt. Die mit qualifizierten beruflichen Positionen verbundene Macht und Verantwortung entzieht sich so der kritischen Beurteilung. Genau das ist Iris Marion Youngs Kritik an der herrschenden Auffassung von Chancengleichheit. 95 Sie hinterfragt zwei Voraussetzungen des Chancengleichheitsgedankens: (1) berufliche Positionen sollen an die Bestqualifizierten vergeben werden und (2) eine hierarchische Aufteilung der Arbeit ist gerecht. Nun möchte Young in einer hochspezialisierten arbeitsteiligen Gesellschaft weder die hierarchisch strukturierte Arbeitsaufteilung noch den Verdienstgedanken abschaffen, sondern vielmehr demokratisieren: »Since the filling of jobs and offices fundamentally affects the fate of individuals and societies, democratic decisionmaking about these matters is a crucial condition of social justice.« 96 Wer entscheidet darüber, was als eine erforderliche Qualifikation für ein Amt gilt? Young zufolge darf das nicht das Privileg eines kleinen Expertenkreises sein. Vielmehr müssten drei Personengruppen bei der Aufstellung der Qualifikationskriterien für Ämter beteiligt werden: »certainly those who work in an institution should participate in decisions about the criteria of qualification for positions and who is qualified.« 97 Zweitens müssten die Konsumenten und Klienten, also die Nutznießer des Amtes, ein Mitspracherecht bei dessen Besetzung haben und schließlich müssten auch Vertreter ehemals ausgeschlossener und benachteiligter Gruppen darüber wachen, dass die Qualifikationskriterien unparteiisch bestimmt und angewendet werden. 98 Freilich müsse das demokratische Auswahlverfahren durch den Fairnessgedanken begrenzt sein: Qualifikationskritierien sollten explizit und öffentlich sein, »along with the values and purposes they serve«, sie sollten keine Gruppe diskriminieren, alle Kandidaten hätten einen 95 96 97 98
Iris Marion Young, Justice and the Politics Difference, Princeton 1990, Kap. 7. Ebd., S. 212. Ebd., S. 213. Ebd., S. 214. A
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Anspruch auf objektive und gründliche Begutachtung und schließlich sei Quotierung erlaubt, wo sie Benachteiligung und Diskriminierung beseitigen helfe. 99 Das bedeutet aber, dass die Qualifikationskriterien für das Amt dem demokratisierten Auswahlverfahren seine Grenzen setzen. 100 Zum Zweiten wendet sich Young gegen eine ungerechte hierarchische Aufteilung der Arbeit. Darunter versteht sie eine solche Aufteilung, »that distinguishes between professional and nonprofessional work, or work that is task defining and task exeuting. This division is unjust […], because it involves domination and oppression.« 101 Wenn Menschen Arbeiten ausführen müssen, deren Ziele und Regelungen andere für sie einseitig festgelegt und bestimmt haben, sei das ein Fall ungerechter Machtausübung. Sie fordert daher eine demokratische »Verflachung« der hierarchisch strukturierten Arbeitsteilung durch Mitbestimmung. 102 Nichts spricht dagegen, Youngs Kriterien einer gerechten Arbeitsaufteilung in das Chancengleichheitsprinzip aufzunehmen. Sie sind sogar, vor allem, was den zweiten Punkt betrifft, notwendige Folge aus dem Aristotelischen Grundsatz. Dieser verlangt, dass die Arbeitsteilung so beschaffen sein soll, dass niemand stumpfsinnige und eintönige Arbeit ausführen muss, die mit dem Produkt der Arbeit in keinem Zusammenhang mehr steht, deren Sinnhaftigkeit dem Arbeitenden also nicht mehr recht deutlich wird. Der Aristotelische Grundsatz verlangt zumindest menschenwürdige Arbeitsbedingungen, die ein Minimum an Fähigkeiten des Arbeiters ebenso voraussetzen wie eine minimale Selbständigkeit in seinem Arbeitsgebiet.
2.6 Geht der Vorrang des Chancengleichheitsprinzips zu weit? Zum Wert der Bildung Der Grundsatz der Offenheit der Positionen besagt, dass Personen mit gleicher Begabung und gleicher Bereitschaft diese einzusetzen die gleichen Erfolgsaussichten auf vorteilhafte Positionen haben Ebd., S. 212. Dass Young das Kapitel über die Chancengleichheit mit »The Myth of Merit« überschrieben hat, muss daher als eine verunglückte Polemik gelten. 101 Young a. a. O., S. 215. 102 Ebd., S. 218. ff. 99
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müssen und zwar auch dann, wenn ungleiche Chancen durch eine Verbesserung des materiellen Lebensstandards der Ausgeschlossenen kompensiert werden könnten. Chancenungleichheiten sind wesentlich schwerer wiegende Ungerechtigkeiten als Einkommens- und Vermögensungleichheiten, die dem Differenzprinzip nicht genügen. Daraus folgt, dass die Gesellschaft verpflichtet ist, das Bildungs- und Ausbildungssystem zu verbessern, im Konfliktfall auch auf Kosten des materiellen Lebensstandards der ökonomisch am schlechtesten Gestellten. 103 Richard Arneson sieht darin einen Kompromiss mit einer meritiokratischen Gerechtigkeitsauffassung. Das ist sein zentraler Einwand gegen die Rawls’sche Konzeption fairer Chancengleichheit: »In a nutshell, the objection against Rawlsian Fair Equality is that it incorporates a compromise with the norm of meritocracy, the principle that holds that other things being equal, those who are naturally more talented and develop their talents to higher excellence levels should enjoy greater prospects of good fortune in life.« 104 Um diese These zu belegen, konstruiert Arneson folgendes Beispiel: Stellen wir uns vor, dass eine Studie belegen könnte, dass die Bildungschancen hochtalentierter Kinder aus der gehobenen Mittelschicht um ein paar Prozentpunkte geringer seien als diejenigen von gleichtalentierten Kindern aus der Oberschicht. Der lexikalische Vorrang des Chancengleichheitsprinzips würde uns nun auffordern, diese Ungleichheiten zu beseitigen, auch dann, wenn mit dem dafür nötigen Geld die ökonomische Situation der weniger talentierten Kinder aus der Unterschicht verbessert werden könnte. »For example, instead of lavishing fancy education on the upper middle class extremely talented […], suppose that we could use the same resources to institute a tax and transfer scheme that would double the income of the (untalented) worst off members of society, the truly disadvantaged as we might say.« 105 Keine vernünftige Konzeption sozialer Gerechtigkeit dürfe aber in einem solchen Fall dem Chancengleichheitsgedanken Vorrang gegenüber dem Imperativ einräumen, den Schwächsten der Gesellschaft zu helfen. 106 Wie weit geht also der Vorrang der Chancengleichheit? Das sug103 104 105 106
Vgl. Pogge a. a. O., S. 99 ff. Arneson, »Against Rawlsian Equality of Opportunity«, a. a. O., S. 85. Ebd., S. 82 (Hervorhebung von mir). Ebd. A
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gestive Beispiel von Arneson lässt völlig offen, wie es mit den Bildungschancen der Unterschichtskinder bestellt ist. Um das Beispiel zu vereinfachen, seien drei soziale Klassen unterschieden: Die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Vorausgesetzt die Chancen der Kinder aus der Oberschicht seien in allen Fällen gleich, ergeben sich drei Möglichkeiten: (1) Die Chancen der Kinder aus der Mittelschicht im Bildungssystem sind schlechter als diejenigen der Kinder aus der Oberschicht, aber besser als die Chancen der Kinder aus der Unterschicht. Eine Anhebung der Chancen der Kinder aus der Mittelschicht auf Kosten derjenigen aus der Unterschicht wäre ungerecht – gemäß dem Chancengleichheitsprinzip. Das kann Arneson nicht meinen. (2) Die Chancen der Kinder aus der Unter- und Mittelschicht sind gleichermaßen schlechter als die der Kinder aus der Oberschicht. Auch hier wäre gemessen am Chancengleichheitsprinzip die Anhebung der Chancen der Kinder aus der Mittelschicht auf Kosten der Chancen der Kinder aus der Unterschicht ungerecht. Auch das kann Arneson nicht meinen. (3) Die Chancen der Kinder aus der Unter- und Oberschicht sind gleich, die Mittelschichtskinder haben aber geringere Chancen. In diesem Fall würde das Chancengleichheitsprinzip tatsächlich eine Anhebung der Chancen der Mittelschichtskinder verlangen, auch wenn mit dem dafür nötigen Geld die ökonomische Situation der Unterschicht verbessert werden könnte. Wäre das ungerecht? Um diese Frage zu beantworten, muss man wissen, wie die ökonomische Situation der Unterschicht beschaffen ist. Das Differenzprinzip fordert eine Maximierung des Wohlstandes der am schlechtesten Gestellten, die über das Existenzminimum hinausgeht. 107 Der Vorrang der Chancengleichheit vor dem Differenzprinzip setzt also voraus, dass es den am schlechtesten Gestellten nicht in einem absoluten Sinne schlecht geht, dass sie also nicht durch Hungerlöhne oder Arbeitslosigkeit Not leiden. Daher wird hier im Anschluss an Rawls nur begründet, dass der Chancengleichheitsgedanke Vorrang gegenüber einer gerechten Wohlstandsverteilung habe. Ein weiter gehender Vorrang wird nicht behauptet. Es ist daher nicht einzusehen, warum der Chancengleichheitsgedanke die Leistungsfähigen auf Kosten der 107
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Vgl. den folgenden Abschnitt.
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Schwachen bevorzuge und also einen Kompromiss mit einer meritokratischen Gerechtigkeitsauffassung darstelle. Arneson verurteilt aber die Rawls’sche Auffassung von Chancengleichheit als eine einseitige Parteinahme für das Wohlergehen der Leistungsfähigen auf Kosten der Schwachen in einer zweiten Hinsicht: »Assigning lexical priority to Fair Equality over any principle such as the Difference Principle that caters to the interests of the worst off means that justice strictly requires compensatory aid to be given to natively talented individuals with low skill levels, given the initial distribution of socialization, up to the point that Fair Equality is fulfilled. It could yet be the case that the severly untalented would benefit from extra educational resources, would learn skills that would enhance their lives, but the lexical ordering of Rawls’s principles, with Fair Equality trumping the Difference Principle, forbids any special infusion of educational resources to the untalented among the worst off.« 108
Genau das besagt der Vorrang der Chancengleichheit aber nicht! Man beachte, dass Arneson hier, anders als in seinem Beispiel, den Vorrang innerhalb des Anwendungskontextes des Chancengleichheitsprinzips behauptet. Wie gewichten wir die Verteilung knapper Ressourcen im Bildungswesen? Hat die Bildung und Ausbildung der Talentierten Vorrang gegenüber den Bildungschancen der Untalentierten? Der Vorrang der Offenheit der sozialen Positionen besagt lediglich, dass eine Einbuße an Bildung durch ein schlechteres öffentliches Bildungs- und Ausbildungssystem nicht durch ein höheres Einkommen für niedrig qualifizierte Berufe kompensiert werden darf. Hier ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen: Formale Chancengleichheit verlangt, dass berufliche Positionen für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich sein müssen. Diese Gerechtigkeitsforderung deckt das Grundrecht auf freie Berufswahl ab. Das ist aber vollkommen vereinbar damit, dass Menschen im Bildungs- und Ausbildungssystem aufgrund ihrer Klassenlage ungleiche Chancen haben, diese Positionen zu erreichen. Faire Chancengleichheit fordert hingegen über die gesetzliche Offenheit beruflicher Positionen hinaus ein sozial inkludierendes Bildungs- und Ausbildungssystem, das den Einfluss der Klassenlage auf die Verteilung beruflicher Posi108 Arneson, »Against Rawlsian Equality of Opportunity«, a. a. O., S. 83 (Hervorhebungen von mir).
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tionen eliminiert. Die bisherige Formulierung des Chancengleichheitsprinzips bleibt also auf die Verteilung qualifizierter beruflicher Positionen zielgerichtet: Menschen mit gleicher Begabung und gleicher Bereitschaft diese einzusetzen müssen auch gleiche Erfolgsaussichten haben, qualifizierte Positionen zu erreichen. Bildung ist somit ein Gut, das instrumentellen Wert besitzt, als ein Mittel, sich für berufliche Positionen zu qualifizieren. In diesem Sinne richtet sich die Gewichtung der Ausgaben im Bildungssystem nach ökonomischen Effizienzkriterien. Betrachten wir aber folgendes Beispiel für die Rechtfertigung einer elitären Bildungspolitik: Die makroökonomische Situation mache es erforderlich, dass die Leistungsstarken, die Intelligenten und Hochbegabten in Eliteschulen besonders gefördert werden, und wenn es aufgrund knapper Ressourcen sein muss, auch auf Kosten der Schulbildung der durchschnittlich oder weniger begabten Kinder. Durch diese Politik aber werde das Innovationsniveau der Wirtschaft angehoben, was zu Wirtschaftswachstum und also zur Mehrung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes führe. Dieser Wohlstandszuwachs könne dann nach dem Differenzprinzip verteilt werden, »nutze« also den im Bildungssystem Benachteiligten. Eine solche konsequentialistische Rechtfertigung entspricht einer meritokratischen Gerechtigkeitsauffassung, die Rawls als natürliche Aristokratie bezeichnet: »Nach ihr versucht man die gesellschaftlichen Zufälligkeiten nur so weit auszugleichen, wie es die formale Chancengleichheit verlangt, doch die Vorteile der von Natur Begabteren werden auf solche beschränkt, die dem Wohl der ärmeren Gesellschaftsschichten dienen.« 109 Rawls lehnt die natürliche Aristokratie als eine mögliche Deutung des Chancengleichheitsgedankens ausdrücklich ab. Nicht so aber Arneson. Er verficht seine Kritik am Rawls’schen Chancengleichheitsprinzip vor dem Hintergrund einer konsequentialistischen Gerechtigkeitstheorie, die er im Anschluss an Parfit 110 als Vorrangposition (priority view) bezeichnet: Die soziale Gerechtigkeit verlange vorrangig die Situation der am schlechtesten Gestellten zu verbessern. 111 Chancengleichheit hat für Arneson somit keiRawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 94. Parfit a. a. O. 111 Arneson, »Against Rawlsian Equality of Opportunity«, a. a. O., S. 85 und 87. Die Vorrangposition darf nicht mit dem Differenzprinzip verwechselt werden. Die Vorrangposition lässt es zunächst völlig offen, wie die am schlechtesten Gestellten definiert werden: ausschließlich relational, wie beim Differenzprinzip, oder absolut, gemessen an Be109 110
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nen normativen Eigenwert und daher hält seine Gerechtigkeitsauffassung auch eine konsequentialistische Rechtfertigung für ein meritokratisches Bildungssystem parat: Es ist nicht in jedem Fall gerecht, wenn die besonders Talentierten eine bessere Schulbildung erhalten, sondern nur dann, wenn die am wenigsten Talentierten von dieser Ungleichheit maximal profitieren. 112 Weil wir aber oben den Chancengleichheitsgedanken als Forderung nach Statusgleichheit der Bürger gedeutet haben, gibt es keinen Grund, den Zugang von Bürgern, die nicht zu den Höherbegabten zählen, zum wichtigen Gut der Bildung weniger ernst zu nehmen, auch wenn sie einen monetären Ausgleich erhalten. Bildung ist auch als eine Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe zu bewerten und hat insofern einen intrinsischen Wert. Wie Rawls schreibt, »sollte der Wert der Bildung nicht nur unter dem Gesichtswinkel der wirtschaftlichen Leistung und Wohlfahrt gesehen werden. Mindestens ebenso wichtig ist, dass die Bildung einen Menschen befähigt, sich die kulturellen Werte seiner Gesellschaft zu erschließen und daran teilzunehmen und ihm dadurch ein sicheres Selbstwertgefühl verschafft.« 113 Das Chancengleichheitsprinzip ist daher nicht nur auf die Verteilung qualifizierter beruflicher Positionen gerichtet, sondern regelt auch unabhängig davon die Verteilung von Bildung. Bildung darf nicht ausschließlich als Mittel der Qualifikation bewertet werden. Indem wir der Bildung einen intrinsischen Wert zuschreiben, schränken wir das Leistungsprinzip auf die Verteilung beruflicher Positionen ein und ergänzen es durch ein egalitäres Bildungsprinzip: Alle Kinder einer Gesellschaft haben Anspruch auf die ihren Begabungen am besten entsprechende Bildung. Anders als bei der Verteilung beruflicher Positionen darf die Leistungsfähigkeit nicht über den Zugang zum wichtigen Gut der Bildung entscheiden. Das folgt aus dem egalitären Inklusionsprinzip, das hier die Chancengleichheit begründet: (1) Bürger, die zu einer sozialen Schicht gehören, die ihre Chancen auf das Erreichen einer vorteilhaften beruflichen Position in einer relevanten Weise einschränkt oder ganz verhindert, haben einen gerechtfertigten Grund, sich in ihrer Selbstachtung bedarfsprinzipien wie bei Parfit. In unserem Kontext ist diese Unterscheidung aber nicht relevant. 112 Der Reduktionismus dieser Vorrangposition erlaubt keine Unterscheidung des Wertes verschiedener Güter. 113 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 122. A
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schädigt zu sehen. Sie werden von der Gesellschaft behandelt, als ob sie nicht die nötigen Fähigkeiten zur Qualifikation besäßen. Indem den Ausgeschlossenen der Beweis des Gegenteils durch eigene Anstrengungen und Leistungen verwehrt bleibt, werden sie zu Menschen zweiter Klasse herabgewürdigt. Das ist der in diesem Kapitel dargelegte Zusammenhang von Verdienst, Leistung und Selbstachtung. (2) Das Leistungsprinzip ist zu ergänzen: (2.a) Alle Bürger haben einen Anspruch auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. (2.b)Das Leistungsprinzip wird eingeschränkt durch einen egalitären Zugang zum Bildungssystem, der leistungsunabhängig ist. 114
2.7 Unparteilichkeit und Eigenverantwortung im Kontext der Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit Rawls hat sein Argument für das Prinzip demokratischer Chancengleichheit, das er auf den Gedanken der Unverdientheit der eigenen Begabung zurückführt, nicht als dessen eigentliche Begründung angesehen. Die erfolge erst im Gedankenexperiment der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand. 115 Der Urzustand dient bekanntermaßen als Rechtfertigungsverfahren der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze. Gerechtfertigt sind die beiden Gerechtigkeitsprinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft, weil sie von Personen in einer ursprünglichen Situation gewählt würden, die sie als Freie und Gleiche darstellt. Die Fairness der Bedingungen, unter denen die Wahl stattfindet, soll sich auf die Grundsätze übertragen. Derart können wir sagen, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze gegenüber Bürgern gerechtfertigt sind, die sich als Freie und Gleiche verstehen. In völliger Unkenntnis der jeweiligen individuierenden Eigenschaften wählen die Parteien im Urzustand aus einer Liste von Ge114 Der leistungsunabhängige Zugang bedeutet natürlich nicht, dass es z. B. ungerecht wäre einem begabteren Kind eine längere Schulausbildung zu ermöglichen als einem weniger begabten. Es wäre aber ungerecht, wenn man insgesamt weniger Geld für die Schulbildung weniger begabter Kinder ausgäbe, etwa durch weniger Lehrer, schlechtere Unterrichtsmaterialien etc. 115 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 125.
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rechtigkeitsgrundsätzen diejenigen aus, nach denen sie ihre Gesellschaft ordnen wollen. Niemand kennt seine Vorstellung des Guten, sein Geschlecht, seine Klassenzugehörigkeit, kurz: nichts, was ihn in irgendeiner Weise als Individuum von Anderen unterschiede. Der Urzustand beschreibt eine radikale Situation der Gleichheit der an der Gerechtigkeitswahl Beteiligten. Bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze sollen sich die Personen ausschließlich an ihrem Selbstinteresse orientieren. Die Interessen sind auf Güter gerichtet, »von denen man annimmt, dass sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst haben möchte. Wie auch immer die vernünftigen Pläne eines Menschen im einzelnen aussehen mögen, es wird angenommen, dass es verschiedenes gibt, wovon er lieber mehr als weniger haben möchte. Wer mehr davon hat, kann sich allgemein mehr Erfolg bei der Ausführung seiner Absichten versprechen, welcher Art sie auch sein mögen.« 116 Auch vor dem Hintergrund des vernünftigen Faktums des Pluralismus, der Subjektivität der Weltanschauungen und Lebenskonzepte der Menschen, muss davon ausgegangen werden, dass alle Vorstellungen des Guten eines gemeinsam haben: Wenn wir ein gelingendes Leben führen wollen, müssen wir über Grundgüter verfügen, also über die liberalen Grundfreiheiten, die politischen Partizipationsrechte, Chancen, vorteilhafte soziale Positionen zu erreichen, und Einkommen und Vermögen. Die Person im Urzustand wird einen solchen Verteilungsgrundsatz wählen, der ihr ein Maximum an Grundgütern garantiert. Dass Rawls die Person im Urzustand zunächst als Nutzenmaximiererin konzipiert, ist nicht nur eine bloße Setzung. Wie können wir wissen, was vor dem Hintergrund einer inhaltlich bestimmten Konzeption des Guten ein ausreichendes Grundgüterbündel ist? Das hängt von den jeweiligen Vorstellungen des Guten ab. Da die Person im Urzustand aber nicht wissen kann, welchen besonderen Wert sie den Grundgütern nach der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze zuschreiben wird, ist es rational, lieber mehr als weniger haben zu wollen. Nur so hat sie die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, wie viel sie braucht, wenn der Schleier des Nichtwissens gelüftet wird: Sie kann den Teil verschenken, der ihr überflüssig erscheint. Das Gedankenexperiment ist soweit hinreichend beschrieben, um die Wahl einer allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung rational 116
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erscheinen zu lassen: Alle Güter sind gleich zu verteilen, es sei denn, es gibt eine alternative Ungleichverteilung, die jeden gegenüber der ursprünglichen Gleichverteilung besser stellt. Natürlich ist dieses Gedankenexperiment zu primitiv, um die komplexe Auffassung politischer und sozialer Gerechtigkeit der beiden Grundsätze zu begründen. Der Begriff der Grundgüter als Allzweckmittel bleibt ebenso unterbestimmt wie die Konzeption der Person als Nutzenmaximiererin. Rawls hat später klargestellt, dass die Person im Urzustand durch zwei moralische Vermögen charakterisiert ist: das Vermögen des Gerechtigkeitssinns und das Vermögen, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen. Bürger verstehen sich als Individuen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen und daher an politischer Mitbestimmung und an ihrer ethischen Autonomie interessiert sind. 117 Derart begründet er seinen Grundsatz politischer Gerechtigkeit und dessen Vorrang gegenüber dem Grundsatz sozialer Gerechtigkeit. Wie in den vorangegangenen Abschnitten deutlich wurde, setzt auch die dort rekonstruierte Rechtfertigung des Chancengleichheitsprinzips und seines Vorrangs gegenüber dem Differenzprinzip sowohl ein wesentlich komplexeres Verständnis der Person als auch einen Begriff davon voraus, was für ein besonderes Gut der Zugang zu sozialen Positionen darstellt. Die Rechtfertigung des Chancengleichheitsgedankens gründet auf der starken Theorie des Guten; sie wäre vor dem Hintergrund der abstrakten Konzeption der Grundgüter nicht verständlich. Aber was für Güter sind Einkommen und Vermögen, also die Grundgüter, die nach dem Differenzprinzip verteilt werden sollen? Sie sind Allzweckmittel. Das einfache Rechtfertigungsverfahren bleibt (zunächst) für die Begründung des Differenzprinzips gültig. Geld ist ein freiheitsfunktionales Gut. Geld eröffnet ganz allgemein gesprochen Handlungsspielräume. Es soll, so Rawls, für alle die faire Möglichkeit sichern, die durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz garantierten Handlungsoptionen wahrzunehmen. Rawls behält den Allzweckcharakter der Grundgüter Einkommen und Vermögen bei, schreibt ihnen aber auch eine engere Bedeutung zu, insofern alle Grundgüter die erforderlichen Bedingungen seien, um die Ausübung der beiden moralischen Vermögen 117 John Rawls, »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«, in: ders, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt/M., 1994, S. 80–158.
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zu gewährleisten. 118 Letzteres aber bleibt düstere Rede. Wieso brauche ich um meines Gerechtigkeitssinnes und meiner ethischen Autonomie willen lieber mehr als weniger Geld? Bei der Herleitung des Differenzprinzips spielt diese Personenkonzeption denn auch keine Rolle. Das Rechtfertigungsverfahren bleibt dasjenige der Herleitung der allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung. Die Person ist an einer Maximierung ihres Wohlstandes interessiert. Das Argument für die Wahl des Differenzprinzips ist grob skizziert das Folgende: Die allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung definiert ein Entscheidungsproblem. Wenn die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen Anreize schafft, die Produktivität und mitfolgend den gesellschaftlichen Wohlstand zu steigern, ist die ungleiche Verteilung für alle vorteilhafter als die gleiche. Es sei denn, ich gerate nach der Gerechtigkeitswahl in die am schlechtesten gestellte Position in der Einkommens- und Vermögenshierarchie und besitze genauso viel oder weniger als in der anfänglichen Situation der Gleichverteilung. Dann ist nichts gewonnen. Dieses Risiko gilt es zu vermeiden. Rawls schlägt vor das Entscheidungsproblem mit Hilfe der Maximin-Regel zu lösen. Nach dieser Regel vergleichen wir die alternativen Handlungsoptionen nach ihren schlechtest möglichen Ergebnissen und wählen diejenige Option, deren schlechtestes Ergebnis besser ist als das jeder anderen Alternative. Derart maximieren wir das Minimum. Das Maximin-Argument des Urzustandes richtet sich gegen den Gerechtigkeitsgrundsatz des allgemeinen Durchschnittsnutzens. Der Utilitarist mutet uns das Risiko zu, im worst case alles zu verlieren. Wir werden jedoch nach der MaximinStrategie das Differenzprinzip wählen: Wenn die am schlechtesten gestellte Position über mehr Geld verfügt als in der alternativen Gleichverteilung, dann finden alle Gesellschaftsmitglieder ihren Vorteil. Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist genau dann gerecht, wenn sie den am meisten Benachteiligten nutzt. Im Urzustand steht die durch den Schleier des Nichtwissens dargestellte Fairness des Entscheidungsverfahrens für unterschiedliche egalitäre Ideen. Im Kontext der Begründung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes steht die Unwissenheitsbedingung für die politische und rechtliche Statusgleichheit der Bürger. Ungleichheit bedeutet hier ungleiche politische Macht, soziale Hierarchie und Bevormun-
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dung. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz beschreibt das soziale Verhältnis freier und gleichberechtigter Bürger. Im Kontext der Begründung des Chancengleichheitsgedankens drückt der Schleier des Nichtwissens die Überzeugung aus, dass Eigenschaften wie Rasse, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Klassenlage keine Ursachen für ungleiche Chancen sein dürfen, sozial vorteilhafte Positionen zu erreichen. Im Kontext der Begründung des Differenzprinzips schließlich stellt der Schleier des Nichtwissens den Fairness-Gedanken dar, dass nur instrumentelles Verdienst Grund für gerechtfertigte Ungleichheiten sein könne. Für die instrumentelle Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten ist es gerechtigkeitsirrelevant, was Personen für den Besitz bestimmter Güter getan haben. Handlungen sind kein Gegenstand moralischer Urteile, sondern nur deren Folgen. Die Überzeugungskraft der entscheidungstheoretischen Herleitung des Differenzprinzips hängt also davon ab, ob wir das von Kymlicka so genannte intuitive Argument akzeptieren, dass natürliche Begabung keinen Einfluss auf die Wohlstandsverteilung haben dürfte. Deswegen ist das Argument des Urzustandes nicht redundant. Aus der besonderen Gleichheitsprämisse folgt, dass gesellschaftliche Ungleichheiten konsequentialistisch gerechtfertigt werden müssen. Wir könnten z. B. mit Mill der Auffassung sein, dass die einzige Möglichkeit, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zu rechtfertigen, in der Optimierung des allgemeinen Nutzens bestehe. Rawls zwingt uns durch die Bedingungen des Urzustandes in eine Situation, in der wir den größtmöglichen Nutzen der beiden Prinzipien für unser individuelles Wohlergehen miteinander vergleichen. Was ist die angemessene Vergleichsperspektive? Sollen wir die Perspektive der Gesellschaftsmitglieder einnehmen, deren Grundgüteranteil wesentlich größer ist als in der alternativen Gleichverteilung, oder die Perspektive derjenigen, die am wenigsten haben und möglicherweise gegenüber der egalitären Alternative verlieren? An dem Nutzen welcher repräsentativen Position sollen wir uns orientieren? Das hängt davon ab, was für eine Risikobereitschaft wir in den Urzustand mitbringen. Je geringer die Wahrscheinlichkeit, zu den am meisten Benachteiligten zu zählen, und je größer die Gewinne in den besser gestellten Positionen, desto rationaler wird die Wahl des Prinzips des allgemeinen Durchschnittsnutzens. Wir nehmen also anfänglich, gezwungen durch den Schleier des Nichtwissens, die Ansprüche aller Individuen gleich ernst, um sie anschließend gegen72
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einander abzuwägen und miteinander zu verrechnen. 119 Wir nehmen ein bestimmtes Risiko um der Möglichkeit eines größeren Gewinnes willen in Kauf. Die Maximin-Regel macht daher nur Sinn, wenn die Person im Urzustand über die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Platz in der Einkommens- und Vermögenshierarchie einzunehmen, im Unklaren ist, und wenn sie mit dem nach der Maximin-Regel sicher erreichbaren Minimum zufrieden ist, und nicht einen darüber hinausgehenden Vorteil anstrebt. 120 Weil der Urzustand diesen beiden Bedingungen genügt, zwingt uns die Maximin-Regel einen Perspektivenwechsel auf: Wir versetzen uns in die Lage der am schlechtesten Gestellten und beurteilen den Nutzen der Einkommens- und Vermögensverteilung ausschließlich aus der Perspektive des rationalen Egoismus dieser Position. Das ist ein radikaler Altruismus. Die Interessen aller anderen Gesellschaftsmitglieder zählen nur aus der Perspektive der am meisten Benachteiligten, ihre Berücksichtigung besitzt keinerlei Eigenwert. Anders gesagt: Aus der Perspektive der Maximin-Regel bedeuten die Interessen der anderen Gesellschaftsmitglieder keine Grenze der Legitimtät dessen, was wir als die ökonomisch am schlechtest Gestellten von anderen verlangen dürfen. Das Modell des Urzustandes ist, im Kontext der Begründung des Differenzprinzips, durch ein Konzept der Person charakterisiert, das der Handlungstheorie des Utilitarismus entspricht. Dem Modell der Gerechtigkeitswahl als eines rationalen Nutzenkalküls korrespondiert eine abstrakte Theorie des guten Lebens. Ein gutes Leben ist ein solches, das sich an einem rational gewählten Lebensplan orientiert. Worin inhaltlich ein guter Lebensplan besteht, darüber muss eine liberale Gerechtigkeitstheorie schweigen. Rawls zufolge bestimmt sich ein gutes Leben aber formal über den Begriff des Rationalen, das Gute ist das Rationale. Nun ist der Begriff des Lebensplanes selbst bereits durch Rationalität bestimmt. Wir tun nicht schon immer das, was unseren aktuellen Wünschen und Interessen entspricht. Menschliches Leben ist nicht eine Aneinanderreihung von Handlungen; Menschen überlassen sich nicht der reinen Spontaneität von Einzelfallentscheidungen. Wir wägen unsere Handlungsfolgen ab, wie sie sich mit unseren Zielen und Wünschen in der Zukunft 119 Vgl. Walter Pfannkuche, »Gibt es ein Recht auf Arbeit?«, in: ders, Wer verdient schon, was er verdient? Fünf Gespräche über Markt und Moral, Stuttgart 2003, S. 63– 103; hier S. 79. 120 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 179.
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verhalten. Einen Lebensplan entwerfen heißt zunächst nichts anderes als die verschiedenen Lebensziele und Teilpläne, die Interessen und Wünsche in eine widerspruchsfreie Ordnung zu bringen, die sich, so das Ideal, über das ganze Leben erstreckt. 121 Ein Lebensplan ist das Ergebnis praktischer Überlegung: »Ziel der Überlegung ist ein Plan, der unsere Tätigkeiten auf die beste Weise organisiert und unsere späteren Wünsche so beeinflusst, dass sich unsere Ziele und Interessen auf fruchtbare Weise zu einem Verhalten zusammenfassen lassen. Bedürfnisse, die anderen Zielen oder Tätigkeiten entgegenstehen, werden ausgemerzt, solche, die an sich selbst angenehm sind und gleichzeitig andere Ziele fördern, werden gefördert.« 122 Auch bei der Wahl eines bestimmten Lebensplanes gelten Kriterien der Rationalität als formale Bedingungen eines guten Lebens. Ein Lebensplan ist rational genau dann, wenn er nach den drei Grundsätzen einer rationalen Entscheidung gewählt wird. Da ist zum einen der Grundsatz der Wahl der wirksamsten Mittel. Es ist am besten, seine Zwecke, d. h. längerfristigen Ziele, mit dem effizientesten Mittelaufwand zu erreichen. Zum anderen besagt der Grundsatz der Einschließung, dass ein Lebensplan einem anderen vorzuziehen ist, wenn seine Ausführung alle Ziele des alternativen Planes und dazu mindestens ein weiteres verwirklicht. Und schließlich bestimmt der Grundsatz der größeren Wahrscheinlichkeit die rationale Entscheidung für ein bestimmtes Lebenskonzept: Wir sollen denjenigen Plan wählen, dessen Ziele mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erreichen sind. 123 Als eine weitere Bedingung eines rationalen Lebensplanes nennt Rawls das Kriterium der abwägenden Vernunft. Wir müssen unsere gegenwärtigen Bedürfnisse und Interessen mit unseren späteren und längerfristigen Zielen abwägen. Man soll sich stets so entscheiden, dass man sich zu einem späteren Zeitpunkt keine Vorwürfe zu machen braucht. Der nach diesem Grundsatz gewählte Plan ist derjenige, »auf den die Entscheidung nach sorgfältiger Überlegung fallen würde, bei der der Entscheidende sich im Lichte aller einschlägigen Tatsachen klarmacht, was die Ausführung der verschiedenen Pläne bedeuten würde, und so die Handlungsweise 121 Vgl. Wolfgang Kersting, »Die Gerechtigkeit zieht die Grenze, und das Gute setzt das Ziel«, in: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 1998, S. 209–230; hier S. 213 ff. 122 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 449. 123 Ebd., S. 450.
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findet, die seine grundlegenderen Bedürfnisse befriedigt.« 124 Es geht darum, denjenigen Plan zu finden, der die wichtigsten Ziele am wahrscheinlichsten verwirklicht. Rawls skizzert hier eine regelutiliaristische Handlungstheorie. Der Begriff des Guten ist mit dem Begriff der Effizienz identisch. Gegeben unsere faktischen Wünsche und langfristigen Ziele: Die Aufgabe der praktischen Vernunft besteht darin, unsere stärksten Wünsche und Lebensziele in eine solche Ordnung zu bringen, die für die Zukunft ein Maximum an Wunscherfüllung verspricht. Rawls hat größte Schwierigkeiten, uns den einseitigen Rollenwechsel in die Perspektive der am meisten Benachteiligten plausibel zu machen. Weshalb bestimmt allein deren Nutzenmaximierungsstrategie darüber, was eine gerechte Verteilung ist? Die Maximin-Regel scheitert als Begründung des Differenzprinzips. Das erkennt Rawls in der revidierten Fassung von Gerechtigkeit als Fairness. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Person im Urzustand ausschließlich darauf bedacht sein sollte, das Wohl der am meisten Benachteiligten zu maximieren. Warum ist es rational, das Risiko, in diese Position zu geraten, in jedem Fall zu vermeiden und so die Gewinne, die in anderen Positionen zu erwarten sind, unberücksichtigt zu lassen? Die Entscheidung nach der Maximin-Regel ist nur relativ zu Art und Umfang des Risikos rational, das es zu vermeiden gilt. Nur dann, wenn die am schlechtesten gestellte repräsentative Person weniger Güter erhält, um ihre existentiellen Bedürfnisse zu befriedigen, wird es rational sein, sich nach der Maximin-Regel gegen die schlimmsten Möglichkeiten zu versichern. Nur wenn mir ein gravierendes Übel droht, werde ich die unbedingte Risiko-Vermeidungsstrategie wählen und mich gegen den worst case der Armut und Verelendung absichern. Wenden wir also die Maximin-Strategie an, dann wählen wir statt des Differenzprinzips einen ganz anderen Grundsatz, eine Mischauffassung zwischen dem Prinzip des allgemeinen Durchschnittsnutzens und einem humanistischen Prinzip, das für die am meisten Benachteiligten ein Existenzminimum vorsieht, das es ihnen erlaubt »ein annehmbares menschliches Leben zu führen.« 125 Rawls nennt es das Prinzip des eingeschränkten Durchschnittsnutzens. Unter der Bedingung, dass niemand weniger als das Ebd., S. 455. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, hrsg. von Erin Kelly, Frankfurt/M. 2003, S. 201. 124 125
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soziale Minimum erhält, ist jede Form der Einkommens- und Vermögensungleichheit zu akzeptieren, die den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand optimiert. Das Differenzprinzip verlangt hingegen wesentlich mehr. Es verpflichtet den Staat durch sozialpolitische Maßnahmen das Wohlstandsniveau der Schlechtestgestellten so weit zu optimieren, dass jede weitere Angleichung negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hätte. Zu seiner Begründung greift Rawls in seinem letzten Buch auf den Gedanken der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation zwischen freien und gleichen Bürgern zurück. Das skizzierte Argument ist ungefähr das folgende: Die Ökonomie moderner Gesellschaften ist ein kooperatives System, das jeden Kooperierenden besser stellt als in einer Selbstversorgergesellschaft. Es ist daher rational zu kooperieren, weil die arbeitsteilige Wirtschaft Bedingung gesellschaftlichen Wohlstandes ist. Der Grund, sich an der Kooperation zu beteiligen, ist also die Erwartung eines Anteils am gesellschaftlichen Wohlstand. Es ist daher fair, wenn alle, die zum Gelingen der Kooperation beitragen, ihren Vorteil finden. Menschen, die kooperieren, aber nicht am gesellschaftlichen Wohlstand partizipieren, tragen also zum Nutzen der anderen Gesellschaftsmitglieder bei, ohne dafür eine adäquate Gegenleistung zu erhalten. Sie werden ausgenutzt. 126 Dieses Argument gegen das Prinzip des eingeschränkten Durchschnittsnutzens setzt die Unterscheidung zwischen Wohlstand und Existenzminimum voraus. Die Menschen wollen nicht einfach nur das Nötigste zum Leben haben. Sie wollen an den Möglichkeiten, die der gesellschaftliche Wohlstand bietet, teilhaben. Das Existenzminimum ist kein Anreiz, die Kooperation einzugehen. Rawls gründet sein Differenzprinzip nun auf eine Auffassung von Tauschgerechtigkeit. 127 Aber gegen diese Argumentationsskizze muss man einwenden, dass das Differenzprinzip ein Verteilungsgrundsatz ist. Es verlangt die Früchte der gesellschaftlichen Kooperation so zu verteilen, dass der Wohlstand der am meisten Benachteiligten maximiert wird. Was eine Person besitzen darf, hängt davon ab, was der am meisten benachteiligten Person nutzt. Als eine solche Verteilungsregel stattet sie die letztere Person mit einem Vetorecht
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Ebd., §§ 36 u. 38. Vgl. Abschnitt 6.5 dieser Arbeit.
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aus: Wir beurteilen die Verteilung von Einkommen und Vermögen ausschließlich nach den Interessen dieser repräsentativen Person. 128 Genau das aber wurde in Zweifel gezogen. Warum sollte dieser Standpunkt der normativen Beurteilung der Verteilung von sozialen Gütern Unparteilichkeit beanspruchen können? Können wir die Interessen und Präferenzen der Personen bestimmen, ohne ihnen ein Bewusstsein von den Kosten zuzumuten, die denjenigen entstehen, die die Lasten sozialpolitischer Maßnahmen zu tragen haben? Ronald Dworkin verneint diese Frage. Der Gerechtigkeitsstandpunkt muss anders konstruiert werden. Das setzt eine Konzeption der Person voraus, die für ihre Präferenzen und Interessen verantwortlich zu machen ist und also die Fähigkeit besitzt, über die sozialen Kosten der eigenen Präferenzerfüllung zu reflektieren. Darum geht es im folgenden Kapitel.
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3 Der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Ethik in Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit
Thema dieses Kapitels ist der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Ethik. Unter Ethik soll hier die Frage nach dem Guten aus der Perspektive der ersten Person singular verstanden werden. Gerechtigkeit hat hingegen die Lösung von intersubjektiven Interessenkonflikten zum Gegenstand. Der Liberalismus gründet auf einer abstrakten Ethik, die man als ethischen Individualismus bezeichnen kann. Nach dieser Auffassung kann ein Leben nur gelingen, wenn es aus den eigenen subjektiven Wertüberzeugungen geführt wird. Der liberale Gedanke der Neutralität des Staates gegenüber konkreten Theorien des guten Lebens setzt den Wert der ethischen Autonomie des Subjekts voraus. Im Kontext dieser Arbeit ist ein anderer Zusammenhang wichtiger: das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Ethik. Dworkin konstruiert eine Gerechtigkeitstheorie, die einem zweiten zentralen Wert des Liberalismus gerecht zu werden versucht, der ethischen Verantwortung eines jeden Menschen für sein eigenes Leben. 1 Dworkin ist kein Libertärer. Er vertritt ein abstraktes grundlegendes Prinzip politischer und sozialer Gerechtigkeit, wonach es die Aufgabe des Staates sei, das Leben der Menschen zu verbessern. Der politischen Gemeinschaft obliegt die Pflicht, die Menschen mit Ressourcen auszustatten, die sie befähigen ein »erfülltes und würdiges Leben« zu führen. 2 Aber diese Forderung findet ihre Grenze in der primären Verantwortung jedes einzelnen Menschen, für das Gelingen seines Lebens selbst Sorge zu tragen. Daher besteht soziale Gerechtigkeit für Dworkin ganz grob gesprochen darin, die Grenze zu ziehen zwischen legitimen Ansprüchen auf soziale Güter und rechtVgl. Ronald Dworkin, »Moral und Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit«, in: Herlinde Pauer-Studer (Hg.), Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Frankfurt/M. 2000, S. 153–182; hier S. 176. 2 Ebd., S. 174. 1
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Zum Begriff ethischer Verantwortung: Taylors Konzept starker Wertungen
mäßigen Umverteilungen auf der einen Seite und der Pflicht des Individuums, die Kosten seiner Entscheidungen selbst zu tragen, auf der anderen. Ziel dieses Kapitels ist, diesen grundlegenden Wert der ethischen Verantwortung zu explizieren und seinen Zusammenhang mit der Idee sozialer Gerechtigkeit zu klären. Im ersten Teil (3.1) wird anhand des Aufsatzes »Was ist menschliches Handeln« von Charles Taylor 3 ein Konzept der Person entfaltet, das durch den Begriff ethischer Verantwortung charakterisiert ist. In den Abschnitten 3.3, 3.4 und 3.5 wird der konstitutive Zusammenhang zwischen diesem Konzept der Person und Dworkins Auffassung von sozialer und politischer Gerechtigkeit skizziert. Die Bestimmung des unparteiischen Standpunktes setzt die Fähigkeit des Subjekts voraus, die eigenen Interessen und Präferenzen kritisch zu bewerten. Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit soll gegenüber einseitig altruistischen Gerechtigkeitstheorien wie der von Rawls abgegrenzt werden.
3.1 Zum Begriff ethischer Verantwortung: Charles Taylors Konzept starker Wertungen Nach Harry Frankfurt zeichnet Personen die Fähigkeit aus, Wünsche zweiter Ordnung zu bilden: Ich wünsche, dass ein bestimmter Wunsch handlungswirksam wird. Wenn ich wünsche, dass X der Wunsch sein soll, der mich zum Handeln veranlasst, dann bewerte ich den Wunsch, X zu tun. Es ist gut, zu wünschen X zu tun. Wünsche zweiter Ordnung zu bilden, heißt also Wünsche als wünschenswert oder nicht wünschenswert zu betrachten. In den Wünschen zweiter Stufe äußert sich Frankfurt zufolge die reflektierende Stellungnahme der Person zu ihren Wünschen erster Stufe, die man auch als unmittelbare Wünsche bezeichnen kann. 4 Aber was meint diese Fähigkeit der Selbstreflexion genauer? Charles Taylor unterscheidet zwei Arten von Wertungen, also in Frankfurts Terminologie von Wünschen zweiter Stufe, die er starke und schwache Wertungen nennt. Nach Frankfurt bezeichnen wir als Charles Taylor, »Was ist menschliches Handeln?«, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, S. 9–51. 4 Harry Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: Journal of Philosophy 68/1971, S. 5–20. 3
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Personen Wesen, die nicht schon deswegen etwas tun, weil sie wünschen etwas zu tun. Handeln besteht in praktischer Überlegung, in der reflektierten Stellungnahme zu den eigenen Wünschen. Wenn ich den Wunsch, X zu tun, mit meinem Wunsch, Y zu tun, abwäge, weil beide Wünsche konfligieren, weil ich nicht X und Y gleichzeitig tun kann, oder weil X zu tun, negative Konsequenzen in Hinsicht auf Y hätte, dann handelt es sich nach Taylor um eine schwache Wertung. 5 Die Unmittelbarkeit eines Wunsches bestimmt mich nicht schon zum Handeln. Ich bin ein die langfristigen Folgen meines Handelns abwägendes Subjekt. So kann ich wünschen, dass mich ein bestimmter Wunsch nicht zum Handeln veranlasst, weil das spätere Wünsche frustrieren würde. Wenn ich jetzt essen gehe, weil ich hungrig bin, kann ich später nicht mehr schwimmen gehen. Ich habe aber größere Lust, zu schwimmen, oder es ist mir nach dem Essen nicht mehr möglich usw. Ich will mich nicht von meinem Wunsch, zu essen, zum Handeln bestimmen lassen. Es handelt sich also um ein Wünschen zweiter Stufe. Gleichwohl wird die intrinsische Qualität des Wunsches nicht bewertet. Es wäre besser, ich könnte beides tun. Es reicht die Tatsache, dass ich etwas wünsche, damit ich es als gut bewerte. Die reflexive Stellungnahme besteht einzig in der Wertung der Handlungskonsequenzen der eigenen Wünsche. Frankfurts Handlungsbegriff ist also mit der Gleichsetzung des Guten mit dem faktisch Gewünschten durchaus vereinbar. Etwas ist gut, weil ich Lust dazu habe. 6 Eine starke Wertung liegt hingegen vor, wenn wir die intrinsische Qualität eines Wunsches, und nicht allein die »Anziehungskraft« seines Gegenstandes bewerten. Wir bewerten das Motiv der Handlung. Dabei bedienen wir uns, Taylor zufolge, kontrastiver Wertungskategorien. »Denn starke Wertungen entfalten eine Sprache wertender Unterscheidungen, in der Wünsche als edel oder gemein, als integriert oder fragmentiert, als mutig oder feige, als umsichtig oder blind usw. beschrieben werden.« 7 Bei schwachen Wertungen zieht man bei Handlungskonflikten den einen Wunsch einem andern vor, weil man, so paraphrasiert Ernst Tugendhat Taylors Gedanken, ihn eben vorzieht, »das ist ein Letztes«. 8 Das »Nachdenken des bloß Taylor, »menschliches Handeln«, a. a. O., S. 10. Ebd., S. 14. 7 Ebd., S. 15. 8 Ernst Tugendhat, »Korreferat zu Charles Taylor: ›What is Human Agency?‹«, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1992, S. 441–452; hier S. 442. 5 6
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abwägenden Subjekts endet bei der nichtartikulierbaren Erfahrung, dass A attraktiver ist als B.« 9 Das stark wertende Subjekt hingegen verfügt über eine wertende Sprache, indem es über die Faktizität des Wunsches und seiner möglichen ungünstigen Folgen für andere Wünsche hinaus die Tatsache des Wunsches, X zu tun, selbst bewertet. 10 Als stark wertende Subjekte betrachten wir uns selbst als Personen, die aus den und den Gründen handeln, und das heißt, dass wir die Frage stellen können, ob wir Personen sein wollen, die aus den und den Gründen zum Handeln veranlasst werden. Wir bewerten also unsere Wünsche in Hinsicht auf ein normatives Bild unserer IchIdentität. Das schwach wertende Subjekt bleibt hingegen nur an der »Oberfläche«. Was ist mein stärkster Wunsch, welche Folgen hat die Verwirklichung des Wunsches auf andere Wünsche usw.? Starke Wertungen drücken dagegen unsere normativen Vorstellungen des Guten und unseren Wunsch aus, eine Person mit bestimmten Charaktereigenschaften zu sein, d. h., eine Person, die durch bestimmte handlungswirksame Wünsche charakterisiert ist. 11 In starken Wertungen äußert sich unsere Überzeugung, wie wir leben und wer wir sein wollen. Schwache Wertungen betreffen nur das, was wir faktisch und am stärksten wollen. Schwache Wertungen, so kann man bis hierher Taylor zusammenfassen, sind affirmative Stellungnahmen zur Faktizität unserer stärksten Wünsche; starke Wertungen kritische Stellungnahmen zu unserem Leben im Ganzen und zu unserer Person. Entsprechend sind Konflikte, die zwischen unvereinbaren Wünschen auftreten, wenn wir beide stark bewerten, tiefer gehender Natur als die unvereinbaren Wünsche schwacher Wertungen. Erstere betreffen unsere »Selbstinterpretation« 12 und die Frage, wie wir leben wollen, welche Ziele wir langfristig verfolgen wollen usw. Konflikte zwischen starken Wertungen führen uns also zu der kritischen Frage, was uns etwas wert ist, eine Frage, die sich bei starken Wertungen gar nicht stellt, weil mit der Faktizität eines Wunsches bereits sein Gutsein erklärt ist. Stark werten, heißt also über die Normativität eines Wunsches urteilen. Nun müssen aber zwei Bedeutungen von Normativität unterschieden werden. Ich kann meine Wünsche kritisch im Hinblick auf Taylor, »menschliches Handeln«, a. a. O., S. 21. Ebd., S. 22. 11 Ebd., S. 21 ff. 12 Ebd., S. 26. 9
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meine Verpflichtungen gegenüber den Ansprüchen und dem Wohl anderer Menschen bewerten. Und ich kann meine Wünsche in Hinsicht auf das normative Bild meines Selbst und meiner Idee eines guten Lebens bewerten. Nennen wir die erste die moralische, die zweite die ethische Bewertung. Letztere betrifft also die Frage, welches Leben gut für mich ist. Taylor unterscheidet nicht explizit zwischen beiden Perspektiven des Wertens. Starke Wertungen können sowohl die Regelung intersubjektiver als auch die Regelung innersubjektiver Interessenskonflikte betreffen. 13 Taylor kritisiert Moraltheorien wie den Utilitarismus, die alle starken Wertungen außer einer einzigen, der moralischen, leugnen. 14 Sein Konzept der starken Wertungen richtet sich gegen die handlungstheoretischen Prämissen des Utilitarismus, der Handlungsziele als Wunscherfüllung oder Lustbefriedigung definiert. In diesem Sinne kennt der Utilitarismus keine starken Wertungen, weil ihm ein Konzept ethischer Normativität mangelt. Der Utilitarismus als normative Moraltheorie vertritt aber insofern ein Konzept starker Wertung, als er die kritische Bewertung von Handlungen oder Handlungsprinzipien im Sinne ihres moralischen Gutseins fordert. 15 Taylors Konzept starker Wertungen soll hier aber in der Perspektive der ersten Person singular diskutiert werden, also in der Hinsicht auf ein Verständnis ethischer Subjektivität. Er verbindet sein Konzept starker Wertungen mit der Frage nach Zurechnungsfähigkeit der Person. Wann halten wir eine Person für selbstverantwortlich? Es geht also um die Frage der Verantwortlichkeit in der Hinsicht auf den Anspruch der Person, ein gutes Leben zu führen. Eine Person ist in dieser Bedeutung zurechnungsfähig, wenn sie verantwortlich für das Gelingen ihres Lebens ist. Von Zurechnungsfähigkeit lässt sich in einem schwachen und einem starken Sinne sprechen. In einem schwachen Sinne ist eine Person für ein bestimmtes Geschehen oder Nichtgeschehen verantwortlich, wenn sie auch anders hätte handeln können. Es lag an ihr, dass etwas geschehen oder nicht geschehen ist. So können wir sagen, dass ein bestimmtes Geschehen, das die Person verursacht hat, dieser nicht zuzurechnen ist, wenn sie nicht anders hätte handeln können. Vgl. Tugendhat, »Korreferat«, a. a. O., S. 443 ff. Ebd., S. 443. 15 Ebd., S. 443 f. Das heißt natürlich nicht, dass sich der Utilitarist für die intrinsische moralische Qualität der Handlungsmotive interessiert. 13 14
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Aber wir halten Personen nicht schon deswegen für zurechnungsfähig, wenn sie nicht daran gehindert werden, anders zu handeln. »Wir halten den Handelnden zum Teil nicht nur für das verantwortlich, was er tut, für das Maß, in dem er in Übereinstimmung mit seinen Wertungen handelt, sondern in gewissem Sinne auch für diese Wertungen selbst.« 16 Die Wertung selbst ist eine Art reflexive Handlung, die die Person zu verantworten hat. Das unterscheidet starke Wertungen von schwachen. Letztere beziehen sich ja auf die faktischen Wünsche einer Person, die also nicht das Ergebnis einer Art Tätigkeit sein können. Die Person ist für das rationale Abwägen der Alternativen und die kluge Kalkulation der Handlungsfolgen verantwortlich, nicht aber für die konkurrierenden Wünsche selbst, etwas zu tun. Ich hätte wissen müssen, dass ich nach dem Essen nicht mehr schwimmen kann. Und insofern ich nun nach dem üppigen Mahl nicht mehr schwimmen kann, aber schwimmen will, empfinde ich Reue über mein Handeln und bin daher verantwortlich für mein Tun. Für meinen Hunger aber bin ich genauso wenig verantwortlich wie für meinen Wunsch, schwimmen zu gehen. Was also macht uns verantwortlich für unsere Wünsche, wenn sie Gegenstand starker Wertungen sind? Die Antwort könnte darin bestehen, dass wir unsere Wertungen zweiter Ordnung selbst gewählt haben. Es ist meine freie Entscheidung gewesen, dass mein Wunsch, X zu tun, handlungswirksam werden solle. Ich hätte anders wollen können. Die Werte einer Person sind ihr in diesem Sinne zuzurechnen, weil sie für sie Partei ergriffen hat. Entscheidungsfreiheit lässt sich aber, so Taylor, nicht als Bedingung unserer personalen Verantwortung anführen, wenn wir uns als stark wertende Personen verstehen. Ich entscheide mich dafür, dass X wert ist, als Wunsch handlungswirksam zu werden. X ist also der Grund meines Handelns, weil ich X gewählt habe. Warum aber habe ich X gewählt? Auf diese Frage muss die Wahl als solche eine letzte Antwort bleiben. Die Wahl zu begründen, hieße wiederum Gründe anführen, deren Gültigkeit für mich ihrerseits aus einer Wahl resultieren müsste, ad infinitum. 17 Wie aber können Personen verantwortlich sein, die im Letzten grundlos handeln? Wie kann ich Dingen Wert verleihen, wenn ich keinen Grund finde, warum etwas Wert hat und anderes nicht? Wie 16 17
Taylor, »menschliches Handeln«, a. a. O., S. 28. Ebd., S. 29. A
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lässt sich überhaupt von einer Wahl sprechen, wenn es keinen Grund gibt, für oder gegen eine Alternative zu sein? 18 Die Entscheidungsfreiheit als notwendiges und hinreichendes Kriterium unserer personalen Verantwortung führt also, das ist Taylors Argument, letztlich in den Nihilismus. Nichts hat Wert, nicht einmal unsere De-facto-Wünsche. Nach traditioneller Auffassung ist eine Person für eine Handlung dann verantwortlich, wenn sie auch anders hätte handeln können, wenn sie die freie, weder durch äußere noch durch innere Zwänge gehinderte Wahl hatte, dieses statt jenes zu tun. Ich bin aber nur dann für eine Entscheidung, die meiner Handlung zugrunde liegt, verantwortlich, wenn ich diese aus meinen starken Wertungen heraus als gut treffe. Die Wertungen selbst aber als gewählt zu verstehen, hieße die Wertungen, die meinen Entscheidungen zugrunde liegen, als willkürlich und launenhaft zu verstehen. Meine Wertungen, die meine Identität konstituieren, kann ich nicht als willkürlich gewählt verstehen. Die freie Wahl kann daher kein Kriterium der personalen Verantwortung sein. »Unsere Wertungen sind nicht gewählt.« 19 Taylor hat seine Argumentation bis in den Widerspruch vorangetrieben. Er unterstellt eine Bedeutung des Begriffs der Wahlfreiheit, die sich bei näherer Betrachtung als sinnlos erweist. Falsch ist nicht die Auffassung, dass der Begriff der Verantwortung die Wahlfreiheit der Person voraussetzt, sondern der Begriff der Wahlfreiheit als willkürliches Tun oder Lassen. Statt den Begriff der Wahlfreiheit als Bedingung personaler Verantwortung preiszugeben, müssen wir ihm vielmehr einen Sinn geben. Keine Verantwortung ohne Freiheit! Es scheint, dass wir in einem Dilemma verstrickt sind. Verantwortlich können wir nur für unsere Handlungen sein, wenn wir die Motive kritisch beurteilen können, aus denen heraus wir handeln. Das bedeutet, dass wir unsere Motive nicht als etwas faktisch Vorgegebenes betrachten. Wir können sie ändern. Wir beurteilen aber unsere Motive im Lichte fundamentaler Wertungen, die, so Taylor, unsere Identität, unser normatives Bild von uns selbst und unsere Vorstellung des guten Lebens konstituieren. Die Infragestellung meiner grundlegenden Wertungen kann daher mit Identitätskrise und Desorientierung verbunden sein. Im Lichte welcher Wertungen 18 19
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Zum Begriff ethischer Verantwortung: Taylors Konzept starker Wertungen
soll ich die letzten Kategorien, mit denen ich die Dinge bewerte noch einmal bewerten? Vielleicht sind mir meine grundlegenden Wertungen nicht einmal bewusst oder dunkel und unklar. Gleichwohl sind sie die letzten Gründe, aus denen heraus ich handle. Sollen Menschen verantwortlich für ihre Wertungen sein, müssen wir die Möglichkeit der Wahl auch der »grundlegendsten« Wertungen unterstellen. »Verantwortlichkeit fällt uns in dem Sinne zu, dass es stets möglich ist, dass eine neue Einsicht meine Wertung und somit sogar mich selbst zum Besseren ändern kann.« 20 Dass Personen ihre grundlegenden Wertungen aufgrund neuer Einsichten ändern können, bedeutet, dass sie zu einer radikalen Wahl fähig sind. Darunter versteht Taylor nun aber keine grundlos willkürliche Wahl. Im Prinzip müssen alle Formulierungen meiner fundamentalen Wertungen als »revidierbar« angesehen werden können, und zwar aus Einsicht in die Gründe, die meine Wertungen fragwürdig werden ließen. 21 Personen sind also in dem Maße verantwortlich für ihre Wertungen, in dem sie frei sind, auch auf der Ebene ihrer grundlegendsten Wertungen begründete Entscheidungen treffen zu können. Zurechnungsfähigkeit setzt nicht nur negative Freiheit des ungehinderten Tun- und Lassen-Könnens, sondern auch die Fähigkeit zu praktischer Vernunft voraus. Taylor entdeckt hier also am Ende seines Aufsatzes die Autonomie des Subjekts als Bedingung seiner Zurechnungsfähigkeit. Er plädiert für ein Bild des Menschen, der in einer besonderen Weise zur radikalen Wahl fähig ist: »Wir betrachten Menschen in dem Maße als tief, in dem sie unter anderem zu dieser Art radikaler Selbstreflexion fähig sind.« 22 Wir müssen wiederum die moralische Autonomie (die Einsichtsfähigkeit des intersubjektiv Guten) von der ethischen Autonomie (der Einsichtsfähigkeit des Guten in der ersten Person singular) unterscheiden. Wir sind im moralischen Sinne zurechnungsfähig, wenn wir aus unparteiischen Gründen Entscheidungen treffen und so unsere starken Wertungen auf ihre universelle Gültigkeit hin überprüfen können. Insofern wir selbst es sind, denen diese moralische Einsichtsfähigkeit zugesprochen werden kann, sind wir zur moralischen Selbstbestimmung fähig. In Taylors Terminologie kann man also sagen, dass das Kantische Subjekt eine stark wertende Person ist. Aller20 21 22
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dings nur im moralischen Sinn starker Wertungen. Kant schränkt die Zurechnungsfähigkeit des Subjekts auf die Fähigkeit ein, moralische Entscheidungen zu treffen. In unserem Glücksstreben aber sind wir, so Kants Auffassung in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und der »Kritik der praktischen Vernunft«, fremdbestimmt. Bekanntlich legt Kant seiner Moralphilosophie eine hedonistische Handlungstheorie zugrunde. Handlungen erstreben Zwecke. Wir möchten, dass das, was wir wollen, Realität wird. Handlungen sind Mittel, um die von uns gewollten Zwecke zu verwirklichen. Warum aber bezwecken wir etwas? Weil mit dem durch die Handlung bewirkten Zweck eine angenehme Empfindung einhergeht: die Lust. Dass wir uns diese oder jene Ziele setzen, dass wir etwas Bestimmtes wollen, ist vollkommen kontingent. Wir machen subjektive Erfahrungen des Angenehmen, der Freude in unserem Leben. Handeln besteht radikal reduktionistisch verstanden einfach darin, diese Zustände der Lust selbst handelnd zu wiederholen. Zur Selbstbestimmung ist der Mensch nur fähig, wenn er seine Motive (Maximen) auf ihren moralischen Wert hin überprüft. Alle nicht moralisch relevanten Entscheidungen, die wir treffen, sind dagegen fremdbestimmt. Das sittlich gleichgültige Handeln ist ein Angezogensein von Lust und ein Abgestoßensein von Unlust. 23 Erst wenn sich die Person für ihre handlungswirksamen Wünsche als verantwortlich betrachtet, kann sie die Frage sinnvoll stellen, auf welche Weise sie leben möchte, welche Dinge für sie Wert besitzen und was für eine Person sie sein will. Diese Fragen sind gegenstandslos, wenn ich immer nur das will, von dem mir die Erfahrung lehrt, dass es mit angenehmen Empfindungen verbunden ist. Nach hedonistischer Auffassung betrachte ich meine faktischen Wünsche gewissermaßen als innere Umstände, die wie äußere Umstände mein Handeln bestimmen, ohne dass ich die Möglichkeit hätte, die Wünsche als solche zu bewerten oder, insofern sie mir nicht mit meiner condition humaine mitgegeben sind, zu ändern. Ich kann kalkulieren und Entscheidungen treffen, aber nur im Hinblick auf die Konsequenzen meines Handelns auf andere Wünsche. Vor dem Hintergrund eines solchen kruden Hedonismus’ ist kein sinnvoller Begriff von Handlung möglich. Zwecke sind dem Menschen durch seine Bedürfnisnatur vorgegeben; darin unterscheidet er sich nicht von der »Tierheit«: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werkausgabe Bd. VII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1993, A 108.
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Wenn wir die hedonistische Auffassung vertreten, können wir sagen, eine Person sei frei, wenn sie nicht daran gehindert wird, dass zu tun, was sie tun will. (Wobei wir unter dem Wollen ganz umstandslos das faktische Wollen der Person verstehen.) Wir können aber nicht sagen, die Person sei in einem positiven Sinne frei, dass sie also die Fähigkeit der Ausübung von Kontrolle über das eigene Leben habe. 24 Das, was die Person faktisch will, kann Ausdruck eines inneren Zwangs, von Furcht oder von unkritisch übernommenen Normen sein. Um im positiven Sinne frei zu sein, müssen wir imstande sein, »das zu tun, was wir wirklich wollen, unserem wirklichen Willen zu folgen oder die Bedürfnisse unseres wahren Selbst zu erfüllen.« 25 Ethische Selbstbestimmung heißt, so könnte man formulieren, dass eine Person das Bewusstsein hat, ihre Wünsche kontrollieren zu können, dass sie nicht unmittelbar den stärksten Wünschen nachgibt und immer nur das jeweils Angenehme will. Dieses Bewusstsein hat freilich auch das schwach wertende, Nutzen kalkulierende, Subjekt. Um ihm Selbstbestimmung zuzuschreiben, müssten wir dem kalkulierenden Hedonisten aber unterstellen, dass er sein Leben als Antwort auf die Frage des guten Lebens als ganzen versteht, dass er die hedonistische Antwort also nicht als ein Faktisches, von Natur Vorgegebenes begreift. Taylor kann daher plausibel machen, dass wir über die Fähigkeit der Kontrolle über das eigene Leben nur verfügen, wenn wir stark wertende Subjekte sind. Und insofern das die Fähigkeit der Bewertung unserer fundamentalen Wertungen einschließt, betrifft die ethische Autonomie im Kern die Frage, wie ich mein Leben als ganzes führen möchte und welche Person ich sein will. Wenn der Hedonist also sein Leben als Ausdruck einer Theorie des Guten versteht, muss er die Möglichkeit starker Wertungen einräumen. 26 Er muss daher seine Theorie des Guten als selbstverantwortet verstehen. Wenn wir aber die Gleichsetzung des faktisch Gewollten mit dem Guten nicht akzeptieren und uns als Wesen verstehen, die über ihre Ziele und Wünsche normativ urteilen können und sich im Lichte einer Idee des Guten als verantwortlich für das Gelingen ihres Lebens Charles Taylor, »Der Irrtum der negativen Freiheit«, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M., S. 118–144; hier S. 121. 25 Ebd., S. 125. 26 Das Gute besteht nach dieser Auffassung wohl darin, möglichst skrupellos ein Leben ohne tiefere Selbstreflexion zu führen. 24
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begreifen, ist die Frage aufgeworfen, wie wir unsere ethische Selbstbestimmung verwirklichen. Wie finden wir, was wir wirklich wollen? In seinem Aufsatz »Der Irrtum der negativen Freiheit« gibt Taylor seinem Konzept starker Wertungen eine illiberale, subjektkritische Wendung. Taylor ist hier nicht mehr am Begriff der Selbstverantwortung des Subjekts gegenüber seinen Zielen und Wünschen interessiert, sondern an der Frage der Authentizität seines Wollens. Selbstverständlich können wir darin irren, dass das, was wir meinen wirklich zu wollen, auch das ist, was wir wirklich wollen. Die Möglichkeit eines solchen Irrtums auszuschließen, hieße die Bedeutsamkeit der Frage nach dem guten Leben zu leugnen. Taylor entwickelt aus dieser Einsicht einen Begriff der Freiheit als Selbstverwirklichung, der die ethische Autonomie des Subjekts explizit ausschließt. Seine Argumentation sei knapp skizziert. Nach einer einflussreichen Tradition philosophischen Denkens gilt eine Person als frei, wenn sie nicht durch äußere Hindernisse daran gehindert wird, das zu tun, was sie will. 27 Eine Person ist nach dieser Auffassung in ihrer Freiheit eingeschränkt, wenn sie z. B. an der Ausübung ihrer Religion gehindert wird. Sie ist aber auch unfrei, wenn sie durch eine rote Verkehrsampel am Weiterfahren gehindert wird. Nach dem negativen Verständnis von Freiheit gibt es keinen relevanten Unterschied beider Freiheitseinschränkungen, obwohl wir doch erstere als schwerwiegend, die zweite hingegen womöglich gar nicht als Beschränkung unserer Freiheit auffassen würden. Von einer (moralisch) relevanten Freiheitseinschränkung können wir nur sinnvoll reden, wenn die Person daran gehindert wird, (für sie) bedeutsame Ziele zu erreichen. »Freiheit ist für uns wichtig, weil wir zielorientierte Wesen sind.« 28 Ein ausschließlich negativ definiertes Verständnis von Freiheit ist also nicht hinreichend. Wir müssen wissen, was bedeutsame Ziele sind. Hier greift Taylor auf sein Konzept starker Wertungen zurück. Als bedeutsam können wir ein Ziel nicht einfach aufgrund der Dringlichkeit des Wunsches, es zu erreichen, beschreiben. Vielleicht werden wir von einem Wunsch zum Handeln getrieben, der uns daran hindert, Bedeutsames zu tun. Einen solchen handlungswirksamen Wunsch bewerten wir als schlecht. Wir möchten nicht die Person sein, die sich durch solche Wünsche zum Handeln veranlassen lässt. Wenn wir uns als stark wertende Subjekte ver27 28
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Taylor zählt dazu Hobbes und Bentham: »negative Freiheit«, a. a. O., S. 119. Ebd., S. 130.
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Zum Begriff ethischer Verantwortung: Taylors Konzept starker Wertungen
stehen, müssen wir also einräumen, dass es auch innere, unsere Handlungsmotive betreffende Hindernisse unserer Freiheit gibt. »Ein Mensch, der durch seinen Groll unwillkürlich dazu getrieben wird, seine wichtigsten Beziehungen zu gefährden, oder der durch seine unvernünftige Furcht daran gehindert wird, die Laufbahn einzuschlagen, die er wirklich anstrebt, der wird nicht wirklich freier, wenn man die äußeren Hindernisse für die Entladung seines Grolls oder das Ausleben seiner Furcht beseitigt.« 29 Wer aber entscheidet darüber, ob das, was ich will, auch wirklich das ist, was meinen wahren, authentischen, Wünschen entspricht? Ist das Subjekt die letzte Instanz bei der Frage, ob es frei oder unfrei ist? Die Frage sei, so Taylor, zu verneinen, wenn wir am Konzept starker Wertungen festhalten wollen. Die Auffassung, dass das Subjekt die letzte Autorität über die Frage nach dem ethisch Guten sei, schließe aus, dass es sich bezüglich seiner Ziele irren oder täuschen kann. »Denn der einzige Weg, die Wertungen des Subjekts prinzipiell unkorrigierbar zu machen, würde darin bestehen, zu behaupten, dass hier überhaupt nichts vorliegt, das wahr oder falsch sein könnte, und dies könnte nur dann der Fall sein, wenn das Erleben einer bestimmten Empfindung eine Sache der Qualität des unmittelbaren Empfindens selbst wäre.« 30 Positive Freiheit könne also gerade nicht als subjektive Freiheit verstanden werden. Der Begriff der individuellen Selbstverwirklichung schließe den Begriff der Selbstbestimmung aus. Selbstbestimmung bedeute zweifelsfrei zu wissen, was gut für mich ist. Wer sich als autonom begreife, verbitte sich »jede Fremdbeurteilung« als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. 31 Wo aber Gewissheit herrsche, dass etwas gut ist, da sei die Frage nach dem Guten ein für alle Mal an ihr Ende gelangt. Das sei mit dem Konzept starker Wertungen unvereinbar. Natürlich drängt sich hier sofort die Frage auf, welche Instanz, außer dem Subjekt selbst, die Autorität besitzt, irrtumsfrei zu wissen, was für es gut ist. Denn sollte sich eine andere Instanz darin irren können, was für das Subjekt gut ist, dann (ex hypothesi) besitzt niemand die Autorität über die Antwort auf die Frage nach dem ethisch Guten. Taylors suggestives Argument beruht auf einem fehlerhaften 29 30 31
Ebd., S. 142. Ebd., S. 140. Ebd., S. 135. A
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Verständnis ethischer Autonomie. Man kann Taylor darin recht geben, dass die Selbstreflexion über die Normativität meiner Wertungen prinzipiell die Fähigkeit zum Selbstzweifel einschließt. Taylor hat denn auch im Aufsatz »Was sind menschliche Handlungen?« die Verantwortung des Subjekts an die Fähigkeit zur Revision seiner fundamentalen Wertungen gebunden. Eine Person ist ethisch autonom, wenn sie selbst entscheidet, welche Konzeption des Guten Wert für sie hat. Das muss nicht heißen, dass sie nicht darin irren kann, worin das Gute für sie besteht. Aber sie betrachtet es als Ausdruck ihrer Würde, dass niemand anderes Entscheidungen für sie trifft, was gut für sie ist und was nicht. Das impliziert nicht, dass sie sich jede Fremdbeurteilung verbittet. Aber das bedeutet, dass sie das Recht der Kontrolle über das eigene Leben beansprucht. Mit Gewissheit müssen wir sagen: Immer dann, wenn Menschen ihr Gewissen und ihre Einsichtsfähigkeit in das ethisch Gute an eine andere, fremde Instanz delegieren, die irrtumsfrei weiß, worin das Gute besteht, liegt ein Akt der Selbstentmündigung, der Leugnung eigener Verantwortung, vor. Taylors Argumentation für ein Verständnis von Selbstverwirklichung jenseits der Idee individueller Selbstbestimmung ist daher zutiefst inkohärent.
3.2 Liberalismus und das gute Leben Eine der grundlegenden Ideen des Liberalismus ist die Neutralität der Politik gegenüber Theorien des guten Lebens. 32 Die Ausübung politischer Macht findet ihre Grenze in dem Recht des Individuums, sein Leben aus eigenen Überzeugungen des Guten heraus führen zu können. Politische Entscheidungen, die mit den Mitteln des Rechts durchgesetzt werden, dürfen daher nicht Ausdruck einer objektiven Theorie ethischen Werts sein. Die einzig legitime Einschränkung der ethischen Autonomie der Individuen ist die Sicherung und Durchsetzung der gleichen subjektiven Freiheiten aller Bürger. Der liberale Toleranzgedanke verlangt nach einem normativen Begriff des Rechts, wonach »die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«
Ronald Dworkin, »Liberalism«, in: ders., A Matter of Principle, Cambridge, Mass. 1983, S. 181–204; hier S. 191 ff.
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(Kant). 33 Daher, so scheint es, 34 muss eine liberale Gerechtigkeitstheorie auf ethische Werturteile verzichten: Der Liberalismus bewertet das Gute einzig unter dem Vorrang des gleichen Rechts auf ethische Autonomie vor dem Guten. Gut ist, was rechtlich erlaubt ist. Die Wertneutralität des Liberalismus gegenüber Fragen des guten Lebens provoziert Kritik. Wie kann eine moralische Theorie jede Stellungnahme gegenüber der Qualität und dem Wert des Lebens, das die Menschen führen, verweigern? Darin sieht Dworkin eine ernste Herausforderung des Liberalismus. Im Wert der ethischen Neutralität offenbart sich nämlich ein Motivationsproblem. Wie findet der Liberalismus Eingang in die moralischen und ethischen Überzeugungen der Menschen, wenn er jede Stellungnahme zu ethischen Fragen verweigert? Was geht die Idee liberaler Gerechtigkeit die Menschen an, die ihr Leben und ihre Gesellschaft im Lichte einer Theorie des Guten bewerten? »If almost any theory of the good life is compatible with liberalism, then liberalism cannot appeal to any such theory in its own defense – it cannot campaign for a liberal state on the ground that only in such a state can people live good as well as fair lives.« 35 Dieser Einwand zwingt den Liberalismus das Verhältnis zwischen dem Standpunkt der liberalen Unparteilichkeit und Fragen ethischen Werts genauer zu klären. Es ist eine der grundlegenden Ideen von Dworkin, dass eine liberale Theorie der Gerechtigkeit in einem bestimmten Zusammenhang, einer »Kontinuität« 36 , mit Konzeptionen ethischen Werts stehen muss. In ihren ethischen Wertvorstellungen und Überzeugungen äußert sich das Selbstverständnis der Person. Eine Theorie politischer und sozialer Gerechtigkeit lässt sich nur dann gegenüber den Menschen begründen, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien deren ethischem Selbstverständnis nicht widersprechen. Dworkin unterscheidet daher zwei Ebenen der ethischen Neutralität. Der Liberalismus muss die Frage unbeantwortet lassen, worin inhaltlich ein gutes Leben besteht oder welche besondere Sinnquelle es für den Menschen zu entdecken gilt. Die Politik darf sich, so das klassische Beispiel, nicht in den Dienst einer religiösen Lehre stellen. Aber der So Kants berühmte Definition: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, in: Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1993, A 33. 34 Diese Auffassung vertritt Dworkin in früheren Schriften: Vgl. A Matter of Principle, a. a. O., Kap 8. 35 Ronald Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 238. 36 Ebd., S. 323. 33
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Liberalismus darf nicht neutral sein »at the more abtract levels at which we puzzle, not about how to live in detail, but about the character, force, and standing of the very question of how to live.« 37 Der philosophische Liberalismus ist Ausdruck der Überzeugung, dass es aufgrund des »vernünftigen Faktums des Pluralismus« 38 keine objektive, allgemeinverbindliche, ethische Theorie geben kann. Aber liberale Gerechtigkeitstheorien müssen Dworkin zufolge Antworten auf die folgenden abstrakten Fragen nach dem guten Leben finden: (a) Was ist der Ursprung der ethischen Frage, wie wir leben wollen. Warum muss uns diese Frage eigentlich kümmern? (b) Wer, wenn überhaupt, ist verantwortlich für das gute Leben der Menschen? Gibt es eine soziale, kollektive Verantwortung gegenüber dem guten Leben der Menschen, oder ist primär das Individuum verantwortlich für das Gelingen seines Lebens? (c) An welchem abstrakten Maßstab oder Standard sollen wir das Gelingen oder Scheitern eines Lebens messen? 39 Dworkin gründet seine liberale Gerechtigkeitstheorie auf zwei abstrakte Prinzipien. »The first of these principles holds that once a human life has begun, it is of great and objective importance that it be successful rather than wasted, and that this is of equal importance in the case of each human life. The second holds that the person whose life it is has primary and nondelegable responsibility for that success.« 40 Das erste Prinzip macht klar, dass es Aufgabe der Politik ist, die Bürger zu befähigen ein erfolgreiches und gutes Leben zu führen. Das zweite Prinzip betont die Verantwortung des Individuums für das Gelingen seines Lebens und verdeutlicht so den liberalen Charakter der Gerechtigkeitstheorie. Die Qualität des Lebens der Menschen soll von ihren eigenen Entscheidungen abhängen. Das bedeutet, dass die Frage nach den Standards und Maßstäben eines guten Lebens nicht zu trennen ist von der Frage nach der primären Verantwortlichkeit über Erfolg oder Misserfolg eines menschlichen Lebens. Der Liberalismus ist dem ethischen Individualismus verpflichtet. Er ist die politische Moral von Bürgern, die in einer besonderen Art und Weise eigene ethische Werturteile fällen und ihr Leben an diesen Urteilen orientieren und selbstbestimmt führen wollen. Ethische Autonomie und ethi37 38 39 40
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Ebd., S. 239. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 2003. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 239. Ebd., S. 240.
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sche Verantwortung sind zentrale Werte des Liberalismus, die aber der Klärung und Explikation bedürfen, um den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und liberaler Ethik deutlich zu machen.
3.3 Willkürliche vs. kritische Interessen Ethik betrifft die Frage, wie zu leben ist. Wie will ich leben? Was macht mein Leben zu einem guten und erfolgreichen? Solche Fragen zu stellen, bedeutet, dass wir uns in kritisch evaluativer Weise zu unseren eigenen Absichten und Wünschen verhalten. 41 Das, was wir wollen, ist nicht bereits dadurch, dass wir es wollen, gut. Wir verhalten uns nicht einfach affirmativ zu unserem Wollen. Unsere Ziele und Lebenspläne können richtig oder falsch sein im Hinblick auf unser Leben als ganzes. Aber woran orientieren wir uns, wenn wir unsere Wünsche und unser Leben als ganzes normativ beurteilen? Welche Wertmaßstäbe stehen uns zur Verfügung? Der ethische Individualismus setzt Dworkin zufolge die Unterscheidung zweier Beurteilungsperspektiven unserer Ziele und Absichten voraus. Wir können fragen, was wir am meisten zu tun wünschen, oder wir können fragen, was wir tun sollen, um ein gutes und sinnerfülltes Leben zu führen. 42 Erstere Frage betrifft die schwache Wertung unserer Wünsche, letztere deren starke Wertung (s. o.). Dworkin knüpft an dieses Modell ethischer Normativität an, indem er sein Konzept einer liberalen Ethik auf die Unterscheidung zwischen willkürlichem und kritischem Wohlergehen zurückführt: »Someone’s volitional well-being is improved, and just for that reason, when he has or achieves what in fact he wants. His critical well-being is improved by his having or achieving what it makes his life a better life to have or achieve.« 43 Dworkin veranschaulicht diese Unterscheidung an seinen eigenen Wünschen. Segeln und die Freiheit von Zahnarztbesuchen sind Bestandteile seines willkürlichen Wohlergehens. Der Wunsch, gut zu segeln, und der Wunsch, von Zahnarztbesuchen unbehelligt zu sein, ist der Grund des Gutseins beider Ziele. Eine enge Beziehung zu seinen Kindern, einen gewissen Erfolg in der eigenen Arbeit und »some minimal grasp of the state of advanced 41 42 43
Vgl., Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt/M. 2001, S. 95 ff. Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 244. Ebd., S. 242. A
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science of my era« bezeichnet Dworkin hingegen als Bestandteile seines kritischen Wohlergehens. 44 Kritisch sind diese Interessen, weil sie der Überzeugung entspringen, dass ein Leben ohne diese Ziele ein weniger erfolgreiches wäre. Sie definieren also, was Dworkins Vorstellung eines guten Lebens ausmacht. Die Dinge verhalten sich anders bei willkürlichen Interessen. Obwohl wir enttäuscht sind, wenn wir nicht das tun, was wir tun wollen, sind wir doch nicht der Überzeugung, dass unser Leben ein schlechteres wäre, wenn wir diese Wünsche niemals »entdeckt« hätten. Es ist wichtig für uns, dass wir bestimmte Dinge tun, weil wir sie tun wollen und nicht umgekehrt. Daher sind diese Ziele willkürlich. Das Faktum, dass wir etwas erreichen wollen, ist bereits der Grund des Gutseins des Ziels. 45 Kritische Wünsche sind nicht in dieser Weise motivationsabhängig. Wenn z. B. eine enge Beziehung zur Familie Bestandteil unseres kritischen Wohlergehens ist, dann liegt der Grund des Werts dieses Ziels nicht einfach in der Tatsache, das wir das wollen. Wir sind der Überzeugung, dass unser Leben ein schlechteres, ein ärmeres wäre, wenn wir keine enge Beziehung zu unserer Familie hätten, selbst wenn wir faktisch etwas anderes wünschen. 46 Im willkürlichen Sinn kann ich dagegen einfach etwas wollen, ohne zu glauben, dass mein Leben ein besseres würde, wenn ich das erreiche, was ich will. Das kritische Wohlergehen bezeichnet einen Maßstab, mit dem wir unsere faktischen Wünsche normativ bewerten. Anders als willkürliche Interessen sind kritische Interessen nicht dasselbe wie Motive. Ich kann der Überzeugung sein, dass altruistische Wünsche Bestandteil eines guten Lebens und daher gut für mich sind. Ich will eine enge Beziehung zu einem anderen Menschen um dieser Beziehung und um dieses Anderen selbst willen. Es liegt gerade im besonderen Wert Ebd. Ebd., S. 243. 46 Letzteres ist das Phänomen der Willensschwäche (akrasia). Wir sind der Überzeugung, dass ein Ziel wichtig für uns ist, weil unser Leben ein besseres wäre, wenn wir es erreichten, aber diese Überzeugung entspricht nicht unserem handlungswirksamen Wunsch. Wir lassen uns von Absichten zum Handeln bestimmen, die uns an der Verfolgung eines ungleich wichtigeren Zielen hindern. In einem solchen Konfliktfall gibt es keine dritte Kategorie von Interessen, die die Entscheidung zwischen kritischen und willkürlichen Wünschen noch einmal bewertet. Ich kann entweder meine Ziele normativ kritisch bewerten, oder ich orientiere mich an meinen faktischen Wünschen. Wir müssen daher, so Dworkin, den »Dualismus« beider Perspektiven akzeptieren: Ebd., S. 245. Ein Leben »in which someone wanted only what he thought it was in his critical interests to want would be a sad mess«: Ebd., S. 243. 44 45
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dieses altruistischen Ziels, dass ich es nicht aus Selbstinteresse verfolge. Gleichwohl ändert der altruistische Charakter nichts an der ethischen Rolle dieses Ziels: dass mein Leben in der engen Beziehung mit dem Anderen in besseres ist. 47 Das Verhältnis der ethischen (das Gute in der ersten Person) und der moralischen Beurteilungsperspektive (das intersubjektiv Gute) ist also nicht disjunktiv zu verstehen. Wir können unsere sozialen Beziehungen unter zwei Fragestellungen bewerten: Was schulden wir anderen und welchen Wert hat die Beziehung zu anderen Menschen für unser Leben? Die Antwort auf die erste Frage ist unabhängig von der Antwort auf die zweite. Ob eine Person einen moralischen Anspruch mir gegenüber hat, kann nicht davon abhängen, ob das Moralische Bestandteil meiner Vorstellung eines guten Lebens ist. Das folgt aus der Bedeutung des intersubjektiv Guten. Umgekehrt macht Dworkins Beispiel deutlich, dass ich moralische Normen nicht aus Selbstinteresse befolgen muss, wenn ich dem intersubjektiv Guten ethischen Wert verleihe. Die ethische und moralische Wertungsperspektive sind zu unterscheiden, sie schließen einander aber nicht aus. Die grundlegende These von Dworkin besagt, dass eine liberale Gerechtigkeitstheorie in Übereinstimmung mit einer Konzeption der Person gebracht werden muss, die sowohl zu moralischen als auch zu ethischen starken Wertungen fähig ist. Dworkin wendet sich mit dieser These gegen Gerechtigkeitstheorien wie die von Rawls und G. A. Cohen, die die Interessen von Individuen ausschließlich willkürlich, im Sinne schwacher Wertungen verstehen. Nun müssen wir aber zwischen politischer und sozialer Gerechtigkeit unterscheiden, um den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Ethik genauer zu präzisieren. 48 Politische Gerechtigkeit im engeren Sinn betrifft Fragen der Verteilung und der Ausübung politischer Macht. Der Liberalismus setzt der Ausübung demokratisch verteilter politischer Macht in der ethischen Autonomie des Individuums eine Grenze. Warum Ebd., S. 243. Diese Unterscheidung wird z. B. von Matthew Clayton übersehen. Er schränkt die ethische Wertungsperspektive auf die Fähigkeit der individuell selbstbestimmten Lebensführung ein und wird so dem Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Eigenverantwortung bei Dworkin nicht gerecht: Matthew Clayton, »Liberal Equality and Ethics«, in Ethics 113/2002, S. 8–22. Für den letzteren Zusammenhang ist insbesondere Dworkins Auseinandersetzung mit der Kritik Gerald A. Cohens interessant: Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., Kap. 7. Der erstere Zusammenhang wird vornehmlich im Kapitel 6, »Equality and the Good Life«, in Sovereign Virtue diskutiert.
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aber ethische Autonomie ein vorrangiger politischer Wert ist, bedarf der klärenden Analyse des Begriffs. 49 Die liberalen Grundfreiheiten gründen auf der Idee stark wertender Subjekte und sind so Ausdruck einer abstrakten liberalen Theorie des Guten. Unter sozialer Gerechtigkeit soll hier ganz allgemein die Frage nach der gerechten Verteilung sozialer Güter und Dienstleistungen wie Einkommen und Vermögen, Arbeit und Freizeit, Chancen auf vorteilhafte soziale Positionen und Gesundheitsfürsorge verstanden werden. Nach Dworkins Deutung des Liberalismus ist die Verteilung dieser Güter gerecht, wenn der individuelle Güterbesitz von den eigenen Entscheidungen der Bürger abhängt. Soziale Ungleichheiten dürfen nicht die Wirkung von Ursachen sein, die die Menschen nicht zu verantworten haben. Bürger sollen ihre selbst gewählten Lebensziele durch eigene Anstrengungen und Leistungen verfolgen können. Die Kehrseite dieses Prinzips ist die Idee, dass die Individuen die Verantwortung für das Gelingen ihrer Lebenspläne nicht einseitig an die politische Gemeinschaft delegieren dürfen. Das liberale Verständnis sozialer Gerechtigkeit setzt daher die Fähigkeit zur ethischen Verantwortung der Person voraus. Für Dworkins Theorie sozialer Gerechtigkeit ist der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Ethik konstitutiv.
3.4 Soziale Gerechtigkeit und Selbstverantwortung Die Regierung muss alle Staatsbürger als Gleiche, d. h. mit gleicher Rücksicht und Achtung behandeln. Aus diesem Grundgedanken liberaler Gleichheit folgt für Dworkin keine normative Präsumtion zugunsten einer Gleichverteilung sozialer Güter. Ob soziale Güter in einer Weise verteilt werden, die alle Bürger mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt, hängt davon ab, ob der Besitz transferierbarer Güter die individuellen Entscheidungen der Bürger berücksichtigt oder nicht. Transferierbare Güter sind nichtpersönliche Ressourcen wie Einkommen, Vermögen und die Chancen und Freiheiten, den eigenen Besitz nach eigenem Gutdünken zu gebrauchen. Sie sind von den nichttransferierbaren Ressourcen zu unterscheiden, den Eigenschaften und Qualitäten der Person: die physische und psychische
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Vgl. Rössler, Wert des Privaten, a. a. O.
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Gesundheit, die Talente, die den Erfolg der Person auf dem Markt bestimmen. 50 Ressourcen zählen zu den Lebensumständen der Person. Ihre Trägerschaft ist, was die persönlichen Ressourcen betrifft, nicht selbstverantwortet. Der Besitz transferierbarer Ressourcen ist in einer bestimmten Hinsicht durch die besonderen persönlichen Ressourcen bestimmt. Wenn eine Person über besondere Talente verfügt, ist sie auf dem Markt erfolgreicher als andere, die über weniger marktgängige Talente verfügen. Sie kann daher einen größeren Anteil an transferierbaren Ressourcen ihr eigen nennen. Wer z. B. unter einer schweren oder chronischen Krankheit oder einer Behinderung leidet, muss mehr Geld in medizinische Fürsorge investieren und verfügt so über weniger oder möglicherweise über zu wenig Ressourcen, um sich auch andere Dinge leisten zu können. Die Theorie der Ressourcengleichheit verlangt, dass der ungleiche Besitz transferierbarer Ressourcen der Bürger nicht ihren Lebensumständen, wozu auch ihre persönlichen Ressourcen zählen, geschuldet sein darf. Menschen sollen nicht unter unverantwortetem Pech leiden müssen. Darum sind Einkommen und Vermögen soziale Güter. Es ist Aufgabe des Staates, für eine faire Verteilung dieser Güter zu sorgen. Bürger haben einen Anspruch auf Kompensation unverantworteter Benachteiligungen. Die politische Gemeinschaft ist aber kein Fürsorgestaat. Der Erfolg oder das Scheitern eines Lebens hängt nicht nur vom Besitz persönlicher Ressourcen ab, sondern auch von der Persönlichkeit eines Menschen. Dazu zählt Dworkin die Ambitionen und den Charakter der Person. Zu den Ambitionen gehören die Präferenzen, Vorlieben, Überzeugungen und Lebenspläne der Person. Die Ambitionen bestimmen daher die Gründe und Motive, aus denen heraus die Person Entscheidungen trifft. Der Besitz oder der Mangel von Charaktereigenschaften wie »application, energy, industry, doggedness, and ability to work now for distant rewards« prägen den Charakter der Person. 51 Der Charakter beeinflusst die Art und Weise, wie die Person ihre Ambitionen verfolgt. Für ihre Charaktereigenschaften und ihre Ambitionen ist die Person verantwortlich. Es ist nach Dworkin eine Tatsache, dass wir unsere Entscheidungen, insbesondere solche, die unser Leben in besonders relevanter Weise betreffen, bewerten. 50 51
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 322 f. Ebd., S. 322. A
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Entscheidungen können im Hinblick auf die Qualität unseres Lebens richtig oder falsch sein. Wenn wir eine Entscheidung im Nachhinein aufgrund ihrer negativen Konsequenzen für unser Leben als falsch beurteilen, empfinden wir Reue. Wir hätten uns anders entscheiden sollen. Wir führen unser Leben in aller Selbstverständlichkeit im Bewusstsein unserer Freiheit, unserer Selbstverantwortung. 52 »We evaluate and criticize the ambitions out of which our choices are made. We try to reform or overcome those character traits that have led us to make choices we would prefer not to have made.« 53 Es ist nicht Aufgabe des Wohlfahrtsstaats, ungleichen Ressourcenbesitz, der auf die Persönlichkeit und nicht die Lebensumstände der Bürger zurückzuführen ist, anzugleichen. Die Theorie der Ressourcengleichheit ist eine »Kontinuitätstheorie« der Gerechtigkeit. Sie gründet in unserem ethischen Selbstverständnis. Wir führen unser Leben im Bewusstsein der Unterscheidung zwischen Persönlichkeit und Lebensumständen. Wir wollen selbst die Autoren unseres Lebens sein und unterscheiden zwischen dem, was unserer Kontrolle unterliegt, und dem, was sich dieser entzieht und zum Schicksal zählt. Die Theorie der Ressourcengleichheit ist »ethisch sensibel«. Sie gründet ihre normativen Urteile über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Verteilung transferierbarer Ressourcen auf das Bewusstsein der Verantwortlichkeit für unser Leben. 54 Es ist ungerecht, wenn Bürger die Kosten ihrer Entscheidungen, die nicht den Umständen zuzurechnen sind, sondern der Person, anderen aufbürden. Ressourcen sind Eigenschaften oder Sachen, die zur Verfolgung Ebd., S. 323. Dworkin argumentiert hier frei nach Peter Strawson, »Freedom and Resentment«, in: ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London und N.Y., 1974. Strawson hat in seinem berühmten Aufsatz den Vertreter des Determinismus an die transzendentalen Voraussetzungen des moralischen Gefühls der Empörung erinnert. Moralische Empörung empfinden wir nur gegenüber dem Handeln von zurechnungsfähigen erwachsenen Personen. Der Empörung geht das moralische Urteil voraus, das die Person, über die wir uns empören, auch anders hätte handeln können. Unser Leben ist in eine Praxis des moralischen Urteilens und Empfindens eingebettet, die wir nicht einfach abstreifen können. Wir sind, um es paradox zu formulieren, nicht so ohne Weiteres frei darin, das Bewusstsein unserer Freiheit und Verantwortung zu leugnen. Wie sähe ein Leben im Bewusstsein unseres Determiniertseins aus? Dworkin geht es, gewissermaßen noch fundamentaler, um die ethische Reue. Selbst eine Person, die keinerlei moralisches Empfinden zeigt, wird doch ihre Entscheidungen in der ersten Person singular als richtig oder falsch bewerten. Das setzt Freiheit voraus. 53 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 322. 54 Ebd., S. 323. 52
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von Interessen und Zielen erfolgsnotwendige Mittel sind. Ressourcen haben somit nur einen instrumentellen Wert. Sie sind wertvoll, insofern sie zum gelingenden Leben oder zur Wohlfahrt beitragen. Dass aber eine Theorie sozialer Gerechtigkeit nur die Verteilung von sozialen Gütern, die instrumentellen Wert besitzen, beurteilen soll, ist keine Selbstverständlichkeit. Dworkin hat sich durch einen individualutilitaristischen Ansatz einer Gerechtigkeitstheorie herausgefordert gesehen, der das Wohlbefinden der Menschen angleichen will. 55 Der intrinsische Wert besteht nach dieser Theorie in dem Wohlbefinden der Bürger, das mit der Präferenzerfüllung einer Person gleichgesetzt wird. Wir können das Ressourcenbündel, über das eine Person verfügt, nicht bewerten, wenn wir nicht wissen, ob die Person mit ihrem Güterbündel ihre Präferenzen erfüllen kann oder nicht. Wir müssen uns um das Glück der Menschen sorgen. Der Besitz gleicher Gütermengen zweier Personen muss nicht bedeuten, dass beide Personen mit ihren Ressourcen auch glücklich sind, weil Personen unterschiedliche Präferenzen besitzen. Es muss daher Aufgabe der Politik sein, für eine weit gehende Gleichheit der Präferenzerfüllung und des Wohlbefindens der Bürger zu sorgen, wenn Bürger mit gleicher Achtung und Rücksicht behandeln werden sollen. 56 Gegen diese Gerechtigkeitsvorstellung spricht die Intuition, dass jemandes Wohlbefinden durch seine anspruchsvollen Präferenzen bestimmt sein mag. Louis, der eine Schwäche für Champagner und Trüffel hat, braucht mehr Ressourcen, um seine Präferenzen erfüllen zu können als ein anderer, der die gutbürgerliche Küche schätzt. Wie kann es gerecht sein, wenn Louis an seine Mitbürger Forderungen auf Wohlfahrtsleistungen richtet, weil sein Geld nicht reicht? Nach Dworkin bestimmt sich der faire Wert einer Ressource durch ihren ideellen Marktpreis. 57 Unter der Bedingung, dass alle Marktteilnehmer über die gleiche Geldmenge verfügen, legen Angebot und Nachfrage den fairen Wert einer Sache fest. Insofern die Präferenzen einer Person zu ihrer Persönlichkeit zählen, hat sie die Kosten ihrer Präferenzen, die der Markt festlegt, selbst zu tragen. Unter der Bedingung eines ideellen Marktes ist die Person für die Umwandlung ihres Ressourcenbündels in Wohlergehen selbst verantwortlich, 55 56 57
Ebd., Kap 1. Ebd., S. 14. Vgl. Abschnitt 6.1 dieser Arbeit. A
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die Gesellschaft hingegen nicht. Bürger können gerechterweise nur für nichtverantwortete Unglücksfälle (bad brute luck) Entschädigung verlangen. Die Kosten für verantwortetes, d. h. kalkuliertes Pech (bad option luck), sind dem Verursacher selbst anzulasten. 58 Gegen Dworkins kategorische Zurückweisung des individuellen Wohlbefindens, verstanden als Präferenzerfüllung, als Metrik einer gerechten Verteilung sozialer Güter hat Gerald A. Cohen in seinem vieldiskutierten Aufsatz »On the Currency of Egalitarian Justice« den Vorwurf der Inkohärenz erhoben. Cohen ist wie Dworkin der Überzeugung, dass das Ziel des Egalitarismus die Beseitigung unverantworteter Benachteiligung von Menschen sei. 59 Als Benachteiligung können wir aber nicht ganz allgemein, hierin gibt Cohen Dworkin Recht, frustrierte Präferenzen verstehen. Individuelles Wohlbefinden ist keine Metrik einer egalitären Verteilung. Cohen zufolge ist der Grund hierfür aber nicht in der Unterscheidung zwischen der Persönlichkeit (Ambitionen und Charakter) und den Lebensumständen der Person zu suchen. Präferenzen können der Person zugerechnet werden, müssen aber nicht. Wir sollen vielmehr zwischen verantworteten und nichtverantworteten Präferenzen, die zu den Lebensumständen zählen, unterscheiden. Louis hat seinen ausgefallenen Geschmack nach luxuriösen Gaumenfreuden kultiviert, »in order to reach an ordinary level of welfare«. 60 Louis’ anspruchsvolle Präferenzen sind daher auf seine freiwilligen Entscheidungen zurückzuführen und also selbstverantwortet. Paul hingegen liebt die Photographie, während Fred seine Präferenzerfüllung beim Angeln findet. Nun ist aber der Marktpreis einer anständigen Photoausrüstung ungleich teurer als der Preis für eine Angel und Würmer. Fred findet sein Glück beim Angeln, aber Pauls Ressourcen reichen nicht aus, um sein teures Hobby zu finanzieren: »Paul’s life is a lot less pleasant as a result«. 61 Paul könnte sich wie Fred entscheiden eine Angel zu kaufen, aber er hasst das Angeln. Seine Vorliebe für die Photographie ist eine natürliche Neigung, die er nicht zu verantworten hat. Wir müssen also die Benachteiligung Pauls seinen Lebensumständen zurechnen, weil er sich nicht freiwillig für sein teuDworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 73. G. A. Cohen, »On the Currency of Egalitarian Justice«, in: Ethics 99/1989, S. 906– 944; hier: S. 916. 60 Ebd., S. 922 f. 61 Ebd., S. 923. 58 59
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res Hobby entschieden hat. Louis hat aber die Kosten seiner Präferenzen selbst zu tragen, Paul hingegen hat einen Anspruch auf Kompensation: »I think that a commitment to equality implies that he should be helped in the way that people like Paul are indeed helped by subsidized community leisure facilities.« 62 Die teure Vorliebe Pauls ist ein moralischer Zufall. Daher können wir nicht sagen, dass alle Präferenzen zur Persönlichkeit und niemals zu den Lebensumständen der Person zählen. Wir müssen uns um die unverantworteten benachteiligenden Präferenzen von Menschen genauso kümmern wie um deren Krankheiten und Behinderungen, für die sie nichts können. Cohen zieht daher die Grenze zwischen der Entscheidungsfreiheit der Person und ihren Lebensumständen anders. »The right cut is between responsibility and bad luck, not between preferences and resources.« 63 Dwokins Deutung des Egalitarismus sei inkohärent. Die Theorie der Ressourcengleichheit sei normativ blind gegenüber dem moralisch relevanten Unterschied zwischen Menschen wie Louis und Paul. Sie bestrafe Menschen für unverantwortetes Pech. Cohen schlägt daher ein drittes Kriterium vor, das dem Egalitarismus besser gerecht werden soll: Chancengleichheit auf Präferenzerfüllung. Louis hatte nicht weniger Chancen, seine Vorlieben zu befriedigen, bevor er seine teuren kulinarischen Vorlieben kultivierte, als Paul. Paul hatte keine Chance, sich für billigere Präferenzen zu entscheiden. Photographieren ist einfach »sein Ding«. Cohens Kritik nimmt Dworkin zum Anlass, die Konzeption der Person, die er seiner Gerechtigkeitstheorie zugrundelegt, zu präzisieren. Cohens Deutung des Egalitarismus sei Ausdruck einer »Diskontinuitätstheorie« der Gerechtigkeit: »a political theory need not and should not track the familiar structure of our personal morality and ethics.« 64 Die politische Moral Cohens stehe in keinerlei Zusammenhang mit unseren ethischen und moralischen Überzeugungen und mit dem Bild von uns selbst. 65 Hierin ist Dworkin recht zu geben. Aber was ist falsch an Cohens Konzeption der Person? Nicht dass Cohen einen strengen Determinismus vertritt. Die Person ist nicht an ihre Präferenzen gekettet. Sie kann freie Entscheidungen treffen, ob ihre Wünsche handlungswirksam werden sollen 62 63 64 65
Ebd. Ebd., S. 922. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 294. Ebd., S. 294 f. A
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oder nicht. Insofern ist sie zu schwachen Wertungen fähig. Sowohl Louis als auch Paul können die Konsequenzen ihrer Entscheidungen kalkulieren. Wenn Pauls Einkommen für sein Hobby nicht ausreicht, oder wenn er sich andere Güter nicht mehr leisten kann, dann ist er frei, sich gegen sein teures Hobby zu entscheiden. Das Übel einer kleineren Mietwohnung überwiegt das Übel des frustrierten Wunsches nach einem professionellen Photostudio. Paul wird daher eine rationale Entscheidung gegen sein Hobby treffen. Gleichwohl bleibt das Übel seiner frustrierten Präferenz bestehen. Für dieses Übel ist Paul nicht verantwortlich. Niemand soll aber unverantwortete Übel erleiden. Also hat Paul einen berechtigten Anspruch auf Entschädigung seiner Benachteiligung. 66 In welchem Sinne ist nun aber Louis, anders als Paul, für seine Präferenzen verantwortlich und kann daher keinen berechtigten Anspruch auf die Kompensation seiner teuren Esswünsche geltend machen? Cohen zufolge handelt Louis als Sozialschmarotzer. Er hat absichtlich seine extravaganten kulinarischen Präferenzen kultiviert, »in order to reach an ordinary level of welfare«. 67 Während Paul also einfach mit der Erfahrung konfrontiert ist, dass ihm das Photographieren große Freude bereitet, hat Louis einen solchen Wunsch gewählt, der teuer subventioniert werden muss: das Verlangen nach ancient claret und plovers’ eggs. Aber warum sollte er ausgerechnet den Verzehr teuerster und extravaganter Speisen zu seinem Wunsch gewählt haben? Wenn ihm die nicht schmecken, ist der Wunsch nichts wert. Oder er hat auf der Suche nach teuren Vorlieben die Erfahrung gemacht, dass ihm der Verzehr dieser Dinge große Freude bereitet. Für diese Erfahrung ist er genauso wenig verantwortlich wie Paul für die seine. Oder er hat aus einem Wunsch nach teuer zu subventionierenden Wünschen gehandelt. »He cultivated refined tastes because, given his royal Bourbon heritage, he thought such 66 Man beachte, dass Pauls Benachteiligung in ihrem Kern nichtkomparativer Natur ist. Moralisch relevant ist nicht die Tatsache, dass er über weniger Einkommen verfügt als andere, sondern der Umstand, dass er absolut zu wenig Geld besitzt, um sich seine teuren Wünsche zu erfüllen. Wir müssen also weder Pauls Einkommen noch seine Wünsche mit dem Einkommen oder Wünschen eines Fred oder Louis vergleichen, um das normative Urteil zu treffen, dass Paul zu wenig hat. Er besitzt gemessen an seinen unverantwortet anspruchsvollen Präferenzen zu wenig Ressourcen. Auch hier wird deutlich, dass der liberale Egalitarismus wesentlich durch ein Verdienstkriterium definiert ist und keine simple Gleichverteilungsdoktrin darstellt, wie von Kritikern gerne unterstellt wird. Vgl. Krebs, Gerechtigkeit oder Gleichheit, a. a. O. 67 G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 922 f.
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tastes appropriate to him: he had, we might say, a taste for refined tastes.« 68 Aber warum sollte Louis für diesen Wunsch zweiter Ordnung verantwortlich sein? Cohen könnte entgegnen, dass er auch diesen Wunsch zweiter Ordnung gewählt habe. Aber wir wären dann an einen weiteren höherstufigen Wunsch verwiesen, der als willkürlicher Wunsch ebenso wenig wie Pauls willkürlicher Wunsch nach einer teuren Photoausrüstung Grund der Zurechnungsfähigkeit eines Wunsches sein kann. Dworkin kann daher schlussfolgern, dass Cohen kein Kriterium bereitstellt, das zwischen verantworteten und nichtverantworteten Präferenzen unterscheidet, und dass daher seine Konzeption der Chancengleichheit auf Präferenzerfüllung in ein einfaches Konzept der Wohlfahrtsgleichheit zurückfällt. Individuelles Wohlbefinden, verstanden als faktische Wunscherfüllung oder als Luststreben, kann keine Metrik einer egalitären Verteilung sein. Cohen möchte unserer Überzeugung gerecht werden, dass Personen ihre Wünsche, Ziele und Lebenspläne ihren Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, anpassen können müssen. Nicht jede Frustration faktischer Wünsche kann berechtigte Ansprüche auf soziale Güter rechtfertigen. Wir müssen daher Bürgern die Fähigkeit unterstellen, Verantwortung für die erfolgreiche Verwirklichung der eigenen Ziele zu übernehmen. Das impliziert freilich die Fähigkeit zur intrinsischen Bewertung der eigenen Wünsche und Ziele. Ist meine frustrierte Präferenzerfüllung es wert, dass ich deren Kosten anderen aufbürde kann? Weder Louis noch Paul reflektieren aber über den Wert ihrer Präferenzen. Cohen legt, wie Dworkin deutlich macht, seiner Deutung des Egalitarismus ein Verständnis von Personalität zugrunde, das die Wünsche und Präferenzen von der praktischen Überlegung trennt. 69 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 289. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 290 ff. Gerald A. Cohen wiederholt und vertieft seine Kritik an Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit in einem jüngst erschienenen Artikel: »Expensive Taste Rides Again«, in: Justine Burley (Hg.), Dworkin and his critics: with replies by Dworkin, Malden, Oxford u. Vivtoria 2004, S. 3–29. 15 Jahre nach Erscheinen seines viel beachteten Aufsatzes verficht er dort noch einmal mit einem befremdenden Ernst die Auffassung, dass die Frustration anspruchsvoller und das meint teurer Präferenzen eine gerechtigkeitsrelevante Schlechterstellung bedeuteten. Auch hier wird unter welfare Wunscherfüllung, die erfolgreiche Befriedigung subjektiver Präferenzen verstanden. Eine Modifikation seiner Position betrifft die Rolle der Eigenverantwortung der Person. Hatte er in seinem 1989er Aufsatz noch dem moralischen common sense durch die Unterscheidung zwischen verantworteten und nicht verantworteten teuren Präferenzen Rechnung zu tragen versucht und nur letzteren 68 69
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Wünsche und Präferenzen bezeichnen nicht das Ergebnis der praktischen Überlegung, sondern allein deren Gegenstand. Unsere Zwecke besitzen für uns ausschließlich instrumentellen Wert. Es ist die kontingente Erfahrung des Lustgewinns oder der die Wunscherfüllung begleitenden Freude, um deretwillen wir Zwecke wertschätzen und verfolgen. Eine Sache ist wichtig für uns, weil ihre Verwirklichung uns Freude bereitet und Befriedigung verschafft. Wir haben folglich keinerlei Vorstellung vom intrinsischen Wert der Dinge, die wir erstreben. In dieser objektivierenden Sichtweise betrachten wir das, was wir wünschen, mit normativ-kritischer Indifferenz. Dass wir uns über bestimmte Dinge freuen, beim Erreichen von Handlungszielen »Lust« empfinden, ist gewissermaßen eine Angelegenheit unseres neuronalen Systems. So wie wir die schmerzlindernde Wirkungsweise von Medikamenten oder die Wirkung von Drogen beschreiben können, so lässt es sich über den unterschiedlichen Grad von Lust reden, der sich beim erfolgreichen Verfolgen unserer Ziele einstellt, und von der Freude über die Befriedigung unserer Wünsche, die eben das sind, was wir wünschen. Dieses Konzept schwacher Wertung als Handlungstheorie ist, so Dworkin, die Verhaltenslogik von Drogensüchtigen. 70 Dass uns etwas wichtig ist, ist die kontingente Erfahrung des Empfindens von Lust bei der Verwirklichung eines Zweckes. Prinzipiell aber können wir uns vorstellen, dass wir andere Wünsche hätten und über andere Handlungsziele Freude empfänden. Ja, wir müssen nach dieser Auffassung konsequenterweise wünschen, dass es besser wäre, Wünsche zu haben, die leichter zu erfüllen sind, oder Zwecke verfolgen zu wollen, deren Verwirklichung mit einen legitimen Anspruch auf Kompensation zugesprochen, wird diese Unterscheidung nun hinfällig. Sie spielt für die Frage, wessen kostspielige Wünsche eine Subventionierung rechtfertigen, keine Rolle mehr. Stattdessen sei es die Identifikation der Person mit ihren teuren Präferenzen, die deren Kompensationswürdigkeit begründe: Ebd., S. 20 ff. Cohen versucht derart das Konzept der Person seiner skizzenhaften Gerechtigkeitstheorie zu revidieren, das Dworkin kritisiert. Spätestens jetzt stellt sich aber die Frage, welchen sozialen Status sich eine Person zuschreibt, die sich mit ihren kostspieligen Präferenzen identifiziert und von anderen die Unterstützung ihres aufwendigen Lebenswandels verlangt. Die Antwort auf diese Frage erklärt, warum vor dem Hintergrund eines egalitaristischen Moralverständnisses dieser Konsequentialismus skandalös erscheinen muss. 70 Dworkin, Sovereign Virtue., S. 291 ff. Dieser Vergleich ist natürlich übertrieben. Der Drogensüchtige mag die negativen Konsequenzen seiner Sucht bewerten können. Er ist aber nicht mehr frei darin, aus Einsicht in die negativen Konsequenzen heraus handeln zu können. Genau diese Unfreiheit definiert den Drogenabusus.
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einem größerem Lustfaktor verbunden sind. Wenn man uns eine effektive Pille anböte, die unsere Präferenzen derart änderte, würden wir zugreifen. Das folgt aus der Vorstellung des ausschließlich instrumentellen Werts unserer Wünsche und Zwecke und eines Verständnisses praktischer Überlegung als Lustmaximierung und Steigerung von Wunscherfüllung. 71 Handeln ist die Herstellung emotional guter Zustände. Ambitionen und Vorlieben, die relativ schwer zu befriedigen sind, sind Handicaps. Es ist besser sie loszuwerden, wie es besser ist, eine Krankheit oder eine Behinderung loszuwerden. Diese reduktionistische Handlungstheorie ist offensichtlich absurd. Unsere Wünsche und Ziele sind, sofern sie uns wichtig sind, nicht der Gegenstand, sondern das Ergebnis praktischer Überlegung. »If you love jazz, it is jazz that you love, not some sensation that you happen to realize at a jazz concert but that you might hope to obtain in some different and perhaps less expensive way. If you want to help save a species or a building, that is what you want, not another desire-satisfaction notch on your belt. Of course you get a thrill from jazz, and you do feel a tingle when some bulldozer is turned away from its unwholesome work. But those sensations are predicated on judgements – that good jazz is wonderful, for example, and that saving certain buildings is desperately important.« 72
Bedeutsame Ziele verfolgen wir aufgrund von Werturteilen. Wir sind überzeugt, dass bestimmte Ziele Bestandteil eines guten und sinnvollen Lebens sind. Es ist der besondere normative Wert bestimmter Ziele, der begründet, warum wir uns freuen, wenn wir unsere Ziele erreichen, und nicht umgekehrt. Unser Leben wäre ein ärmeres, ein weniger sinnvolles und ein weniger gutes, wenn wir unsere bedeutsamen Ziele nicht erreichten. Es ist uns daher nicht möglich, unsere bedeutsamen Ziele mit kritischer Indifferenz zu betrachten, weil ein Leben ohne sie ein weniger wertvolles wäre, weil es nicht das Leben wäre, das wir führen wollen und mit dem wir uns identifizieren. 73 Das ausschließlich schwach wertende Subjekt ist nicht zu normativen ethischen Werturteilen fähig und auf seine faktischen Erfahrungen guter Empfindungen zurückgeworfen. Nun müssen wir aber wiederum zwischen ethischem und moralischem Wert unterscheiden. Cohen skizziert eine normative Gerech71 72 73
Ebd., S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 242. A
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tigkeitstheorie und setzt somit eine Konzeption der Person voraus, die zu starken Wertungen in der Lage ist, insofern sie moralische Werturteile treffen können muss. Die Bürger der durch Cohens Version des Wohlfahrtsegalitarismus geordneten Gesellschaft sind keine Egoisten, die nur ihr eigenes Wohlergehen maximieren wollen, sondern sie sind fähig, ihre eigenen Interessen zu transzendieren und die Perspektive der Gerechtigkeit einzunehmen. Das heißt, auch in Cohens gerechter Gesellschaft können wir den Standpunkt der Unparteilichkeit beziehen und bewerten unsere Interessen daraufhin, ob sie mit der Idee der Gerechtigkeit übereinstimmen oder nicht. Es ist daher zunächst nicht klar, was Dworkin mit seiner Kritik an der Personenkonzeption bei Cohen gewonnen hat. Müssen wir nicht sagen, dass Cohen seiner Gerechtigkeitstheorie ein falsches Verständnis von Unparteilichkeit zugrundelegt? Müssen wir nicht das Konzept der starken moralischen Wertung kritisieren? Inwiefern hängt die moralische und die ethische Beurteilungsperspektive zusammen? Auf der allgemeinsten Ebene bedeutet Verteilungsgerechtigkeit nach liberaler Auffassung, eine bestehende Verteilungsstruktur daraufhin zu beurteilen, ob sie den Interessen aller Betroffenen gleichermaßen gerecht wird. Cohen teilt einen Grundgedanken der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie: Der unparteiische Standpunkt sozialer Gerechtigkeit besteht darin, die Perspektive der (am stärksten) sozial Benachteiligten einzunehmen. Wir beurteilen die Verteilung sozialer Güter aus der Perspektive des Selbstinteresses einer gesellschaftlichen Gruppe, die durch eine wohldefinierte soziale Benachteiligung einen berechtigten Anspruch auf Berücksichtigung ihres Selbstinteresses besitzt. Das ist bei Rawls die repräsentative Gruppe von Bürgern, die in der Einkommens- und Vermögenshierarchie am schlechtesten gestellt ist. Cohen individualisiert dieses Vertragsargument, indem die Interessen von Individuen, nicht sozialen Gruppen, die Bewertungsperspektive der Gerechtigkeit beschreiben, also die Interessen von Menschen, die ihren Güterbesitz ohne eigenes Verschulden nicht in Wohlbefinden umwandeln können. 74 Das folgt aus der Struktur der zu berücksichtigenden Interessen, die nicht auf soziale Güter als Allzweckmittel (Grundgüter), sondern auf die Darin liegt natürlich ein Gutteil der Absurdität dieser Deutung des egalitären Liberalismus. Wie soll der Staat beurteilen, ob jeder Bürger mit seinem Güterbündel glücklich ist oder nicht, und wenn nicht, ob er einen berechtigten Anspruch auf Kompensation besitzt?
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Umwandlung des Besitzes sozialer Güter in subjektives Wohlbefinden gerichtet sind. Die Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Cohen haben aber eine wichtige Gemeinsamkeit: Den Standpunkt der Gerechtigkeit einzunehmen heißt bei beiden, sich den klugen Egoismus einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. einer bestimmten Person zu eigen zu machen. 75 Während Rawls die Interessen der anderen Gesellschaftsmitglieder aus der Perspektive der am stärksten Benachteiligten durch sein Modell des Urzustands noch instrumentell berücksichtigt, sind sie bei Cohen gänzlich vergessen. In beiden Gerechtigkeitstheorien spielen die Interessen derer, die die Ansprüche der unverdient Benachteiligten erfüllen sollen, letztlich keine Rolle. Der Pflicht, den eigenen Güterbesitz mit den Benachteiligten zu teilen, korrespondiert kein Recht, das eine Grenze der legitimen Belastungen durch Umverteilungen festlegte. Rawls und Cohen teilen die Auffassung, dass die Wertungen aus der Perspektive der ersten Person und der moralische Standpunkt zwei strikt voneinander zu unterscheidende und zu trennende Perspektiven bezeichnen. Sowohl für die Moraltheorie Kants als auch für die Moraltheorie des Utilitarismus ist diese strenge Unterscheidung konstitutiv. Sie hat aber in beiden Moraltheorien eine grundsätzlich andere Bedeutung. So beschreibt Kant in der »Analytik der reinen praktischen Vernunft« Handeln als hedonistisches Glücksstreben. Zwecke sind Handlungsziele, deren Verwirklichung mit einer »Empfindung der Annehmlichkeit« verbunden sind. 76 Der Grund, sich Zwecke zu setzen, liegt in der Erfahrung, dass das erfolgreiche Verfolgen bestimmter Handlungsziele von emotional angenehmen Zuständen begleitet wird, die das eigentliche Worumwillen des Handelns sind. Menschen streben danach Lust zu empfinden, und zwar »ununterbrochen«. 77 Worin aber Menschen ihr Lebensglück finden, ist eine subjektive Geschmacksache der unterschiedlichen Lustempfindungen. Daher kann die Lust auch kein moralisches, und das heißt allgemeingültiges Motiv sein zu handeln. Das Glücksstreben ist etwas der moralischen Gesinnung ganz und gar Entgegengesetztes. Moralisch zu handeln bedeutet frei zu sein von den Versuchungen, Lustvolles zu erstreben und auch moralisch dann zu Theorien der Wohlfahrtsgleichheit scheitern an der prinzipiellen Unmöglichkeit, den unparteiischen Standpunkt bestimmen zu können.: Vgl. Abschnitt 6.1 dieser Arbeit. 76 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 40. 77 Ebd. 75
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handeln, wenn dadurch das eigene Luststreben frustriert wird. Jede Vermischung der moralischen Motivation mit dem Lustprinzip führt zu einer Minderung des moralischen Werts der Gesinnung. Im klassischen Utilitarismus spielt diese handlungstheoretische Prämisse eine grundsätzlich andere Rolle. Die »Lebensauffassung«, auf der die utilitaristische Theorie der Moral beruht, besagt, so Mill im Anschluss an Bentham, »dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind«. 78 Mill sieht sich aber veranlasst den kruden Reduktionismus dieses Handlungsbegriffs zu modifizieren. Wenn menschliches Handeln das Herbeiführen angenehmer Zustände ist, was unterscheidet uns dann vom Tier? Oder unterscheidet uns nur unsere Fähigkeit, moralisch zu handeln, vom Tier, so dass wir, wie Kant das in der Kritik der praktischen Vernunft sieht, nur in unserer moralischen Gesinnung zu uns selbst finden, im Streben nach Glück jedoch in einem quälend unfreien Angezogensein nach Objekten des Begehrens uns merkwürdig fremd bleiben? Mill unterscheidet zwischen geistigen und sinnlichen Lustempfindungen. Die Menschenwürde besteht darin, die intellektuellen Anlagen zu Fähigkeiten zu entwickeln. Mill entwickelt daher ansatzweise ein ethisches Gebot, das darin besteht intellektuelle Lust zu erstreben. Lust ist somit nicht nur ein quantifizierbarer Wert, sondern auch qualitativ unterschieden in eine niedere, sinnliche, und eine höhere, intellektuelle Lust. Trotz der qualitativen Bewertung von intellektuellen Fähigkeiten und Handlungsvollzügen deutet er diese Unterscheidung konsequentialistisch. Es sei die Erfahrung gebildeter Menschen, dass die Fähigkeit, intellektuelle Freude zu empfinden, »der Art nach – ungeachtet ihrer Intensität – denen vorzuziehen sind, deren die tierische Natur ohne die höheren Fähigkeiten fähig ist«. 79 Mill setzt hier aber ein Werturteil voraus, durch das allererst verständlich wird, warum höhere Fähigkeiten erstrebenswert sind. Die Sache verhält sich also umgekehrt zur hedonistischen Handlungslogik. Wir empfinden Freude, wenn wir solche Handlungen vollziehen, die höhere Fähigkeiten erfordern, weil wir diesen Fähigkeiten einen besonderen, unsere Identität konstituierenden Wert einräumen. Wir treffen also die Unterscheidung in »höhere« und »niedere« Lustempfindungen aufgrund einer normativen Bewertung unserer Wünsche. Wenn wir Mills ethisches Werturteil 78 79
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John Stuart Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1985, S. 13. Ebd., S. 20.
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akzeptieren, haben wir den hedonistischen Glücksbegriff aufgegeben. Das aber wäre mit einer utilitaristischen Moraltheorie unvereinbar. Der hedonistische Glücksbegriff ist konstitutiv für die Auffassung des moralischen Werts des Utilitarismus. Eine Handlung ist genau dann gut, wenn sie unter eine Regel fällt, die insgesamt den vergleichsweise größten Nutzen der meisten Menschen zur Folge hat. Wir sollen nach Regeln handeln, die das größte Allgemeinwohl, definiert als hedonistisches Glück, zum Ziel haben. 80 Von einer utilitaristischen Moralauffassung können wir dann sprechen, wenn »die Nützlichkeit«, verstanden als das vergleichsweise größte Allgemeinwohl, »die letzte Instanz moralischer Verpflichtung ist«. 81 Der Utilitarismus ist mit zwei klassischen Einwänden kritisiert worden. Der erste besagt, dass die Wünsche bzw. Lust- und Unlustempfindungen der Menschen, die deren Glücksauffassungen bestimmen, nicht moralisch neutral sind. So können bestimmte externe Wünsche kein Gegenstand der Moral sein. Wenn z. B. die Mehrheit Freude dabei empfindet, eine Minderheit zu unterdrücken, dann wird dem utilitaristischen Nutzenkriterium entsprochen, wenn die Wünsche der Mehrheit befriedigt und die Minderheit benachteiligt wird. 82 Der Utilitarist muss entweder diese Konsequenz ziehen und verabschiedet sich so als Moraltheorie, oder er muss zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Wünschen unterscheiden und verabschiedet so den allgemeinen Nutzen als letztes Kriterium moralischer Richtigkeit. Der zweite Einwand, der in unserem Zusammenhang von größerer Wichtigkeit ist, kritisiert den Utilitarismus aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit. Rawls’ berühmte Version dieses Einwands lautet, dass der Utilitarismus die Nutzenkalkulation einer Einzelperson unzulässigerweise auf die Gesellschaft als ganze übertrage. So wie eine Person die Gesamtsumme ihres Nutzens kalkuliert und dabei Nachteile um größerer Vorteile willen in Kauf nimmt, so betrachtet der Utilitarist die Verteilung von Wohlfahrtsgütern einer Gesellschaft. Wenn eine Verteilungsstruktur so beschaffen ist, dass Das ist die Definition des sogenannten Regelutilitarismus. Er ist dem Handlungsutilitarismus entgegengesetzt, der das Nutzenkriterium auf Einzelfallentscheidungen anwendet. Vgl. William K. Frankena, Analytische Ethik. Eine Einführung, München 1994, S. 54 ff. 81 Mill, a. a. O., S. 44. 82 Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 49. 80
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die Nutzensumme einer Mehrheit den geringeren Nutzen einer Minderheit aufwiegt, dann ist die Verteilungsstruktur nach dem utilitaristischen Nutzenkriterium gerechtfertigt. Der Utilitarist ist daher prinzipiell bereit, das Wohl einer Minderheit zu opfern, wenn dadurch das Allgemeinwohl maximiert werden kann. Rawls führt diesen Einwand im Namen einer Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit, nach der die Verteilung sozialer Güter den Interessen aller Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen gerecht werden soll. Der Utilitarismus verfügt über ein falsches Konzept der Unparteilichkeit. Das Nutzenkalkül »nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst.« 83 Rawls’ und Cohens Gerechtigkeitstheorien können als Versuch gewertet werden, den moralischen Konsequentialismus des Utilitarismus mit dem normativen Individualismus zu versöhnen. Rawls’ Differenzprinzip folgt der Intuition, dass die Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands auch denen zugute kommen muss, die in der Einkommens- und Vermögenshierarchie ganz unten stehen. Cohen individualisiert das Nutzenkriterium auf radikale Weise. Jedes Individuum hat gegenüber der politischen Gemeinschaft das Recht auf Erfüllung seiner Präferenzen. Bei aller Unterschiedlichkeit übernehmen die Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Cohen aber vom Utilitarismus ein Konzept des einseitigen Wohlwollens. Der Utilitarismus unterscheidet streng zwischen dem Glücksstreben aus der Perspektive der ersten Person und dem moralischen Standpunkt. Die »Norm des Utilitarismus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt«, so Mill. 84 Was aber als Glück zählt, ist nicht das Ergebnis eines ethischen Werturteils. Glück wird gemessen an den Wünschen oder den Zuständen von Freude, die die Menschen faktisch begehren. Das normative Modell des Wohlwollens, das den Utilitarismus charakterisiert, ist eine Konsequenz dieses empirischen Glücksbegriffs. Weil der Utilitarismus über kein normativ ethisches Konzept des Wohlergehens verfügt, ist ihm der Gedanke der primären Verantwortlichkeit des Subjekts gegenüber seinen Wünschen und Lebenszielen fremd. Der Utilitarismus ist daher eine radikal altruistische Moraltheorie. Es ist die moralische Pflicht der Person, nach solchen Regeln 83 84
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zu handeln, die das Glück der Menschen maximieren. Das Wohlwollen findet aber keine Grenze in der Selbstverantwortung der Menschen für ihr Lebensglück. Daher sind die Forderungen, die das utilitaristische Moralprinzip an uns richtet, prinzipiell grenzenlos. Auf dieses Konzept einseitigen Wohlwollens gründen Rawls und Cohen ihre Gerechtigkeitstheorie. Der Standpunkt der Gerechtigkeit besteht darin, die Verteilung sozialer Güter durch die Institutionen der Gesellschaft aus der Perspektive der ohne eigene Schuld Benachteiligten zu beurteilen. Unparteilichkeit besteht also in einem einseitigen Rollentausch, der Übernahme der Perspektive der sozialen Gruppe, die über die wenigsten Grundgüter verfügt (Rawls) bzw. der Übernahme der Perspektive von Individuen, deren Präferenzen frustriert sind (Cohen). Gerecht ist eine Regel genau dann, wenn sie den größten Nutzen für die Benachteiligten zur Folge hat. Auch hier korrespondiert dem moralischen Standpunkt kein Konzept ethischer Normativität. Die Person verfügt nicht über die Fähigkeit, ihre Interessen kritisch zu bewerten. Daraus folgt, dass die Frustration der Interessen an einem möglichst großen Grundgüteranteil bzw. die frustrierte Präferenzerfüllung für die betroffene Person in jedem Fall ein Übel darstellt, für das sie nicht verantwortlich ist. Die Forderungen, die die Benachteiligten an die Gesellschaft richten, sind daher prinzipiell grenzenlos. Gut ist, was der Erfüllung der eigenen Interessen dient. Die Person besitzt nicht das Vermögen der ethischen Verantwortung, ihr fehlt das Bewusstsein der Verantwortlichkeit für das eigene Wohlergehen. Ethische Verantwortung besteht nicht zuletzt darin, dass wir unsere Wünsche und Lebensziele unseren Anlagen und Talenten, den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, und unseren sonstigen äußeren Lebensumständen anpassen können müssen. Das hat Konsequenzen hinsichtlich der Wertungen unserer Interessen. Gut ist, was unseren Lebensumständen in einer richtigen Art und Weise angemessen ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass unsere Lebensumstände nicht auch Gegenstand der normativen Beurteilung wären. Wir können z. B. mit äußeren Lebensumständen konfrontiert sein, die es uns unmöglich machen, bestimmte Anlagen und Talente, mit denen wir uns identifizieren, zu Fähigkeiten zu entwickeln. In einem solchen Fall stellt die Frustration wichtiger Lebensziele ein gravierendes ethisches Übel dar. Insofern die Gesellschaft, in der wir leben, für diese Freiheitseinschränkung verantwortlich ist, findet unsere ethische Verantwortung ihre Grenze. In diesem Sinn können wir A
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sagen, dass die Gerechtigkeit der Ethik Grenzen setzt. Was gut für eine Person ist, hängt nicht nur von ihren eigenen Entscheidungen und Wertungen ab, sondern auch von ihren Lebensumständen, der Verfassung der Gesellschaft, in der sie lebt. Ethische Verantwortung meint nicht, sich affirmativ zu den Grenzen der eigenen Freiheit zu verhalten. Aber umgekehrt setzt auch die Ethik der Gerechtigkeit Grenzen. Wenn unsere wichtigen Ziele und Lebenspläne das Ergebnis unserer starken Wertungen sind und wir für diese Wertungen in dem Sinne verantwortlich sind, dass wir sie aufgrund von begründeter Einsicht ändern können, dann sind wir auch fähig, die Kosten unserer Ziele und Lebensprojekte zu bewerten. Es mag sein, dass der frustrierte Wunsch einer Person P, X zu tun, für diese Person ein Übel darstellt. Aber ist der Wunsch, X zu tun, es wert, dass andere die Kosten tragen, damit P X tun kann? In welchem Verhältnis steht das Übel, X nicht tun zu können, zum Wert der Kosten, die denen entstehen, die Solidarität leisten? Wenn die Person nicht über den Wert der Kosten ihrer Interessen urteilen kann, besitzt sie kein Bewusstsein ethischer Verantwortung. Die Kosten, die andere zu tragen haben, wenn sie Solidarität leisten, stellen keine Grenze dar, denen die eigenen Lebenspläne und Ziele anzupassen sind. Der Rollentausch des unparteiischen Standpunkts zwingt uns in die Interessenperspektive von Benachteiligten, die über diese Fragen nicht normativ urteilen können. Weder die Relevanz der frustrierten Interessen für das eigene Leben noch der Wert der »Opportunitätskosten« spielen aus der Perspektive der Benachteiligten für die normative Beurteilung der Verteilung sozialer Güter eine Rolle. Es ist aber nicht einzusehen, warum dieses Konzept einseitigen Wohlwollens das Prädikat der Unparteilichkeit beanspruchen können soll. Wieso soll die Gesellschaft als Solidargemeinschaft einseitig die Verantwortung für das Wohlbefinden der Bürger tragen? Wir müssen, so Dworkin, über Gerechtigkeit und das gute Leben in einer stärker integrierenden Weise nachdenken. 85 Die Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Cohen sind durch eine Zweischrittmethode charakterisiert. In einem ersten Schritt beschreiben wir die Interessen der Bürger, gegenüber denen die Verteilungsstruktur sozialer Güter zu rechtfertigen ist. In einem zweiten Schritt definieren wir den unparteiischen Standpunkt, von dem aus wir sagen können, dass die Interessen aller Bürger gleichermaßen berücksichtigt sind. 85
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Soziale Gerechtigkeit und Selbstverantwortung
Aber beide Schritte werden streng unterschieden. Die Interessen der Bürger werden ganz unabhängig vom unparteiischen Standpunkt bestimmt. Es ist das Selbstinteresse von Bürgern in einer bestimmten Situation der Unparteilichkeit, das darüber Auskunft geben soll, was eine gegenüber den Bürgern gerechtfertigte Verteilung sozialer Güter ist. Der Gleichheitsgedanke des normativen Individualismus besagt, dass eine Verteilung sozialer Güter gerecht ist, wenn sie gegenüber den Interessen der Betroffenen gleichermaßen gerechtfertigt werden kann. Dieser Rechtfertigungsgedanke setzt voraus, dass wir die legitimen Interessen von Personen bestimmen können, gegenüber denen eine Verteilungsstruktur als gerecht begründet werden kann. Aber Ansprüche auf positive Sozialleistungen sind immer auch Ansprüche auf Umverteilungen, insofern sie aus den Beiträgen der Solidargemeinschaft der Bürger stammen. Es ist der Grundgedanke der Gerechtigkeitstheorie von Dworkin, dass die Perspektive der distributiven Gleichheit um die Perspektive der Gleichheit als Reziprozität zu ergänzen ist. Wir können nicht die legitimen Interessen von Bürgern als Grund für Forderungen nach positiven sozialen Leitungen bestimmen, ohne gleichzeitig festzulegen, worin die faire Grenze von Forderungen besteht, die Bürger aneinander richten dürfen. Auch die Interessen derer, die Solidarität leisten, begründen legitime Ansprüche. Es sind daher beide Perspektiven zu berücksichtigen, um den Standpunkt der Gerechtigkeit zu bestimmen. 86 Das setzt im Kontext sozialer Gerechtigkeit voraus, dass Bürger Verantwortung für das Gelingen ihres Lebens übernehmen können und das heißt, dass die Verteilung sozialer Güter nicht einseitig Aufgabe des Fürsorgestaates ist. Der Standpunkt der Gerechtigkeit verlangt daher nach einem abstrakten Konzept ethischer Normativität. Die utilitaristische Handlungstheorie ist zu verabschieden.
In diesem Punkt stimmt Dworkins Gerechtigkeitstheorie mit der kontraktualistischen Moraltheorie Thomas Scanlons überein. Dieser formuliert ein metaethisches Prinzip, wonach eine moralische Regel nur dann als gerechtfertigt gelten kann, wenn die Interessen der Nutznießer dieser Regel und die Interessen derjenigen, die seine Kosten zu tragen haben, gleichermaßen berücksichtigt werden: Thomas Scanlon, What We owe to Each Other, Cambridge/Mass. 1998, Kap. 5.
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3.5 Der Wert subjektiver Überzeugungen Ethik betrifft die Frage nach dem Guten aus der Perspektive der ersten Person. Die Moral betrifft die Frage nach dem Guten in der intersubjektiven Perspektive: Was ist das richtige Handeln gegenüber dem Anderen? Moralischer Wert hat nach der liberalen Auffassung einen objektiven Anspruch. Das intersubjektiv Gute ist gegenüber allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft gleichermaßen begründbar. Es ist gleichermaßen gut für alle. Moralische Normen müssen gegenüber allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft mit guten Gründen gerechtfertigt werden können. Ethischer Wert ist nach liberaler Auffassung subjektiv. Konkrete Antworten auf die Frage nach dem guten Leben können und dürfen nicht beanspruchen gleichermaßen gut für alle zu sein. Gerade darin besteht die abstrakte ethische Idee des Guten des Liberalismus: Die Person soll selbst bestimmen, wie sie leben will. Mit dieser Unterscheidung zwischen ethischem und moralischem Wert ist sogleich ein Problem benannt. Ist das nicht Ausdruck eines ethischen Subjektivismus, wenn wir sagen, dass ein bestimmtes Leben für eine Person gut ist, weil sie es für ein gutes Leben hält? Sie könnte sich darin irren, was für sie das Gute ist. Die Frage nach dem Guten scheint bedeutungslos zu werden, wenn sie dezisionistisch verstanden wird. Worin das Gute besteht, ist dann eine Frage des Geschmacks. Wenn wir aber ethischen Wert nicht willkürlich subjektivistisch, sondern normativ verstehen wollen, müssen wir dann nicht einen objektiven Wert des ethisch Guten unterstellen? Wie aber kann das ethisch Gute objektive Gültigkeit beanspruchen, wenn die Person das Gute als für sie wertlos und nicht lebenswert ablehnt? Ein gutes, erfolgreiches Leben scheint nur ein solches zu sein, dass aus der subjektiven Überzeugung heraus als gut bejaht wird. Wie soll ich aber der Überzeugung sein, dass etwas gut ist, wenn es keine objektiv begründbaren Kriterien für sein Gutsein gibt? Dworkin sieht hier ein Dilemma: Ethische Werturteile sind ganz offenbar an die subjektiven Überzeugungen zurückgebunden und können nicht wie moralische Werturteile von dem subjektiven Wollen unabhängig objektiv gültig sein. Wenn ihnen aber die objektive Gültigkeit abgeht, in welchem Sinne können sie dann den Anspruch erheben, die richtigen zu sein? 87 87
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Dworkin möchte das Dilemma durch sein abstraktes Konzept einer liberalen Ethik lösen, das er als das Herausforderungsmodell (challenge model) bezeichnet. Er unterscheidet zwei Modelle ethischen Wertens. Nach dem impact model besteht der Wert eines guten Lebens in seinen Konsequenzen für den Rest der Welt. »The impact of a person’s life is the difference his life makes to the objective value in the world.« 88 Wir bezeichnen beispielsweise das Leben eines großen Schriftstellers als gelungen, weil sein Werk ein bedeutender Beitrag zur Literaturgeschichte ist. Oder wir bezeichnen ein Leben als gut, weil es ein gottgefälliges ist. In beiden Fällen bewerten wir also die Qualität eines Lebens an objektiven konsequentialistischen Maßstäben. Das Herausforderungsmodell hingegen bezeichnet eine nichtkonsequentialistische Ethik. »It adopts Aristotle’s view that a good life has the inherent value of a skillful performance.« 89 Das Leben eines Menschen besitzt Wert, selbst wenn es nichts zu einem objektiven Wertestandard für den Rest der Welt beiträgt. Es sind die partikularen Lebensumstände, auf die das Subjekt die richtige Antwort nach dem guten Leben finden muss: die besondere historische, kulturelle und soziale Situation, die eigenen Fähigkeiten und Talente. 90 Sie sind die Herausforderung, die uns die Suche nach einer Antwort auf die Frage des guten Lebens aufzwingt. Es gibt keine transzendenten Kriterien ethischen Werts, die auf die jeweilige besondere Lebenssituation anzuwenden wären. »A life of chivalrous and courtly virtue might be a very good one in twelfth-century Bohemia but not in Brooklyn now.« 91 Dieser Relativismus schließt natürlich nicht aus, dass es bezogen auf die besondere kulturelle Situation objektive, kommunitaristische Kriterien gäbe, was das ethisch Gute sei. Dworkins Herausforderungsmodell ist aber dem ethischen Individualismus verpflichtet. Es ist der Vollzug des Lebens selbst, der als ethisch Ebd., S. 251. Ebd., S. 253. 90 Natürlich können die Lebensumstände auch zum Scheitern des Lebens eines Menschen führen. Sie sind dann keine Herausforderungen mehr. Zu solchen ungünstigen Lebensumständen zählt Dworkin übrigens die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, in der man lebt. Auch wenn ich von der Ungerechtigkeit profitiere, oder zumindest doch nicht zu den Benachteiligten zähle, sei mein Leben objektiv bewertet ein schlechteres, als wenn ich in einer gerechten Gesellschaft lebte: Ebd., S. 260 ff. Was Dworkin hier im Anschluss an Platon diskutiert, ist doch eher ein Luxusproblem. Das moralisch relevante Leiden an der Ungerechtigkeit ist das derjenigen, die von den Institutionen der Gesellschaft ungerecht behandelt werden. 91 Ebd., S. 258. 88 89
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gut oder schlecht bewertet wird. Wir können das Leben einer Person nach konsequentialistischen Kriterien als gut bezeichnen, aber das muss nicht heißen, dass die Person selbst ihr Leben als ein gutes bewertet. Das eigene Leben als eine Praxis zu begreifen heißt Dworkin zufolge (entgegen der Auffassung von Aristoteles), dass wir unser Leben aus der eigenen Überzeugung führen sollen, dass es das für uns gute und sinnvolle ist. Es ist für den Liberalen Dworkin eine notwendige Bedingung der guten Qualität des Lebens einer Person, dass es von der Person als ein gutes gewollt wird. Das Leben ist eine Praxis, deren Wert sich über die Überzeugungen der Person erschließt, und die nicht an den Resultaten dieses Lebens zu messen ist. »The misanthrope’s life is not made better by the friendship he thinks pointless.« 92 Nur das Subjekt selbst besitzt die Autorität, zu entscheiden, welches die richtige Antwort auf die Herausforderungen seiner besonderen Lebenssituation ist. 93 Der ethische Wert eines Lebens lässt sich daher im Letzten nur aus der Perspektive der ersten Person singular bestimmen. Dworkins Herausforderungsmodell ethischen Werts ist deshalb nicht mit einer Form ethischer Objektivität vereinbar, die einen kritischen Paternalismus legitimiert. Das Leben einer Person kann nicht dadurch verbessert werden, dass man sie zu Handlungen oder Unterlassungen zwingt, deren ethischen Wert sie verneint. 94 Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Ebenen des Objektivitätsanspruchs des ethisch Guten. Ethischer Wert ist an die Überzeugungen des Subjekts gebunden. Das schließt aus, dass eine der Person aufgezwungene Lebensform einen Wert besitzt. So ist z. B. der religiöse Paternalismus, »prayer in the shadow of the rack«, vor dem Hintergrund eines liberalen Verständnisses von Religion ethisch wertlos, weil ein erzwungener Glaube ein Widerspruch in sich ist. 95 Das aber bedeutet nicht, dass die liberale religiöse Person den objektiven Anspruch ihrer Wertüberzeugungen aufgibt. Es ist mit dem abstrakten Modell ethischen Werts vereinbar, andere von Ebd., S. 268. Ebd., S. 259. 94 Ebd., S. 269. 95 Hier stellt sich Dworkin in eine alte Tradition liberaler Toleranzbegründung. Bekanntlich hat Locke die gewaltsame Bekehrung von Andersgläubigen als irrational verurteilt, weil (religiöse) Überzeugungen nicht erzwingbar seien. Zudem sei eine erzwungene religiöse Praxis nicht nur wertlos, sondern auch sündhaft, weil sie eine Beleidigung Gottes darstelle: John Locke, Ein Brief über Toleranz, Hamburg 1996. 92 93
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der eigenen Idee des Guten überzeugen zu wollen, aber es ist ethisch wertlos, dies mit den Mitteln des Rechts zu tun. 96 Im Zentrum einer liberalen Ethik stehen daher, so Dworkin, die Überzeugungen des Subjekts als Quelle ethischen Werts. Das Herausforderungsmodell betont die Vorrangigkeit ethischer Integrität in jedem normativen Urteil über die ethische Qualität des Lebens einer Person: »Someone has achieved ethical integrity, we may say, when he lives out of the conviction that his life, in its central features, is an appropriate one, that no other life he might live would be a plainly better response to the parameters of his ethical situation rightly judged.« 97 Ethische Integrität bedeutet aber nicht, dass wir Überzeugung mit Gewissheit verwechseln. »For living out of conviction requires, if not continuing self-conscious reflection, at least taking seriously any doubts or twinges that might emerge, as well as the admonitions of teachers and friends.« 98 Dworkin versucht derart das eingangs beschriebene Dilemma aufzulösen. Die Quelle ethischen Werts ist das Subjekt. Das heißt nicht, dass das ethisch Gute auf einen willkürlich dezisionistischen Akt des Subjekts zurückgeführt werden müsste. Aber was als ethisch gut gelten kann, muss sich vor der Souveränität jedes einzelnen Subjekts, seine ethischen Überzeugungen selbst zu bilden und zu reflektieren, bewahrheiten. Im Zweifelsfall hat das Subjekt ein Recht auf Irrtum. Die liberale Formel der Priorität des Rechten vor dem Guten ist also missverständlich. Sie besagt, dass konkrete Theorien des Guten nicht mit den Mitteln des Rechts durchgesetzt werden dürfen. Aber der Ursprung dieser Forderung des Liberalismus liegt in einer abstrakten Theorie des Guten. Es ist das Vermögen des Subjekts, den Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 269. Dworkin unterscheidet hier nicht zwischen politischer und ethischer Toleranz. Erstere meint die Forderung, dass die Rechtfertigung der Ausübung politischer Macht neutral gegenüber konkreten Theorien ethischen Werts sein muss. Ich kann die Auffassung der weltanschaulichen Neutralität des Staates vertreten, aber gleichwohl eine andere Person von meiner Theorie des Guten überzeugen wollen, nur weil die Person eine andere Idee des Guten vertritt. Darin kann sich Respektlosigkeit und fehlende Achtung gegenüber den ethischen Überzeugungen des Anderen ausdrücken, so als ob der Andere nicht in der Lage sei, zu beurteilen, was gut für ihn ist. Damit ist die ethische Intoleranz gemeint. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit konkreter ethischer Theorien des Guten ist also um einiges komplizierter, als Dworkins skizzenhafte Ausführungen andeuten. Er beschränkt sich auf die politische Ebene. 97 Ebd., S. 270. 98 Ebd., S. 271. 96
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Dingen in kritisch-normativer Reflexion Wert zu verleihen, das das Recht auf ethische Selbstbestimmung begründet. Etwas ist gut für eine Person nur dann, wenn sie es aus eigener Überzeugung als gut bejahen kann. Mit seiner Gerechtigkeitstheorie stellt sich Dworkin in die Tradition liberalen Denkens, die bestimmte Freiheitsrechte wie z. B. die Gewissensfreiheit, auf den ethischen Wert einer selbstbestimmten Lebensführung gründet. 99 Eine politische Moral müsse ihren Rückhalt in den tiefsten moralischen und ethischen Überzeugungen der Menschen finden, nur so könne sie auf Unterstützung hoffen. Gegen die Intuition Dworkins drängt sich aber der Einwand auf, dass eine ethisch begründete liberale Gerechtigkeitstheorie Partei nimmt. Sie muss gegenüber all denjenigen Menschen, die ihr Leben an traditionell oder religiös überlieferten Werten ausrichten, ohne sich dazu in ein kritisch-reflexives Verhältnis zu setzen, als willkürlich, als intolerant erscheinen. Das Ideal ethischer Selbstbestimung – so lautet der Einwand – ist selbst ein Wert neben anderen, der aber in einer pluralistischen Gesellschaft keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann und darf. 100 Rawls versucht bekanntlich diesem Einwand Rechnung zu tragen und zwar auf eine überaus komplexe und auch spannungsreiche Weise. Einerseits bejaht er – so wie Dworkin –, dass eine Gerechtigkeitstheorie nur dann als gerechtfertigt gelten kann, wenn sie in Übereinstimmung mit unserem normativen Selbstbild gebracht werden kann. Eine Gerechtigkeitstheorie begründen heißt, das Menschenbild explizit zu machen, das sie trägt. So ist gegen Rawls’ entscheidungstheoretische Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze früh der Einwand erhoben worden, dass dieses Rechtfertigungsmodell die Gerechtigkeitsprinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft egoistischen Nutzemmaximierern empfehle und so letztlich die besondere Dignität der individuellen Grundfreiheiten gegenüber den anderen Grundgütern unverständlich bleibe. 101 Als Antwort auf diese Kritik knüpft Rawls mit seiner BegrünVgl. zur Geschichte des Toleranzdenkens: Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003. 100 So auch die Kritik Rainer Forsts an liberalen Toleranzbegründungen. Forst unterscheidet scharf zwischen Normen und Werten. Letztere hätten immer nur eine subjektiven Gültigkeit: Forst, Toleranz, a. a. O. 101 Herbert L. A. Hart, »Freiheit und Recht und ihre Priorität bei Rawls«, in: Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. von Otfried Höffe, Frankfurt/M. 1977, S. 131– 161. 99
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dung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes an die liberale Tradition der Wertschätzung individueller Selbstbestimmung an. 102 Am Beispiel der Gewissensfreiheit, der »Grundfreiheit unserer religiösen, philosophischen und moralischen Weltanschauungen« 103 , möchte er zeigen, dass wir in der Situation des Urzustandes einen Gerechtigkeitsgrundsatz, der dieses Grundrecht enthält, wählen würden, wenn wir uns als Personen verstehen, die ihr Leben selbstbestimmt führen möchten. Wie Rawls schreibt, ist das Vermögen, eine »Konzeption des Guten ausbilden, revidieren und rational verfolgen zu können«, der Grund, warum »wir uns als Wesen verstehen, die ihre Lebensweise im Einklang mit dem uneingeschränkten, wohlüberlegten und vernünftigen Gebrauch unserer geistigen und moralischen Vermögen bejahen.« 104 Rawls begründet den besonderen Vorrang der liberalen Grundfreiheiten am Beispiel der Gewissensfreiheit dadurch, dass er diese Forderung liberaler Gerechtigkeit auf eine individualistische Ethik zurückführt: Wir begreifen uns als Individuen, die als letzte Autoritäten über die Vernünftigkeit ihrer Lebensweise bestimmen wollen. »Und diese rational bestätigte Beziehung zwischen unserer abwägenden Vernunft und unserer Lebensweise wird selbst zu einem Teil unserer bestimmten Konzeption des Guten.« 105 Die Fähigkeit der kritisch-reflexiven Bewertung der eigenen Vorstellung des Guten ist selbst »ein wesentlicher Bestandteil einer bestimmten Konzeption des Guten.« 106 Ein Leben kann nur gelingen, wenn es aus den eigenen Überzeugungen heraus geführt wird. Das Recht auf Gewissensfreiheit ist dafür eine notwendige Bedingung. Auch Rawls, genau wie Dworkin, führt grundlegende Forderungen liberaler politischer Gerechtigkeit auf das Ideal ethischer Selbstbestimmung zurück. Rawls vertritt aber – in den Worten Dworkins – eine Diskontinuitätstheorie der Gerechtigkeit, die durch eine besondere Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gekennzeichnet ist. Ethische Autonomie beschreibt für Rawls ausschließlich ein Staatsbürgerideal: Gegenüber den Institutionen der Gesellschaft beanspruchen die Bürger eine selbstbestimmte Konzeption des guten 102 Vgl. John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1988, hier insbes. das dritte Kapitel. 103 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 428. 104 Ebd., S. 431. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 432.
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Lebens verfolgen und gegebenenfalls mit rationalen Gründen revidieren zu können. In »ihren persönlichen Angelegenheiten oder innerhalb der Vereinigungen, denen sie angehören«, beansprucht der Wert ethischer Autonomie hingegen keine objektive Gültigkeit: Die Bürger »mögen jederzeit Formen der Zuneigung, Hingabe und Loyalität verwirklichen […], von denen sie glauben, dass sie sich niemals von ihnen distanzieren könnten und auch niemals von ihnen distanzieren sollten, um sie objektiv zu beurteilen.« 107 Als Staatsbürger müssen wir uns als ethisch autonom verstehen, als Ehepartnerin oder als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft aber nicht. Ethische Autonomie beschreibt derart kein umfassendes Ideal eines guten Lebens. Rawls möchte auf diese Weise vermeiden, seine Gerechtigkeitstheorie auf Wertprämissen zu gründen, denen nicht alle Bürger zustimmen können. Auch solche Bürger, die »in ihren persönlichen Angelegenheiten« eine nicht individualistische Ethik vertreten, müssen einer liberalen Theorie politischer Gerechtigkeit zustimmen können. Indem Rawls seine Konzeption der Person auf diese Weise als politisch definiert, erhofft er sich, dass seine Gerechtigkeitstheorie zum Gegenstand eines übergreifenden Konsenses unterschiedlicher Weltanschauungen werden könnte. Dazu könnte man sagen, dass diese Grenzziehung selbst wiederum das Ideal ethischer Autonomie voraussetzt: Die Bürger sollen selbst entscheiden – und zwar als Individuen –, ob sie sich in ihren Privatangelegenheiten als ethisch autonom verstehen wollen oder nicht. Aber der entscheidende Einwand ist ein anderer: Von Autonomie lässt sich in zweierlei Hinsicht sprechen. Autonom ist eine Person genau dann, wenn sie, wie wir oben gesehen haben, über das Vermögen der kritisch-reflexiven Stellungnahme zu den eigenen Wertungen verfügt. Autonomie beschreibt aber auch ein soziales Ideal. Die Person beansprucht dieses Vermögen auch gegenüber anderen. Ein Leben kann also nur als gut bezeichnet werden, wenn es kein von außen aufgezwungenes ist. Das schlechte Leben ist das bevormundete und unterdrückte, in dem andere Entscheidungen für uns treffen, die wir als besonders lebensrelevant empfinden: z. B. die Berufswahl oder die Wahl des Lebenspartners. Beide Bedeutungen von Autonomie lassen sich nicht auseinander dividieren. Und hier muss man Rawls fragen, wie weit die »Formen der Zuneigung« im Privaten gehen, von denen die Menschen glauben, dass sie sich nie107
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mals von ihnen distanzieren sollten. Es scheint, als ob es Rawls ist, der der Differenzierung der sozialen Rollen von Bürgern nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Nach Auffassung des ethischen Individualismus begegnet uns in den Personen, die uns besonders nahe stehen, den Ehepartnern, den Eltern, den Geschwistern und Freunden, immer auch der Staatsbürger und das bedeutet, dass die Person in allen sozialen Beziehungen das Recht der Kontrolle über das eigene Leben beansprucht. Wer das leugnet, wer also die Gültigkeit ethischer Autonomie einschränkt, muss einer kollektivistischen Auffassung von Ethik das Wort reden. Will Kymlicka unterscheidet zwei Modelle von Pluralismus und Toleranz: Das eine besteht darin, dass Individuen ihre unterschiedlichenVorstellungen eines guten und sinnerfüllten Lebens ungehindert verfolgen können. Dafür ist die Gewissensfreiheit eine unerlässliche Forderung. Das andere Modell betont die Koexistenz verschiedener Gruppen in einer Gesellschaft, die durch unterschiedliche Vorstellungen des Guten charakterisiert sind. Diesem Modell zufolge besteht Toleranz im Respekt gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen, Sitten und Gebräuchen dieser Gruppen. Toleranz hat eine kollektive, keine individuelle Differenz zu schützen. Daher gilt innerhalb der jeweiligen Gruppe das Toleranzgebot nicht. Wer also als Mitglied der Gruppe gegen deren Gebräuche und Traditionen verstößt, kann dafür zu Recht gemäß den Regeln der Gruppe bestraft werden. Die Gesellschaft als Ganze, der Staat, hat nicht das Recht, sich in die internen Angelegenheiten der Gruppe einzumischen. 108 Der ethische Individualismus und das ihn schützende Recht auf Gewissensfreiheit sind mit dem zweiten Toleranzmodell nicht vereinbar. Indem Rawls aber den Geltungsbereich des ethischen Individualismus und damit der individuellen Freiheitsrechte einschränkt, legt er seinem Politischen Liberalismus das kollektive Toleranzmodell zugrunde. Darin liegt ein tiefer Widerspruch, wie Kymlicka zurecht kritisiert. 109 Zudem bleibt die Grenzziehung zwischen dem Bereich des Politischen und dem Bereich des Nichtöffentlichen letztlich unklar: Wie weit ragen die individuellen Freiheitsrechte in soziale Gruppen hinein, die keine liberale Auffassung des Guten vertreten? Und es muss unerfindlich bleiben, aus welchen Gründen aus der Perspektive eines ethischen Kollektivismus ein Ideal 108 Will Kymlicka, »Two Models of Pluralism and Tolerance«, in: David Heyd (Hg.), Toleration, Princeton 1996, S. 85–105. 109 Ebd., S. 90 ff.
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politischer Gerechtigkeit Unterstützung finden sollte, das der ethischen Selbstbestimmung des Einzelnen mit den Mitteln des Rechts Geltung verschafft und also kollektivistischen Auffassungen des Guten Grenzen setzt. Wir müssen somit zwei Ebenen des Guten unterscheiden. Auf der konkreten Ebene bezeichnet das Gute inhaltliche Werte und Weltanschauungen (z. B. religiöse), die abstrakte Ebene hingegen weist die Selbstreflexion als Bedingung eines guten Lebens aus. Auf der abstrakten Ebene ist der Liberalismus nicht neutral. Er bekennt sich zu einer vernünftig reflexiven Lebensweise. In dieser Hinsicht geht dem Liberalismus also eine Idee des Guten voraus, ohne die der Wert bestimmter Grundrechte für das Individuum überhaupt nicht verständlich wäre.
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4 Über die Grundlagen einer liberalen Theorie sozialer Gerechtigkeit
Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit ist als Versuch zu werten, eine dezidiert liberale Idee sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, die er als Reaktion auf einen konservativen Wirtschaftsliberalismus begreift: Dieser rechtfertigt soziale Ungleichheiten im Namen einer absoluten und das soll heißen nichtkomparativ verstandenen Freiheit. Die libertäre Auffassung ökonomischer Gerechtigkeit begreift Freiheit und Gleichheit als konkurrierende Werte. Dworkin sieht den Liberalismus hingegen durch den engen wechselseitigen Verweisungszusammenhang von Freiheit und Gleichheit charakterisiert. Dieses Kapitel hat Dworkins komplizierte Analyse dieses normativen Zusammenhangs zum Gegenstand. Die systematische Frage lautet, gegen welche Ungleichheiten sich eine liberale Auffassung sozialer Gerechtigkeit richtet. Zunächst (4.1) soll Dworkins egalitärer Liberalismusbegriff skizziert werden. Im Zentrum einer liberalen Vorstellung sozialer Gerechtigkeit steht nach Dworkin die Idee eines freien Marktes. Diese grenzt er aber scharf von wirtschaftsliberalen Vorstellungen individueller Marktfreiheit ab, die Freiheit wesentlich nichtkomparativ verstehen und so Freiheit und Gleichheit als konkurrierende Werte begreifen (4.2). Freiheit sei dagegen nur im Zusammenhang mit Gleichheit ein normativer Wert. Dworkins Verständnis dieses Zusammenhangs wird vor dem Hintergrund seines Rechtsbegriffs (4.3) diskutiert und schließlich in einer Weise korrigiert und rekonstruiert (4.4), die zwei Perspektiven des normativen Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit unterscheidet. Dworkin ist der Überzeugung, dass eine liberale Theorie sozialer Gerechtigkeit durch ein egalitäres Marktmodell definiert ist, das die Verteilung von Gütern von den freiwilligen Entscheidungen der Menschen abhängig machen soll. Das Verfahren der Güterverteilung ist genau dann gerecht, wenn die subjektiven Wertüberzeugungen der Bürger gleichermaßen berücksichtigt werden. Den Liberalismus sieht Dworkin zu strikA
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Über die Grundlagen einer liberalen Theorie sozialer Gerechtigkeit
ter Wertneutralität verpflichtet. Das ist die Perspektive distributiver Gerechtigkeit, aus der für Dworkin die Forderung nach gleicher Konsumentenautonomie folgt. Das andere ist die Perspektive der Statusgleichheit der Bürger. Eine liberale Theorie sozialer Gerechtigkeit ist libertären Auffassungen entgegengesetzt, die im Namen absolut verstandener individueller Freiheit der sozialen Macht das Wort reden, eigene ökonomische Interessen gegenüber den Interessen anderer durchzusetzen. Um diese Idee der Statusgleichheit zu explizieren, ist allerdings ein komplexeres Verständnis von sozialer Gerechtigkeit erforderlich. Dworkin reduziert den Wert sozialer Güter und Dienstleistungen auf ihren Warencharakter. Was aber eine egalitäre Verteilung von sozialen Gütern ist, hängt vom besonderen Wert des jeweiligen Gutes ab. Nur so lassen sich Wertprioritäten setzen, die legitime Einschränkungen individueller ökonomischer Freiheiten begründen. Die Idee der Statusgleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit wird daher mit Michael Walzer rekonstruiert (4.5). Wenn im letzten Kapitel vom Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Eigenverantwortung die Rede war, so geht es in diesem Kapitel vor allem um die soziale Verantwortung: Niemand darf Ansprüche auf soziale Güter in einer Art und Weise geltend machen, die die Ansprüche anderer beeinträchtigt.
4.1 Liberalismus Was ist Liberalismus? Der Liberalismus ist nach Dworkin durch ein abstraktes Prinzip politischer Gerechtigkeit charakterisiert. 1 In den westlichen Demokratien scheint es so, als verfolge die Politik zwei voneinander unabhängige Ideale, die miteinander in Konflikt geraten können: die Ideen von Freiheit und Gleichheit. Entsprechend könnte man zwei politische Lager unterscheiden, die zwar beide Ideen anerkennen, im Konfliktfall aber jeweils einem der beiden politischen Werte unterschiedliches Gewicht einräumen. Der wirtschaftsliberale Konservatismus sei bereit, die Freiheit auf Kosten der Gleichheit zu verteidigen. Der Liberalismus hingegen favorisiere tendenziell den Wert der Gleichheit. Aber die Vorstellung, dass es einen Wertepluralismus von Freiheit und Gleichheit gebe, ist nach Dworkin falsch. Freiheit ist zum einen kein quantifizierbarer Wert, so dass man eine 1
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Liberalismus
politische Position dadurch charakterisieren könnte, dass sie der Freiheit größeren Wert beimesse als eine andere Position. Worin sollte etwa der quantitative Unterschied zwischen der Freiheit, die Schlossstraße in beide Richtungen zu befahren, und der Freiheit, seine Meinung zu politischen Entscheidungen zu sagen, liegen? Gleichwohl sind wir der Überzeugung, dass die Verletzung der letzteren Freiheit ein Unrecht darstellt, die Änderung der Schlossstraße in eine Einbahnstraße aber nicht. Die Einschränkung der Redefreiheit sei ein Unrecht, weil durch die Redefreiheit ein anderer Wert als die Freiheit geschützt werde. Freiheit besitze keinen intrinsischen normativen Wert. Damit entfalle die Grundlage der Vorstellung, dass der Konservatismus die Freiheit als Grundprinzip politischer Gerechtigkeit achte, der Liberalismus hingegen nur im Kompromiss mit dem Wert der Gleichheit. 2 Wie steht es nun mit dem normativen Wert der Gleichheit? Ist Gleichheit ein quantifizierbarer Wert, so dass wir sagen könnten, der Konservative messe dem Gleichheitsgedanken einen geringeren Wert bei als der Liberale? Aber auch diese Vorstellung ist nach Dworkin falsch. Der Gleichheitsgedanke sei das oberste Prinzip politischer Legitimität, das von keinem politischen Lager zumindest offen in Zweifel gezogen werden könne: Alle Bürger haben einen Anspruch darauf, von ihrer Regierung als Gleiche behandelt und respektiert zu werden. 3 Der Liberalismus unterscheide sich vom Konservatismus in der unterschiedlichen Deutung dieses abstrakten Gleichheitsgedankens, nicht darin, dass er ihm einen größeren Wert beimesse. Nach liberaler Lesart meint der Anspruch der Bürger auf gleiche Achtung und Respekt die politische Neutralität gegenüber Fragen des guten Lebens. Diese Neutralität definiert Dworkin zufolge das, was wir als Liberalismus bezeichnen. Er versteht darunter aber keinen ethischen Skeptizismus, sondern eine egalitäre Moral 4 : Bürger werden mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt, wenn politische Entscheidungen nicht Ausdruck einer Theorie des guten Lebens oder einer Vorstellung davon, was dem menschlichen Leben Wert verleiht, sind. Worin das gute Leben besteht, was dem Leben Wert verleiht, entscheiden die Bürger je für sich und sie unterscheiden sich in einer Ebd., S. 188 ff. Eine kritische Würdigung dieser These findet sich unten (4.3). Ebd., S. 191. 4 Ronald Dworkin, »Why Liberals Should Care about Equality?«, in: ders., A Matter of Principle, a. a. O., S. 204–213; hier S. 205. 2 3
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pluralistischen Gesellschaft in der jeweiligen Antwort auf diese Fragen. Eine politische Entscheidung, die auf einer Theorie des guten Lebens gründet, kann daher nicht gegenüber allen Bürgern gerechtfertigt werden. Der Konservative dagegen bestreitet, dass politische Entscheidungen weltanschaulich neutral sein müssen. Er betont vielmehr, dass Bürger nur vor dem Hintergrund einer perfektionistischen Theorie des guten Lebens als Gleiche behandelt werden können, »because treating a person as an equal means treating him the way the good or truly wise person would wish to be treated.« 5 Nach liberaler Auffassung aber darf der Staat die Einschränkung der Freiheit seiner Bürger nicht mit Argumenten rechtfertigen, die einige Menschen nur akzeptieren könnten, wenn sie ihr Selbstverständnis als von gleichem Wert aufgäben, »because no selfrespecting person who believes that a particular way to live is most valuable for him can accept that this way of life is base or degrading.« 6 Politik darf sich nicht in den Dienst einer privaten Moral stellen, um die Bürger im Sinne dieser privaten Moral zu verbessern. Dworkin unterscheidet von dem abstrakten Gerechtigkeitsprinzip, das alle Bürger mit dem Recht ausstattet, als Gleiche respektiert und geachtet zu werden (1), einen zweiten, aus (1) abgeleiteten Gleichheitsgedanken: Die Regierung hat alle Bürger bei der Verteilung »of some resource of opportunity« gleich zu behandeln (2). 7 Der Anwendungsbereich dieses Prinzips ist also bestimmter; es regelt z. B. die Verteilung von Chancen, sozial vorteilhafte Positionen zu erreichen, oder die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Unterscheidung beider Prinzipien bedeutet, dass Dworkin der Gleichverteilung dieser Güter keinen intrinsischen Wert beimisst: Güter sind gleich zu verteilen, wenn dadurch die Bürger als Gleiche behandelt werden; Güter sind aber ungleich zu verteilen, wenn die ungleiche Verteilung die einzig legitime Weise ist, Bürger als Gleiche zu achten. Dworkin veranschaulicht das Verhältnis und den Unterschied beider Prinzipien am Beispiel der Verteilung von Hilfsgütern an Flutopfer. Die egalitäre Verteilung bestehe hier offenbar darin, den stärker Betroffenen mehr Hilfsgüter zuzuteilen als den weniger Betroffenen. 8 5 6 7 8
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Dwokin, »Liberalism«, a. a. O., S. 191. Dworkin, »Why Liberals Should Care about Equality«, a. a. O., S. 206. Dworkin, »Liberalism«, a. a. O., S. 190. Ebd. Dworkin ist also kein Vertreter einer Gleichverteilungsdoktrin. Gleichwohl be-
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Liberalismus
Nach Dworkin unterscheidet sich der Konservatismus vom Liberalismus nicht darin, dass der Liberale bei der Verteilung materieller Güter oder Chancen dem Gleichbehandlungsgrundsatz (1) mehr Wert beimesse als der Konservative. Auch hier liegt der Unterschied in dem unterschiedlichen Verständnis begründet, was es heißt, Bürger als Gleiche zu achten. So mag z. B. der Konservative nicht leugnen wollen, dass eine Quotierung in »university admissions« zu einer größeren Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Schwarzen und Weißen führt. Er wird aber leugnen, dass durch die umgekehrte Diskriminierung Bürger als Gleiche geachtet werden. 9 Bürger gleich zu behandeln, heißt also nicht immer sie als Gleiche zu behandeln. Ob Bürger den gleichen Anteil einer bestimmten Ressource besitzen sollen, hängt davon ab, ob sie einen gleichen Anteil brauchen, um sie als Gleiche zu respektieren und zu achten. Wie sieht nun die liberale Verteilung der gesellschaftlichen Güter aus? Welchen Verteilungsgrundsatz folgert Dworkin aus der liberalen Deutung des Prinzips, Bürger als Gleiche zu achten und zu respektieren? Dworkin begründet die Verfahrensgerechtigkeit der Verteilung sozioökonomischer Güter in enger Analogie zur politischen Gerechtigkeit: Liberale Gleichheit meint weltanschauliche Neutralität des Staates. Aus dem Gedanken der ethischen Autonomie folgert Dworkin etwas, das wir als die Präferenzautonomie oder Konsumentenautonomie von Personen bezeichnen können: Personen sollen selbst entscheiden, welche Güter sie für die Realisierung ihrer Vorstellung eines guten Lebens brauchen. 10 Oder man könnte sagen, die Präferenzautonomie ist im Begriff der ethischen Autonomie enthalten, insofern die Vorstellung vom Guten bereits festlegt, welche Güter Wert besitzen und welche nicht. Unter einem Gut ist hier alles zu verstehen, was sich gegen Geld tauschen lässt. Welchen Stellenwert Personen dem Besitz von Gütern und also dem Besitz von Geld einräumen, muss ebenso der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben: als Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit. Es muss nennt sein Gleichbehandlungsgrundsatz in diesem Beispiel nicht das eigentliche normative Prinzip. Die Dringlichkeit des Bedürfnisses ist in diesem Fall der moralische Grund für die Ungleichverteilung. Die Dringlichkeit bemisst sich aber nicht daran, was andere Personen besitzen, sondern an der absoluten Notlage der betroffenen Person. Vgl. Parfit, a. a. O. 9 Dworkin, »Liberalism«, a. a. O., S. 190. 10 Ebd., S. 193 f. A
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daher eine dezentrale Verteilung und Bewertung dieser Güter geben, durch die die Präferenzautonomie der Bürger in fairer Weise berücksichtigt und respektiert wird. Der freie Markt unter den egalitären Bedingungen der gleichen Kaufkraft und des gleichen Talents der Marktteilnehmer ist also das gerechte Verteilungsverfahren, durch das die Bürger als Gleiche geachtet und respektiert werden. Der Markt ist dabei nach Dworkin in einem dreifachen Sinne unparteiisch, d. h. wertneutral: (1) Der Markt bedient die differierenden Präferenzen von Individuen. Er bietet alle Güter an, nach denen eine Nachfrage besteht. (2) Unter der Bedingung gleicher Kaufkraft (a) bestimmt der Markt nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage den Wert einer Sache, und damit die fairen Kosten, die eine Person zur Befriedigung ihrer Präferenzen investieren muss. (3) Der Markt bestimmt unter den Bedingungen (a) und des gleichen Talents (b) die fairen Kosten der Entscheidung von Bürgern, welcher Erwerbstätigkeit sie nachgehen wollen, und wie viel Freizeit sie wollen. Der Markt sei also ein gerechtes Verteilungsverfahren genau dann, wenn die Güterverteilung von den eigenen Entscheidungen der Bürger abhängt, aber von den ungleichen Lebensumständen, Bedingungen (a) und (b), unabhängig bleibt. Im Zentrum der Theorie der Ressourcengleichheit von Dworkin steht also der Wert der Entscheidungsfreiheit der Person. Jede Gleichverteilung von Ressourcen, die die Entscheidungsfreiheit von Personen nicht berücksichtigt, ist antiliberal und als solche ungerecht.
4.2 Freiheit und Gleichheit als konkurrierende Werte Freiheit und Gleichheit sind für Dworkin keine voneinander unabhängigen politischen Werte. Negative Freiheit, »freedom of legal constraint«, habe nur insofern einen normativen Wert, als sie ein analytischer Bestandteil eines grundlegenderen Ideals sei: der distributiven Gleichheit. 11 Dworkin kann man nach seinem eigenen Verständnis als einen radikal egalitären Liberalen bezeichnen. Nicht die negative Freiheit der Person, sondern distributive Gleichheit ist der konstitutive Wert seines Liberalismus, so scheint es. Es wird sich aber 11
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zeigen, dass dieser abstrakte Gleichheitsgedanke ohne Rekurs auf Freiheit leer bleibt. Seiner Theorie der Ressourcengleichheit liegt ein kantisches Verständnis gleicher Freiheit zugrunde, im Sinne der Statusgleichheit von Bürgern, nicht des vorrangigen Werts von Willkürfreiheit. 12 Die Vorrangigkeit des Werts distributiver Gleichheit vor der Freiheit stützt Dworkin mit der These, dass Freiheit nicht um ihrer selbst, sondern um ihrer Konsequenzen willen wertgeschätzt werde: »we think lives led under circumstances of liberty are better lives just for that reason«. 13 Wenn negative Freiheit in diesem Sinne nur einen instrumentellen Wert besitzt, wie kann es dann gerecht sein, die Freiheit eines Teils der Bürger zu schützen und gleichzeitig anderen Bürgern die Ressourcen und Möglichkeiten vorzuenthalten, die sie brauchen, um ein anständiges (»decent«) Leben zu führen? 14 Freiheit ist kein absoluter Wert, der eine solche Ungleichbehandlung der Bürger rechtfertigen könnte. Trotzdem, so Dworkin, ist die Meinung weit verbreitet, dass eine absolut verstandene Freiheit und der Gleichheitsgedanke konfligierende Werte seien. Dworkin listet drei Beispiele auf, die die Auffassung des Wertekonflikts zwischen Freiheit und Gleichheit veranschaulichen sollen. (1) Im Jahre 1974 verabschiedete der amerikanische Kongress ein Gesetz, das die Höhe der Geldspenden für einen politischen Kandidaten begrenzen sollte. Das Ziel dieses Gesetzes war egalitär. Vermögende Bürger sollten durch ihre Geldspenden keinen größeren Einfluss auf die Politik haben als ärmere Bürger. Der Oberste Gerichtshof aber hob diesen Gesetzeserlass des Kongresses als verfassungswidrig auf, weil er die durch das First Amendment geschützte Redefreiheit verletze. (2) Das zweite Beispiel wählt Dworkin aus der englischen Gesundheitspolitik. Soll es Bürgern erlaubt sein, private Krankenversicherungen abzuschließen, die es ihnen z. B. gegenüber nicht Privatversicherten ermöglichen, die Warteschlange auf Organtransplantationen nicht von hinten aufrollen zu müssen? Während Teile der Labour-Partei um der Gleichheit willen private Dworkin verzichtet darauf, einen normativen Gehalt von Freiheit bereits von Anfang an zu definieren. Er will den normativen Wert der negativen Freiheit durch ein Konzept distributiver Gleichheit begründen: Ebd., S. 127. 13 Ebd., S. 121. 14 Ebd. 12
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Krankenversicherungen abschaffen wollten, widerspricht dies den Ansichten eines großen Teils der Bevölkerung, die sich auf die Freiheit bei der Wahl der eigenen Krankenversorgung berufen. (3) Am Anfang des letzten Jahrhunderts begannen »U.S. state legislatures« Arbeitsverträge zu regulieren, indem die Wochenstundenzahl begrenzt und ein Mindestlohn vorgeschrieben wurde. So wurde z. B. in New York Bäckern verboten mehr als 60 Stunden in der Woche zu arbeiten. Sinn und Zweck der Gesetze war der Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer. Aber auch hier hob der Oberste Gerichtshof diese Gesetzesinitiative als verfassungswidrig auf. Sie verstoße gegen die Vertrags- und Berufsfreiheit. 15 Welcher Wert kommt der Entscheidungsfreiheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit zu? Es scheint so, als stünden in den von Dworkin aufgelisteten Beispielen zwei Werte miteinander im Konflikt: Der Supreme Court und die Verfechter privater Krankenversicherungen vertreten den Wert der Freiheit. Die Gegenseite dagegen, dem linken politischen Spektrum zuzuordnen, ist dem Gleichheitsideal verpflichtet. Welche Seite ist moralisch im Recht? Um diese Frage zu beantworten, müssen die beiden Begriffe präzisiert werden. Eine ausschließlich und abstrakt negativ definierte Konzeption von Freiheit, liberty as license, die nicht zwischen deskriptiven und normativ relevanten Freiheitseinschränkungen unterscheidet, stellt, so Dworkin, keinen besonderen politischen Wert dar, dem gegenüber anderen Werten ein Vorrang zukäme (s. u.). Jede normativ gehaltvolle Konzeption von Freiheit muss bestimmte normativ bedeutsame Freiheiten »as essential to liberty« auszeichnen, um sie zu einem Gegenstand eines Rechts zu machen, das besondere Berücksichtigung in politischen Entscheidungen verlangt. »These rights will include, at a minimum, rights to freedom of conscience, commitment, speech, and religion, and to freedom of choice in matters touching central or important aspects of an agent’s personal life, like employment, family arrangements, sexual privacy, and medical treatment.« 16 Es ist also kein abstraktes Prinzip der Freiheit als Erlaubtheit, das in den Beispielen gegen den Gleichheitsgedanken ins Feld geführt wird, sondern es sind besondere Freiheiten, die die Autonomie von Personen 15 16
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in wichtigen Lebensbereichen schützen sollen, wie z. B. im Bereich medizinische Fürsorge, der Politik oder auf dem Arbeitsmarkt. Das heißt aber nicht, dass es sich um antiegalitäre Rechte handelte, die im Konfliktfall die Idee der Gleichheit übertrumpften. Nach Dworkin liegt den bestimmten Freiheitsrechten ein abstraktes egalitäres Grundprinzip politischer Gerechtigkeit geltungslogisch voraus. Keine politische Entscheidung, die dieses abstract egalitarian principle nicht anerkennt, kann gegenüber den Bürgern als gerechtfertigt gelten: »government must act to make the lives of those it governs better lives, and it must show equal concern for the life of each.« 17 Das ist Dworkins Axiom politischer Gerechtigkeit. Dieser Gleichheitsgedanke sei ein allgemein akzeptierter Grundwert westlicher Demokratien; keine Regierung könne dieses Ideal zumindest in der Öffentlichkeit leugnen. Wer also die Konfliktthese des Wertepluralismus zwischen Freiheit und Gleichheit vertritt, muss behaupten, dass der Schutz der Freiheit bzw. bestimmter Freiheiten verlangt, Bürger nicht mit gleicher Rücksicht zu behandeln. »I doubt that many of us would think, after reflection, that this could ever be justified.« 18 Der Vertreter der Konflikt-These kann nun die Gültigkeit des abstrakten Gleichbehandlungsprinzips anerkennen, wenn es darum gehe das Leben der Bürger zu verbessern. Freiheit habe aber keinen instrumentellen Wert als Beitrag zum guten Leben des Freiheitsträgers. Freiheit habe vielmehr einen intrinsischen Wert. Daher könne auch das Recht auf Freiheit dem abstract egalitarian principle geltungslogisch nicht nachgeordnet sein. Dworkin hält diese Wertschätzung von Freiheit für absurd: »But liberty cannot […] have intrinsic value apart from the role liberty plays in the lives of those who have it. For it seems bizarre that people’s having some particular right, like the right of free speech, could be objectively valuable, in and of itself, quite apart from the consequences for them.« 19 Wenn Freiheit nur einen instrumentellen Wert besitzt, der eigentliche Wert in der »Verbesserung« des Lebens der Bürger besteht, dann könnten wir zu den bekannten antiliberalen Schlussfolgerungen gelangen, die Rawls durch den Vorrang der Grundfreiheiten und der Chancengleichheit vor der Verteilungsregel der Wohlstandsgüter ausschließen will. Wenn wir Freiheit z. B. als Mittel zur Siche17 18 19
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rung unserer Präferenzerfüllung wertschätzen, dann haben wir gute Gründe, eine Freiheitseinbuße in Kauf zu nehmen, wenn dies die Bedingung für eine größere Nutzenmaximierung sein sollte. Dworkin muss also die Frage beantworten, um willen von was wir Freiheit wertschätzen, ohne einen Grund zu finden, den Liberalismus Preis zu geben. »But no one could be enthusiastic for liberty, as something intrinsically valuable, who did not think that lives led under conditions of liberty were for just that reason more valuable lives, because more autonomous or more authentic, or lives of greater dignity, or better lives in some other way.« 20 Es ist nun klar, aus welchem Grund Dworkin die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und die unbedingte Forderung nach der Freiheit privater Krankenversicherung für ungerecht hält. Gemäß des abstract egalitarian principle besteht die Aufgabe der Regierung darin, das Leben der Bürger zu »verbessern« 21 ; es ist daher illegitim, die Freiheit einiger Bürger auf Kosten der Verschlechterung der Lebensbedingungen anderer Bürger zu schützen. Unter zwei Bedingungen könne die Einschränkung der Freiheit von Bürgern gerechtfertigt werden: (1) Trotz der Tatsache, dass Freiheit um eines besseren Lebens willen wertzuschätzen ist, könnte die Position einiger Bürger durch die Einschränkung der Freiheit anderer Bürger verbessert werden und (2) »equal concern for that group requires that this be done«. 22 Die drei oben genannten Beispiele verdeutlichen nach Dworkin die Auffassung, dass Freiheitsrechte den Gleichbehandlungsgrundsatz im Konfliktfall übertrumpfen: das Recht auf freie Rede, das Recht, Verträge zu schließen und das Recht, die Art der medizinischen Versorgung selbst zu wählen. Im Zentrum dieser Deutung des Liberalismus steht also ein absolutes Recht auf Freiheit, »liberty must never yield to equality when the two conflict«. 23 Dworkin dagegen sieht den Liberalismus durch seinen Gleichheitsgrundsatz definiert, der in seinen verschiedenen Formulierungen den Begriff der Freiheit nicht enthält. Der zentrale Begriff des Dworkin’schen GleichheitsgrundEbd., S. 129 f. Dworkins Wortwahl ist wichtig: Das Gelingen des Lebens liegt im Letzten in der Verantwortung des Einzelnen, nicht in der Verantwortung des Staates. 22 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 130. 23 Ebd., S. 128. 20 21
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satzes ist vielmehr eine liberal zu verstehende Idee des guten Lebens, die in Dworkins Argumentation den Grund eines Rechts auf Freiheit enthält: Freiheit ist ein zu schützender Wert, weil sie die Bedingung eines besseren oder gelingenden Lebens ist. 24 Der erste Teil des abstrakten egalitaristischen Prinzips wird denn auch bezeichnenderweise ohne den Rekurs auf den Gleichheitsgedanken formuliert: »government must act to make the lives of those it governs better lives«. Der Gleichbehandlungsgrundsatz betont die streng universelle Geltung dieses Prinzips: »and it must show equal concern for the life of each.« Aber diese Gleichbehandlungsbedingung scheint dem Gerechtigkeitsprinzip nichts Wesentliches hinzuzufügen. Die universelle Geltung des Prinzips ist bereits im ersten Teil des Grundsatzes enthalten. Gleichbehandlung meint hier, dass das abstrakte Recht auf ein gutes Leben aller Bürger nicht graduierbar ist. In den drei Beispielen konkurrieren die speziellen Freiheitsrechte mit dem Anspruch aller Bürger auf ein gutes Leben, oder wie Dworkin das an anderer Stelle formuliert, dem Anspruch auf ein anständiges (»decent«) Leben, und nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz. 25 Weil negative Freiheit keinen intrinsischen Wert hat, sondern nur als Bedingung eines besseren Lebens Gegenstand eines Rechtes sein kann, darf z. B. die Freiheit, Verträge zu schließen, nicht auf Kosten des Werts der Gesundheit durchgesetzt werden. Gesundheit zählt zu den äußeren Glücksgütern, ohne die kein Leben gelingen kann. Außerdem ist die Vertragsfreiheit, die der Supreme Court gegen den Schutz der Arbeitnehmer ins Feld führte, nur als gleiche Freiheit moralisch bedeutsam, also nur unter der Voraussetzung der egalitären Verhandlungspositionen der Vertragspartner. Das Gleiche gilt für die Freiheit der privaten Krankenversicherung, also die Freiheit, den Wert der Gesundheitsfürsorge selbst zu bestimmen, z. B. durch höhere Beiträge, die Leistungen verbessern zu können. Wenn die Freiheit der privaten Krankenversicherung die Versorgungsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einschränkt und somit eine adäquate Gesundheitsvorsorge für alle nicht mehr gewährleistet ist, wird diese Freiheit vom Abstrakten Egalitaristischen Prinzip übertrumpft. Vgl. Kap. 3. dieser Arbeit. Anders sieht es natürlich mit dem Beispiel der ungleichen politischen Einflussnahme aus. Aber dieses Beispiel ist insofern untypisch, weil hier der Zusammenhang mit dem abstrakten egalitaristischen Prinzip unklar bleibt.
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Dworkins Argument für den geltungslogischen Vorrang eines abstrakten Gleichheitsprinzips vor dem Wert der Freiheit ist also missverständlich. Im Zentrum dieses Prinzips steht eine Auffassung vom Wert menschlichen Lebens. Der Gleichheitsgedanke betont lediglich die nichtgraduierbare Universalität dieses Prinzips. Wir können zwar sagen, dass die Ungerechtigkeit der drei Beispiele in der ungleichen Berücksichtigung legitimer Ansprüche der Bürger besteht. Aber die Freiheit einiger Bürger wird auf Kosten von Ansprüchen anderer Bürger auf Bedarfsgüter geschützt, die in diesem Fall die speziellen Freiheitsrechte übertrumpfen. Dworkin benennt mit dem abstrakten Gleichbehandlungsgrundsatz nicht die eigentlichen Gründe, die die Einschränkung der Freiheitsrechte in diesem Fall rechtfertigen. Es wäre genauso ungerecht, wenn niemand die Güter erhält, die er für ein menschenwürdiges Leben braucht. Das menschenwürdige Leben und nicht eine abstrakte Gleichheit ist hier der mit Freiheit konkurrierende Wert. Dworkin wollte aber zeigen, dass die These des Wertepluralismus zwischen Freiheit und Gleichheit falsch ist. Freiheit ist kein unabhängig von Gleichheit zu verstehender normativer Wert. Gilt das aber nicht auch für die Gleichheit? Dworkin betont zwar, dass man den Geltungsvorrang des Gleichbehandlungsprinzips vor der Freiheit nicht so verstehen dürfe, dass der Gleichheitsgrundsatz im Konfliktfall beliebige Freiheitseinschränkungen rechtfertige. Aber wie hängt der Wert der Freiheit mit dem Wert der Gleichheit zusammen? Welche Rolle spielt der Gleichheitsgedanke in Dworkins Theorie der sozialen Gerechtigkeit, wenn doch die normative Grundlage seiner Konzeption einer egalitären Marktgerechtigkeit die Autonomie der Person ist?
4.3 Recht und Freiheit 4.3.1 Dworkins Rechtsbegriff Dworkins Analyse des Zusammenhangs von Freiheit und distributiver Gleichheit muss vor dem Hintergrund seines liberalen Rechtsbegriffs verstanden werden. Sein Verständnis subjektiver Rechte steht in der Locke’schen Tradition liberaler Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Ein Kantisches Verständnis von Recht als Statusgleichheit zwischen den Bürgern fehlt in Dworkins Analyse normativen Rechts. 134
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Daher konstruiert Dworkin einen Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten und distributiver Gleichheit, nicht zwischen Freiheitsrechten und Gleichheit als Reziprozität. Dworkins Analyse des Begriffs subjektiver Rechte ist wesentlich interpretativ. Was bedeutet es, Träger eines subjektiven Rechts zu sein? Subjektive Rechte schränken die Möglichkeit der Rechtfertigung politischer Entscheidungen, die Freiheitseinschränkungen der Bürger zur Folge haben, gravierend ein. Wenn die Stadtverwaltung beschließt, die Schlossstraße in eine Einbahnstraße zu verwandeln, reicht der Verweis auf die allgemeine Nützlichkeit dieser Maßnahme als Rechtfertigung dieser Freiheitseinschränkung aus. Wenn wir aber der Überzeugung wären, dass der Verweis auf einen allgemeinen Nutzen ausreichte, um z. B. Einschränkungen des Rechts auf Redefreiheit zu rechtfertigen, dann hätten wir die Idee preisgegeben, dass Individuen Träger eines Rechts auf Redefreiheit sind, das einen besonderen Schutz gegenüber dem Staat garantiert. 26 Subjektive Rechte sind für Dworkin moralische Rechte. Ihre moralische Gültigkeit ist unabhängig von faktischen Gesetzgebungsverfahren, wie demokratisch auch immer diese zustande gekommen sein mögen. 27 Subjektive Rechte setzen so der Legitimität politischer Entscheidungen Grenzen. Die »Verabschiedung eines Gesetzes« kann »Rechte, wie Menschen sie haben, nicht beeinflussen«. 28 Das heißt nicht, dass die durch moralische Rechte geschützten Grundfreiheiten absolute Freiheiten wären, dass es also keine legitimen Gründe für deren Einschränkung gäbe. Legitime Einschränkungen subjektiver Rechte können aber nur von konkurrierenden Rechten begründet werden. So erlaubt das Recht auf Redefreiheit nicht andere Personen zu verleumden. Der Grund für die Einschränkung dieses Rechts ist ein grundlegenderes subjektives Recht, kein Verweis auf einen allgemeinen Nutzen als Folge der Freiheitseinschränkung. 29 Wenn aber moralische Rechte die Legitimität politischer Entscheidungen einschränken, müssen wir dann nicht sagen, dass subjektive Rechte undemokratisch sind? Ist das Recht einer demokratischen Mehrheit, Entscheidungen zu treffen und ihren Willen 26 27 28 29
Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M., 1990, S. 313 f. Zum Verhältnis von Menschenrechten und Demokratie vgl. Kap. 5 dieser Arbeit. Ebd., S. 316. Ebd., S. 318. A
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durchzusetzen, nicht auch ein Recht, das als konkurrierendes Recht mit den Rechten von Individuen abgewogen werden muss? Aber die Freiheit der demokratischen Mehrheit, »alles zu tun, was im allgemeinen Nutzen ist, oder […] jede Art von Umwelt zu erhalten, in der die Mehrheit leben will«, als Recht schränkt die Freiheitsrechte von Individuen ein, die also gegenüber der demokratischen Mehrheit kein eigenes Recht geltend machen können. Folglich ist das Recht der demokratischen Mehrheit, ungehindert Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kein mit subjektiven Rechten konkurrierendes Recht, weil die Rede von subjektiven Rechten in diesem Falle sinnlos wird. »Wenn wir sie bewahren wollen, dürfen wir als konkurrierende Rechte nur die Rechte von anderen Mitgliedern der Gesellschaft als Individuen anerkennen.« 30 Adressat dieses Rechtsbegriffs ist der Staat: »Jemand hat dann ein konkurrierendes Recht auf Schutz, das gegen ein individuelles Recht auf eine Handlung abgewogen werden muss, wenn er berechtigt wäre, diesen Schutz aufgrund seines eigenen Anspruchs als Individuum und unabhängig davon, ob die Mehrheit seiner Mitbürger sich seiner Forderung anschließt, von seiner Regierung zu fordern.« 31 Soweit ist Dworkins Analyse moralischer Rechte sowohl formal als auch hypothetisch. Sie sagt nichts darüber aus, welche Rechte Individuen haben, noch darüber, aus welchem Grund bestimmte Rechte eine Einbuße an allgemeinen Nutzen fordern können. Welchen »Zweck« aber erfüllt »die schwierige und komplexe Praxis« der Berücksichtigung subjektiver Rechte? 32 Laut Dworkin gibt es zwei zu unterscheidende Ideen ihrer Begründung: »Die erste ist die vage, aber einflussreiche Vorstellung der Würde des Menschen.« Sie nimmt an, dass »manche Weisen der Behandlung eines Menschen unvereinbar damit sind, dass man ihn als vollwertiges Mitglied der menschlichen Gemeinschaft anerkennt«. 33 Die zweite Grundlegung subjektiver Rechte, diejenige, die Dworkin favorisiert, rekurriert auf die »Vorstellung der politischen Gleichheit«: »Sie nimmt an, dass die schwächeren Mitglieder einer politischen Gemeinschaft Anspruch auf dieselbe Rücksicht und Achtung durch den Staat haben, wie sie sich auch die stärkeren Mitglieder gesichert haben, und dass daher, 30 31 32 33
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wenn einige Menschen Entscheidungsfreiheit unabhängig von den Folgen für das Allgemeinwohl haben, alle Menschen dieselbe Freiheit haben müssen.« 34 Man beachte das Konditional! Wenn einige Menschen ein Recht auf Entscheidungsfreiheit haben, müssen auch die anderen Menschen das gleiche Recht besitzen. Fällt aber diese Bedingung weg, ist niemand Träger eines Rechts auf Freiheit. Wenn uns Freiheit oder bestimmte Freiheiten nichts wert sind, gibt es keinen Grund, das zu beklagen. Gleichheit kann also kein singulärer Wert sein, dessen Verletzung eine solche schwerwiegende Ungerechtigkeit darstellt, dass sein Schutz »es wert ist, dass der anwachsende Preis an Sozialpolitik oder Effizienz bezahlt wird«. 35 Müssen wir dann nicht sagen, dass es die gleiche individuelle Freiheit ist, deren Berücksichtigung Rechte einfordert? Auf Freiheit, so Dworkin aber, haben wir kein Recht! 4.3.2 Freiheit vs. Autonomie Dworkin definiert den Liberalismus nicht über den Begriff der Freiheit, sondern über den Gleichheitsgedanken. Nicht auf Freiheit, sondern auf Gleichheit haben wir ein Recht. Aber was ist Freiheit? Die liberale Tradition definiert Freiheit negativ: Freiheit ist die »Abwesenheit von Beschränkungen, die die Regierung dem auferlegt, was jemand tun kann, wenn er will.« 36 Jemand ist frei, zu tun oder zu lassen, was er will, wenn er nicht in seinem Handeln von anderen gehindert wird. Liberal ist diese Konzeption negativer Freiheit, weil sie gegenüber den Tätigkeiten und Entscheidungen, die einer Person frei stehen, neutral ist. Es verringert die Freiheit eines Menschen, »wenn er daran gehindert wird zu reden oder zu lieben, wie er will, es verringert seine Freiheit aber auch, wenn wir ihn daran hindern, andere zu ermorden.« 37 Die letztere Freiheitseinschränkung ist gerechtfertigt, weil es neben der Freiheit als Erlaubtheit noch andere konkurrierende Werte gibt, die es zu schützen gilt, z. B. die Sicherheit von Personen oder die Freiheit anderer. Es würde das Verständnis negativer Freiheit aber nur »verdunkeln«, bezeichneten wir die Einschränkung der Freiheit von Personen durch das Strafrecht als etwas 34 35 36 37
Ebd., S. 326 (Hervorhebung von mir). Ebd., S. 326 f. Ebd., S. 431. Ebd. A
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anderes als eine Beschränkung der Freiheit. 38 Das ist ein notwendiger Kompromiss, den wir machen müssen, um andere Werte zu schützen. Der Witz der neutralen Konzeption negativer Freiheit besteht gerade darin, nicht zwischen moralisch relevanten und moralisch nichtrelevanten Freiheitsbeschränkungen zu unterscheiden. Das wäre dieser Auffassung zufolge ein Missbrauch des Freiheitsbegriffs: Nur noch solche Beschränkungen zählten als Verlust der Freiheit, die eine Person daran hindern, etwas zu tun, was sie nach einer moralischen Vorstellung tun sollte. Ein Freiheitsbegriff, der Freiheitseinschränkungen nicht mehr als solche kennzeichnen kann, hat eine totalitäre Tendenz: Wir rechtfertigen die Freiheitsbeschränkung von Menschen, aber ihre eigentliche, die moralisch relevante Freiheit bleibt davon unberührt. 39 Aber ein solcher neutraler, deskriptiver Begriff von Freiheit kann kein Gegenstand eines Rechts sein. Wir könnten mit dieser Freiheitsauffassung, so Dworkin, sowohl ein Recht auf Redefreiheit als auch ein Recht auf das Einschlagen von Ladenfenstern rechtfertigen. 40 Der neutrale Begriff negativer Freiheit kann auch kein Gegenstand von Dworkins antiutilitaristischem Rechtsbegriff sein, den er wie folgt definiert: »Wenn jemand ein Recht auf etwas hat, dann würde die Regierung unrecht tun, es ihm abzusprechen, auch wenn das im allgemeinen Interesse wäre.« 41 Es macht Sinn zu sagen, dass jede politische Entscheidung, die die Freiheit der Bürger einschränkt, gegenüber diesen gerechtfertigt werden muss. Aber, so Dworkin, für die meisten politischen Freiheitseinschränkungen werden utilitaristische Gründe ausreichen: Wenn die Folgen der Entscheidung, die Schlossstraße zur Einbahnstraße zu machen, den allgemeinen Nutzen fördert und so im allgemeinen Interesse liegt, dann reicht dieses Argument aus, um die Freiheit im Straßenverkehr zu beschränken. Wenn wir also der Überzeugung sind, dass es ein Recht auf Grundfreiheiten wie z. B. die Redefreiheit im antiutilitaristischen Sinne gibt, müssen wir den moralisch relevanten Unterschied zwischen der Freiheitseinschränkung, (a) die Schlossstraße in beide Richtun-
Isaiah Berlin, »Two Concepts of Liberty«, in: ders., Four Essays On Liberty, Oxford 1969, S. 118–172. 39 Dworkin, Bürgerrechte, a. a. O., S. 432. 40 Ebd., S. 324. 41 Ebd., S. 433. 38
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gen zu befahren, und (b) seine Meinungen frei zu äußern, benennen. Worin liegt das Unrecht der Einschränkung von Grundfreiheiten? Vielleicht ist der Unterschied zwischen (a) und (b) quantitativer Natur. Wir könnten z. B. den quantitativen Unterschied dadurch bemessen, »dass wir den Grad von Frustration berechnen«, den die Verringerung der Freiheit faktisch bei den Bürgern erzeugt. Aber dadurch würden wir womöglich nur zu der betrüblichen Einsicht gelangen, dass vielen Bürgern ihre Freiheit im Straßenverkehr mehr am Herzen liegt als ihre Grundfreiheiten. 42 Wir müssen also nach einer qualitativen Unterscheidung suchen, die begründet, wieso es ein Recht auf (b), aber kein Recht auf (a) gibt. Wenn wir das aber tun, so Dworkin, dann haben wir die Vorstellung bereits aufgegeben, dass es »ein allgemeines Recht auf Freiheit als solche« gibt. 43 Daraus folgert Dworkin, dass das Unrecht eines Angriffs auf Grundfreiheiten nicht darin besteht, dass Freiheit verletzt wird: Es ist »überhaupt nicht Freiheit, worauf wir ein Recht haben, sondern die Werte oder Interessen oder Stellung«, welche durch die Einschränkungen von Grundfreiheiten verletzt werden. 44 Dworkin sucht also keinen normativ gehaltvollen Begriff der Freiheit als Gegenstand subjektiven Rechts, sondern einen anderen Wert als Grund für Rechte auf Grundfreiheiten. Diesen erblickt Dworkin im Begriff der Gleichheit, genauer: in einer liberalen Konzeption der Gleichheit: »Ich nehme an, dass wir alle die folgenden Postulate der politischen Moral akzeptieren. Die Regierung muss diejenigen, die sie regiert, mit Rücksicht behandeln, das heißt als menschliche Wesen, die des Leidens und der Enttäuschung fähig sind, und mit Achtung, das heißt als menschliche Wesen, die in der Lage sind, sich nach intelligenten Konzeptionen davon, wie sie ihr Leben leben sollten, selbst zu formen und entsprechend zu handeln. Die Regierung muss Leute nicht nur mit Rücksicht und Achtung behandeln, sondern mit gleicher Rücksicht und Achtung. Sie darf nicht Güter oder Möglichkeiten deswegen ungleich verteilen, weil einige Bürger Anspruch auf mehr haben, weil sie mehr der Berücksichtigung wert sind. Sie darf nicht die Freiheit aufgrund dessen beschränken, dass die Konzeption vom guten Leben, die ein Bürger einer bestimmten Gruppe hat, vortrefflicher oder hochwertiger ist als eine andere. Diese Postulate zusammengenommen geben das an, was man als die liberale Konzeption der Gleichheit bezeichnen könnte; aber es 42 43 44
Ebd., S. 435 f. Ebd., S. 436. Ebd. A
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handelt sich um eine Konzeption der Gleichheit, nicht der Freiheit als Erlaubtheit.« 45
Aus diesem Grundprinzip ist das »Recht, als ein Gleicher behandelt zu werden«, abgeleitet. Es ist das Recht, in politischen Entscheidungen darüber, wie Güter und Chancen zu verteilen sind, »auf gleiche Weise berücksichtigt und geachtet zu werden«. 46 Ich habe also nur dann ein Recht auf bestimmte individuelle Freiheiten, »wenn sich zeigen lässt, dass das Grundrecht auf eine Behandlung als Gleicher diese Rechte erfordert«. 47 Nun hat zwar Dworkin deutlich gemacht, dass es kein Recht im starken, antiutilitaristischen Sinn auf negative Willkürfreiheit geben kann. Was aber soll die abstrakte Rede, dass ich nur ein Recht auf solche bestimmten Freiheiten (z. B. die Grundfreiheiten) habe, die mein Recht auf Gleichheit schützen. Was ist ein Recht auf Gleichheit? Und was macht Dworkins abstraktes Gleichheitsprinzip zu einem liberalen? Wieso lässt sich z. B. kein Recht auf eine gleiche Portion Vanilleeis pro Tag durch das grundlegendere Recht, als ein Gleicher behandelt zu werden, begründen? Die zentralen Begriffe dieses liberalen Grundprinzips sind Rücksicht und Achtung, nicht der Begriff der Gleichheit. Dworkin definiert diese Begriffe zunächst ohne Bezugnahme auf den Begriff der Gleichheit. Das Recht auf Rücksichtnahme könnte man nach seiner Definition als ein Recht auf Leib und Leben bezeichnen, das Recht auf Achtung als ein Recht auf ethische Autonomie. Letzteres können wir auch allgemeiner als ein Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung fassen und in das Recht auf ethische Autonomie und das Recht auf politische Autonomie unterteilen, also in liberale Abwehrrechte gegenüber dem Staat und demokratische Partizipationsrechte. Wir müssen also fragen, welche besonderen Freiheitsrechte dieses Recht auf Autonomie erfordert. 48 Der Begriff der Gleichheit ist in diesem Zusammenhang kein Schlüsselbegriff; schließlich lässt sich die Freiheit aller Bürger gleichermaßen einschränken, aber in einer moralisch relevanten, die Autonomie der Individuen verletzenden Weise. Es ist wichtig an dieser Stelle die Begriffe von Freiheit und Ebd., S. 439. Ebd., S. 440. 47 Ebd., S. 441. 48 Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 404 ff.; vgl. Abschnitt 3.5 dieser Arbeit. 45 46
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Recht und Freiheit
Gleichheit formal zu analysieren. Sowohl Freiheit als auch Gleichheit bezeichnen eine dreistellige Relation: Freiheit: Eine (1) Person ist (2) frei von Hindernissen (3) etwas zu tun oder zu lassen. 49 Gleichheit: Eine (1) Person ist mit (2) einer anderen Person in (3) einer bestimmten Hinsicht gleich. 50 Nun haben Autoren, die den Gleichheitsbegriff analysiert haben, zu Recht festgestellt, dass sich von Gleichheit als einem normativen Wert sinnvoll nur reden lässt, wenn die Gleichheitshinsicht einen normativen Wert besitzt: Personen sollen in einer bestimmten Hinsicht gleich sein. In diesem Fall: das Recht auf Leib und Leben als ein gleiches Recht auf Leib und Leben, das Recht auf Autonomie als ein gleiches Recht auf Autonomie. Das bedeutet, dass Gleichheit als ein elliptischer Begriff keinen singulären normativen Wert besitzt. Die Menge absurder Schlussfolgerungen wäre ansonsten im Prinzip unendlich. Daraus folgt aber nicht, dass Gleichheit überhaupt keinen Wert besäße. Es macht einen bedeutsamen Unterschied, ob man sagt, dass alle Menschen Würde besitzen oder dass alle Menschen gleiche Würde besitzen. Im ersten Fall ist nicht ausgeschlossen, dass der Begriff der Würde graduierbar ist. 51 Dworkins kritischer Analyse des Freiheitsbegriffs korrespondiert keine kritische Analyse des Begriffs der Gleichheit. Eine ausschließlich negative Konzeption von Freiheit bleibt normativ unterbestimmt. Die moralische Relevanz der Freiheitseinschränkung einer Person hängt vom Wert des optionalen Bereichs (3) ab, den die Person nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen kann, also vom Wert der Fähigkeit zu etwas. Das soll nicht heißen, dass es moralisch unerheblich ist, ob eine Person z. B. daran gehindert wird, ein Vanilleeis zu essen. Tun zu können, was man tun will, ist ein Ausdruck von Freiheit. Aus diesem Wert der Willkürfreiheit lässt sich ein Verbot unbegründeter Freiheitseinschränkungen folgern. Ob Vgl. Gerald C. MacCallum Jr., »Negative and Positive Freedom«, in: David Miller (Hg.), Liberty, Oxford, 1991, S. 100–122. 50 Vgl. Peter Westen, Speaking of Equality. An Analysis of the Rhetorical Force of »Equality« in Moral and Legal Discourse, Princeton 1990. 51 Man könnte hier einwenden, die gleiche Menschenwürde folge aus dem Menschsein als alleinigem Grund der Würde und also aus der Universalität dieses Grundes. Würde aber ist etwas relationales und bestimmt das Verhältnis zwischen Personen, die einander als Gleiche begegnen sollen. Vgl. dazu das Schlusskapitel dieser Arbeit, innsbes. Abschnitt 10.4. 49
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sich aber eine Freiheitseinschränkung begründen lässt und aus welchen Gründen, hängt vom Wert der Handlungen, der Ziele und Entscheidungen ab, die einer Person verwehrt werden. Durch eine rein negativ definierte Freiheit lässt sich daher, wie Dworkin anmerkt, sowohl das Grundrecht auf freie Rede als auch das Recht zum Einschlagen von Ladenfenstern rechtfertigen (s. o.). Positive Freiheitsdoktrinen dagegen betonen den Wert bestimmter Handlungen und Ziele. Eine Person kann nur dann als frei bezeichnet werden, wenn sie fähig ist, diese Ziele zu erreichen. Radikale Versionen positiver Freiheit setzen das Erreichen dieser Ziele mit Freiheit gleich. Personen sind nicht frei, wenn sie keinen rechtlichen Beschränkungen unterliegen, aber die ethischen Ziele nicht erreichen. Personen können daher, so die antiliberale Schlussfolgerung, gezwungen werden frei zu sein. Die liberalen Bürgerrechte gründen hingegen nicht auf einer positiven Freiheitsdoktrin, sondern auf der moralischen Dignität optionaler Bereiche, die eine autonome Person wahrnehmen können muss. So können wir z. B. für ein Grundrecht auf freie Berufswahl argumentieren, weil es sich hier um eine für das Leben fundamentale Entscheidung handelt. 52 Das Recht auf Gewissensfreiheit ist das Recht, sich in ethischen und moralischen Belangen nicht gegen eigene tiefe Überzeugungen entscheiden zu müssen. Diese grobe Argumentationsskizze folgt aus einer Analyse des Freiheitsbegriffs, nicht des Gleichheitsbegriffs. Dworkins Argument, dass Rechte auf Grundfreiheiten aus einem geltungslogisch vorrangigen Recht auf Gleichheit folgen, ist falsch. Der Wert personaler Autonomie und kein abstrakter Gleichbehandlungsgrundsatz, begründet liberale Freiheitsrechte. 53 Dworkins Unterscheidung zwischen der Idee der Gleichheit und der Idee der Menschenwürde als normativer Grund für Bürgerrechte ist damit hinfällig. Dworkins Prinzip politischer Gleichheit ist Ausdruck der Idee liberaler Menschenwürde. Ein konzeptioneller Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit bleibt in Dworkins Argumentation aufgrund seines vertikalen Rechtsbegriffes ausgeblendet. Unter Rechten versteht DworVgl Kap. 2 dieser Arbeit, insbesondere die Abschnitte 2.5 und 2.6. Auch Stefan Gosepath und Herlinde Pauer-Studer kritisieren, dass Dworkins Prinzip politischer Gleichheit als liberales Prinzip des Schutzes individueller Autonomie verstanden werden muss: Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, Frankfurt/M., 2000, S. 172 ff.; Stefan Gosepath, »The Place of Equality in Habermas’ and Dworkin’s Theories of Justice«, in: European Journal of Philosophy, 3/1995, S. 21–35.
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Brückenstrategie
kin in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Rechte erscheinen daher unter der Perspektive distributiver Gerechtigkeit: Der Staat gewährt seinen Bürgern gleiche Bürgerrechte. Bezeichnen wir das als den Zusammenhang zwischen Freiheit und distributiver Gleichheit. An einer anderen Stelle unterscheidet Dworkin den ausschließlich negativ definierten Begriff der Freiheit, Freiheit als Erlaubtheit, vom Verständnis der »Freiheit als Unabhängigkeit, das heißt, dass eine Person den Status der Unabhängigkeit und Gleichheit, und nicht den des Untergeordnetseins hat« 54 . Das ist das kantische relationale Verständnis von Freiheit, das Gegenstand eines horizontalen Rechtsbegriffs ist. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit ist hier der Zusammenhang zwischen Freiheit und Reziprozität: Das Recht regelt die Beziehung zwischen den Bürgern, ihren egalitären Status als Rechtsgenossen. Ein so verstandenes Recht ist der Gegenbegriff zu einseitiger Macht und sozialer Hierarchie. Dworkin hat allerdings versäumt diesen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit zu analysieren. 55 Zu einem vollständigen Rechtsbegriff zählen aber beide Perspektiven. Die Konsequenz ist, dass Dworkin den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit explizit nur aus der Perspektive distributiver Gerechtigkeit diskutiert. Das heißt freilich nicht, dass sich in Dworkins Theorie sozialer Gerechtigkeit nicht auch die andere, die horizontale Perspektive der Gerechtigkeit fände. Um genau diesen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit soll es nun gehen.
4.4 Brückenstrategie Dworkins Theorie sozialer Gerechtigkeit, so die bisherige Analyse, gründet auf einer bestimmten Idee des freien Marktes. Die Menschen sollen selber entscheiden können, welche äußeren Glücksgüter sie erwerben möchten und welchen Stellenwert sie dem Erwerbenkönnen von Ressourcen durch Arbeit einräumen. Die durch einen dezentralen Markt garantierten Freiheiten dürfen aber nicht mit der Idee der Gleichheit in Konflikt geraten. Im Gegenteil, Dworkin argumentiert dafür, dass der Wert der Wahlfreiheit aus einem Prinzip distributiver Dworkin, Bürgerrechte, a. a. O., S. 424. Die Statusgleichheit der Bürger, also ihre horizontale Rechtsgleichheit, analysiert Dworkin in seiner Analyse politischer Gleichheit: Vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit.
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Gleichheit folge, dass wir nur dann ein Recht auf Nichteinmischung in unsere Angelegenheiten haben, wenn das Prinzip distributiver Gleichheit das erfordere. Den Kern dieses Gleichheitsideals bildet aber eine liberale Konzeption des guten Lebens, die, so wird bereits in früheren Arbeiten Dworkins deutlich, als solche durch den Wert der individuellen Selbstbestimmung charakterisiert ist. Anstatt aber seine Theorie der Ressourcengleichheit als Ausdruck dieser letzteren Idee plausibel zu machen, konstruiert Dworkin ein kompliziertes und schwer verständliches Argument, das den Zusammenhang zwischen den durch den Markt garantierten Freiheiten und einem Ideal distributiver Gleichheit begründen soll. Wenn wir die gerechte Verteilung sozioökonomischer Güter einfach aus einem Grundprinzip gleicher Freiheit ableiten wollten, so Dworkin, dann wäre die These des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit eine definitorische Setzung. Wieso aber können wir davon ausgehen, dass Freiheit und Gleichheit aufeinander verweisende Werte sind? Welches Argument können wir dem Vertreter einer libertären Position nennen, wenn er absolute Freiheitsrechte gegen die Idee der Gleichheit ins Feld führt? Der Libertäre würde gegen ein egalitäres Freiheitsprinzip geltend machen, dass er unter Freiheit eben etwas anderes verstehe als gleiche Freiheit. Wenn wir also ein Argument finden wollen, das Freiheit und Gleichheit miteinander versöhnt, so Dworkins Idee, müssen wir von einem möglichst abstrakten Grundprinzip politischer Gerechtigkeit ausgehen, das nicht bereits beide Werte enthält. Dworkin unterscheidet zwei Strategien der Begründung des normativen Zusammenhangs von Freiheit und Gleichheit. Die konstitutive Strategie »builds liberty into the structure of its chosen conception of equality from the start. It insists that liberty must figure in the very definition of an ideal distribution, so that, for that reason, there can be no problem of reconciling liberty and equality.« 56 Die zweistufige Strategie hingegen geht von dem abstrakten Grundsatz aus, dass die gerechte Verteilung von Ressourcen diejenige ist, die gegenüber den Interessen der Bürger gleichermaßen gerechtfertigt werden kann. In einem zweiten Argumentationsschritt wird dann begründet, dass bestimmte Freiheiten instrumentell mit der Befriedigung bestimmter Interessen verbunden sind. Der Gleichheits56
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grundsatz der zweistufigen Strategie ist also abstrakter als der Gleichheitsgrundsatz der konstitutionellen Strategie. Er enthält nicht schon den Begriff der Freiheit. Vertragstheorien der Gerechtigkeit sind laut Dworkin ein Beispiel für die zweistufige Strategie der Begründung von Prinzipien politischer Gerechtigkeit. Prinzipien der Gerechtigkeit sind solche, auf die sich die Menschen in ihrem rationalen Eigeninteresse unter wohldefinierten Entscheidungsbedingungen einigen würden. Das Vertragsargument kann aber einen Grundsatz gleicher Grundfreiheiten nicht begründen. Dass die Anerkennung egalitärer Gerechtigkeitsprinzipien im rationalen Selbstinteresse von Personen liege, ist ein Trugschluss. Nun lässt sich zwar plausibel machen, dass bestimmte Freiheiten zur ungehinderten Verfolgung fundamentaler Interessen von großem Nutzen sind. Aber aus der Anerkennung meiner Freiheit als in meinem Interesse folgt nicht, dass ich auch ein Selbstinteresse habe, die Freiheit anderer als deren Recht zu achten, das als solches doch meine absolute Freiheit einschränkt. Freiheit kann auch bedeuten, Macht über andere Menschen zu besitzen. Das gleiche gilt für die Anderen. Auch die haben ex definitione kein Interesse daran, meine Freiheit als mein Recht zu achten. Der eigentliche Argumentationsschritt liegt daher in einem hypothetischen Vertrag. Beide Parteien leisten einen wechselseitigen Verzicht auf ihre absolute Freiheit und erkennen die gleiche Freiheit des anderen an, wenn dieser den gleichen Verzicht leistet. Ich habe nur dann das Recht auf Freiheit gegenüber einer anderen Person, wenn ich das gleiche Recht, und das heißt die gleiche Freiheit dieser Person achte. Der Andere hat nur dann einen Grund, mein Recht zu achten, wenn auch ich sein Recht achte. Die Schlüssigkeit dieses Vertragsarguments, das Dworkin merkwürdigerweise nicht erwähnt, hängt jedoch davon ab, ob beide Parteien die gleiche Macht besitzen, dem jeweils Anderen mit der Nichtanerkennung seiner Freiheit zu drohen. 57 Das freilich bedeutet, dass beide Personen frei sind, sich für die Anerkennung des Rechts des Anderen entscheiden zu können, in Kants Worten: dass sie unabhängig von der nötigenden Willkür eines Anderen sind. Das Vertragsargument ist daher zirkulär und setzt konstitutiv ein Prinzip gleicher Freiheit bereits voraus. Dworkin deutet diesen So die Prämisse bekanntermaßen in Hobbes’ Naturzustand: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. von Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1996, Kap. 13–15.
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Einwand an, indem er an H. L. A. Harts Rawls-Kritik erinnert: Es mag rational sein, Träger von Freiheitsrechten zu sein. Warum aber sollte ich das gleiche Recht von Minderheiten achten, wenn ich zur Mehrheit gehöre, die durch die Rechte der Minderheit in der Durchsetzung ihrer Interessen gehindert wird? 58 Der zweite Einwand gegen die zweistufige Strategie richtet sich gegen die instrumentelle Wertschätzung von Freiheit. Wenn bestimmte Freiheiten nur einen instrumentellen Wert besitzen, also nützlich sind, genießt ihr Schutz keinen Vorrang gegenüber anderen Werten. Es lassen sich leicht Situationen denken, in denen eine Einschränkung meiner Freiheiten Bedingung für eine Steigerung meines Nutzens und insofern rational ist. Weil das so ist, bleibt nur die konstitutionelle Strategie übrig, die den besonderen Wert eines grundlegenden egalitären Prinzips gleicher Freiheit explizit macht, aber nicht mehr aus einem höheren Grundsatz argumentativ ableiten kann. Als Beispiel dieser Strategie führt Dworkin die Vertragstheorie von Rawls an. Nach Rawls sind die Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft solche, auf die sich Personen unter Bedingungen strikter Entscheidungsgleichheit einigen würden, die selbst darüber verfügen möchten, welche Konzeption des Guten für das eigene Leben von Wert ist. Anstatt aber diese Grundidee von Rawls systematisch zu diskutieren, entdeckt Dworkin hier Elemente der Interessenstrategie: Dieser versuche sein grundlegendes Ideal liberaler Personalität als im faktischen Selbstverständnis der Bürger westlicher Demokratien wurzelnd zu plausibilisieren. Damit aber liefere Rawls seine Gerechtigkeitstheorie dem Streit aus, was denn die tatsächlichen Interessen von Bürgern westlicher Demokratien seien. 59 Das ist allerdings kein Einwand gegen die konstitutionelle Strategie als solche. Wie oben deutlich wurde, enthält auch Dworkins oberstes Prinzip politischer Gerechtigkeit den Gedanken der Autonomie der Person. Welchen Weg also schlägt Dworkin zur Begründung oder Explikation des Zusammenhangs von Freiheit und Gleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit ein? Dworkin gründet seine liberale Theorie sozialer Gerechtigkeit auf ein Marktmodell. Unter egalitären Startbedingungen sollen die Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 137. Vgl. H. L. A. Hart, »Freiheit und Recht und ihre Priorität bei Rawls«, in: Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. von Otfried Höffe, Frankfurt/M. 1977, S. 131–161. 59 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 136. 58
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Menschen selbst entscheiden können, welche Güter sie zur Befriedigung ihrer Präferenzen und zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen des Guten erwerben wollen. Ziel dieses Verteilungsverfahrens ist, den Güterbesitz von Personen von deren faktischen eigenen Entscheidungen abhängig und von den unverantworteten Lebensumstände unabhängig zu machen. Sollen dann Personen nicht auch selbst entscheiden, welche (Markt-) Freiheiten sie besitzen wollen und welche nicht? Sind Freiheiten, diese Frage stellt sich Dworkin tatsächlich, nicht auch Güter, die der freie Markt feilbieten soll, um sie nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage gemäß den faktischen Interessen der Menschen zu verteilen? Die Diskussion dieser Frage sei hier unterschlagen. Der Markt selbst ist für Dworkin als Garant der Wahlfreiheit von Personen gerechtfertigt. Er ist Ausdruck eines egalitären Freiheitsgedankens und kann nicht selbst diesen Gedanken begründen, etwa indem man die Verteilung der Marktfreiheiten von den faktischen Entscheidungen der Menschen abhängig macht. Die normative Gültigkeit eines Gerechtigkeitsprinzips kann nicht davon abhängen, ob Menschen faktisch ein Interesse haben, dieses Prinzip anzuerkennen oder nicht. Letzteres ist seine faktische Anerkennung. Die Gerechtigkeit des Allokationsverfahrens des Marktes begründet sich durch das grundlegende Recht auf Selbstbestimmung. Dworkin macht das aber nicht deutlich. Stattdessen verwirft er die zweistufige Strategie der Begründung des normativen Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit mit dem Argument, dass die Idee eines freien Marktes bereits allgemeine Eigentumsrechte voraussetze. Eigentumsrechte sind Freiheitsrechte des exklusiven Gebrauchenkönnens von Sachen. Nur unter der Bedingung, dass ich mit den Dingen, die ich erwerben will, auch das tun kann, was ich will, ist das Allokationsverfahren des freien Marktes gerecht. Werde ich im Gebrauch einer Sache eingeschränkt, dann verliert diese Sache ihren Wert für mich, auch wenn ich sie auf dem freien Markt erwerben kann. 60 So mag ich z. B. auf dem Markt Ton erwerben können, um Skulpturen herzustellen. Aber wenn es verboten ist, in politischer Absicht satirische Skulpturen anzufertigen, verliert Ton seinen Wert für mich, wenn ich, statt Töpfe zu fertigen, eben solche Skulpturen modellieren möchte. 61 Dworkins Beispiel mutet absurd an. So 60 61
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als ob das Unrecht in diesem Fall nicht darin bestünde, dass eine besondere Grundfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, verletzt würde. Das Beispiel macht aber deutlich, dass Dworkin allgemeine Eigentumsrechte wesentlich instrumentell begründet. Nur unter der Bedingung ihrer Geltung macht die Idee des freien Marktes Sinn. Die Freiheit des Gebrauchenkönnens von Dingen verliert aber ihren Wert, wenn es mir nicht freisteht, die Sachen zu erwerben, die ich will. Also ist das grundlegendere Freiheitsrecht das des freien Marktes: der selbstbestimmte Konsum, die selbstbestimmte Berufswahl. Dworkin wählt eine modifizierte konstitutionelle Strategie, um den Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit deutlich zu machen: Die Argumentation nimmt ihren Ausgang vom Grundsatz politischer Gleichheit, dem abstract egalitarian principle. Wie wir gesehen haben, will Dworkin den Liberalismus über ein egalitäres Prinzip politischer Gerechtigkeit definieren, das den Wert der Freiheit nicht bereits enthält. Was ist das aber für ein Begriff von Liberalismus, der nicht durch eine bestimmte Idee von Freiheit definiert wird? Unter Gleichheit versteht Dworkin denn auch die politische Neutralität gegenüber Fragen des guten Lebens. Diese Gleichheit fordert, »that political decisions must be, so far as possible, independent of any particular conception of the good life, or what gives value to life.« 62 Den Kern dieser Idee von Gleichheit als politischer Neutralität gegenüber dem Guten bildet die Idee der Autonomie der Person. Das ist die naturrechtliche, soll heißen grundlegende, nicht aus einem höheren moralischen Prinzip abgeleitete Grundidee des Liberalismus. Jedes egalitäre Prinzip, das diese Idee nicht bereits enthält, definiert keine liberale Moral. Wie gezeigt wurde, ist Dworkins Gleichheitsprinzip in seinen unterschiedlichen Formulierungen durch die Idee der Autonomie gekennzeichnet. Ansprüche auf Freiheit begründen sich dadurch, dass sie diesen grundlegenden Wert des Liberalismus schützen. Im Kontext sozialer Gerechtigkeit, das heißt im Kontext der Verteilung von Gütern wie Arbeit, Freizeit, medizinischer Fürsorge, Einkommen und Vermögen, folgt, so Dworkin, aus dem Prinzip politischer Gleichheit, die Idee einer marktwirtschaftlichen Verteilung dieser Güter. Dahinter steht der Gedanke, dass diese Güter subjektiven Wert besitzen. Die Person soll selbst entscheiden können, wel62
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chen Preis sie für den Erwerb bzw. Genuss eines Gutes zahlen will. Schlüssigkeit kann diese Folgerung daher nur beanspruchen, wenn das Grundprinzip politischer Gleichheit durch den Wert der Selbstbestimmung der Person charakterisiert ist. Das Modell einer hypothetischen Auktion soll diese liberale Marktgerechtigkeit veranschaulichen. Alle Auktionsteilnehmer verfügen über gleiche Kaufkraft und können die Ressourcen auswählen und ersteigern, die sie wertschätzen. Das Ergebnis einer solchen Auktion wäre egalitär: Niemand beneidete das Ressourcenbündel des Anderen, weil er es anstelle seines Bündels hätte ersteigern können. 63 Die Verteilung der Ressourcen hängt so von den freien Entscheidungen der Personen ab. Dieses statische Marktmodell wird um ein einfaches Modell einer Ökonomie ergänzt: Die Personen treiben Handel mit den in der Auktion erworbenen Gütern, produzieren neue Güter usw. Die daraus resultierende Ungleichheit ist genau dann gerecht, wenn sie das Ergebnis der freien Entscheidungen der Menschen ist und wenn die Ergebnisse unverantworteter Benachteiligung, wie Krankheit und mangelndes Talent, kompensiert werden. Aus dem Grundprinzip politischer Gleichheit folgt so die Theorie der Ressourcengleichheit. Nun hat aber Dworkin gezeigt, dass negative Freiheit als Erlaubtheit keinen besonderen normativen Wert in einer liberalen Konzeption politischer Gerechtigkeit beanspruchen kann, um den Vorrang bestimmter Grundfreiheiten gegenüber konkurrierenden Werten zu begründen. Im Kontext sozialer Gerechtigkeit geht es aber bei Dworkin nicht um den Schutz besonderer Freiheiten, die, soll die Theorie liberal sein, bereits als Grundfreiheiten gelten müssen, sondern um die Gewähr der faktischen Entscheidungsfreiheit des Erwerbs von subjektiv wertgeschätzten Gütern. Die normative Qualifikation dieser Freiheit erfolgt hier wesentlich über den Wert der Gleichheit: Die Personen sollen die Kosten ihrer Entscheidungen auf dem Markt selbst tragen und nicht anderen aufbürden. Unter egalitären Bedingungen (gleiche Kaufkraft) bestimmt das Prinzip von Angebot und Nachfrage den fairen Wert einer Sache und damit die faire Grenze meiner Freiheit des Erwerbs von Dingen. Es ist somit unfair, von anderen zu verlangen meinen Erwerb von teuren Sachen zu subventionieren. Die besondere Gleichheitsmetrik der Ressourcengleichheit ist so die Metrik der Opportunitätskosten, »it fixes the 63
Vgl. Abschnitt 6.1 dieser Arbeit. A
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value of any transferable resource one person has as the value others forgo by his having it. It deems such resources to be equally divided when the total transferable resources of each person have the same aggregate opportunity costs measured in that way.« 64 Dieses Kriterium bleibt aber noch zu abstrakt. Was sind die wahren Opportunitätskosten, die der Idee gleicher Marktfreiheit Gestalt verleihen? Die Antwort möchte Dworkin durch ein Brückenargument finden, welches das abstract egalitarian principle und das aus diesem folgende Konzept der Ressourcengleichheit so verbindet, dass die wahren Opportunitätskosten expliziert werden können. Dieses Brückenprinzip nennt Dworkin das Prinzip der Abstraktion. »We hold two ideas in place: the abstract egalitarian principle, which demands equal concern, on the one hand, and equality of resources, which proposes that an auction under certain conditions realizes equal concern, on the other.« 65 Das Brückenprinzip verbinde die beiden egalitären Prinzipien, indem es eine starke Präsumtion zugunsten des Wertes der Entscheidungsfreiheit einführe: »It insists that an ideal distribution is possible only when people are legally free to act as they wish except so far as constraints on their freedom are necessary to protect security of person and property, or to correct certain imperfections in markets«. 66 Die Sache verhält sich tatsächlich genau umgekehrt! Die Idee politischer Gleichheit und die Konzeption der Ressourcengleichheit sind wesentlich durch den Wert individueller Selbstbestimmung charakterisiert. Das Prinzip der Abstraktion hingegen ist ein Prinzip der Unparteilichkeit, der Gleichheit. Es soll bestimmen, wie die Entscheidungsfreiheit von Personen im Kontext sozialer Gerechtigkeit unparteiisch berücksichtigt werden soll. Dworkin erläutert das an einem Beispiel. Stellen wir uns vor, bei der egalitären Auktion würden sich Leute zusammenfinden, um Land für ein Fußballstadion zu ersteigern. Der Preis, den sie zahlen müssen, hängt nicht zuletzt von der Größe der Landparzellen ab, die versteigert werden. Stellen wir uns weiterhin vor, der Auktionator hätte zufälligerweise festgelegt keine Landparzellen zu versteigern, die kleiner als ein Fußballstadion sind. Des Weiteren sei aus irgendwelchen Gründen verboten, nach der Ersteigerung von Land dieses aufzuteilen und in kleineren Parzellen zu 64 65 66
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verkaufen. Unter diesen Bedingungen werden die Personen, die das Land für ihr Fußballstadion kaufen, weniger bezahlen als unter der Bedingung der Versteigerung beliebig kleiner Landparzellen. Das scheint unfair zu sein. Warum? »Equality of resources aims that each person have an equal share of resources measured by the cost of the choices he makes, reflecting his own plans and preferences, to the plans and projects of others.« 67 In diesem Fall verlangt der Grundgedanke der Ressourcengleichheit das ungehinderte Marktprinzip von Angebot und Nachfrage: Nicht alle, die Land erwerben möchten, werden es unter diesen Einschränkungen tun, weil Land dieser Größe zu teuer ist, um z. B. ein kleines Häuschen zu bauen. Durch die sinkende Nachfrage sinkt der Preis, den die Stadionbauer zu bezahlen haben. Die Stadionbauer bezahlen daher den relativ niedrigen Preis auf Kosten derjenigen, die unter diesen einschränkenden Bedingungen kein Land ersteigern können oder wollen. Das Auktionsmodell berücksichtigt nicht alle subjektiven Präferenzen und Pläne der Individuen in gleicher Weise. Das Marktprinzip von Angebot und Nachfrage bestimmt den fairen Wert einer Sache. Deshalb steht die hypothetische egalitäre Auktion (gleiche Kaufkraft der Auktionsteilnehmer) im Zentrum von Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit. Was eine Sache wert ist, bestimmen die Mitbieter. Mit dem Beispiel der Landversteigerung möchte Dworkin die normativen Implikationen der Grundidee der Ressourcengleichheit aufzeigen: Nicht allein die faktischen Kaufentscheidungen und die Bedingung gleicher Kaufkraft bestimmen das Prinzip von Angebot und Nachfrage als fair, sondern die unparteiische Berücksichtigung der Kaufentscheidungen verlangt nach einer »Abstraktion«. Güter sollen in möglichst kleinen Bündeln erworben werden können, »to make distribution as sensitive as possible to the choices different people make in designing their own plans and projects […]. That is the case for the principle of abstraction. The principle recognizes that the true opportunity cost of any transferable resource is the price others would pay for it in an auction whose resources were offered in as abstract as possible, that is, in the form that permits the greatest possible flexibility in fine-tuning bids to plans and preferences.« 68 Die Erwerbskosten einer Sache, die ich für meine Präferenzerfüllung aufbieten muss, reflektieren die Kaufent67 68
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scheidungen meiner Mitbieter, wenn sie die gleiche Entscheidungsfreiheit besitzen, die Sache zu erwerben oder nicht. Unter dieser Bedingung bestimmt das Prinzip von Angebot und Nachfrage die normative Grenze meiner Freiheit, Dinge erwerben zu können. Dworkin belässt es bei Andeutungen, welche praktischen Implikationen das Prinzip der Abstraktion hat, die dem Namen dieses Prinzips alle Ehre erweisen. Es verlange z. B., dass natürliche Ressourcen in unverarbeiteter Form versteigert werden müssten, damit die Menschen selbst entscheiden könnten, für welche Zwecke sie die Ressourcen gebrauchen. 69 Aber es geht ihm in erster Linie um die Explikation des normativen Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit. Der Liberalismus ist durch den Wert der Freiheit definiert, aber darunter ist keine absolute Freiheit als Erlaubtheit zu verstehen. Freiheit ist kein singulärer Wert, sondern besitzt nur im Zusammenhang mit dem Wert der Gleichheit normative Gültigkeit. Wie umgekehrt Gleichheit nicht als singulärer Wert zu verstehen ist. Im Zentrum der Ressourcengleichheit steht der Gedanke, dass die Verteilung transferierbarer Güter von den freien Entscheidungen und Werturteilen der Menschen abhängen sollte. Aber diese Freiheit ist nur als gleiche Freiheit Gegenstand eines Gerechtigkeitsprinzips.
4.5 Freiheit und soziale Verantwortung Dworkins Argument für ein egalitaristisches Freiheitsprinzip im Kontext sozialer Gerechtigkeit ist kohärentistisch zu verstehen. Vertreter einer libertären Position sozialer Gerechtigkeit berufen sich auf ein Prinzip absoluter Freiheit, wie er an den obigen Beispielen verdeutlicht. Wer aber individuelle Freiheit als einen vorrangigen Wert im Kontext sozialer Gerechtigkeit begreift, muss der individuellen Freiheit auch im Kontext politischer Gerechtigkeit einen vorrangigen Wert einräumen. Wenn die Verteilung von Gütern wie Einkommen und Vermögen, medizinischer Fürsorge, Arbeit und Freizeit von den individuellen Entscheidungen der Menschen abhängen soll, warum sollten dann politische Entscheidungen die individuelle Freiheit des Individuums nicht berücksichtigen müssen, und zwar genau dann, wenn die Selbstbestimmung des Subjekts in besonderer Weise betroffen ist. Der normative Kern des Freiheitsgedankens ist die Idee 69
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Freiheit und soziale Verantwortung
der selbstbestimmten Lebensführung des Subjekts. Der Wert der Autonomie begründet das liberale Prinzip politischer Gerechtigkeit: die politische Neutralität gegenüber den konkreten Vorstellungen des Guten der Bürger. Wer aber erst einmal dieses den Liberalismus definierende Prinzip politischer Gerechtigkeit akzeptiert hat, so Dworkins Gedanke, akzeptiert den notwendigen normativen Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit. Denn was bedeutet politische Neutralität gegenüber den konkreten Vorstellungen guten Lebens? Es könnte heißen, dass wir versuchen sollten, Sorge zu tragen, dass alle Bürger ihre Konzeptionen des Guten verfolgen können, ganz unabhängig davon, wie die Menschen ihr soziales Verhältnis im Lichte ihrer Vorstellung des Guten und des Wertes menschlichen Lebens bewerten. Manche Menschen aber sind der Auffassung »that a worthy life can be led only in a community whose public culture identifies and prescribes a shared personal morality, which includes, for example, orthodoxy of religious commitment, circumscribed sexual behavior, and traditional gender and class distinctions of role.« 70 Eine solche Idee des Guten freilich verlangt nach einer antiliberalen öffentlichen Kultur, die abweichende Wertvorstellungen mit den Mitteln des Rechts unterdrückt. Wir müssen also diese intolerante Idee des Guten als politisch ungerecht verwerfen. Heißt das aber nicht, dass wir uns so parteiisch gegenüber den Wertvorstellungen der Menschen verhalten? Müssen wir nicht einen Kompromiss zwischen den unvereinbaren Konzeptionen des Guten der Bürger finden, der auch der Intoleranz ein gewisses Recht auf Verwirklichung einräumt? Neutralität in diesem Sinne, so Dworkin, missversteht den liberalen Gleichheitsgedanken. Um ihn zu explizieren, müssen wir auf den horizontalen Rechtsbegriff zurückgreifen. Dworkins Schwierigkeit, den normativen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit auf den Begriff zu bringen, resultiert aus seinem einseitig vertikalen Rechtsbegriff, der unter einem subjektiven Recht wesentlich ein Recht gegenüber dem Staat, ein Vetorecht gegenüber politischen Entscheidungen, versteht. Gleichwohl ist der horizontale Begriff des Rechts im Konzept der Ressourcengleichheit, dem Prinzip der Abstraktion und dem Grundprinzip politischer Gleichheit enthalten. Die ethische Autonomie einer Person A wird nur dann zu einem an eine andere Person B adressierbaren Recht, wenn A die Autonomie von B 70
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als deren gleiches Recht anerkennt. Dieses Verständnis von Rechtsgleichheit als Reziprozität ist Ausdruck des Toleranzgedankens: Die Idee der politischen Gleichheit bedeutet auf der horizontalen Ebene, dass die Bürger ihre Vorstellungen des Guten als wechselseitig gleichberechtigt anerkennen. Es ist daher widersprüchlich, intoleranten Vorstellungen des guten Lebens ein Recht auf Verwirklichung einzuräumen, weil Recht, egalitär verstanden, seinem Träger den Status des Nichtuntergeordnetseins und der Unabhängigkeit verleiht. Ein Recht auf Intoleranz ist ein Recht auf Unterdrückung, aber das ist normativ betrachtet ein Widerspruch in sich. Individuelle Freiheit als ein vorrangiger Wert politischer Gerechtigkeit ist daher nur im Zusammenhang mit Gleichheit von normativer Gültigkeit, als ein gleiches Recht auf Selbstbestimmung. Liberale Neutralität meint daher wesentlich die Statusgleichheit der Bürger als Freie und Gleiche. Warum sollte das im Kontext sozialer Gerechtigkeit anders sein? Wenn der Liberalismus durch ein egalitäres Prinzip der Autonomie der Person definiert ist, dann kann auch im Kontext sozialer Gerechtigkeit das Recht, freie Entscheidungen zu treffen, nur als gleiches Recht normativ gültig sein. Wer sich hier auf eine libertäre absolute Freiheit beruft, kann seine Position nicht als liberale deklarieren. Das ist inkohärent. Der Liberalismus ist nicht allein durch die Idee der Freiheit des Individuums definiert, sondern er versteht diese Freiheit als Ideal eines egalitären sozialen Verhältnisses. Was das im Kontext sozialer Gerechtigkeit meint, darüber soll die Konzeption der Ressourcengleichheit Aufschluss geben. Der Liberalismus steht für die Idee des freien Marktes als eines gerechten Verteilungsverfahrens von sozioökonomischen Gütern, das den Menschen erlaubt eigene Entscheidungen zu treffen und ihr Glück aus eigenen Wertüberzeugungen zu verfolgen. Gleichheit als Neutralität gegenüber Ideen des Guten bezeichnet dabei zwei Perspektiven des Rechts. In vertikaler Perspektive bezeichnet Neutralität zunächst ein Prinzip distributiver Gerechtigkeit. Der Staat garantiert allen seinen Bürgern gleiche Freiheitsrechte, die die Selbstbestimmung der Person schützen. In horizontaler Perspektive beschreibt die liberale Neutralität das soziale Verhältnis zwischen den Bürgern als das der Toleranz: Die Bürger achten wechselseitig ihr gleiches Recht auf ethische Differenz. Dworkin versteht sein Prinzip der Abstraktion in einer bestimmten Analogie zum liberalen Toleranzgedanken. Die unparteiische Berücksichtigung der Marktfreiheiten erfor154
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dert, dass die Bürger wechselseitig ihre Freiheit, subjektiv wertgeschätzte Güter zu erwerben, achten. Anders als das libertäre Verständnis freier Marktwirtschaft versteht Dworkin Freiheit als relational. Welche soziale Auswirkung hat die Wahrnehmung der Freiheit einer Person? Welche sozialen Kosten entstehen durch den Schutz der Marktfreiheit von Bürgern? Wenn die Ausübung einer bestimmten Freiheit einer Person A dazu führt, dass die Freiheit oder die Lebensqualität 71 einer anderen Person B in unzulässiger Weise eingeschränkt wird, verliert A ihren uneingeschränkten Anspruch auf diese bestimmte Freiheit. So gilt z. B. nach Dworkin auch im Bereich der Gesundheitsfürsorge das Prinzip des freien Marktes. Die Möglichkeit privater Krankenversicherung sei ein Gebot des Prinzips der Abstraktion: Jeder soll selbst entscheiden können, welchen Preis er für Gesundheitsfürsorge bezahlen möchte. Auch hier soll die Wertschätzung des Gutes der Gesundheit letztlich von der einzelnen Person abhängen. »Permitting private transactions in medicine allows people to make their own choices about the relative value of immediate and therefore expensive medical care as against less immediate care and other goods.« 72 Aber unter den nichtidealen Bedingungen ungleicher Vermögens- und Einkommensverteilungen ist auch diese Marktfreiheit ungleich verteilt. Wohlhabendere Bürger können sich eine wesentlich bessere Gesundheitsversorgung leisten als die ärmeren Bevölkerungsschichten. Ein weiterer Punkt ist, dass die Existenz eines privaten Krankenversicherungsmarktes die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung schwächen und so die Finanzierbarkeit einer universellen Gesundheitsfürsorge untergraben kann. Unter diesen Bedingungen verliert die individuelle Freiheit der privaten Krankenversicherung ihren Anspruch auf Berücksichtigung. Um die medizinische Versorgung aller Bürger, z. B. durch Steuern, sicherzustellen, kann es laut Dworkin gerechtfertigt sein, das unter ideal-egalitären Vermögensverhältnissen gebotene private Krankenversicherungssystem zu verbieten. 73 Entscheidungsfreiheit wird also von Dworkin nicht allein durch die Abwesenheit äußerer Hindernisse bestimmt. Freiheit setzt die Der Wert der Entscheidungsfreiheit und der Wert der Lebensqualität wie z. B. Gesundheit muss genau unterschieden werden. Das wird im Weiteren deutlich. 72 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 172. 73 Vgl. Abschnitt 7.2 dieser Arbeit. 71
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Möglichkeit, Optionen wahrzunehmen, voraus. Im Gedankenexperiment der Auktion werden die Auktionsteilnehmer entsprechend mit einem gleichen Geldanteil ausgestattet. Die Startchancen der Menschen als Teilnehmer des freien Marktes sollen gleich sein. Das Verbot privater Krankenversicherung ist deshalb nur ein Kompromiss der ideal-egalitären Welt des Gedankenexperiments mit der Wirklichkeit. Es geht nicht darum, was das Prinzip der Marktfreiheit in der egalitären Fantasiewelt der Versteigerung erfordert, »but how liberty is treated in a realistic theory of improvement fit for our own shabbier world«. 74 Dworkins Schlussfolgerung muss aber all diejenigen verstören, die mit ihm der Überzeugung sind, dass im Zentrum einer liberalen Idee sozialer Gerechtigkeit das Marktprinzip von Angebot und Nachfrage stehen müsse. Widerspricht sich Dworkin mit diesem Beispiel nicht selbst? Freiheit und Gleichheit sollen normativ aufeinander bezogene und keine miteinander konkurrierenden Werte sein. Genau das aber scheint hier der Fall zu sein: Wenn sich die gleiche Freiheit, private Krankenversicherungen zu kaufen, aufgrund der ungleichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht realisieren lässt, sei es besser, diese Freiheit gleichermaßen zu verbieten und eine gesetzliche steuerfinanzierte Krankenversicherung für alle durchzusetzen. Betrachten wir ein anderes Beispiel! Nehmen wir an, dass in einem bestimmten Fall das Recht auf Gewissensfreiheit ungleich verteilt sei. Das Recht, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, werde nur Bürgern eingeräumt, die eine religiöse Idee des Guten verfolgen, nicht aber Agnostikern und Atheisten. Wenn das ungerecht ist, wieso ist die gleichmäßige Beschränkung dieses Rechts als Kompromiss mit der Realität, z. B. um eine Wehrpflichtigenarmee aufrecht zu erhalten, keine legitime Option der Gerechtigkeit? Die Antwort finden wir in Dworkins abstraktem Grundprinzip politischer Gerechtigkeit: Es ist die Aufgabe des gerechten Staates, das Leben der Bürger gleichermaßen zu verbessern. Gut ist ein Leben, wenn es in Selbstbestimmung geführt wird. Deswegen ist Gewissensfreiheit eines der vorrangigen Güter. Und kein Leben kann gut genannt werden, wenn es nicht in Gesundheit geführt wird. Gesundheit ist ein objektives Gut. Weil das so ist, und wenn wir die Gültigkeit von Dworkins Grundprinzip akzeptieren, dann ist es Aufgabe des Staates, und nicht des Marktes, die medizinische Fürsorge 74
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der Bürger zu garantieren. Gesundheit, keine bloße Willkürfreiheit, ob als gleiche oder nicht, ist in diesem Beispiel also der vorrangig zu schützende Wert. Der Schutz von Marktfreiheiten besser gestellter Bürger auf Kosten einer universellen Gesundheitsfürsorge ist ein libertärer Freiheitsabsolutismus. 75 Indem Dworkin unter den genannten Bedingungen für eine gesetzliche Krankenversicherung plädiert, erkennt er diese Wertprämissen stillschweigend an und verweist, ebenso stillschweigend, den Markt als gerechtes Verteileilungsverfahren in seine Grenzen. Nicht die Freiheit, die Güter erwerben zu können, die relativ zu meinen subjektiven Präferenzen Wert besitzen, steht hier auf dem Spiel, sondern die Verfügbarkeit elementarster Bedarfsgüter, ohne die niemand existieren kann. Wertneutralität führt in diesem Beispiel geradewegs in den moralischen Skeptizismus. Im Geltungsbereich sozialer Gerechtigkeit ist daher von einer Pluralität von Werten auch in einer anderen Art und Weise zu reden. Die durch einen freien Markt garantierte Pluralität unterschiedlicher Wertschätzung von Gütern ist selbst ein Gut neben anderen. Pluralismus von Gütern im umfassenden Sinn meint hingegen die Berücksichtigung unterschiedlicher Verteilungskriterien, die dem besonderen Wert des jeweiligen Gutes angemessen sind. Das bedeutet, dass Dworkins Gleichheitsgedanke nicht auf ein Prinzip reziprok gleicher Willkürfreiheit reduziert werden kann. Gegenstand sozialer Gerechtigkeit ist die Verteilung sozialer Güter, die jeweils einen besonderen Wert haben. Sie sind nicht reduktionistisch als Allzweckmittel zur Verfolgung subjektiver Interessen und Lebenspläne oder als Gegenstände subjektiver Wertschätzung zu verstehen. Anders als bei Dworkin gründet Michael Walzers Konzeption sozialer Gerechtigkeit auf der Überzeugung, dass sich Prinzipien sozialer Gerechtigkeit nicht auf ein abstraktes grundlegendes Verteilungskriterium zurückführen lassen. Soziale Gerechtigkeit ist pluralistisch zu verstehen. Während Dworkin eine egalitaristische Konzeption des freien Marktes als grundlegendes und einziges Distributionsverfahren sozialer Güter versteht und damit alle Güter sozialer Gerechtigkeit als subjektiv wertgeschätzte Waren begreift, nimmt Walzers Entwurf einer Theorie sozialer Gerechtigkeit ihren Ausgang von einem Verständnis des pluralistischen Werts von GüEs geht hier ausschließlich um den Vorrang des Anspruches auf medizinische Fürsorge vor der Konsumfreiheit, nicht aber vor den Grundfreiheiten.
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tern. Es gibt viele verschiedene Arten von sozialen Gütern, deren Verteilung eine Frage der Gerechtigkeit ist. Jedes besondere Gut fordert das Kriterium der gerechten Verteilung, das ihm angemessen ist. 76 Es ist daher verfehlt nach einem einheitlichen Verteilungskriterium zu suchen. Alle sozialen Güter gleich zu verteilen, oder alle Güter so zu verteilen, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt wird, kann kein Axiom sozialer Gerechtigkeit sein. Im Fall der Verteilung medizinischer Fürsorge ist das Bedürfnis das gerechte Distributionskriterium, Geld und Waren sind nach dem Kriterium des freien Tausches zu verteilen. Ämter werden nach dem Prinzip des Verdienstes durch Qualifikation vergeben. Die Verteilung politischer Macht wird durch den Status der Bürger als gleiche Mitglieder der politischen Gemeinschaft bestimmt, die sich demokratisch selbst regieren. Gerechtigkeit besteht darin, für jedes Gut, das ihm angemessene Kriterium der gerechten Verteilung zu finden, das seine »Sphäre« konstituiert. Es ist ungerecht, wenn essenzielle Bedarfsgüter nach dem Tauschprinzip des Marktes verteilt werden. Es ist aber auch ungerecht, wenn Ämter, d. h. vorteilhafte oder mit Macht und Verantwortung ausgestattete soziale Positionen, an die bedürftigsten, statt an die qualifiziertesten Bewerber vergeben werden. Ungerecht ist es, wenn politische Ämter durch Geld erkauft, statt durch demokratische Wahlverfahren besetzt werden. Es gilt daher die einzelnen Verteilungssphären gegeneinander abzugrenzen. 77 Soziale Gerechtigkeit besteht wesentlich in der Autonomie der einzelnen Sphären der Gerechtigkeit. Hinter dieser Idee steht jedoch ein fundamentales Prinzip der Gleichheit der Mitglieder der politischen Gemeinschaft, das Walzer als das Prinzip der komplexen Gleichheit bezeichnet: »Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, dass die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts. So kann Bürger X Bürger Y bei der Besetzung eines politischen Amtes vorgezogen werden mit dem Effekt, dass die beiden in der Sphäre der Politik nicht gleich sind. Doch werden sie generell solange nicht ungleich sein, wie das Amt von X diesem 76 Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., insbes. Kap. 1, und David Miller, »Introduction«, in: ders./Michael Walzer (Hg.), Pluralism, Justice, and Equality, Oxford 1995, S 1–16; hier S. 2. 77 Vgl. Michael Walzer, »Liberalismus und die Kunst der Trennung«, in: ders., Zivile Gesellschaft und Demokratie, Berlin 1992, S. 38–63.
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keine Vorteile über Y in anderen Bereichen verschafft, also etwa eine bessere medizinische Versorgung, Zugang zu besseren Schulen für seine Kinder, größere unternehmerische Chancen usw.« 78
Es ist nicht ungerecht, wenn Bürger ungleiches Vermögen besitzen, wenn begabte Politiker demokratische Macht erringen oder qualifizierte Bürger sozial vorteilhafte Positionen besetzen. Ungerecht aber ist es, wenn der ungleiche Besitz oder die Bevorzugung innerhalb einer Sphäre zu einer Bevorzugung in einer anderen Sphäre umgewandelt werden kann. »Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen.« 79 Wenn Vermögen der Grund für die Vergabe medizinischer Fürsorge oder von politischen Ämtern wird, dann herrscht, so Walzer, eine Art von Tyrannei. Bürger verlieren in einer oder in mehreren Verteilungssphären ihren Status als gleichberechtigte Verteilungsadressaten des jeweiligen Guts. Dahinter steht also die Forderung, dass alle Bürger als Mitglieder der politischen Gemeinschaft einen Anspruch auf einen fairen Anteil an bestimmten sozialen Gütern gemäß des jeweiligen Verteilungsprinzips besitzen, also auf medizinische Fürsorge, Bildung, Chancengleichheit, politische Partizipation usw. Die Autonomie der Sphären der Gerechtigkeit hat den gleichen Status der Mitglieder der politischen Gemeinschaft zum Ziel. 80 Diese Grundidee erlaubt uns Wertprioritäten zu setzen. Im Konfliktfall gilt es den vorrangigen Wert 81 in der jeweiligen Verteilungssphäre eines Gutes zu ermitteln. Wir beginnen also nicht mit Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 49. Ebd., S. 50. 80 Vgl. Miller, »Introduction«, a. a. O. 81 Amy Gutmann kritisiert an Walzers Idee der komplexen Gleichheit, dass diese nicht komplex genug sei. Gerechtigkeit erfordere die Berücksichtigung von mehr als nur einem Verteilungsprinzip für ein Gut. Sollen wir medizinische Fürsorge tatsächlich nur nach Bedürftigkeit verteilen oder macht nicht die Selbstverantwortung von Personen, gegeben die Knappheit dieses Gutes, einen moralisch relevanten Unterschied bei der Berücksichtigung der Ansprüche? Reicht es aus, angesichts von Massenarbeitslosigkeit Berufe nur nach Qualifikation zu verteilen oder muss man nicht auch das Bedürfnis nach Erwerbsarbeit zu einer Forderung sozialer Gerechtigkeit erheben? Gibt es also nicht »sphärenübergreifende« Verteilungsprinzipien? Amy Gutmann, »Justice across the Spheres«, in: Miller/Walzer, a. a. O., S. 99–119. Walzers Idee des unterschiedlichen Werts sozialer Güter, der nach unterschiedlichen Verteilungsmodi verlangt, soll hier nicht reduktionistisch verstanden werden. Daher die Rede vom »vorrangigen Wert«. 78 79
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der Suche nach einem abstrakten Prinzip, das wir dann als Gerechtigkeitsregel auf die Verteilung der sozialen Güter anwenden, sondern wir beginnen mit der Reflexion über den besonderen Wert dieser Güter. 82 Als antiegalitär können wir nun eine Gesellschaft bezeichnen, wenn die Grenzen der jeweiligen Verteilungskriterien nicht anerkannt werden; wenn z. B. Bürger durch ihre größere Kaufkraft Vergünstigungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge erwerben können und so das normativ gültige Verteilungskriterium des Bedürfnisses konterkarieren. Besser gestellte Bürger erwerben auf diese Weise soziale Macht über die weniger Wohlhabenden. Sie sind durch ihren Reichtum auf Kosten der Armen begünstigt (Dworkins Beispiel: eine kürzere Wartezeit auf Organtransplantationen) und »unterdrücken«, ob willentlich oder nicht, die Ansprüche anderer auf Bedarfsgüter. Dworkin würde hier entgegnen, dass nicht die Nichtanerkennung der Grenzen der Gerechtigkeitssphären als solche die Ungerechtigkeit des Beispiels bezeichne, sondern vielmehr die Einkommensund Vermögensungleichheit, die die Ursache der Begünstigung der Wohlhabenden sei. Er könnte aber so nicht erklären, warum die Einkommens- und Vermögensungleichheit in diesem Falle derart gravierende moralische Auswirkungen hat. Wieso ist die ungleiche Verfügbarkeit von Hummer und Champagner kein ebenbürtiger Gerechtigkeitsskandal? Dworkin muss also die Pluralität von Gütern und damit die Pluralität unterschiedlicher Verteilungsmodi anerkennen. Das aber bedeutet, dass Dworkins reduktionistische Werttheorie unhaltbar ist. Soziale Güter sind nicht ausschließlich als Waren zu begreifen, die nach dem Marktprinzip von Angebot und Nachfrage ihren Wert erhalten. Sowenig der liberale Charakter der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie durch den geltungslogischen Vorrang der Vgl. Miller, »Introduction«, a. a. O., S. 7. Walzer versteht seine Idee eines Pluralismus der Gerechtigkeit in einem doppelten Sinn: (1) Es gibt keine universell gültigen Gerechtigkeitsprinzipien. Gerecht ist das, was eine bestimmte politische Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit als gerecht billigt. Man muss daher wissen, was die unterschiedlichen Güter faktisch für die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft bedeuten, um ihren besonderen Wert und also ihr Verteilungskriterium zu verstehen. Diese Bedeutung von »Pluralismus« ist von einer zweiten Bedeutung (2) zu unterscheiden, von dem unterschiedlichen Wert von sozialen Gütern wie medizinischer Fürsorge, Bildung oder Marktfreiheit. Zwischen (1) und (2) gibt es keinen konzeptionellen Zusammenhang. Dworkin hat zu Recht Walzers deskriptiv relativistisches Verständnis von Gerechtigkeit (1) zurückgewiesen, die Bedeutung der Einsicht in den pluralistischen Wert sozialer Güter (2) für seine eigene Theorie aber übersehen: Ronald Dworkin, »What Justice Isn’t«, in: ders., A Matter of Principle, a. a. O., S. 214–220. 82
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Grundfreiheiten vor dem Unterschiedsprinzip mit einem reduktionistischen Verständnis sozialer Güter als Allzweckmittel 83 subjektiver Lebenspläne vereinbar ist, sowenig kann Dworkin seine Gerechtigkeitstheorie auf eine reduktionistische Werttheorie gründen. Beide Autoren müssen von der Prämisse des unterschiedlichen Werts sozialer Güter ausgehen, um wesentliche Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit begründen zu können. Wir müssen daher den Gleichheitsgedanken der Gerechtigkeitstheorie von Dworkin abstrakter formulieren. Welcher Begriff von Reziprozität entspricht im Anwendungsbereich sozialer Gerechtigkeit dem Begriff der Reziprozität als Toleranz? Dem Recht auf Anerkennung meiner Autonomie korrespondiert meine Pflicht zur Toleranz. Welche Rechte-Pflichten-Symmetrie gilt es im Begriff sozialer Gerechtigkeit zu entdecken? In Analogie zur Idee der Statusgleichheit im Kontext der politischen Gerechtigkeit können wir sagen: Meinem Anspruch auf bestimmte soziale Güter korrespondiert meine Pflicht zur sozialen Verantwortung. Ich darf meinen Anspruch auf ein bestimmtes Gut nicht in einer Weise einfordern oder verwirklichen, die die Ansprüche anderer auf soziale Güter in moralisch relevanter Weise beeinträchtigt. Das ist eine wesentlich komparative Gerechtigkeitsperspektive. Sie vergleicht die Ansprüche einer Person mit den Ansprüchen einer anderen. Grundlegender als der Gedanke gleicher Marktfreiheiten ist also die Idee der Statusgleichheit der Bürger, der jedes Verteilungsprinzip gerecht werden muss. Nach diesem Maßstab der Gerechtigkeit wird der Anspruch auf wirtschaftsliberale Freiheiten im Bereich der Gesundheitsfürsorge unter den genannten Bedingungen zu einem Anspruch auf soziale Macht. Der Modus der Verfügbarkeit bedingt die moralisch relevante Benachteiligung anderer Personen. 84 Die abstrakte Formulierung des Prinzips der Reziprozität umDer Wert der Gewissensfreiheit und der Wert des Besitzes von Vermögen ist für eine Person etwas grundsätzlich Verschiedenes, wenn sie mit Rawls der Überzeugung ist, dass diese Güter nicht kommensurabel sind. 84 Der Begriff der moralischen Relevanz verweist in diesem Beispiel auf einen nichtkomparativen moralischen Maßstab: Es ist ein moralisches Übel, wenn bedürftige Menschen keine medizinische Fürsorge erhalten. Daraus zu schlussfolgern, dass Gerechtigkeit niemals komparativer Natur sei, ist natürlich unsinnig. Wie sollten wir so die moralischen Ansprüche, die Personen wechselseitig aneinander richten, als gerecht oder ungerecht beurteilen? Die Unterscheidung zwischen komparativen und nichtkomparativen Gerechtigkeitsmaßstäben wird in dieser Arbeit nicht disjunktiv verstanden. 83
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fasst ebenso die anderen von Dworkin angeführten Beispiele: Der Einfluss reicher Bürger auf die Politik ist eine Anmaßung von Macht. Auch in diesem Beispiel hält Dworkin den politischen Einfluss aufgrund von Vermögen nur für ungerecht, wenn der gesellschaftliche Wohlstand ungleich und so die Möglichkeit der Einflussnahme ungleich verteilt ist. Aber auch hier gilt: Die Ungleichheit der Vermögensverteilung wird moralisch relevant, weil sie zur Oligarchie führt und so fundamentalen Prinzipien politischer Gerechtigkeit widerspricht. 85 Und schließlich: Die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen zugunsten von Arbeitnehmern sind genau dann kein Verstoß gegen die Vertragsfreiheit, wenn dadurch die Tauschfreiheit geschützt wird. Die Macht von Arbeitgebern, jede Form von Arbeitsbedingungen zu diktieren, verstößt gegen die Tauschgerechtigkeit, die voraussetzt, dass sich die Tauschpartner als Gleiche begegnen. Beide Parteien sollen einen äquivalenten Nutzen aus der Tauschbeziehung ziehen können. Die Entscheidungen des Supreme Court und das Plädoyer für den unbedingten Vorrang einer marktwirtschaftlich organisierten Krankenversicherung sind daher Ausdruck eines konservativen Wirtschaftsliberalismus, der Freiheit als einen absoluten, nichtkomparativen Maßstab begreift. Tatsächlich wird hier aber nicht der Wert der Freiheit, sondern der Wert sozialer Macht verteidigt. Antiegalitäre Freiheit ist die Freiheit, eigene Interessen gegen die Interessen anderer durchsetzen zu können. Ein solches Verständnis von Freiheit kann kein liberales sein.
Weshalb es auch absurd ist, diese politische Einflussnahme als ein Recht auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen. Hier muss von Macht, statt von Meinungsfreiheit die Rede sein.
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Ein liberales Verständnis sozialer Gerechtigkeit ist durch eine Idee der Gleichheit charakterisiert, die einer Auffassung absoluter Freiheit auf dem Markt entgegengesetzt ist. Der Liberalismus versteht Freiheit relational. Freiheit ist die Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür eines anderen; sie ist der Gegenbegriff zu Unterordnung und Vorherrschaft. Dworkin rückt die Idee eines egalitären Marktes ins Zentrum seiner Theorie der Ressourcengleichheit. Diese Idee ist nicht nur als gleiche Konsumentenautonomie definiert, sondern, so wurde seine Analyse des Zusammenhangs von Freiheit und Gleichheit im vorigen Kapitel rekonstruiert, auch als ein partnerschaftliches Marktmodell, das dem Gedanken egalitärer Tauschbeziehungen verpflichtet ist. Letzteres folgt aus dem grundlegenderen Gedanken der Statusgleichheit der Bürger. Durch dieses Modell lassen sich Einschränkungen von Marktfreiheiten rechtfertigen, die das Modell des Marktes als umfassendes Verteilungsverfahren von Ressourcen selbst in seine Schranken verweisen. Soziale Gerechtigkeit in diesem Sinne ist der ökonomischen Macht von Bürgern entgegengesetzt: der unbegrenzten unternehmerischen Freiheit auf dem Arbeitsmarkt, dem Einfluss von Reichtum im Gesundheitssystem und nicht zuletzt dem Einfluss des Geldes auf die Politik. Die Abgrenzung der Sphäre des Marktes von der Sphäre der Politik ist eine der grundlegendsten Forderungen der Gerechtigkeit überhaupt. Ungleicher politischer Einfluss aufgrund von Reichtum unterwandert den Status der Staatsbürger als Freien und Gleichen. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist daher nicht nur Gegenstand sozialer, sondern auch politischer Gerechtigkeit. Die Grenze zwischen der Sphäre des Marktes und der Sphäre der Politik wird von Dworkin durch ein besonderes Demokratiemodell markiert, das Demokratie als ein gemeinsames Unternehmen der Machtausübung von freien und gleichen Staatsbürgern versteht. Mit seinem Modell einer »partnerschaftlichen Demokratie« begründet er eine A
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fundamentale Forderung seiner politischen Philosophie: Ungleicher gesellschaftlicher Reichtum darf die politische Gleichheit der Staatsbürger nicht verletzen. Zur Beurteilung der Gerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung muss daher auf eine Idee politischer Gleichheit zurückgegriffen werden.
5.1 Statusgleichheit vs. Verteilungsgleichheit Was ist politische Gleichheit? Als grundlegend für seine politische Philosophie betrachtet Dworkin das abstrakte egalitaristische Prinzip: Es ist Aufgabe der Regierung, das Leben der Bürger zu verbessern. Jeder Bürger muss mit gleicher Rücksicht behandelt werden. Die Frage nach der politischen Gleichheit betrifft die Verteilung der Macht innerhalb des Staates. Dass der Egalitarismus nach einer demokratischen Regierungsform verlangt, statt nach einer Monarchie, einer Diktatur oder einer Oligarchie, ist, so Dworkin, nicht mehr begründungsbedürftig. Und: Die Frage nach der politischen Gleichheit betrifft die Regierungsform großer und komplexer Gesellschaften. Demokratisch lassen sich solche Gesellschaften nur repräsentativ regieren. Aber was heißt das? Welche Form der Demokratie ist einer egalitaristischen Gesellschaft angemessen? Die Idee, dass die politische Macht vom Volk ausgeht, dass die Rede- und Meinungsfreiheit geschützt wird usw., kann durch zwei Demokratiemodelle erklärt und gerechtfertigt werden. Das erste Modell ist ein teleologisches Konzept demokratischer Verfahrensgerechtigkeit, das Dworkin die dependent interpretation of democracy nennt. Die demokratische Form politischer Machtausübung ist gerecht, weil und insofern alle Mitglieder des Staates mit gleicher Rücksicht behandelt werden. Die wichtigsten demokratischen Verfahrensregeln, wie universelles Wahlrecht, freie Rede etc., sind ein Gebot politischer Gerechtigkeit, »because a community in which the vote is widely held and speech is free is more likely to distribute material resources and other opportunities and values in an egalitarian way.« 1 Nach diesem Modell schätzen wir an der Form demokratischer Machtausübung allein deren Konsequenzen. (Wir verfügen also über substantielle Kriterien der Gleichbehandlung der Mitglieder der politischen Gemeinschaft.) Demokratie ist ein Verfahren der po1
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litischen Machtausübung, das gewährleisten soll, dass die richtigen Entscheidungen getroffen, die richtigen Ergebnisse erzielt werden. Im Unterschied dazu ist die detached conception of democracy wertneutral gegenüber den Ergebnissen demokratisch erzielter politischer Entscheidungen. Dieses Modell ist ein reines Verfahrenskonzept der Demokratie. Nach der detached conception interessiert uns allein das Verfahren der politischen Machtausübung und Entscheidungsfindung als solches: Ist die politische Macht unter den Staatsbürgern gleich verteilt? Redefreiheit, universelles Wahlrecht, Meinungsfreiheit etc. sind gerechtfertigt, weil sie die politische Macht der Staatsbürger egalisieren. Wie immer die politischen Entscheidungen in einem demokratischen Verfahren ausfallen mögen, wenn alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft in einer gleichen Art und Weise am Entscheidungsverfahren beteiligt waren, ist die Entscheidung gerecht. Es gibt daher keine Kriterien gerechter Verfahrensergebnisse. Demokratie ist wesentlich eine Angelegenheit der Gleichverteilung von Macht über politische Entscheidungen. 2 Dworkin favorisiert das erste Demokratiemodell und hält das zweite für falsch. Die gleiche Macht der Staatsbürger über politische Entscheidungen sei kein intrinsischer Wert. Die These provoziert, weil sie der Demokratie scheinbar nur einen instrumentellen Wert beimisst. Wenn die Staatsbürger in einer Wohlfahrtstyrannei keinerlei politische Macht besitzen, das private Eigentum aber egalitärer verteilt ist als in jeder vergleichbaren Demokratie, dann wäre diese Staatsform nach der dependent conception gerecht. Diese Schlussfolgerung möchte Dworkin aber nicht ziehen und unterscheidet daher zwei Typen gerechter Ergebnisse demokratischer Entscheidungen: distributive Konsequenzen, die die Einkommensverteilung betreffen, und partizipatorische Konsequenzen. 3 Letztere verleihen der Gleichheit der Macht über politische Entscheidungen allererst ihren Wert. Die Staatsbürger erhalten durch ihr Recht auf Teilnahme an demokratischen Wahlen den symbolischen Status als freie und gleiche Mitglieder der demokratischen Gemeinschaft. Zu dieser Teilhabe zählt Dworkin nicht nur die »symbolischen Konsequenzen« des universellen Stimmrechts, sondern auch die Teilhabe als »moralisch Handelnder«. Darunter versteht er das Recht auf Partizipation an öffentlichen Diskussionen für oder gegen politische Entscheidungen. 2 3
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Und drittens soll die politische Gleichheit die Identifikation der Bürger mit politischen Entscheidungen fördern. Alle Staatsbürger sollen am »Stolz und an der Schande« politischer Entscheidungen teilhaben können. 4 Nach dem teleologischen Verfahrensmodell ist eine demokratische Verfassung also gerecht, wenn sie den Wert gleicher Mitgliedschaft zur politischen Gemeinschaft fördert und wenn sie materielle Ressourcen und Chancen in einer Weise verteilt, die alle Staatsbürger gleich behandelt. Den Unterschied beider Demokratiemodelle veranschaulicht Dworkin an folgendem Beispiel: »Suppose state electoral districts can be divided in such a way that residents of very poor urban districts could elect more representatives to the state legislature than they could if all districts contained the same number of residents. Assume that this districting arrangement in fact produces more just (because more genuinly egalitarian) political decisions, and also that it in no way deprives more prosperous residents of moral agency, symbolic recognition, or sense of community.« 5 Nach dem teleologischen Verfahrensmodell der Demokratie ist dieses Wahlverfahren gerechtfertigt. Gleiche politische Macht durch gleiches politisches Stimmrecht hat nur einen Wert, insofern es einen anderen Wert, die gleiche Mitgliedschaft und die egalitäre Ressourcenverteilung, fördert. Nach dem reinen Verfahrensmodell der Demokratie hingegen ist dieses Wahlverfahren ungerecht. Demokratie meint dieser Auffassung zufolge gleiches Stimmrecht der Bürger. Den Kern des prozeduralistischen Demokratieverständnisses bildet eine Metrik kollektiver Entscheidung. Der Nerv der Demokratie ist die Mehrheitsregel. Gleiche Macht über politische Entscheidungen ist das einzige und unabhängige Prinzip politischer Gerechtigkeit. Nach dieser Auffassung müssen wir jeden Eingriff in die Legitimität demokratischer Entscheidungen, z. B. durch ein Verfassungsgericht, als undemokratisch bezeichnen. 6 Dworkins Beispiel bezeichnet eine Art umgekehrte Diskriminierung: An sich ist es ungerecht, wenn Bürger ein ungleiches Stimmrecht besitzen. Aber die Maßnahme der ungleichen Stimmengewichtung durch die besagte Aufteilung der Wahldistrikte versteht Dworkin offenbar als Ausgleich für die besondere BenachDworkin nennt das die »communal consequences«. Er belässt es bei diesen »kryptischen« Andeutungen: ebd., S. 203. 5 Ebd., S. 188. 6 Ebd., S. 189. 4
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teiligung der durch Armut an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten. Die politische Gleichheit der Staatsbürger ist durch das gleiche Stimmrecht nicht hinreichend definiert. Warum genau ist das »districting arrangement« gerechtfertigt und was heißt gleiche Mitgliedschaft? Der Fehler der rein prozeduralistischen Auffassung der Demokratie werde deutlich, wenn der Begriff politischer Macht genauer analysiert wird. Macht ist ein relationaler Begriff; er beschreibt ein soziales Verhältnis zwischen mindestens zwei Personen. Macht hat eine Person, wenn sie ihren Willen gegenüber einer anderen Person geltend machen, oder ihren Willen einer anderen Person aufzwingen kann. 7 Wenn wir von politischer Macht reden, müssen zwei Perspektiven unterschieden werden: In der horizontalen Perspektive wird die Macht von Bürgern über politische Entscheidungen verglichen, die keine politischen Ämter innehaben (private citizens). Die vertikale Perspektive vergleicht die Macht von privaten Bürgern mit der Macht von politischen Amtsträgern, also Parlamentsabgeordneten, Regierungsangehörigen usw. 8 Soll nun Demokratie wesentlich in der gleichen Ausübung politischer Macht aller Staatsbürger bestehen, müssen beide Perspektiven berücksichtigt werden. In horizontaler Perspektive ist gleiche Macht über politische Entscheidungen kein hinreichendes Kriterium politischer Gerechtigkeit. »In totalitarian dictatorships private ctizens have equal political power: none.« 9 Wird aber die Forderung nach gleicher politischer Macht in der vertikalen Perspektive ergänzt, gerät das reine Verfahrensmodell der Demokratie mit der repräsentativen Demokratie in Konflikt. Kein wahlberechtigter Bürger hat die gleiche Macht über politische Entscheidungen wie ein Abgeordneter des Parlaments oder gar der gewählten Regierung. Das prozeduralistische Demokratiemodell scheint daher in einem Dilemma verstrickt zu sein: Entweder ist das Kriterium gleicher politischer Macht unzureichend, oder, wenn es beide Perspektiven berücksichtigt, ist die Forderung nach politischer Gleichheit zu radikal. 10 Letzteres ist ein einseitiges Machtverhältnis. Macht hat eine Person aber auch, wenn in einer kollektiven Entscheidung ihr Wille berücksichtigt werden muss. Die Unterscheidung beider Bedeutungen soll hier nicht vertieft werden. Wichtig ist nur, dass die Rede von gleicher Macht in der ersten Bedeutung unsinnig werden würde. 8 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 191. 9 Ebd. 10 Ebd. 7
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Aber es ist nicht selbstverständlich, unter politischer Machtgleichheit ausschließlich gleiches Stimmrecht zu verstehen. Das Dilemma verspricht sich aufzulösen, wenn der Begriff politischer Macht weiter differenziert wird. Bürger sind nicht nur dann an politischen Entscheidungen beteiligt, wenn sie Stimmrecht besitzen (impact), sondern auch dann, wenn sie Einfluss auf die öffentliche Diskussion über politische Entscheidungen haben (influence). Jemandes politischer Einfluss »is the difference he can make not just on his own but also by leading or inducing others to believe or vote or choose as he does.« 11 Die Unterscheidung zwischen impact und influence versöhnt das reine Verfahrensmodell der Demokratie mit der repräsentativen Demokratie. Das Stimmrecht eines Parlamentsabgeordneten wiegt ungleich schwerer als das eines privaten Bürgers. Beide haben einen ungleichen impact. Es macht aber Sinn, vertikale politische Gleichheit als ein Ideal zu formulieren, wenn darunter Gleichheit des politischen Einflusses verstanden wird. Wenn ein Parlamentsabgeordneter nur solche politischen Entscheidungen trifft, die die Mehrheit der von ihm repräsentierten Bürger für richtig hält, dann ist der politische Einfluss von Repräsentanten und Repräsentierten gleich. Aber auch in horizontaler Perspektive reicht die Forderung nach politischer Gleichheit im Sinne von impact nicht aus. Politische Partizipation besteht nicht nur im Wahlrecht. Wenn A und B gleiches Wahlrecht besitzen, aber B durch Zensur daran gehindert wird, seine politische Meinung öffentlich zu äußern, A hingegen nicht, dann können wir nicht sagen, dass beide die gleiche politische Macht besitzen. Daraus folgt, dass sowohl in vertikaler als auch horizontaler Perspektive unter Gleichheit politischer Macht auch politischer Einfluss verstanden werden muss. 12 Ist mit dieser Begriffsunterscheidung die Auffassung vom intrinsischen Wert gleicher politischer Macht gerettet? Das hängt davon ab, ob gleiche politische Einflussnahme von Bürgern ein erstrebenswertes Ziel ist. In vertikaler Perspektive ist der Wert gleicher politischer Einflussnahme unvereinbar mit der Macht von Verfassungsrichtern oder der Wahl von Repräsentanten auf Zeit. 13 Nach Ebd. Ebd., S. 193. 13 Die also in der Legislaturperiode von den Repräsentierten weitgehend unabhängig sind. 11 12
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dem prozeduralistischen Demokratieverständnis bleibt also auch vor dem Hintergrund der Unterscheidung von impact und influence die konstitutionelle repräsentative Demokratie in wichtigen Hinsichten undemokratisch. Der Vertreter der Verfahrensdemokratie kann die repräsentative konstitutionelle Demokratie entweder als politisch ungerecht verwerfen oder sie als Kompromiss rechtfertigen: Das politische System muss nicht nur gerecht, sondern auch effizient und stabil sein. 14 Dworkin interessiert sich aber für diesen Einwand gegen den intrinsischen Wert gleicher politischer Macht in der vertikalen Perspektive nicht. Er fragt vielmehr, was die Forderung nach gleicher politischer Einflussnahme in horizontaler Perspektive bedeutet. In dieser Hinsicht scheint die Gleichheit des politischen Einflusses ein erstrebenswertes Ideal zu sein. Es scheint unserer Überzeugung zu entsprechen, dass beispielsweise ungleicher politischer Einfluss durch Wahlkampfspenden reicher Bürger ungerecht ist. Es gibt, so Dworkin, zwei Möglichkeiten, die Ungerechtigkeit des ungleichen politischen Einflusses durch Reichtum zu begründen: zum einen, indem man auf den intrinsischen Wert gleicher politischer Einflussnahme verweist. Es ist also der ungleiche politische Einfluss als solcher, der ungerecht ist. Zum anderen aber lässt sich die Ungerechtigkeit dadurch begründen, dass die besondere Ursache des ungleichen politischen Einflusses ins Auge gefasst wird. Nach der zweiten Möglichkeit ist es nicht der ungleiche politische Einfluss als solcher, der ungerecht ist. Die intrinsische Ungerechtigkeit besteht vielmehr in der ungleichen Vermögensverteilung. »We can say, for example, that it is unjust that some people have as much money as a Rockefeller because that violates the distributive principles of equality, and than add that the disproportionate political influence their wealth gives them is a particularly deplorable consequence of the injustice because it allows them, among other things, to perpetuate and multiply their unfair advantages.« 15 Dworkin hält nur die zweite Begründung der Ungerechtigkeit der politischen Einflussnahme durch Reichtum für überzeugend. Stellen wir uns vor, das Eigentum der Staatsbürger wäre weitgehend gleich verteilt. Unter dieser Bedingung muss der politische Einfluss der Bürger nicht gleich sein. Vielleicht investieren manche Bürger mehr Geld in Wahlkampf- oder Parteispenden als andere. Oder sie 14 15
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 194. Ebd., S. 195. A
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erzielen aufgrund ihrer Rhetorik, ihrer Tugend oder der Überzeugungskraft ihrer Argumente eine größere öffentliche Aufmerksamkeit und so einen größeren politischen Einfluss. Wer der Überzeugung ist, dass Gleichheit politischer Einflussnahme ein intrinsischer Wert sei, muss konsequenterweise jede dieser Ungleichheiten als ungerecht verurteilen, auch wenn das Eigentum der Bürger gleich verteilt ist. 16 Dworkin wählt ein zweites Beispiel, um den intrinsischen Wert der Gleichheit politischer Macht als Einflussnahme zurückzuweisen: Frauen haben einen geringeren Einfluss auf die Politik. Soll Gleichheit politischer Macht ein intrinsischer Wert sein, ist mit diesem Satz bereits die Ungerechtigkeit benannt. Daraus folgt als politisches Ideal die Forderung nach gleichem Einfluss von Männern und Frauen auf die Politik. Aber auch in diesem Beispiel sei nicht der ungleiche Einfluss ungerecht, sondern die Ursache der Machtungleichheit, »that the smaller influence women now have is the result of a combination of economic injustice, stereotype, and other forms of oppression and prejudice, some of which, perhaps, are so fundamental as to be carried in the community’s culture.« 17 Der geringere politische Einfluss einer gesellschaftlichen Gruppe ist ungerecht, wenn er das Resultat einer intendierten gesellschaftlichen Diskriminierung ist. Stellen wir uns vor, die Diskriminierung wäre beseitigt. Wenn nun ungleicher politischer Einfluss zwischen Männern und Frauen in der einen oder anderen Richtung bestehen würde, wäre dann die Forderung nach durchschnittlich gleichem politischen Einfluss eine vernünftige Forderung politischer Gerechtigkeit? Dworkins rhetorische Frage kann verneint werden. Gleichheit der politischen Einflussnahme als Ziel kann kein demokratisches Ideal sein, wenn Demokratie als ein vernünftiges Verfahren der politischen Entscheidungsfindung verstanden wird. Politische Entscheidungen sollen das Ergebnis öffentlicher Argumentation sein. Sie müssen sich gegenüber den Interessen der Bürger gleichermaßen rechtfertigen lassen. Das ist ihr Vernunftanspruch. Dieses Ideal deliberativer Demokratie ist mit dem Ziel gleicher politischer Einflussnahme unvereinbar. Wenn wir Letzteres erstreben wollten, müssten wir z. B. Journalisten die Arbeit verbieten. Gleichwohl hat Dworkins Argumentation etwas Skandalöses. Anders als das zweite Beispiel ist das erste nicht ohne weiteres plau16 17
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sibel. Der ungleiche politische Einfluss durch Wahlkampfspenden sei moralisch nicht zu beanstanden, wenn das Eigentum der Bürger in einer Weise verteilt wäre, die alle Bürger gleich behandelt. 18 »But if resources were distributed equally, limits on campaign expenditure would be inegalitarian because they would prevent some people from tailoring their resources to fit the lives they wanted though leaving others, who had less interest in politics, free to do so.« 19 Die Begrenzung von Wahlkampfspenden wäre in diesem Fall zudem pervers, weil sie die Gleichheit politischen Einflusses zugunsten derjenigen schützen würde, die nur geringen Wert auf ihren politischen Einfluss legen. Ungleicher Vermögensbesitz ist nicht ungerecht, weil und insofern er reichen Bürgern die Kontrolle über die Politik erlaubt. Dworkin dreht den Spieß um! Der Einfluss auf die Politik durch privates Eigentum ist ungerecht, weil und insofern die Eigentumsverteilung ungleich ist. Derart räumt Dworkin der egalitären Distribution materieller Güter einen geltungslogischen Vorrang gegenüber der Gleichheit politischer Macht, dem egalitären Status der Staatsbürger, ein. Aber wird dadurch die Grenze zwischen der Sphäre der Politik und der Sphäre des Marktes nicht eingeebnet? Politische Entscheidungen erhalten den Charakter einer Auktion. Wer – unter der Bedingung gleicher Kaufkraft – das meiste bietet, bestimmt die Politik. Dworkin degradiert mit diesem Argument die politische Einflussnahme durch Geldspenden zu einer Ware. Das kann man als die Krämerkonzeption der Demokratie bezeichnen. Begrenzungen von Wahlkampfspenden beschränken ganz allgemein die Möglichkeit, für eine Sache soviel Geld auszugeben, wie es der subjektiven Wertschätzung entspricht. Es ist diese Konsumentenfreiheit, die Dworkin durch die ungleiche Vermögensverteilung bedroht sieht. Mit politischer Gleichheit hat das selbstverständlich nichts mehr zu tun. Nicht die gleiche politische Macht ist der intrinsische Wert, den Dworkin ins Felde führt, sondern die gleiche Kaufkraft der Bürger. Hier wird die Frage zwingend, ob wir der politischen Machtgleichheit der Staatsbürger tatsächlich nur einen instrumentellen Wert beimessen dürfen. Allerdings hat Dworkin dieses Argument selbst nicht allzu ernst genommen. Er entwickelt vielmehr ein zweites Argument, das Begrenzungen von Wahlkampfspenden als eine Forderung politischer 18 19
Letzteres meint das Kriterium der Ressourcengleichheit. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 197 (Hervorhebung von mir). A
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Gerechtigkeit rechtfertigen soll. Wo also endet die legitime politische Einflussnahme durch monetäre Zuwendungen? Dworkin unterscheidet wie gesagt zwei Demokratiemodelle: Das rein prozeduralistische Modell messe der politischen Machtgleichheit einen intrinsischen Wert bei, das teleologische Modell hingegen nicht. Hier steht der Wert gleicher Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft im Zentrum. Aber diese Unterscheidung ist fragwürdig. Können wir den egalitären Status der Staatsbürger definieren, ohne auf den Begriff der Macht zu rekurrieren? Was heißt gleiche Mitgliedschaft, wenn nicht wesentlich gleiche Beteiligung an Prozessen demokratischer Entscheidungsfindung? Jede Konzeption der Demokratie gründet, wie Joshua Cohen erinnert, auf dem Status der Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft. Von einer Idee freier und gleicher Staatsbürger hängt ab, was es bedeutet, dass eine politische Entscheidung kollektiv getroffen wird, also Ausdruck des allgemeinen Willens ist. 20 Wird der Staatsbürgerstatus durch eine konkrete Theorie ethischen Werts definiert, z. B. durch die Allgemeinverbindlichkeit einer religiösen Lehre, kann keine demokratische Entscheidung gut sein, die dieser Auffassung ethischen Werts zuwiderläuft. Illiberale Konzeptionen der Demokratie besitzen also substantielle Kriterien, nach denen die Ergebnisse eines demokratischen Entscheidungsverfahrens zu bewerten sind. 21 Nach liberaler Auffassung gibt es keine allgemeinverbindliche Theorie des Guten. Moderne Gesellschaften sind durch einen ethischen Pluralismus gekennzeichnet. Die liberale Demokratie gründet auf der Idee von Staatsbürgern, die sich als ethisch autonom verstehen. Sie sind in dem Maße frei, als keine konkrete Theorie des Guten die Mitgliedschaft zur politischen Gemeinschaft definiert. Sie sind gleich, insofern allen Staatsbürgern die Fähigkeit der Teilnahme an Verfahren der politischen Entscheidungsfindung zugeschrieben wird. 22 Aus der Idee ethischer Autonomie folgt aber nicht, so Cohen, dass die liberale Demokratiekonzeption rein prozeduralistisch, als normativ neutral gegenüber den Ergebnissen demokratischer EntJoshua Cohen, »Procedure and Substance in Deliberative Democracy«, in: Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political, hrsg. von Seyla Benhabib, Princeton 1996, S. 95–119; hier S. 95. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 96. 20
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scheidungsprozeduren, aufgefasst werden müsste. Cohen vertritt das Konzept einer deliberativen Demokratie: »The deliberative conception of democracy is organized around an ideal of political justification. According to this ideal, justification of the exercise of collective political power is to proceed on the basis of a free public reasoning among equals.« 23 Deliberative Demokratie verlangt nach einem institutionellen Rahmen, der nicht nur die gleichen positiven Freiheiten, die politischen Partizipationsrechte wie Wahlrecht und Redefreiheit, garantiert. Demokratische Entscheidungen, ob durch das Parlament oder die Bürger selbst, so das Ideal, sollen vernünftig begründet und nicht nur das Ergebnis demokratischer Abstimmungsverfahren sein. Demokratischen Wahlen müssen öffentliche Diskussionen über die Belange der politischen Gemeinschaft vorausgehen. Die Idee der öffentlichen Vernunft ist ein moralischer Begriff: Die Bürger erkennen sich wechselseitig als Gleiche an, indem sie einander Gründe für oder gegen politische Entscheidungen nennen, die der jeweils Andere akzeptieren kann, ohne dass er seine konkrete Idee des Guten verletzt sieht. 24 In diesem Sinne sind die liberalen Grundfreiheiten wie Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit etc. Verfahrensregeln, die die Bürger zwingen in politischen Entscheidungsprozeduren den Standpunkt des jeweils Anderen als gleichwertig anzuerkennen. Jemand, der das Ideal deliberativer Demokratie akzeptiert, »cannot accept as a reason within that process that some are worth less than others or that the interests of one group are to count for less than those of others.« 25 Die liberalen Grundfreiheiten sind nach der Konzeption deliberativer Demokratie nicht als vorpolitische Rechte zu verstehen. Sie können zwar nicht das Ergebnis eines demokratischen Rechtsetzungsprozesses sein, insofern sind sie der politischen Autonomie der Bürger entzogen. Aber sie sind Ausdruck einer Idee sozialer Beziehungen zwischen den Staatsbürgern in einer demokratischen Ordnung. Die liberalen Grundfreiheiten bestimmen den besonderen egalitären Charakter der deliberativen Demokratie. Politische Entscheidungen müssen mit Gründen gerechtfertigt werden können, die von allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft akzeptiert werden können, vor dem Hintergrund eines vernünftigen Pluralismus unterschiedlicher Weltanschauungen und ethischer Üb23 24 25
Ebd., S. 99. Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 312–366. Ebd., S. 101. A
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erzeugungen. 26 Die liberalen Grundfreiheiten verpflichten die Bürger selbst zur weltanschaulichen Neutralität in der gemeinsamen Ausübung demokratischer Macht. 27 Die negativen Freiheiten des Liberalismus »express the equal standing of citizens as members of the collective body whose authorization is required for the legitimate exercise of public power.« 28 Die Legitimität politischer Entscheidungen findet in der Freiheit des Subjekts ihre Grenze. Die Forderung nach der wechselseitigen Anerkennung der Staatsbürger als gleichberechtigte Adressaten öffentlicher Rechtfertigung ist ein inkludierendes Prinzip. Gleiche Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft meint also hier die Einschränkung demokratischer Macht auf weltanschauliche Neutralität. Das ist eine negative Definition gleicher politischer Macht der Staatsbürger. Das von Dworkin skizzierte prozeduralistische Demokratiemodell ist nicht deswegen falsch, weil es auf dem intrinsischen Wert gleicher politischer Macht gründet, sondern weil es darunter einseitig verkürzend ausschließlich gleiches Stimmrecht versteht. Die Grenzen einer solchen reduzierten Auffassung von staatsbürgerlicher Gleichheit werden deutlich, wenn wir Cohens egalitäres Demokratiemodell mit einem Grundgedanken der Demokratietheorie von Habermas vergleichen. Habermas vertritt eine Auffassung der Demokratie, die die Freiheiten der Modernen, die liberalen Grundfreiheiten, mit den Freiheiten der Alten, den politischen Partizipationsrechten, in einer besonderen Art und Weise versöhnen soll. Beide Freiheitskonzeptionen sind Habermas zufolge als »gleichursprünglich« aufzufassen, daher ist für ihn sowohl ein Rechtsstaat ohne Demokratie als auch eine Demokratie ohne Rechtsstaat Ausdruck eines amputierten Freiheitsverständnisses. 29 Habermas’ Rede von einer Gleichursprünglichkeit negativer liberaler Freiheiten und positiver politischer Freiheiten bleibt aber unklar, weil er nicht genau zwischen den Trägern negativer und positiver Freiheitsrechte unterscheidet. So sind zwar Individuen Träger Ebd., S. 102. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Dworkins Liberalismusdefinition in »Liberalism« (a. a. O.). Dort ist es der Staat, der gegenüber den Weltanschauungen der Bürger neutral zu sein hat. Diese Definition lässt aber die Frage nach der Souveränität unbeantwortet. Sie lässt sich auch auf einen Rechtsstaat ohne Demokratie anwenden. 28 Joshua Cohen, a. a. O., S. 105. 29 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1998, Kap. 3. 26 27
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von Stimmrechten, Rederechten usw., aber die politische Autonomie ist eine wesentlich kollektive Freiheit. Volkssouveränität ist ein kollektiver Begriff. Genau darin liegt der normative Konflikt beider Freiheitskonzeptionen, die sich als individuelle und kollektive Freiheit wechselseitig einschränken. Die Diskursethik ist eine ihrer Tendenz nach kollektivistische Ethik, insofern sie die Quelle normativer Gültigkeit einem moralischen Diskurs überantwortet, der faktisch von den von moralischen Konflikten Betroffenen durchgeführt werden muss. 30 Dementsprechend ist auch Habermas’ Demokratietheorie tendenziell einem normativen Kollektivismus verpflichtet, insofern der Ursprung der Legitimität subjektiver Rechte wie der liberalen Grundfreiheiten zum Teil einem demokratischen Rechtsetzungsverfahren überantwortet wird, das freilich zum anderen Teil durch diese Rechte wiederum eingeschränkt werden soll. »Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können; sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können«. 31 Die Rede von einem moralischen Paternalismus macht aber nur Sinn vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Volkssouveränität, das gerade nicht durch die moralische Idee von Staatsbürgern als Freien und Gleichen gekennzeichnet ist, sondern einer »Mehrheitskonzeption« der Demokratie entspricht, deren normative Prämissen sich bestenfalls im gleichen Stimmrecht der Bürger erschöpfen. Niemand kann sich seinen Status als freies und gleiches Mitglied der politischen Gemeinschaft selbst verleihen. Eine moralische Idee wie die staatsbürgerliche Freiheit und Gleichheit kann nicht gleichzeitig moralisch gültig und nicht gültig sein, sie kann auch nicht zu einem Teil normativ gültig, zu einem anderen Teil aber nicht gültig sein. Die von Habermas ins Feld geführte Freiheit des Souveräns von moralischer Bevormundung gerät also mit dem Ideal der sozialen Beziehung von Staatsbürgern als Freien und Gleichen in Konflikt, das nach Cohen das Telos der deliberativen Demokratie ist. Die Kantische Statusgleichheit der Bürger als RechtsVgl. Jürgen Habermas, »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 53– 126. 31 Jürgen Habermas, »Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie«, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zu politischen Theorie, Frankfurt/M, 1999, S. 293–305; Zitat S. 301. 30
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genossen verlangt, dass niemand die Macht besitzt, über die gleichwertige Zugehörigkeit von Bürgern zur politischen Gemeinschaft willkürlich verfügen zu können. Dworkins favorisierte Demokratiekonzeption ist wie die Cohens ein Modell teleologischer Verfahrensgerechtigkeit. Er argumentiert für eine Abgrenzung der Sphäre des Politischen von der Sphäre des Marktes vor dem Hintergrund eines besonderen normativen Zusammenhangs von politischen Partizipationsrechten und der Idee der Volkssouveränität. Das demokratische Verfahren der Ausübung politischer Macht wird nach seinen Ergebnissen beurteilt. Die Staatsbürger sollen als Freie und Gleiche die Autoren politischer Entscheidungen sein. Dworkin unterscheidet zwischen distributiven Werten und Werten der Zugehörigkeit, an denen die Ausübung demokratischer Macht zu messen ist. Demokratische Machtausübung soll also nicht nur danach beurteilt werden, ob sie zu einer gerechten Verteilung sozioökonomischer Güter führt. Ein solches rein instrumentelles Verständnis von Demokratie steht hinter Dworkins These von der geltungslogischen Vorrangigkeit distributiver Gütergleichheit vor der Idee politischer Gleichheit. Dem widerspricht aber seine egalitaristische Auffassung von Demokratie als einem Ideal politischer Gerechtigkeit: Politische Entscheidungen müssen den Wert staatsbürgerlicher Gleichheit verwirklichen. So gründet sich nach Dworkin das Recht auf gleiches Stimmrecht auf den demokratischen Wert der gleichen Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Ersteres ist ein Prima-facie-Recht. Es ist genau dann normativ gültig, wenn dadurch der Wert gleicher Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht wird. So ist es für Dworkin wie gesagt ein Gebot der politischen Gerechtigkeit, durch unterschiedliche Gewichtung von Wahldistrikten ökonomisch stark benachteiligten Bürgern einen größeren politischen impact zu ermöglichen. Eine solche Maßnahme ist also um der Inklusion an den gesellschaftlichen Rand gedrängter Bürger willen gerechtfertigt. Eine graduelle Abweichung vom Recht auf gleiches Stimmrecht darf aber nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass Staatsbürger als von geringerem Wert oder als zweitrangige Mitglieder betrachtet werden. 32 Dworkins Argument ist so zu verstehen, dass das gleiche Stimmrecht der Bürger eine Forderung politischer Gerechtigkeit ist, weil sich darin die gleiche politische Macht der Bürger manifestiert, aber nicht erschöpft. Daher kann eine ungleiche Stimmengewichtung von 32
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Wahldistrikten genau dann zulässig sein, wenn dadurch andere Ungleichheiten hinsichtlich der politischen Macht korrigiert werden können. Vollwertige Mitglieder der politischen Gemeinschaft sind Bürger nicht schon dann, wenn sie ein Recht auf Teilnahme an Wahlverfahren besitzen. Staatsbürger einer Demokratie verstehen sich darüber hinaus als moralisch Handelnde, die sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen wollen, um andere Bürger für oder gegen politische Entscheidungen mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen. Dworkins Unterscheidung von impact und influence macht deutlich, dass er ein deliberatives Demokratiemodell vertritt, das aber nun aus der Perspektive der Autoren der politischen Machtausübung und deren Rechtfertigung und nicht aus der Perspektive der Adressaten beleuchtet wird. Der Wert gleicher Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft drückt sich nicht nur darin aus, dass Bürger als Adressaten öffentlicher Rechtfertigung anerkannt werden müssen. Sie müssen auch selbst aktiv am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen können. Der Wert moralischen Handelns der Staatsbürger verlangt daher nicht nur nach den liberalen Grundfreiheiten, sondern z. B. ebenso nach einem erfolgreichen Zugang zu öffentlichen Medien, um jeder Person, wenn sie es wünscht, eine faire Chance des politischen Einflusses zu ermöglichen. Moralisches Handeln »is possible for all citizens in politics only if each has an opportunity to make some difference.« 33 Unter politischer Gleichheit ist also nicht der gleiche politische Einfluss der Bürger als Ziel zu verstehen, sondern die Chancengleichheit der Partizipation an Prozessen der öffentlichen Entscheidungsfindung. Erst durch die Chancengleichheit des politischen Einflusses erwerben die Staatsbürger neben dem universellen Stimmrecht den Status als vollwertige Mitglieder der politischen Gemeinschaft. Das Demokratiemodell, das Dworkin skizziert, ist also unvereinbar mit der unbegrenzten Möglichkeit des politischen Einflusses durch Partei- und Wahlkampfspenden. Der zentrale Wert gleicher Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft hat geltungslogischen Vorrang gegenüber dem Ziel der Verteilungsgerechtigkeit sozialer Güter. Ungleicher gesellschaftlicher Reichtum ist politisch ungerecht, wenn er den gleichen Status der Staatsbürger untergräbt. 33
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Dworkin zeichnet so eine autonome Sphäre des Politischen gegenüber dem freien Markt. Die Grenze beider Sphären wird durch ein besonderes Modell der Demokratie konstituiert. Nur wenn wir die Demokratie als ein gemeinsames Unternehmen der Machtausübung von freien und gleichen Staatsbürgern verstehen, haben wir einen Grund, politische Einflussnahme durch Reichtum zurückzuweisen und so privates Eigentum und politische Macht voneinander abzugrenzen. Im zehnten Kapitel von »Sovereign Virtue« widmet sich Dworkin ausführlich der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes im Fall Buckley v. Valeo, in dem die Richter die Verfassungswidrigkeit der Begrenzung von Wahlkampfspenden feststellten. Die Konsequenzen dieses Urteils für die politische Praxis beurteilt er als verhängnisvoll. Das Urteil bedeute einen dramatischen Verlust an Demokratie für die Vereinigten Staaten. Zur Begründung greift Dworkin ausschließlich auf ein egalitaristisches Demokratiemodell zurück. Deutlich wird so eine der grundlegendsten Forderungen der politischen Philosophie Dworkins: Ungleicher gesellschaftlicher Reichtum darf die politische Gleichheit der Staatsbürger nicht verletzen.
5.2 Dworkins »partnerschaftliches« Demokratiemodell Die amerikanische Politik wird durch Wahlkampfspenden dominiert. Wahlentscheidend ist mehr und mehr die finanzielle Ausstattung der Kandidaten, um ihre Kampagnen zu finanzieren. Der Kandidat, der die meisten Geldspenden eintreiben kann, gewinnt. So jedenfalls könnte man übertreibend das wirksame Demokratieprinzip benennen. »Officials begin raising money for the next election the day after the last one, and often put more time and industry into that task than into those for which they were elected.« 34 In dem Maße, in dem ein Politiker auf Wahlkampfspenden angewiesen ist, um überhaupt Wahlen gewinnen zu können, in dem Maße ist er von reichen Unterstützern abhängig, die so Einfluss auf die politischen Entscheidungen ihres Kandidaten gewinnen. Gegen diese Korrumpierung der Demokratie erließ der Kongress der Vereinigten Staaten 1974 unter dem Eindruck der Watergate-Affaire ein Gesetz, das die Höhe der Ausgaben für Wahlkampagnen begrenzen sollte. Aber nur zwei Jahre 34
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später hob der Supreme Court dieses Gesetz als verfassungswidrig auf. Expenditure limits seien verfassungswidrig, so die Begründung, weil sie gegen das First Amendment der Verfassung verstießen: Der Kongress darf kein Gesetz verabschieden, das die Rede- oder Versammlungsfreiheit verletzt. Die Richter des Supreme Court waren der Überzeugung, dass es das verfassungsmäßige Recht eines jeden Politikers oder irgendeines anderen Bürgers sei, soviel Geld für die eigene politische Überzeugung auszugeben, wie er will. Das folge aus dem Recht auf Redefreiheit eines jedes Bürgers. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs war falsch, so Dworkin. Aber anders als im Kapitel »The Place of Liberty« 35 sieht Dworkin den Grund für diese Fehlauslegung der amerikanischen Verfassung nicht in einem fehlerhaften Freiheitsverständnis, das Freiheit und Gleichheit als konkurrierende Werte begreift. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs drücke sich vielmehr ein falsches Demokratieverständnis aus. Die philosophische Frage lautet nun: Wie verhält sich das Recht auf Redefreiheit zur politischen Gleichheit? Der Supreme Court vertrat die Auffassung, dass das Recht auf Redefreiheit nur aus ganz bestimmten Gründen eingeschränkt werden dürfe, wenn z. B. die nationale Sicherheit bedroht sei. Es sei aber in jedem Fall verfassungswidrig, wenn die Regierung das Recht auf Redefreiheit begrenzen wollte, um die Demokratie zu schützen oder um das Rederecht anderer Bürger zu stärken, »restricting ›the speech of some elements of our society in order to enhance the relative voice of others is wholly foreign to the First Amendment.‹« 36 Sowohl der Kongress, als er das die Höhe der Wahlkampfspenden begrenzende Gesetz erließ, als auch die Richter des Obersten Gerichtshofs, die das Gesetz aufhoben, waren der Überzeugung, die Demokratie zu verteidigen. Die Richter handelten aus der Überzeugung, dass die Beschränkung der Redefreiheit durch die Regierung zum Schutze der Demokratie verhindert werden muss. Wie wir die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes bewerten, hängt also davon ab, welches Demokratieverständnis wir zugrundelegen. Dworkin unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Modelle der Demokratie: Nach der »Mehrheitskonzeption« bedeutet die Idee der Volkssouveränität die Machtausübung durch den größten Teil des Volkes. »On this majoritarian view, the democratic ideal lies in a 35 36
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match between political decision and the will of the majority or plurality of opinion.« 37 Nach der anspruchsvollen Version der Mehrheitskonzeption zählt als Mehrheitswille nicht einfach die faktische Mehrheitsmeinung des Volkes. Ein Staat wird erst dann demokratisch regiert, wenn seine Institutionen den Bürgern die Möglichkeit einräumen, frei eigene politische Ansichten und Überzeugungen zu bilden. Bürger haben also ein Recht auf freien Zugang zu allen relevanten Informationen und das Recht, öffentliche Angelegenheiten zu diskutieren. Als Mehrheitswille zählt nur ein informierter und reflektierter, ein vernünftiger Wille. 38 Dem stellt Dworkin eine egalitaristische Demokratiekonzeption gegenüber, die er die »Partnerschaftskonzeption« nennt. »According to the partnership conception, government by ›the people‹ means government by all the people, acting together as full and equal partners in a collective enterprise of self-government.« 39 Der Unterschied beider Modelle liegt in der stärker aktiven Rolle von Staatsbürgern der Partnerschaftsdemokratie. Sie sind zum einen (1) die Richter politischer Wettkämpfe, deren Urteile in Wahlen oder anderen Formen direkter Legislation über die Politik entscheiden sollen. Bürger bilden in diesem Sinne »die öffentliche Meinung«. Zum anderen (2) sind sie aber auch die Teilnehmer an den politischen Diskussionen, die sie zu beurteilen haben: »they are candidates and supporters whose actions help, in different ways, to shape public opinion and to fix how the rest of the citizens vote.« 40 Nach der Mehrheitskonzeption der Demokratie besteht die Rolle von Staatsbürgern wesentlich in (1). Bürger sind informierte und reflektierte Wähler. Die Partnerschaftsdemokratie hingegen versteht unter dem Staatsbürgerstatus sowohl (1) als auch (2): »in a true democracy citizens must play a part, as equal partners in a collective enterprise, in shaping as well as constituting the public’s opinion.« 41 Für beide Demokratiemodelle ist eine informierte und reflektierte öffentliche Meinung für die Legitimität politischer Entscheidungen konstitutiv. Das Recht auf freie Rede ist daher für beide Demokratiemodelle ein urdemokratisches Recht. Aber nur in der Partnerschaftsdemokratie ist dieses Recht ein egalitäres! 37 38 39 40 41
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Dworkins »partnerschaftliches« Demokratiemodell
Wenn wir Anhänger der Mehrheitskonzeption wären, welche argumentativen Ressourcen stünden uns zur Verfügung, die Entscheidung des Obersten Gerichthofs zu kritisieren? Wir könnten z. B. ein konsequentialistisches Argument vorbringen: Gute demokratische Institutionen sollen dazu führen, dass Bürger Wahlentscheidungen in ihren wahren und authentischen Interessen treffen. Dieses Ideal, so ließe sich das Argument weiterführen, verlangt, dass allen Parteien und Kandidaten in den Medien die gleiche Zeit zur Verfügung stehen muss, um die Wähler von ihrer Sache zu überzeugen. Das würde den Bürgern die beste Chance eröffnen, sich eine freie Meinung zu bilden. Das konsequentialistische Argument leidet aber darunter, dass es bereits vor der öffentlichen Deliberation und den darauf folgenden Wahlverfahren bestimmen muss, was die wahren und authentischen Interessen von Bürgern sind. Einschränkungen der Redefreiheit von politischen Kandidaten oder die Begrenzung von Wahlkampfspenden durch ein solches Argument zu begründen, liefe also auf eine paternalistische Zensur hinaus. 42 Wir könnten aber auch eine deontologische Argumentationsstratgie wählen, die auf Annahmen eines gerechten Diskursverfahrens (»conditions of good reasoning«) beruht: »We might argue that the public will reason better if it hears no more from one side than from the other.« 43 So ließe sich eine gleichmäßige Begrenzung der Höhe von Wahlkampfspenden begründen. Auch das hat aber offensichtlich den Charakter der Zensur. Die Begrenzung kann dazu führen, dass Wählern Informationen vorenthalten werden, die ihnen wichtig sind. 44 Beide Argumentationsstrategien widersprechen der Grundannahme der Mehrheitskonzeption der Demokratie, dass die informierte und reflektierte Meinung der größten Zahl des Volkes im Letzten die Souveränität über politische Entscheidungen haben soll. Bürger sind nach dieser Auffassung vollständig autonom, wenn sie eigene Wahlentscheidungen aus eigener Einsicht treffen können, welche Politik die beste und vernünftigste ist. Es sind daher die Bürger selbst, die die Kontrolle über den politischen Diskurs haben müssen. Einschränkungen des Rechts auf Redefreiheit kann die Mehrheitskonzeption nur aus der Perspektive der Staatsbürger in ihrer 42 43 44
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Rolle als Rezipienten und Richter des politischen Diskurses beurteilen. Aus dieser Perspektive bedeutet jede Einschränkung der Redefreiheit eine Begrenzung meiner Möglichkeit, Informationen zu erhalten und zu bewerten. Die Beschränkung dieses Rechts ist daher nur durch ganz bestimmte Gründe legitimierbar, z. B. die nationale Sicherheit oder die private Reputation. Das Recht auf Redefreiheit begreift die Mehrheitskonzeption der Demokratie nur als Abwehrrecht gegenüber dem Staat. Die Regierung muss daran gehindert werden den politischen Diskurs zu kontrollieren. Es ist also nicht kohärent, Anhänger der Mehrheitskonzeption zu sein und zugleich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu kritisieren. 45 Wir müssen uns aber die Frage stellen, so Dworkin, was eigentlich gut ist an der Demokratie. Der Fehler der Mehrheitskonzeption liege darin, dass sie die Machtausübung einer (informierten und reflektierten) Mehrheit des Volkes zum intrinsischen Grund politischer Legitimation erklärt. Es ist aber nichts »inherently valuable about a process that allows a larger number of people to impose its will on a smaller number.« 46 Die Mehrheitsregel ist hingegen genau dann gerecht, wenn alle Staatsbürger den vollen Status als gleiche Teilnehmer am Verfahren der Ausübung der politischen Macht besitzen. Die Mehrheitsregel ist nur im Partnerschaftsmodell ein legitimes Prinzip demokratischer Machtausübung: »On the partnership conception, intitutions are democratic to the degree that they allow citizens to govern themselves collectively through a partnership in which each is an active and equal partner.« 47 Die Partnerschaftsdemokratie gründet auf drei Ideen politischer Gerechtigkeit: Da ist zum einen der Gedanke der Volkssouveränität. Darunter versteht Dworkin die Beziehung zwischen der Öffentlichkeit als ganzer und den verschiedenen Amtsträgern, die die Regierung bilden. »Partnership democracy demands that the people rather than the officials be masters.« 48 Auch die Mehrheitskonzeption ist der Idee der Volkssouveränität verpflichtet. Aber sie versteht diesen Gedanken nicht als Beziehung zwischen dem Volk als ganzem und seiner Regierung. Die Regierung handelt nach dieser Auffassung nur im Auftrag des Mehrheitswillen des Volkes. Die Partnerschaftsdemokratie 45 46 47 48
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Ebd., S. 362. Ebd., S. 363. Ebd. Ebd.
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Dworkins »partnerschaftliches« Demokratiemodell
schränkt den Mehrheitswillen durch Grundrechte ein, die grundlegende Interessen der unterlegenen Minderheit schützen. Die zweite grundlegende Idee der Partnerschaftsdemokratie ist die staatsbürgerliche Gleichheit. Die Bürger sind nicht nur als Kollektiv der Souverän, sondern auch als Individuen, indem sie aktiv am politischen Wettstreit teilnehmen, den sie als Wähler zu beurteilen haben. Staatsbürgerliche Gleichheit verlangt das Recht auf gleiche Chancen jedes Bürgers, für seine politischen Überzeugungen öffentlich zu werben. »No one can plausibly regard himself as a partner in an enterprise of self-government when he is effectively shut out from the political debate because he cannot afford a grotesquely high admission price.« 49 Staatsbürger haben ein prinzipielles Recht auf die gleiche Chance des politischen Einflusses, aber kein Recht auf gleichen politischen Einfluss als Ziel. Letzteres widerspricht der dritten grundlegenden Idee der Partnerschaftsdemokratie, dem demokratischen Diskurs. Volkssouveränität und der Gedanke staatsbürgerlicher Gleichheit bedeuten, dass politische Entscheidungen als kollektive Handlungen das Ergebnis eines öffentlichen Diskurses sein müssen, in dem die Bürger mit vernünftigen Gründen für oder gegen eine politische Entscheidung argumentieren. Wenn sich der politische Wille von Bürgern gegenüber der Mehrheit nicht durchsetzt, so können sie die politische Entscheidung doch akzeptieren, weil und insofern sie die gleichen Chancen hatten, andere von ihrer Sache zu überzeugen. 50 Die Idee der staatsbürgerlichen Gleichheit und die Möglichkeit, durch die Überzeugungskraft von Argumenten größeren politischen Einfluss zu gewinnen, schließen sich nicht aus. Im Gegenteil setzt der normative Anspruch, dass politische Entscheidungen begründet sein müssen, diese Ungleichheit voraus. 51 Wie verhält sich nun das Recht auf Redefreiheit zum egalitaristischen Demokratiemodell? Der Gedanke der Volkssouveränität verlangt, dass Bürger die Tätigkeit ihrer Regierung und Repräsentanten kritisieren dürfen, auch wenn die Kritik nicht mit der Mehrheitsmeinung des Volkes konform geht. In horizontaler Perspektive bedeutet das Recht auf Redefreiheit, dass die Mehrheit Bürger nicht daran hindern darf, ihre politischen Meinungen öffentlich zu machen, auch 49 50 51
Ebd., S. 364. Ebd., S. 364 f. Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 436. A
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Politische Gleichheit
und gerade wenn diese Überzeugungen unpopulär sind. 52 Nicht zuletzt aber verlangt das aus dem gleichen Staatsbürgerstatus folgende Recht auf gleiche Chancen des politischen Einflusses, dass die Sphäre der Politik von der Sphäre des Marktes abgegrenzt wird. »Citizen equality does require, however, that different groups of citizens not be disadvantaged, in their effort to gain attention and respect for their views, by a circumstance so remote from the substance of opinion or argument, or from the legitimate sources of influence, as wealth is.« 53 Die Erfahrung gerade der letzten Wahlen in den Vereinigten Staaten habe gezeigt, dass der Erfolg des politischen Einflusses von gesellschaftlichen Gruppen in direkter Beziehung stünde »to the sheer magnitude of its expenditures, particularly on television and radio, that this factor dwarfs others in accounting for political success.« 54 Die Entscheidung der Richter des Obersten Gerichtshofs war also undemokratisch. Sie korrumpiert das Ideal staatsbürgerlicher Gleichheit und fügt zudem dem demokratischen Diskurs Schaden zu. Der argumentative Wettstreit um politische Entscheidungen und also die öffentliche Vernunft verkümmern, wenn reiche Bürger das Monopol der Meinungsführerschaft an sich reißen, z. B. durch den Besitz privater Medien. 55 Dworkin deutet eine lexikalische Reihenfolge der drei grundlegenden Ideen der Partnerschaftsdemokratie an und damit auch eine lexikalische Reihenfolge möglicher Argumente für eine Einschränkung des Rechts auf Redefreiheit. So darf es z. B. der Regierung nicht erlaubt sein, der Presse zu verbieten das Sexualleben von Mitgliedern der Regierung zu diskutieren, auch wenn durch ein solches Verbot der politische Diskurs an Niveau gewänne. 56 Einschränkungen der Redefreiheit um des öffentlichen Diskurses willen, so sie sich denn rechtfertigen lassen, dürfen nicht gegen die Ideen der Volkssouveränität und der gleichen Staatsbürgerschaft verstoßen. Dworkin weist eine rein prozeduralistische Demokratieauffassung zurück, weil sie dem Ideal freier und gleicher Staatsbürger nicht gerecht wird. Nach dieser Auffassung müssen wir die liberalen Das beinhaltet nach Dworkin auch die Illegitimität des Verbots von Neonaziaufmärschen oder von Paraden von Rassisten: Sovereign Virtue, a. a. O., S. 366. 53 Ebd., S. 366 (Hervorhebung von mir). 54 Ebd., S. 366 f. 55 Ebd., S. 367. 56 Ebd., S. 370. Das Beispiel ist natürlich delikat. Wo verläuft hier die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten? 52
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Dworkins »partnerschaftliches« Demokratiemodell
Grundfreiheiten als nichtdemokratische Werte betrachten, als Einschränkungen kollektiver politischer Autonomie. Eine solches Demokratieverständnis widerspricht der Idee politischer Gleichheit. Die prozeduralistische Auffassung der Demokratie ist zudem durch einen nicht hinreichenden Begriff politischer Partizipation gekennzeichnet; sie vermag nicht zu erklären, warum der Einfluss reicher Bürger auf die Politik ungerecht ist. Als grundlegend für seine politische Philosophie betrachtet Dworkin das abstrakte egalitaristische Prinzip: Die Regierung hat das Leben der Bürger zu verbessern und sie hat alle Bürger mit gleicher Rücksicht und Achtung zu behandeln. Samuel Scheffler wirft Dworkin vor, dieser gründe seine politischer Philosophie auf ein falsches Gleichheitsverständnis. Das abstrakte egalitaristische Prinzip sei Ausdruck einer obrigkeitsstaatlichen Vorstellung politischer und sozialer Gerechtigkeit. Es fordere eine Gleichbehandlung aller Staatsbürger durch die Regierung. Gleichheit sei hingegen das Ideal einer sozialen Beziehung zwischen freien und gleichen Bürgern. 57 Wie deutlich wurde, führt aber Dworkin seine Argumentation für ein angemessenes Demokratieverständnis auf einen ganz anders lautenden liberalen Gleichheitsgedanken zurück. Das ist die Idee der Statusgleichheit der Staatsbürger, die sich in der Ausübung demokratischer Macht wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennen. Nicht nur, weil das merkwürdig »ademokratisch« formulierte Prinzip der gleichen Achtung und Rücksicht zu Missverständnissen einlädt, sondern weil es in der Begründung gleicher Partizipationsrechte keine Rolle spielt, ist es kein grundlegendes Prinzip politischer Gerechtigkeit in Dworkins politischer Philosophie.
Samuel Scheffler, »What is Egalitarianism?«, in: Philosophy & Public Affairs 31/ 2003, S. 5–39; hier S. 36 ff. In seiner Antwort auf Scheffler verweist Dworkin in knappen Worten auf sein partnerschaftliches Demokratiemodell: Ronald Dworkin, »Equality, Luck and Hierarchy«, in: Philosophy & Public Affairs 31/2003, S. 190–198; hier S. 194 ff.
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6 Marktgerechtigkeit
In diesem Kapitel wird Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit systematisch diskutiert. Sie besteht, grob gesprochen, aus zwei Modellen einer fairen Verteilung von Ressourcen. Abschnitt 6.1 stellt das erste Modell vor: die Versteigerung. Im Gedankenexperiment einer egalitären Auktion bringt Dworkin eine seiner grundlegenden Ideen zur Darstellung. Unter egalitären Bedingungen bestimmt ein freier Markt den fairen Preis einer Sache und damit die Kosten, die Personen für deren Erwerb gerechterweise zu tragen haben. Die Ergebnisse der Auktion, wie immer sie ausschauen mögen, sind fair, weil die Kaufentscheidungen aller Auktionsteilnehmer gleichermaßen berücksichtigt wurden. Dieses abstrakte Modell findet im Kontext des Arbeitmarktes als Forderung nach gleichen Startchancen seine Anwendung. Menschen müssten ihre Berufsentscheidungen im Bewusstsein treffen, dass mit der Entscheidung für einen bestimmten Beruf Kosten verbunden seien, die anderen nicht aufgebürdet werden dürften. Unter der Bedingung der Chancengleichheit durch ein inkludierendes Bildungssystem gilt die Einkommensverteilung als gerecht, weil sie aus den freiwilligen Entscheidungen der Menschen resultiere. Dworkin rehabilitiert den freien Markt als faires Verfahren der Verteilung von Einkommen und Vermögen, übernimmt aber gleichzeitig von Rawls die Forderung nach Ausgleich unverdienter Marktbenachteiligung durch mangelndes Talent. Dworkin möchte so seinem Marktmodell den meritokratischen Charakter nehmen. Tatsächlich aber zerstört er so das Verdienstprinzip, das diesem Modell zugrunde liegt (6.2). Der dritte Abschnitt (6.3) knüpft an die Abschnitte 2.2 und 2.3 an. Die Rolle des Verdienstprinzips im Kontext der Einkommensund Vermögensverteilung wird geklärt. Der Chancengleichheitsgedanke als notwendige Bedingung einer gerechten Einkommensverteilung wird verteidigt, allerdings nur im Verbund mit einer Konzeption von Tauschgerechtigkeit, die die Statusgleichheit der Bürger auf 186
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Marktgerechtigkeit
dem Markt einklagt. Dworkin hat diesen Weg nicht beschritten, sondern das Kriterium der Chancengleichheit durch sein zweites Modell einer fairen Ressourcenverteilung ergänzt: die Risikoversicherung. Nach diesem Modell gilt eine Verteilung von Ressourcen als gerecht, wenn alle Bürger die gleichen Chancen hatten, sich gegen bestimmte Risiken zu versichern. Das Versicherungsmodell verlangt nach gesellschaftlicher Solidarität mit den working poor: Umverteilungen sollen sicherstellen, dass niemand unter Hungerlöhnen leidet. Dworkins Versicherungsmodell wird systematisch rekonstruiert, aber seine Tauglichkeit im Kontext der Lohngerechtigkeit bestritten (6.4). Was eine gerechte Verteilung ist, so wird an den vorangegangenen Abschnitt erinnert, ist in erster Linie Verhandlungssache zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in fairen Tauschbeziehungen. Während Dworkin durch sein egalitarstisches Demokratiemodell die Abgrenzung ökonomischer Macht von der Sphäre der Politik einklagt, vergisst er die Idee der Statusgleichheit als Tauschgerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Das Modell einer Sozialversicherung gegen Niedrigstlöhne widerspricht der in Kapitel 4 skizzierten Idee liberaler sozialer Gerechtigkeit. Abschnitt 6.5 geht den Ursachen dieser Vergesslichkeit nach und findet sie in der Übernahme der Rawls’schen Konzeption sozialer Gerechtigkeit als Chancengleichheit. Rawls selbst hat aber seine Theorie sozialer Gerechtigkeit auch auf eine andere Idee gegründet: die Idee der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation zwischen Freien und Gleichen. Faire Kooperation heißt auf dem Arbeitsmarkt freier Tausch, das Differenzprinzip wird dieser Idee aber nicht gerecht. In Abschnitt 6.5 wird der Anwendungskontext des Versicherungsmodells ermittelt. Wenn Dworkin vorzuwerfen ist, dass er sein Konzept der Ressourcengleichheit im Kontext der Einkommensgerechtigkeit auf ein Konzept distributiver Gerechtigkeit reduziert, liegen die normativen Grenzen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie in der Reduktion auf eine Idee der Tauschgerechtigkeit. Das Versicherungsmodell hingegen ist ein faires Verteilungsverfahren gesellschaftlicher Fürsorge: Es verleiht dem Gedanken der Solidarität mit den Kooperationsunfähigen, den Hilfsbedürftigen, Ausdruck. Darum geht es in Kapitel 7.
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Marktgerechtigkeit
6.1 Gleiche Marktfreiheiten: Das Versteigerungsmodell Eine gerechte Verteilung transferierbarer Ressourcen ist diejenige, die den Neidtest erfüllt: »No division of resources is an equal division if, once the division is complete, any immigrant would prefer someone else’s bundle of resources to his own bundle.« 1 Der Neidtest beschreibt ein formales komparatives Gerechtigkeitsprinzip. Eine Verteilung ist gerecht, wenn jeder mit seinem Güterbesitz zufrieden ist, verglichen mit dem, was andere an Gütern besitzen. Wenn A seinen Besitz nicht mit dem Besitz von B tauschen möchte oder B nichts besitzt, was A haben möchte und umgekehrt, dann sind A und B hinsichtlich ihres Güterbesitzes gleichgestellt. Daraus folgt nicht, dass sie im absoluten Sinne mit ihrem Güterbesitz zufrieden sein müssen. Vielleicht hat A gemessen an seinen subjektiven Präferenzen oder an objektiven Maßstäben zu wenig. Aber auch B besitzt nichts, was As Ansprüchen genügt. Die Verteilung erfüllt den Neidtest, aber A ist unzufrieden. Der Neidtest verlangt daher nach einem inhaltlichen Kriterium, das eine egalitäre Güterverteilung substantiell bestimmt. Dworkin konstruiert ein Gedankenexperiment einer ursprünglichen Verteilung von Ressourcen. Stellen wir uns vor, Schiffbrüchige strandeten auf einer verlassenen, mit üppigen Ressourcen ausgestatteten Insel und müssten sich dort auf Dauer einrichten! In dieser Tabula rasaSituation beschließen die dem Egalitarismus verpflichteten Schiffbrüchigen, dass die Ressourcen der Insel nach dem Neidtest unter ihnen aufgeteilt, d. h. in Privatbesitz überführt werden sollen. Eine Möglichkeit, den Neidtest zu erfüllen, könnte darin bestehen, dass ein autorisiertes Gremium die Verteilung übernimmt. Alle Ressourcen werden in Bündel aufgeteilt, wobei sich die Aufteilung an den Präferenzen der meisten Schiffbrüchigen orientiert. Jeder erhält ein gleich großes Ressourcenbündel, das nach einem einheitlichen Präferenzstandard zusammengestellt ist. Die Verteilung erfüllt den Gerechtigkeitstest, niemand beneidet das Güterbündel eines anderen, aber ein Schiffbrüchiger bekommt nicht das, was er möchte. Das Gremium hat seine Präferenzen nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Der Neidtest versagt in diesem Fall. Der unzufriedene Schiffbrüchige ist bei der Verteilung nicht als ein Gleicher behandelt worden. Um zu bestimmen, was ein gleicher Anteil ist, müssen wir daher 1
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Gleiche Marktfreiheiten: Das Versteigerungsmodell
das Faktum unterschiedlicher Präferenzen und Wertvorstellungen der Menschen berücksichtigen. Dies einsehend beschließen die Schiffbrüchigen die Ressourcen der Insel zu versteigern. Der Auktionator erstellt eine Liste der zu versteigernden Güter und Landparzellen. Dabei bestimmen die Auktionsteilnehmer die Größe und den Umfang der verschiedenen Güter (z. B. Land), die sie ersteigern möchten. Das Auktionsverfahren ist egalitär: Jeder Schiffbrüchige erhält einen gleichen Anteil an Muschelgeld. Am Ende der Auktion, nachdem alle Güterbündel versteigert sind, genügt die Verteilung in einer niemand bevorzugenden oder benachteiligenden Weise dem Neidtest. Niemand hat einen gerechtfertigten Grund, das Güterbündel eines anderen zu beneiden, »because […] he could have purchased that bundle with his clamshells instead of his own bundle.« 2 Das einfache Gedankenexperiment soll deutlich machen, dass im Zentrum einer liberalen Theorie sozialer Gerechtigkeit eine bestimmte Idee eines freien Marktes als faires Allokationsverfahren privater Güter steht. Dworkin definiert den Liberalismus als Neutralität der Politik gegenüber den ethischen Überzeugungen der Bürger. Derselbe Wert, der hinter der liberalen Auffassung politischer Gerechtigkeit steht, drückt sich auch in Dworkins Plädoyer für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung aus: Die Verteilung materieller Güter soll von den eigenen Entscheidungen der Bürger abhängen; sie soll Wertneutralität garantieren. Mit seinem Modell einer hypothetischen Versteigerung kritisiert Dworkin implizit Rawls’ Bestimmung von Einkommen und Vermögen als Grundgütern: Nach Rawls ist die Grundstruktur der Gesellschaft Gegenstand der Gerechtigkeit, weil sie verantwortlich dafür ist, dass den Bürgern Ressourcen zur Verfügung stehen, die deren Lebensaussichten wesentlich beeinflussen. Neben den liberalen Freiheitsrechten, politischen Partizipationsrechten, Chancen auf vorteilhafte soziale Positionen ist es insbesondere der Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand, der die Chancen auf ein erfolgreiches Verfolgen der eigenen Lebenspläne der Bürger bestimmt. Daher haben die Menschen ein berechtigtes Interesse an diesen Gütern. Obwohl die Konzeptionen des Guten der Bürger in einer pluralistischen Gesellschaft notwendig differieren, gilt doch, dass ohne den Besitz finanzieller Ressourcen die allermeisten Konzeptionen eines guten Lebens zum Scheitern verurteilt sind. Daher können wir sagen: Der 2
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Marktgerechtigkeit
Besitz von Geld ist im objektiven Sinne gut. Geld ist ein Allzweckmittel, ein Grundgut. Darunter versteht Rawls aber nicht ein existenznotwendiges Minimum. Welchen Wert das Subjekt materiellem Wohlstand beimisst, muss ihm selbst überlassen bleiben. Manchen reicht ein Existenzminimum, die meisten aber wollen ein größeres Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen. Mit welchem Recht können wir Personen einen Anspruch auf einen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand, der über das Existenznotwendige hinausgeht, absprechen? Wenn wir also die Verteilung von Einkommen und Vermögen gegenüber den Interessen der Bürger unparteiisch rechtfertigen wollen, dann müssen wir allen Bürgern ein legitimes Interesse am größtmöglichen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand einräumen. Wir bevormunden niemanden, der nur das Existenznotwendige will. Er ist frei, auf seinen Wohlstand zu verzichten. Mit seinem hypothetischen Versteigerungsmodell kann Dworkin Rawls’ Versuch, die berechtigten Interessen von Bürgern unparteiisch zu bestimmen, überzeugend als ungenügend zurückweisen. Die Idee, Einkommen und Vermögen als Grundgüter zu bezeichnen, setzt bereits den Markt als dezentrales Verteilungsverfahren voraus. Geld ist erst dann ein Allzweckmittel, wenn es ein Tauschmittel ist. Erst wenn ich für mein Geld auch das bekomme, was ich besitzen möchte, hat Geld einen Wert für mich. Wohlstand bemisst sich nicht danach, dass ich Geld anhäufen kann. Eine zentralistische Planwirtschaft, die vor dem Hintergrund einer Liste objektiver Präferenzen den Bürgern vorschreibt, was sie erwerben können, ist mit der Idee von Grundgütern als Allzweckmittel unvereinbar. Nur ein dezentraler freier Markt kann ein gerechtes Verteilungsverfahren materieller Güter sein, das die subjektiven Präferenzen der Menschen nach Waren unparteiisch berücksichtigt. Wofür eine Nachfrage besteht, das bietet der Markt an. Ressourcen sind also Grundgüter, die einen freien Markt als Verteilungsverfahren voraussetzen. Dworkin rechtfertigt den Markt durch das subjektive Recht auf Konsumfreiheit. Ressourcengleichheit besteht nicht einfach darin, dass alle Auktionsteilnehmer bzw. die Bürger als Konsumenten des Marktes einen gleichen Geldanteil besitzen. Wolfgang Kersting wirft Dworkin vor, dass dieser aus dem Recht auf gleiche Rücksichtnahme und Respekt umstandslos den Anspruch auf einen gleichen Anteil an Geldmitteln folgere. Das sei aber ein non sequitur, die Gleichheitsforderung eine willkürliche Setzung: »Statt einer Begründung des Ressourcengleichheitsprinzips gibt uns die Geschichte [der Auktion] ein narrati190
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ves Faktum: alle haben gleich viel Muschelgeld.« 3 Dieser Einwand ist falsch. Kersting unterstellt einen intrinsischen Wert der Gleichverteilung von Geld. Dworkin macht aber wiederholt klar, dass er der Gleichverteilung materieller Güter keinen solchen Eigenwert beimisst. Im Zentrum der politischen Philosophie von Dworkin steht der Wert der individuellen Selbstbestimmung. Das Prinzip der Ressourcengleichheit ist ein Freiheitsprinzip. Distributive Gleichheit ebenso wie Freiheit bezeichnen Dworkin zufolge keine singulären, miteinander konfligierenden Werte, sondern besitzen nur im wechselseitigen Rekurs aufeinander normative Gültigkeit. Eine bestimmte Freiheit ist nur als gleiche Freiheit Gegenstand eines Rechtsanspruchs. Dworkins Argument ist also das folgende: Wenn wir das subjektive Recht auf Konsumfreiheit als eine Forderung nach subjektiver Autonomie akzeptieren und wenn wir von allen weiteren Freiheitsrechten zunächst abstrahieren, dann erfordert die singuläre Geltung des Rechts auf Konsumentenfreiheit, dass alle Bürger die gleiche Möglichkeit besitzen müssen, subjektiv wertgeschätzte Güter zu erwerben. Und das heißt eben, dass alle Konsumenten einen Anspruch auf die gleiche Geldmenge geltend machen können, denn nur dann können wir sagen, dass alle über die gleiche Macht verfügen, ihr Freiheitsrecht wahrzunehmen. Ein zweiter Einwand gegen das Versteigerungsmodell besagt hingegen, dass es dem Wert der Gleichheit einen zu geringen Wert beimesse. Durch die Kaufentscheidung akzeptiert die Person den Wert einer Ressource. Wenn Mitbieter den Preis in die Höhe treiben und ich der Letztbietende bleibe, dann ist mir der Besitz dieser Ressource der Preis wert, der sich ja danach bemisst, wie viel Muscheln mir für andere Güter übrig bleiben. Unter der Bedingung gleicher Kaufkraft bestimmen Angebot und Nachfrage den fairen Wert einer Sache. Wenn also die Nachfrage nach einem knappen Gut groß ist, habe ich Pech, wenn ich dieses Gut auch ersteigern möchte, Glück hingegen, wenn das Angebot groß ist usw. Vielleicht hatte ich das Pech, dass mein Güterbündel so teuer war, dass ich nur einen kleinen Teil ersteigern konnte, der meinen Präferenzen nicht angemessen ist. Oder ich mag ausreichend von einem Gut besitzen, habe aber weniger von anderen Gütern ersteigern können, weil das Muschelgeld nicht mehr ausreichte. Mein Nachbar aber, der ausgerechnet die Dinge ersteigern wollte, für die sich niemand interessiert hat, schwelgt 3
Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S. 220. A
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Marktgerechtigkeit
nun im Überfluss. Nicht dass ich ihn um diesen Kram beneidete, ich hätte ihn ersteigern können. Aber ich beneide ihn um das Ausmaß seiner Wunscherfüllung. Wie kann das gerecht sein, dass die Auktion als einfaches Modell des Marktes meinen Nachbarn begünstigt und mich benachteiligt? Müssen wir den Neid-Test als Gerechtigkeitskriterium nicht auf die Wunscherfüllung der Menschen anwenden, statt auf die Ressourcen, die sie besitzen? Müssen wir nicht fragen, ob sie mit ihrem Güterbündel auch tatsächlich glücklich werden? Es scheint so, als ob Dworkins Auktionsmodell inkohärent ist. Das Marktmodell wurde eingeführt, um die Verteilung der Ressourcen von den freien Entscheidungen der Personen abhängig zu machen. Das Ideal der Ressourcengleichheit verlangt, dass die Verteilung von Ressourcen das Ergebnis der freien Entscheidungen der Menschen sein soll, und nicht auf Umstände zurückgeführt werden darf, die die Individuen nicht zu verantworten haben. Aber es macht ganz gewiss keinen Sinn, meine Benachteiligung gegenüber meinem Nachbarn durch die Auktion dadurch zu begründen, dass sie auf meinen freien Entscheidungen beruhe. Das Pech, dass so viele andere dieses Gut ersteigerten, und das Pech seiner Knappheit habe ich nicht zu verantworten. Auch wenn wir Dworkins Konzeption der Person akzeptieren und sie für verantwortlich für ihre Präferenzen und Ambitionen halten, müssen wir doch sagen, dass in diesem Fall die Umstände der Auktion für meine Benachteiligung verantwortlich sind. Was teure Vorlieben sind, bestimmt der Marktpreis. 4 Die Auktion erfüllt also auch unter der Bedingung gleicher Kaufkraft den Neidtest nicht. Ich habe einen Anspruch auf Kompensationsleistungen verdient. Dieser Einwand hilft ein zweites Charakteristikum des Dworkin’schen Ressourcenbegriffs zu klären. Es macht in der Tat keinen Sinn, zu sagen, dass ich den Preis meiner Präferenzen auf dem Markt zu verantworten hätte. Aber aus diesem Umstand allein folgt nicht, dass ich die Kosten meiner Entscheidungen, teure Güter zu erwerben, anderen aufbürden dürfte. Auch unter der Bedingung gleicher Kaufkraft hängt der Marktpreis u. a. von den willkürlichen Kaufentscheidungen der Marktteilnehmer ab. Aber mit welchem Recht können wir sagen, dass meine Forderung, mein Nachbar solle meine anspruchsvollen Präferenzen subventionieren, nicht weniger willkürlich sei? Mit gleichem Recht müssen wir dann sagen, dass das, was mein Nachbar besitzt, nicht auf seinen eigenen Entscheidungen 4
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Vgl. G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 927.
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Gleiche Marktfreiheiten: Das Versteigerungsmodell
basiert, wenn er meine teuren Vorlieben subventionieren muss. Es kann daher keine Frage der egalitären Gerechtigkeit sein, ob Personen mit ihrem Güterbündel glücklich werden. Für ihr Wohlergehen ist die Person im Letzten selbst verantwortlich. Nur wenn die Menschen bereit sind, die Kosten ihrer Entscheidungen auch selber zu tragen und ihren Lebensumständen anzupassen, können wir die Entscheidungsfreiheit von Personen überhaupt unparteiisch berücksichtigen. Dworkin übernimmt von Rawls den Gedanken, dass es Aufgabe der Gerechtigkeit ist, den individuellen Besitz von Grundgütern moralisch zu beurteilen und nicht die Umwandlung der Güter in individuelles Wohlergehen. Er modifiziert den Grundgütergedanken aber in einem entscheidenden Punkt. Der Rawls’sche Kontraktualismus ist durch eine Zwei-Schritt-Methode 5 charakterisiert. In einem ersten Schritt identifizieren wir die Interessen der Bürger, die legitime Berücksichtigung in einem Rechtfertigungsverfahren beanspruchen dürfen: das Interesse am maximalen Grundgüteranteil. In einem zweiten Schritt bestimmen wir den repräsentativen Standpunkt, von dem aus wir die Verteilung der Grundgüter als gerecht beurteilen: das Interesse der am meisten Benachteiligten am Grundgütermaximum. Dworkin lehnt diese Methode ab. Wir können nicht definieren, welche Interessen Gegenstand eines Rechtfertigungsverfahrens sind, ohne zu fragen, ob diese Interessen auch fair sind. Das Gelingen meiner Vorstellung eines guten Lebens soll in erster Linie von meinen eigenen Entscheidungen abhängen. Das ist der Grundgedanke liberaler Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Die Kehrseite dieses Gedankens ist die Idee ethischer Selbstverantwortung. Von meinen Entscheidungen hängt es ab, ob meine Lebenspläne gelingen, und ein Lebensplan lässt sich vernünftig nur entwerfen im Bewusstsein der Begrenztheit meiner Möglichkeiten. Meine Freiheit grenzt an die Freiheit der anderen. Das Interesse an einem möglichst großen Anteil an Wohlstandsgütern kann kein legitimes sein. Die Ansprüche auf Ressourcen können also nicht unabhängig davon bestimmt werden, welche Entscheidungen zum Gelingen ihres Lebensplanes die Person getroffen hat. Das Marktmodell versucht dem Gedanken der Selbstverantwortung gerecht zu werden, indem es den Wert einer Sache durch den Wert der Kosten bestimmt, die anderen dadurch entstehen, dass ich die Sache erwerben kann. Selbstverantwortung 5
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Marktgerechtigkeit
für die Kosten der eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen bedeutet, das Interesse anderer Bürger an einem fairen Anteil anzuerkennen. Die berechtigten Interessen an einem fairen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand lassen sich nicht unabhängig davon bestimmen, was Personen getan haben, um ihren Wohlstand zu erreichen. Eine egalitäre Verteilung von Einkommen und Vermögen ist eine solche, die die Lebensentscheidungen der Bürger gleichermaßen berücksichtigt. Das Auktionsmodell soll diesem Kriterium aus der Perspektive der Konsumenten gerecht werden. Als Maßstab des Gerechten fordert es eine Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen als Tauschmittel auf einem freien Markt.
6.2 Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit« Das Gedankenexperiment ist aber noch nicht zu Ende. Die Auktion beschreibt ein statisches Marktmodell. Nach der Auktion werden die Schiffbrüchigen mit ihren Gütern handeln. Einige werden mit ihren Ressourcen neue Güter produzieren. Andere werden durch Schicksalsschläge ihren Besitz verlieren oder für die Behandlung einer Krankheit einen großen Teil ihres Hab und Guts veräußern müssen. »If the auction is successful as described, then equality of resources holds for the moment among the immigrants. But perhaps only for the moment, because if they are left alone, once the auction is completed, to produce and trade as they wish, then the envy test will shortly fail. Some may be more skillful than others at producing what others want and will trade to get. Some may like to work, or to work in a way that will produce more to trade, while others may like not to work or prefer to work at what will bring them less. Some will stay healthy while others fall sick, or lightning will strike the farms of others but avoid theirs. For any of these and dozens of other reasons some people will prefer the bundle others have in, say, five years, to their own.« 6
Das Ergebnis des Auktionsverfahrens wird also im Laufe der Zeit durch Faktoren verändert werden, die zum einen (1) daraus resultieren, dass sie das Resultat bestimmter Entscheidungen der Menschen auf dem Arbeitsmarkt sind (z. B. für Arbeit und weniger Freizeit oder umgekehrt). Zum anderen (2) sind sie das Resultat unverantworteten Pechs. Das Prinzip der Ressourcengleichheit verlangt sowohl die Ent6
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Ebd., S. 73.
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Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit«
scheidungen (1) der Menschen auf dem Markt als auch bestimmte Formen reinen Pechs (2) zu berücksichtigen. Befassen wir uns zunächst mit der Frage nach einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Adrian hat einen Acker ersteigert, auf dem er Tomaten züchtet, Bruce ein Stück Land, auf dem er einen Tennisplatz errichtet. Die Kaufentscheidungen beider spiegeln ihre unterschiedliche Auffassung eines guten Lebens wider: »Adrian chooses resources and works them with the single-minded ambition of producing as much of what others value as possible«. 7 Bruce hingegen wertschätzt Freizeit. Wenn wir aber den Neid-Test nach einiger Zeit wieder auf der Insel durchführen, wird die Vermögensverteilung sehr unterschiedlich sein. 8 Bruce’ Neid wäre aber nun Ausdruck seiner Pleonexia. Das Differenzprinzip als Kriterium einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung, so Dworkins berühmte Kritik an der Gerechtigkeitstheorie von Rawls, berücksichtigt nicht die Entscheidungen der Menschen, welchen Wert sie der Erwerbsarbeit zuschreiben. Wer weniger arbeitet oder wer sich entscheidet weniger lukrative Arbeit zu verrichten, wird durch das Differenzprinzip begünstigt. 9 Menschen, die hart arbeiten, müssen in der Rawls’schen wohlgeordneten Gesellschaft die Freizeit der Müßiggänger subventionieren. Der flache Gleichheitsgedanke des Differenzprinzips drückt daher keinen gleichen Respekt gegenüber den Entscheidungen der Menschen aus. 10 Dworkin vertritt demgegenüber eine ausschließlich deontologische Konzeption der Verfahrensgerechtigkeit: Die Gerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung bestimmt sich nicht durch die Ergebnisse des Verteilungsverfahrens, z. B. den Nutzen für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, sondern allein durch die Art und Weise, wie das Verteilungsverfahren die Lebensentscheidungen der Menschen berücksichtigt. Das Verfahren der Einkommens- und Vermögensverteilung ist gerecht, wenn alle die gleichen Chancen haben, die Möglichkeiten, die der Markt bietet, wahrzunehmen. Das, Ebd., S. 83. Gegenstand der Gerechtigkeit ist auch für Dworkin die Art und Weise, wie gesellschaftliche Institutionen die Lebensaussichten der Menschen beeinflussen. Daher sind nur solche Entscheidungen von Personen gerechtigkeitsrelevant, die das Leben im Ganzen betreffen. 9 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 87. 10 Vgl. auch Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 79 ff. 7 8
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Marktgerechtigkeit
was eine Person besitzt, soll das Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen und das heißt freien Handlungen sein. Vor dem Hintergrund gleicher Startchancen regelt der Leistungsgedanke und das Prinzip der Konkurrenz die faire Einkommens- und Vermögensverteilung. Im Gespräch mit Herlinde Pauer-Studer drückt Dworkin seine Gerechtigkeitsintuition wie folgt aus: »Die Menschen sollten ihre Entscheidungen über das Leben, das sie führen möchten, in dem Bewusstsein treffen, dass mit einem solchen Leben ein bestimmtes Einkommen verbunden ist. Wenn ich also lieber Philosophieprofessor als Rechtsanwalt in einer Kanzlei an der Wall Street bin, kann ich nicht erwarten, das gleiche Geld zu verdienen. Der Markt bringt natürlich Ungleichheiten hervor, aber dies ist die Art von Entscheidung, die diejenigen Menschen für sich selbst treffen sollten, denen verschiedene Lebenswege offen stehen. […] Wir sollten grundsätzlich akzeptieren, dass die Menschen Entscheidungen über ihr Leben in dem Wissen treffen müssten, dass ihre Entscheidung das Schicksal anderer tangiert; und sie sollten akzeptieren, dass ihr Einkommen – zumindest zu einem erheblichen Teil – von Entscheidungen abhängen müsste, die auch anderen zugute kommen. Wenn wir uns für ein Leben entscheiden, das nicht soviel Wohlstand mit sich bringt wie ein anderes Leben, für das wir uns hätten entscheiden können, dann kann das für uns durchaus die richtige Entscheidung sein, aber wir sollten sie nicht auf Kosten anderer, sondern auf unsere eigene Kosten treffen.« 11
Das Versteigerungsmodell lässt sich nun also als Forderung nach Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt lesen: »[…] people should have the same external resources at their command to make of them what […] they can. That point is satisfied by an initial auction.« 12 Alle müssen die gleiche Möglichkeit besitzen, den Beruf zu ergreifen, der die eigene Vorstellung eines guten Lebens widerspiegelt. Wer Grundstücksmakler werden will, weil er ein Leben in materiellem Wohlstand führen möchte, muss diese Berufsentscheidung treffen können, unabhängig davon, aus welchem Milieu er stammt. Die Geschichte vom Schiffbruch ist also in die Forderung nach einem egalitären, alle Menschen inkludierenden Bildungs- und Ausbildungssystem, zu übersetzen. Die Kehrseite dieses Chancengleichheitsprinzips besteht in den Kosten, die diese Berufsentscheidungen mit sich bringen. Niemand Ronald Dworkin, »Moral, Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit«, in: Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, hg. von Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt/M. 2000, S. 153–182, Zitat S. 171. 12 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 87. 11
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Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit«
hat die Supermarktkassiererin daran gehindert, Grundstücksmaklerin zu werden. Unter der Voraussetzung gleicher Startchancen spiegelt die Einkommens- und Vermögensungleichheit beider ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen wider. Das Einkommen eines Grundstücksmaklers war der Supermarktkassiererin nicht die Mühe wert, diesen Beruf zu ergreifen. Im unterschiedlichen Marktwert beider Arbeiten, so Dworkins Gerechtigkeitsintuition, drückt sich unter der Bedingung gleicher Startchancen der gleiche Respekt gegenüber den Lebensentscheidungen der Menschen aus. Es wäre daher ungerecht, diesen Marktwert in Frage zu stellen. Dworkins Intuition geht daher weit über das Beispiel der unterschiedlichen Entscheidungen von Adrian und Bruce hinaus. Nicht nur die Entscheidungen der Menschen für mehr Freizeit und weniger Arbeit und umgekehrt seien zu berücksichtigen, sondern auch die Entscheidungen zwischen Berufen mit unterschiedlichem Marktwert seien relevant für die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Einkommensverteilung. Dworkin macht damit die Einsicht rückgängig, die Rawls veranlasst hat, die Frage der gerechten Verteilung von Ämtern von der Frage nach deren gerechten Entlohnung zu unterscheiden. Auch wenn wir das Recht auf Freiheit der Berufswahl um das Prinzip der Chancengleichheit erweitern und also den Verdienstgedanken auf die Verteilung der Ämter anwenden, können wir immer noch fragen, ob die ungleiche Entlohnung der Ämter gerecht ist. Chancengleichheit ist ein wichtiges Prinzip sozialer Gerechtigkeit. Aber seine Reichweite ist begrenzt: Dem normativen Wert der Entscheidungsfreiheit korrespondiert keine normative Bewertung der Entscheidungsoptionen 13 : Der Wert der Arbeit wird von Dworkin einfach positivistisch als faktischer Marktpreis bestimmt. Wer z. B. in der Fürsorge tätig ist, hat wenig Freizeit, aber weniger Geld als z. B. der Grundstücksmakler. Aber die Entscheidung zwischen beiden Berufen begründet nicht schon den fairen Wert des Lohns. Wieso soll es gerecht sein, dass Menschen, die in der Gesundheitsfürsorge tätig sind, soviel weniger verdienen als Grundstücksmakler? Und wer sich entscheidet keiner Erwerbsarbeit nachzugehen und sich stattdessen um die Familie und die Kinderaufzucht kümmert, hat nicht schon deswegen nichts ver-
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Vgl. Anderson, a. a. O., S. 145. A
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Marktgerechtigkeit
dient. 14 Dworkin ist an diesen Fragen vollkommen desinteressiert. Seine Theorie der Ressourcengleichheit lässt sich daher genauso wenig wie die Gerechtigkeitstheorie von Rawls als eine umfassende Theorie sozialer Gerechtigkeit diskutieren. Dworkin interessieren nicht die Grenzen des Prinzips fairer Chancengleichheit, sondern, genau wie Rawls, seine innere Widersprüchlichkeit. Das Verteilungsverfahren des freien, durch Chancengleichheit charakterisierten Marktes produziert gerechte Ergebnisse, weil es die freien Entscheidungen und Leistungen von Menschen gleichermaßen berücksichtigt. Aber das gilt nur unter der sehr theoretischen Prämisse der gleichen Begabungsausstattung der Markteilnehmer. Claude, der von Natur aus zwei linke Hände besitzt, hat ebenfalls versucht Tomaten zu züchten, aber im Vergleich zu Adrians Tomaten nimmt sich das Ergebnis sehr bescheiden aus. Der Markt versagt in diesem Falle als gerechtes Verteilungsverfahren. Claude beneidet zurecht den Wohlstand von Adrian. Seine Benachteiligung ist nicht das Ergebnis seiner freien Entscheidung. Menschen wie Claude, denen die marktgängigen Talente mangeln, haben Kompensationsleistungen verdient, z. B. durch »schemes of education that would allow Claude to find satisfaction in his work or of taxation that would redistribute some of Adrian’s wealth to him«. 15 Die Talentausstattung zählt für Dworkin, der in dieser Hinsicht ein strenger Schüler von Rawls bleibt, genauso zu den begünstigenden oder benachteiligenden Lebensumständen wie das soziale Herkunftsmilieu. Wir müssen das Prinzip der Chancengleichheit auch auf die inneren, angeborenen Lebensumstände der Person anwenden und diese angleichen. Keine Begünstigung oder Benachteiligung durch die Verteilungsregeln gesellschaftlicher Institutionen darf auf Faktoren zurückgeführt werden, die die betreffende Person nicht zu verantworten hat. »Unfair differences are those traceable to genetic luck, to talents that make some people prosperous but are denied to others who would exploit them to the full if they had them.« 16 Mit diesem Kriterium ungerechter Ungleichheiten will Dworkin der sogenannten Wettlauftheorie (starting gate theory) der Gerechtigkeit entgegentreten. Sie verlangt, dass Personen mit gleichen Startchancen ausgestattet werden. Wenn alle die gleichen Startchancen 14 15 16
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Vgl. Kap. 9 dieser Arbeit. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 87. Ebd., S. 92.
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Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit«
im Leben haben, dann ist die Ungleichverteilung von materiellen Gütern zu einem späteren Zeitpunkt ausschließlich Ergebnis der Lebensentscheidungen der Menschen. Umverteilungen würden also die freien Entscheidungen der Menschen missachten. Soziale Gerechtigkeit besteht nach dieser Auffassung einzig in der Forderung nach Chancengleichheit im Ausbildungssystem. Wenn diese Forderung eingelöst ist, muss die Einkommens- und Vermögensverteilung einer Laisser faire-Ökonomie überlassen bleiben. Menschen wie Claude sind in diesem System die Verlierer. Die Wettlauftheorie ist Dworkin zufolge aber keine kohärente politische Theorie, weil sie dem Schicksal und den Begabungen der Menschen zu viel Einfluss auf das Verteilungsverfahren überlässt, was doch der Forderung gleicher Startchancen widerspricht.17 Dworkin konstruiert daher ein Kriterium distributiver Gerechtigkeit, das auch die freien Entscheidungen Claudes berücksichtigen soll: »On the one hand we must, on pain of violating equality, allow the distribution of resources at any particular moment to be (as we might say) ambitionsensitive. It must, that is, reflect the cost or benefit to others of the choices people make so that for example, those who choose to invest rather than consume, or to consume less expensively rather than more, or to work in more rather than less profitable ways must be permitted to retain the gains that flow from these decisions in an equal auction followed by free trade. But on the other hand, we must not allow the distribution of resources at any moment to be endowment-sensitive, that is, to be affected by differences in a laissez-faire economy among people with the same ambitions.« 18
Chancengleichheit zwischen den Menschen herrscht erst dann, wenn die Verteilung ambition-sensitive ist. Die Idee einer voraussetzungslosen Entscheidungsfreiheit wurde von Rawls gegen den Verdienstgedanken ins Feld geführt und sollte dem Konsequentialismus einen Hoheitsbereich im Kontext der sozialen Gerechtigkeit eröffnen. Bei Dworkin soll dieselbe Idee die Chancengleichheit neu erfinden! »We want to develop a scheme of redistribution, so far as we are able, that will neutralize the effects of differential talents, yet preserve the consequences of one person’s choosing an occupation, in response to his sense of what he wants to do with his life«. 19 Periodische Umvertei-
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Ebd., S. 87 ff. Ebd., S. 89. Ebd., S. 91. A
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Marktgerechtigkeit
lungen durch Steuern sollen die Marktbenachteiligung der Minderbegabten mildern. Aber mit dem Prinzip der Absichtsgleichheit widerspricht Dworkin seiner eigenen Gerechtigkeitsintuition. Der Markterfolg von Adrian gründet genau dann ausschließlich auf seinen eigenen Tätigkeiten, wenn Bruce nicht daran gehindert wurde und die gleiche Möglichkeit besaß, das zu tun, was Adrian getan hat. Wenn Bruce nicht das getan hat, was Adrian getan hat, ist sein geringerer Markterfolg das Ergebnis seiner eigenen Entscheidung. Die Verteilung durch den freien Markt drückt also in diesem Fall den gleichen Respekt vor den freien Entscheidungen beider aus. Dieses Prinzip der Chancengleichheit widerspricht aber dem Prinzip der Absichtsgleichheit. Nach diesem Kriterium ist es ungerecht, wenn Adrian seinen Markterfolg durch eigene Tätigkeiten verdient, weil sein Handlungserfolg gegenüber Claude auf eine genetische Begünstigung zurückzuführen ist. Nach dem Kriterium der Absichtsgleichheit vergleichen wir die Absichten, nicht die Tätigkeiten als Grund für Ansprüche auf Güter. Was aber gilt als genetische Benachteiligung? Das wird von Dworkin an dieser Stelle nicht genauer definiert, sondern bedeutet schlicht, dass eine Person weniger Geldmittel besitzt als eine andere, verursacht durch geringeres Talent. Daraus folgt, dass z. B. die Absicht, das Einkommen eines Spitzenfußballers zu verdienen, als Grund für den Anspruch auf dessen Markterfolg ausreicht. Dworkin kann somit nicht behaupten, dass seine Version fairer Chancengleichheit, die sowohl die Entscheidungen eines Adrian und Bruce als auch die Benachteiligung eines Claude berücksichtigen soll, aus einem Gleichheitsgedanken folge. 20 Nach dem Prinzip der Chancengleichheit, das die freiwilligen Tätigkeiten von Personen als Anspruchsgrundlage auf Güter vergleicht, hat Claude Pech gehabt. Nach dem Prinzip der Absichtsgleichheit sind die erfolgreichen Ergebnisse eigener Handlungsentscheidungen gerechtigkeitsirrelevant, sobald sich bei gleicher Absicht unterschiedlicher Handlungserfolg einstellt. 21 Das Prinzip der Absichtsgleichheit So aber die Einschätzung von Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 81. Es ist nicht zu übersehen, dass Dworkins Kriterium der Absichtsgleichheit ein gesinnungsethisches Prinzip darstellt, insofern es den Willen einer Person zum Verdienstprinzip erhebt. Wolfgang Kersting hat daher nicht ganz zu Unrecht den Verdacht geäußert, dass Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit eine Art »Verdiesseitigung« des Kantischen höchsten Gutes sei: Wolfgang Kersting, »Methodologische Probleme einer Theorie der sozialen Gerechtigkeit«, in: ders., Recht, Gerechtigkeit und demokratische
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Chancengleichheit als »Absichtsgleichheit«
eliminiert das Verdienstprinzip, das dem Chancengleichheitsgedanken zugrunde liegt. Beide Gerechtigkeitsprinzipien widersprechen einander und können nicht den gleichen Gegenstandsbereich zur Anwendung haben. Der Neidtest führt je nach Prinzip, das die Hinsicht des Neides bestimmt, zu einander widersprechenden Ergebnissen. Ein weiterer Einwand gegen das Kriterium ungerechter Ungleichheiten durch genetischen Zufall lautet, dass so die Missgunst und das Ressentiment zum Maßstab gerechtfertigter Kompensationsansprüche gemacht werde: der Neid auf das Talent, also die personalen Eigenschaften des Anderen. Der Neid als Gerechtigkeitstest soll sich aber Dworkin zufolge auf unverantwortete und also willkürliche Besserstellungen einer Person durch gesellschaftlich bedingte Institutionen richten. 22 Dworkin merkt selbst an, dass die erworbenen Fähigkeiten und Qualifikationen einer Person nicht einfach als Ausdruck ihrer natürlichen Begabung zu verstehen sind: »For we will be thwarted by the reciprocal influence that talents and ambitions exercise on each other. Talents are nurtured and developed, not discovered full-blown, and people choose which talents to develop in response to their beliefs about what sort of person it is best to be. But people also wish to develop and use the talents they have, not simply because they prefer a life of relative success, but because the exercise of talent is enjoyable and perhaps also out of a sense that an unused talent is a waste. […] Talents and ambitions are too closely intertwined.« 23
Die Fähigkeiten einer Person sind also auch das Ergebnis ihrer Entscheidungen und Wertüberzeugungen, die als solche Berücksichtigung verdienen und nicht einfach als Ausdruck der launenhaften Natur zu den Lebensumständen der Person gerechnet werden dürfen. 24 Dworkin versucht diesem Einwand gerecht zu werden, indem er zwischen (a) der Willkür der Natur, Träger eines besonderen Talents zu sein, und (b) der Willkür der Nachfrage nach Talenten bzw. erworbenen Fähigkeiten auf dem freien Markt unterscheidet. 25 Das ist eine Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1997, S. 213–242, hier S. 230 ff. Dworkin hat aber das Kriterium der Absichtsgleichheit selbst nicht so ganz ernst genommen (s. u.). 22 Dworkin, Sovereign Virtue, S. 87. 23 Ebd., S. 91. 24 So bereits die Kritik von Robert Nozick an der verdienstfeindlichen Position von Rawls: Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 1976, S. 197 ff. 25 Mit dieser Unterscheidung widerspricht Dworkin dem Kriterium ungerechter Ungleichheiten durch den Einfluss genetischen Zufalls auf das Verteilungsverfahren. Es A
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Marktgerechtigkeit
Unterscheidung, die in der von Rawls ausgelösten Debatte über Freiheit und Verdienst zu wenig berücksichtigt wurde. 26 Was als Talent gilt, bestimmt die faktische Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen des Marktes. »What is income-talent today was not that yesterday, moreover, and will not be that tomorrow. Only relatively recently has the ability to cause a leather ball to fall through a distant hoop been of more than the slightets commercial advantage.« 27 Zurück zum Beispiel! Durch die überlegene Leistung von Adrian wird der Wert von Claudes Arbeit gemindert: Die Nachfrage nach Adrians Tomaten ruiniert die Tomatenzucht von Claude. Dessen Scheitern auf dem Marktplatz ist aber nicht selbstverantwortet, sondern ist den ungleich begünstigenden Lebensumständen von Adrian und Claude geschuldet. Claudes Neid ist daher berechtigt: »The desires and needs of other people provide Adrian but not Claude with a satisfying occupation, and Adrian has more money than Claude can have.« 28 Aber mit der Unterscheidung zwischen (a) und (b) hat Dworkin nichts gewonnen. Stellen wir uns vor, Bruce hätte statt des Tennisplatzes einen Acker für die Kürbiszucht erworben! Auf dem Markt aber bleibt er auf seinen Kürbissen sitzen, weil andere Schiffbrüchige Ketchup produzieren und somit Adrians Tomaten reißenden Absatz finden. Sowohl Adrian als auch Bruce sind begnadete Landwirte. Aber Adrian hat genau solche Güter produziert, nach denen eine Nachfrage besteht, Bruce hat sich verkalkuliert. Das Beispiel macht deutlich, dass für den Erfolg auf dem Markt der Besitz bestimmter bleibt bei ihm insgesamt unklar, welche willkürliche Benachteiligung, (a) oder (b), letztlich gerechtigkeitsrelevant wird. 26 Vgl. Pojman/McLeod, a. a. O. 27 Ronald Dworkin, »›Sovereign Virtue‹ Revisited«, in: Ethics 113/2002, S. 106–143, Zitat S. 117. Elizabeth Anderson wirft den Gerechtigkeitstheorien von Dworkin und anderen vor, dass sie u. a. Ausdruck eines geringschätzigen Mitleids gegenüber den Opfern genetischer Benachteiligung seien: Anderson, a. a. O., S. 137 ff. Dworkin kann diesen Einwand überzeugend entkräften: Dworkin, »›Sovereign Virtue‹ Revisited«, a. a. O., S. 117 f. Die Benachteiligung betrifft den Marktpreis, nicht den intrinsischen Wert des Talents. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen: Vincent van Gogh war einer der größten Maler aller Zeiten, aber ein miserabler Verkäufer seiner Bilder. Bill Gates ist einer der größten Geschäftsmänner aller Zeiten, aber ein miserabler Maler. In diesen Werturteilen drückt sich weder eine Geringschätzung gegenüber van Gogh noch gegenüber Gates aus. Nur wenn der Erfolg auf dem Markt der einzige Maßstab ist, nach dem wir Personen wertschätzen, drückt sich im Mitgefühl für den Misserfolg einer Person auf dem Markt unsere Geringschätzung aus. 28 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 87.
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Einkommen und Verdienst
Fähigkeiten keine hinreichende Bedingung ist. Claude ist ein miserabler Tomatenzüchter, Bruce hingegen ein begnadeter Kürbiszüchter. Beide aber sind auf dem Markt vergleichsweise erfolglos, weil sie die falschen Waren anbieten. Nun können wir zwar sagen, dass Bruce und Claude die Tatsache mangelnder Nachfrage ihrer Produkte nicht zu verantworten haben. Aber Dworkin kann dieses Kriterium unverantworteter Benachteiligung nicht zum Grund für gerechtfertigte Kompensationsleistungen machen. Wenn, wie Gerald A. Cohen zu Recht einwendet, der Zufall von Angebot und Nachfrage unter der Bedingung gleicher Kaufkraft im Versteigerungsmodell den fairen Preis einer Sache bestimmen soll, dann kann der Zufall der Nachfrage nach den Früchten der Arbeit von Personen unter der Bedingung gleicher Startchancen nicht willkürlich und daher ungerecht sein. Wenn Bruce und Claude zu Unrecht gegenüber Adrian benachteiligt sind, dann werden auch die Konsumenten mit teuren Präferenzen in der Versteigerung ungleich behandelt. 29 Und umgekehrt: Wenn Personen in der Versteigerung die Kosten ihrer teuren Präferenzen zu tragen haben, dann müssen Personen auch die Risikokosten ihrer Entscheidungen tragen, bestimmte Güter oder Dienstleistungen auf dem freien Markt anzubieten. Adrians freie Entscheidung, Tomaten statt Kürbisse zu züchten, soll ja gerade der Grund sein, warum der ungleiche Besitz nach dem Chancengleichheitsprinzip gerecht ist. Wenn Dworkin die Entscheidungsoptionen auf dem Markt als willkürlich, weil unverantwortet diskreditiert, zerstört er den Wert der Entscheidungsfreiheit in diesem Kontext. Das hieße, dass der Markt immer willkürliche Ungleichheiten produziert und deshalb in sich ungerecht ist. Das widerspricht den Prämissen seiner Gerechtigkeitstheorie.
6.3 Einkommen und Verdienst Dworkins Argumentation ist also inkohärent. Aber was ist jetzt ungerecht? Ist es das Prinzip der Fairness ungleichen Einkommens aufgrund gleicher Startchancen oder das Prinzip der Kompensation für unverantworteten Minderverdienst auf dem freien Markt? Der Gedanke der Chancengleichheit setzt, wie wir gesehen haben, voraus, dass Güter nach Verdienstkriterien verteilt werden. Personen erwer29
G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 932 f. A
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Marktgerechtigkeit
ben durch eigene Tätigkeiten Ansprüche auf bestimmte Güter (z. B. das Recht auf gleiche Berücksichtigung in Auswahlverfahren durch den Erwerb der erforderlichen Qualifikationen). Wie können wir aber das Chancengleichheitsprinzip auf die Frage nach der Einkommensgerechtigkeit anwenden? Dadurch, dass ich etwas produziert habe, erwerbe ich keinerlei Ansprüche auf irgendetwas, wenn es niemanden gibt, der bereit ist, meine Produkte gegen Geld zu tauschen. Das Recht auf Einkommen und der Anspruch auf ein bestimmtes Einkommensniveau sind durch Tausch verliehene Rechte. Niemand ist verpflichtet die Dienstleistungen und Produkte anderer auf dem freien Markt anzuerkennen. Der Markt, so Michael Walzer, nimmt vom Verdienst keine Kenntnis: »Stellen wir uns einen Romanschriftsteller vor, der einen Bestseller zu schreiben hofft. Er erforscht seinen potentiellen Leserkreis und legt sein Buch so an, dass es den aktuellen Modegeschmack trifft. Vielleicht muss er, um dieses Ziel zu erreichen, die Regeln seiner Kunst verletzen, und vielleicht ist er ein Romancier, den diese Regelverletzungen schmerzen. Er erniedrigt sich, um zu obsiegen. Hat er in diesem Fall die Früchte seines Sieges verdient? Hat er einen Sieg verdient, der Früchte trägt? Angenommen, sein Roman erscheint inmitten einer Wirtschaftskrise, d. h. zu einer Zeit, da niemand Geld für Bücher übrig hat und nur ganz wenige Exemplare verkauft werden, wie soll sein Lohn in dieser Situation anders ausfallen als karg? (Seine Schriftstellerkollegen belächeln seine Enttäuschung; und vielleicht ist es das, was er verdient hat.) Indes, Jahre später, die Zeiten sind besser, wird das Buch neu aufgelegt, und es verkauft sich gut. Heißt das, dass die Verdienste des Autors inzwischen gewachsen sind und ihm einfach mehr zukommt? Zweifelsohne kann das Verdienst nicht vom Zustand der Wirtschaft abhängen; aber es ist viel zu viel Glück im Spiel, als dass die Rede vom Verdienst in diesem Zusammenhang einen Sinn machte. Wir täten besser daran, einfach zu sagen, dass der Autor Anspruch auf seine Tantiemen hat, seien sie nun umfänglich oder mager.« 30
Walzer hat zweifellos recht. Der Autor von Schundromanen hat keinen Grund, sich zu beschweren, wenn sich seine Bücher nicht verkaufen. Er hat sich genauso verhalten wie Adrian, der Tomaten gezüchtet hat, um sie auf dem Marktplatz loszuwerden. Auf dem Markt herrscht der Wertepositvismus der willkürlichen Kaufbereitschaft. Daher ist der freie Markt kein Ort, an dem der Verdienstgedanke Gültigkeit beanspruchen könnte. 30
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Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 168.
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Einkommen und Verdienst
Vorausgesetzt, wir verstehen unter Verdiensten starke präinstitutionelle Gerechtigkeitsansprüche. Damit seien hier Verdienste benannt, die nach bestimmten Wertmaßstäben die intrinsische Würdigkeit auf Anerkennung von Leistungen begründen, ganz unabhängig davon, ob Institutionen existieren, die nach diesen Wertmaßstäben Anerkennung verteilen. Ein Beispiel dafür sind Literaturpreise. Preiskomitees werden geschaffen, um bestimmte herausragende Leistungen anzuerkennen und zu ehren. Man kann sagen, wenn bestimmte Leistungen als besonders wertvoll gelten, dann gibt es einen Grund, Institutionen zu schaffen, die diese Leistungen nach den entsprechenden Wertkriterien durch Ehrungen auszeichnen. Walzer tritt mit seinem Argument überzeugend einer Auffassung entgegen, die das auf dem Markt erzielte Einkommen und Vermögen als Anerkennung besonderer wertzuschätzender Leistungen begreift: »Den Resultaten des Marktes kommt insofern eine große Bedeutung zu, als der Markt, wenn er ein freier Markt ist, jedem Menschen genau das zuteil werden lässt, was er verdient. Der Markt ent- und belohnt uns entsprechend dem Beitrag, den wir zu unser aller Wohlergehen leisten.« 31 Wir müssen aber sehen, dass dieses starke Verdienstkriterium nicht dem Prinzip der Chancengleichheit zugrunde liegt, das Walzer zufolge die Verteilung von Ämtern regelt. 32 Ämter sind genauso wenig Auszeichnungen für besondere Leistungen wie das Einkommen für Arbeit auf dem freien Markt. Ämter werden verteilt, weil es Nutznießer gibt, die ein objektives oder subjektives Interesse an den Dienstleistungen oder Produkten der Amtsträger nehmen. Den Arztberuf gibt es nicht, um Leistungen der Heilkunst zu ehren, sondern um Krankheit zu kurieren. Rechtsanwaltskanzleien werden nicht geschaffen, um die Leistungen der Rechtswissenschaft zu preisen, sondern um Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen. Die meisten Ämter sind genauso das Ergebnis der Nachfrage nach den Dienstleistungen und Gütern des Amtes, die der Amtsträger ebenso wenig verdient hat, wie der Schriftsteller die Nachfrage nach seinen Schundromanen. Ob und wie viel Ämter es gibt, um die Menschen konkurrieren, ist genauso vom Zufall abhängig wie die Höhe des Einkommens, das Menschen durch ihre Arbeit erzielen. Welche Aussichten auf eine Stelle z. B. Lehramtskandidaten haben, ist auch abhängig davon, wie 31 32
Ebd., S. 167. Vgl. Abschnitt 2.3 dieser Arbeit. A
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Marktgerechtigkeit
viele Kinder ihre Mitbürger gezeugt haben und von der Anzahl der um die freien Stellen konkurrieren Mitbewerber. Dass Personen ein bestimmtes Amt bekleiden können, ist oft eine Frage des Glücks, zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Gewiss, wir mögen im Einzelfall urteilen, dass der vom Schicksal besonders Begünstigte sein Amt nicht verdient habe. Aus all dem schlussfolgern wir aber nicht, dass das Prinzip der Chancengleichheit keine Gültigkeit bei der Vergabe von Ämtern habe. Denn es sind Zufälle besonderer Art, die bei der Verteilung von Gütern nach dem Chancengleichheitsprinzip keine Rolle spielen dürfen: das Geschlecht, das soziale Herkunftsmilieu, die Hautfarbe, Behinderungen usw., also Eigenschaften von Personen, die keine Gründe für den Ausschluss vom Zugang zu vorteilhaften gesellschaftlichen Positionen sein dürfen. 33 Wenn also der Einfluss des moralisch nichtrelevanten Schicksals auf die Verteilung von Ämtern kein Grund ist, die Idee der Chancengleichheit in diesem Kontext zu diskreditieren, dann kann die Tatsache der Zufälligkeit der Nachfrage nach den Früchten der Arbeit kein Grund sein, das Chancengleichheitsprinzip im Kontext der Einkommensgerechtigkeit zurückzuweisen. 34 Walzer will mit seinem Argument nicht dem Wert der Gleichverteilung von Einkommen das Wort reden. Das Gerechtigkeitsprinzip des (starken) Verdienstes gehöre in eine andere Sphäre, in die der Verteilung von Ehrungen und Auszeichnungen. Auf dem freien Markt herrsche dagegen ein anderes Gerechtigkeitsprinzip: das Prinzip der Tauschgerechtigkeit. Warum sollte es ungerecht sein, den Lohn zu behalten, den ein anderer bereit ist, mir zu zahlen? 35 Vgl den »Grundsatz der Offenheit sozialer Positionen« von Rawls (Abschnitte 2.5 und 2.6 dieser Arbeit). 34 G. A. Cohen versteht unter Egalitarismus die Idee, unfreiwillige Benachteiligungen, die dem Betreffenden nicht zuzurechnen sind, zu eliminieren: G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 916. Elizabeth Anderson bezeichnet diesen Egalitarismus als Theorie der Schicksalsgleichheit. Aufgabe des Sozialstaates ist es, die Bürger für unverantwortete Schicksalsschläge zu entschädigen: Anderson, a. a. O., S. 117 ff. Tatsächlich unterscheidet Cohens Definition nicht zwischen gerechtigkeitsrelevanten und nichtrelevanten Benachteiligungen. Dadurch gerät die Frage nach dem Umfang und den Grenzen der Verantwortung des Staates für das Wohlergehen des Einzelnen völlig aus dem Blick. Im Prinzip sind die Aufgaben des Sozialstaates grenzenlos, weil jedes beliebige unverdiente Pech einen Anspruch auf Entschädigung begründet. Weil das so ist, kann Cohens Kriterium kein grundlegendes sein. Es setzt ein Kriterium moralisch relevanter Benachteiligungen voraus, die auch nicht in jedem Fall unverantwortet sein müssen. 35 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 169. 33
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Einkommen und Verdienst
Tauschgerechtigkeit bedeutet, dass beide Parteien im Tausch ihren Vorteil finden müssen, dass keine Partei auf Kosten der anderen einseitig vom Tausch profitiert. Ein Tausch ist frei, wenn beide Parteien im Tausch gleichermaßen ihre Interessen zur Geltung bringen können. Die Gerechtigkeit des freien Marktes gründet nicht auf dem Verdienstgedanken, sondern, so Walzer, auf der Idee der annäherungsweisen Gleichheit der Tauschparteien. Tauschgeschäfte auf dem Arbeitsmarkt, die aus der Not oder der völligen Machtlosigkeit der Arbeitnehmer gegenüber den Kapitaleignern geboren werden, widersprechen dieser Idee der Gleichheit. 36 Aber können wir die Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit außer Acht lassen? Zugestanden, dass Gerechtigkeit darin besteht, dass die Interessen aller in möglichst gleicher Weise Berücksichtigung verdienen. Wie kann es dann aber gerecht sein, wenn Menschen versuchen im Konkurrenzkampf des freien Marktes einen Vorteil gegenüber anderen zu erzielen? Wie kann es gerecht sein, um zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren, dass Adrian auf dem Markt mit seiner Tomatenzucht einen weit größeren Gewinn erzielt als Bruce mit seinen Kürbissen? Sowohl Adrian als auch Bruce wollen mit ihren Produkten auf dem Markt einen größtmöglichen Gewinn erzielen. Wenn wir aber das ungleiche Verteilungsergebnis des Marktes als gerecht akzeptieren, dann berücksichtigen wir nicht die Interessen von Adrian und Bruce in gleicher Weise. 37 Dieses Argument ist radikal marktfeindlich. Es ist ungerecht, wenn Menschen in Tauschbeziehungen, ob frei oder nicht, ihren individuellen Vorteil suchen. Die Perspektive der Tauschgerechtigkeit ist irrelevant. Moralisch gültig ist allein der Wert distributiver Gütergleichheit. Der Einwand ist willkürlich. Er beruht auf der Behauptung, dass Konkurrenzsituationen, in denen Menschen ihren individuellen Vorteil erstreben, moralisch zu verurteilen sind. Damit wird ohne Grund die Grenze zwischen moralisch gleichgültigen und moralisch bedeutsamen Handlungen zugunsten letzterer verschoben. Wir können daEbd., S. 184 f. Das ist grob skizziert die Position von Walter Pfannkuche. Als gerechtfertigter Grund für einen größeren Anteil darf allein die Kompensation für harte Arbeit gelten: Walter Pfannkuche, »Wer verdient schon, was er verdient?«, in: ders., Wer verdient schon, was er verdient? Fünf Gespräche über Markt und Moral, Stuttgart 2003, S. 12–62; hier S. 45. Eine ähnlich konkurrenzfeindliche Position vertritt G. A. Cohen in seiner Kritik am Anreiz-Prinzip bei Rawls: Gerald A. Cohen, If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?, Cambrigde, Mass. 2000, Kap. 8.
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Marktgerechtigkeit
her sagen, dass die Forderung nach Tauschfreiheit einschließt, dass in der Perspektive der distributiven Gerechtigkeit Adrian gegenüber Bruce einen gerechtfertigten Anspruch auf die Früchte seiner Arbeit hat. Als ein egalitäres Freiheitsrecht setzt es jedoch voraus, dass Bruce nicht daran gehindert wurde und die gleiche Chance hatte, wie Adrian gleiche Tauschbeziehungen einzugehen. Unter dieser Bedingung wird die Freiheit beider in gleicher Weise berücksichtigt: Adrian hat seinen Marktvorteil gegenüber Bruce verdient. Das Prinzip der Tauschfreiheit ist also in der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit um das Prinzip der Chancengleichheit zu ergänzen. Nicht dass Walzer das vergessen hätte: »Das ist es, wonach komplexe Gleichheit verlangt: Nicht der Markt muss abgeschafft, sondern niemand darf seines geringeren Status oder seiner geringeren Machtlosigkeit wegen von dessen Möglichkeiten abgeschnitten werden.« 38 Das setzt freilich die Gültigkeit des schwächeren Verdienstprinzips voraus, das dem Prinzip der Chancengleichheit zugrunde liegt. 39 Es gibt demnach keinen Grund, das Prinzip der Chancengleichheit auf dem freien Markt mit dem Argument zurückzuweisen, dass die Willkürlichkeit des Prinzips von Angebot und Nachfrage die Idee der primären Eigenverantwortlichkeit der Person für das Gelingen ihrer Lebenspläne desavouiere. Wenn man gegen Walzer einwenden kann, dass er den Zusammenhang von Tauschfreiheit und Eigenverantwortung nicht deutlich genug macht, indem er nicht zwischen starken und schwachen Verdienstansprüchen unterscheidet, so muss gegen Dworkin geltend gemacht werden, dass er offenbar über keine Konzeption von Tauschgerechtigkeit verfügt. Das ist überaus bemerkenswert. Denn einerseits soll die Theorie der Ressourcengleichheit Grundprinzipien einer gerechten Marktwirtschaft entwickeln, auf der anderen Seite wird von Dworkin die einfache Tatsache übersehen, dass Menschen auf dem Markt Tauschbeziehungen eingehen. Wie sollen wir aber einen Markt als gerecht oder ungerecht beurteilen, wenn wir die Tauschbeziehungen der Menschen unberücksichtigt lassen?
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Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 181. Vgl. Abschnitt 2.3 dieser Arbeit.
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Das Versicherungsmodell I: Workfare
6.4 Das Versicherungsmodell I: Workfare Das Prinzip der Chancengleichheit als Kriterium einer gerechten Einkommensverteilung wurde durch den Vergleich mit dem Chancengleichheitsgedanken im Kontext der Verteilung von Ämtern und beruflichen Positionen verteidigt. Nach dem Chancengleichheitsprinzip ist eine Verteilung von bestimmten Gütern genau dann gerecht, wenn die Verteilung das Ergebnis eines fairen Verfahrens ist, in dem die Menschen durch eigene Anstrengungen Güter erwerben bzw. erreichen können. Ziel des Verteilungsverfahrens ist die Eliminierung moralisch relevanter Willkürlichkeit, durch die Menschen in ihrem Streben nach Gütern diskriminiert werden. Der Idee der Chancengleichheit zufolge ist es nicht Aufgabe der Gerechtigkeit, den Einfluss ungleichen Schicksals auf das Verteilungsverfahren restlos zu verbannen. Im Gegenteil: Eine Konzeption der Verfahrensgerechtigkeit, die jede Art der Einflussnahme des Schicksals auf das Leben der Menschen ausschließen will, zerstört den Begriff freier Handlungen als Grundlage für Ansprüche auf Güter. Chancengleichheit ist ein antidiskriminatorisches Ziel der Gerechtigkeit. Das setzt voraus, dass wir zwischen moralisch relevantem und nicht relevantem Zufall unterscheiden können. Wir haben aber einen wichtigen Unterschied zwischen Ämtern und Einkommen außer Acht gelassen: Einkommen ist ein teilbares Gut, eine berufliche Position hingegen nicht. Die Unterscheidung macht auf die normativen Grenzen des Chancengleichheitsgedankens aufmerksam. Das Verständnis von Chancengleichheit als einem umfassenden Kriterium sozialer Gerechtigkeit bezeichnet die sogenannte Wettlauftheorie der Gerechtigkeit: »if people start in the same circumstances and do not cheat or steal from one another, then it is fair that people keep what they gain through their own skill.« 40 Nach einer komplexen Theorie sozialer Gerechtigkeit dagegen ist Chancengleichheit ein Gerechtigkeitsprinzip neben anderen. Es besitzt normative Gültigkeit nur innerhalb seines genau bestimmten Anwendungsbereichs oder ist nur im Verbund mit einem anderen Prinzip normativ gültig. Dworkin will seine Theorie der Ressourcengleichheit nicht als Ausdruck der Wettlauftheorie missverstanden wissen. Die Wettlauftheorie verlange unter der Bedingung gleicher Startchancen, die ja das Auktionsmodell beschreibt, dass alle Begüns40
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tigungen und Benachteiligungen des freien Marktes den Menschen als das Ergebnis eigener Entscheidungen zuzurechnen seien. Das aber sei kein kohärentes politisches Ideal. Wenn Gerechtigkeit Gleichheit am Start verlange, könne nicht zu einem späteren Zeitpunkt die Forderung nach einer Laisser faire-Ökonomie erhoben werden. Wenn wir anfänglich egalitär verteilen, müssen wir uns auch zu einem späteren Zeitpunkt egalitären Forderungen beugen. Wenn wir hingegen für eine Laisser faire-Ökonomie sind, müssen wir auch die Startbedingungen nach Laisser faire-Kriterien bestimmen. 41 Der Fehler der Wettlauftheorie besteht darin, dass sie die Menschen ihrem Schicksal auf dem freien Markt überlässt. Wenn die Startchancen für alle gleich sind, muss jeder die Risiken, die der Markt birgt, selbst tragen. Chancengleichheit bezeichnet nicht das grundlegende Gerechtigkeitsprinzip der Theorie der Ressourcengleichheit. Grundlegend sei vielmehr das abstrakte egalitaristische Prinzip, wonach es Aufgabe der Politik ist, das Leben der Menschen gleichermaßen zu verbessern. Wenn Menschen das Pech haben, dass ihre erworbenen Fähigkeiten und Talente auf dem Markt keine Nachfrage erfahren, die ihnen ein bestimmtes Leben ermöglicht, haben sie einen gerechtfertigten Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen. Weil aber andererseits die Person die nicht delegierbare Verantwortung für das Gelingen ihrer Lebenspläne trägt, muss die Politik den freien Markt als ein Verfahren der Verteilung von Gütern anerkennen, in dem die Menschen durch eigene Entscheidungen und Anstrengungen Ansprüche auf Güter erwerben. Die sozialstaatlichen Umverteilungen dürfen die individuelle Freiheit der Person auf dem Markt nicht verletzen. Aus dem abstrakten egalitaristischen Prinzip folgen daher zwei Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die einander nicht widersprechen dürfen. Das Prinzip der Chancengleichheit ist in einer kohärenten Weise um ein zweites Gerechtigkeitsprinzip zu ergänzen. »We want to develop a scheme of redistribution, so far as we are able, that will neutralize the effects of differential talents, yet preserve the consequences of one person’s choosing an occupation, in response to his sense of what he wants to do with his life, that is more expensive for the community than the choice another makes. An income tax is a plausible device for this purpose because it leaves intact the possibility of choosing a life in which sacrifices are constantly made and discipline steadily imposed for the sake of 41
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financial success and the further resources it brings, though of course it neither endorses nor condemns that choice. But it also acknowledges the role of genetic luck in such a life. The accommodation it makes is a compromise […] of two requirements of equality, in the face of both practical and conceptional uncertainty how to satisfy these requirements, not a compromise of equality for the sake of some independent value such as efficiency.« 42
Welcher Gleichheitsgedanke steht hinter der Forderung nach steuerlichen Umverteilungen und worin genau besteht die Benachteiligung, die diese Forderung rechtfertigt? Zwei Konzepte der Verfahrensgerechtigkeit prägen die Theorie der Ressourcengleichheit. Da ist zum einen das Konzept eines egalitaristischen Marktes. Das, was Personen an materiellen Ressourcen besitzen, soll, so das Ideal, das Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen und Anstrengungen sein. Es ist die Aufgabe des Sozialstaates, diesen egalitären Freiheitsgedanken durch Rahmenbedingungen einer gerechten Ökonomie zu verwirklichen. Niemand darf von den Möglichkeiten des Marktes ausgeschlossen bleiben. Dworkin übersetzt sein Gedankenexperiment des Schiffbruchs in einer nur unzureichenden Weise in Gerechtigkeitsprinzipien, nach denen die wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen einer Gesellschaft zu beurteilen sind. Aber man kann umstandslos seine Forderung nach gleichen Chancen auf dem Markt mit dem ersten Teil von Rawls’ zweitem Gerechtigkeitsgrundsatz identifizieren. Allerdings besteht der Unterschied darin, dass das Prinzip der Chancengleichheit bei Dworkin nicht auf die Verteilung von Ämtern und beruflichen Positionen eingegrenzt bleibt, sondern auch die Regelung der mit den Ämtern verbundenen Einkommen einschließt. Nach diesem Modell der Verfahrensgerechtigkeit ist Dworkins Gerechtigkeitstheorie eine Wettlauftheorie. Unter den genannten Bedingungen ist die Einkommensverteilung einzig als Ausdruck der freien Entscheidungen der Menschen zu betrachten. Das zweite Modell der Verfahrensgerechtigkeit der Theorie der Ressourcengleichheit ist die Idee der Versicherung gegen bestimmte Lebensrisiken. Diesem Gerechtigkeitsmodell zufolge ist es das Ziel, »to make people equal, so far as this is possible, in the resources with which they face uncertainty.« 43 Ziel sozialer Gerechtigkeit ist es, Ebd., S. 91. Ronald Dworkin, »Sovereign Virtue Revisited«, in: Ethics 113/2002, S. 106–143, Zitat, S. 107.
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Menschen in Unglücksfällen zu helfen und sie nicht in ihrer Not ihrem Schicksal zu überlassen. Diesem Gleichheitsgedanken zufolge wäre die Verteilung materieller Ressourcen genau dann gerecht, wenn alle Bürger die gleichen Chancen gehabt hätten, sich gegen bestimmte Lebensrisiken zu versichern. 44 Mit dem zweiten Gerechtigkeitsprinzip will Dworkin das Dilemma lösen, in das er geraten war, als er den Chancengleichheitsgedanken mit der verdienstfeindlichen Position von Rawls verbinden wollte. Vor dem Hintergrund des Prinzips der Chancengleichheit der Risikoversicherung besteht die gerechtigkeitsrelevante Benachteiligung einer Person nun nicht mehr darin, dass sie aufgrund mangelnden Talents weniger Einkommen und Vermögen besitzt als eine andere Person. Eine Person A ist vielmehr genau dann gegenüber einer anderen Person B benachteiligt, wenn A nicht die gleiche Chance wie B hatte, sich gegen Marktrisiken zu versichern. Als Marktrisiko gilt die Unterbietung eines bestimmten Einkommensniveaus N. Der Begriff eines Marktrisikos ist absoluter Natur. Er bemisst sich an einer Einkommensschwelle, deren Unterbietung für den Betroffenen ein absolutes Übel darstellt, ganz unabhängig davon, wie viel andere Personen besitzen. Benachteiligt sind Personen, deren Fähigkeiten und Talente auf dem Markt eine bestimmte Einkommenshöhe unterschreiten, und nicht weil sie weniger besitzen als andere. Das zweite Gerechtigkeitsprinzip gründet auf der Idee der Solidarität: Bürger, die weniger als N verdienen, haben einen Anspruch auf die Solidarität ihrer Mitbürger. Die Gerechtigkeitsforderung besteht in steuerlichen Umverteilungen zugunsten derjenigen, die gemessen an einer bestimmten Einkommensschwelle zu wenig besitzen. Dieser Solidaritätsgedanke ist mit dem Verdienstkriterium, das dem Chancengleichheitsprinzip zugrunde liegt, nicht nur vereinbar, sondern ist auch seine notwendige Ergänzung. Er fordert, dass besondere Risiken, die ein freier Markt den Menschen aufbürdet, gemildert werden. Durch die Forderung nach Solidarität weist Dworkin die Auffassung von Chancengleichheit als Wettlauf zurück, ohne das Prinzip der Chancengleichheit selbst preiszugeben. Unverträglich ist die Idee der Solidarität hingegen mit einer meritokratischen Konzeption sozialer Gerechtigkeit. Die Meritokratie ist Ausdruck einer libertären Auffassung von Verdienst, die den Erfolg einer Person auf dem freien Markt als eine Art Belohnung für 44
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besondere Talente begreift. 45 Über den wirtschaftlichen Erfolg entscheidet allein die Tüchtigkeit, die auf dem Markt nachgefragte Tugend der Person. Durch Steuern zu erzwingende Solidaritätsleistungen für die in Not Geratenen sind der meritokratischen Position zufolge eine Form des Diebstahls und der Nichtanerkennung der Tugend der Tüchtigen zugunsten derer, die durch Mangel an Anstrengung und Tüchtigkeit die Not, in der sie sich befinden, selbst verschuldet haben. Gegen diesen Verdienstgedanken richtet Dworkin im neunten Kapitel seines Buches »Sovereign Virtue« sein Argument, dass die Willkürlichkeit der Nachfrage nach bestimmten Gütern und Dienstleistungen auf dem Markt nicht verdient sei. Der meritokratische Mythos, dass jeder seines Glückes Schmied sei, hypostasiert eine Handlungsmächtigkeit des Subjekts, die die Rolle des Zufalls auf dem freien Markt willkürlich dem Subjekt zurechnet. 46 Damit hat Dworkin knapp zwanzig Jahre nach Erscheinen seines grundlegenden Aufsatzes »Equality of Resources«47 das Rawls’sche Ziel sozialer Gerechtigkeit, den Einfluss natürlicher Begabungen auf das Verfahren der Verteilung sozioökonomischer Güter zu eliminieren, endgültig aufgegeben. Diese Wendung hat ihren systematischen Grund aber in Dworkins Idee, seiner Theorie der Ressourcengleichheit ein Versicherungsmodell zugrunde zu legen, was er im Aufsatz von 1981 detailreich ausführt. Bereits hier formuliert er als die Aufgabe des Wohlfahrtsstaats, für allgemeine Chancengleichheit und eine universalistische Risikoversicherung zu sorgen. Die Höhe der Einkommensschwelle, die Solidarität verlangen darf, soll entscheidungstheoretisch durch das Gedankenexperiment eines hypothetischen Versicherungskaufes hergeleitet werden, »in principle by asking how much insurance someone would have bought, in an insurance subauction with initially equal resources, against the possibility of not having a particular level of some skill«. 48 Wenn sich zeigen lässt, dass sich unter egalitären Bedingungen rationale Egoisten gegen die Unterbietung eines bestimmten Einkommensniveaus N versichern würden, so der Grundgedanke, Dworkin, Sovereign Virtue, S. 325 ff. Das ist eine knappe Paraphrasierung des Arguments von Dworkin, das natürlich an Walzers Kritik des meritokratischen Verdienstgedankens auf dem freien Markt erinnert: Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 327. 47 Ebd., Kap. 2. 48 Ebd., S. 92. 45 46
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dann definiert diese Schwelle N genau die Höhe der berechtigten Kompensationsforderungen. Alle Bürger, die weniger als N als Einkommen verdienen, haben also einen gerechtfertigten Anspruch auf die Differenz zwischen ihrem Lohn und N, weil sie sich dagegen versichert hätten, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten. Der Staat bezahlt allen Bürgern, die weniger als N verdienen, die Differenz. N bezeichnet also auch die legitime Grenze steuerlicher Umverteilungen. Wer nicht weniger oder mehr als N verdient, hat keinen gerechtfertigten Anspruch auf Redistributionen. Die egalitären Bedingungen des hypothetischen Versicherungsmarktes definieren die normative Idee einer Chancengleichheit bei der Vermeidung eines Übels: Risiken sollen gleichmäßig verteilt werden. Die Menschen kennen ihre Fähigkeiten und Berufsqualifikationen. Sie wissen aber nicht, welchen Marktwert ihre Qualifikationen erzielen werden. Es ist für alle gleichermaßen wahrscheinlich, dass dieser Marktwert sehr gering ausfällt. Alle Personen haben die Möglichkeit, sich gegen die Unterbietung einer Einkommensschwelle zu versichern, deren Höhe die Personen im Gedankenexperiment selbst bestimmen dürfen. Gegen welche Einkommensunterbietung werden sich die rationalen Egoisten in der egalitären Situation des Gedankenexperiments versichern? Die Antwort liegt auf der Hand. Weil jede Person des Gedankenexperiments ihr eigenes Wohl maximieren will, besteht die bestmögliche Entscheidungsoption darin, sich gegen die Unterbietung des Einkommensniveaus von Bill Gates zu versichern. Das ist das Maximum. Dworkin macht gegen diese Entscheidungsrationalität geltend, dass eine solche Versicherung von der hypothetischen Versicherungsgesellschaft nicht angeboten würde. 49 Aber eine hypothetische Versicherungsgesellschaft ist überhaupt keine Versicherungsgesellschaft. Was soll das für ein Argument sein? Dworkin versäumt die entscheidungstheoretische Herleitung der berechtigten Redistributionsleistungen in einer Art und Weise auszuformulieren, die das dahinter stehende moralphilosophische Argument deutlich werden lässt. Die entscheidungstheoretische Darstellung eines moralphilosophischen Arguments besteht aus zwei klar voneinander zu unterscheidenden Schritten. 50 In einem ersten Schritt ist die besondere Si49 50
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Ebd., S. 96. Dworkin lässt diese Unterscheidung in seinem Versicherungsargument im Dunkeln.
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tuation zu definieren, in der sich rational an ihrem eigenen Wohl interessierte Personen für eine bestimmte Option entscheiden. Der zweite Schritt besteht in der Nutzen-Kosten-Kalkulation der besten Entscheidungsoption. Eine Entscheidung ist immer nur relativ zu den besonderen Entscheidungsbedingungen rational. Was unter der Bedingung X eine rationale Entscheidung sein mag, ist unter einer ganz anderen Bedingung Y möglicherweise vollkommen irrational. Soll die rationale Entscheidung unter der Bedingung X für eine bestimmte Option N ein moralisches Argument für die normative Gültigkeit von N sein, so dass wir sagen können, N ist ein Gebot der Moral, dann müssen die Entscheidungsbedingungen (X) bereits moralischen Forderungen genügen. In unserem Fall genügt die Situation der ursprünglichen Versicherungssituation zwei moralischen Bedingungen: die gleiche Risikowahrscheinlichkeit und die gleiche Versicherungsmöglichkeit für alle Personen. Das Übel, weniger als N zu verdienen, darf niemandem als eigene Schuld zugerechnet, noch darf es als schieres Pech einfach hingenommen werden. Die beiden Gleichheitsbedingungen drücken die moralische Überzeugung aus, dass im Risikofall alle einen gerechtfertigten Anspruch auf die monetären Zuwendungen des Sozialstaats haben. Das ist noch nicht die ganze Geschichte. Wir müssen die rationalen Egoisten im Gedankenexperiment mit der Wirklichkeit konfrontieren. Es geht um die Frage der gerechten Verteilung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens einer bestimmten Gesellschaft. Die Gütermenge, die zur Verteilung steht, ist begrenzt. Des Weiteren haben die rationalen Egoisten des Gedankenexperiments noch nicht verstanden, was es heißt einer Risikoversicherung beizutreten. Einen Anspruch auf Leistung im Versicherungsfall erhalte ich nur dann, wenn ich in den Versicherungstopf einzahle, der sich ja aus den Beiträgen der Versicherten speist. Das, was ich im Versicherungsfall erhalte, ist ein Teil der Versicherungsbeiträge, die alle Versicherten zahlen müssen. Es ist daher ein Gebot der Tauschgerechtigkeit, dass ich nur dann Leistungen erhalte, wenn ich mich versichere, also in den Versicherungstopf einzahle. Das lässt sich aber nun weiter präzisieren: Was ein Versicherungsfall ist, auf welche Leistungen ich im Versicherungsfall einen Anspruch habe, hängt von der Höhe meiner Versicherungsbeiträge ab. Das folgt aus der moralischen Forderung, dass die Kosten der Versicherungsleistungen gleichermaßen auf den Schultern der Versicherten zu verteilen sind. Je höher die Leistungen im Versicherungsfall, je wahrscheinlicher dessen Eintritt, desto gröA
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ßer ist der Versicherungsbeitrag, den ich zahlen muss. Bei gleichem Beitrag, aber unterschiedlichen Leistungen, würde ein Teil der Versicherten im Versicherungsfall mehr erhalten, obwohl alle das gleiche eingezahlt haben. Diese Ungerechtigkeit wird durch die Bedingung der Knappheit drastisch verschärft. Je mehr einem Teil der Versicherten im Versicherungsfall ausgezahlt werden muss, desto weniger Geld bleibt im Versicherungstopf für die anderen übrig, die für geringere Leistungen eingezahlt haben. Berücksichtigt also die Versicherungsprämie nicht die Höhe der zu zahlenden Leistungen, führt das im schlimmsten Fall zur Ausbeutung: Trotz Einzahlung erhalten im Versicherungsfall Menschen keine Leistungen, weil der Topf durch die anspruchsvoll Versicherten bereits geplündert ist. Das Gedankenexperiment ist daher zu modifizieren: Alle Personen sind gleichermaßen im Unklaren darüber, welches Einkommen sie mit ihren erworbenen Qualifikationen auf dem freien Markt erzielen werden. Das Risiko einer bestimmten Lohnunterbietung ist für alle gleichermaßen wahrscheinlich, aber alle haben die gleiche Möglichkeit, sich dagegen zu versichern. 51 Die Personen des Gedankenexperiments wissen, dass sie, nachdem sie die Versicherung abgeschlossen haben und das Geheimnis des Marktwerts ihrer Berufsqualifikationen gelüftet ist, die Versicherungsprämie ex post von ihrem Einkommen zahlen werden müssen. Die letzte Bedingung reflektiert nicht nur die moralischen Prinzipien einer Versicherungsgemeinschaft, sie definiert auch die besondere Situation der sich Versichernden, das entscheidungstheoretische Problem, mit dem diese konfrontiert sind. Es gilt nun zwei Übel zu minimieren: (1) das Übel des Risikos, das den Versicherungsfall beschreibt, und (2) das Übel der Versicherungsprämie. Das Übel der Versicherungsprämie wird durch (a) den Anstieg der Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Versicherungsfalls und (b) die Höhe der zu zahlenden Versicherungsleistung maximiert: die Beiträge steigen. Das Übel zu hoher Beiträge (a) wird also minimiert, wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des VerEs ist für alle gleichermaßen wahrscheinlich, weniger als N zu verdienen, genau dann, wenn alle Personen die gleiche Einkommensschwelle als Versicherungsfall wählen. Werden aber unterschiedliche Einkommensschwellen gewählt, muss die Versicherung berücksichtigen, wie häufig der Versicherungsfall eintritt, d. h. wie viel Menschen weniger als die gewählte Einkommensschwelle verdienen. Diese Unterscheidung ist ein wesentlicher Bestandteil der Argumentation Dworkins: Die Versicherungskosten sind der Person in Rechnung zu stellen. Im Kontext der Krankenversicherung sieht das anders aus.
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sicherungsfalls sinkt. Dadurch steigt aber das Risiko, in die Versicherung eingezahlt zu haben, ohne etwas zurückzubekommen. Je geringer die Wahrscheinlichkeit des Versicherungsfalls, desto irrationaler der Verlust zu zahlender Beiträge. Das Übel der Versicherungsbeiträge wird durch den Anstieg der Höhe der Versicherungsleistungen (b) maximiert. Je höher die Leistungen, desto höher werden später die zu zahlenden Versicherungsbeiträge ausfallen, das Realeinkommen wird also sinken. Dabei steigt mit der Höhe von N die Wahrscheinlichkeit, nicht zu den Spitzenverdienern zu zählen (a), was darauf schließen lässt, dass die hypothetische Versicherungsanstalt ab einer gewissen Einkommenshöhe keine Versicherung mehr anböte. Eine solche Versicherung bedeutete für den Versicherten eine lebenslange Verschuldung. Wenn ich dagegen zu den Spitzenverdienern zähle, werde ich mein Spitzenverdienst an die Versicherung zurückzahlen müssen. Ich werde, so Dworkin, zum Sklaven meiner Versicherung.52 Es ist demnach besser, sich nicht zu versichern. Es sei denn, das Übel des mir drohenden Risikos bedeutete im Ernstfall eine solche Katastrophe, dass seine Vermeidung den relativen Verlust der Versicherungsprämie aufwöge. Nur wenn das Übel einer nichtversicherten Katastrophe das Übel der Versicherungsprämie bei weitem übersteigt, ist der Abschluss der Versicherung rational. »I buy insurance on my house because the marginal utility loss of an uncompensated fire is so much greater than the utility cost of the premium.« 53 Es gilt daher, »the lower the income level chosen as the covered risk, the better the argument becomes that most people given the chance to buy insurance on equal terms would in fact buy at that level.« 54 Die Schlussfolgerung Dworkins lautet, dass es im Gedankenexperiment nur rational ist, sich gegen die Unterbietung eines die Existenz sichernden Minimallohns zu versichern. Die Einkommensschwelle N bezeichnet einen Lohn, der ein anständiges Leben (a decent life) garantieren soll. 55 Genau dann also, wenn Claudes Einkommen, um zum anschaulichen Beispiel zurückzukehren, unterhalb der Schwelle eines solchen Minimallohns liegt, hat er einen gerechtfer52 53 54 55
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 99. A
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tigten Anspruch auf solidarische Umverteilungen. Der Staat muss ihm die Differenz zwischen seinem Hungerlohn und dem, was für ein anständiges Leben notwendig ist, zahlen. Nicht mehr und nicht weniger. Gerechtfertigt ist diese Forderung sozialer Gerechtigkeit, weil wir uns alle in einer Situation ursprünglicher Gleichheit gegen die Katastrophe eines Hungerlohns versichert hätten, wenn wir uns rational entschieden. Die Tatsache, dass wir und auch Claude niemals in einer solchen ursprünglichen Versicherungssituation waren, spielt für die normative Beurteilung eines Verteilungszustandes keine Rolle. Das allgemeine Ziel der Ressourcengleichheit ist es, die Verteilung von Ressourcen von den Entscheidungen der Menschen und nicht von ihren Lebensumständen abhängig zu machen. Es ist die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates, einen Verteilungszustand herbeizuführen, als ob er das Ergebnis einer gerechten Vergangenheit wäre, in der alle die gleichen Chancen hatten, sich gegen das Marktrisiko eines Hungerlohns zu versichern. »So the general goal of equality of resources – that distribution should be sensitive to choice but not to circumstance – is satisfied by a welfare scheme that places people in the circumstances we assume they would have enjoyed had insurance been available to them on equal terms.« 56 Das Versicherungsargument soll Marktentscheidungen simulieren, die die Bürger nicht treffen konnten, weil ihnen die nötigen Ressourcen fehlten. 57 Der Wohlfahrtsstaat fungiert als eine Art Versicherungsanstalt, der von den Glücklichen die Versicherungsprämien kassiert, die den Unglücklichen als Versicherungsleistungen ausgezahlt werden. Niemand darf auf dem freien Markt zugrunde gehen. Für den Chancengleichheitsgedanken des Versicherungsarguments ist die Frage, was eine Person für ihren Erfolg oder Misserfolg auf dem freien Markt getan hat, völlig unerheblich. Ob Bruce faul war und seine Talente hat verwahrlosen lassen, ob Claude unter einem allgemeinen Begabungsmangel leidet, der ihn schicksalhaft gegenüber anderen benachteiligt, ist gerechtigkeitsirrelevant. Dworkin bezeichnet sein Versicherungsmodell in »Equality of Resources« als Antwort auf das Rawls’sche Gerechtigkeitsproblem der Benachteiligung für mangelndes Talent. Aber das ist falsch. Sowohl Claude als auch Bruce hätten sich wie alle anderen Bürger auch gegen Armut durch Geringverdienst versichert, wenn sie die Möglichkeit gehabt 56 57
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Ebd., S. 334. Dworkin, »›Sovereign Virtue‹ Revisited«, a. a. O., S. 112.
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hätten. Aus diesem Grund haben sie einen Anspruch auf die monetären Zuwendungen des Wohlfahrtsstaates, wenn sie zu wenig verdienen. Und auch umgekehrt gilt, dass niemand, der mehr als den Mindestverdienst erhält, die Solidarität mit den arbeitenden Armen verweigern kann, indem er seinen Erfolg als das Ergebnis eigener Anstrengungen und den Misserfolg der Armen als schuldhaft verdient deutet. Armut durch Geringverdienst ist in jedem Fall ein nicht hinnehmbares Übel und es ist Aufgabe des Wohlfahrtsstaates, allen arbeitenden Armen finanzielle Unterstützung zu gewähren. Dworkin eliminiert die moralische Relevanz der Frage der Zurechenbarkeit von Armut durch Geringverdienst durch die Wissenslücke des Gedankenexperiments der ursprünglichen Versicherung: Die Personen kennen ihre individuellen Biographien und ihre jeweiligen besonderen Fähigkeiten und Qualifikationen. Sie besitzen aber keinerlei Wissen über den Marktwert ihrer Berufsqualifikationen. Niemand weiß, ob er zu den arbeitenden Armen zählen wird; das ist für alle gleichermaßen wahrscheinlich. Für das Kriterium der Chancengleichheit der Vermeidung von Übeln spielt freilich ein anderes Verdienstprinzip eine Rolle: Stellen wir uns vor, alle hätten die gleiche Möglichkeit gehabt, sich gegen Armut zu versichern und dieses Risiko wäre für alle gleichermaßen wahrscheinlich gewesen. Aber eine Person P hätte das Risiko gewagt, sich nicht zu versichern. Sie hat die gleiche Chance der Versicherung einfach ausgeschlagen. Wenn sie nun Pech hat und zu den arbeitenden Armen zählt, ist ihr dieses Pech als eigene Schuld zuzurechnen, als Ergebnis der Entscheidung, ein kalkuliertes Risiko einzugehen. P wird das Opfer kalkulierten Pechs (bad option luck). 58 Weil Ungleichheiten, die sich auf die freien Entscheidungen der Menschen zurückzuführen lassen, nach dem Ideal der Ressourcengleichheit gerechtfertigte sind, folgt, dass die Armut von P verdient ist. Das ist ein merkwürdig grausames Gerechtigkeitsurteil und es gibt gute Gründe, das Verdienstprinzip der Chancengleichheit der Vermeidung von Übeln in dieser Hinsicht in Zweifel zu ziehen. 59 Die Frage der verdienten Not spielt aber im Kontext der Einkommensgerechtigkeit keine Rolle, weil das Versicherungsmodell, anders als z. B. im Fall der medizinischen Fürsorge, hypothetisch bleibt. Dieses Gerechtig-
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Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 73. Anderson, a. a. O., S. 128 ff. A
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keitsproblem muss in einem anderen Zusammenhang diskutiert werden. 60 Wie sieht nun eine gerechte Einkommensverteilung Dworkin zufolge aus? Das Modell der egalitären Auktion verlangt, dass jeder seinen Lebensweg mit einem gleichen Anteil an gesellschaftlichen Ressourcen beginnen soll. Der freie Markt darf nicht durch die gesellschaftlichen Spaltungen in Klassen, Ethnien und Geschlechter verzerrt werden. 61 Die Möglichkeiten des Marktes müssen allen offen stehen. Das Modell der egalitären Versicherung fordert die Beseitigung von Armut. Der erste Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes von Rawls wird also von Dworkin beibehalten, das Differenzprinzip durch die hypothetische Armutsversicherung ersetzt. Ist Dworkin damit eine überzeugende Alternative zum Konsequentialismus des Differenzprinzips gelungen? Ein Anhänger der Rawls’schen verdienstfeindlichen Position könnte einwenden, dass der Chancengleichheitsgedanke bei Dworkin trotz der Forderung nach staatlicher Unterstützung für arbeitende Arme eine meritokratische Tendenz habe. Was ist, wenn Menschen, die nicht weniger als ein Mindesteinkommen verdienen, das höhere Einkommen anderer beneiden. Ist der Neid nicht berechtigt, gemessen am Maßstab der Absichtsgleichheit? Es ist ja nicht zu übersehen, dass Dworkins Kriterien einer gerechten Einkommensverteilung mit der Forderung nach Absichtsgleichheit nichts mehr gemein haben. Dworkin stellt sich diese Frage in »Equality of Resources« selbst. Ist das Versicherungsmodell der zielführende Versuch, die beiden Forderungen nach individueller Freiheit auf dem Markt und nach Kompensation unverantworteten Pechs zu versöhnen? »The hypothetical insurance market approach aims to put such people [those whose talents are not in great demand] in the position they would have been in had the risk of their fate been subjectively equally shared. But it does not make them as well-off in the end as those whose talents are in more demand, or as those with similar talents lucky enough to find more profitable employment. […] The hypothetical insurance market approach is beside the point (it might be said) exactly because it provides no answer to someone who is unable to find a job, points to the movie star, and declares, perfectly accurately, that he would do that work for that pay if asked.« 62
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Vgl. Abschnitt 7.2 dieser Arbeit. Vgl. Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 92. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 104.
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Dem Prinzip der Absichtsgleichheit zufolge ist jede unverantwortete Benachteiligung auf dem freien Markt kompensationswürdig. Wenn Claude Umverteilungen einfordert, die über die Forderung nach Minimallöhnen weit hinausgehen, verschlechtert sich jedoch das Nettoeinkommen der Besserverdienenden. Aber diese Verschlechterung der Position der Besserverdienenden gegenüber Claude ist, so Dworkin, kein Grund, Claudes Forderungen zurückzuweisen, so wenig wie Claudes komparative Schlechterstellung als solche ein Grund für die Berechtigung seiner Forderungen ist. Claude müsse schon andere Argumente anführen, die unabhängig von seiner relativen Position einen Grund für die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung benennen. 63 Distributive Gleichheit besitzt demnach für Dworkin keinen intrinsischen Wert, und zwar auch dann nicht, wenn die Tatsache, weniger zu haben als andere, nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen ist. Es muss ein Grund genannt werden, worin genau das Übel der (unverantworteten) Benachteiligung besteht. Einen solchen Grund liefert das Versicherungsmodell, das, wie deutlich wurde, die Gerechtigkeit einer Einkommensverteilung nach einem nichtkomparativen Maßstab beurteilt: Gerecht ist eine Einkommensverteilung genau dann, wenn niemand unter Armut leidet. Der grundlegende Wert des Versicherungsmodells ist daher nicht die individuelle Freiheit, die eine marktwirtschaftliche Ökonomie garantieren soll, sondern der Wert eines menschenwürdigen Lebens, das Güter der basalen Bedürfnisbefriedigung erfordert. 64 Ein Minimallohn bemisst sich daran, ob er als Tauschmittel für diese Güter ausreicht. Dworkin hält sein Versicherungsmodell für fair, weil es egalitaristische Marktentscheidungen simuliere. Aber Güter, deren Verfügbarkeit ein menschenwürdiges Leben definieren, sind normativ nicht als beliebige Waren zu verstehen, die der Markt nach den willkürlichen Prinzipien von Angebot und Nachfrage feilbietet. Diese Güter sind in einem objektiven Sinne gut. Ihr Gutsein hängt nicht davon ab, ob ein Subjekt ihnen Wert verleiht oder nicht. Das wird im Gedankenexperiment der Versicherung deutlich: Menschen versichern sich gegen Unglücksfälle und Katastrophen. Es ist nur dann rational, sich gegen N zu versichern, wenn überhaupt einige Wahrscheinlichkeit besteht, dass N eintritt, und wenn N ein gravierendes Übel darstellt. Eine Versicherungsentscheidung ist also nur relativ 63 64
Ebd., S. 105 f. Vgl. Kap. 7 dieser Arbeit. A
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zum Wert rational, der durch N zerstört oder gemindert wird. Soll es für alle Menschen rational sein, sich gegen N zu versichern, wird durch das Versicherungsmodell ein objektives Werturteil vorausgesetzt, aber nicht begründet. In diesem Fall ist es der Wert eines Lebens in Würde (»decent life«), der durch das Existenzminimum gesichert werden soll. 65 Diese Feststellung hat Konsequenzen für Dworkins Ressourcenbegriff. Ressourcen wie z. B. das Einkommen sind Grundgüter, die eine marktwirtschaftliche Ökonomie, die individuelle Freiheit als Konsumfreiheit ermöglicht, als Verteilungsverfahren voraussetzen. Aber basale Bedarfsgüter besitzen keinen ausschließlich instrumentellen, freiheitsbezogenen Wert. Der Mangel an diesen Gütern bedeutet vor allem ein intrinsisches Übel. Auch in einer zentralistischen Planwirtschaft ist es gut, genug für ein anständiges Leben zu besitzen. Die Ressourcen, deren gerechte Verteilung das Versicherungsmodell beurteilt, sind Güter, die ein Leben in Würde garantieren sollen. Die Bekämpfung von Armut zählt zu den wichtigsten Forderungen sozialer Gerechtigkeit. Dworkin rechtfertigt mit seinem Modell einer hypothetischen Versicherung gegen Niedrigstlöhne ein sozialpolitisches Programm zur Bekämpfung von Armut, das in den USA als »workfare« bezeichnet und hierzulande als Kombilohn verhandelt wird. 66 Dabei handelt es sich um eine von Präsident Carter eingeführte, von Reagan vorangetriebene und schließlich unter der Präsidentschaft Clintons besiegelte Umorientierung der Armutspolitik von Unterstützung (welfare) auf Förderung von Arbeit (workfare). 67 Workfare bezeichnet, so der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, eine Art negative Einkommenssteuer, der »Earned Income Tax Credit« (EITC): Erwerbstätigen, deren Arbeitslohn das Existenzminimum nicht deckt, wird die Differenz durch den EITC von den FinanzDworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 99. Gegen Dworkins Konzeption der Ressourcengleichheit in »Equality of Resources« ist der Einwand erhoben worden, dass dieses Konzept sozialer Gerechtigkeit keinen Wirklichkeitsbezug habe. Gegenstand dieser Kritik ist das Prinzip der Absichtsgleichheit: Christine Chwaszcza, »Vorpolitische Gleichheit? Ronald Dworkins autonomieethische Begründung einer wertneutralen Theorie distributiver Gleichheit«, in: Politische Philosophie des Sozialstaats, hrsg. von Wolfgang Kersting, Weilerswist 2000, S. 159–201; Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, a. a. O., S. 172–279; insbes. S. 212 ff. Der Einwand ist falsch und resultiert aus einer von diesen Kritikern durchaus eingestandenen Lektüreverweigerung des Versicherungsarguments. 67 Franz-Xaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. 2003, S. 113 ff. 65 66
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ämtern ausgezahlt. 68 Die Auswirkungen dieser Armutspolitik sind Kaufmann zufolge kritisch zu bewerten. Durch die weitgehende Reduktion der Armenfürsorge auf die Unterstützung arbeitender Armer sei zwar die Zahl der Sozialhilfeempfänger stark zurückgegangen und dadurch ein Anstieg der Beschäftigung zu verzeichnen. Gleichwohl erreiche Workfare das eigentliche Ziel, die Beseitigung von Armut, nicht: »Vielmehr dürfte sich der Anteil der Arbeitenden erhöhen, deren Löhne das Existenzminimum nicht erreichen und die deshalb auf die ergänzende Hilfe von EITC angewiesen sind. […] Der Haupteffekt der Clinton-Reform ist somit eine Reduktion der Arbeitslosigkeit und der bisherigen Sozialhilfe bei gleichzeitiger Verschiebung der für die Unterstützung erforderlichen Mittel in den Bereich von EITC und eines weiteren Ausbaus der örtlichen Sozialbürokratie.« 69 Ergänzt werden muss Workfare zudem durch einen neu eingeführten Mindestlohn, der verhindern soll, »dass das neue Angebot von Arbeitskräften die Löhne im Niedriglohnsektor ins Unabsehbare senkt.« 70 Die Armutsbekämpfung durch Kombilohn ist aber nicht nur nach konsequentialistischen Maßstäben äußerst fragwürdig. 71 Der moralphilosophische Skandal besteht darin, dass Dworkin die Prinzipien einer gerechten marktwirtschaftlichen Ökonomie zu konstruieren versucht, ohne dabei die Perspektive der Tauschgerechtigkeit zu berücksichtigen! Das Versicherungsargument gründet auf der Idee der Solidarität mit den in Not Geratenen. Aber dieses Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit bedeutet im Kontext der Einkommensgerechtigkeit eine moralische Perversität. Noch einmal zurück zum Beispiel! Claude hat die Tomatenzucht an den Nagel gehängt und arbeitet nun für Adrian, der Claudes Not ausnutzt und ihm weniger bezahlt, als für ein anständiges Leben notwendig ist. Bruce, der genug verdient und in die Versicherung einzahlt, finanziert so die Differenz zwischen Claudes Verdienst und der Schwelle eines anständigen Einkommens. Damit überträgt sich aber die Ausbeutung indirekt auf Bruce. Das ist eine Solidarität mit dem Ausbeuter. Die Umorientierung der U.S.-amerikanischen Sozialpolitik von Unterstützung auf Ebd., S. 118 f. Ebd., S. 119 f. 70 Ebd., S. 119. 71 Insofern die Bekämpfung von Armut zu den grundlegenden Forderungen sozialer Gerechtigkeit zählt, sind natürlich sozialpolitische Maßnahmen auch danach zu beurteilen, inwiefern sie ihr Ziel effektiv erreichen. 68 69
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Förderung von Arbeit ist Ausdruck der in den USA weithin geteilten Überzeugung, dass Armut das Ergebnis der Arbeitsunwilligkeit der Betroffenen sei. Wer arm ist, hat sein Schicksal selbst verantwortet. 72 Gegen diesen Mythos mag man einwenden, dass Workfare die Unwilligkeit von Arbeitgebern unterstützt, menschenwürdige Löhne zu zahlen. Dworkins Modell einer Versicherung gegen Einkommensarmut scheitert daran, dass diese Art der Armut nicht einfach als Marktrisiko, als Pech zu beurteilen ist. Armut ist in diesem Fall das Ergebnis einer ungerechten Entlohnung. Dworkin rechtfertigt eine sozialpolitische Maßnahme zur Bekämpfung von Armut, die die Arbeitgeber aus der Pflicht entlässt, menschenwürdige Löhne zu zahlen, und stattdessen den Steuerzahlern die Kosten der Differenz zwischen Niedrig- und Mindestlohn aufbürdet. Für die betreffenden Unternehmen bedeutet EITC derart eine Externalisierung von Arbeitskosten. 73 Wenn Dworkin unterstellt, dass es rational ist, sich gegen die Unterbietung eines Mindestlohnes zu versichern, wieso sind dann Menschen so dumm, für einen solchen Katastrophenlohn überhaupt zu arbeiten? Unter der Voraussetzung, dass einer anderen Person ein Nutzen durch meine Arbeit entsteht, ist es ein einfaches und grundlegendes Gebot der Tauschgerechtigkeit, dass ich zumindest als Gegenleistung etwas erhalte, was mir im minimalen Sinne nutzt, was also meine Existenz erhält. Wenn Menschen für ihre Arbeit weniger erhalten, müssen wir das als krude Form der Ausbeutung qualifizieren. Der grundlegende Gleichheitsgedanke eines freien Arbeitsmarktes ist, dass der Tausch von Arbeit gegen Lohn ein Tausch zwischen zumindest annäherungsweise Gleichen sein muss. Michael Walzer hat an diese Forderung der Tauschgerechtigkeit erinnert. 74 Es ist nach Walzer in erster Linie die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates für die Statusgleichheit der Tauschparteien auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen, Vgl. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, a. a. O., S. 84 ff. Vertreter einer ausschließlich nichtkomparativen Gerechtigkeitsauffassung werden zwischen der Forderung nach Minimallöhnen, die die Arbeitgeber zu zahlen haben, und der steuerfinanzierten Workfare keinen moralisch relevanten Unterschied erkennen. Soziale Gerechtigkeit besteht nach dieser Auffassung darin, dass jeder genug bekommt, um ein anständiges Leben zu führen, aber nicht wesentlich darin, dass wir die Gerechtigkeitsforderungen von Personen miteinander vergleichen. Daher ist es dem Vertreter der nichtkomparativen Auffassung auch völlig gleichgültig, wer die Kosten von Forderungen sozialer Gerechtigkeit zu tragen hat. 74 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 184. 72 73
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damit »jeder Tausch das Resultat eines Geschäfts im Sinne einer Übereinkunft und nicht eines Befehls oder eines Ultimatums« sein kann. 75 Die gerechtigkeitsrelevante Ungleichheit auf dem Markt ist die einseitige Macht von Arbeitgebern und Unternehmen, die gebrochen werden muss. »In gewissem Sinne übernimmt der Wohlfahrtsstaat die Haftung für die Geldsphäre, wenn er garantiert, dass seine Bürger niemals dazu gezwungen sein werden, ohne Mittel, d. h. im Zustand der Mittellosigkeit, um die lebensnotwendigen Güter zu feilschen. Dem gleichen Zweck dient es, wenn er die gewerkschaftliche Organisation erleichtert. Arbeiter, die für sich alleine stehen, können sich, getrieben durch die Armut, ihren Mangel an speziellen marktfähigen Fertigkeiten oder auch durch ihre Unfähigkeit, ihre Familien dazu zu bewegen, das Ultimatum irgendeines örtlichen Arbeitgebers anzunehmen, genötigt sehen, Notübereinkünfte zu treffen. Kollektive Verhandlungen sind ein besserer Nährboden für einen Tausch zwischen Gleichen.« 76
Der egalitäre Status von Marktteilnehmern verlangt nach gesetzlichen Mindestlöhnen, die die Arbeitgeber zu zahlen haben, nach gewerkschaftlicher Organisation, nach Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit, damit verhindert wird, dass ein Arbeitsvertrag das Ergebnis von einseitiger Macht ist. Als eine noch grundlegendere Forderung sozialer Gerechtigkeit sieht Walzer allerdings die Notwendigkeit der Abgrenzung der Marktsphäre von der Sphäre der Politik an. Es müsse verhindert werden, dass privater Reichtum die politische Gleichheit der Bürger untergräbt. 77 Wie wir gesehen haben, ist das für Dworkin eine der fundamentalen Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob die finanzielle Förderung arbeitender Armer durch den Wohlfahrtstaat nicht Ausdruck der unternehmerischen Macht in der Politik ist. Was ein fairer Lohn ist, ist also in erster Linie Verhandlungssache unter der Idee der Gleichheit der Tauschparteien. Trotzdem werden auch unter dieser Bedingung auf dem Markt ungleiche Löhne gezahlt werden: Die Höhe des Einkommens, das jemand erzielen kann, hängt von der Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie der Nachfrage nach den Produkten der Arbeit ab. Die Verfügbarkeit von Arbeitskräften wird davon beeinflusst, inwiefern der Markt Chan75 76 77
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cengleichheit gewährt. Je egalitärer die Ausbildungschancen verteilt sind, so Walzer, desto mehr Bewerber werden um attraktive Arbeitsplätze konkurrieren. Dadurch sinkt das Einkommen dieser Berufe. Umgekehrt steigt die Notwendigkeit, Menschen durch Lohnanreize für weniger attraktive Arbeit zu motivieren. 78 Es sind daher beide Perspektiven zu berücksichtigen: In der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit müssen alle Bürger die gleiche Chance besitzen, die Möglichkeiten, die der Markt bietet, wahrzunehmen. In der Perspektive der Tauschgerechtigkeit müssen die Bürger einander auf dem Markt in fairen Tauschbeziehungen begegnen können. Wenn das Verfahren der Verteilung von Einkommen diesen Bedingungen genügt, können wir vielleicht nicht sagen, dass die Einkommensverteilung vollkommen gerecht ist. Aber durch die Forderung nach gleicher Vertragsfreiheit 79 und Chancengleichheit wird die Einkommensverteilung weit stärker das Ergebnis der freien Entscheidungen der Menschen sein als unter den Gerechtigkeitsbedingungen von Rawls oder Dworkin.
6.5 »Schicksalsgleichheit« vs. Kooperationsgerechtigkeit Wie kommt es, dass Dworkin bei der Konstruktion von Prinzipien einer fairen Einkommensverteilung die Perspektive der Tauschgerechtigkeit vergisst? Die Antwort findet man bei Rawls. Der skizziert im einleitenden Teil der Theorie der Gerechtigkeit als deren Gegenstand »die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.« 80 Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen wie die Verfassung und die durch freie Märkte gekennzeichneten wirtschaftlichen Institutionen bestimmen unterschiedliche soziale Positionen, die die Lebenschancen der Menschen von Geburt an zu einem großen Teil beeinflussen. Es sind für Rawls die ungleichen Startchancen der Menschen, die, so formuliert er es hier, die Herausforderung sozialer Gerechtigkeit darstellen. 81 Unter soziaEbd., S. 179. Die ja auch Dworkin einklagt am Beispiel der Arbeitsschutzmaßnahmen für Bäcker (Vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit). 80 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 23. 81 Ebd. 78 79
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ler Gerechtigkeit versteht denn auch Rawls ein umfassendes Konzept von Chancengleichheit, das der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz formuliert. Der gibt dem »Ausgleichsprinzip« einiges Gewicht, »des Prinzips nämlich, dass unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten«. 82 Wenn der Gegenstand der Gerechtigkeit in den ungleichen Lebenschancen der Menschen besteht und wenn der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz das Ausgleichsprinzip berücksichtigt, dann, so scheint es, ist Rawls’ Gerechtigkeitstheorie einer grundlegenden Gleichheitsidee verpflichtet. Will Kymlicka bringt in seiner Darstellung des egalitären Liberalismus diese Idee wie folgt auf den Punkt: Der Grundgedanke jeder Konzeption von Chancengleichheit sei die Auffassung, »dass das Schicksal der Menschen von ihren Entscheidungen über ihre Lebensführung bestimmt sein soll und nicht von den Umständen, in denen sie sich zufällig wiederfinden.« 83 Elizabeth Anderson hat für diese Auffassung die pointierte Formel des »Glücksegalitarismus« gefunden. Die grundlegende Idee dieses Egalitarismus sei eine Art »Schicksalsgleichheit«. 84 Kymlicka ist ein Anhänger der Ressourcentheorie Dworkins. Zwar gründe Rawls’ Gerechtigkeitstheorie auf der Idee, dass niemand durch ungleiche Lebensumstände bevorzugt oder benachteiligt werden solle, sie werde diesem Ideal aber nicht gerecht. Das Differenzprinzip subventioniere die Entscheidungen von Menschen, die weniger arbeiten, auf Kosten derjenigen, die mehr arbeiten. Zudem schränke Rawls seinen Begriff der Grundgüter willkürlich auf solche Güter wie Einkommen und Vermögen ein und berücksichtige nicht die Tatsache, dass eine Person bei gleichem Einkommen gleichwohl durch eine kostspielige Krankheit oder Behinderung schlechter gestellt sei als eine gesunde Person. Wer sich für mehr Freizeit und weniger Arbeit entscheide, habe die Kosten seines Lebensplanes zu tragen. Und wer unter unverantworteten Benachteiligungen wie Krankheit oder Behinderung leide, habe einen Anspruch auf Subventionierung der Behandlungskosten. 85 Erst Dworkin sei es durch seine Theorie der Ressourcengleichheit gelungen dem egalitären Liberalismus besser gerecht zu werden. Eine liberale Gerechtigkeitstheorie sieht Kymlicka denn auch durch Dworkins 82 83 84 85
Ebd., S. 121. Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 62. Anderson, a. a. O., S. 119. Kymlicka, Politische Philosophie, a. a. O., S. 76 ff. A
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Prinzip der Absichtsgleichheit charakterisiert: Die Unterschiede zwischen den Menschen sollten nur noch ihre verschiedenen Absichten widerspiegeln, »ihre verschiedenen Auffassungen davon, was ihr Leben lebenswert macht«. 86 Diese dem Neidkriterium Dworkins zugrundeliegende Idee drücke die Gerechtigkeitsauffassung der liberalen Gleichheit in ihrer überzeugendsten Form aus. 87 Tatsächlich ist Kymlickas Auffassung von sozialer Gerechtigkeit als Schicksalsgleichheit repräsentativ. Die Debatte um eine überzeugende Ausformulierung einer liberalen Theorie sozialer Gerechtigkeit, die sich an Dworkins berühmten Aufsatz »Equality of Resources« anschloss, drehte sich um die Frage, wie die sozialen Güter und Lasten unter die Bürger so zu verteilen seien, dass die freiwilligen Entscheidungen aller Menschen gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Diskussion um eine angemessene Ausdeutung des als »Glücksegalitarismus« gedeuteten Liberalismus hatte daher einen einfachen Syllogismus zu ihrem Gegenstand: (1) Soziale Ungerechtigkeit besteht darin, dass Menschen unter Benachteiligungen zu leiden haben, die sie nicht verschuldet haben. (2) X ist eine Benachteiligung, die die Betroffenen nicht selbst verschuldet haben. (3) Also ist es ungerecht, wenn Menschen unter X leiden. Die erste Prämisse ist Ausdruck der Überzeugung, dass es das Ziel sozialer Gerechtigkeit und also Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sei, die Menschen für alle unverantworteten Benachteiligungen zu entschädigen, Benachteiligungen aber, die auf freiwillige Entscheidungen der Betroffenen zurückführbar sind, zu akzeptieren. Daher gründet ein angemessener Begriff sozialer Gerechtigkeit nach Ansicht der Glücksegalitaristen wesentlich auf der richtigen Grenzziehung zwischen der Wahlfreiheit, die den Begriff der Person konstituiert und den Lebensumständen, die sich der Kontrolle der Person entziehen. Um ein umfassendes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, gilt es alle »X« ausfindig zu machen. Der Streit zwischen Anhängern eines Prinzips der Gleichheit des Wohlergehens bzw. gleicher Chancen auf Wohlergehen und einer Konzeption der ResEbd., S. 83. Ebd. Tatsächlich hat Dworkin das von ihm formulierte Kriterium der Absichtsgleichheit nicht ganz ernst genommen: Er gibt es, wie oben zitiert, selbst der Lächerlichkeit preis.
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sourcengleichheit ist ganz wesentlich durch diesen Syllogismus geprägt. 88 Einigkeit herrscht aber mit Rawls darin, dass das angeborene Talent der Person ein solches X ist. Dworkin hat Rawls in »Equality of Resources« vorgeworfen, dass das Differenzprinzip die gesellschaftliche Gruppe der am stärksten Benachteiligten ausschließlich ökonomisch, gemessen am Einkommen, definiere. 89 Wenn wir aber zwischen dem Talent und den Fähigkeiten der Person unterscheiden und zur Kenntnis nehmen, dass Fähigkeiten erworben werden, dann können wir nicht umstandslos davon ausgehen, dass alle, die zur Gruppe der ökonomisch am schlechtest Gestellten zählen, auch durch die Lebensumstände benachteiligt sind. Um zu wissen, ob eine Person zu Recht Anspruch auf soziale Leistungen hat, müssen wir wissen, ob die Person ihre ökonomische Schlechterstellung selbst verschuldet hat. Wir müssen also den Einfluss ihrer natürlichen Talente auf das Handeln einschätzen können. Soziale Gerechtigkeit wird »inward looking«. 90 Gegenstand von Gerechtigkeitsurteilen sind somit nicht mehr gesellschaftliche Institutionen, wie bei Rawls, sondern Individuen. Die ursprüngliche emanzipatorische Idee der Chancengleichheit aber wendet sich gegen den gesellschaftlichen Ausschluss von sozialen Gruppen vom Zugang zu vorteilhaften oder mit Machtbefugnissen ausgestatteten sozialen Positionen. 91 Mit dieser antidiskriminatorischen Idee hat die Theorie der Schicksalsgleichheit nichts mehr gemein, weil sie über keinen Begriff freier, verantworteter Handlungen verfügt. Der Glücksegalitarismus bezieht das Kriterium der Verantwortlichkeit auf die reine Absicht der Person und rechnet alle unverfügbaren Kontingenzen, die die Absichten des Subjekts beschränken (z. B. das Talent), den Lebensumständen der Person zu. Als unverantwortet dürfen sie die Verteilung sozialer Güter nicht beeinflussen. Bei gleicher Absicht, aber ungleicher Handlungsmächtigkeit muss der Glücksegalitarist von einer ungerechten Benachteiligung reden, ganz unabhängig davon, ob die ungleiche Handlungs-
Die drei herausragenden Aufsätze dieser Debatte sind: Richard Arneson, »Equality and Equal Opportunity for Welfare«, in: Philosophical Studies 56/1989, S. 77–93; Gerald A. Cohen, »On the Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O.; Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., Kap. 1; 89 Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 113. 90 Scheffler, a. a. O., S. 21. 91 Ebd., S. 5 f. 88
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mächtigkeit Ergebnis der Zugehörigkeit zu einer diskriminierten gesellschaftlichen Gruppe ist oder nicht. Das intentionalistische Konzept von Chancengleichheit hat aber eine wichtige Gemeinsamkeit mit einer Auffassung von Chancengleichheit, die Gegenstand aktueller politischer Debatten um ein angemessenes Verständnis sozialer Gerechtigkeit ist: Chancengleichheit sei das einzige und auch grundlegende Prinzip sozialer Gerechtigkeit. Aus der Perspektive distributiver Gerechtigkeit ist dieser Ansicht nach eine Gesellschaft gerecht, die allen Mitgliedern faire Startchancen gewährt, was immer im Einzelnen darunter zu verstehen ist. Die Identifikation sozialer Gerechtigkeit mit Chancengleichheit kennzeichnet die sogenannte Wettlauftheorie. Der Wohlfahrtsstaat hat dafür zu sorgen, dass alle Bürger ihr Leben mit einem gerechten Anteil an sozialen Gütern und Dienstleistungen beginnen können, um gleichermaßen die unterschiedlichen Möglichkeiten, die der freie Markt bereithält, wahrnehmen zu können. Der Anhänger der Wettlauftheorie kann so behaupten, dass unter der Bedingung gleicher Startchancen die Verteilung von sozialen Gütern und Lasten den freiwilligen Entscheidungen der Menschen geschuldet ist. Die Wettlauftheorie ist ein Mythos, weil sie die Marktrisiken und Launen der Konjunktur der Verantwortung des Individuums zuschreibt. Dworkin kritisiert das zurecht. Seine Konzeption der Ressourcengleichheit ist komplexer als die Wettlauftheorie, deren Abart auch die Theorie der Schicksalsgleichheit ist. Sein Versicherungsmodell formuliert einen zweiten Chancengleichheitsgedanken, der den Wohlfahrtsstaat auch als eine Institution zum Schutz gegen existenzielle Lebensrisiken begreift. Soziale Gerechtigkeit besteht für Dworkin nicht darin, das Glück der Menschen anzugleichen. Aber weil Dworkin vor allem in »Equality of Resources« seine Gerechtigkeitstheorie als Antwort auf die inneren Widersprüchlichkeiten der Rawls’schen Idee von Chancengleichheit versteht, macht er sich ausschließlich die Perspektive der distributiven Gerechtigkeit zu eigen und verliert, wie die Wettlauftheorie oder die Theorie der Schicksalsgleichheit, die Perspektive der Tauschgerechtigkeit, oder abstrakter gesprochen: die Idee fairer Reziprozität, aus den Augen. Die Fokussierung philosophischer Theorien der sozialen Gerechtigkeit auf ein Konzept distributiver Gleichheit 92 ist selbstverUm es zu wiederholen: Mit distributiver Gleichheit wird hier der von Kymlicka definierte liberale Egalitarismus gemeint, nicht die Verteilungsregel, die der Gleichvertei-
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ständlich nicht unwidersprochen geblieben. Autoren wie Michael Walzer 93, Iris Marion Young 94 , Elizabeth Anderson 95 und Samuel Scheffler 96 kritisieren, dass der von Kymlicka gekennzeichnete egalitäre Liberalismus die grundlegende Gleichheitsidee, die das, was man als Egalitarismus bezeichnet, falsch interpretiert habe. Unter Egalitarismus sei keine Verteilungsdoktrin zu verstehen, die jeden hinsichtlich seiner Lebenswünsche gleichstellt, sondern das Ideal einer Gesellschaft, in der die Bürger einander als Gleiche begegnen können, in der es keine festgelegten Hierarchien und Unterordnungsverhältnisse gibt. Anderson erinnert an die historischen Ursprünge des Egalitarismus, an die Ungleichheiten, gegen die er sein Ideal einer egalitären und demokratischen Gesellschaft richtet: »Ungleichheit war in der Vergangenheit nicht so sehr eine Folge der Güterverteilung als der Beziehung zwischen übergeordneten und untergeordneten Personen. Die Höherrangigen hatten das Recht, den Untergeordneten Gewalt anzutun, sie vom sozialen Leben auszuschließen oder zu ghettoisieren, sie mit Verachtung zu strafen, sie zum Gehorsam zu zwingen, sie Arbeiten ohne Gegenleistungen erbringen zu lassen und von ihnen das Aufgeben ihrer eigenen Kultur zu verlangen.« 97
Die grundlegende Ungleichheit, gegen die sich der Egalitarismus richtet, ist die Fähigkeit, einer anderen Person den eigenen Willen aufzwingen zu können. 98 Anderson macht den Unterschied zwischen dem liberalen Verteilungsegalitarismus und ihrer eigenen Position, die sie als Theorie demokratischer Gleichheit bezeichnet, deutlich. Während ersterer die Verteilungsstruktur betrachte und Menschen als einander gleichgestellt ansehe, wenn sie in den Genuss eines fairen Anteils eines Gutes kommen, sei letztere ein durch Machtgleichheit geprägtes Ideal sozialer Beziehungen. Das bedeutet, dass die lung von Gütern eine normative Präsumtion zuspricht, so dass alle Ungleichverteilungen gegenüber dem ursprünglichen Anspruch auf einen gleichen Güteranteil zu begründen seien. 93 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O. 94 Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990. 95 Anderson, a. a. O. 96 Scheffler, a. a. O. 97 Anderson, a. a. O., S. 151. 98 Vgl. auch Tugendhat in seiner Analyse der geistigen Nähe von Nietzsche und Hitler, die er in Nietzsches Apologie der Macht sieht: Ernst Tugendhat, »Macht und Antiegalitarismus bei Nietzsche und Hitler«, in: ders., Aufsätze 1992–2000, Frankfurt/M. 2001, S. 225–261. A
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Normen, denen sich die Gesellschaftsmitglieder unterwerfen, einer abstrakten Rechtfertigungsidee genügen müssen: Die Theorie der demokratischen Gleichheit sieht zwei Menschen als gleich an, »wenn beide die Verpflichtung anerkennen, ihre Handlungen nach Prinzipien zu rechtfertigen, die sie beide akzeptieren.« 99 Der Egalitarismus gründet so auf der Idee der reziproken Rechtfertigung von Handlungsnormen und also auf dem egalitären Status der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Er ist, um es sehr einfach zu formulieren, die Moral der goldenen Regel. Das heißt freilich nicht, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit für die Idee der Statusgleichheit keine Rolle spielen. Anderson, Walzer, Scheffler und Young fordern vielmehr eine Umkehrung des geltungslogischen Verhältnisses der Grundprinzipien einer egalitären Gerechtigkeitstheorie: Güter seien so zu verteilen, dass der Status der Bürger als Gleiche berücksichtigt werde, und nicht umgekehrt. Was also eine gerechte Güterverteilung ist, müsse aus der grundlegenden Idee des Egalitarismus als Statusgleichheit abgeleitet werden. 100 Genau das ist Rawls’ Idee. Als den für seine Theorie grundlegenden Gleichheitsgedanken bezeichnet er die Idee der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation. 101 Samuel Scheffler erinnert zurecht daran, dass Rawls selbst kein Prinzip der Absichtsgleichheit als grundlegende Forderung sozialer Gerechtigkeit betrachtet hat. 102 Der Begriff fairer Kooperation hat bei Rawls zwei Bedeutungen: Zunächst ist damit ganz abstrakt ein gesellschaftliches Zusammenleben gemeint, das nach Regeln koordiniert wird, die alle Gesellschaftsmitglieder voreinander rechtfertigen können (K1). Faire Kooperation bezeichnet eine Gesellschaft, die durch den egalitären Mitgliederstatus der Bürger gekennzeichnet ist: »Die Bürger betrachten in ihrem politischen Denken und bei der Diskussion politischer Fragen die soziale Ordnung nicht als eine festgelegte natürliche Ordnung oder als eine auf religiöse oder aristokratische Werte gegründete institutionelle Hierarchie.« 103 Das Gedankenexperiment des Urzustandes soll veranschaulichen, welche Gerechtigkeitsgrundsätze freie Bürger für ihre Gesellschaft wählen würden, die einander Anderson, a. a. O., S. 152. Vgl. Kap. 10 dieser Arbeit. 101 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 81 ff. 102 Scheffler, a. a. O. 103 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 81. 99
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als Gleiche begegnen. Die soziale Position oder die eigene Vorstellung des Guten ist somit kein Grund, »eine Gerechtigkeitskonzeption vorzuschlagen (und zu erwarten, dass andere sie akzeptieren), die Leute mit ebendiesen Überzeugungen bevorzugt.« 104 Insofern die Gesellschaft nach Regeln koordiniert wird, die diesem Ideal wechselseitiger Rechtfertigung entsprechen, kann man sagen, dass die Bürger kooperieren. Dieser grundlegende Gedanke der Reziprozität ist gegen solche gesellschaftlichen Normen gerichtet, die eine Gruppe von Bürgern befähigen anderen Bürgern den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Begriff der Kooperation hat aber auch eine engere Bedeutung (K2) und bezieht sich bei Rawls auf die Ökonomie einer Gesellschaft. Diese wird ganz allgemein aufgefasst als ein arbeitsteiliges Unternehmen zum wechselseitigen Vorteil der Kooperierenden. Alle, »die sich beteiligen und ihren Beitrag leisten, so wie es die Regeln und Verfahren fordern, müssen nach Maßgabe einer geeigneten Vergleichsbasis in angemessener Weise davon profitieren.« 105 Rawls’ Verständnis sozialer Gerechtigkeit 106 bezieht sich und ist eingeschränkt auf die Bürger einer Gesellschaft als arbeitende (ob als Arbeiter oder Arbeitgeber spielt keine Rolle), also auf den faktisch kooperierenden Teil der Bevölkerung. Moderne Gesellschaften sind keine Selbstversorgergemeinschaften, sondern durch eine hochkomplexe arbeitsteilige Wirtschaft geprägt, die um ein Vielfaches produktiver ist als vormoderne Gesellschaften. Alle, die an der Kooperation beteiligt sind und zum allgemeinen Wohlstand beitragen, haben einen Anspruch auf eine faire Gegenleistung. Grundgüter sind keine Almosen oder Bedarfsgüter. Ansprüche auf Grundgüter, auf die Früchte der gesamtgesellschaftlichen Kooperation, sind durch Kooperationsleistung erworben, sind Schuldigkeiten. In diesem Sinne soll das Differenzprinzip garantieren, dass alle, die kooperieren, auch einen fairen Anteil am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand erhalten, dass jeder besser gestellt ist, als wenn er nicht kooperierte. 107 Da Rawls der Ansicht ist, dass das Differenzprinzip dieser Forderung genügt, indem es das Wohlstandsniveau der Schlechtestgestellten anhebt, kann er argumentieren, dass alle am gesellschaftlichen LeisEbd., S. 91. Ebd., S. 81. 106 Darunter wird hier der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz verstanden, unter der Bedingung der Vorrangigkeit des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes. 107 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, a. a. O. §§ 36 und 38. 104 105
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tungsaustausch Beteiligten ihren Vorteil und Nutzen finden und also niemand ausgenutzt und ausgebeutet wird. Aber Rawls betrachtet als Gegenstand der Gerechtigkeit eben jene gesamtgesellschaftliche Kooperation, die Art und Weise wie die wirtschaftlichen Institutionen die Früchte der Kooperation verteilen, und nicht die Art und Weise wie Arbeiter und Arbeitgeber als Gleiche (so das Ideal) Verträge schließen können. Das Differenzprinzip bewertet die Verteilungsergebnisse der wirtschaftlichen Institutionen und ist an den Tauschbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt nur insofern interessiert, als diese dazu beitragen den Nutzen der ökonomisch am meisten Benachteiligten zu maximieren. Rawls verfügt ausschließlich über ein abstraktes Konzept der Kooperation, das die direkten Tauschverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt unberücksichtigt lässt. Es ist daher ebenso gleichgültig, ob die Forderungen des Differenzprinzips durch Tarifvereinbarungen oder durch steuerliche Umverteilungen beglichen werden. Weder wird also Rawls’ Verständnis sozialer Kooperation als Leistungsaustausch, noch sein Differenzprinzip der grundlegenderen Idee, dass die Bürger einander als Gleiche begegnen müssen, vollständig gerecht. Es ist wichtig, die unterschiedliche Bedeutung der Gesellschaft als eines fairen Systems sozialer Kooperation bei Rawls im Auge zu behalten. In der ersten Bedeutung (K1) steht der Kooperationsgedanke für den gleichberechtigten Status der Bürger, der durch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zur Darstellung gebracht werden soll. In der zweiten Bedeutung (K2) aber schränkt Rawls den Status der Bürger als vollwertige Mitglieder der politischen Gemeinschaft auf die produktiv Tätigen ein. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist daher, wie Martha Nussbaum zurecht feststellt, dem Kontraktualismus verpflichtet. 108 Nach der Idee des Kontraktualismus werden gesellschaftliche Institutionen auf einen hypothetischen Gesellschaftsvertrag zurückgeführt. 109 Im Gedankenexperiment einer »asozialen«, vorgesellschaftlichen Situation gehen die nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Individuen miteinander eine Kooperation ein, die sie wesentlich besser stellt, als wenn sie nicht kooperierten und sich also 108 Martha Nussbaum, »Langfristige Fürsorge und soziale Gerechtigkeit. Eine Herausforderung der konventionellen Ideen des Gesellschaftsvertrages«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/2003, S. 179–198. 109 Ebd., S. 179.
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nicht zusammenschlössen. Man muss zwischen negativer und positiver Kooperation unterscheiden. Bei Hobbes ist es im Naturzustand das Interesse eines jeden am Gewaltverzicht des jeweils anderen, der die Individuen dazu motiviert auf ihr Recht auf absolute Freiheit zu verzichten und die gleiche Freiheit des jeweils anderen anzuerkennen, wenn der andere den gleichen Verzicht leistet. Kooperation hat bei Hobbes also eine negative Bedeutung und besteht in einem Austausch von Handlungsunterlassungen. Bei Rawls hat Kooperation hingegen einen positiven Sinn und bezeichnet die wechselseitige Abhängigkeit von den produktiven Beiträgen des anderen in einer arbeitsteiligen Wohlstandsökonomie. Die moralischen Prämissen des Kontraktualismus liegen in der Statusgleichheit der Kooperationsteilnehmer, die in der hypothetischen Situation des Vertragsabschlusses in einer symmetrischen Position gleicher Handlungsmächtigkeit vorgestellt werden. Das moralische Übel besteht für den Kontraktualisten in der einseitigen Kooperationsaufkündigung einer Partei bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Leistungen der Kooperierenden. Das Trittbrettfahren ist eine Form der Ausnutzung und Ausbeutung der Kooperierenden. Der Trittbrettfahrer instrumentalisiert andere für seine Zwecke, indem er ihnen die geschuldete Gegenleistung, ob im positiven oder im negativen Sinn, verweigert. Während Hobbes und die moralphilosophische Tradition, die sich auf ihn beruft, die moralische Anerkennung des anderen als Gleichen in den Prämissen der Vertragssituation verstecken, hat Kant hierfür die Formel der Achtung der Person als Zweck an sich selbst gefunden. Die Würde der Person besteht in ihrem Status als gleichwertige Kooperationspartnerin. Dieser Begriff der Würde findet seine Anwendung immer dann, wenn Menschen Tauschverhältnisse eingehen, im positiven als auch im negativen Sinn. Ich soll, ganz allgemein gesprochen, den anderen als einen kompetenten Mithandelnden achten. Die Handlungsfreiheit des anderen bildet die Grenze meines moralisch (und rechtlich) erlaubten Handelns, wenn dieser im Gegenzug meine Handlungsfreiheit achtet. Die Idee der Kantischen Menschenwürde und der Kontraktualismus sind also eingeschränkt auf ein Konzept der Tauschgerechtigkeit; moralische Forderungen ergeben sich in Kooperationsverhältnissen zwischen Personen, die entweder positive Leistungen anzubieten haben oder anderen mit Sanktionen drohen können. 110 Bedingungen fairer Ko110
Kant hat in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten der Idee der Person als A
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operation bezeichnen eine Idee der Reziprozität. Der Kontraktualismus findet seinen Anwendungsbereich bei Fragen der gerechten Koordination von Handlungen 111 , bei Fragen der gerechten Zusammenarbeit. Der Kontraktualismus findet aber keine Anwendung, so scheint es, in sozialen Beziehungen, die durch Asymmetrien, durch Abhängigkeit und Fürsorgebedürftigkeit geprägt sind. Von einer kontraktualistischen Moraltheorie im engeren Sinne 112 können wir somit genau dann sprechen, wenn entweder die Moral ganz allgemein 113 , oder die politische Gerechtigkeit 114 ausschließlich auf ein Konzept der Tauschgerechtigkeit gegründet werden. Die Moral soll Tauschverhältnisse bewerten und nichts anderes. Der Kontraktualismus grenzt die moralische Gemeinschaft bzw. den Kreis der Mitglieder der politischen Gesellschaft auf die Kooperationsfähigen ein: Moralische Forderungen dürfen nur diejenigen geltend machen, die positive Leistungen anzubieten haben, oder deren Handlungsfähigkeit nicht derart eingeschränkt ist, dass sie nicht mit Sanktionen drohen können. Wer nichts zum Tausch anzubieten hat, etwa in Situationen extremer Not durch Krankheit oder Behinderung etc., kann eo ipso keinen Anspruch auf Gegenleistung geltend machen. Es kann daher keinen gerechten Grund geben, der bedürftigen Person zu helfen. Der Kontraktualismus ist eine entsolidarisierte Moral. 115 Er gründet, Zweck an sich selbst den positiven Sinn geben wollen, dass dieses Verständnis von Würde beinhalte, die »Glückseligkeit« des anderen zu befördern, die Kant hedonistisch versteht: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., BA 69. Das widerspricht natürlich jedem Sinn von Menschenwürde: Wir entwürdigen den anderen nicht, wenn wir ihm nichts Gutes tun. In der Metaphysik der Sitten führt Kant die positiven Pflichten gegen andere nicht mehr auf die Menschenwürde zurück: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, in: Werkausgabe Bd. VIII, hrsg von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1993; insbes. § 27. 111 Vgl. Kants Rechtsbegriff: Rechtslehre, a. a. O., § B. 112 In einer weiten Bedeutung bezeichnet der Kontraktualismus die metaethische Norm, dass moralische Regeln gegenüber allen von diesen Regeln Betroffenen gerechtfertigt werden können müssen. Moralische Normen müssen also auf eine ursprüngliche Vereinbarung zurückgeführt werden können, in denen alle, die sich der Norm unterwerfen, ihre freiwillige Einwilligung in die Gültigkeit der Norm geben. Der Kontrakualismus im engeren Sinne ist eine Abart dieser Idee. 113 Vgl. David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986. 114 Vgl. Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/M. 1989. 115 Daher ist eine kontraktualistische Moraltheorie wesentlich radikaler als eine kontraktualistische Theorie politischer Gerechtigkeit. Erstere muss verneinen, dass Fürsor-
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wie Nussbaum schreibt, auf der »Fiktion kompetenten Erwachsenseins«. Der Kontraktualismus ignoriere die Tatsache, dass wir unser Leben sowohl in einem Zustand extremer Abhängigkeit beginnen als auch beenden, dass wir aufgrund der Anfälligkeit unseres Körpers für Krankheiten oder aufgrund anderer Notsituationen auf eine Fürsorge spendende Gesellschaft angewiesen sind. 116 Indem Rawls seine Gerechtigkeitstheorie auf die Idee der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation (K2) gründet, bekennt er sich zur kontraktualistischen Tradition. Sein Konzept der Grundgüter verbindet er mit einem bestimmten Begriff der politischen Person, die durch einen Gerechtigkeitssinn, die Fähigkeit ethischen Wertens und nicht zuletzt durch Kooperationsfähigkeit gekennzeichnet ist. Anspruch auf die primären sozialen Güter, die für eine erfolgreiche Verfolgung der eigenen Lebenspläne unentbehrlich sind, haben nur diejenigen Bürger, »die alle diejenigen Fähigkeiten haben, die nötig sind, um ein kooperationsfähiges Gesellschaftsmitglied zu sein.« 117 Man darf aber nicht vergessen, dass der Kooperationsgedanke bei Rawls eine positive Bedeutung hat. 118 Mit dem abstrakten Konzept der Gesellschaft als einer kooperativen Ökonomie kann Rawls überhaupt den materiellen Besitz von Personen zum Gegenstand distributiver Gerechtigkeit machen: Eine komplexe arbeitsteilige Ökonomie produziert Wohlstand. Daher sind alle wechselseitig von den Kooperationsbeiträgen des anderen angewiesen, weil niemand auf sich allein gestellt von den Erzeugnissen seiner Arbeit existieren könnte. Alle, die ihren Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand leisten, erwerben dadurch einen Anspruch auf einen fairen Anteil an den Früchten der sozialen Kooperation. Individueller Wohlstand ist also nicht nur auf die rechtmäßige Übertragung von ge und Wohltätigkeit überhaupt moralische Forderungen darstellen können. Letztere verneint dagegen nur, dass Fürsorge und Wohltätigkeit Forderungen politischer bzw. sozialer Gerechtigkeit sind, und schränkt daher die Aufgaben des Staates auf die Gewährleistung negativer Freiheitsrechte und positiver Mitbestimmungsrechte ein, während Fürsorge und Wohltätigkeit wichtige Forderungen der individuellen Moral bleiben. Kants Metaphysik der Sitten ist dafür das prominente Beispiel. 116 Nussbaum, »Fürsorge und Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 181 ff. 117 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 86. 118 Nussbaum unterscheidet nicht zwischen einem Kontraktualismus, der einen Egalitarismus gleicher negativer Freiheitsrechte auf einen Tausch von Freiheitsverzichten zurückführt, von einem Kontraktualismus, der den Austausch positiver Leistungen, von Arbeit, zum Gegenstand hat. A
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Besitzrechten zurückzuführen, sondern ist auch als Ergebnis eines gesellschaftlichen Kooperationsverfahrens zu betrachten. Rawls überwindet so den Eigentumsabsolutismus des philosophischen Liberalismus der Aufklärung, der das Recht auf den exklusiven Besitz von Sachen auf die Idee einer ursprünglichen Erwerbung und auf die reziproke Anerkennung des Eigentums des anderen einschränkt. Aber Rawls teilt mit dem traditionellen Kontraktualismus die Auffassung, dass sich Rechte auf Güter nur auf das Prinzip Leistung gegen Gegenleistung zurückführen lassen. Damit begrenzt sich der Kreis der vollwertigen Gesellschaftsmitglieder auf die Kooperierenden. Grundgüter sind Schuldigkeiten für Kooperationsleistungen. Niemand besitzt ein Recht auf die primären sozialen Güter, der nicht kooperiert, der z. B. durch Unfälle, Krankheit oder Arbeitslosigkeit in den Zustand der Abhängigkeit und Fürsorgebedürftigkeit gerät. In Rawls’ wohlgeordneter Gesellschaft bedeutet dieses Pech die soziale Exklusion. 119 Entsprechend schränkt Rawls die Stammliste der Grundgüter ein. Das, was kooperierende freie und gleiche Bürger brauchen, sind: Grundfreiheiten und Grundrechte, Freizügigkeiten und freie Berufswahl, Befugnisse und Zugangsrechte zu Ämtern und Positionen, Einkommen und Besitz und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. 120 Güter, die ein Existenzminimum beschreiben, die die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse absichern, fehlen. Aber mit »gebührender Vorsicht« könne die Liste der primären Güter im Prinzip ergänzt werden, »um andere Güter einzubeziehen, zum Beispiel Freizeit, und sogar bestimmte mentale Zustände, etwa die Abwesenheit körperlicher Schmerzen.« 121 Die angemahnte Vorsicht betrifft den objektiven Status von sozialen Gütern als Grundgütern, d. h. die Frage, was öffentlich als das Bedürfnis von Bürgern und damit als vorteilhaft für alle anzuerkennen ist. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher umfassender Ideen des guten Lebens muss der Besitz von Grundgütern von allen Bürgern als gut anerkannt werden können. Dass die Liste der Grundgüter dem Anspruch der Unparteilichkeit nicht gerecht wird, ist früh anhand der Konzeption von Einkom119 In seinem letzten Buch stellt Rawls klar, dass das Pech der Arbeitslosigkeit gerechtigkeitsrelevant sei. Er klärt allerdings weder das Verhältnis dieser Auffassung zur Kooperationsprämisse noch stellt er Kriterien einer gerechten Arbeitslosenversicherung bereit: Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, a. a. O., S. 96. 120 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 275. 121 Ebd., S. 275 f.
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men und Vermögen als Allzweckmittel eingewandt worden. Das Prima-facie-Recht auf einen gleichen Anteil an Einkommen und Vermögen sei moralisch bedeutungslos, solange nicht berücksichtigt werde, zu was das Geld die Menschen befähige. 122 Eine rein quantitative, komparative, Bemessung eines fairen Güteranteils übergehe die besonderen und auch kostspieligen Bedürfnisse der Kranken und Fürsorge Bedürftigen (s. o.). Aber an diesem Punkt ist keine systematische Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitstheorie von Rawls mehr möglich: »Unter Voraussetzung unserer durchgängigen Annahme, dass jeder in der Lage ist, ein normal kooperatives Gesellschaftsmitglied zu sein, sagen wir, dass keiner dieser Unterschiede [gemeint sind u. a. »Unterschiede hinsichtlich der physischen Vermögen und Fertigkeiten, einschließlich der Auswirkungen von Krankheiten und Unfällen auf unsere natürlichen Fähigkeiten«] zwischen Bürgern unfair ist und zu Ungerechtigkeiten führt, sobald die Gerechtigkeitsgrundsätze (mit ihrem Grundgüterindex) erfüllt sind.« 123
Die Betroffenen dürfen hoffen, dass auf der Ebene der Gesetzgebung sozialpolitische Maßnahmen der Unterstützung beschlossen werden, aber die Abhängigkeit von der Fürsorge anderer berührt nicht die grundlegende Gerechtigkeit der Gesellschaft. Das widerspricht der Voraussetzung. Der Gesetzgeber müsse sich dabei an dem Ziel orientieren, »die Menschen wieder in den Stand zu setzen, voll kooperierende Gesellschaftsmitglieder zu sein.« 124 Daraus folgt, dass Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht vollständig in den Stand der Arbeitstauglichkeit versetzt werden können, vom Staat nichts zu erwarten haben. Sie sind nicht als gleichwertige Mitglieder der politischen Gesellschaft anzusehen. Rawls betrachtet den Wert der sozialen Zugehörigkeit offenbar ausschließlich unter dem Aspekt des sozialen Nutzens. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft, ihre grundlegende Gerechtigkeit, erweist sich aber selbstverständlich nicht zuletzt darin, wie sie mit solchen Menschen, die teilweise oder ganz der Fürsorge anderer bedürfen, umgeht. Angenommen Rawls würde die Liste der Grundgüter dennoch um Fürsorge ergänzen. Was wäre damit gewonnen? Nach welchen 122 Vgl. Kenneth Arrow, »Some Ordinalist Notes on Rawls’ Theory of Justice«, in: Journal of Philosophy 70/1973, S. 245–263; Amartya Sen, »Equality of What?«, in: ders., Choice, Welfare, and Measurement, Cambridge, Mass. 1982. 123 Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 278. 124 Ebd., S. 279.
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Kriterien sollten Güter des grundlegenden menschlichen Bedarfs verteilt werden? Das Differenzprinzip scheidet als Verteilungskriterium aus. Der Konsequenzialismus rühmt sich eines letztgültigen normativen Prinzips, das die Lösung moralischer Konflikte verspricht. Wenn wir aber so unterschiedliche Güter wie Einkommen, Arbeitslosenhilfe und medizinische Fürsorge jeweils nach dem Differenzprinzip verteilen wollten, würden wir drei gesellschaftliche Gruppen auszeichnen, die hinsichtlich der Verfügbarkeit des jeweiligen Gutes am schlechtesten gestellt sind. Wie lösen wir dann den moralischen Konflikt, der entsteht, wenn uns mehrere Nutzenkriterien an die Hand gegeben werden? Was ist z. B., wenn eine Verbesserung der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung nur auf Kosten des Nutzens der am schlechtest gestellten Arbeiter durchgeführt werden kann?
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Dieses Kapitel behandelt den Anwendungskontext des Dworkinschen Versicherungsmodells. Sein Versuch, Prinzipien der Einkommensgerechtigkeit nach dem Modell eines freien Versicherungsmarktes zu konstruieren, scheitert. Daraus folgt aber selbstverständlich nicht, dass die Idee einer Sozialversicherung für eine Theorie sozialer Gerechtigkeit ungeeignet sei. Soll allerdings die Idee sozialer Sicherheit Sinn ergeben, muss der Begriff des Lebensrisikos geklärt werden, gegenüber dem eine Versicherung Schutz gewährt. Dem steht Dworkins zu abstraktes Verständnis seines Ressourcenbegriffes im Weg. Ressourcen sind Dinge, die ein Markt anbietet, an dem alle unter fairen Bedingungen partizipieren können. Dworkin begreift Ressourcen als Waren: Sie besitzen subjektiven Wert. Sozialversicherungen hingegen bieten Schutz gegenüber existenziellen Risiken. Ihre Rechtfertigung setzt daher objektive Wertprämissen voraus. Bestimmte Güter haben genau deswegen einen objektiven, also allgemeingültigen Wert, weil sie Gegenstand existentieller Interessen sind. Es ist irrational, an ihnen kein Interesse zu nehmen. Eine Theorie sozialer Gerechtigkeit, die die Idee sozialer Sicherheit ernst nimmt, braucht zum Einen ein anthropologisch reichhaltiges Konzept der Person. Nur so lässt sich begründen, dass es Aufgabe des Sozialstaats sei, die Bürger vor existenziellen Notlagen zu schützen. Zum Zweiten muss die Idee des Sozialstaats aber vom Fürsorgestaat unterschieden werden. Auch im Kontext der Verteilung von Bedarfsgütern gilt die Idee ethischer Verantwortung. Das Versicherungsmodell gründet anders als Rawls’ Modell des Urzustandes nicht auf einem Konzept einseitigen Altruismus’, sondern auf einer Idee reziproker Solidarität. Hilfe kann nur beanspruchen, wer bereit ist, Verantwortung für das Gelingen seines Lebens zu übernehmen. Dieses Kapitel knüpft somit an das dritte an. Dworkins Modell einer Kranken- und einer Arbeitslosenversicherung wird als eine Alternative zum Rawls’schen Rechtfertigungsmodell des Differenzprinzips A
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präsentiert. Letzteres ist zur Begründung der Forderung nach sozialer Sicherheit vollkommen untauglich.
7.1 Grundlagen der Solidarität Aus welchem Grund können Bürger Ansprüche auf existenzielle Bedarfsgüter geltend machen? Martha Nussbaum führt einen zweiten 1 Einwand gegen die normativen Prämissen der Gerechtigkeitstheorie von Rawls an. Sie kritisiert die Personenkonzeption, die seiner politischen Philosophie zugrunde liegt, als unzureichend. Jede Moralauffassung – und Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist Ausdruck einer bestimmten Auffassung einer politischen Moral – gründet auf einem bestimmten Verständnis des Selbst. Sie antwortet auf die Frage, wie wir uns selbst und in unserer Beziehung zu anderen verstehen sollen. Rawls hat die Abhängigkeit seiner Gerechtigkeitstheorie von einer bestimmten Auffassung der Person in dem wichtigen Aufsatz »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie« klargestellt. Die Gerechtigkeitsgrundsätze für eine wohlgeordnete Gesellschaft sind solche, auf die sich Menschen einigen würden, die sich als freie und gleiche moralische Personen verstehen. Das Modell des Urzustandes soll diese Verbindung zwischen den Gerechtigkeitsgrundsätzen und einem kantischen Verständnis der Person darstellen. Wenn es Rawls gelingt ein Bild des Menschen zu zeichnen, mit dem wir uns identifizieren können, dann besteht der zweite Argumentationsschritt darin, zu zeigen, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze eine Gesellschaft ordnen, die diesem Menschenbild angemessen ist: »Was eine Gerechtigkeitskonzeption rechtfertigt, ist nicht ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst und unseren Bestrebungen, sowie unsere Einsicht, dass diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Tradition die vernünftigste für uns ist.« 2 Die Person im Kontext der politischen Gerechtigkeit ist definiert durch ihre beiden »moraDer erste Einwand richtet sich gegen die kontraktualistische Prämisse der Theorie von Rawls. 2 Rawls, »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt/M. 1994, S. 80–158; Zitat S. 85. 1
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lischen Vermögen« und die beiden korrespondierenden höchstrangigen Interessen an der Verwirklichung und Ausübung dieser Vermögen. 3 Das erste Vermögen ist die Fähigkeit, aus moralischer Einsicht, genauer: aus Einsicht in Gerechtigkeitsgrundsätze, welche das auch sein mögen, heraus zu handeln. Das zweite moralische Vermögen bezeichnet die Fähigkeit des ethischen Wertens, »die Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen.« 4 Grundgüter sind nun Dinge, die gut sind für Personen, die ein durch diese beiden moralischen Vermögen beschriebenes Selbstverständnis besitzen. Was das bedeutet, veranschaulicht Rawls an dem Grundgut der Gewissensfreiheit, der Freiheit der religiösen, philosophischen und moralischen Weltanschauungen. Das zweite moralische Vermögen beschreibt die ethische Autonomie der Person und entsprechend ihr höherrangiges Interesse an ihrer ethischen Integrität. Personen mit einem solchen Selbstverständnis beanspruchen ihr Leben aus den eigenen Überzeugungen heraus führen zu können. Die Person besitzt in Fragen ethischen Werts die letzte Autorität. Dieses Selbstverständnis vorausgesetzt, werden wir keine Gerechtigkeitsgrundsätze akzeptieren, die unsere ethische Integrität um anderer Interessen (z. B. Wohlstand) willen verletzen. Wir werden als an unserer Autonomie interessierte Personen den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz und seine vorrangige Geltung gegenüber dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz wählen. 5 Die Ansprüche auf die Güter des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes gründen also auf einer liberalen Konzeption des Selbst. Der Zusammenhang zwischen dem Wert der Autonomie und den liberalen Grundfreiheiten ist unmittelbar einleuchtend. Warum sind nach Rawls aber liberale Personen an materiellen Gütern wie Einkommen und Vermögen interessiert? Wie begründet sich der Anspruch auf die Güter des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes? Es reicht nicht hin, die Freiheit einer Person ausschließlich negativ zu definieren. Ich bin nicht schon dann frei, wenn ich von anderen ungehindert meine wichtigen Lebensziele verfolgen kann, sondern erst dann, wenn ich auch über Mittel verfüge, die mich dazu befähigen. Insofern sind Einkommen und Vermögen als Güter des allgemeinen Bedarfs instrumentell gut. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz, ins3 4 5
Ebd., S. 93. Ebd. Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 421 ff. A
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besondere das Differenzprinzip, soll den fairen Wert der Freiheit, genauer: der Grundfreiheiten des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes für alle Bürger garantieren. 6 Der zentrale und intrinsische Wert, den die Gerechtigkeitsgrundsätze schützen sollen, ist die moralische und ethische Autonomie der Person. Rawls hat übrigens nie erklärt, wieso und in welchem Umfang dieser zentrale Wert durch die kontraktualistische Prämisse (K2) eingeschränkt wird. Wenn wir davon ausgehen, dass er nicht der Auffassung ist, dass Bürger durch den Verlust ihrer Arbeit zugleich ihre Bürgerrechte verlieren, wieso verlieren sie dann mit dem Verlust auf den Anspruch auf ein Einkommen (im Fall der Kooperationsunfähigkeit) den Anspruch auf den fairen Wert der durch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz garantierten Grundfreiheiten? Nussbaum zufolge ist die Reduktion der Bedürfnisse und Interessen von Bürgern auf die Entwicklung der sogenannten moralischen Vermögen 7 Ausdruck eines kantischen Verständnisses des Selbst, das in einen natürlichen, unvernünftigen, weil tierischen Teil, und einen vernünftigen, menschlichen Teil aufgespalten wird. Nur in letzterem liegt der Grund unserer Menschenwürde. Es ist unsere Fähigkeit zur moralischen Autonomie, unsere praktische Vernunft, und nicht etwa unsere Fähigkeit zu Freude und Schmerz und unsere leibliche Verletzbarkeit, durch die uns Würde zuteil wird. Menschenwürde wird, so Nussbaum pointierend, »nur durch Zufall in einem tierischen Körper beherbergt.« 8 Ein kantisches Verständnis von Menschenwürde sieht den Grund und Gegenstand der einer Person entgegenzubringenden Achtung in deren moralischen und ethischen Autonomie. 9 Rawls Gerechtigkeitstheorie ist also insofern kantisch, als sie den Grund für Ansprüche auf primäre soziale Güter in der moralischen und ethischen Autonomie verortet. Daher hat NussRawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 232 f. Der Begriff der moralischen Vermögen (moral powers) ist natürlich ungenau. Er unterscheidet nicht zwischen der ethischen und moralischen Autonomie. 8 Nussbaum, »Fürsorge und Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 184. 9 Es ist klar, dass der Gegenstand der Achtung sich nicht auf die moralische Autonomie beschränken lässt. Kant hat aber, zumindest in den Textpassagen, in denen er das Glücksstreben des Menschen als Hedonismus, als Fremdbestimmung durch Objekte der Lust oder Unlust beschreibt, die ethische Autonomie der Person nicht auf den Begriff gebracht. Kants antipaternalistischer Rechtsbegriff und seine weiterführenden handlungstheoretischen Skizzen in der Einleitung in die Tugendlehre machen aber deutlich, dass die ethische Autonomie im systematischen Gehalt von Kants praktischer Philosophie aufgehoben ist. 6 7
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baum gewiss Recht, wenn sie feststellt, dass für Rawls und die kantische Tradition der Mangel an Gütern, die wir um unserer grundlegenden Bedürfnisse willen brauchen, keine intrinsische Verletzung unserer Würde darstellt. Eine streng kantische Gerechtigkeitsauffassung sieht hierin ausschließlich eine Einschränkung unserer Freiheit. Dagegen setzt Nussbaum auf ein umfassenderes Verständnis des Selbst: »wir müssen die politische Konzeption der Person neu entwerfen, das Rationale und das Tierische zueinander in eine engere Beziehung setzen und anerkennen, dass es viele Formen von Würde in der Welt gibt, einschließlich der Würde geistig behinderter Kinder und Erwachsener, der Würde von senilen älteren Menschen und der Würde von Säuglingen.« 10 Nur vor dem Hintergrund einer solchen Auffassung von Würde, die neben der Freiheit der Person auch deren leibliche Verletzbarkeit durch Krankheit, Hunger, Durst; Kälte, Schlaflosigkeit anerkennt, können wir das intrinsische Übel erfassen, wenn Menschen unter solchen Umständen leiden. Nussbaums Intuition lässt sich an einem einfachen Beispiel veranschaulichen: Paul will am Samstagnachmittag zu einem Fußballspiel gehen, wacht aber morgens mit Zahnschmerzen auf. Er geht zum Zahnarzt und verpasst so das Fußballspiel, auf das er sich die ganze Woche gefreut hat. In diesem Sinne ist der Zahnschmerz ein Übel, weil er Paul daran hindert das zu tun, was er tun wollte. Wenn Paul aber, aus welchen Gründen auch immer, am Samstag keinen Zahnarzt findet und die Schmerzen unerträglich werden, dann wird sein primärer Wunsch sein, dass die Schmerzen aufhören mögen, und das ganz unabhängig von der Freiheitseinschränkung, die die Zahnschmerzen auch bedeuten. Die Abwesenheit von Hunger, Durst, Kälte, Krankheit, Schmerz sind daher auch intrinsische Güter und es ist verkehrt, das Gutsein dieser Dinge auf ihren instrumentellen oder intrinsischen Wert zu verkürzen. Vor dem Hintergrund einer Auffassung sozialer Gerechtigkeit, die die moralische und ethische Autonomie als einzigen und zentralen Wert anerkennt, verfügen wir über kein ausreichendes Verständnis davon, was auf dem Spiel steht, wenn es um Fragen der gerechten Verteilung existenzieller Bedarfsgüter geht. Rawls’ Einschränkung der Stammliste der Grundgüter ist, darin sei hier Nussbaum Recht gegeben, Ausdruck einer defizitären Konzeption der Person im Kontext der politischen Philosophie. Nussbaum plädiert dafür, die Liste der primären Güter zu ergänzen, um ein Ver10
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ständnis sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, das einem normativ gehaltvolleren Verständnis des Selbst besser entspricht: »Diese Liste sollte eine Reihe von Punkten enthalten, die Rawls auslässt, einschließlich der Gesundheitsfürsorge, Freizeit und Bildung; aber sie muss vor allem Fürsorge in Zeiten akuter Abhängigkeit enthalten.« 11 Es gibt einen weiteren Grund, warum Nussbaums Plädoyer für ein umfassenderes Menschenbild im Kontext der gegenwärtigen Philosophie Unterstützung verdient: Das ist die Tendenz des philosophischen Liberalismus zum moralischen Skeptizismus, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Menschen im Namen ihrer Freiheit. Wenn wir der Überzeugung sind, dass die moralische und ethische Autonomie der Menschen der einzige zu schützende Wert in einer Theorie politischer und sozialer Gerechtigkeit sei, dann gerät der Anspruch auf existenzielle Güter wie Gesundheitsfürsorge mit der Autonomie der Person in Konflikt. Zwar lässt sich schlüssig argumentieren, dass eine autonome Verfolgung der Lebensziele die Verfügbarkeit solcher Güter voraussetze. Es ist aber auch das gegenteilige Argument möglich, dass der objektive Status dieser Dinge als Grundgüter von der allgemeinen Zustimmung und also subjektiven Wertschätzung der Bürger abhänge, die ja darin, was als ein objektiver Wert für das menschliche Leben anzuerkennen sei, nicht bevormundet werden sollten. Eine sozialpolitische Maßnahme, so ließe sich argumentieren, die z. B. die allgemeine medizinische Grundversorgung der Bürger zum Ziel hat, dürfe vom Gesetzgeber nicht einfach durch den objektiven Wert der Gesundheit gerechtfertigt werden. Eine solche politische Entscheidung bedeute die Ausübung von Zwang gegenüber Bürgern, die ihrer Gesundheit keinen Wert beimessen. 12 Die gegenwärtigen politischen Debatten um die Zukunft des Sozialstaates haben den Umfang der staatlichen Verantwortung für das Wohlergehen der Bürger zu ihrem Gegenstand. Rawls versteht seine Konzeption der Grundgüter vor dem Hintergrund einer »sozialen Ebd., S. 194 f. Wilfried Hinsch z. B. leugnet die Möglichkeit, einen objektiv gültigen Katalog grundlegender Bedarfsgüter zusammenzustellen, vor dem Hintergrund des weltanschaulichen Pluralismus. Menschen, die wenig Wert auf die Aufnahme von Nahrung legten, könnten keine Rechtfertigung sozialpolitischer Maßnahmen akzeptieren, die auf einer Liste objektiver Bedarfsgüter gründe. Als veranschaulichendes Beispiel führt er, durchaus im Ernst, Kafkas Hungerkünstler an: Wilfried Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheit. Eine Verteidigung des Differenzprinzips, Berlin 2002, S. 202.
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Aufteilung der Verantwortlichkeiten«: Die Gesellschaft – die Bürger als Kollektiv – übernimmt die Verantwortlichkeit für die Versorgung mit den sozialen Grundgütern. »Die Bürger als Einzelpersonen und Vereinigungen übernehmen dagegen die Verantwortung dafür, ihre Ziele und Ambitionen mit Blick auf den Anteil an allgemein dienlichen Mitteln, den sie angesichts ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen erwarten dürfen, zu verändern und anzupassen. Diese Aufteilung der Verantwortlichkeiten setzt die Fähigkeit von Personen voraus, Verantwortung für ihre Ziele zu übernehmen und die Ansprüche, die sie an Institutionen stellen, in entsprechender Weise zu mäßigen.« 13 In der gegenwärtigen Debatte um Umfang und Grenzen des Sozialstaates besteht die Tendenz, die Verantwortung des Staates für die gerechte Verteilung von Gütern des grundlegenden Bedarfs zurückzunehmen und statt dessen die Verantwortung für die Verfügung über diese Güter an die Individuen zu delegieren. Ein liberales Verständnis sozialer Gerechtigkeit muss sich durch diese libertäre Tendenz herausgefordert sehen. Denn es ist insbesondere die gerechte Verteilung von Gütern, die Menschen in Zeiten der Not und Abhängigkeit brauchen, die in Frage steht. Die Debatte betrifft somit die Fundamente des Sozialstaates und damit den Charakter der Gesellschaft als Solidargemeinschaft. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, Klarheit über die normativen Prämissen des Begriffs sozialer Gerechtigkeit zu erlangen. 14 Nussbaum fordert die kantische Tradition der Moralphilosophie heraus: Offensichtlich ist mit einer Gerechtigkeitstheorie, die von allem, was bloß zur Anthropologie gehört, gesäubert ist, kein Sozialstaat zu machen. Statt auf ein kantisches Verständnis des Selbst müsse sich die praktische Philosophie auf Aristoteles zurückbesinnen: »Mithin glaube ich, dass wir uns eine politische Konzeption der Person aneignen müssen, die ihre Quellen in vielen verschiedenen Traditionen hat, die aber, unter den Bedingungen der westlichen Tradition, eher aristotelisch als kantianisch ist.« 15 Martha Nussbaum hat in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Theorie sozialer Gerechtigkeit entRawls, Politischer Liberalismus, a. a. O., S. 285. So versteht Krebs ihr Plädoyer für eine nonegalitaristische Gerechtigkeitstheorie. Der Versuch, den Begriff sozialer Gerechtigkeit auf absolute Schwellenprinzipien zu reduzieren, ist allerdings gescheitert: Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O. Vgl. dazu Kap. 10 dieser Arbeit. 15 Nussbaum, »Fürsorge und Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 196. 13 14
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wickelt, die sie auf einen Essentialismus zurückführt. Darunter versteht sie die Auffassung, »dass das menschliche Leben bestimmte zentrale und universale Eigenschaften besitzt, die für es kennzeichnend sind.« 16 Sie sieht mit Aristoteles das menschliche Leben durch bestimmte Funktionsweisen charakterisiert. Wenn einer Person diese Fähigkeiten mangeln, dann können wir ein Werturteil treffen: Der Person geht es schlecht. Für dieses Werturteil sind die subjektiven Überzeugungen der Person hinsichtlich ihres Wohlergehens nicht relevant. Nussbaums Essentialismus scheint daher antiliberal zu sein, weil sie ihre Theorie sozialer Gerechtigkeit als Ausdruck einer Idee des guten Lebens versteht. Es ist die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates, die Bürger zu einem guten Leben zu befähigen, das durch konkrete inhaltliche Eigenschaften gekennzeichnet ist. Eine solche teleologische Auffassung von sozialer Gerechtigkeit dreht die von Rawls geprägte liberale Formel von der Priorität des Rechten vor dem Guten um und scheint einem kantischen Verständnis des Selbst als autonom wertender Person diametral entgegengesetzt zu sein. Dabei ist Nussbaums grundlegende Intuition derjenigen von Rawls durchaus vergleichbar. Auch Rawls legt seiner Gerechtigkeitstheorie eine Konzeption der Bedürfnisse von Bürgern zugrunde: Die Qualität des Lebens der Bürger in einer wohlgeordneten Gesellschaft bestimmt sich auch durch die Verfügbarkeit über die primären Güter, ohne die kein Bürger ein gutes Leben führen kann. Aber Rawls charakterisiert den objektiven Status der Grundgüter durch ihre Eigenschaft, Allzweckmittel zu sein; sie sind universell taugliche Mittel eines jeden Lebensplans. Grundgüter, so Rawls Intuition, müssen einen instrumentellen Wert für alle Bürger haben, vor dem Hintergrund der Tatsache des ethischen Pluralismus. Deswegen dürfen wir nicht fragen, was diese Güter zum Wohlergehen der Bürger beitragen. Das würde eine bestimmte Idee des Telos des menschlichen Lebens voraussetzen, worüber aber in einer durch den ethischen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft kein vernünftiger Konsens erzielt werden kann. Rawls begreift sein Konzept der Grundgüter daher als schwache, soll heißen instrumentelle Idee des Guten, damit die Bedürfnisse und Interessen der Bürger gleichermaßen Berücksichtigung finden. 17 Genau hier setzt Nussbaums Kritik an. Wir müssen die wich16 17
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tigsten Funktionen des menschlichen Lebens definieren, um überhaupt fragen zu können, wie sich die sozialen und politischen Institutionen auf sie auswirken. »Geben sie den Menschen das, was sie brauchen, um bei allen diesen menschlichen Tätigkeiten funktionstüchtig zu sein?« 18 Sie listet deshalb Fähigkeiten des Menschen auf, die definieren sollen, was ein gutes menschliches Leben ist. Dabei werden zwei Schwellen unterschieden. Die erste Schwelle beschreibt eine Funktions- und Handlungsfähigkeit, unterhalb deren ein Leben so verarmt wäre, dass es kein menschliches mehr wäre. Eine »höhere Schwelle« hingegen definiert das gute menschliche Leben. Wer diese Schwelle unterschreitet, führt ein menschliches, aber kein gutes Leben. 19 Die erste Schwelle beschreibt mit Aristoteles unsere Bedürfnisnatur: Wir sind sterblich, wir sind anfällig für Krankheiten, wir müssen essen, trinken und schlafen, wir brauchen ein angemessenes Obdach, wir haben sexuelle Bedürfnisse, wir empfinden Freude und meiden Schmerz. Das, so lässt sich mit Aristoteles sagen, definiert unsere Menschlichkeit als Lebewesen. Wir leiden wie diese, wenn unsere natürlichen, uns »angeborenen« Bedürfnisse frustriert werden. Aber diese Bedürfnisnatur definiert kein genuin menschliches Leben, das sich Aristoteles zufolge bekanntlich durch unsere Vernunftfähigkeit auszeichnet. Gut leben wir dann, wenn wir unsere natürlichen Strebungen in einer vernünftigen Weise verfolgen und nicht wie ein Tier. Genau darin besteht die Tugend des Menschen. Die Unterscheidung der beiden Schwellen ist wichtig. Über den Wert der ersten Schwelle kann kein vernünftiger Streit entstehen. 20 Umstritten ist jedoch, welche Funktionsweisen und Fähigkeiten ein gutes und sinnerfülltes menschliches Leben definieren. Hier listet Nussbaum neben konkreten Fähigkeiten, wie der Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen, der Fähigkeit eines harmonischen Umgangs mit Tier und Natur, der Fähigkeit zu Humor, Spiel und Erholung, abstrakte Fähigkeiten auf wie die praktische Vernunft, aber auch insbesondere die Fähigkeit, »sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen.« 21 Von den Fähigkeiten, die ein gutes menschliches LeNussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 207. Ebd., S. 213. 20 Schon gar nicht kann das Gutsein der ersten Schwelle ein Gegenstand der philosophischen Reflexion sein. 21 Nussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 214. 18 19
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ben definieren, nimmt die ethische Autonomie der Person eine vorrangige Stellung ein. Hierin erweist sich Nussbaum wie Rawls und Dworkin als Erzliberale. 22 »Zu den zentralen Fähigkeiten, welche die Konzeption [die essentialistische Gerechtigkeitstheorie] unterstützt, gehören die Fähigkeiten des kritischen Nachdenkens und des Entscheidens darüber, welches denn nun die fundamentalen Elemente dessen sein sollen, was als menschlich anzusehen ist.« 23 Worin der besondere Aristotelismus dieser Konzeption des guten Lebens besteht, bleibt rätselhaft. Denn mit der vorrangigen Stellung der ethischen Autonomie subjektiviert Nussbaum die Fähigkeiten, die ein gutes menschliches Leben definieren. Nichts, was sie oberhalb der zweiten Schwelle auflistet, außer der Fähigkeit der praktischen Vernunft und der Autonomie, kann als ein allgemeinverbindlicher Zweck oder als objektiver Sinnbestandteil eines menschlichen Lebens gelten. Darüber richtet allein das Subjekt. Nussbaum schlägt vor, dass diese Dinge gut seien, aber das ist ihre subjektive Überzeugung, so könnte man polemisch sagen, Ausdruck der Nussbaum’schen Vorstellung des Guten, die bspw. dem Religiösen keinerlei Wert für ein sinnerfülltes Leben beimisst. Das soll nicht heißen, dass die oberhalb der zweiten Schwelle aufgelisteten menschlichen Fähigkeiten einen bloß subjektiven Wert besitzen. Aber ihr objektiver Wert kann nicht darin liegen, dass diese Fähigkeiten objektive Teloi und Sinnbestandteile des menschlichen Daseins vorgeben, ganz unabhängig von den subjektiven Überzeugungen der Person. Wenn wir so argumentieren, nehmen wir die ethische Autonomie der Person nicht ernst, die doch nach Nussbaum eine der hervorstechendsten Fähigkeiten des Menschen ist. Wir können z. B. das Leben einer Person, die in der Großstadt lebt und die Natur hasst, nicht dadurch verbessern, dass wir ihr ein Leben in der Natur aufzwingen, wenn wir eine liberale Auffassung ethischen Werts vertreten. Nussbaum versucht diesem Einwand gerecht zu werden. Der Wohlfahrtsstaat dürfe die Bürger nicht zu Handlungsweisen nötigen, die ihrer Liste zufolge ein gutes menschliches Leben definieren. Vielmehr müsse er den Bürgern diejenigen Güter zur freien Verfügung stellen, die notwendig sind, um die menschlichen Mit dem bedeutsamen Unterschied, dass Nussbaum die Autonomie nicht wie Rawls in seinen Aufsätzen der Achtzigerjahre kulturrelativistisch versteht. Es gehört zur Natur des Menschen, ein Leben in Freiheit führen zu wollen. 23 Nussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 218. 22
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und guten menschlichen Fähigkeiten auszuüben. So bleibe es jedem Einzelnen selbst überlassen, ob er ein gutes Leben führen möchte oder nicht. Wichtig sei aber, dass alle Bürger die gleiche Möglichkeit haben, diese freie Entscheidung zu treffen. 24 Die Bürger sind frei darin, die Dinge, die der Staat mit ihren Steuergeldern finanziert, um sie ihnen zur freien Verfügung bereitzustellen, einfach wegzuwerfen. Das ist ein denkbar schlechtes Argument für die Verantwortung des Wohlfahrtsstaates für das gute Leben der Bürger. Nussbaums Versuch, eine Theorie sozialer Gerechtigkeit auf eine Konzeption des guten Lebens zu gründen, darf als gescheitert gelten. Gegen ihre Auflistung grundlegender menschlicher Fähigkeiten ist der Einwand erhoben worden, die Liste sei, was die erste Schwelle betrifft, trivial, hinsichtlich der zweiten Schwelle hingegen willkürlich. 25 Nun formuliert die erste Schwelle sicherlich ein grundlegendes Allgemeinwissen über unsere Bedürfnisnatur. Insofern lässt sich sagen, dass das Gutsein von grundlegenden Bedarfsgütern eine triviale Tatsache darstellt. Nicht trivial ist aber eine Konzeption der Grundgüter als das, was Bürger brauchen, die die grundlegende Bedürfnisnatur des Menschen zur Kenntnis nimmt und so daran erinnert, dass sich keine Theorie sozialer Gerechtigkeit ohne die Besinnung auf basale Wertprämissen 26 konstruieren lässt. Die in ihrer Abstraktheit begrifflich unscharfe Formel des Vorrangs des Rechten vor dem Guten kann Ebd., S. 217. Vgl. Christiane Scherer, »Das menschliche und das gute menschliche Leben. Martha Nussbaum über Essentialismus und menschliche Fähigkeiten«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/1993, S. 949–968. 26 Nussbaums Essentialismus ist nicht als eine Moraltheorie zu verstehen, die Werturteile oder moralische Normen auf Tatsachen zurückführt und sich so dem Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses aussetzt. Bereits William K. Frankena hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich beim naturalistischen Fehlschluss nicht um ein logisches Problem der Folgerung von Sollens- aus Seinssätzen handelt, sondern um ein Definitionsproblem: Warum ist das, was natürlich ist, auch gut? Vgl. William K. Frankena, »Der naturalistische Fehlschluss«, in: Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, hrsg. von Günther Grewendorf und Georg Meggle, Frankfurt/M. 1974, S. 83–99. Ob es sich bei dieser Frage immer um ein definitorisches Problem handelt, hängt selbstverständlich davon ab, was wir unter dem »Natürlichen« verstehen. Zum mindesten bei den fundamentalen Bedürfnissen bekommt die Frage einen albernen Charakter. Das Verlangen nach Bedarfsgütern ist mir angeboren. Ich kann die Frage stellen, aber das ändert nichts am Verlangen. Zum Anderen gilt: Auch eine Moraltheorie, die alle objektiven Werturteile bezüglich der Natur des Menschen bestreitet, gründet auf einer definitorischen Setzung: Nichts, was natürlich ist, ist (objektiv) gut. 24 25
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man nicht im Sinne eines radikalen Wertepluralismus deuten, der alles, was Wert in der ersten Person Singular besitzt, an das willkürliche Belieben des Subjekts delegiert. Keine Auffassung von Moral darf, so Herlinde Pauer-Studer in ihrer Würdigung der Philosophie Nussbaums, die spezifischen Besonderheiten unseres Menschseins ignorieren. »Was wir Menschen schulden ist nicht einfach eine beliebig setzbare Größe, sondern hängt wesentlich mit dem zusammen, was auf dem Hintergrund ihrer spezifischen Verfasstheit den Menschen zum Wohle oder zum Schaden gereicht. Dies setzt eine reichhaltige Konzeption der menschlichen Natur voraus, die unser Wissen um Menschen, um ihre Bedürfnisse und die Bedingungen ihrer Existenz bündelt.« 27 In ihrem Buch Frontiers of Justice hat Martha Nussbaum ihren »Capabilities Approach« in einer grundlegenden Art und Weise weiterentwickelt. Verstand sie früher ihre essentialistische, an Aristoteles angelehnte Gerechtigkeitstheorie als eine Kritik an der liberalen Idee des Vorrangs des Rechten vor dem Guten, so ist inzwischen der Kontraktualismus ihr Angriffsziel. Nussbaum vertritt nun nicht mehr die These, dass eine Gerechtigkeitstheorie auf einer Konzeption des guten Lebens aufruhen müsse. Keine Idee des Guten, sondern der Begriff der Menschenwürde steht jetzt im Zentrum ihrer Gerechtigkeitstheorie. Zehn zentrale menschliche Fähigkeiten beschreiben ein soziales Minimum, über das Bürger verfügen können müssen: Leben, Gesundheit, körperliche Integrität, Sinne, Vorstellungsgabe und Nachdenken, Gefühle, praktische Vernunft (die Fähigkeit der kritischen Stellungnahme zu den eigenen Lebensplänen), Einfühlungsvermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung, Beziehung zu Tieren und zur Natur, Humor und Kreativität und schließlich politische Partizipationsrechte und materielle Grundrechte. 28 Die grundlegende Idee sei nun, dass wir in Beziehung auf jede dieser Eigenschaften sagen können, dass ein Leben ohne eine dieser Fähigkeiten kein menschenwürdiges mehr ist. 29 Es ist also nicht mehr das Ziel sozialer Gerechtigkeit, die Menschen zu einem guten Leben zu befähigen, sondern zu einem menschenwürdigen. Daher beschreibt diese Liste nicht die Teloi sinnerfüllten Lebens, sondern Pauer-Studer, »Einleitung«, a. a. O., S. 14. Martha Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Cambrigde/Mass. and London 2006, S. 76 f. 29 Ebd., S. 78. 27 28
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ein soziales Minimum, das ein anständiges Leben definiert, was immer der Einzelne darüber hinaus für erstrebenswert hält. Gleichwohl bleibt Nussbaums »Fähigkeitenmethode« in einem anderen Sinne sehr anspruchsvoll: Alle zehn Fähigkeiten sind für ein Leben in Würde unentbehrlich. Es sei daher die Aufgabe der politische Gemeinschaft, alle Bürger zu einem Leben, das die genannten Eigenschaften aufweist, zu befähigen. Das ist nicht das Ganze der Gerechtigkeit, aber die Forderung nach menschenwürdigen Lebensbedingungen hat Priorität gegenüber weiter gehenden Gerechtigkeitsforderungen. Durch diese grundbegriffliche Revision respektiere die Fähigkeitenmethode das Faktum des vernünftigen weltanschaulichen Pluralismus, und das in sechsfacher Hinsicht: Zum Ersten ist die Liste offen (open-ended), d. h. sie ist prinzipiell revisionsfähig. Zum Zweiten ist die Liste ganz bewusst abstrakt gehalten und trägt so unterschiedlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten Rechnung. Wo z. B. die Grenze der Meinungsfreiheit zu ziehen ist, wird traditionellerweise in den USA und Deutschland unterschiedlich bestimmt. 30 Zum Dritten betrachtet Nussbaum die Liste der Fähigkeiten als eine freistehende, nicht umfassende politische Konzeption. Hier schließt sie sich einem Grundgedanken von Rawls’ Politischem Liberalismus an: Die Liste wird nur für einen betimmten Anwendungskontext ausgearbeitet, den Bereich des Politischen. Die zehn Fähigkeiten beschreiben daher die Würde von Bürgern, nicht aber ein normatives Selbstverständnis, das die Menschen auch in ihren privaten Beziehungen akzeptieren müssten. Freistehend heißt, auch hierin folgt Nussbaum Rawls, dass darauf verzichtet wird, die Fähigkeiten in metaphysischen Ideen zu verankern. Vielmehr sei die Liste ein Modul, das sich in ganz unterschiedliche Konzeptionen eines guten und sinnerfüllten Lebens einbetten können soll. 31 Eben darum verzichtet Nussbaum darauf, die beschriebenen Fähigkeiten als eine Konzeption des guten Lebens zu präsentieren. Zum Vierten beschreiben die zehn Eigenschaften Fähigkeiten und keine Funktionen. Auch dadurch sei dem Faktum des Pluralismus Rechnung getragen. Die zehn Eigenschaften definieren Nussbaum zufolge menschliche Würde und genau das ist der Grund, weshalb alle ein Anrecht (entitlement) auf alle zehn Fähigkeiten haben. Würde generiere Menschenrechte. 32 Die Liste ga30 31 32
Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 284 ff. A
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rantiert z. B. allen Bürgern das Recht zu wählen. Aber jeder habe die Freiheit, auf die Ausübung dieses Rechtes zu verzichten. Daher habe niemand die Pflicht, in einer bestimmten Art und Weise, so wie es die Liste vorschreibt, zu »funktionieren«, also z. B. zu wählen. 33 Fünftens wird die Anerkennung des Faktums des Pluralismus noch dadurch hervorgehoben, dass einige Fähigkeiten auf der Liste einen prioritären Status genießen: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Gewissensfreiheit. 34 Und sechstens schließlich rechtfertigt die Liste nicht schon per se Interventionen bei Menschenrechtsverstößen durch wirtschaftliche Sanktionen oder militärisches Eingreifen. 35 Aber in welchem Sinne definieren die zehn Fähigkeiten die Menschenwürde? Besteht die Menschenwürde im Leben, in der Gesundheit, in körperlicher Integrität, im Wahrnehmen und Denken, im Fühlen und Reflektieren, im sozialen Verhalten, im Umgang mit der Natur, im Spielen und Lachen und in politischer Partizipation etc.? Bei manchen dieser Fähigkeiten möchten wir das intuitiv bejahen, bei anderen ist uns das nicht so ohne Weiteres klar. Nussbaum muss uns eine Konzeption der Menschenwürde nennen, die als ein Begriffsrahmen allererst erlaubt, all diese heterogenen Fähigkeiten unter einen Begriff zu subsumieren. Sie versteht ihren capabilities approach als Antwort auf das moralische Versagen des Kontraktualismus und dieser ist zweifach: Wie oben gezeigt, stellt sich Rawls selbst in die Tradition des Kontraktualismus Hobbes’scher Provenienz, indem er seine Gerechtigkeitsgrundsätze als die Regeln einer fairen Kooperation versteht. Das Differenzprinzip stellt sicher, dass alle, die durch Arbeit ihren Beitrag zum sozialen Nutzen leisten, auch eine faire Gegenleistung erhalten. Die Einschränkung der Gerechtigkeitstheorie von Rawls auf die Produktiven, die sozial Nützlichen, verstößt, das ist Nussbaums Intuition, gegen die Würde der Arbeitslosen, der Kranken und Behinderten, kurz: der Hilfsbedürftigen. Deren Ansprüche sind Rawls zufolge nicht Gegenstand der grundlegenden Gerechtigkeit der Gesellschaft. Nun ließe sich einwenden, dass die Hobbes’sche Prämisse der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie gegen eine noch grundlegendere Idee verstößt: das Rechtfertigungsprinzip. Die allgmeinverbindlichen Regeln der gesellschaftlichen Koopertion müssen ja nach Rawls so 33 34 35
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Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 80. Ebd.
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beschaffen sein, dass sie von den Bürgern selbst wechselseitig voreinander gerechtfertigt werden können, und niemand mit einer Körperbehinderung oder einer Krankheit hat einen Grund, seinen Ausschluss zu akzeptieren, erst recht dann nicht, wenn ihm nichteinmal ein Grund genannt wird, weshalb seine Ansprüche nichts oder weniger zählen. Aber auch dieser Einwand macht keine ganz anspruchslose Voraussetzung: Anspruch auf Rechtfertigung können nur Menschen erheben, die vernünftig sind, die unparteiische, moralische Gründe verstehen und aus Einsicht in diese Gründe handeln können. Wenn Rawls also seine Gerechtigkeitstheorie auf eine kantische Konzeption der Person gründet, dann schließt er alle Personen aus, die die beiden moralischen Vermögen nicht, oder nur in einem eingeschränkten Sinn aufweisen: die geistig Behinderten. 36 Wenn der Ausschluss der Hilfsbedürftigen aus der moralischen Gemeinschaft als der Gruppe der Kooperationsfähigen gegen die Menschenwürde verstößt, dann besteht das zweite Versagen des Kontrakualismus als Rechtfertigungsprozeduralismus Nussbaum zufolge in der Beschränkung der Menschenwürde auf die Vernünftigen, die moralisch Einsichtsfähigen, auf die rational Handelnden: »The capabilities approach, by contrast, sees rationality and animality as thoroughly unified. Taking its cue from Aristotle’s notion of the human being as a political animal, and from Marx’s idea that the human being is a creature ›in need of a plurality of life-activities,‹ it sees the rational as simply one aspect of the animal, and, at that, not the only one that is pertinent to a notion of truly human functioning. More generally, the capabilities approach sees the world as containing many different types of animal dignity, all of which deserve respect and even awe. The specifically human kind is indeed characterized, usually, by a kind of rationality, but rationality is not idealized and set in opposition to animality; it is garden-variety practical reasoning, which is one way animals have of functioning.« 37
Nussbaum sieht die menschliche Würde nicht nur in der Vernunftfähigkeit begründet, die den Menschen vom Tier unterscheidet, sondern in seiner gesamten Bedürfnisnatur, die ihm zum Teil mit anderen Tieren gemein ist. Die Vernunft ist »nur« ein Teil, wenn auch ein herausragender dieser Fähigkeiten. Der rationale Kontraktualismus schließt alle Personen aus der moralischen Gemeinschaft aus, mit denen es nicht vorteilhaft ist zu 36 37
Ebd., insbes. Kap. 2. Ebd., S. 159. A
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kooperiern. Das Interesse eines anderen zu berücksichtigen, kann nur unter der Bedingung einer Gegenleistung als rational gelten. Soziale Rücksichtnahme muss sich auszahlen. Daher muss Solidarität mit den Hilfsbedürftigen genau dann als irrational erscheinen, wenn die Kosten der Hilfeleistung den Nutzen übersteigen. Der vernünftige Kontraktualismus definiert die moralische Gemeinschaft über das Vermögen der unparteiischen Berücksichtigung der Interessen aller. Der Vernunftkontraktualismus, so Nussbaums These, unterscheidet nicht zwischen zwei Fragen, die auseinandergehalten werden müssen: »Von wem werden die grundlegenden gesellschaftlichen Regeln aufgestellt?« und »Für wen werden diese Regeln aufgestellt?«. 38 Da im Vernunftkontraktualismus die Regelgeber mit der Gruppe der Adressaten der Regeln identisch sind, seien alle diejenigen ausgeschlossen, die am Rechtfertigungsverfahren – auch idealiter – nicht teilnehmen können. Wenn aber Menschenwürde als Grund für den Anspruch, ein Wesen zu sein, das moralische Berücksichtigung verdient, nicht allein in der Vernunftfähigkeit verankert wird, sondern in allen Eigenschaften, die uns als Lebewesen auszeichnen, dann haben auch die Menschen, denen die Vernunftfähigkeit mangelt, Grund zur moralischen Rücksichtnahme. Das ist der Grundgedanke von Nussbaums »aristotelischer« Konzeption von Menschenwürde. Dergestalt soll die Fähigkeitenmethode drei Probleme lösen, die zeitgenössische, dem Kontraktualismus verpflichtete Theorien sozialer Gerechtigkeit aufwerfen: Das ist die Frage des gerechten Umgangs mit Behinderten (oder für unseren Zusammenhang allgemeiner formuliert: den Hilfsbedürftigen), die Frage der globalen Gerechtigkeit und die Frage der Gerechtigkeit gegenüber Tieren. Aber das gleiche Problem, das die frühere essentialistische Konzeption des guten Lebens belastete, begegnet uns auch hier: die Unterscheidung zwischen Fähigkeiten und Funktionen. Einerseits definieren nach Nussbaum alle zehn Eigenschaften die menschliche Würde, egal, ob es sich um einen Menschen in Pakistan oder den USA handelt. Andererseits aber dürfe niemand zu einem durch diese zehn Fähigkeiten charakteriserten Leben vom Staat gezwungen werden. Daher solle es nur bei der Möglichkeit bleiben, im Sinne der Nussbaumschen Liste zu funktionieren. Es steht also dem Individuum frei, auf die Realisierung der entsprechenden Fähigkeiten zu verzichten, z. B. durch Wahlverzicht. Das folgt nach Nussbaum aus dem 38
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Recht, die Möglichkeit zu haben, einen eigenen Lebensplan zu entwerfen und zu verfolgen. Wenn es aber erlaubt ist, um der ethischen Autonomie willen auf bestimmte menschenwürdige Lebensweisen zu verzichten, dann bedeutet dieses Recht ein Recht auf Selbstentwürdigung! Genau diese Schlussfolgerung hält Nussbaum aber für absurd. Sie unterscheidet zwei Bereiche: »Only in the area of self-respect and dignity itself do I think that actual functioning is the appropriate aim of public policy. Suppose a state were to say, ›We give you the option of being treated with dignity. Here is a penny. If you give it back to us, we will treat you respectfully, but if you prefer, you may keep the penny, and we well humiliate you.‹ This woulb be a bizarre and unfortunate nation, hardly compatible, it seems, with basic justice. We want political principles that offer respect to all citizens, and, in this one instance, the principles should give them no choice in the matter.« 39
Hier unterscheidet Nussbaum also zwischen Fähigkeiten, die die Menschenwürde definieren und Funktionen darstellen und solchen, die das nicht tun. Die entscheidende Frage, die diese Unterscheidung aufwirft, ist nun, was es heißt, einen Menschen zu entwürdigen und zu demütigen. Weil diese Frage aber weder gestellt geschweige denn beantwortet wird, 40 bleibt die Auflistung aller zehn Fähigkeiten als Bestandteile der Menschenwürde nicht nur eine bloße Behauptung, sondern auch durch die Unterscheidung zwischen Fähigkeiten und Funktionen widersprüchlich. Damit hängt ein zweites Problem zusammen: Die Liste besteht aus Berechtigungen, die Gegenstand eines übergreifenden Konsenses sein sollen und nur für den Bereich des Politischen Gültigkeit besitzen. Mit dieser von Rawls übernommenen Differenzierung der sozialen Rollen der Person möchte Nussbaum dem Faktum des vernünftigen weltanschaulichen Pluralismus gerecht werden. Die Liste definiert ein Menschenbild, zu dem wir uns als Staatsbürger bekennen. In privaten Beziehungen, in Freundschaften, als Familienmitglieder oder Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft mögen wir uns ganz anders verstehen. Damit wird die nicht geklärte Konzeption Ebd., S. 172. Nussbaum belässt es bei Andeutungen. Z. B. gründe die Forderung nach gleichem Zugang zu Bildungseinrichtungen auf der intuitiven Idee, dass menschliche Wesen »verkümmert« und »verstümmelt« seien, wenn sie keine Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten und Talente durch Bildung zu entwickeln.: Nussbaum, Frontiers of Justice, S. 279.
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von Menschenwürde auf den Bereich des Politischen eingeschränkt, was das Verständnis von Nussbaums Idee von Würde nicht vereinfacht. Kann ich denn z. B. als Ehefrau, Kirchenmitglied oder Freund nicht in meiner Würde verletzt werden? Nussbaum würde vielleicht entgegnen, dass unser Staatsbürgerstatus auch durch diese Nahbeziehungen hindurchgreife, dass uns in der Freundin, der Ehepartnerin usw. immer auch die Staatsbürgerin mit ihren Rechten begegne. Aber diese Antwort macht die Personenkonzeption zu einer unteilbaren und es ist daher unmöglich uns in einer Rolle so und in einer anderen Rolle ganz anders zu verstehen. 41 Nussbaum diskutiert die Unterscheidung zwischen Fähigkeiten und Funktionen, die die Liste zu einem würdigen Gegenstand eines übergreifenden Konsenses differierender Weltanschauungen mache, u. a. am Beispiel der Amish People. Auch wenn deren Religion es verbiete zu wählen, hätten doch auch diese Menschen einen Grund, das Wahlrecht als eine für die Menschenwürde unverzichtbare Fähigkeit anzuerkennen. Sie nennt im Wesentlichen drei Argumente, warum ein Amish den objektiven Wert des Wahlrechts anerkennen sollte, obwohl seine Religion die Ausübung dieses Rechts verbietet. Zum einen wäre das Nichtwählen in einem nichtdemokratischen Staat kein Ausdruck der eigenen religiösen Lebensform. 42 Aber das scheint ein absurder Gedanke zu sein: Ich schätze die Demokratie, weil sie mir die Möglichkeit bietet, aus freien Stücken die politische Mitbestimmung aus religiösen Gründen abzulehnen. Zum zweiten müssten jedem Bürger »full exit options from one comprehensive conception to another« frei stehen. 43 Das setzt freilich voraus, dass das Mitglied dieser religiösen Gemeinschaft in jedem anderen Mitglied den Staatsbürger achtet, der das Recht hat, die Religion zu wechseln oder aufzugeben. Und drittens schließlich garantiere eine für alle Menschen verbindliche Liste mit dem Wahlrecht den egalitären Status der Bürger. 44 Auch das setzt das Bekenntnis zu einer egalitaristischen Gesellschaft und damit die Verpflichtung, jedes andere Gesellschaftsmitglied und damit auch die Mitglieder der eigenen religiösen Gemeinschaft als Träger von Selbstbestimmungsrechten zu respektieren, voraus. 41 42 43 44
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Vgl. Abschnitt 3.5 dieser Arbeit. Nussbaum, Frontiers of Justice, a. a. O., S. 184. Ebd., S. 185. Ebd., S. 185 f.
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Es ist das Verdienst Martha Nussbaums, eindrucksvoll die anthropologischen Prämissen einer Moral der Solidarität mit den Hilfsbedürftigen und Schwachen in Erinnerung gerufen zu haben. Mag auch der Einwand, das die Auflistung spezifisch menschlicher Fähigkeiten, die Gefahr der Willkürlichkeit und damit des Paternalismus in sich berge, seine Berechtigung haben. So gilt doch auch, dass eine Moralauffassung, die auf jede anthropologische Stellungnahme verzichtet, die sich objekiver Werturteile enthält, in gefährliche Nähe zur moralischen Indifferenz gerät. Nussbaum bezeichnet die grundlegenden Fähigkeiten des Menschen als kognitive Voraussetzungen für das Mitgefühl mit der Not anderer. Moralische Forderungen der Anteilnahme und Solidarität mit den in Not Geratenen setzen voraus, dass wir überhaupt einen Begriff vom Leiden dieser Menschen haben, und zwar unabhängig davon, ob diese Menschen sich freiwillig in ihr Schicksal fügen. »Wir erfassen die Bedeutung des Leidens, den Mangel oder eine Behinderung erst dann, wenn wir sie in den Zusammenhang einer Auffassung dessen stellen, was es für ein menschliches Wesen bedeutet, zu gedeihen. Und wir reagieren nicht mitleidsvoll auf jene Kluft zwischen Norm und Erfüllung, wenn wir nicht erwägen, dass dies eine Möglichkeit ist, an der auch wir teilhaben. Mitleid verlangt von uns, zu sagen: Wie fern diese Menschen uns an Vermögen, an gesellschaftlichem Rang oder an Geschlecht auch sein mögen, diese Unterschiede sind moralisch beliebig und hätten uns ebenso treffen können.« 45
Aber selbst, wenn wir Nussbaum hierin zustimmen, sind es zwei Einwände, denen ihr capabilities approach nichts entgegenzusetzen hat: (1) Warum sollte aus diesem Mitgefühl ein Recht auf Mitmenschlichkeit und Solidarität folgen? Warum reicht es nicht aus, das Mitgefühl als eine Tugend aufzufassen, als eine Charakterdisposition der Wohltätigkeit, der aber als Tugend eben keine Rechte anderer korrespondieren? Auch wenn Nussbaum mit ihrem Rückgriff auf den Begriff der Würde in die richtige Richtung weist, bleibt sie eine Antwort schuldig. (2) Vorausgesetzt, die Bürger haben ein Anrecht auf Unterstützung in Notlagen, also im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit, etc.: Die philosophisch interessante Frage ist, in welcher Weise das Prinzip der Reziprozität auch in der Sphäre der Verteilung von Bedarfsgütern seine Anwendung findet, in welcher Art und Weise also Güter 45
Nussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 231. A
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des grundlegenden Bedarfs verteilt werden, die, wie Nussbaum anmahnt, mit der Selbstachtung der Fürsorgeempfänger vereinbar ist und die den Fürsorgespender nicht ausbeutet. 46 Zum einen hat Nussbaums Auffassung des Wohlfahrtsstaates dem Einwand nichts entgegenzusetzen, dass der Sozialstaat die Bedürftigen erniedrige, indem er ihnen die Fähigkeit raube, die eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. 47 Zum anderen ist zu fragen, ob und in welcher Weise der Einzelne Verantwortung für seine soziale Sicherheit trägt, ob dem Recht auf Solidarität auch eine Pflicht zu derselben korrespondiert. Wo ist im Kontext der Verteilung von Bedarfsgütern die Grenze zwischen der Verantwortung des Individuums und der Verantwortung des Staates für das Wohlergehen zu ziehen? Der erste Einwand ist Gegenstand des Schlusskapitels dieser Arbeit. Mit dem zweiten Einwand kehren wir zu Dworkin zurück. Fassen wir die Abschnitte 6.5 und 7.1 zusammen. Die Ausgangsfrage war, warum Dworkin sein Versicherungsmodell auf einen Gegenstand anwendet, der doch primär nach dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit zu beurteilen ist. Warum betrachtet Dworkin die Einkommensverteilung ausschließlich aus der Perspektive der distributiven Gerechtigkeit? Die Theorie der Ressourcengleichheit ist als eine Weiterentwicklung der Gerechtigkeitstheorie von Rawls gedacht und soll deren innere Widersprüchlichkeiten überwinden. Es geht Dworkin um ein umfassendes Verständnis von Chancengleichheit, das zum einen den Verdienstgedanken bewahrt und zum anderen durch das Versicherungsmodell einer Auffassung von Chancengleichheit als Wettlauf entgegentritt. Vor diesem Hintergrund wird der freie Markt nur unter dem Aspekt der Chancengleichheit und der Versicherung gegen Niedriglöhne betrachtet, die Fairness der Tauschbeziehungen hingegen unberücksichtigt gelassen. Das normative Defizit besteht somit in einer Reduktion sozialer Gerechtigkeit auf eine Konzeption distributiver Gleichheit. Das ist einer einseitigen Rezeption der Gerechtigkeitstheorie von Rawls geschuldet, die außer Acht lässt, dass dieser Chancengleichheit nicht zur einzigen grundlegenden Gleichheitsidee seiner Gerechtigkeitstheorie erklärt hat. Rawls versteht unter dem Egalitarismus ein Ideal sozialer Beziehungen, das durch die Idee der reziproken Rechtfertigung von Gesellschafts46 47
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Nussbaum, »Fürsorge und Gerechtigkeit«, a. a. O., S. 183. Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 273.
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Das Versicherungsmodell II: Krankenversicherung
normen gekennzeichnet ist. Aber er schränkt die Anwendung dieser Idee auf ein Verständnis der Gesellschaft als Kooperation ein. Bei Rawls finden wir also auch den gegenteiligen Reduktionismus: Soziale Gerechtigkeit ist für ihn wesentlich eine Tauschmoral, die Fragen der Fürsorgebedürftigkeit in Fällen von Armut durch Arbeitslosigkeit und Krankheit auf der grundlegenden Ebene den Status der Gerechtigkeitsrelevanz abspricht. Das freilich hängt mit seinem Verständnis der Person zusammen. Der Reduktion auf ein kontraktualistisches Verständnis sozialer Gerechtigkeit korrespondiert ein defizitäres Konzept der Person. Dagegen gilt es ein Verständnis des Selbst zu entwickeln, das unsere Bedürfnisnatur ernst nimmt. Dieses bildet die normative Prämisse für eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit, die auch die materielle Sicherheit der Bürger zum Ziel hat. Somit können wir die Kritik an Dworkins Versicherungsmodell präzisieren: Nicht, dass dieses Modell grundsätzlich gescheitert sei. Es findet aber im Kontext der Verteilung von Einkommen keine Anwendung. Das Versicherungsmodell verspricht vielmehr im Kontext der Verteilung von Gütern des grundlegenden Bedarfs eine Lösung von Verteilungsproblemen: Die Idee einer Versicherung gründet auf dem Prinzip reziproker Solidarität mit den in Not Geratenen. Die Verteilung von Gütern des grundlegenden menschlichen Bedarfs hat in einer Art und Weise zu erfolgen, die der Eigenverantwortung der Menschen gerecht wird. Das wird in den nächsten beiden Abschnitten am Beispiel der Modelle einer fairen Kranken- und Arbeitslosenversicherung diskutiert.
7.2 Das Versicherungsmodell II: Krankenversicherung Im Zentrum von Dworkins Gerechtigkeitstheorie stehen zwei Prinzipien der Chancengleichheit. Das erste fordert, dass die Verteilung sozialer Güter das Ergebnis der freien Entscheidungen der Bürger sein müsse. Alle haben einen Anspruch auf gleiche Startchancen im Konkurrenzkampf des freien Marktes: »In my view, that means that the resources people can initially command, in making their decisions about education, work, and investment, are as nearly equal as possible […].« 48 Der zweite Chancengleichheitsgedanke besagt, dass die Verteilung sozialer Güter gerecht ist, wenn alle Bürger die gleichen 48
Dworkin; Sovereign Virtue, a. a. O., S. 311. A
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Chancen hatten, sich gegen bestimmte Lebensrisiken zu versichern. Beide Chancengleichheitsprinzipien sieht Dworkin aus einem abstrakten Grundsatz abgeleitet: Personen sind hinsichtlich der Verteilung sozialer Güter genau dann gleichgestellt, wenn niemand aufgrund von Faktoren bevorzugt oder benachteiligt wird, die er nicht zu verantworten hat. Dem liegt die Unterscheidung zwischen der Person und ihren Lebensumständen zugrunde. Die Verteilung von unpersönlichen Ressourcen, wie Einkommen, Vermögen, Chancen und Eigentumsrechten, darf nicht in ungleicher Weise von den persönlichen Ressourcen, wie der physischen und mentalen Gesundheit und den angeborenen Talenten und den äußeren Lebensumständen wie der sozialen Klasse, beeinflusst sein. Die persönlichen Ressourcen zählt Dworkin somit zu den Lebensumständen der Person, die nichtpersönlichen insofern, als ihr Besitz auf eine Bevorzugung und Benachteiligung durch persönliche Ressourcen oder andere Lebensumstände wie der sozialen Herkunft zurückführbar ist. 49 Als Ressource bezeichnen wir die Fähigkeit einer Person, das zu erreichen, was sie erreichen will. 50 Personen sollen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten gleichgestellt sein, nicht aber in der Hinsicht des Gelingens ihrer Lebenspläne, der Erfüllung ihrer subjektiven Vorstellungen vom Wohlbefinden. Ressourcen sind Gelingensvoraussetzungen subjektiver Lebenspläne. Es ist das Ziel der Theorie der Ressourcengleichheit, die Lebensentscheidungen der Personen unparteiisch zu berücksichtigen: Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Das setzt freilich voraus, dass die Person in der Lage ist, Verantwortung für ihre Lebenspläne zu übernehmen, d. h., dass sie die Kosten ihres Lebensstils nicht anderen aufbürdet. Dworkin findet im Gedankenexperiment der Auktion ein Kriterium einer ursprünglichen egalitären Verteilung, das Ergebnis der freiwilligen Kaufentscheidungen der Bürger ist. Die Auktion zeichnet das Bild fairer Startchancen auf dem freien Markt. Dieses Verteilungsverfahren ist aber durch das Versicherungsmodell zu ergänzen, das Menschen vor bestimmten Risiken schützen soll. Auch vor dem Hintergrund gleicher Startchancen wird die Verteilung der unpersönlichen Ressourcen in einer gerechtigkeitsrelevanten Weise durch Faktoren beeinflusst, die der Person nicht als selbstverantwortet zugerechnet werden können. Da-
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Ebd., S. 322 ff. Pauer-Studer, Autonom leben, a. a. O., S. 78.
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zu zählt Dworkin das Schicksal von Behinderung und Krankheit. Dieses Pech ist kompensationswürdig. 51 Das bleibt jedoch zunächst eine bloße Behauptung. Der Witz der Auktion besteht ja gerade darin, unter der Bedingung gleicher Kaufkraft das Pech teurer Präferenzen an die Eigenverantwortung der Person zu delegieren. Es sei in diesem Falle gerecht, wenn Personen für ihr Wohlergehen mehr zahlen müssen als andere. Es macht zwar keinen Sinn, dem Gourmet den hohen Preis von Wachtelbrüstchen zuzurechnen. Wohl aber können wir sagen, dass Personen ihre Präferenzen ihren Lebensumständen und individuellen Möglichkeiten anpassen können müssen. Für unsere Wertungen sind wir verantwortlich. Die bloße Tatsache einer frustrierten Präferenz bedeutet nicht schon ein solches Übel, das es wert wäre, von anderen Kompensationsleistungen zu verlangen. Eine Gerechtigkeitstheorie, die das individuelle Wohlbefinden, verstanden als Präferenzerfüllung, angleichen will, ist einem Konzept der Person verpflichtet, dem die Fähigkeit der Bewertung der eigenen Präferenzen mangelt. Im Gegensatz dazu ist Dworkin der Überzeugung, dass ein Behinderter oder ein chronisch Kranker zu Recht einen Anspruch auf einen teuren Rollstuhl bzw. auf eine teure Medikation hat. Aber aus welchem Grund ist dieses Pech kompensationswürdig? Worin besteht der moralisch relevante Unterschied zwischen dem Gourmet und dem Gelähmten? Dworkin sucht ihn in der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Lebensumständen. Die Behinderung sei eine benachteiligende Ausstattung persönlicher Ressourcen; die exzentrischen Präferenzen hingegen seien zu den Ambitionen zu zählen, für die das Selbst Verantwortung trage. 52 Das Argument greift nicht. Auch der Gourmet kann sich möglicherweise nicht dazu zwingen, in der Hausmannskost sein Wohlergehen zu finden, genauso wenig wie der Gelähmte seine Beine zur Bewegung zwingen kann. 53 Warum also soll der Gelähmte die Kosten seines Rollstuhls nicht selber tragen? Dworkin könnte nun entgegnen, wir hätten den Unterschied zwischen Ressourcen und Wohlfahrt nicht verstanden. Letztere bezeichnet die Präferenzerfüllung der Person, Ressourcen aber sind Fähigkeiten, etwas zu tun. Die behinderte Person ist nun nicht wie der 51 52 53
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 73. Ebd., S. 81. Vgl. Pauer-Studer, Autonom leben, a. a. O., S. 86 ff. A
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Gourmet in ihrer Präferenzerfüllung eingeschränkt, sondern ihr mangelt eine Fähigkeit. Sie leidet unter einem unfreiwilligen Ressourcendefizit. Wie G. A. Cohen schreibt: »Lame people need them [Rollstühle] to be adequately resourced, wether or not they also need them to be, or be capable of being, happy.« 54 Der Ressourcenegalitarist scheint daher gegenüber dem Wohlfahrtsegalitaristen im Vorteil zu sein. Denn stellen wir uns vor, der Gelähmte wäre mit einem sonnigen Gemüt ausgestattet und notorisch gut gelaunt. In diesem Fall fällt es schwer, die Behinderung als eine Einbuße an Wohlfahrt zu bezeichnen. Der Wohlfahrtsegalitarist hätte einen stärkeren Grund, sich um die Präferenzerfüllung der Griesgrämigen zu sorgen als um die Belange der Gelähmten. 55 Daraus folgt aber nicht, das ist Cohens Einwand gegen Dworkin, dass wir Ansprüche auf medizinische Fürsorge begründen können, ohne das Wohlbefinden der Betroffenen zu berücksichtigen. Denn stellen wir uns vor, der Rollstuhlfahrer könnte seine Arme nicht ohne Schmerzen bewegen. Der Ressourcenegalitarist muss ihm nun die teuren Schmerzmittel vorenthalten: Die Einschränkung der Fähigkeit, die Arme zu bewegen, können wir in diesem Fall nicht anders als eine Einschränkung des Wohlbefindens beschreiben, die der Schmerz bedeute. »So there is an irreducible welfare aspect in the case for egalitarian compensation in real-life disability examples.« 56 Das Gleiche gelte für andere Krankheiten und Behinderungen, z. B. Arthritis. Wenn wir mit Dworkin ein Verständnis sozialer Güter teilen, das von der Wohlfahrt der Person vollständig abstrahiert, haben wir keinen Grund, den unter Schmerzen oder Kälte leidenden Menschen zu helfen. Wir verstehen gar nicht, was ihnen fehlt. Was immer wir zur Wohlfahrt einer Person rechnen mögen, die Abwesenheit von Schmerzen sei ganz sicher ein Teil davon. 57 Cohen plädiert mit diesem Argument für sein eigenes Gerechtigkeitsprinzip der Chancengleichheit auf Vorteile. Dieses fasse den Begriff der Benachteiligung weiter. In seiner Antwort auf Cohen zeigt Dworkin kein Interesse mehr, diese Diskussion fortzuführen: »Almost everyone would agree that a decent life, whatever its other features, is one that is free from serious and enduring physical or mental pain or dis54 55 56 57
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G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 918. Ebd. Ebd., S. 919. Ebd., S. 921.
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comfort, and having a physical or mental infirmity or condition that makes pain or depression or discomfort inescapable without expensive medicine or clothing is therefore an evident and straightforward handicap. Someone with such an infirmity did not choose it; he would cure it if he could, and none of his beliefs, judgments, convictions, or commitments would argue against such a cure.« 58
Damit räumt er ein, dass wir die gerechtigkeitsrelevante Benachteiligung von Personen durch Krankheit und Behinderung nur benennen können, wenn wir ein Verständnis der Einbuße an Lebensqualität und vom Leiden der Betroffenen besitzen. Das Modell der Krankenversicherung gründet auf der Prämisse, dass Krankheit und Behinderung Einschränkungen existentieller menschlicher Fähigkeiten darstellen. Ein anständiges Leben ist sowohl durch die Abwesenheit von Schmerz als auch durch Selbständigkeit definiert. So sollte der Rollstuhlfahrer im Beispiel sowohl ein schmerzfreies als auch ein möglichst selbständiges Leben führen können, das ihn von der Hilfe anderer weitgehend unabhängig macht. Dworkin hat seinen Ressourcenbegriff zu abstrakt gefasst; die Wertneutralität seines Auktionsmodells ist mit dem Versicherungsmodell unvereinbar. Ressourcen sind nicht einfach als Allzweckmittel zu verstehen, die subjektive Entscheidungsspielräume eröffnen sollen. Implizit versteht er unter Ressourcen nicht nur Chancen auf gleichberechtigte Marktteilnahme, sondern auch die Befähigung zu einer »anständigen« Lebensweise. Nur so wird verständlich, warum das Pech von Krankheit oder Behinderung normativ vom Pech teurer Präferenzen zu unterscheiden ist. 59 Das Kriterium der Unfreiwilligkeit ist kein hinreichender Grund für den Anspruch auf Leistungen des Sozialstaats. Nach dem zweiten Chancengleichheitsgedanken ist es dessen Aufgabe, für ein anständiges Leben der Bürger Sorge zu tragen, wenn wir das Kriterium der Benachteiligung in diesem Sinne deuten: Personen sind genau dann benachteiligt, wenn sie über weniger Güter verfügen, die für ein anständiges Leben notwendig sind. Das aber ist definiert über grundlegende Bedürfnisse des Menschen und nicht über einen utilitaristischen Wohlfahrtsbegriff, der Wohlfahrt mit der Erfüllung subjektiver Präferenzen gleichsetzt. Es ist aber klar, dass das Verdienstprinzip des Chancengleichheitsgedankens das Kriterium moralisch relevanter Benachteiligung 58 59
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 297 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch den Einwand von Pauer-Studer, Autonom leben, a. a. O., S. 86 ff. A
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einschränkt: Wenn der Rollstuhlfahrer in unserem Beispiel seine Behinderung durch Leichtsinnigkeit selbst verschuldet hat, müssen wir ihm dann die Hilfe verweigern? Cohen bejaht das. Personen, die ihre Benachteiligung selbst hätten vermeiden können, besitzen keinen gerechtfertigten Anspruch auf Kompensationsleistungen. Das ist eben die Kehrseite des Prinzips, dass unfreiwillige Benachteiligungen zu kompensieren seien. Soziale Gerechtigkeit besteht wesentlich und ausschließlich in der gleichen Berücksichtigung der freiwilligen Entscheidungen von Personen. Ansprüche auf Kompensationsleistungen hängen Cohen zufolge notwendig vom Kriterium der Unfreiwilligkeit ab. Das Verfahren der Verteilung sozialer Güter berücksichtigt nicht die freiwilligen Entscheidungen der Bürger in gleichem Maße, wenn Menschen die Kosten selbstverschuldeten Unglücks anderer zu zahlen haben. »When deciding whether or not justice (as opposed to charity) requires redistribution, the egalitarian asks if someone with a disadvantage could have avoided it […]. If he could have avoided it, he has no claim to compensation, from an egalitarian point of view.« 60 Es ist aber nicht einzusehen, warum die Gerechtigkeit verlangt grausam und gnadenlos zu sein. Elizabeth Anderson kritisiert zurecht, dass der Chancenegalitarismus eine grausame Kehrseite habe, indem er völlig gleichgültig gegenüber dem Schicksal der durch eigene Schuld in Not Geratenen sei. 61 Dworkin deutet das Kriterium der Eigenverantwortlichkeit im Kontext der Verteilung medizinischer Fürsorge anders. Er unterscheidet zwischen reinem und kalkuliertem Zufall. 62 Reiner Zufall ist ein unvorhersehbares Ereignis. Wer z. B. von einem Meteoriten getroffen wird, dessen Flugbahn nicht vorhersehbar war, ist ein Opfer reinen Pechs. Kalkulierter Zufall ist die Möglichkeit einer nichtbeabsichtigten, aber wissentlich in Kauf genommenen Folge eigenen Handelns. Anders als der reine Zufall ist der kalkulierte Zufall also einer Person zuzurechnen. Die Möglichkeit, sich gegen Katastrophen zu versichern, macht nun diese Unterscheidung insofern hinfällig, als die Entscheidung für oder gegen eine Katastrophenversicherung selbst ein kalkuliertes Glücksspiel ist. Jemand, der durch einen unerwarteten Meteoriten getroffen wird, sich aber zuvor versichert hat, hat zwar reines Pech, weil er schlechter dran ist, als 60 61 62
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G. A. Cohen, »Currency of Egalitarian Justice«, a. a. O., S. 920. Anderson, a. a. O. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 73.
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wenn das Ereignis nicht eingetreten wäre. Aber er ist besser dran, als wenn er sich nicht versichert hätte. In dieser Hinsicht hat er kalkuliertes Glück. 63 Dworkin ist nicht an der Frage interessiert, ob Personen ihre Not selbst verschuldet haben. Gerechtigkeitsrelevant ist vielmehr die Frage, ob die Ressourcenverteilung durch kalkulierten Zufall beeinflusst sein darf, wenn alle die gleichen Möglichkeiten haben, sich zu versichern. Das Versicherungsmodell ist gewissermaßen eine Art egalitäre Auktion von Versicherungspolicen. Alle besitzen die gleiche Möglichkeit, eine Versicherung gegen Risiken abzuschließen, die gleichmäßig verteilt sind. Die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Krankheit ist für alle gleich groß. Wenn diese beiden Bedingungen gegeben wären, dann hinge die Verteilung medizinischer Fürsorge allein von den freiwilligen Entscheidungen der Menschen ab. Oder abstrakter gesprochen: Niemand kann in diesem Fall gegen die Ressourcenverteilung den Einwand geltend machen, dass Personen aufgrund reinen Zufalls bevorzugt oder benachteiligt seien. Unter der Bedingung gleicher Kaufkraft und der Bedingung gleichen Risikos können und sollen die Personen selbst entscheiden, ob sie sich versichern möchten, und wenn ja, in welcher Höhe. Auch hier gilt: Wollen wir die Entscheidungen der Personen unparteiisch berücksichtigen, müssen wir den Menschen zumuten die Kosten ihrer Entscheidungen selbst zu tragen. Erkrankung ist als reines Pech anzusehen, für das niemand bestraft werden darf. Stellen wir uns aber vor, Müller und Schmidt hätten ursprünglich die gleiche Möglichkeit gehabt, eine Krankenversicherung abzuschließen, und beide wären unverschuldet erkrankt. Wenn sich jedoch nur Müller zuvor versichert hat, Schmidt hingegen nicht, dann ist zwar die Erkrankung beides Mal auf reines Pech zurückzuführen, aber der ungleiche Anspruch auf medizinische Behandlung ist als das Ergebnis kalkulierten Zufalls vor dem Hintergrund gleicher Versicherungschancen zu bewerten. Es wäre ungerecht, wenn die Verteilung medizinischer Fürsorge die freiwilligen Entscheidungen beider nicht berücksichtigte und also Müller die Behandlung von Schmidt mitfinanzieren müsste, weil dieser für die entstehenden Kosten selbst nicht aufkommen kann. »For once again the difference is a difference in option luck against a background of equal opportunity to insure or not. If neither had been blinded Ebd., S. 74. Das Beispiel stammt von Dworkin. Gehen wir davon aus, dass der Meteorit relativ klein ist.
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[oder allgemeiner: erkrankt], the man who had insured against blindness would have been the loser. His option luck would have been bad – though it seems bizarre to put it this way – because he spent resources that, as things turned out, would have been better spent otherwise. But he would have no claim, in that event, from the man who did not insure and also survived unhurt.« 64
Schmidt hat sich nicht versichert (vielleicht im Vertrauen auf seine physische Konstitution), um das Geld für die Versicherungsbeiträge für andere Dinge auszugeben. Genauso wenig, wie es im Fall der Nichterkrankung beider einen Grund gibt, Schmidts Gewinn der gesparten Krankenkassenbeiträge zu teilen, so wenig gibt es im Fall der Erkrankung beider einen Grund für Umverteilungen. 65 Dworkin betrachtet die Versicherungsentscheidung als eine Art Glücksspiel: Müller und Schmidt haben sich jeweils für ein Leben entschieden, in dem der Faktor des Risikos eine unterschiedliche Rolle spielt. Müller vertritt eine Risiko minimierende Vorstellung eines guten Lebens. Er nimmt eine relativ geringe Einbuße an Wohlstand in Kauf, um das Risiko eines großen Verlustes zu vermeiden. Die Kosten seiner Lebensentscheidung sind der Verlust der Versicherungsbeiträge bei gleichzeitigem Nichteintritt des Versicherungsfalls. Das ist der Preis, den Müller für ein sicheres Leben zu zahlen bereit ist. Schmidt hingegen ist ein Spieler, ihn reizt das Risiko. Er spekuliert auf den »Gewinn« nicht gezahlter Versicherungsbeiträge bei gleichzeitigem Nichteintritt des Versicherungsfalls. Ressourcengleichheit bedeutet gleiche Teilnahme an den Möglichkeiten eines freien Marktes aus der Perspektive der Konsumenten. Ein dezentrales Verfahren der Güterverteilung nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage soll garantieren, dass alle die gleiche Willkürfreiheit besitzen, diejenigen Güter zu erwerben, die sie vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Vorstellungen eines guten Lebens brauchen. Das Modell eines egalitären freien Versicherungsmarktes ist genau dieser Wertneutralität verpflichtet. Die Freiheit der Person findet in der Freiheit der anderen ihre Grenze: »We have already decided that people should pay the price of the life they have decided to lead, measured in what others give up in order that they can do so.« 66 Wenn der Staat die Versicherten zur Solidarität mit den 64 65 66
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Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 77. Es ist diese Gleichsetzung, die in der Tat »bizarr« anmutet. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 74.
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Nichtversicherten zwingt (wohlgemerkt: unter der Bedingung einer egalitären Einkommensverteilung), dann schränkt er die Freiheit der Bürger in ungleicher Weise ein. Er subventioniert das Leben der Hasardeure auf Kosten derer, die ein Leben in Sicherheit führen wollen. Das ist aus der Perspektive distributiver Gerechtigkeit eine einseitige Parteinahme für die Nichtversicherten. Der zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtete Staat hat aber die subjektiven Freiheiten aller Bürger gleichermaßen zu schützen. Daher müssen die Hasardeure im Ernstfall den Preis ihrer Lebensführung zahlen. Auch wenn er der höchste ist. Dieses Argument gründet auf der Prämisse, dass die intrinsische Ungerechtigkeit einzig in der ungleichen Einkommensverteilung besteht, d. h. in der Chancenungleichheit, eine Krankenversicherung nach Wahl abzuschließen. Die ungerechte Verteilung medizinischer Fürsorge ist somit nur als Nebenprodukt der ungerechten Einkommensverteilung zu begreifen. Wer so argumentiert, muss allerdings einräumen, dass bei gleicher Einkommensverteilung, aber ungleicher medizinischer Fürsorge normativ nichts zu beanstanden ist. Das Argument von der geltungslogischen Vorrangigkeit distributiver Einkommensgleichheit gesteht der gerechten Verteilung medizinischer Fürsorge keine eigenständige Sphäre zu, in der das Bedürfnis Ansprüche auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen begründet. Gesundheit ist dieser Auffassung zufolge ein privates, kein öffentliches Gut, eine Ware neben anderen. Der Staat muss den Wohlstand der Bürger angleichen; eine egalitäre Verteilung medizinischer Fürsorge ist instrumentell gerechtfertigt, als provisorische Angleichung der Lebensverhältnisse der Menschen. Wenn es aber Aufgabe des Staates sein soll, das Leben der Menschen zu verbessern, dann kann die Freiheit, unvernünftige Entscheidungen zu treffen, nur eine begrenzte sein. Dworkins Schlussfolgerung, dass die Nichtversicherten die Kosten ihrer Entscheidungen zu tragen hätten, ist, wenn man sie ernst nimmt, Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen der Menschen. Die Kritik Andersons scheint sich also auch bei Dworkin zu bestätigen: Der Glücksegalitarismus hat eine grausame Kehrseite. Die ist aber unvereinbar mit seinem »abstrakten egalistaristischen Prinzip«, dass der Staat für ein humanes Leben der Bürger sorgen solle. Diesem Prinzip zufolge hat der Staat das Recht, Bürger zu bestimmten vernünftigen Entscheidungen zu zwingen, etwa durch eine gesetzliche Sicherheitsgurtpflicht und die Pflicht, eine Krankenversicherung abzuschließen. A
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Das ist aber nicht nur eine vom Staat erzwungene Verpflichtung der Person gegenüber sich selbst, sondern auch eine intersubjektive Verpflichtung. Denn was folgt aus Andersons Kritik? Auch wenn es grausam ist, Schmidt die Kosten seiner unvernünftigen Entscheidung tragen zu lassen, so ist es doch gleichzeitig ungerecht, wenn Müller die Behandlung von Schmidt bezahlen soll. Das wäre eine Form der Ausbeutung. Die Lösung dieses vermeintlichen Dilemmas besteht auch hier in der Forderung einer gesetzlichen Versicherungspflicht. Es darf nicht im willkürlichen Belieben der Person liegen, ob sie sich versichert oder nicht. Der wohlfahrtsstaatliche Humanismus bleibt normativ defizitär, wenn er Dworkins komplementäres Prinzip außer Acht lässt, dass es die Pflicht eines jeden Bürgers ist, Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens zu übernehmen. Das Bedürfnis ist notwendiger, aber kein hinreichender Grund für Ansprüche auf Bedarfsgüter. Der Schwellenhumanismus von Nussbaum vergisst, dass medizinische Fürsorge ein teures Gut ist. Der nonegalitaristische Humanismus von Krebs 67, Frankfurt 68 und Raz 69 geht noch weiter: Hier wird implizit geleugnet, dass die unparteiische Verteilung der Kosten medizinischer Fürsorge überhaupt Gegenstand der Gerechtigkeit sein könne. Eine erkrankte Person hat dieser Position zufolge einen absoluten Anspruch auf medizinische Behandlung, ganz unabhängig davon, was andere verlieren, um diese Forderung zu erfüllen. Der ganze Witz des Nonegalitarismus als Gerechtigkeitstheorie ist ja gerade die Behauptung, dass Gerechtigkeit wesentlich nicht darin bestehe, die Ansprüche von Personen miteinander zu vergleichen. Die Idee einer Versicherung gründet dagegen auf dem Prinzip reziproker Solidarität. Medizinische Fürsorge kostet Geld, das die Betroffene im Krankheitsfall möglicherweise nicht bezahlen kann. Gegen diesen Notfall schützt die Versicherung: Die Menschen zahlen unabhängig von einem Ereignis und im Voraus für einen eventuellen Schadensfall, um sich gegen die finanziellen Folgen abzusichern. 70 Das Versicherungsprinzip ist nur deshalb möglich, weil die Anzahl der vom Versicherungsfall Betroffenen wesentlich geringer ist als Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 95 ff. Frankfurt, Gleichheit und Achtung, a. a. O. 69 Raz, a. a. O. 70 Vgl. Ulrich Laaser und Jens Holst, »Unsozial, diskriminierend und ineffektiv. Zuzahlungen im Gesundheitssystem haben nicht die von Politikern erhoffte oder vorgegaukelte Wirkung«, in: Frankfurter Rundschau online vom 08. 01. 2004. 67 68
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die Anzahl der Versicherten. Nur so sind die Versicherungsbeiträge überhaupt bezahlbar. In einer Versicherung leisten die Nichtgeschädigten mit den Geschädigten Solidarität, aber nur dann, wenn alle in den Versicherungstopf einzahlen, von dem die Geschädigten profitieren. Meinem Anspruch auf Hilfe korrespondiert meine Pflicht zur Leistung. Dworkin hat in seiner Antwort auf die Kritik Andersons den Sinn der Forderung nach Eigenverantwortung korrigiert. Eine dem Ideal der Ressourcengleichheit verpflichtete Gesellschaft würde ihren Bürgern aus zwei Gründen den Abschluss einer Krankenversicherung vorschreiben: Der erste Grund sei paternalistisch: »a decent society strives to protect people against major mistakes they are very likely to regret, like not fitting and wearing seatbelts, and not providing for emergency medical care.« 71 Dworkin ersetzt also das Ideal der Konsumentenautonomie durch elementare Standards eines menschenwürdigen Lebens, die der Staat für alle Bürger zu garantieren hat, ganz unabhängig von deren subjektiven Überzeugungen. Gesundheit ist ein öffentliches Gut, keine Ware. Diese Wertprämisse vorausgesetzt verlange das principle of correction Verantwortung für die Kosten der eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen: »when someone fails to buy any personal accident insurance, and is therefore unable to afford medical care when needed, costs are borne by the rest of the community, including employers and dependents, that are not internal to his decision.« 72 Eigenverantwortung in diesem Sinne ist ein Gebot der Tauschgerechtigkeit und keines, das aus einem falsch verstanden Prinzip liberaler Wertneutralität folgte. Einen Anspruch auf Solidarität erwerbe ich nur dann, wenn ich durch meinen Versicherungsbeitrag der Solidargemeinschaft beitrete. Das ist die kontraktualistische Prämisse der Versicherungsgerechtigkeit. 73 Eine Versicherung ist eine Form der KooperatiDworkin, »›Sovereign Virtue‹ Revisited«, a. a. O., S. 115. Ebd., S. 114. 73 Hier würde Nussbaum einwenden, dass wir mit diesem Argument all diejenigen von medizinischer Fürsorge ausschlössen, die nicht leistungsfähig seien. Aber diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend. Das Argument gründet auf zwei Prinzipien. Zum einen (1) müssen bestimmte Lebensrisiken sozialisiert werden. Oder mit Nussbaum gesprochen, ist der Mensch ein soziales Wesen, das der sozialen Eingebundenheit bedarf, um in Notlagen nicht unterzugehen. Zum anderen (2) besteht die soziale Pflicht, eben weil bestimmte Risiken sozialisiert werden müssen, sozialen Sicherungssystemen beizutreten, um Solidarität zu leisten. In Fällen, wo dies nicht möglich ist, wird nicht schon das erste Prinzip außer Kraft gesetzt. Man würde gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man auf das zweite Prinzip verzichten, nur um alle Fälle der Unter71 72
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on. Alle leisten einen Beitrag, um eine universelle Gesundheitsfürsorge sicherzustellen, und erhalten als Gegenleistung einen Anspruch auf die »Früchte« der Kooperation im Krankheitsfall. Nun hatten wir aber als notwendigen Grund für Ansprüche auf existentielle Bedarfsgüter das Bedürfnis bezeichnet. Es ist inhuman, wenn Menschen in existentiellen Notlagen die nötige Hilfe verwehrt wird. Wie verhält sich diese Forderung mit dem Tauschprinzip, dass Menschen nur durch Versicherungsbeiträge Ansprüche auf Bedarfsgüter erwerben? Was wird aus den Ansprüchen der Erwerbslosen auf Bedarfsgüter? Die Antwort ist einfach: Erwerbslosigkeit ist eine Notsituation, gegen die sich Menschen versichern müssen. Die Versicherungsverpflichtung ist somit zu ergänzen: Bürger haben nicht nur die Pflicht zur Teilname an einer Krankenversicherung, sondern auch die moralische Verpflichtung zur Arbeit. Denn es ist ein triviales Prinzip der Gerechtigkeit, dass es keine absoluten Rechte auf positive Leistungen gibt, ohne die Bereitschaft der Teilnahme an solidarischer Kooperation, ohne die niemand Bedarfsgüter erhielte. 74 Das kontraktualistische Versicherungsprinzip lässt sich aber weiter präzisieren 75 : Die Höhe des Versicherungsbeitrages ist abhängig von der Leistung im Versicherungsfall. Es verstößt gegen das Prinzip der Tauschgerechtigkeit, wenn einige im Versicherungsfall mehr erhalten, obwohl alle das Gleiche eingezahlt haben. Diese Forderung widerspricht jedoch der hypothetischen Versicherungssituation, die durch drei normative Bedingungen charakterisiert ist: Alle haben das gleiche Risiko, zu erkranken, und jeder hat ungefähr eine stützungsbedürftigkeit zu inkludieren. Dann hätte eben der schwer Behinderte und der Leistungsfähige im Notfall einen unbedingten Hilfsanspruch, was ein Widerspruch wäre, weil sich diesem Rechtsanspruch kein Pflchtträger mehr zuordnen ließe. 74 Der aristotelische Sozialdemokratismus von Martha Nussbaum und der Nonegalitarismus sind an diesem Zusammenhang vollkommen desinteressiert. Das Versicherungsmodell von Dworkin lässt sich als Antwort auf die normativen Defizite des Hobbes’schen und Rawls’schen Kontraktualismus verstehen, der Ansprüche auf Güter von der faktischen Handlungsfähigkeit von Personen abhängig macht. Das Versicherungsmodell findet seine Anwendung gerade in Fällen der Handlungsunfähigkeit, der Fürsorgebedürftigkeit; es verabschiedet den Kontraktualismus aber nicht. Solidarität ist nur möglich, wenn Menschen kooperieren, das ist die Pointe der Versicherung. Das übersieht auch Christine Chwaszcza in ihrer ätzenden Kritik an der Gerechtigkeitstheorie von Dworkin. Sie interpretiert seine Forderung nach Eigenverantwortlichkeit als Ausfluss einer deformation professionelle des Juristen Ronald Dworkin, der das Rawls’sche Kooperationsparadigma verabschiedet habe: Chwaszcza, a. a. O., S. 190 f. 75 Vgl. Abschnitt 6.4 dieser Arbeit.
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Vorstellung, wie hoch das Risiko ist, und alle haben die gleiche Möglichkeit, eine Versicherung abzuschließen. 76 Insbesondere die kontrafaktische Bedingung der Gleichverteilung aller Krankheits- und Behinderungsrisiken widerspricht dem Tauschprinzip. Personen, die mit einer Behinderung zur Welt gekommen sind oder eine genetische Disposition einer kostenintensiven Erkrankung haben, werden mehr Leistungen in Anspruch nehmen. Ist es dann nicht gerecht, wenn die Betroffenen auch höhere Beiträge leisten als Menschen, die keine Behinderung haben und ein wesentlich geringeres Risiko einer Erkrankung aufweisen? Eine Krankenversicherung ist keine Unfallversicherung. 77 Es ist Dworkins Überzeugung, dass es ungerecht ist, Menschen mit angeborenen Behinderungen oder einer genetischen Disposition für bestimmte Krankheiten für ihr Schicksal zu bestrafen. Das Glück der eigenen Gesundheit kann sich niemand als Verdienst anrechnen. Genau hier greift der Chancengleichheitsgedanke: Die Kosten der medizinischen Fürsorge sind gleichmäßig zu verteilen, und zwar auf den Schultern der Gesunden und Kranken gleichermaßen. Das Modell der ursprünglichen Krankenversicherung stellt diesen Gleichheitsgedanken dar: In einer Situation der Unwissenheit über die eigene physische Konstitution hätten sich alle gegen das Risiko von Krankheit oder Behinderung versichert. Weil alle davon ausgehen müssen, dass die Risiken gleich verteilt sind, gibt es keinen Grund, die Versicherungsbeiträge anders als gleich zu verteilen. Chancengleichheit der Versicherung meint also die Solidarität der Gesunden mit den Kranken. Wie übersetzen wir nun das Gedankenexperiment in die Wirklichkeit, in eine durch Einkommensungleichheit gekennzeichnete Situation? Es ist klar, dass ein von allen zu zahlender Beitrag in der Höhe von X der Forderung nach einer Gleichverteilung der Lasten widerspricht. Aus dieser Forderung folgt ein proportional gleich zu verteilender Versicherungsbeitrag, z. B. in der Höhe von X % des Einkommens oder Y % des Vermögens. Der Versicherungsbeitrag muss die unterschiedliche Belastbarkeit der Bürger berücksichtigen, wenn alle gleich behandelt werden sollen. Durch die Abkoppelung der Versicherungsleistungen von den Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 77. Das bedeutet, dass die normativen Prinzipien einer Versicherung von der besonderen Art der Risiken und also der zu schützenden Güter abhängen.
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zu zahlenden Versicherungsbeiträgen ergibt sich jedoch ein moralisches Problem. Weil alle proportional gleiche Beiträge zahlen, aber ungleiche Leistungen in Anspruch nehmen können, entsteht für die Versicherten der Anreiz zum Moral-hazard-Verhalten. Es gibt keinen zwingenden Grund, mittelfristig bei der Inanspruchnahme von Leistungen die Kosten, die der Krankenversicherung entstehen, zu berücksichtigen. Damit steigen aber durch Verschwendung, d. h. Inanspruchnahme überflüssiger Leistungen, die Kosten; die Versicherungsbeiträge müssen erhöht werden, Gesundheit wird ein teureres Gut. Dworkin stellt sich im achten Kapitel von »Sovereign Virtue« diesem Anwendungsproblem seines Krankenversicherungsmodells. Gesundheit ist ein Grundgut. Aber es ist ein Grundgut neben anderen. Das Problem einer universellen Gesundheitsfürsorge besteht in den Kosten, die hierfür aufzuwenden sind. In dem Maße, in dem durch eine High-Tech-Medizin die Diagnose- und Behandlungsmethoden und somit die Heilungschancen verbessert werden können, steigen die Kosten des Werts der Gesundheit. Das hat ein Gerechtigkeitsproblem zur Folge. Wie soll medizinische Fürsorge unparteiisch allein nach Bedürfnis verteilt werden. »We cannot avoid the question of justice: what is ›appropriate‹ medical care depends on what it would be unfair to withhold on the grounds that it costs to much.« 78 Welche Einbußen an anderen wichtigen Grundgütern wie z. B. Bildung, Sicherheit, Kultur und Wohlstand ist eine Gesellschaft bereit hinzunehmen, um eine universelle und anspruchsvolle medizinische Fürsorge zu garantieren? Die Gesellschaft könnte nach dem »Rettungsprinzip« handeln. Damit bezeichnet Dworkin ein zweiteiliges Gerechtigkeitsprinzip. Der erste Teil besagt, dass Gesundheit das wichtigste aller Grundgüter ist. Der Verlust der Gesundheit kann durch kein anderes Gut aufgewogen werden. Der zweite Teil fordert die Verteilung medizinischer Fürsorge nach Bedürfnis und nicht aufgrund von Einkommen und Vermögen, »no one must be denied the medical care he needs just because he is too poor to afford it.« 79 Das Rettungsprinzip beantworte aber die Frage der Gerechtigkeit nicht. Wenn wir uns diesem noblen und humanistischen Prinzip anvertrauten, dann müssten wir für den Wert der Gesundheit genau so viel ausgeben, dass jeder weitere Euro keinen 78 79
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Das Versicherungsmodell II: Krankenversicherung
Zugewinn an Gesundheit oder Lebensverlängerung mehr bedeutete. Keine psychisch gesunde Person würde ihr Leben nach der Logik des Rettungsprinzips führen; ebenso wenig könne es für eine Gesellschaft ein vernünftiges Gerechtigkeitsprinzip sein. Das Rettungsprinzip scheitere an dem nicht näher qualifizierten Verteilungskriterium des Bedürfnisses. Welche Bedürfnisse können einen Anspruch auf eine universelle Gesundheitsfürsorge begründen und welche nicht? »Does someone ›need‹ an operation that might save his life but is highly unlikely to do so? Is someone’s need for life-saving treatment affected by the quality his life would have if the treatment were successful? Does the age of the patient matter – does someone need or deserve treatment less at seventy than at a younger age? Why? How should we balance the need of many people for relief from pain or incapacity against the need of fewer people for life-saving care?« 80
Dem Rettungsprinzip stellt Dworkin sein rationales Versicherungsideal (»prudent insurance« ideal) gegenüber. Ein modifiziertes Gedankenexperiment einer ursprünglichen Krankenversicherung soll das Ideal einer gerechten Verteilung medizinischer Fürsorge konstruieren. Drei Bedingungen beschreiben die Entscheidungssituation: (1) die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist gerecht, d. h. alle können eine Versicherung nach Wunsch kaufen. (2) Alle Versicherten besitzen sämtliche Informationen »that might be called state-of-the-art knowledge about the value and cost and side effects of particular medical procedures – everything, in other words, that good doctors know«. 81 (3) Das Krankheitsrisiko ist gleichmäßig verteilt. Nach dem rationalen Versicherungsideal bewerten wir das Gesundheitssystem einer Gesellschaft danach, als ob es das Ergebnis individueller Entscheidungen auf einem Versicherungsmarkt wäre, der den drei genannten Fairnessbedingungen genügt. Das Versicherungsmodell simuliert eine dezentrale Verteilung medizinischer Fürsorge, die gerecht ist, weil sie das Ergebnis der selbstbestimmten Güterabwägung der Individuen ist. 82 Die rationale Kaufentscheidung der Individuen ist durch die Vermeidung zweier Übel charakterisiert: Das Übel der Nichtbehandlung bestimmter Krankheiten muss gegen Ebd., S. 310. Ebd., S. 312. 82 Vgl. Walter Pfannkuche, »Dürfen Arme früher sterben?«, in: ders., Wer verdient schon, was er verdient?, a. a. O., S. 104–136; insbes. S. 119. 80 81
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das Übel zu hoher Versicherungsbeiträge abgewogen werden. Die Person muss also bei der Kaufentscheidung, welche Leistungen die Versicherung beinhalten soll, deren Kosten berücksichtigen. Das folgt aus dem Prinzip, dass die Kosten gleichmäßig auf den Schultern der Versicherten verteilt werden müssen. Der Kauf einer allumfassenden Versicherung, die mir jede Form der Behandlung in allen erdenklichen Krankheitsfällen garantiert, wäre irrational. Es bliebe zu wenig Geld für andere Güter übrig. Aber welche Leistungen soll die Versicherung nicht enthalten? Dworkin fordert uns auf, uns in die Situation einer »durchschnittlichen« 25-Jährigen zu versetzen, die im Gedankenexperiment eine rationale Versicherungsentscheidung trifft. Es sei nicht rational, lebensverlängernde Maßnahmen in die Versicherung aufzunehmen, die die Qualität des verlängerten Lebens nicht berücksichtigen. Die Versicherung macht nur Sinn, wenn sie der Betroffenen im Versicherungsfall noch ein Minimum an Lebensqualität garantiert. Eine Versicherung, die die Kosten lebensverlängernder Maßnahmen auch im Spätstadium von Alzheimer oder anderen Formen irreversibler Demenz abdeckt, sei eine klare Form der Güterverschwendung.83 Kontroverser ist hingegen die Frage, ob der Wert lebensverlängernder Maßnahmen vom Alter des Patienten und von der verlängerten Lebenszeit abhängt. 84 Dworkin macht darauf aufmerksam, dass ein Großteil der Kosten im Gesundheitswesen der Industriestaaten für die Behandlung in den letzten sechs Lebensmonaten der Patienten ausgegeben werden. In den USA seien das ein Viertel der Ausgaben der Krankenversicherungen.85 Ist es rational für einen jungen Menschen, Versicherungsbeiträge für lebensverlängernde Maßnahmen im hohen Alter zu zahlen? Rechtfertigen ein paar Monate oder ein halbes Jahr verlängertes Leben die Einbuße an Wohlstand in der Lebenszeit vorher? Dworkin räumt ein, dass manchen Menschen diese Restzeit kostbar ist. »But prudent people would nevertheless not want to guarantee those additional months at the cost of sacrifices in their earlier, vigorous life, although, once again, they would certainly want insurance to provide the much less expensive care that would keep them as comfortable and as free of pain as possible.« 86 Für den 83 84 85 86
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Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 313 f. Vgl. Kap. 9 dieser Arbeit. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 313 f. Ebd., S. 314.
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durchschnittlichen Versicherten sei es rational, eine Krankenversicherung abzuschließen, die eine medizinische Grundversorgung garantiert. Leistungen hingegen, die der durchschnittlichen KostenNutzen-Analyse nicht mehr zugänglich seien, sollten über eine Zusatzversicherung bezahlt werden. Dazu zählt Dworkin auch Behandlungen, deren Kosten in einem Missverhältnis zu den Heilungschancen stünden. Es sei irrational, eine Versicherung zu kaufen, die lebensrettende Maßnahmen bei weniger als 25 % Heilungschancen vorsieht. So sei es beispielsweise für die »meisten« Eltern besser, das Geld für eine Versicherung, die lebensrettende Behandlungen von Säuglingen mit einer 25 % unterbietenden Heilungschance einschließt, zu sparen. Das eingesparte Geld könnte sinnvoller in die Gesundheit und Ausbildung der anderen Kinder investiert werden. 87 »The prudent insurance principle balances the anticipated value of medical treatment against other goods and risks: it supposes that people might think they lead better lives overall when they invest less in doubtful medicine and more in making life successful or enjoyable, or in protecting themselves against other risks, including economic ones, that might also blight their lives.« 88
Auf den Prüfstand des rationalen Versicherungsideals gehören Dworkin zufolge ebenso Fragen der gerechten Verteilung knapper Ressourcen wie z. B. Organtransplantationen. »In Britain, for example, doctors in the national health system have been forced to allocate scarce resources like renal dialysis machines and organs for transplant, and they have worked out informal guidelines that take into account a potential recipient’s age, general health, life quality, and prospects, as well as prospects for adequate care by family or friends. Though this supposed cost-benefit test is different from the prudent insurance test, the decisions doctors have made under the former presumably reflect their judgments, guided by experience, about the relative value of different kinds of treatment at different ages and in different circumstances, and these are also judgements that a prudent insurer would be required to make.« 89
Das sind Fragen medizinischer Ethik: Sollte die Verteilung von Spenderorganen den »relativen Wert« von Organtransplantationen bei unterschiedlichem Alter und unterschiedlichem Gesundheitszustand des Patienten berücksichtigen? Ist es womöglich dringlicher, einem 87 88 89
Ebd., S. 316. Ebd., S. 316 f. Ebd., S. 317 f. A
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30-Jährigen die Leber zu transplantieren als einem 70-Jährigen? Ist das Leben eines 30-Jährigen wertvoller? Oder sollten Organtransplantationen nach Wartelisten durchgeführt werden, weil der Wert jedes einzelnen Menschenlebens absolut ist und nicht aufgewogen werden darf? Dworkin will diese Fragen in sein Versicherungsmodell integrieren: Ist das Leben eines X-Jährigen es wert, dass Organtransplantationen in die Basisleistung der Versicherung aufgenommen werden sollen, die ein »decent minimum of medical care« garantiert? 90 Solche Fragen werden an die Selbstbestimmung der Versicherten delegiert. Die Menschen sollen für sich selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder bei Heilungschancen unter 25 % retten wollen oder ob sie auch als 70-Jährige lebensrettende Behandlungen um jeden Preis in Anspruch nehmen möchten. Aber diese Entscheidungen haben ihren Preis! Weil der objektive, für alle gültige Wert der genannten Behandlungsarten in Zweifel steht, müssen für solche Leistungen Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Wie übersetzen wir das Ideal rationaler Versicherung in die Realität, also in eine Situation, die durch ökonomische Ungleichheit und die medizinische Laienhaftigkeit der Versicherten gekennzeichnet ist? Was wird aus der Autonomie der Versicherten? Zunächst ergibt sich die Forderung nach einer »anständigen« medizinischen Grundversorgung für alle Bürger, weil im Gedankenexperiment alle eine solche Versicherung abgeschlossen hätten. Alle Bürger haben das Recht auf und die Pflicht der Teilnahme an einer Grundversicherung. Die darüber hinausgehenden Behandlungsarten werden ausgegliedert und einem privaten Krankenversicherungsmarkt überlassen. Wer sein Kind auch bei einer Chance unter 25 % retten will, aber das Geld für die entsprechende Zusatzversicherung nicht bezahlen kann, hat Pech gehabt, genauso wie der Rentner, der die Versicherung für die neue Leber nicht finanzieren kann. Das Ergebnis wäre also eine Zwei-Klassen-Medizin, in der Arme früher sterben müssen. 91 Beinahe überflüssig zu sagen, dass das Ergebnis mit den Grundideen der Theorie der Ressourcengleichheit nicht zu vereinbaren ist. Die freiwilligen Entscheidungen der Bürger werden nicht gleichermaßen berücksichtigt, Entscheidungen wohlgemerkt, in denen es für die Betroffenen um Leben und Tod geht. Es gibt daher nur zwei Möglichkeiten, dem rationalen Versiche90 91
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Ebd., S. 318. Vgl. Pfannkuche, »Dürfen Arme früher sterben?«, a. a. O.
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rungsideal gerecht zu werden. Die erstbeste Möglichkeit bestünde darin, so denkt Walter Pfannkuche Dworkins Vorschlag weiter, die Einkommens- und Vermögensverteilung radikal anzugleichen, damit alle Bürger die gleiche Chance besitzen, eine Krankenversicherung nach Wahl abzuschließen. Weil dieses Ziel einen gewissen utopischen Charakter besitzt, bleibt als zweitbeste Möglichkeit, die optimale Gesundheitsversorgung zu universalisieren. So ist niemand gezwungen, sich mit der anständigen Basisversorgung abzufinden. Pfannkuche sieht in der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung den eigentlichen Grund für die Ungerechtigkeit der ZweiKlassen-Medizin. 92 Die zweitbeste Lösung ist aber ein Plädoyer für das Rettungsprinzip, das für alle Bürger (prozentual am Einkommen) hohe und höchste Gesundheitsausgaben vorsähe. Das Ideal der rationalen Versicherung wäre dann allerdings überflüssig geworden; diejenigen, die sich mit einer geringeren medizinischen Fürsorge zufrieden geben, wären nun gezwungen mehr auszugeben. Welcher Zwang ist der ungerechtere? Wenn wir die Autonomie der Versicherten als den intrinsischen Wert schützen wollen, müssen wir also die erste Lösung anvisieren. Die ist aber Ausdruck der Überzeugung, dass die Verteilung medizinischer Fürsorge keine eigenständige Sphäre der Gerechtigkeit konstituiere. Eine ungerechte Verteilung medizinischer Fürsorge ist nur ein Nebenprodukt der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Gleiches Einkommen und Vermögen bedeutet gleiche Chancen auf dem Krankenversicherungsmarkt. Diese Schlussfolgerung setzt aber die zweite kontrafaktische Prämisse des Gedankenexperiments voraus: die medizinische Kompetenz der Versicherten. Eine autonome Entscheidung ist nur die wohlinformierte. Nur wenn die Person die ganze Tragweite ihrer Entscheidung versteht, lässt sich sagen, dass sie rational entschieden habe. Die zweite Bedingung des Gedankenexperiments muss jedoch kontrafaktisch bleiben. Dworkin vergisst, dass Ärzte über die angemessene Behandlung im Krankheitsfall entscheiden müssen. Das rationale Versicherungsideal hätte in der Wirklichkeit zur Folge, dass Ärzte gezwungen wären lebensrettende Maßnahmen zu unterlassen, weil Patienten aus der medizinischen Inkompetenz heraus die falschen Versicherungsentscheidungen getroffen hätten. 93 Es gibt daher keine Möglichkeit, Dworkins 92 93
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rationales Versicherungsmodell in die Wirklichkeit zu übersetzen, weder in der ersten noch in der zweitbesten Variante. Dworkin versucht sein Krankenversicherungsmodell der Realität dadurch anzunähern, dass er die rationale, und das meint die allgemeingütige, Versicherungsentscheidung statistisch zu ermitteln sucht. Was sind die durchschnittlichen Versicherungskäufe auf den Versicherungsmärkten? Der Grundgedanke ist ungefähr der folgende: Weil die Konsumentenautonomie ein wichtiger Wert der Theorie der Ressourcengleichheit ist, müssen wir auch die Konsumenten fragen, welche Kaufentscheidungen sie treffen. Dworkin unterstellt, dass sich in der mehrheitlichen Kaufentscheidung für eine bestimmte Versicherung deren Rationalität ausdrücke. Die Versicherung, die der »Durchschnittsamerikaner« wählt, ist dann diejenige Versicherung, auf die alle Amerikaner Anspruch haben. 94 Das ist ein sehr schlechtes, weil die Differenz zwischen dem Normativen und dem Faktischen einebnendes Argument. Wenn der durchschnittliche Deutsche 100 Liter Bier im Jahr trinkt, folgt dann, dass alle Deutschen Anspruch auf 100 Liter Bier im Jahr haben? Anderson wendet zu Recht gegen Dworkin ein, dass den Marktentscheidungen von Menschen Geschmacksurteile zugrunde liegen, die die Gesellschaft als Kollektiv nicht verpflichten, für die universelle Versorgung aller Bürger mit einem auf dem Markt nachgefragten Gut zu sorgen. »Doch selbst wenn sich jeder gegen ein bestimmtes Risiko versichern würde – damit beispielsweise die Kosten für die Operation kleinerer Schönheitsfehler abgedeckt wären –, so könnte diese Tatsache kaum zu einer Verpflichtung der Gesellschaft führen, dafür zu zahlen.« 95 Das heißt, dass die Orientierung am tatsächlichen Versicherungsverhalten der Bürger auf dem Markt gerade diejenige Unterscheidung rückgängig zu machen droht, die Dworkin doch durch sein Versicherungsmodell treffen wollte: diejenige zwischen notwendigen, allen zu garantierenden medizinischen Leistungen und Behandlungsarten, die privat zu zahlen sind. 96 Auch hier gilt: Will Dworkin den Einwand Andersons parieren, muss er diese Unterscheidung nach medizinischen DringlichkeitskriDworkin, »›Sovereign Virtue‹ Revisited«, a. a. O., S. 111. Anderson, a. a. O., S. 145 f. 96 Dworkins Forderung einer statistischen Ermittlung der »richtigen« Versicherungsentscheidung widerspricht natürlich seinem rationalen Versicherungsmodell: Der faktische Versicherungsmarkt erfüllt keine der drei normativen Bedingungen des Gedankenexperiments. 94 95
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terien treffen. Der Umfang der universellen medizinischen Grundversorgung muss sich an Dringlichkeitskriterien orientieren, die eine humane Medizin beschreiben. Es darf nicht übersehen werden, dass der Angriff auf das Rettungsprinzip wesentlich einer empirischen Prämisse geschuldet ist: Die Forderung nach einem verantwortlichen Umgang mit medizinischen Leistungen wird auf das Moral-hazardVerhalten der Versicherten zurückgeführt. Da dies das hauptsächliche Übel ist, das das kluge Versicherungsideal bekämpfen soll, redet Dworkin einer gefährlichen Ökonomisierung des Gesundheitswesens das Wort. Neben den Wert der Rettung und Erhaltung des menschlichen Lebens tritt als konkurrierender Wert der Preis und damit die Tendenz, menschlichem Leben um der Kostenersparnis willen eine unterschiedliche Wertigkeit nach Alter, Gesundheitsund Geisteszustand zu verleihen. Dworkins rationales Versicherungsideal erinnert, wenn auch unter weitaus stärker egalitären Vorzeichen, an die Tendenz in der aktuellen Gesundheitspolitik, medizinische Leistungen durch Zuzahlungen teilweise oder ganz zu privatisieren. Die Idee ist auch hier, dass die steigenden Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen bei gleichzeitig niedrigen Einnahmen wesentlich auf das Moral-hazardVerhalten der Versicherten zurückzuführen sei. Dahinter steht die Vorstellung, schreiben Ulrich Laaser und Jens Holst in ihrer Studie über private Zuzahlungen im Gesundheitssystem, »die Patienten missbrauchten das Gesundheitswesen und frönten unnötigen und teuren medizinischen Behandlungen allein auf Grund der Tatsache, dass sie kostenlos sind.« 97 Die Kosten bestimmter medizinischer Leistungen, vor allem bei Medikamenten, werden nicht mehr von der Versicherung gedeckt, sondern müssen von den Patienten selbst privat finanziert werden. Der Gedanke ist, die Patienten so zur Eigenverantwortlichkeit zu zwingen. Die aus der Versicherungsleistung ausgegliederten Behandlungsarten werden nur noch aus dem dringenden Bedürfnis heraus in Anspruch genommen. Wer den Preis zahlt, dem ist es ernst mit der Notwendigkeit der Behandlung. Die Praxis der Zuzahlung aber zerstört das Versicherungsprinzip, das auf der Solidarität der Gesunden mit den Kranken basiert, und benachteiligt zudem die ärmeren Bevölkerungsschichten. Besonders betroffen sind Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zuzahlungen, so Laaser und Holst, wirken am stärksten und nachhal97
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tigsten auf Medikamente zur Behandlung von Herzkreislauferkrankungen und Bluthochdruck sowie Psychotherapeutika, also auf Medikamente, »die Patienten in aller Regel langfristig einnehmen müssen«. 98 Die Folge ist, dass notwendige Maßnahmen vor allem von den ärmeren Erkrankten nicht in Anspruch genommen werden, was nicht nur zu einer Verschlimmerung der Leiden der Betroffenen führt, sondern auch einen negativen Nutzeffekt durch die gesteigerte Inanspruchnahme der entsprechenden akuten Versorgungseinrichtungen hat. 99 Das Beispiel ist insofern anschaulich, als eine sozial diskriminierende Gesundheitspolitik nicht einfach mit dem Argument gerechtfertigt wird, die Benachteiligten hätten keinen Anspruch auf medizinische Fürsorge. Vielmehr wird das Prinzip der Zuzahlung als Form der Bestrafung für unsolidarisches Verhalten, für Trittbrettfahrerei von Seiten der Versicherten, verstanden. Auch hier erscheint der Patient als Konsument, der teure Behandlungen in Anspruch nimmt, nur weil jemand dafür bezahlt. Vergessen wird, dass die Entscheidungen über kostspielige Behandlungen die Ärzte treffen, und zwar nach Kriterien medizinischer Dringlichkeit. 100 Tatsächlich wird aber mit der Forderung nach Eigenverantwortlichkeit die Entsolidarisierung mit den Erkrankten, insbesondere den Schlechterverdienenden gerechtfertigt. Mit der Aufkündigung des Versicherungsprinzips steht die Gerechtigkeit des Gesundheitssystems auf dem Spiel: »Denn die Fairness eines Gesundheitssystems steigt mit der Unabhängigkeit der Beitrags- oder Gebührenerhebung vom Krankheitseintritt bzw. von der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.« 101 Die Teilprivatisierung wichtiger medizinischer Leistungen bricht das Solidarprinzip der Versicherung auf, was einer Bestrafung für Krankheit gleichkommt, von der diskriminierenden Benachteiligung der weniger gut Verdienenden ganz zu schweigen. Es bedeutet einen plumpen Missbrauch des Begriffs der Eigenverantwortung, diese Benachteiligungen als das Ergebnis freiwilliger Entscheidungen der Betroffenen zu rechtfertigen. Die Forderung nach einem verantwortungsbewussten Umgang mit medizinischen Leistungen ist gewiss ein Gebot der Gerechtigkeit. Dass bestimmte Leistungen aus der solidarisch finanzierten mediziEbd. Ebd. 100 Ebd. 101 Ebd. 98 99
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nischen Grundversorgung ausgenommen werden sollten, folgt daraus: Behandlungen, denen gemessen an medizinischen Standards keine physische oder psychische Erkrankung vorausgeht, wie z. B. Schönheitschirurgie. Dworkin vergisst aber in sein rationales Versicherungsmodell einen Gedanken zu integrieren, den er in »The Place of Liberty«, dem dritten Kapitel von »Sovereign Virtue«, 102 skizziert. Eine Versicherung ist eine Form der Kooperation, der gemeinschaftlichen Vorsorge gegen Situationen der Not und Hilfsbedürftigkeit. Nur wenn alle ihren Beitrag leisten, funktioniert das Versicherungsprinzip, also die Garantie der medizinischen Fürsorge im Behandlungsfall bei regelmäßigen relativ geringen Einzahlungen. Wechselseitigkeit meint also zunächst das Tauschprinzip der Leistung gegen Gegenleistung. Nur wer einzahlt, hat einen Anspruch auf Solidarität. Der Kooperationsgedanke ist aber noch in einer anderen Weise zu fassen. Dworkin zufolge ist es gerechtfertigt die Freiheit des Erwerbs einer privaten Krankenversicherung zu beschränken, wenn dadurch eine universelle Gesundheitsfürsorge gesichert werden kann. 103 Damit präzisiert er die Pflicht zur Beteiligung an einer Krankenversicherung: Ziel ist die Versorgung aller Bürger mit elementaren Bedarfsgütern wie der Gesundheitsfürsorge. Deren Verteilung muss sich an Bedürfniskriterien orientieren, nicht an der Kaufkraft der Bürger. Es gibt also einen guten Grund, aus diesem humanistischen Prinzip sozialer Gerechtigkeit die Forderung nach einer universellen Krankenversicherung abzuleiten, die in den Kreis der Versicherten alle Bürger mit einschließt und gegebenenfalls die Versicherungsbeiträge von den Einkommen auf Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte erweitert. Durch die Inklusion (proportional gleiche Beiträge) besonders leistungsstarker Versicherter erweitert sich der Kreis der Solidargemeinschaft und somit die Beitragsgrundlage. Wenn die volkswirtschaftliche Annahme berechtigt ist, dass so der prozentual von allen zu entrichtende Beitragssatz gesenkt werden kann und gleichzeitig eine universelle medizinische Fürsorge garantiert wird, die dem Prinzip der Solidarität der Gesunden mit den Kranken gerecht wird, dann ist diese Form der Bürgerversicherung ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, genauer: ein Gebot der Kooperation, der Beteiligung an einer Solidargemeinschaft, die allen Bürgern die Teilnahme an einem humanen Gesundheitssystem 102 103
Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., Kap. 3. Ebd., S. 171. A
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ermöglicht. 104 Dieses begründet sich aus der in Kapitel 3 dieser Arbeit skizzierten Idee der Statusgleichheit der Bürger: Dem Anspruch auf bestimmte soziale Dienstleistungen und Güter korrespondiert die Pflicht zur sozialen Verantwortung. Die Person darf ihren Anspruch auf ein bestimmtes Gut nicht in einer Weise verwirklichen oder einfordern, die die Ansprüche anderer Personen oder deren Verfügung über Güter in moralisch relevanter Weise beeinträchtigt. 105
7.3 Das Versicherungsmodell III: Arbeitslosenversicherung Eines der dringlichsten Ziele sozialer Gerechtigkeit ist die Bekämpfung von Armut. Armut ist zum einen der Mangel an elementaren Bedarfsgütern wie Nahrung, Obdach und medizinischer Grundversorgung. Zum anderen meint Armut aber auch den Verlust der basalen Selbstständigkeit: der Unfähigkeit, selbst für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Beides verstößt gegen die Idee der Menschenwürde; Armut ist demütigend, ihre Beseitigung eine humanistische Forderung. 106 Eine Hauptursache von Armut ist Erwerbslosigkeit. Insofern lässt sich sagen, dass das Schlimme an der Arbeitslosigkeit nicht ist, dass man keine Arbeit, sondern, dass man kein Einkommen hat und die Güter des alltäglichen Bedarfs nicht fi-
104 Vgl. Karl Lauterbach, »Den Wohlfahrtsstaat stärken. Warum eine Bürgerversicherung die Probleme in unserem Gesundheitssystem lösen kann«, in: Frankfurter Rundschau vom 04. 01. 2005. 105 Der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach moniert, dass die Möglichkeit der Privaten Krankenversicherung für Einkommensstarke das Solidarsystem der Gesetzlichen Krankenversicherung belaste. Die Gesundheitskosten für Einkommensschwache und Rentner müssen durch den Risikostrukturausgleich der Gutverdiener mitfinanziert werden, ohne den Geringverdiener nie in der Lage wären, »Beitragssätze zu bezahlen, die ihre Gesundheitskosten auch nur zur Hälfte abdecken«. Nur weil sich die Privatversicherten diesem Solidarbeitrag entziehen, könne die Private Krankenversicherung ihre Beiträge so attraktiv gestalten, was wiederum die Beiträge der Gesetzlichen Krankenversicherung erhöhe und damit den Anreiz der dort versicherten Gutverdiener, das Solidarsystem zu verlassen. »Die private Krankenversicherung ist daher ein System, welches Jahr für Jahr mit 9,7 Miliarden Euro von den Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung subventioniert wird. Das ist nämlich der Betrag, den die privat Versicherten in das Solidarsystem zahlen müssten, würden sie sich wie die gesetzlichen Kassen beteiligen«: Karl Lauterbach, Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, Berlin 2007, S. 89 f. 106 Vgl. die Abschnitte 10.4 und 10.5 dieser Arbeit.
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nanzieren kann. 107 Wenn die arbeitslose Person weder Arbeit findet noch staatliche Unterstützung erhält, steht die Existenz auf dem Spiel; dann bleibt als Ausweg nur noch die Bettelei oder die Suche nach Verwertbarem auf der Müllkippe. Es ist daher ein humanistisches Gebot sozialer Gerechtigkeit, Menschen vor dieser Erniedrigung zu bewahren und ihnen staatliche Unterstützung zu gewähren. Niemand soll unter elenden Umständen existieren. 108 Man muss dieses humanistische Ideal aber nicht bestreiten, um die Forderung nach Arbeitslosenhilfe zurückzuweisen. Dworkin unterscheidet zwei »konservative« Einwände gegen Arbeitslosenunterstützung. 109 Beide Einwände greifen auf ein Verdienstprinzip zurück. Das erste Argument besagt, dass ein Anspruch auf Einkommen nur durch eigenes Handeln erworben werden kann. Einkommen und Wohlstand sind die Belohnung für die Tugend der Tüchtigkeit auf dem freien Markt. Jede Form der steuerlichen Umverteilung, erst recht der Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Arbeitslosen, ist daher eine Nichtanerkennung von Verdienst, der Tugend der Erfolgreichen. Arbeitslosenunterstützung ist ungerecht. 110 Das Argument gründet auf der Prämisse, dass Arbeitslosigkeit immer das Ergebnis einer freiwilligen Handlungsunterlassung des Betroffenen ist. Arbeitslosigkeit ist auf schuldhaftes Versagen zurückzuführen. Jeder bekommt das, was er verdient. Das ist freilich eine willkürliche Behauptung (s. o.). Das zweite libertäre Argument gegen Arbeitslosenunterstützung besteht aus zwei Teilen: (a) Es ist ungerecht, wenn arbeitende Bürger den nicht arbeitenden Teil der Bevölkerung finanziell unterstützen. Arbeitslosenunterstützung ist eine Form der Ausbeutung. Zum zweiten (b) erniedrigt die Arbeitslosenunterstützung die Hilfsempfänger. Das Angewiesensein auf die staatliche Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts führt in die Abhängigkeit und Unselbstständigkeit und ist menschenunwürdig. Es ist daher tough love, die Menschen zur Arbeit zu zwingen, indem man ihnen im Fall der Arbeitslosigkeit die Hilfe verweigert. 111 Die beiden Einwände führen
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Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 285. Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 132. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 325 ff. Ebd., S. 325. Ebd., S. 327 f. A
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also gegen das Bedürfnisprinzip den Verdienstgedanken ins Feld: Die Person ist selbst für ihren Lebensunterhalt verantwortlich. Dem muss sich eine humane Gerechtigkeitstheorie stellen. Sie muss die Idee der Eigenverantwortung ernst nehmen und aufzeigen, wie die Forderung nach Armenfürsorge und Arbeitslosenunterstützung die Selbstverantwortung der Person berücksichtigt. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Eine »ethisch sensible« Gerechtigkeitstheorie knüpft an unser Selbstverständnis als verantwortlich Handelnde an. 112 Für das Gelingen unseres Lebens stehen wir in der nicht delegierbaren Verantwortung. Prinzipien sozialer Gerechtigkeit müssen daher unterscheiden zwischen sozialen Ungleichheiten, die der Person zuzuschreiben sind, und solchen, die durch die unverfügbaren Lebensumstände der Person verursacht sind. Nur die Letzteren sind notwendige Bedingungen für Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat. Eine »ethisch unsensible« Gerechtigkeitstheorie hingegen entwirft Kriterien einer gerechten Verteilung, »that are special to politics and that do not reflect the distinctions and assignments of responsibility we make in leading our lives from the inside.« 113 Ein Beispiel für eine ethisch unsensible Gerechtigkeitstheorie bietet der Konsequentialismus. Das Verfahren der Verteilung sozialer Güter oder Dienstleistungen wird nach seinen Ergebnissen beurteilt, der Optimierung des Gemeinwohls oder der Optimierung der ökonomischen Situation der am wenigsten Begünstigten. Rawls’ Differenzprinzip, um es zu wiederholen, ist eine Art der Verbindung beider Positionen. Das Verteilungsverfahren wird nach einem Nutzenkriterium beurteilt, weil eine Unterscheidung zwischen verantworteten und nichtverantworteten Ungleichheiten im Kontext der Einkommens- und Vermögensungleichheiten moralisch willkürliche, weil diskriminierende Standards voraussetzen müsse. Das besagt das Argument der Unverdientheit natürlicher Begabung. Mit dem Differenzprinzip, angewandt auf die soziale Gruppe der Arbeitslosen, hat der Libertäre ein leichtes Spiel. Das Differenzprinzip verlangt, dass die Verteilung von Grundgütern das Wohl der am meisten Benachteiligten optimieren muss, ganz unabhängig von der Frage, was die einzelnen Menschen selbst zu ihrer Situation beigetragen haben oder was sie tun werden, um ihre Situation zu verbessern. Daraus folgt, dass das Differenzprinzip normativ blind gegenüber 112 113
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Ebd., S. 323. Ebd., S. 323 f.
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dem Missbrauch staatlicher Fürsorge ist. Dagegen könnte Rawls einwenden, dass nur eine solche Form der Arbeitslosenunterstützung das Wohl der Betroffenen maximiere, die gleichzeitig Anreize bietet, zumutbare Arbeit zu suchen und anzunehmen. Um diesen Einwand zu rechtfertigen, muss der Nutzen unterschiedlicher Formen der Arbeitslosenunterstützung aus der Perspektive der Arbeitslosen verrechnet werden. Wieso ist aber in jedem Fall eine Form der Arbeitslosenunterstützung vorzuziehen, die nur die Personen unterstützt, die Arbeit suchen? Warum ist eine unbedingte staatliche Unterstützung weniger nützlich, wenn wir z. B. Freizeit als ein Gut betrachten? Wie auch immer die Antwort ausfallen mag, diese Nutzenkalkulation ist mit unseren Gerechtigkeitsüberzeugungen nicht vereinbar: »It seems unfair wholly to ignore the impact of a welfare scheme on people who are not in the worst-off group, however that is defined, but who nevertheless must struggle to secure a decent living for their families, and who unsurprisingly feel resentment when part of their hard-won wage is taken in taxes and paid over to those who do not work at all.« 114
Eine egalitaristische Gerechtigkeitstheorie verlangt nach Prinzipien, welche die Statusgleichheit der Bürger berücksichtigen. Das Differenzprinzip berücksichtigt nicht die Kosten, die denen entstehen, die seine Forderung zu erfüllen haben. Es kann daher kein geeignetes Gerechtigkeitsprinzip sein, wenn wir der Überzeugung sind, dass die Person primär für ihren Lebensunterhalt verantwortlich ist. Auch hier ist also die Frage moralisch relevant, welches Bedürfnis der Bürger Unterstützung verdient. Das Versicherungsmodell beschreibt hingegen ein unparteiisches Verfahren der Arbeitslosenunterstützung, das sowohl die Interessen der Arbeitslosen als auch die Interessen der Bürger, die Unterstützung leisten, gleichermaßen berücksichtigt. Die finanzielle Unterstützung von arbeitslosen Bürgern ist gerechtfertigt, weil sich in einer ursprünglichen Situation der Gleichheit alle Bürger in einer bestimmten Höhe gegen dieses Risiko versichert hätten. Zwei normative Bedingungen kennzeichnen die ursprüngliche Versicherungssituation: »Everyone is offered the opportunity to buy insurance providing a stipulated income if unemployed«, und »everyone assumes that each person, including himself, is equally likely to lose his
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job.« 115 Welche Versicherungspolice würde die an ihrer Nutzenoptimierung interessierte Person im Gedankenexperiment wählen? Mit der zweiten normativen Bedingung eliminiert Dworkin zwar das libertäre Verdienstprinzip, wonach Arbeitslosigkeit von den Betroffenen selbst verschuldet sei. Aber zwischen den moralischen Prinzipien einer Kranken- und einer Arbeitslosenversicherung bestehen bedeutsame Unterschiede. Zum einen hängt die Wahrscheinlichkeit des Übels der Arbeitslosigkeit teilweise von Faktoren ab wie der Ausbildung oder der Klassenzugehörigkeit. Arbeitslosigkeit ist daher oftmals auch das Ergebnis sozialer Ungerechtigkeit, z. B. wenn die Bildungschancen durch ungleichen gesellschaftlichen Reichtum oder gesellschaftliche Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen verzerrt werden. Sie ist nicht einfach als das Ergebnis blinden Zufalls zu bewerten. 116 Das Versicherungsmodell ist somit nicht isoliert zu betrachten. Auch dann, wenn die Verteilung von Einkommen und Vermögen allen die entsprechenden Versicherungsmöglichkeiten gewährt, kann sie ungerecht sein, und zwar genau dann, wenn Arbeitslosigkeit die Folge von Chancenungleichheit im Bildungssystem ist. Zum anderen ist die Person aber auch selbst dafür verantwortlich, welche Chancen sie auf dem Arbeitsmarkt ergreift. Arbeitslosenunterstützung kann keine legitime Option sein, als eine Lebensentscheidung zugunsten von Freizeit gegen Arbeit. Eine solche Entscheidung delegiert die Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt einseitig an die Gesellschaft und beutet den arbeitenden Teil der Bevölkerung aus. Im Kontext der Arbeitslosenversicherung gilt das Prinzip, dass die Versicherungsbeiträge die Höhe der Leistungen im Versicherungsfall berücksichtigen müssen. Deren Höhe hängt ja nicht ausschließlich von Bedürfniskriterien wie im Kontext der Krankenversicherung ab. Je höher die allgemeinen Leistungen, desto mehr muss in den Versicherungstopf gezahlt werden. Die Person muss daher im Gedankenexperiment zwei Übel vermeiden: das Übel einer un- bzw. zu niedrig versicherten Katastrophe und das Übel zu hoher Versicherungsbeiträge, wenn der Versicherungsfall nicht eintritt. Im Wesentlichen gilt für den Kauf einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit die gleiche Versicherungsrationalität wie im Modell
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Das Versicherungsmodell III: Arbeitslosenversicherung
der Unterbezahlungsversicherung.117 Anders als in Rawls’ Modell des Urzustandes muss die Person in der ursprünglichen Versicherungssituation zwei Perspektiven einnehmen: die Perspektive des Einzahlers und die Perspektive des Leistungsempfängers. »We want to avoid two evils: a welfare program so porous that it allows extensive abuse and one so stringent that it denies welfare to many people who need and deserve it.« 118 Dworkins sehr detaillierte Argumentation für eine gerechte, also beide Perspektiven berücksichtigende Arbeitslosenversicherung ist stark vereinfacht die folgende. Die Versicherung bietet mehrere Versicherungsleistungen an, die unterschiedliche Modi der Arbeitslosenunterstützung beschreiben: die »grausame« Arbeitslosenunterstützung, die die Unterstützung auf einen kurzen Zeitraum beschränkt, die »generöse« Unterstützung, die keine zeitliche Begrenzung vorsieht, und schließlich eine Form der Arbeitslosenunterstützung, die wie die zweite keine zeitliche Begrenzung kennt, aber die Arbeitslosen zu allen Weiterbildungsmaßnahmen und ernster Arbeitssuche verpflichtet. Welche Versicherung ist die beste Option? Die erste Versicherungspolice ist zwar am billigsten, aber zu riskant. Die zweite bietet zwar die großzügigste Unterstützung, ist aber zu teuer. Die dritte dagegen minimiert beide Übel. Das dritte Modell bietet zwar gegenüber dem zweiten nicht die großzügigste Absicherung, hat aber gleichzeitig wesentlich geringere Versicherungsprämien, weil es faire, nicht grausame Anreize zur Kooperation schafft und so die Möglichkeiten zur Trittbrettfahrerei minimiert. Es zwingt die in Not Geratenen in fairer Weise dazu, Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt zu übernehmen, und zwar als Forderung der Reziprozität. Nach dem Versicherungsmodell korrespondiert dem Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung die Pflicht zur Arbeit, wenn es der Person möglich ist.
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Vgl. Abschnitt 6.4 dieser Arbeit. Dworkin, Sovereign Virtue, a. a. O., S. 321. A
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Dworkins Konzept einer Versicherungsgerechtigkeit darf nicht als eine umfassende, d. h. die Vereilung aller sozialen Güter und Dienstleistungen regelnde, Theorie sozialer Gerechtigkeit verstanden werden. Das hatten wir im Kontext der Einkommensgerechtigkeit moniert. Hier gelangen andere Gerechtigkeitsprinzipien zur Anwendung. Die Forderung nach fairen Löhnen ist ein Gebot der Tauschgerechtigkeit, und nicht der Solidarität mit den in Not Geratenen. Das Versicherungsprinzip in diesem Kontext anzuwenden, heißt, die Unternehmer aus der Pflicht zu entlassen, im Mindesten anständige Löhne zu zahlen. Dworkin führt hier ein merkwürdiges Plädoyer für die Umverteilung von Lohnkosten. Die Differenz zwischen dem vom Arbeitgeber gezahlten Hungerlohn und dem anständigen Mindestlohn zahlt die Versicherungsgemeinschaft, die damit die Kostenexternalisierung des Arbeitgebers subventioniert. 1 Das kann nicht gerecht sein. Das Versicherungsmodell findet seine Anwendung nur dort, wo der Versicherungsfall nicht als Ergebnis einer Ungerechtigkeit zu beurteilen ist, also im Kontext von Notfällen wie Krankheit, Naturkatastrophen, Unfällen etc. Eine Versicherung soll gegen gravierende Lebensrisiken schützen, nicht gegen Ungerechtigkeiten. Müssen wir den Einwand nicht gegen das Modell einer gerechten Arbeitslosenversicherung wiederholen? Wir hatten den Versicherungsfall über den instrumentellen Wert von Arbeit bestimmt. Arbeit ist ein Mittel zum Erwerb des Lebensunterhalts. Nach dem Versicherungsmodell ist die Gesellschaft gerecht, wenn jeder ein Mindesteinkommen erhält, gerade auch in der Situation der Erwerbslosigkeit. Das Versicherungsprinzip der reziproken Solidarität begründet eine Pflicht zur Arbeit, aber kein Recht auf eine solche, Vollends unsinnig wäre natürlich ein Versicherungssystem, in dem die Arbeitgeber einen Teil der Bruttolöhne in die Mindestlohnversicherung zahlen müssten. Den Anteil kann man umweglos an die Arbeitnehmer auszahlen.
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weil der Verlust von Arbeit kein intrinsisches Übel darstellt. Wenn wir aber der Arbeit einen Wert an sich zuschreiben, dann beseitigt das Versicherungsmodell nicht das eigentliche Übel. Wenn wir darüber hinaus der Auffassung sind, dass es ein Recht auf Arbeit gebe, dann ist das Versicherungsmodell kein normatives Gerechtigkeitsprinzip. Auch in diesem Fall wäre der Versicherungsfall als das Ergebnis einer Ungerechtigkeit zu beurteilen, gravierender noch: als eine Rechtsverletzung. Arbeitslosenhilfe würde wie im Fall der Niedriglohnversicherung ein Unrecht bzw. eine Ungerechtigkeit subventionieren. Die normative Gültigkeit der Arbeitslosenversicherung hängt also von der Frage ab, ob es ein Recht auf Arbeit gibt. Diese Frage wiederum setzt eine Klärung voraus, was für ein Gut Arbeit ist. In ihrem Buch Arbeit und Liebe begründet Angelika Krebs ein Recht auf Arbeit wie folgt: (1) Die humanistische Auffassung vom Wert des menschlichen Lebens besagt, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können. Dazu zählen: »Nahrung, Schutz vor den Unbilden der Witterung, Abhilfe bei starken Schmerzen, Sicherheit von Leib und Leben, emotionale Nahbeziehungen, private wie politische Autonomie, Individualität, aber auch soziale Anerkennung als ›einer von uns‹.« 2 Soziale Zugehörigkeit ist eine elementare Bedingung der Selbstachtung. Wer als ein Mitglied zweiter Klasse behandelt wird oder wer ganz ausgeschlossen wird, dem wird ein menschenwürdiges Leben vorenthalten, selbst wenn er über genügend andere Bedarfsgüter verfügt. (2) Es ist Aufgabe eines gerechten Staates, dass seine Institutionen allen ihnen unterworfenen Menschen den Zugang zu den Bedingungen einer menschenwürdigen Existenz »effektiv garantieren«. 3 (3) Wenn die soziale Zugehörigkeit eine notwendige Bedingung für ein menschenwürdiges Leben ist, (4) und wenn soziale Zugehörigkeit wesentlich über die Teilnahme an Arbeit »und die monetäre Anerkennung, die sie genießt«, vermittelt ist, (5) dann ist »ein Recht auf Arbeit moralisch gefordert.« 4 2 3 4
Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 200. Ebd. Ebd., S. 201. A
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Unter einem Recht auf Arbeit versteht Krebs die »Forderung eines einklagbaren Individualrechts« 5 , allerdings als kulturspezifisches Recht: »Der Verweis auf die faktische, an Arbeit geknüpfte Anerkennungsstruktur unserer Gesellschaft« begründe es. 6 Aber was heißt das, dass Menschen durch ihre Arbeit soziale Anerkennung finden? Und wie finden Bürger durch ihr eingeklagtes Recht auf Arbeit Anerkennung? Die Schlüssigkeit dieser anerkennungstheoretischen Begründung hängt, wie Hans-Christoph Schmidt am Busch in seiner Kritik philosophischer Begründungen eines Rechts auf Arbeit deutlich macht, von den Antworten auf beide Fragen ab. Er stellt mit Hegel zwei Elemente der Anerkennungsstruktur der modernen Arbeitsgesellschaft heraus: »zum einen die Anerkennung des Einzelnen als selbständiges Subjekt, zum anderen die Anerkennung des Einzelnen als gesellschaftlich nützliches Subjekt.« 7 Selbständigkeit als Grund für die Anerkennung der gesellschaftlichen Zugehörigkeit erlangt der Einzelne, »indem er auf Grund eigener Anstrengung und Leistung seine Zugehörigkeit zum System der gesellschaftlichen Arbeit, mithin seinen Lebensunterhalt, sichert und sich so in der Gesellschaft, der er angehört, behauptet.« 8 Als gesellschaftlich nützlicher Bürger erweist er sich, »indem er sich an der privatwirtschaftlichen oder staatlichen Produktion von Gütern beteiligt, die für Andere einen Gebrauchswert haben.« 9 Wenn also das Übel des Verlustes von Arbeit darin besteht, die soziale Anerkennung, die Grundlage der Selbstachtung ist, zu verlieren, dann besteht der Sinn eines Rechts auf Arbeit in der Wiedererlangung dieser Anerkennung. Vorausgesetzt die Anerkennungsstruktur moderner Gesellschaften ist mit den Einwänden Hegels richtig beschrieben, müssen wir nun fragen, ob die Person durch ihr Recht auf Arbeit den Status der Selbständigkeit und Nützlichkeit erwirbt. Das verneint Schmidt am Busch. Durch das Recht auf Arbeit »wäre die Möglichkeit der Teilnahme am System der gesellschaftlichen Arbeit für den Einzelnen immer schon sichergestellt.« 10 Der Erwerb eines Arbeitsplatzes wäre durch die Institution eines Rechts verliehen, d. h. vom Ebd., S. 196. Ebd., S. 206. 7 Hans-Christoph Schmidt am Busch, »Gibt es ein Recht auf Arbeit?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/2003, S. 949–968; Zitat: S. 958. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 5 6
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Staat garantiert und gerade nicht das Ergebnis selbständigen Handelns, der Behauptung des Einzelnen im Konkurrenzkampf des Arbeitsmarktes. Folglich könnte die durch das Recht eingeklagte Arbeit »kein Ausweis von Selbständigkeit im bürgerlichen Sinne« 11 und damit auch kein Gegenstand sozialer Anerkennung sein. Schmidt am Buschs durch Hegel inspiriertes Argument greift ganz offensichtlich auf das libertäre Verdienstkriterium zurück: Arbeit verdient, wer im Konkurrenzkampf des Arbeitsmarktes erfolgreich ist. Wer scheitert und seine Arbeit verliert, verliert seine bürgerliche Ehre und damit den Grund sozialer Anerkennung. Aber dieser Mythos des frühen 19. Jahrhunderts hypostasiert die Handlungsmächtigkeit der Akteure auf dem Arbeitsmarkt und vergisst die Macht der Unternehmer, Angestellte zu entlassen. Es gibt keinen zwingenden Grund einen solchen Mythos zum Bestandteil eines normativen Arguments zu machen. Denn um ein solches handelt es sich: Der Einwand lautet ja, dass ein Recht auf Arbeit keine normative Gültigkeit beanspruchen könne. Schmidt am Busch unterscheidet nicht zwischen (a) der Selbständigkeit durch Arbeit, also der Fähigkeit, durch Erwerbstätigkeit für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können, und (b) der Selbständigkeit durch den Erwerb eines Arbeitsplatzes allein aus eigener Anstrengung. Ich kann also im Sinne von (a) selbständig sein, weil ich meinen Lebensunterhalt verdiene, aber unselbständig im Sinne von (b), weil mir der Staat meinen Arbeitsplatz schützt (durch Zuweisung oder durch Kündigungsschutz beispielsweise). Es gibt somit keinen Grund, mir die Anerkennung als selbständiges Subjekt zu verweigern, wenn ich im Sinne von (a) »durch eigene Tätigkeit und Arbeit bestehen« kann. Damit haben wir die Klärung der Frage, was für ein Gut Arbeit ist und was es ist, was die Arbeit zu einem Gegenstand sozialer Anerkennung macht, einen wichtigen Schritt vorangetrieben. Gegen eine ausschließlich instrumentelle Wertschätzung von Arbeit spricht sich Avishai Margalit aus, dem wir hier folgen wollen: »Meine These lautet, dass Menschen ihre Arbeit für wertvoll halten, wenn sie aus eigenen Kräften, ohne von anderen abhängig zu sein, für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Durch Arbeit erlangen die Menschen Autonomie und jene ökonomische Staatsbürgerschaft, durch die sie ihre Menschenwürde wahren können.« 12 11 12
Ebd. Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 287. A
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Margalit unterscheidet zwei Formen der Demütigung, der Verletzung der Menschenwürde: die soziale Exklusion und die intentionale Freiheitsbegrenzung. Unter letzterer versteht er den Verlust der Kontrollfähigkeit des Menschen. 13 Beide Formen der Demütigung hängen zusammen; sie bezeichnen zwei Perspektiven: die Perspektive desjenigen, der demütigt (Exklusion), und die Perspektive desjenigen, der gedemütigt wird (Verlust der Kontrollfähigkeit). In der Fähigkeit der Kontrolle über das eigene Leben sieht Margalit den Grund der menschlichen Würde. Die Autonomie des Subjekts »zeichnet sich dadurch aus, dass wir uns in unseren Handlungen nicht von ›inneren Trieben‹, sondern von rationalen Gründen leiten lassen.« 14 Demütigung besteht darin, »dem Opfer zu zeigen, dass es sein Schicksal nicht mehr in der Hand hat und der Gunst oder vielmehr der Gunst seiner Peiniger wehrlos ausgeliefert ist.« 15 Der demütigende Freiheitsverlust bedeutet den Verlust der Fähigkeit der Menschen, Entscheidungen zu treffen, »die ihre vitalen Interessen betreffen.« 16 Genau diese Fähigkeit ist aber normative Bedingung des Menschseins. »Wenn man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit entsprechenden Gesten deutlich macht, dass er die Kontrolle über sich weitgehend verloren hat, kann dies bedeuten, seine Menschlichkeit zu leugnen.« 17 Demütigung besteht also in der Leugnung der Zugehörigkeit des Opfers zur menschlichen Gemeinschaft. Im Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und der Abhängigkeit verliert die Person ihre Selbstachtung. 18 Nach Margalit zeichnet sich eine anständige Gesellschaft dadurch aus, dass ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. Daraus ergibt sich u. a. die Forderung nach einem Wohlfahrtsstaat, der Zuständigkeit des Staates für Sozialleistungen, die verhindern sollen, dass Bürger in Armut leben. Armut versteht Margalit nicht allein als den Mangel an elementaren Bedarfsgütern wie Nahrung, Obdach und Krankenfürsorge. Das ist sie auch. Wenn wir den objektiven Wert dieser Güter, die ein Existenzminimum beschreiben, nicht verstünden, wüssten wir nicht, was Armut ist. Das spezifisch Demütigende an der Armut besteht jedoch im existentiellen Kontrollver13 14 15 16 17 18
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Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd., S. 147. Ebd. Vgl. dazu ausführlich die Abschnitte 10.4 und 10.7 dieser Arbeit.
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lust über die eigenen Belange, dem Angewiesensein auf fremde Hilfe. Die basale Kontrolle über das eigene Leben erwirbt die Person durch Arbeit, das meint die Fähigkeit, die Güter des alltäglichen Bedarfs aus eigener Anstrengung zu erwerben. Eine anständige Gesellschaft muss daher nicht nur Armut bekämpfen, sie muss im Letzten dafür sorgen, dass alle Bürger durch Arbeit ihre Selbständigkeit erlangen. Arbeit ist, das kann man mit Margalit sagen, ein wichtiges Grundgut. Sie ist eine notwendige Bedingung der Selbstachtung, indem sie der Person das Bewusstsein verleiht, dass sie selbst es ist, die für ihren Lebensunterhalt sorgt. Was immer wir im Einzelnen erstreben mögen, ohne Arbeit kann niemand ein zufriedenstellendes Leben führen. 19 Folgt daraus, dass wir einen einklagbaren individuellen Rechtsanspruch auf Arbeit haben? Grundgüter, im Verständnis von Rawls, sind nicht notwendigerweise Gegenstand verfassungsmäßig garantierter Rechte. Die Institutionen einer Gesellschaft können sozial ungerecht sein, weil sie ein bestimmtes Grundgut in einer ungerechten Art und Weise verteilen. Aus diesem normativen Urteil ergibt sich die Forderung an den Gesetzgeber, für eine faire Verteilung des Grundguts zu sorgen. Aber davon sind Grundgüter als Grundrechte zu unterscheiden. Die ungerechte Verteilung von Grundrechten betrifft die Gerechtigkeit der politischen Verfassung einer Gesellschaft in einem weit gravierenderen Maße. Wir können also den Anspruch auf Arbeit als ein Gebot sozialer Gerechtigkeit bezeichnen, weil Arbeit ein Grundgut ist, auf das alle Bürger einen Anspruch haben, ohne die weit stärkere Behauptung aufzustellen, dass es ein einklagbares Recht auf Arbeit gebe. Die Rede von einem Recht auf Arbeit macht nur Sinn, wenn wir erklären können, worin genau die Rechtsverletzung besteht. Gegenüber wem ist es einzuklagen? Der zweite Einwand Schmidt am Buschs gegen ein Recht auf Arbeit als ein Mittel der gesellschaftlichen Inklusion lautet, dass eine durch ein Recht eingeklagte Arbeit keinen gesellschaftlichen Nutzen stifte und daher keine soziale Anerkennung finde. Schmidt am Busch folgt hier einem Einwand Jon Elsters. Dieser erinnert daran, dass Arbeit und die Produkte derselben auf dem Markt nachgefragte Güter sind. Ob eine Person eine Arbeit findet, hängt davon ab, ob es andere gibt, die aus den Produkten der Arbeit einen Nutzen ziehen, der es Vgl. auch Walter Pfannkuche, »Gibt es ein Recht auf Arbeit?«, in: ders., Wer verdient schon, was er verdient?, Stuttgart 2003, S. 63–103.
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ihnen wert ist, dafür zu zahlen. Aber es ist doch unsinnig, die Nachfrage nach Arbeit zu erzwingen. Ein erzwungener Nutzen ist ein hölzernes Eisen. 20 Ein Recht auf Arbeit kann die jeweils nachgefragte und benötigte Arbeit nicht vermehren. Pfannkuche veranschaulicht das an einem Beispiel: »Wenn zu irgendeinem Zeitpunkt weniger Leute ein Haus bauen wollen und deshalb insgesamt 90 000 Bauarbeiter, Zementhersteller und Architekten arbeitslos werden, dann können Sie niemanden zwingen, ein Haus zu bauen, um diese Menschen wieder in Lohn und Brot zu bringen. Und ebenso wenig können Sie eine Firma zwingen, die Leute weiterzubeschäftigen, obwohl es für sie nichts zu tun gibt, weil die Firma dann bald pleite wäre.« 21
Auf diesen Einwand antworten die Befürworter eines Rechts auf Arbeit, dass man im Falle sinkender Nachfrage die jeweils benötigte Arbeit umverteilen könne. Bezogen auf das Beispiel bedeutet das, dass der Bauunternehmer in der Konjunkturkrise vom Staat verpflichtet würde, die Arbeitszeiten aller Beschäftigten zu reduzieren, um niemanden entlassen zu müssen. 22 Gesamtgesellschaftlich hätte eine solche Umverteilung das Absinken der Produktivität und somit eine Einbuße an gesellschaftlichem Wohlstand zur Folge. Wie verhält sich ein Recht auf Arbeit mit konkurrierenden Rechten? Ein Recht auf die Umverteilung von Arbeit bedeutete einen massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit des Arbeitsmarktes. Wenn ich als Arbeitgeber gezwungen werden darf, im Falle sinkender Nachfrage Arbeit umzuverteilen, statt einen Teil der Beschäftigten Jon Elster, »Is There (or Should There Be) a Right to Work?«, in: Democracy and the Welfare State, hrsg. von Amy Gutman, Princeton 1988, S. 53–78. Angelika Krebs antwortet auf diesen Einwand, dass man zum einen Arbeit nicht mit ökonomisch anerkannter Arbeit gleichsetzen müsse. Schließlich bleibe im Bereich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit viel Arbeit ungetan: »Man denke nur an zu große Schulklassen, inhumane Pflegeheime, die mangelnde Integration von Migrantinnen und Migranten« usw. Und wenn das nicht ausreiche, Arbeit ein knappes Gut bleibe, sei »schließlich auch gegen die Reduktion der normalen Arbeitszeit um einige Stunden prinzipiell nichts einzuwenden«: Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 202. Diese nonchalant vorgetragenen Vorschläge stehen in einem bemerkenswerten Gegensatz zur Schärfe der moralischen Forderung: Wenn der Staat nicht genügend Arbeitsplätze schafft, dann verletzt er die Grundrechte der Bürger. Arbeitslosigkeit steht mit der Verletzung von Grundrechten wie der Religionsfreiheit oder politischen Partizipationsrechten auf einer Stufe. Diese Behauptung kann nicht so ohne Weiteres Plausibilität beanspruchen, nicht zuletzt weil sie eine womöglich irreale Handlungsmächtigkeit des Staates voraussetzt. 21 Pfannkuche, »Gibt es ein Recht auf Arbeit?«, a. a. O., S. 71. 22 Ebd. 20
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zu entlassen, werde ich natürlich die Anzahl meiner Beschäftigten so gering wie möglich halten, um meinen Handlungsspielraum zu vergrößern. Das Recht auf Umverteilung würde also aller Wahrscheinlichkeit nach kontraproduktiv auf die Schaffung neuer Arbeitplätze wirken. Der Einwand lautet daher, dass ein Recht auf Arbeit einseitig die Perspektive der abhängig Beschäftigten, nicht aber die Perspektive der Unternehmer und Selbständigen berücksichtige. Ein Recht auf Arbeit bedeutet einen Eingriff in die Rechte der Unternehmer, über ihr Eigentum frei zu verfügen. Impliziert dieses Freiheitsrecht nicht auch das Recht, in Zeiten sinkender Nachfrage Angestellte zu entlassen? 23 Die unternehmerische Freiheit, Arbeiter einzustellen und zu entlassen, bedeutet soziale Macht. Wenn wir unter Arbeit die notwendige Bedingung einer selbständigen Lebensführung verstehen, dann kann die unternehmerische Freiheit, nach Gutdünken Angestellte zu entlassen, nicht absolut verstanden werden. Wenn wir die schwächere Forderung vertreten, dass Arbeit ein Grundgut ist, auf das alle Bürger einen Anspruch haben, dann dürfen Arbeitnehmer keine »Manövriermasse« unternehmerischer Freiheit sein, die nach Belieben, ohne ökonomisches Erfordernis entlassen werden dürfen. Vor dem Hintergrund der Forderung nach der Statusgleichheit der Bürger lässt sich also für eine Einschränkung der unternehmerischen Macht argumentieren, z. B. durch einen gesetzlich vorgeschriebenen Kündigungsschutz und Mitbestimmungsrechten. Die Idee eines freien Marktes ist durch Tauschfreiheit gekennzeichnet, die es beiden Tauschparteien erlaubt, ihren Nutzen zu finden. Aber wie weit dieser Kündigungsschutz reicht, ob er die skizzierte unternehmerische Pflicht zur Umverteilung von Arbeit beinhaltet, soll hier offen bleiben. Die Frage ist, was vom Markt übrig bleibt, wenn die staatlichen Eingriffsbefugnisse derart ausgeweitet werden. Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, derjenigen nach der normativen Einschränkung des Modells einer fairen Arbeitslosenversicherung durch andere Gerechtigkeitsprinzipien. Es ist nun klar, dass der Anspruch auf staatliche Unterstützung im Falle der Arbeitslosigkeit nur im Verbund mit dem Anspruch auf Arbeit Gültigkeit besitzt. Es ist nicht gleichgültig, ob Menschen Arbeit finden oder nicht. Die von Dworkin angemahnte Pflicht zur Arbeit ist also um den An-
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spruch auf Arbeit zu ergänzen. Der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung ist nicht nur hinsichtlich der Arbeitsverpflichtung, sondern auch hinsichtlich des Anspruches auf Arbeit als ein provisorischer zu begreifen.
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Im vorangegangenen Kapitel wurde die Frage nach einem Recht auf Arbeit diskutiert. Arbeit schafft eine basale Unabhängigkeit und ist derart die Bedingung einer menschenwürdigen Existenz. Jeder Bürger hat einen Anspruch auf eine sinnvolle Arbeit, allerdings nicht im Sinne eines verfassungsmäßig garantierten Grundrechts. Wenn aber die Frage nach einer gerechten Verteilung von Arbeit aufgeworfen wird, darf eine Form der Arbeitsteilung nicht unberücksichtigt bleiben, und zwar diejenige zwischen ökonomisch anerkannter Erwerbsarbeit und Familienarbeit. Von einer Arbeitsteilung ist hier zu reden, weil der Teil der Bevölkerung, der sich traditionellerweise der gesellschaftlichen Reproduktion in Form des Großziehens von Kindern widmet, von ökonomisch anerkannter Erwerbsarbeit ausgeschlossen bleibt bzw. nur unter erheblich erschwerten Bedingungen Zugang zu Arbeit hat. Nun könnte man denken, dass diese traditionelle Form der Arbeitsteilung ein Unrecht darstelle, weil Frauen nicht die gleiche Möglichkeit hätten, ihre Unabhängigkeit über Arbeit zu sichern. Dagegen spricht die Auffassung, dass Kindererziehung selbst Arbeit im ökonomischen Sinne sei, der aber die entsprechende monetäre Anerkennung zu Unrecht verweigert werde. Diese These wollen wir hier diskutieren. Dabei bietet uns die Forderung nach Anerkennung von Kinderaufzucht als ökonomischer Arbeit erneut Gelegenheit, über den Begriff der Arbeit zu reflektieren und selbige neben ihrer Eigenschaft als Gegenstand der Selbstverwirklichung (Kap. 2) und als Bedingung basaler Autonomie als ein Tauschverhältnis zu bestimmen. Vor dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmung wird die These, dass das Großziehen von Kindern ökonomische Arbeit sei, zurückgewiesen. Eine arbeitsteilig organisierte Ökonomie, die einem Teil der Bevölkerung einseitig Kindererziehung als eine gesellschaftliche Rolle zuweist, verstößt vielmehr gegen den Chancengleichheitsgedanken. Der verlangt, dass alle Bürger Zugang zum Arbeitsmarkt A
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haben und nimmt derart der Kindererziehung den Charakter der Arbeit. In ihrem Buch Arbeit und Liebe möchte Angelika Krebs den philosophischen Nachweis erbringen, dass das Großziehen von Kindern ökonomische Arbeit sei. 1 Als solche müsse sie auch anerkannt werden. Das Aufziehen von Kindern verlange gerechterweise nach einem Einkommen, nicht nach einem Erziehungsgeld. Der Argumentationsgang für diese These besteht aus zwei Schritten: In einem ersten Schritt wird definiert, was ökonomische Arbeit sei. Mit dieser Begriffsbestimmung soll dann in einem zweiten Schritt nachgewiesen werden, dass das Großziehen von Kindern genau die Tätigkeitsmerkmale aufweise, die den im ersten Schritt definierten Arbeitsbegriff umschreiben. Wenn Kinderaufzucht ökonomische Arbeit darstellt, muss die verweigerte Anerkennung dieser Tätigkeit von Seiten der Gesellschaft in Form einer angemessenen Entlohnung als eine Ausbeutung gewertet werden. Zum ersten Schritt: Was ist ökonomische Arbeit? Krebs analysiert mehrere Kandidaten für eine Begriffsbestimmung ökonomischer Arbeit, die derart offensichtlich ihr Ziel verfehlen, dass wir sie hier nicht zu diskutieren brauchen: Arbeit als zweckrationales Handeln, als Mühe etc. Weiterführend scheint dagegen die Auffassung zu sein, Arbeit als entlohnte Tätigkeit für andere zu begreifen. Krebs zitiert eine prägnante Definition des Soziologen Heiner Ganßmann: Ökonomische Arbeit sei »jede Tätigkeit, die ein anderer durch Zahlung eines Geldbetrages herbeiführt und damit zugleich (als in irgendeinem Sinn für ihn nützlich) anerkennt«. 2 Arbeit wird in dieser Definition als Tausch begriffen: Die Tätigkeit des Arbeitenden wird von einem anderen als Gebrauchswert schaffend anerkannt. Arbeit produziert somit ein Gut, in Form eines Produkts oder einer Dienstleistung. Das Gut ist es dem Nutznießer wert, dafür zu zahlen. Er erkennt derart die Tätigkeit des anderen als Arbeit an. Charakteristisch an dieser Begriffsbestimmung ist der subjektive Wert des Gutes für den Nutznießer. Nur das, was jemand als seinen Interessen und Präferenzen dienlich anerkennt und ihn zu einer Entlohnung ver1 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O. Relevant sind hier insbesondere die ersten beiden Kapitel, die auf einen Aufsatz von Friedrich Kambartel zurückgehen: Friedrich Kambartel, »Arbeit und Praxis«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/1993, S. 239–249. 2 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 27. Die Definition Ganßmanns findet sich in: Heiner Ganßmann, Geld und Arbeit, Frankfurt/M. u. New York 1996, S. 117.
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anlasst, kann als ökonomische Arbeit gelten. Dieser Arbeitsbegriff bleibt aber normativ unterbestimmt: Was als Arbeit gilt, hängt an der faktischen Bereitschaft, für die Tätigkeit eines anderen zu zahlen. Ist also Sklavenarbeit keine Arbeit? Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden, die an folgenden Beispielen erläutert werden sollen: (1) A putzt B die Wohnung. (2) A pflückt Baumwolle auf der Plantage von B. Beides Mal werde A nicht entlohnt, hat also A in beiden Fällen nicht – im ökonomischen Sinne – gearbeitet? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, ob A von B ausgebeutet wird. Arbeit als ein Tauschverhältnis muss offenbar genauer bestimmt werden, die oben genannte Definition ist noch nicht hinreichend. Von Arbeit in einem normativ gehaltvollen Sinn ist nur dann zu reden, wenn beide Parteien freiwillig das Tauschverhältnis eingehen, das als Tausch zum wechselseitigen Nutzen der Parteien stattfindet. Das Interesse des Arbeitenden richtet sich demnach nur in zweiter Linie auf den Nutzen des anderen, sondern primär auf seinen eigenen: die Entlohnung. Daraus folgt nun, dass in beiden Fällen keine Ausbeutung vorliegt, wenn A freiwillig für B arbeitet. In diesem Fall ist also nicht von Arbeit in einem ökonomischen Sinn zu reden. Aber das ist falsch! Wir müssen den Wert der Arbeit näher bestimmen. Der Nutzen, den B in beiden Fällen aus der Tätigkeit von A zieht, ist ein unterschiedlicher. In (1) besteht der Nutzen darin, dass B die mühevolle Tätigkeit nicht selbst verrichten muss und stattdessen irgendetwas anderes tun kann. In (2) aber verkauft B die von A geerntete Baumwolle an eine Textilfabrik und macht so aus der Tätigkeit von B einen ökonomischen Gewinn, an dem A nicht teilhat. Wenn wir Arbeit aber als ein Tauschverhältnis fassen, müssen wir in diesem Fall die Tätigkeit von A – gleichgültig, ob sie freiwillig erfolgt oder nicht – als ökonomische Arbeit bewerten. Aus der Arbeit von A resultiert in (2) ein Tauschwert: von dem ausschließlich B profitiert. In Tauschverhältnissen muss demnach gefragt werden, von wem die Leistungen (auch) erbracht werden. Wer eine Leistung erbringt, hat einen Anspruch auf Gegenleistung verdient. In (2) wird also A auch im Falle der Freiwilligkeit ausgebeutet. 3 Arbeit soll demVielleicht spricht man hier besser in abgemilderter Form von einer Übervorteilung. Gegen die Unterscheidung der beiden Beispiele könnte indes eingewandt werden, dass auch in (1) B ein Gut erhalte, Freizeit nämlich, A hingegen nichts. Aber das ist nicht der Punkt. Der Unterschied zwischen (1) und (2) liegt darin, dass im zweiten Beispiel die
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entsprechend jede Tätigkeit heißen, die ein anderer durch Zahlung eines Geldbetrages herbeiführt und in diesem Sinne als nützlich anerkennt und die der Arbeitende um der Entlohnung willen ausführt. In dieser Definition bleibt offen, wer derjenige ist, der für die Leistungen des Arbeitenden zahlt: der Arbeitgeber oder der Konsument des produzierten Gutes. Damit deckt die Definition alle genannten Fälle ab. Krebs verfolgt hingegen nicht das Ziel einer allgemeinen Begriffsbestimmung der Arbeit. Arbeit soll hier vielmehr als ein ganz bestimmtes Tauschverhältnis gefasst werden. Die Definition von Arbeit als Tätigkeit, die ein anderer durch die Zahlung eines Geldbetrages herbeiführt, sei positivistisch und könne daher auch unserer Intuition nicht gerecht werden, dass, wer arbeite, auch einen Lohn verdiene. Mit einer solchen Auffassung von Arbeit lasse sich nicht kritisch fragen, ob es nicht in einer Gesellschaft »verdeckte« ökonomische Arbeit gebe, die als solche keine Anerkennung finde. 4 Im Anschluss an Friedrich Kambartel 5 begreift sie Arbeit als eine Tätigkeit im Rahmen des gesellschaftlichen Leistungsaustausches. Dieser »institutionelle Arbeitsbegriff« hat damit ein anderes Tauschverhältnis zum Gegenstand als die oben genannten Beispiele. Unter Arbeit versteht Krebs mit Kambartel ausschließlich das Eingelassensein einer Tätigkeit in eine aufgabenteilig organisierte Ökonomie. Fragen der gerechten Anerkennung von Arbeit ergeben sich in Kooperationsverhältnissen: »Es ist die Struktur gegenseitiger Abhängigkeit, der praktischen Angewiesenheit auf den Beitrag der anderen, die Anerkennungsprobleme aufwirft.« 6 Um den Unterschied zu verdeutlichen, sei das folgende einfache Beispiel konstruiert. Betrachten wir ein Dorf. Da gibt es den Bauern, der Weizen, Milch, Fleisch etc. produziert, den Bäcker, den Metzger, die daraus Lebensmittel herstellen, den Gerber, den Schuster etc. Schließlich gibt es noch den Händler, der alle Waren herbeischafft, die von der Dorfgemeinschaft nicht selbst produziert werden können. In dieser Kooperationsgemeinschaft sind die einzelnen Mitglieder keine Selbstversorger und daher wechselseitig auf die Kooperationsvon A erbrachte Leistung in einem weiteren Tauschverhältnis einen Tauschwert erzielt, von dem einseitig B profitiert. 4 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 29. 5 Kambartel, a. a. O. 6 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 38 f.
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beiträge des anderen angewiesen. Grund für die Kooperation sei, dass sie einen höheren Lebensstandard biete, als wenn jeder einzelne nur für sich selbst sorgte. Das wechselseitige Angewiesensein begründet einen Anspruch auf Gegenleistung. Alle, die zum Gelingen der Kooperation beitragen, haben einen Anspruch auf Gegenleistung durch die Kooperationsgemeinschaft verdient. Übertragen wir das Kooperationsmodell vom Dorf unseres Beispiels auf die komplexe, ausdifferenzierte Ökonomie einer modernen Gesellschaft, dann begegnet uns im Arbeitsbegriff von Kambartel und Krebs der Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie von Rawls. Was Kambartel und Krebs »Arbeit« nennen, heißt bei Rawls »soziale Kooperation«. Von Krebs wird diese Übereinstimmung von der Sache her 7 auch eingestanden: Für »das Eingelassensein einer Tätigkeit in die gesellschaftliche Aufgabenteilung« könne man eigentlich den Begriff der Arbeit auch weglassen. 8 Kambartel und Krebs schöpfen also aus den argumentativen Ressourcen der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie, gelangen freilich zu Schlussfolgerungen, die weit über Rawls hinausgehen. Welche Eigenschaften muss nun eine Tätigkeit aufweisen, damit wir sie als einen gesellschaftlichen Kooperationsbeitrag bezeichnen können? Krebs nennt im Wesentlichen zwei Kriterien: Die Tätigkeit muss durch die Gesellschaft zugewiesen sein und aus dem Wegfall dieser Tätigkeit muss ein gesellschaftlicher Substitutionsbedarf resultieren. 9 Damit ist der erste Argumentationsschritt vollzogen. Jetzt muss nur noch gezeigt werden, dass Kinderaufzucht eine solche Tätigkeit ist, die die beiden Kooperationsmerkmale aufweist. Dann ist Kinderaufzucht Arbeit und gehört entlohnt. Kinderaufzucht ist gesellschaftlich zugewiesen. Sie ist nicht einfach so zugewiesen, sie wird einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe aufgebürdet: den Frauen. Nur 2 % der Männer machen Erziehungsurlaub. 10 Ein gesellschaftliches Rollenschema ist bei Krebs also ein notwendiges Kriterium für Arbeit! Rawls wird bei beiden im Zusammenhang des institutionellen Arbeitsbegriffes allerdings nicht genannt. Im Gegenteil: Im Vorwort zu ihrem Buch Arbeit und Liebe behauptet Krebs mit ihrem von Kambartel in modifizierter Form übernommenen Arbeitsbegriff philosophisches Neuland betreten zu haben. Die »Hoffnung«, bei der Begründung der Bewertung von Familienarbeit als ökonomischer Arbeit auf gegenwärtige philosophische Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit zurückgreifen zu können, habe sich als »eitel« erwiesen: Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 12. 8 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 40. 9 Ebd., S. 46. 10 Ebd., S. 55 f. 7
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Für Kinderaufzucht gilt das Substitutionskriterium. Die anderen Gesellschaftsmitglieder sind auf das Großziehen von Kindern angewiesen. 11 Hier muss man genauer fragen: Worin genau besteht die Aufgabenteilung? Wer ist auf das Kinderaufziehen anderer angewiesen? Der Substitutionsbedarf ergibt sich Krebs zufolge daraus, dass in unserer Gesellschaft die bereits lebenden Menschen in ihrem Alter auf das Nachwachsen junger Menschen angewiesen sind. Diese Tatsache sticht durch das umlagefinanzierte Rentensystem der Bundesrepublik besonders in die Augen. In diesem Rentenversicherungssystem werden die Renten nicht aus den früheren Einzahlungen der Rentenbezieher finanziert, sondern aus den gegenwärtigen Auszahlungen der erwerbstätigen Bevölkerung. 12 Daraus entstehe eine doppelte Verpflichtung: Anspruch auf Versicherungsleistung im Rentenalter könne gerechterweise nur stellen, wer sowohl zuvor in die Versicherung eingezahlt als auch für den Nachwuchs gesorgt habe, der ja die gegenwärtigen Auszahlungen zu finanzieren hat. 13 Der gesellschaftliche Substitutionsbedarf der Kinderaufzucht wird hier ganz konkret. In der Bundesrepublik entscheidet sich seit Jahrzehnten ein wachsender Bevölkerungsanteil gegen die Gründung neuer Familien. Folge ist ein demographischer Wandel: Immer weniger junge Menschen stehen einem immer größer werdenden Anteil alter Menschen gegenüber. Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »Polarisierungstendenz zwischen Familien und kinderlos Lebenden«: Es tue sich hier »eine neue gravierende Form sozialer Ungleichheit« auf. 14 Wer keine Elternverantwortung übernehme, werde im Rentenversicherungssystem zu einem Trittbrettfahrer, profitiere also einseitig von Kooperationsleistungen anderer: »Die heute Kinderlosen werden von den Erziehungsleistungen der heutigen Eltern profitieren, und zwar umso mehr, je größer ihre Erwerbschancen im Vergleich zu denjenigen der Personen mit Elternverantwortung sind.« 15 Im deutschen Sozialversicherungssystem herrscht das Leistungsprinzip des Marktes: Die Ebd., S. 59 ff. Ebd., S. 61. 13 Ebd. 14 Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt/M. 1997, S. 80. Dem demographischen Wandel hat Kaufmann inzwischen ein eigenes Buch gewidmet: Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt/M. 2005. 15 Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, a. a. O., S. 82. 11 12
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Einkommenssicherung bemisst sich an den Ergebnissen der primären Einkommensverteilung, »d. h., die monetären Sozialleistungen werden als Lohnersatz verstanden und richten sich hinsichtlich ihrer Höhe nach dem Wert der gezahlten Beiträge, und diese werden in Prozenten des jeweiligen Bruttolohnes berechnet (Äquivalenzprinzip)«. 16 Der Umstand, dass eine Arbeitskraft Elternverantwortung übernommen hat, bleibt dabei nicht nur unberücksichtigt, zählt also nicht als eine Leistungserbringung in das Rentenversicherungssystem. Weil die Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbsarbeit aufgrund des Fehlens erleichternder Strukturen für die Betroffenen ein Problem darstellt, geht die Übernahme von Elternverantwortung »in der Regel mit einem teilweisen oder vollständigen Verzicht eines Ehepartners (zumeist der Frau) auf Erwerbstätigkeit« einher. 17 Das bedeutet, dass Kindererziehung im Rentensystem nicht nur nicht honoriert wird; sie wird sogar »bestraft«, weil der Einkommensverzicht automatisch ein reduziertes Anrecht auf Ersatzeinkommen in der Sozialversicherung zur Folge hat. Kindererziehende sind derart gegenüber Kinderlosen im Versicherungssystem schlechter gestellt: »Indem Eltern die zukünftigen Arbeitskräfte aufziehen, welche die Renten auch der Kinderlosen durch ihre Beiträge werden finanzieren müssen, finanzieren sie über ihren Beitrag zur Humankapitalbildung indirekt die Renten der Kinderlosen mit, die zudem im Durchschnitt vergleichsweise höhere Rentenanwartschaften erwerben können.« 18 Kinder sind ein öffentliches Gut. Dass das Großziehen von Kindern vor diesem Hintergrund auch als eine soziale Kooperationsleistung zu bewerten ist, ist einleuchtend. Der durch den demographischen Wandel ausgelöste faktische Substitutionsbedarf stellt ein ernst zu nehmendes Gerechtigkeitsproblem nicht nur im Kontext der kollektiven Versorgung der älteren Generation dar, sondern auch in der Sphäre der Verteilung medizinischer Fürsorge: Immer mehr alten Menschen, die im sterbeintensiven Alter naturgemäß mehr medizinische Leistungen in Anspruch nehmen müssen, stehen immer weniger aktive, also erwerbstätige, Leistungserbringer gegenüber. Philosophen wie Wolfgang Kersting begegnen dieser doppelten Ungleichgewichtung mit der Forderung nach einer Altersdiskriminierung: Im Fall der Knappheit kostspieli16 17 18
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ger medizinischer Leistungen sei ein jüngerer Mensch gegenüber einem älteren zu bevorzugen. Kersting versteht das als ein utilitaristisches Kriterium. Es gelte medizinische Leistungen so zu verteilen, dass sie den individuellen Nutzen der Patienten maximierten und die längere Lebensaussicht eines jungen Menschen sei eben von größerem Nutzen als die kürzere Lebenserwartung eines älteren. 19 Frappierend an diesem Vorschlag ist nicht nur die Leichtfertigkeit mit der Kersting die Quantifizierung des Werts menschlichen Lebens in großem Stil einfordert, 20 sondern auch die unkritische Hinnahme des Faktums des demographischen Wandels. Auch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten ist auf Nachwuchs angewiesen. Wer in die Krankenversicherung eingezahlt und Elternverantwortung übernommen hat, wird im Alter bei Kersting nicht nur grausam diskriminiert. Ihm wird auch auf grausame Weise sein Kooperationsbeitrag einfach aberkannt. Kinderaufzucht ist also, wie an den Beispielen der Renten- und Krankenversicherung deutlich wurde, eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit. Ist sie deswegen auch Arbeit im ökonomischen Sinn? Besteht die Forderung sozialer Gerechtigkeit somit darin, das Aufziehen von Kindern zu entlohnen, weil es sich hierbei um dieselbe Art Tätigkeit handelte wie z. B. die des Bäckers, des Supermarktangestellten oder der Lehrerin? Diese Gleichsetzung ist aus drei Gründen zurückzuweisen. Zunächst fällt auf, dass die beiden KooperationskriteWolfgang Kersting, »Egalitäre Grundversorgung und Rationierungsethik. Überlegungen zu den Problemen und Prinzipien einer gerechten Gesundheitsversorgung«, in: Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, hrsg. v. Thomas Gutmann und Volker H. Schmitt, Weilerswist 2002, S. 41–89. 20 Ebd., S. 76. Das widerspricht der kantischen Überzeugung, dass der Wert jedes einzelnen Menschenlebens absolut ist und nicht mit dem Wert eines anderen Menschenlebens verrechnet werden darf. Daraus lässt sich aber nicht ohne Weiteres folgern, dass utilitaristische Verteilungskriterien im Kontext der Verteilung von Hilfsgütern unter der Bedingung knapper Ressourcen niemals eine Rolle spielen dürften. Das wird sofort deutlich, wenn die Frage gestellt werden muss, wie viel Geld die Gesellschaft für die Erforschung und Heilung bestimmter Krankheiten ausgeben will. Hier werden vernünftigerweise solche gravierenden und lebensbedrohlichen Krankheiten an erster Stelle rangieren, die eine besonders große Zahl Menschen betreffen. Warum sollte es unmoralisch sein, in die Erforschung einer Krankheit mehr Geld als in eine andere zu investieren, ganz einfach deswegen, weil von dieser Krankheit mehr Menschen betroffen sind. Das ist aber etwas ganz anderes als zu behaupten, dass das Leben eines älteren Menschen weniger wert sei als das eines jüngeren. Kerstings Idee der Altersdiskriminierung gründet also auf einer komparativen Degradierung des Lebenswerts eines älteren Menschen. 19
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rien, die gesellschaftliche Rollenzuweisung und das Substitutionserfordernis, Familienarbeit zum Gegenstand zweier ganz unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien werden lassen. Die Tatsache, dass nur 2 % der Männer in Erziehungsurlaub gehen, zeigt die ungebrochene Geltung einer kulturellen Rollenzuweisung, die Frauen einseitig die Lasten der Kinderaufzucht aufbürdet. Wenn das eine Ungerechtigkeit ist, dann kann man ihr nicht mit einer Forderung nach Entlohnung dieser Rollenzuweisung begegnen, wie Beate Rössler gegen Kambartel und Krebs zu Recht einwendet. Die gesellschaftliche Rollenzuweisung verstoße vielmehr gegen den Chancengleichheitsgedanken und daher sei das Ziel die »Überwindung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung« und nicht die Anerkennung derselben als Arbeit. 21 Rössler fordert vor dem Hintergrund des Chancengleichheitsgedankens ein Modell sozialer Gerechtigkeit, in dem sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Familienarbeit gerecht verteilt werden. »Dieses Modell sieht eine radikale Kürzung der generellen Erwerbsarbeit, ein flächendeckendes, gutes, staatlich finanziertes Betreuungsangebot für die Zeit der elterlichen Erwerbsarbeit und die Verteilung der Erwerbsarbeit auf beide Geschlechter vor. Erst in diesem Modell wird vollständig deutlich, dass man über die Gerechtigkeit der Erwerbsarbeit und ihrer Verteilung nicht sprechen kann, ohne die Familienarbeit zu berücksichtigen: Denn Beteiligung an öffentlicher Erwerbsarbeit ist in gleicher, vergleichbarer Weise nur möglich, wenn auch die private Familienarbeit, gleich, vergleichbar verrichtet wird.« 22
Rösslers Konzeption setzt die Unterscheidung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit voraus, geht es ihr doch primär darum, Frauen die gleichen Karrierewege zu eröffnen wie Männern. Werde Familienarbeit hingegen mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt, ändere das nicht nur nichts an der Chancenungleichheit, sondern verhelfe Männern zusätzlich zu einem Rechtfertigungsgrund für die Rollenzuweisung. Beate Rössler, »Arbeit, Anerkennung, Emanzipation«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/2005, S. 389–413. Rössler ordnet die von Kambartel und Krebs begründete Forderung nach Anerkennung der Familienarbeit als ökonomischer Arbeit der Anerkennungstheorie zu, wie sie prominent von Axel Honneth vertreten wird. Aber diese Zuordnung ist falsch: Honneths Anerkennungstheorie gründet auf einer Idee des guten Lebens; Kambartel und Krebs hingegen gründen ihre Argumentation auf eine bestimmte Konzeption von Tauschgerechtigkeit. Vgl. dazu das Schlusskapitel dieser Arbeit, insbes. Abschnitt 10.3. 22 Rössler, »Arbeit, Anerkennung, Emanzipation«, a. a. O., S. 406. 21
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Damit trägt also nur noch das Substitutionskriterium die ganze Beweislast von Kambartel und Krebs. Bemerkenswerterweise verschweigen beide die Möglichkeit, dem Substitutionsbedarf durch Einwanderung zu begegnen. Kaufmann rechnet vor, dass in den kommenden Jahrzehnten die Bundesrepublik auf eine jährliche Zuwanderung von 700 Tsd. bis 1 Mill. Personen angewiesen sei, um ihren Bevölkerungsstand soweit zu erhalten, dass das Verhältnis zwischen Erwerbspersonen und Rentnern nicht völlig aus dem Gleichgewicht gerate. 23 Entscheidend sei hier freilich die gelingende Integration der Immigranten in den einheimischen Arbeitsmarkt und die Erwartung eines Verbleibens ihrer Kinder in Deutschland: »Nur erwerbstätige Immigranten stärken die schmaler werdende Basis der Beitragszahler und als kaufkräftige Konsumenten die inländische Nachfrage; und nur wenn es gelingt, deren Kinder zu akkulturieren, stellen diese einen Beitrag zur Nachwuchssicherung dar.« 24 Der demographische Wandel als solcher stellt, wie die Beispiele der Renten- und Krankenversicherung deutlich machen, ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem dar, dem durch entgegensteuernde Maßnahmen begegnet werden muss. Das aber bedeutet, dass die auf Dauer gestellte Kooperation zwischen einem großen Bevölkerungsanteil, der keine Elternverantwortung übernimmt und Kinder großziehenden Bürgern die Gesellschaft als Solidargemeinschaft bedroht. 25 Aus dieser Perspektive ließe sich die Entlohnung von Kinderaufzucht also nur als bevölkerungspolitischer Anreiz zur Familiengründung rechtfertigen. Die verweigerte Anerkennung von Familienarbeit wäre dann nicht als intrinsische Ungerechtigkeit zu werten, wenn dem demographischen Wandel mit alternativen Maßnahmen wirksamer entgegengesteuert werden könnte. Kaufmann nennt in diesem Zusammenhang den Ausbau von Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit sowie eine Verbesserung der Wohnungspolitik für junge Familien. 26 Das dritte und entscheidende Argument gegen den von Kambartel und Krebs verfochtenen Arbeitsbegriff ist aber der Preis, der von beiden entrichtet wird, um die Forderung nach Entlohnung von Kinderaufzucht zu rechtfertigen. Kambartel und Krebs begehen eine pe23 24 25 26
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Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, a. a. O., S. 74. Ebd., S. 75. Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, a. a. O. Ebd., S. 81.
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titio principii. 27 Es werden ausschließlich diejenigen Tätigkeiten als Arbeit bewertet, die genau jene Eigenschaften aufweisen, die Kinderaufzucht als einen Beitrag zur gesellschaftlichen Kooperation auszeichnen. So lässt sich dann umstandslos die Gleichwertigkeit von bereits faktisch anerkannter Erwerbsarbeit und Familienarbeit behaupten. Genau wie bei Rawls werden die Tauschbeziehungen der Bürger nur aus der makroökonomischen Perspektive beurteilt. Die konkreten Tauschverhältnisse, die die Bürger auf dem Arbeitsmarkt privat eingehen, sind bei Rawls ebenso wenig Gegenstand der sozialen Gerechtigkeit wie sie bei Kambartel und Krebs unter den Begriff der Arbeit subsumiert werden können. Krebs begreift die privaten Tauschverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt nur insofern als Arbeit, als der Markt eine öffentliche Institution sei: »Jeder hat Zugang zum Markt, und die Aufgabenteilung auf dem Markt umspannt die ganze Gesellschaft. Alle faktisch auf dem Markt bezahlten Tätigkeiten nehmen am gesellschaftlichen Leistungsaustausch teil.« 28 Aus dieser Perspektive zählt z. B. die Tätigkeit einer Supermarktkassiererin nur deshalb als Arbeit, weil sie freien Zugang zum Markt hat und durch ihre Tätigkeit am gesellschaftlichen Leistungsaustausch teilnimmt. Die Beziehung, die die Supermarktangestellte mit ihrem Arbeitgeber vertraglich eingeht, ist nicht Gegenstand dieses ArbeitsDer hier begründete Einwand gegen den Arbeitsbegriff von Kambartel und Krebs unterscheidet sich von demjenigen Beate Rösslers: Sie wendet gegen die Argumentationsstrategie von Kambartel und Krebs ein, dass es prinzipiell zirkulär sei, aus einer moralischen Begriffsbestimmung – hier also der Arbeit – moralische Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn man müsse bereits die im Begriff »versteckten« moralischen Prämissen akzeptieren, um von den moralischen Schlussfolgerungen überzeugt zu werden. Dementsprechend sieht Rössler auch keine Notwendigkeit, sich mit dem von Kambartel und Krebs vertretenen Arbeitsbegriff auseinander zu setzen: Rössler, »Arbeit, Anerkennung, Emanzipation«, a. a. O., S. 391. Rösslers Einwand ist aber unverständlich: Es ist ein Ding der logischen Unmöglichkeit aus rein deskriptiven Prämissen moralische Forderungen zu folgern. Was spricht dagegen, ein Verständnis von Arbeit zu entwickeln, das einen dezidiert moralischen Gehalt hat? Der in diesem Kapitel definierte Arbeitsbegriff verbindet ein deskriptives und ein präskriptives Element. Dass eine bestimmte Tätigkeit das Merkmal eines Tauschverhältnisses aufweist, ist eine Tatsachenbehauptung, die als solche richtig oder falsch sein kann. Dass aber in einem Tausch alle beteiligten Parteien einen gleichwertigen Anspruch auf Gegenleistung besitzen, ist selbstverständlich ein moralisches Prinzip, das ebenso selbstverständlich in Zweifel gezogen werden kann. Wer es aber anzweifelt, vertritt eine antiegalitaristische Moralauffassung, und das heißt ein positives Verständnis von einseitiger Macht und Unterdrückung. Warum sollte so jemand daran interessiert sein, anderen gegenüber Handlungsprinzipien zu rechtfertigen? Hier endet jede Argumentation. 28 Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 48. 27
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begriffes! Fragen nach der Gerechtigkeit dieses Arbeitsverhältnisses – also Fragen nach den Arbeitsbedingungen, der Entlohnung, der sozialen Absicherung und nach Mitbestimmung – lassen sich vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Arbeit mit sozialer Kooperation nicht stellen. 29 Sie machen keinen Sinn. Diese Auffassung von Arbeit ist reduktionistisch; sie reduziert Arbeit willkürlich auf eine bestimmte Tätigkeitssorte. Um es polemisch zuzuspitzen: Hier wird behauptet, dass Arbeit Kinderaufzucht sei und nicht umgekehrt, dass Kindererziehung Arbeit darstelle. 30 Darauf könnte Krebs erwidern, dass bspw. auch die Tätigkeit von Polizisten und Lehrern als Arbeit anerkannt werde, obwohl es sich hierbei nicht um Tauschbeziehungen auf dem freien Markt handele, das Vorhandensein dieser Tätigkeiten also nicht von der faktischen Zahlungsbereitschaft anderer abhänge. Arbeit im öffentlichen Sektor ist vielmehr als soziale Kooperation zu begreifen, deren Wegfall Substitutionsbedarf auslöst, und ist damit gesellschaftlich notwendige Arbeit. Wenn aber niemand auf die Idee kommt, Lehrern und Polizisten das Gehalt zu verweigern, aus welchem Grund kann dann dem Teil der Bevölkerung, der sich ganz der Kindererziehung widmet, der geschuldete Lohn vorenthalten werden? Ist also nicht der Begriff von Arbeit als einem privaten Tauschverhältnis reduktionistisch, weil er gesellschaftliche Tätigkeiten, die öffentliche Güter produzieren (wie z. B. Bildung und Sicherheit) und also von der Gesellschaft finanziert werden müssen, definitorisch ausklammert? In Krebs’ Buch herrscht eine tief gehende Unklarheit, was die philosophischen Grundlagen ihrer Auffassung sozialer Gerechtigkeit betrifft: Im gerechtigkeitstheoretischen dritten Kapitel ihres Buches Arbeit und Liebe, also nachdem sie für die Anerkennung von Kinderaufzucht als Familienarbeit argumentiert hat, entwickelt sie im Anschluss an Frankfurt, Raz und Parfit eine nonegalitaristische und das heißt nonkomparative Auffassung von Gerechtigkeit. Wenn aber ein Gerechtigkeitsurteil, wie der Nonegalitarismus willkürlich behauptet, gerade nicht darin besteht, die Gerechtigkeitsansprüche von Personen miteinander zu vergleichen, dann macht es auch keinen Sinn, die zentrale These dieses Buches mit einer Konzeption von Tauschgerechtigkeit als fairer sozialer Kooperation zu begründen. Das passt nicht zusammen. Eine nonkomparative Tauschgerechtigkeit ist ein hölzernes Eisen. Der Nonegalitarismus wird abschließend im Schlusskapitel dieser Arbeit zurückgewiesen. 30 Das wird besonders deutlich am Kriterium der gesellschaftlichen Rollenzuweisung, das als ein notwendiges Merkmal ökonomischer Arbeit begriffen wird. Wenn wir das akzeptieren, lässt sich nur noch von Kinder großziehenden Müttern sagen, dass sie im ökonomischen Sinne arbeiten. Sich ganz um die Kinderaufzucht kümmernde Väter arbeiten nach diesem Verständnis nicht, gerade weil sie das kulturelle Rollenverständnis konterkarieren! 29
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Diesem Einwand ist Rechnung zu tragen. Die Herstellung öffentlicher Güter wie Sicherheit oder Bildung ist ein gesellschaftlicher Kooperationsbeitrag und ist entsprechend als Arbeit zu entlohnen. Es kann keinen vernünftigen Grund geben, Beiträgen zur sozialen Kooperation den Status der Arbeit abzuerkennen, wenn Arbeit abstrakt als ein Tauschverhältnis begriffen und eben nicht auf eine ganz bestimmte Tauschbeziehung reduziert wird. Genau das leistet die oben genannte Definition. Hier bleibt offen, ob die Nachfrage nach Arbeit privater oder gesellschaftlicher Natur ist. Folgt aber aus diesem abstrakten – wohlgemerkt normativen – Verständnis von Arbeit nicht zwingend die Forderung nach Entlohnung von Kinderaufzucht als einem notwendigen sozialen Kooperationsbeitrag? Das ist zu verneinen. Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der uneingeschränkte Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern herrsche. Durch umfangreiche, vom Staat finanzierte Betreuungsangebote (Kindergärten, Ganztagsschulen) sei die Erwerbsarbeit auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilt, niemand kümmere sich ausschließlich um die Erziehung der eigenen Kinder. Zusätzlich sei diese Gesellschaft dadurch charakterisiert, dass alle Bürger Familien gründeten. Auch in dieser Gesellschaft sind Kinder, wie in jeder anderen Gesellschaft auch, ein öffentliches Gut. Aber in diesem Beispiel stellt die Familienarbeit eine gemeinsame Praxis dar, und keine soziale Kooperationsleistung: Alle sorgen gemeinsam für den gesellschaftlich notwendigen Nachwuchs, und nicht aufgabenteilig. 31 Niemand profitiert einseitig von der Familienarbeit anderer und ist so auch nicht zu einer monetären Gegenleistung verpflichtet. Die »Herstellung« eines öffentlichen Gutes ist also nur dann als Arbeit zu bewerten, wenn sie aufgabenteilig erfolgt. Im Fall des Beispiels gäbe es keinen gerechtfertigten Grund, für die Kinderaufzucht von der Gesellschaft einen Lohn zu verlangen. Natürlich wäre auch in einer solchen Gesellschaft die Entscheidung legitim, sich ganz der Kinderaufzucht zu widmen, wenn der Partner oder die Partnerin erwerbstätig bleibt. Aber insofern das nun allein das Resultat einer individuellen Entscheidung und nicht einer gesellschaftlichen Rollenzuweisung bleibt, hätte die betreffende Person keinen triftigen Grund, von den anderen Gesellschaftsmitgliedern ein Erziehungsgehalt in mindes-
Zur Unterscheidung zwischen gemeinsamer Praxis und Kooperation siehe Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 42 ff.
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tens Existenz sichernder Höhe zu fordern. 32 Es ist nicht so ohne Weiteres klar, mit welchem Recht die betreffende Person von Kinder erziehenden und erwerbstätigen Gesellschaftsmitgliedern eine Subventionierung der eigenen Entscheidung gegen eine Erwerbsarbeit verlangen könnte. Das wird in dem Maße deutlich, indem das Einkommen des erwerbstätigen Elternteils steigt. Nähern wir jetzt das Beispiel ein Stück weit der bundesrepublikanischen Realität an. Es gelte immer noch die Chancengleichheit, aber ein großer Teil der Bevölkerung entscheide sich gegen die Gründung einer Familie. Während im ersten Fall die Kinderaufzucht keinerlei Kooperation mehr darstellt, ist sie das in diesem Beispiel zu einem Teil: Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist aufgehoben; sie besteht aber weiterhin zwischen Kinder großziehenden Bürgern und solchen, die das nicht tun. Ist also in dieser Hinsicht das Großziehen von Kindern als Arbeit anzuerkennen? Aber das entscheidende Gerechtigkeitsproblem, das sich angesichts dieser faktischen sozialen Kooperation stellt, ist die beschriebene Gefahr für die sozialen Sicherungssysteme, die eine Generationen übergreifende Solidarität beanspruchen. Dieses Problem lässt sich nicht dadurch lösen, dass man Vätern und Müttern ein Erziehungsgehalt bezahlt. Wenn diese sozialpolitische Maßnahme nicht als ein Anreiz zur Familiengründung wirkt, fehlen die für das Erziehungsgehalt nötigen Geldmittel zusätzlich den sozialen Sicherungssystemen. Ziel muss es daher sein, den Kooperationscharakter der Kinderaufzucht abzumildern. In der realen Welt, in der weder völlige Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt herrscht noch ausreichend für den gesellschaftlichen Nachwuchs gesorgt wird, scheint die Chancengleichheit vor dem Hintergrund der Individualisierung der Lebenspläne ein probateres Mittel gegen den demographischen Wandel zu sein als ein Erziehungsgehalt. 33 Die Notwendigkeit eines ökoEs ist hier wohlgemerkt von einem Erziehungsgehalt, nicht vom Erziehungsgeld oder Elterngeld die Rede. Die Minimalbedingung der gerechten Entlohnung einer Vollzeitarbeit ist die Entlohnung in Existenz sichernder Höhe. 33 Das ist ein konsequentialistisches Argument für die Chancengleichheit. Die Entscheidung für ein Kind ist nur in zweiter, dritter oder vierter Hinsicht als ein sozialer Koopertionsbeitrag zu werten. Die Entscheidung, ein Kind in die Welt zu setzen, ist etwas grundsätzlich anderes, als einen Sozialversicherungsbeitrag zu zahlen. Eine solche Entscheidung sollte vernünftigerweise in einer durch Liebe getragenen zwischengeschlechtlichen Beziehung getroffen werden und sollte vom Wunsch geleitet sein, dem Kind Fürsorge und Liebe zuteil werden zu lassen. Dementsprechend verbietet es sich auch umstandslos die Entscheidung gegen ein Kind als soziale Trittbrettfahrerei 32
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nomisch klugen Einwanderungsgesetzes wurde oben in diesem Zusammenhang bereits erwähnt. Aus all dem folgt, dass es keinen triftigen Grund gibt, Kindererziehung den vollgültigen Status ökonomischer Arbeit zuzusprechen. 34 Das Verdienst von Kambartel und Krebs liegt aber darin, die Gerechtigkeitsrelevanz der Familienarbeit für die philosophische Debatte über ein angemessenes Verständnis sozialer Gerechtigkeit erschlossen zu haben. Fassen wir die Argumentation dieses Kapitels kurz zusammen. Kindererziehung ist eine gerechtigkeitsrelevante Tätigkeit: (1) Sie darf nicht einseitig einem Teil der Bevölkerung, traditionellerweise den Frauen, aufgebürdet werden, so dass dieser keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten hat, einer Erwerbstätigkeit nach Wahl nachzugehen. Das verstößt gegen die Chancengleichheit. (2) Kindererziehung produziert ein öffentliches Gut, sie ist ein Beitrag zur Humanvermögensbildung und also eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit. (3) Wenn sich ein großer Anteil der Bevölkerung gegen die Gründung einer Familie entscheidet, erhält Kindererziehung den Charakter der Kooperation. Liegen die Bedingungen (1) und (3) vor, erleiden diejenigen, die sich ganz der Kindererziehung widmen, eine doppelte Ungerechtigkeit: Sie haben keine oder wesentlich geringere Chancen, auf dem Arbeitsmarkt einen Beruf ihrer Wahl zu ergreifen, und sie erbringen gegenüber denjenigen, die keine Kinder großziehen eine Leistung, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten. Daraus ergibt sich als Gerechtigkeitsforderung eine Aufteilung der Familienarbeit auf beide Geschlechter durch Kinderbetreuungsangebote und eine Kürzung und Verteilung der Erwerbstätigkeit. Wir müssen also zwei Gerechtigkeitsforderungen unterscheiden: die Forderung nach Chancengleichheit und die Forderung nach abzuurteilen. Einem Kind ist nicht geholfen, wenn es aus sozialer Pflichterfüllung in die Welt gesetzt wird. Auch Franz Xaver Kaufmann warnt vor einer Moralisierung der Kinderlosigkeit: Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, a. a. O., S. 223. 34 Dabei wurde im Rahmen der Argumentation ganz darauf verzichtet, die Frage der Finanzierbarkeit eines Erziehungsgehaltes zu stellen. Diese Frage verlangt nach einer volkswirtschaftlichen, nicht nach einer philosophischen Antwort. Sie wird freilich umso drängender, wenn zusätzlich zu einem Erziehungsgehalt Chancengleichheit durch staatlich finanzierte Kinderbetreuungsangebote eingefordert wird. A
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Kooperationsgerechtigkeit und mitfolgend (1) die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Rollenzuweisung und (2) die der Ausbeutung sozialer Kooperationsbeiträge. (1) verstößt gegen zwei Prinzipien: (a) Die Freiheit, eigene Berufsentscheidungen zu treffen, hat Vorrang gegenüber der Forderung nach Kooperationsgegenleistungen. Eine gesellschaftliche Rollenzuweisung kann nicht durch monetäre Anerkennung der Kooperationsleistung kompensiert werden. Das verletzt nicht nur die Autonomie, sondern auch die Selbstachtung der Betroffenen. Frauen sehen sich als Menschen missachtet, deren einzige sozial nützliche Fähigkeit in der Aufzucht von Kindern besteht, so als ob sie über keine anderen Fähigkeiten verfügten. Das ist demütigend. (b) Kinder sind ein öffentliches Gut. Das begründet die Schaffung sozialpolitischer Anreize zur Familiengründung. Das ist ein zweites, ein konsequentialistisches Argument für die Chancengleichheit. Zum Zweiten (2) begründet die Kindererziehung aber auch eine Berücksichtigung als Leistungserbringung in den sozialen Sicherungssystemen, die auf Nachwuchs angewiesen sind. Das ist insbesondere dann ein Gebot der Tauschgerechtigkeit, wenn das Großziehen von Kindern Kooperationscharakter hat. Aber genau in diesem Fall ist diese Forderung dem Chancengleichheitsprinzip aus den genannten Gründen nachgeordnet. Chancengleichheit und Kooperationsgerechtigkeit sind also keine gleichwertigen Prinzipien in diesem Kontext. Das Ziel der Chancengleichheit ist, der Kindererziehung den Charakter der Kooperationsleistung zu nehmen.
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10 Schluss: Egalitarismus im Kontext sozialer Gerechtigkeit
Im letzten Kapitel dieser Arbeit soll eine eigene Konzeption sozialer Gerechtigkeit skizziert werden. Dabei hat sich in der bisherigen Diskussion gezeigt, dass soziale Gerechtigkeit komplex verstanden werden muss. Drei Sphären sozialer Gerechtigkeit wurden unterschieden: die Sphäre des Schutzes vor Lebensrisiken (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Altersarmut), die Sphäre der Chancengleichheit (Arbeit, qualifizierte berufliche Positionen und Bildung) und schließlich die Sphäre der Tauschgerechtigkeit (Einkommen). Vor dem Hintergrund dieser Ausdifferenzierung ist es gleicherweise falsch, soziale Gerechtigkeit abstrakt ausschließlich distributiv zu verstehen, sie auf ein Prinzip der Bedürfnisgerechtigkeit zu reduzieren oder sie kontraktualistisch nur als fairen Leistungsaustausch zu begreifen. Aber was erlaubt uns unter sozialer Gerechtigkeit sowohl soziale Sicherheit, Chancengleichheit als auch Tauschgerechtigkeit zu verstehen? Was ist eigentlich falsch daran, Gerechtigkeit im sozioökonomischen Kontext auf eines der drei genannten Prinzipien zu reduzieren? Entgegen neueren Kritiken am Gleichheitsgedanken soll die Antwort in einem dezidiert egalitaristischen Konzept sozialer Gerechtigkeit gefunden werden. Dies geschieht, indem wir im ersten Abschnitt (10.1) daran erinnern, was unter Egalitarismus eigentlich zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt wird gefragt, ob sich aus dem Verständnis von Egalitarismus als Statusgleichheit nicht ein abstraktes Prinzip sozialer Gerechtigkeit folgern lässt. Dieses wird aber erst im vierten Abschnitt (10.4) gefunden. Als grundlegend für die hier vertretene Konzeption sozialer Gerechtigkeit wird im Anschluss an Avishai Margalit die Idee der Statusgleichheit, die Idee der gleichen Achtung und Würde, verstanden. Aber auch dieser Gedanke muss komplex verstanden werden: Der Begriff der Würde hat entsprechend den drei unterschiedenen Sphären sozialer Gerechtigkeit einen je besonderen Sinngehalt; dies gilt es zu berücksichtigen (10.5–10.8). Ein komplexes, nichtreduktionistisches, Verständnis sozialer Gerechtigkeit begründet sich A
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Schluss: Egalitarismus im Kontext sozialer Gerechtigkeit
durch ein komplexes Verständnis der Menschenwürde in diesem Kontext. Damit wenden wir uns gegen die folgenschwere Unterscheidung Margalits zwischen einer anständigen und einer gerechten Gesellschaft. Hier wird hingegen ein Zusammenhang zwischen Würde und Gerechtigkeit verteidigt. Zuvor aber werden im zweiten und dritten Abschnitt zwei alternative Auffassungen sozialer Gerechtigkeit zurückgewiesen: zum einen der Versuch, darunter ein abstraktes Prinzip von Chancengleichheit zu verstehen. Diese Fehldeutung ist einer der Gründe, warum der Egalitarismus gegenwärtig der Kritik unterzogen wird. Das abstrakte Chancengleichheitsprinzip verleitet zu hybriden Gerechtigkeitsforderungen (10.2). Im dritten Abschnitt wird der Versuch zurückgewiesen, Forderungen sozialer Gerechtigkeit einer Theorie der Anerkennung einzuverleiben, wie es Axel Honneth unternimmt. Die Kritik an Honneths Anerkennungstheorie ist deswegen aufschlussreich, weil er eine hier vertretene Grundintention teilt: Die Institutionen der Gesellschaft dürfen die Selbstachtung der Menschen nicht verletzen. Honneth verfehlt aber den Sinn dieses Gedankens, weil und insofern er als Gegenbegriff zur Missachtung die Anerkennung setzt. Anerkennung kann jedoch keine grundlegende Forderung in einer egalitaristischen Konzeption sozialer Gerechtigkeit sein. Letztere richtet sich vielmehr immer gegen einseitige Machtverhältnisse, gegen Ausschluss, Unterdrückung, Armut und Ausbeutung. Anerkennung drückt hingegen die besondere Wertschätzung eines anderen aus und ist ethischer Natur.
10.1 Moralischer Egalitarismus Was ist Egalitarismus? Verstehen wir darunter vorläufig das Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung. Ganz allgemein beschreibt der Egalitarismus die Idee einer moralischen Gemeinschaft, die über die Mitgliedschaft definiert ist. Zur egalitaristischen Gemeinschaft zählen alle solche Wesen, die sich aufgrund bestimmter Eigenschaften auf symmetrische Art und Weise wechselseitig Rechte und Pflichten einräumen. Dabei kann als die grundlegendste Eigenschaft die Schmerzempfindung, Leidensfähigkeit und Hilfebedürftigkeit in existentiellen Mangelsituationen betrachtet werden. 1 Nur gegenüber 1
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Ich folge hier im Wesentlichen den Ausführungen von Stefan Gosepath, der vier
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Moralischer Egalitarismus
Wesen, die das Vermögen haben, Schmerz, Angst und Verzweiflung zu empfinden, kann es moralische Verpflichtungen geben. Die Vermeidung von Grausamkeit ist die fundamentalste moralische Forderung, die zugleich den äußersten Rand der moralischen Gemeinschaft beschreibt. 2 Die Forderung, kein leidensfähiges Wesen grausam zu behandeln, impliziert kein vollgültiges Recht auf Leben. Letzteres lässt sich daher nicht durch Leidensfähigkeit begründen. Es scheint nicht unmoralisch zu sein, Wesen, die leidensfähig sind, auf eine schmerz- und angstfreie Weise zu töten. Stefan Gosepath schlägt vor, das Lebensrecht über die Fähigkeit, sich einen Begriff und eine Vorstellung von der eigenen Zukunft zu machen, zu begründen. 3 Das ist die Voraussetzung dafür, sich um sein längerfristiges Wohl zu sorgen. Nur Wesen, die sich um ihre eigene Zukunft sorgen, entwickeln und verfolgen Pläne, wie sie zukünftig leben wollen. Mit diesem Vermögen geht somit die Fähigkeit einher, eine Vorstellung des guten Lebens zu entwickeln und das meint, dass solche Wesen in der Lage sind, in einem schwachen Sinne zu werten: Wer sich um seine Zukunft sorgt, kann seine unmittelbaren Handlungswünsche suspendieren und fragen, ob sie mit seinem längerfristigen Wollen harmonieren. Mit dem Zukunftsbezug entsteht also auf dieser Ebene Willensfreiheit im schwachen Sinn: die Fähigkeit, die eigenen Handlungswünsche zu vergleichen und als Ergebnis einer komplexen Kosten-Nutzen-Bilanz in eine Hierarchie der Vorzugswürdigkeit zu bringen. Wesen aber, die eine Vorstellung von ihrem zukünftigen Wohl entwickeln und ihr Leben auf die Zukunft ausrichten, nimmt man etwas, wenn man sie tötet. Solche Wesen besitzen eine Vorstellung vom Wert ihres Lebens. Wesen, die über die unmittelbare Gegenwart hinaus keine Sorge um ihr Wohl haben, keine in die Zukunft gerichteten Interessen besitzen, nimmt man dagegen nichts, wenn man sie tötet. 4 Der Zukunftsbezug begründet ein vollgültiges Recht auf Leben. Merkmale auflistet, die eine vollwertige Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der egalitaristischen Moral definieren: Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, a. a. O., S. 136 ff. 2 Natürlich lässt sich das anzweifeln. Haben Pflanzen keinerlei Existenzrecht im Sinne des Artenschutzes? Ist es also moralisch völlig ohne Belang, wenn durch menschliches Handeln Pflanzen aussterben? Diese Frage soll hier nicht bejaht werden. Es macht aber einen gravierenden Unterschied, ob man ein Einzelexemplar oder nur die Art zum Träger moralischer Rechte erklärt. 3 Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, a. a. O., S. 136. 4 Ebd., S. 136 f. Mit dem Begriff eines vollgültigen Rechts sei hier nur auf den moralisch A
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Auch diese zweite Fähigkeit begründet aber noch keine egalitäre Moral. Als eine dritte Fähigkeit ist hierfür ethische Autonomie erforderlich. Darunter ist das Vermögen zu verstehen, das eigene Wollen nicht nur auf seine Konsequenzen hin zu beurteilen, sondern auch eine eigene Idee davon zu entwickeln, was ein gutes und sinnerfülltes Leben auszeichnet und wie es gelingen kann. Mit Dworkin gesprochen beansprucht eine ethisch autonome Person selbst die Antwort auf die Lebensumstände, in die sie hinein geboren wurde, zu finden. Die ethische Autonomie fungiert dabei selbst als eine formale Bedingung des guten Lebens. Das Leben muss aus den eigenen Wertüberzeugungen heraus und in Selbstverantwortung vollzogen werden können. Es ist dieses Bewusstsein, selbst der unvertretbare Autor des eigenen Lebens zu sein, das einen intrinsischen Wert darstellt. Die liberale Idee des Guten beschreibt ein Leben in Würde. Ein Leben in der Bevormundung ist entwürdigend. Wir wollen diese Autonomie zunächst ganz allgemein fassen: als das Vermögen ein in bedeutsamen Belangen von anderen unabhängiges Leben zu führen zu können. Zum Vierten muss von der ethischen die moralische Autonomie unterschieden werden. Es ist die moralische Einsichtsfähigkeit des Subjekts, die die egalitaristische Moral begründet. Erst aus dieser Eigenschaft resultiert die uneingeschränkte Kooperationsfähigkeit: das Vermögen, eigene Handlungswünsche zugunsten der Interessen einer anderen Person zu suspendieren. Oder anders formuliert: Nur ein solches Wesen, das über das Vermögen der moralischen Einsichtsfähigkeit verfügt, wird seine Handlungsziele und längerfristigen Pläne auf ihre Übereinstimmung mit den Interessen anderer hin einschränken. Aus den letzten beiden Eigenschaften folgt nun eine formale Bestimmung des moralischen Richtigseins: Nur solche allgemeinverbindlichen Regeln können Legitimität beanspruchen, die gegenüber jedem einzelnen Individuum, das sich diesen Regeln unterwerfen muss, gerechtfertigt werden können. Und gerechtfertigt werden können nur solche Regeln, die niemandes körperliche Integrität verletzen, die die Hilfebedürftigkeit des Einzelnen in Mangelsituationen berücksichtigen und die die individuelle Selbstbestimmung achten. höchstrelevanten Unterschied zwischen der Tötung eines Tieres und eines Menschen verwiesen. Keinesfalls soll hier behauptet werden, dass es unerheblich sei, ein Tier zu töten.
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Umgekehrt ist jedes Individuum verpflichtet, nur nach solchen Grundsätzen zu handeln, die sich gegenüber allen von diesem Grundsatz betroffenen Individuen rechtfertigen lassen. Die Normen, deren Urheber in idealer Weise die Normunterworfenen selbst sind, müssen strikt reziprok gerechtfertigt werden. Nur solche Normen können als begründet gelten, die alle Individuen aus guten Gründen freiwillig akzeptieren können, oder in Scanlons Formulierung dieser Legitimitätsregel: die von keinem Individuum mit guten Gründen zurückgewiesen werden können. 5 Egalitaristisch ist eine Moral also genau dann, wenn sie das Ergebnis einer freiwilligen Übereinkunft aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sein könnte, die sich wechselseitig als Freie und Gleiche achten. Gleichheit heißt in diesem formalen Sinn, dass niemand die Macht besitzt, einer anderen Person einseitig Regeln zu diktieren, die diese aus der bloßen Sanktionsdrohung befolgen muss. Statusgleichheit meint die strikt symmetrische Achtung des jeweils anderen als einer Person, die mit guten Gründen von der Richtigkeit moralischer Regeln überzeugt werden muss. Weil also moralische Normen aus der freiwilligen Einsicht in ihre Allgemeingültigkeit befolgt werden können müssen, sind sie keine bloßen Zwangsregeln. 6 Sie sind Regeln, die sich das Individuum aus guten Gründen selbst verpflichtend auferlegen kann. Was folgt aus dieser allgemeinen moralischen Bestimmung dessen, was man als Egalitarismus bezeichnet, für eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit? Zunächst nur dies, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft wechselseitig im sozioökonomischen Kontext als Freie und Gleiche achten müssen. Die mit Gesetzesverbindlichkeit ausgestatteten Regeln, die die Rahmenbedingungen der sozioökonomischen Institutionen festlegen, dürfen keine bloßen Zwangsregeln sein, die von einem Teil der Gesellschaftsmitglieder nur aus der bloßen Sanktionsdrohung befolgt werden müssen. Sozial gerecht können nur solche ökonomischen Rahmenbedingungen sein, die die legitimen Interessen aller Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise berücksichtigen. Lässt sich aber aus dieser formalen Rechtfertigungsregel nicht ein grundlegendes abstraktes Gerechtigkeitsprinzip ableiten? Zunächst könnte man annehmen, dass die wichtigsten sozio-
Thomas Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge/Mass. 1998, Kap 5. Vgl. Ernst Tugendhat, »Was heißt es, moralische Urteile zu begründen?«, in: ders.: Aufsätze 1992 -2000, Frankfurt/M. 2001, S. 91–108.
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ökonomischen Güter, wie z. B. Einkommen und Vermögen, gleich verteilt werden müssten. Es ist aber überhaupt nicht klar, inwiefern eine Gleichverteilung dieser Güter der Idee der Statusgleichheit, die unserem formalen Verständnis von Egalitarismus zugrunde liegt, entsprechen sollte. Impliziert ungleicher Besitz bereits ungleiche Macht? Das ist gewiss nicht der Fall. 7 Wenn moralische Regeln im Allgemeinen und Prinzipien sozialer Gerechtigkeit im Besonderen so beschaffen sein müssen, dass sie von den Individuen nicht als bloße Zwangsregeln verstanden werden, liegt es dann nicht nahe ein Prinzip legitimer Ungleichheiten aufzustellen, das genau diese Eigenschaft der Zwanglosigkeit aufweist? Vorteilhafte berufliche Positionen und Einkommen und Vermögen müssen nicht gleich verteilt werden. Ist es nicht legitim, wenn diese Güter nach einem Verfahren verteilt werden, in dem alle Bürger die gleiche Chance haben, diese Güter zu erreichen, bzw. zu erwerben? In diesem Fall ist das Ergebnis des Verteilungsverfahrens auf die freiwillige Entscheidung der Individuen zurückzuführen und eben nicht das Ergebnis von einseitiger Macht und Zwang. Aus der abstrakten Rechtfertigungsregel – so ließe sich argumentieren – ergibt sich ein substantiellerer Verteilungsmodus. Soziale Gerechtigkeit wäre nach diesem Argument mit Chancengleichheit identisch. Aber das ist ein non sequitur! Das Prinzip, dass soziale Ungleichheiten ungerecht sind, wenn sie von den Individuen nicht selbst verantwortet sind, ist in dieser Abstraktheit kein egalitaristisches Prinzip sozialer Gerechtigkeit. Nicht nur weil es falsch ist, soziale Gerechtigkeit ausschließlich als abstrakte Chancengleichheit zu verstehen. Auch als ein Chancengleichheitsprinzip taugt es nicht, weil unklar bleibt, welche Umstände die freien Entscheidungen der Individuen nicht in ungleicher Weise beeinflussen dürfen. Es ist Rawls gewesen, der erkannt hat, dass Chancengleichheit so verstanden mit der Existenz der Familie in Konflikt gerät. In Auseinandersetzung mit Andrew Mason, der sich Rawls’ Argument zunutze macht, um den Chancengleichheitsgedanken als einen Irrtum zu denunzieren, soll hier ein anderes egalitaristisches Prinzip in Anschlag gebracht Deswegen ist es auch falsch, aus der Moral der gleichen Achtung eine »Präsumtion der Gleichheit« zu folgern, wie Stefan Gosepath das im Anschluss an Tugendhat tut. Güter seien gleich zu verteilen, es sei denn, relevante Unterschiede zwischen den Personen rechtfertigten eine Ungleichverteilung: Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, a. a. O., S. 200 ff.
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werden: die Idee der Statusgleichheit, die bereits den moralischen Egalitarismus charakterisierte, steht hinter dem Chancengleichheitsgedanken, keine Forderung nach allgemein gleichen Startchancen. Letzteres ist also weder ein allgemeines noch ein besonderes Prinzip sozialer Gerechtigkeit.
10.2 Chancengleichheit, Familie und Suffizienz In seinem Aufsatz »Equality of Opportunity and Differences in Social Circumstances« geht Andrew Mason den Widersprüchen im Chancengleichheitsgedanken nach. Dieser lässt sich, wie Rawls das getan hat, in zwei Prinzipien untergliedern. In seinem Ursprung, im klassischen Liberalismus, ersetzt das Prinzip »Dem Fähigen stehen die Laufbahnen offen« 8 als Legitimationsprinzip für soziale Hierarchien die Idee, dass soziale Privilegien und die soziale Wertschätzung, die sie genießen, angeboren sein könnten. Neben der Idee staatsbürgerlicher Gleichheit fordert der klassische Liberalismus die Offenheit sozialer Hierarchien ein. 9 Die Tüchtigkeit der Person allein soll nun über ihren sozialen Rang entscheiden. Das ist nicht nur ein Erfordernis der Effizienz, sondern auch ein egalitäres Gerechtigkeitsprinzip. Jedem wird es nun im Prinzip möglich – das entsprechende Talent vorausgesetzt –, sich aus der sozialen Schicht, in die er geboren wurde, aus eigener Anstrengung emporzuarbeiten. Angeborene Privilegien sind dagegen ein Quell von Ungerechtigkeit. Allein die Leistung soll über den sozialen Rang des einzelnen entscheiden. Allerdings müssen den Bürgern dafür die nötigen Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen. Das Prinzip »freie Bahn den Fähigen«, wenn man es auf die sozialen Positionen anwendet, ist jedoch gegenüber den unterschiedlichen Qualifikationsmöglichkeiten gleichgültig. Soll es also ernst gemeint sein mit der Chancengleichheit, dann dürfen die Lebensumstände des einzelnen nicht darüber entscheiden, ob er sich für Positionen qualifizieren kann. Bildung darf kein Privileg sein, kein faktisches Vorrecht einer sozialen Schicht, die es sich leisten kann. Menschen mit gleichen Fähigkeiten und der gleichen Bereitschaft, sie einzusetzen, müssen auch die glei-
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Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O. S. 86 Vgl. Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. A
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chen Erfolgsaussichten haben, unabhängig von ihrer anfänglichen gesellschaftlichen Stellung. 10 Die Forderung nach Chancengleichheit darf nicht nur als ein Prinzip negativer Freiheit auf den Zugang zu sozialen Positionen verstanden werden, sondern muss auch, als ein zweites Teilprinzip, den gleichen Zugang zu den nötigen Bildungsressourcen einklagen. Also ist der Leistungsgedanke nicht das grundlegende Prinzip sozialer Gerechtigkeit, das die Verteilung qualifizierter sozialer Positionen regelt. Die tiefer liegende Gerechtigkeitsforderung ist die nach gleichen Startchancen. Erst vor dem Hintergrund wirklich gleicher Startchancen kann das Leistungsprinzip ein legitimes Rechtfertigungsprinzip der Verteilung sozialer Positionen sein. So scheint es zumindest. Diese Auffassung von Chancengleichheit nennt Andrew Mason die Neutralisierungsposition: »people’s social circumstances should not differentially affect their life chances in any significant way« 11 . Rawls bezeichnet das als die liberale Auffassung von Chancengleichheit und er nennt gleich ein Problem, das sich aus ihr ergibt: Im Letzten muss die liberale Forderung nach gleichen Startchancen die Abschaffung der Familie einfordern. 12 Denn natürlich hat die Art und Weise, wie sich Eltern um ihre Kinder kümmern, einen nicht marginalen Einfluss auf deren Lernerfolg und somit auf die Aussichten im Konkurrenzkampf um begehrte soziale Positionen. Vor dem Hintergrund der Neutralisierungsposition sind das aber Vor- bzw. Nachteile, die dem sozialen Umfeld der Betreffenden zuzurechnen sind und die dürfen als solche keinen Einfluss auf deren Chancen haben. Wenn wir es also wirklich ernst meinen mit der Chancengleichheit, müssen wir dann nicht auch die Familie abschaffen und die Kinder in staatlichen Erziehungsanstalten aufziehen? 13 Diese Schlussfolgerung könnte als übereilt zurückgewiesen werden. Schließlich hänge auch in Erziehungsanstalten der Erfolg der Kinder zu einem nicht geringen Teil von den unterschiedlichen Fähigkeiten der Erzieher und Lehrer ab. Gleiche Startchancen mit dem Lineal gemessen seien daher eine in der Wirklichkeit nicht umsetzbare Forderung. Das muss nicht bestritten werden. Gleichwohl hätte Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 93. Mason, »Equality of Opportunity and Differences in Social Circumstances«, in: The Philosophical Quarterly 54/2004, S. 368–388; hier S. 368. 12 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 94. 13 Mason, »Differences in Social Circumstances«, a. a. O., S. 369 ff. 10 11
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der Staat wesentlich größere Einflussmöglichkeiten, für gleiche Bildungsmöglichkeiten der Kinder zu sorgen, als wenn sie in Familien aufwüchsen. 14 Ein weiteres Argument für die Rettung der Neutralisierungsposition könnte darin bestehen, dass man sie durch ein vorrangiges Recht einschränkt: »Parents have a basic right to raise their children in accordance with their own values or their culture’s values, so long as they do not harm them«. 15 Im Konfliktfall übertrumpfe dieses Recht den Chancengleichheitsgedanken. Aber selbst wenn man dieses Recht der Eltern – von einem Recht der Kinder wollen wir erst gar nicht reden – eingesteht, bleibt die Tatsache bestehen, dass sich die Neutralisierungsposition nicht mit der Existenz der Familie verträgt. Wie können also die Eltern den Chancengleichheitsgedanken als ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit ernst nehmen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder im Wettbewerb um soziale Positionen bessere Chancen haben als andere. Das Problem mit der Neutralisierungsposition ist, dass sie alle ungleichen Erfolgsaussichten, die auf soziale Faktoren zurückführbar sind, als ungerecht brandmarkt. Diese Auffassung von Chancengleichheit kennt somit keine Unterscheidung zwischen moralisch »unschuldigen« und unzulässigen sozialen Einflüssen auf die Erfolgsaussichten der Person. Damit wird jede Anstrengung der Eltern in die Bildung ihrer Kinder moralisch fragwürdig, wenn dadurch das Kind bessere Chancen erhält als ein anderes. Sollen Eltern also das eigene Kind aus Gründen der Unparteilichkeit verwahrlosen lassen? 16 Ebd., S. 370. Ebd., S. 370 f. 16 Hier knüpft Mason an Gerald Cohens Rawls-Kritik an. Für Rawls ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, und nicht die Einstellungen und Handlungen der Bürger. Wenn also die Grundstruktur im Sinne des Unterschiedsprinzips gerecht ist, dann dürfen die Bürger aus ausschließlich egoistischen Motiven auf dem Arbeitsmarkt ihren Profit erstreben. Sie dürfen das nicht nur, das Differenzprinzip setzt voraus, dass die Profitmaximierung der einzige Anreiz für besonders produktive Beiträge ist, die allen zugute kommen. Rawls nennt das Hintergrundgerechtigkeit. Cohen sieht hier einen grundlegenden Widerspruch. Als Individuum bin ich an der Maximierung meines Wohlstandes interessiert, gleichgültig was andere bekommen. In der Beurteilungsperspektive auf die sozioökonomischen Institutionen der Gesellschaft aber ist es nur legitim, soviel zu verlangen, wie es auch anderen zugute kommt. Wenn wir aber ein und dieselbe Person sind, wieso lassen wir uns nur durch egoistische Motive zu größeren Leistungen motivieren, die einen Nutzen für andere abwerfen, wo wir doch gleichzeitig auch die egalitaristische Perspektive des Urzustandes einnehmen sollen? Weil das Handeln der Leistungsfähigen moralisch entlastet ist, bekommen die schlech14 15
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Es ist diese absurde Radikalität, die die Neutralisierungsposition so abstoßend macht. Offenbar ist der Chancengleichheitsgedanke hier falsch interpretiert worden. Man könnte nun zur Idee formaler Chancengleichheit und also ins 18. Jahrhundert zurückkehren. Aber das wäre ein Plädoyer für die soziale Ungleichheit oder zumindest für die Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, dass ökonomisch schlechter gestellten sozialen Gruppen der Zugang zu qualifizierten Positionen verschlossen bleibt. 17 Wir stehen also mit Mason vor einem Dilemma: Entweder wir bekennen uns zur sozialen Ungleichheit oder wir verurteilen elterliche Fürsorge im Namen sozialer Gleichheit. Problematisch an der Auffassung von Chancengleichheit als Gleichheit der Startchancen ist offenbar das zu abstrakte Konzept von Handlungsfreiheit, das beiden Teilprinzipien zugrunde liegt: Personen mit dem gleichen natürlichen Begabungspotential und der gleichen Bereitschaft, dieses einzusetzen, müssen die gleichen Möglichkeiten haben, den Karriereweg ihrer Wahl erfolgreich ans Ende zu gehen. Masons Vorschlag, dem Dilemma zu entgehen, besteht nun darin, das hinter dem Chancengleichheitsgedanken stehende Autonomieprinzip präziser zu formulieren, um so genauer zwischen zulässigen und ungerechten ungleichen Freiheitseinschränkungen unterscheiden zu können. Dass die sogenannte Neutralisierungskonzeption das nicht vermag, begründet ja gerade ihr Scheitern. Mason beginnt bei der Frage nach der Begründung des ersten Teils des Chancengleichheitsprinzips. Warum ist es eine Forderung der sozialen Gerechtigkeit und nicht der Nützlichkeit, berufliche Positionen allein aufgrund der Qualifikation der Bewerber zu besetzen. Diese Praxis, so lautet Masons Antwort, respektiere Personen als Handelnde und nicht einfachhin als Träger kontingenter Eigenschaften, die sie von vornherein, ohne dass die Betroffenen etwas ändern ter Gestellten zwar mehr als in einem Zustand der Gleichheit, in dem keine egoistischen Leistungsanreize bestehen. Sie bekommen aber viel weniger als in einer Gesellschaft, in der die Leistungsfähigen auch um des Wohlstandes anderer produktiv tätig sind. Wie ernst ist es uns also mit der Gerechtigkeit, wenn wir bei unserem eigenen Handeln eine Ausnahme machen? Ohne hier näher auf Cohens scharfsinnige Kritik eingehen zu wollen, ist es einleuchtend, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze, nach denen wir die Institutionen unserer Gesellschaft beurteilen wollen, nicht in grundlegendem Widerspruch zu unserem eigenen Handeln stehen dürfen: Gerald A. Cohen, If You’re an Egalitarian, a. a. O. 17 Mason, »Differences in Social Circumstances«, a. a. O., S. 373 f.
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könnten, vom Erwerb der beruflichen Position ausschließt. Die Ausgeschlossenen haben somit einen Grund sich in ihrem Personenstatus, und das meint als frei Handelnde, missachtet zu sehen. 18 Ungerechte Freiheitseinschränkungen sind also solche, die einem Bewerber die Möglichkeit verwehren, seine Qualifikation für die beruflichen Positionen unter Beweis zu stellen. Wie aber lässt sich der Autonomiegedanke für den zweiten Teil des Chancengleichheitsprinzips formulieren? Mason fragt: Wann lässt sich von Personen sagen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt autonome Entscheidungen treffen können? Er beantwortet diese Frage, indem er minimale Kriterien nennt, die eine Schwelle beschreiben, unterhalb der Personen keine Möglichkeiten mehr haben, zwischen unterschiedlichen Berufen zu wählen: Das sind generelle Fähigkeiten, wie Lesen, Schreiben und Grundrechenarten sowie speziellere Fähigkeiten, wie die Fähigkeit zur Kooperation, die Fähigkeit, Aufgaben zu organisieren, Fristen einzuhalten usw. 19 Wer über diese Fähigkeiten nicht oder nur in einem unzureichenden Maße verfügt, der darf froh sein, wenn er als ungelernte Hilfskraft eine Anstellung findet. Masons Kriterien sind minimale Bedingungen der Eigenmächtigkeit und damit der Handlungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Prinzip »fairer Chancen für alle« unterscheidet sich ersichtlich von der Forderung nach gleichen Startchancen der Neutralisierungsposition. Mason versteht seine Reformulierung des zweiten Teils des Chancengleichheitsgedankens als ein nonkomparatives Gerechtigkeitskriterium: Eine Person werde im Bildungs- und Ausbildungssystem der Gesellschaft ungerecht behandelt, wenn sie keine Möglichkeiten habe, die minimalen Bildungsvoraussetzungen zu erwerben. Für dieses Gerechtigkeitsurteil sei die Frage irrelevant, über welche Bildungschancen andere verfügten. Masons Autonomieprinzip beschreibt – ganz in Analogie zu Parfits 20 Bedürfnisprinzip – einen absoluten Maßstab. 21 Ist diese Reformulierung der Chancengleichheit überzeugend? Nein, das ist eine skandalöse Schrumpfversion dieser Gerechtigkeitsidee! Was bedeutet es, im Kontext der Chancengleichheit ein Schwellenprinzip einzufordern, das verlangt, dass niemand ein bestimmtes 18 19 20 21
Ebd., S. 376 ff. Ebd. 379 f. Parfit, a. a. O. Mason, »Differences in Social Circumstances«, a. a. O., 380 f. A
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Bildungs- und Ausbildungsniveau unterschreiten dürfe, darüber hinaus gehende ungleiche Zugangschancen zu Bildungsinstitutionen – aus welchen Gründen auch immer – moralisch gleichgültig seien? Wie beurteilen wir die Absicht begabter Kinder aus ökonomisch schlechter gestellten Familien, die Hochschule zu besuchen, wenn die nötigen finanziellen Ressourcen dazu fehlen? Sollen wir dann aus der moralischen Gleichgültigkeit heraus urteilen, dass diese Kinder naiv sind? Masons Vorschlag zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Idee, Gerechtigkeit nichtkomparativ ausschließlich als die Forderung nach Erfüllung von Schwellenprinzipien zu verstehen und den Gleichheitsgedanken auf den Müllhaufen unreflektierten Denkens zu werfen, keinesfalls so moralisch unschuldig ist, wie von Vertreterinnen dieses sogenannten Humanismus gerne behauptet wird. 22 Wenn der Denkfehler des Schicksalsegalitarismus darin besteht, soziale Gerechtigkeit auf ein abstraktes Chancengleichheitsprinzip zu reduzieren, so liegt der Reduktionismus des Nonegalitarismus darin begründet, soziale Gerechtigkeit mit Bedürfnisgerechtigkeit in eins zu setzen. 23 Wer ein Bedürfnisprinzip in der Sphäre der Chancengleichheit zur Anwendung bringt, hält ein Plädoyer für die soziale Ungleichheit. 24 Das ahnt auch Mason. Seine Position bleibt ambivalent: Einerseits möchte er sein Schwellenprinzip um eine weitere Bedingung ergänzen: »My proposal is that there cannot be fair access to qualifications when an individual is denied entry to a level and quality of Vgl. Krebs, »Einleitung. Die neue Egalitarismuskritik im Überblick«, in: dies (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit, a. a. O., S. 7–37; hier S. 15 f. 23 Dass der Nonegalitarismus auch im Kontext von Bedürfnisprinzipien versagt, soll weiter unten bewiesen werden. Der Nonegalitarismus bezeichnet überhaupt kein Rechts- oder Gerechtigkeitsprinzip. 24 Zurecht moniert Andreas Wildt, dass die Kritik an Gleichheitspostulaten die Nonegalitaristen blind dafür gemacht habe, »dass die Forderung nach einer Egalisierung der sozial bedingten Ungleichheit an Chancen zur Ausbildung von Begabungen zum Kernbestand der modernen Idee der Gerechtigkeit gehört«: Andreas Wildt, »Wie egalitär sollte eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit sein?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54/2006, S. 69–83; hier S. 77. Wildt begründet aber diese Kritik nicht. Wieso ist es falsch, mit dem Nonegalitarismus den Chancengleichheitsgedanken zu verabschieden? Wildt verficht ein Konzept eines »schwachen« Egalitarismus, das meint eine dreistufige Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit: Er kombiniert nonegalitaristische Prinzipien, die über Mindeststandards ein menschenwürdiges Leben definieren sollen, mit dem Chancengleichheitsprinzip und einer modifizierten Form des Differenzprinzips. Hinter dieser Konzeption ist aber keine grundlegende Idee ersichtlich, die eine Versöhnung dieser drei unterschiedlichen Prinzipien plausibel machte. 22
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education to which others with equivalent qualifications have access simply because he lacks the necessary material resources to take advantage of it.« 25 Andererseits sieht er den Chancengleichheitsgedanken nicht als ein eigenständiges Prinzip sozialer Gerechtigkeit an. Ob der ungleiche Einfluss von materiellem Wohlstand auf die Lebensaussichten der Menschen ungerecht sei, hänge davon ab, ob materieller Wohlstand nach einem fairen Maßstab verteilt sei oder nicht. Unabhängig von einem Kriterium gerechter Wohlstandsverteilung habe der Chancengleichheitsgedanke keine normative Gültigkeit. Ohne ein Kriterium der fairen Verteilung ökonomischer Ressourcen lasse sich daher kein hinreichendes Urteil bilden, ob eine Gesellschaft die Bildungschancen gerecht verteile. 26 Wenn gemäß eines solchen Standards die ökonomischen Ressourcen gerecht verteilt sind, dann zählen sie als legitime Gründe für die ungleiche Verteilung von Bildungschancen. Masons Vorschlag kann nicht überzeugen. Nicht nur weil er ein Kriterium gerechter Wohlstandsverteilung schuldig bleibt. Mit seiner ergänzenden Bedingung erkennt er die Tatsache an, dass der Chancengleichheitsgedanke anders als ein Bedürfnisprinzip, kein Schwellenprinzip ist. Mit der Behauptung, dass Chancengleichheit normativ einem Kriterium der Einkommens- und Vermögensverteilung nachgeordnet sei, verabschiedet er aber den Gedanken, dass die Verteilung von Bildungschancen eine eigenständige Sphäre sozialer Gerechtigkeit konstituiere. Entsprechend ist Mason auch der Überzeugung, dass »Chancengleichheit« ein irreführender Ausdruck sei, der zu philosophischer Konfusion einlade. 27 Das ist er nur, solange man das Prinzip nicht identifiziert hat, das hinter der Chancengleichheit steht. Das Prinzip, dass niemand unfreiwillig schlechter als andere gestellt sein solle, ist kein grundlegendes Prinzip sozialer Gerechtigkeit. 28 Es bringt unsere Gerechtigkeitsintuition auf die Formel, dass soziale Ungleichheiten genau dann legitim sind, wenn sie von den Bürgern selbst verantwortet sind, wenn also niemand zwangsweise schlechter dasteht als andere. Aber diese Intuition liefert keine Mason, »Differences in Social Circumstances«, a. a. O., S. 384. Ebd., S. 385. 27 Ebd., S. 388. 28 Es wir aber z. B. noch von Gosepath in seinem Buch Gleiche Gerechtigkeit zu einem solchen erklärt: vgl. Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit a. a. O., S. 365. Das widerspricht übrigens der These einer Präsumtion der Gleichheit. 25 26
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Grundlegung einer kohärenten Theorie sozialer Gerechtigkeit, und das aus zwei Gründen: Zum einen hat Elizabeth Anderson gezeigt, dass nicht alle Güter nach der Logik gleicher Starchancen verteilt werden dürfen. Das gilt insbesondere für Güter des existentiellen Grundbedarfs. Soziale Gerechtigkeit darf nicht auf ein abstraktes Chancengleichheitsprinzip reduziert werden. Zum anderen aber – und dieser Einwand geht noch tiefer – ist das abstrakte Prinzip gleicher Startchancen des »Schicksalsegalitaristen« überhaupt kein vernünftiges Prinzip der sozialen Gerechtigkeit: weder als ein grundlegendes, noch als ein spezielles, nur für seine Sphäre gültiges Prinzip. Das ist im zweiten Kapitel dieser Arbeit gezeigt worden. Für die Variable der unfreiwilligen Benachteiligung lassen sich unendlich viele Faktoren einsetzen. Das Ergebnis sind absurde Gerechtigkeitsforderungen, die die Idee der Chancengleichheit diskreditieren. Im zweiten Kapitel wurde der Einfluss der natürlichen Begabung auf die Karrieren der Menschen diskutiert – Rawls’ berühmtes Argument für seinen Grundsatz »demokratischer Chancengleichheit«. Dieses Argument zerstört die Handlungsfähigkeit des Individuums, genauer: die Möglichkeit, ihm Handlungserfolge als eigene Leistungen zuzurechnen, was paradoxerweise die Unterscheidbarkeit zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Benachteiligungen oder Begünstigungen einebnet. Die wird aber vom Prinzip der Chancengleichheit vorausgesetzt. Dem Schicksalsegalitarismus muss – wie Rawls das richtig erkannt hat – gleicherweise der ungleiche Einfluss der Familienherkunft auf die Lebensaussichten der Menschen zum Problem werden und er stellt damit die Integrität der Familie, die uneingeschränkte Fürsorge der Eltern für ihre Kinder in Frage. Mason hat Recht darin, die abstrakte Forderung nach gleichen Startchancen zurückzuweisen. Sein Irrtum besteht aber darin, dass er die von ihm so genannte Neutralisierungsposition mit der Idee der Chancengleichheit identifiziert. Das macht seinen Aufsatz zu einem mahnenden Beispiel. In dem Maße, wie man Gleichheitsideale, die unser Bild von einer gerechten Gesellschaft prägen, falsch interpretiert, macht man sie fragwürdig und angreifbar. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt, den Egalitarismus als solchen zu einem Irrtum zu erklären. Es ist daher im Anschluss an das zweite Kapitel knapp daran zu erinnern, was Egalitarismus im Kontext der Verteilung vorteilhafter beruflicher Positionen und Bildung bedeutet. Chancengleichheit ist zunächst als eine Forderung nach gleichen autonomen Berufsent328
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scheidungen zu verstehen. Das bleibt einigermaßen unproblematisch, wenn darunter das negative Recht auf freie Berufswahl verstanden wird. Dadurch wird der erste Teil des Chancengleichheitsgedankens abgedeckt, die Offenheit beruflicher Positionen garantiert. Für das zweite Teilprinzip, die Forderung nach gleichen Bildungschancen, ergibt sich jedoch das Problem, dass sich nicht genau angeben lässt, wann Bildungschancen gleich sind, solange nicht geklärt ist, welche Einflüsse auf den Bildungsweg von Kindern und Heranwachsenden gerechtigkeitsrelevant sind und welche nicht. Wenn hier keine Grenze gezogen werden kann, bleibt das Prinzip unerfüllbar und die Chancengleichheitsidee leer. In diesem Zusammenhang ist auf eine grundlegende Idee der Gerechtigkeitstheorie von Rawls aufmerksam zu machen: das ist die Aufteilung der Verantwortlichkeit für ein gelingendes Leben zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Nach Rawls – und in noch stärkerem Maße für Dworkin – setzt eine liberales Verständnis sozialer Gerechtigkeit die Bereitschaft des Individuums voraus, Verantwortung für eine erfolgreiche Verfolgung seiner Lebenspläne zu übernehmen. Vor dem Hintergrund einer fairen Ausstattung mit gesellschaftlichen Grundgütern ist der Einzelne für seinen gelingenden Lebensvollzug selbst verantwortlich. 29 Dieser Gedanke ist nun auf den Bereich der Familie zu übertragen. Das soll heißen, dass die Frage nach gleichen Bildungschancen nur diskutiert werden kann, wenn eine Grenze zwischen der gesellschaftlichen und der elterlichen Verantwortung für das Heranwachsen der Kinder gezogen werden kann. Es kann genauso wenig Aufgabe des Staates sein, jeden Erziehungsmangel zu kompensieren, wie es seine Aufgabe ist, jede individuelle Verantwortungslosigkeit auszugleichen. Es gibt keinen Grund, Eltern aus der Verantwortung für das Kindeswohl zu entlassen. Wenn das geklärt ist, ist es also nicht die Familienzugehörigkeit, die einen gerechtigkeitsrelevanten Einfluss auf die Bildungschancen darstellt, sondern die Gruppenzugehörigkeit. Chancengleichheit, so wurde im zweiten Kapitel argumentiert, ist als eine Forderung nach Statusgleichheit aller Gesellschaftsmitglieder zu verstehen. Wer zu einer sozialen Gruppe gehört, die keine oder geringere Chancen auf Qualifikationsmöglichkeiten besitzt, hat einen gerechtfertigten Anlass, sich von der Gesellschaft, in der er lebt, missachtet zu fühlen. Indem ihr von Anfang an 29
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die Möglichkeit genommen ist, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, sieht sich die Exkludierte als Person missachtet, der weniger anspruchsvolle bis anspruchslose Tätigkeiten von der Gesellschaft zugewiesen werden. Das ist gleichbedeutend mit einem Bürgerstatus zweiter Klasse; insofern der betreffenden Gruppe de facto die entsprechenden Fähigkeiten abgesprochen werden, muss von einem Status als Mensch zweiter Klasse die Rede sein. Es ist also die Verletzung der Selbstachtung der Person, die das eigentliche Unrecht darstellt, die Stigmatisierung als Körperbehinderte, als Frau oder als ökonomisch schlechter Gestellte. Daher trägt der Staat die Verantwortung, eine erfolgreiche Bildung aller sicherzustellen: durch ein entsprechend anspruchsvolles Schulsystem, das z. B. durch Ganztagsunterricht Bildungsmängel der Eltern ausgleicht, die sich nicht wie ein akademisches Elternpaar um die Hausaufgaben der Kinder kümmern können. Dafür ist es nicht notwendig, die Familie abzuschaffen. Es ist die benachteiligende Gruppenzugehörigkeit, die die Selbstachtung der Betroffenen verletzt. Mit dieser Begründung wird also ein Verteilungsprinzip, die Distribution vorteilhafter beruflicher Positionen und der Bildungschancen, auf ein tiefer liegendes Prinzip zurückgeführt: auf die Forderung nämlich, dass die Verteilung dieser Güter niemandes Selbstachtung beschädigen dürfe, die an den egalitären Status der Person geknüpft ist. Missachtung, nicht die ungleiche Güterverteilung, stellt das eigentliche Unrecht dar. Die ungleiche Verteilung von Bildung verletzt die Selbstachtung der Person, wenn sie durch Gruppenzugehörigkeiten begründet ist. Mit dieser Begründung befinden wir uns aber in bestimmter Hinsicht in Übereinstimmung mit der Grundintention der Theorie der Anerkennung, wie sie prominent von Axel Honneth ausgearbeitet wird. Dieser sieht Unrecht und Ungerechtigkeit ganz allgemein gesprochen immer als Formen der Missachtung an. Der positive Gegenbegriff hierzu sei Anerkennung. Die Frage lautet deshalb in unserem Kontext: Ist Anerkennung ein Schlüsselbegriff sozialer Gerechtigkeit? Das ist zu verneinen. Hier wird ein egalitaristisches Konzept sozialer Gerechtigkeit vertreten. Anerkennung und Gleichheit stehen aber in einem wechselseitig ausschließenden Verhältnis. Daher soll im nächsten Schritt in Auseinandersetzung mit den Grundzügen der Anerkennungstheorie von Honneth der Begriff der Achtung gegen den der Anerkennung trennscharf gemacht werden. 330
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10.3 Anerkennung statt Achtung? Die Theorie der Anerkennung geht anders als der normative Konstruktivismus eines John Rawls nicht von abstrakten moralischen Ideen aus, die als Grundlage einer argumentativen Konstruktion konkreterer Gerechtigkeitsgrundsätze dienen sollen, sondern nimmt ihren Ausgang in der Erfahrung sozialen Leids und Unbehagens. 30 Das ist ihr soziologischer Anspruch: Es muss empirisch erforscht werden, was unterschiedlichen Formen sozialen Leidens als ein Gemeinsames zugrunde liegt. Was ist der normative Kern, der Unrechtserfahrungen als ein moralisch relevantes Leid auszeichnet? Honneths Antwort lautet, dass es sich um »die Enttäuschungen oder Verletzungen von normativen Erwartungen« handele, »die an die Gesellschaft zu richten von den Betroffenen als gerechtfertigt betrachtet wird«. 31 Hier besagt die grundlegende These dieser Theorie, dass alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Missachtung bestimmter Ansprüche der Gesellschaftsmitglieder wurzelt. Das ist keine Tautologie. Es ist – vorläufig formuliert – die Erfahrung des Übergangenwerdens der eigenen Ansprüche auf etwas, die für Honneth das eigentliche moralisch ernst zu nehmende Übel darstellt. Es ist die Missachtung als solche, die die Menschen verletzt. Ein Unrecht oder eine Ungerechtigkeit ist somit immer eine Form der Missachtung einer Person oder einer Personengruppe. Diese erste Definition wird aber nun zu einer kontroversen These gewendet. Die Theorie der Anerkennung gründet in einer Theorie des guten Lebens. In einer ersten Annäherung besagt sie, dass ein Leben nur gelingen kann, wenn es bestimmte Formen der Wertschätzung durch andere erfährt. Der ethische Zielpunkt besteht in der Ausbildung einer intakten personalen Identität, eines gesunden Selbstwertgefühls, das der Wertschätzung anderer bedarf. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Sinngehalt von Missachtung genauer beschreiben: Wenn gemäß dieser ethischen Idee »die Subjekte von der Gesellschaft vor allem die Anerkennung ihrer Identitätsansprüche erwarten«, 32 ist Missachtung mit der Frustration dieser Erwartungshaltung gleichzusetzen. Axel Honneth, »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt/M. 2003, S. 129–224; hier S. 152. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 154 f. 30
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Dem soziologischen Anspruch der Anerkennungstheorie entsprechend geht Honneth in einem ersten Schritt der Frage nach, »worin für Mitglieder der sozialen Unterschichten der Kern ihrer Erfahrungen von Unterdrückung und Unrecht bestand«. 33 Honneth sieht als die eigentliche Ursache des Leidens unterdrückter und an den gesellschaftlichen Rand gedrängter Schichten nicht die materielle Deprivation an, sondern vielmehr das Empfinden »vom Rest der Gesellschaft in einer Lebensform oder in Leistungen nicht anerkannt zu werden, die aus der eigenen Sicht als respektwürdig galten«. 34 Was hier für die proletarischen Unterschichten in kapitalistischen Gesellschaften gegolten habe, wird als ein Erfahrungsmuster allen institutionell verursachten Leids generalisiert: »Die Subjekte nehmen institutionelle Vorgänge dann als soziales Unrecht wahr, wenn sie dadurch Aspekte ihrer Persönlichkeit missachtet sehen, auf deren Anerkennung sie ein Anrecht zu haben glauben.« 35 Oder in der Definition von Unrecht als verweigerter Anerkennung: »Was nach Maßgabe des uns heute zur Verfügung stehenden Wissens von den Betroffenen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit als ›Unrecht‹ betrachtet wird, sind institutionelle Regelungen oder Vorkehrungen, durch die sie sich in ihren als begründet erachteten Ansprüchen auf soziale Anerkennung verletzt sehen müssen.« 36 Nun stellen diese Definitionen eines normativen Begriffs natürlich ein Problem dar, wie die von Honneth mit Bedacht gewählten und hier hervorgehobenen Formulierungen denn auch zeigen. Von der faktischen Feststellung, dass sich Personen sozial missachtet fühlen, kann nicht ohne Weiteres auf das normative Urteil geschlossen werden, dass es sich hierbei um ein begründetes moralisches Gefühl handelt. Denn jedes moralische Gefühl setzt ein moralisches Urteil voraus, das als solches richtig oder falsch sein kann. 37 Sind also die Gefühle des Missachtetseins der Betroffenen berechtigt oder handelt es sich nicht vielmehr um Kränkungen einer anmaßenden Anerkennungserwartung? Um das zu wissen, braucht es einen moralischen Maßstab, an dem sich messen lässt, ob die Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder auf Anerkennung als gerechtfertigt gelten können. 33 34 35 36 37
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Ebd., S. 155. Ebd. (Hervorhebung von mir). Ebd., S. 156 f. (Hervorhebung von mir). Ebd., S. 158 (Hervorhebung von mir). Vgl. Tugendhat, »Was heißt es, moralische Urteile zu begründen?«, a. a. O., S. 97.
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Es ist also allererst normativ zu bestimmen, was gemeint ist, wenn von verweigerter Anerkennung oder Missachtung die Rede ist. Honneths Methode besteht nun aber nicht darin, der gesellschaftlichen Realität »wie von außen« eine Reihe von Prinzipien entgegenzusetzen, die berechtigte Anerkennungserwartungen begründen; »wer derartig verfährt, hat sich nicht hinreichend klargemacht, dass in jeder gesellschaftlichen Realität stets schon Formen der wechselseitigen Anerkennung institutionalisiert sind, an deren internen Defiziten oder Asymmetrien sich ja überhaupt erst eine Art von ›Kampf um Anerkennung‹ entzünden kann.« 38 Daher will Honneth in einem zweiten Schritt die historisch entstandene Anerkennungsordnung moderner kapitalistischer Gesellschaften beschreiben. In einem dritten Schritt dann soll analysiert werden, wie sich in dieser Anerkennungsordnung »soziale Konflikte entzünden können, die im Regelfall auf die moralische Erfahrung einer als unbegründet gehaltenen Missachtung zurückgehen«. 39 Die normative Rechtfertigung von Anerkennungserwartungen soll sich wohlgemerkt in diesem dritten Argumentationsschritt immer der Bezugnahme auf Prinzipien verdanken, »die in den historisch jeweils etablierten Anerkennungsordnungen institutionell verankert sind«. 40 Das Besondere an kapitalistischen Gesellschaftsordnungen erblickt Honneth in der Ausdifferenzierung in drei Sphären, die durch jeweils eine spezifische Form der sozialen Anerkennung charakterisiert seien: Das sind die Sphären der Liebe, des Rechts und der Leistung. In der Sphäre der Liebe entstehen zwei Formen emotional begründeter intimer Beziehungen: das Eltern-Kind-Verhältnis und die zwischengeschlechtliche Liebe. Die »Einstellungen der Fürsorge und Liebe« der Eltern sind zur Ausbildung einer intakten Persönlichkeit notwendig. 41 Die zwischengeschlechtlichen Beziehungen werden »allmählich von ökonomischen und sozialen Verhaltenszwängen freigesetzt« und können erst derart ihre Entstehung der Liebe verdanken. 42 Das in dieser Sphäre die wechselseitige Wertschätzung des anderen regelnde Prinzip bleibt aber bei Honneth entsprechend den beiden unterschiedlichen Beziehungsarten ambivalent. Weil 38 39 40 41 42
Honneth, »Umverteilung als Anerkennung«, a. a. O., S. 161. Ebd. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. A
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Honneth beide Beziehungsformen unter ein Anerkennungsprinzip bringen will, definiert er die Liebe als liebevolle Sorge »um das Wohlergehen des anderen im Hinblick auf seine oder ihre individuelle Bedürfnislage«. 43 Es scheint aber fraglich, ob sich die besondere Wertschätzung einer anderen Person in zwischengeschlechtlichen Beziehungen auf ein Fürsorgeprinzip reduzieren lässt. In der Sphäre des Rechts setzt sich eine Differenzierung zwischen der Anerkennung der sozialen Wertschätzung, des sozialen Rangs einer Person, ihrer »Ehre«, und ihrer Rechte durch. Das moderne Recht spricht – zunächst der Idee nach – jedem Gesellschaftsmitglied den gleichen Status als Staatsbürger zu, während der soziale Rang, den eine Person einnehmen kann, meritokratisiert wird. Das ständische Ehrprinzip wird neben der Idee gleichen Rechts durch das Leistungsprinzip ersetzt: »Nicht mehr die Mitgliedschaft in der Standesgruppe mit den entsprechenden Ehrkodizes soll darüber entscheiden, wie viel Wertschätzung ein Individuum innerhalb der Gesellschaft legitimerweise verdient, sondern die persönlich erbrachte Leistung im Gefüge der industriell organisierten Arbeitsteilung.« 44 Durch die Etablierung dreier zu unterscheidender Sphären der Anerkennung lerne das Subjekt »sich auf sich selbst in drei verschiedenen Einstellungen zu beziehen«: In Intimbeziehungen lerne es sich als Individuum mit einer eigenen Bedürftigkeit zu begreifen, in Rechtsbeziehungen, die gemäß dem Gleichheitsgrundsatz durch strikte Reziprozität des Rechtszwangs gekennzeichnet sind, lerne es sich als autonome Person zu begreifen. In der Sphäre des Leistungsprinzips schließlich, in der es »zur Konkurrenz um beruflichen Status kommt«, können sich die Gesellschaftsmitglieder »im Prinzip als Subjekte begreifen lernen, die Fähigkeiten und Talente besitzen, die von Wert für die Gesellschaft sind«. 45 Durch den von Honneth beschriebenen historischen Prozess der Ausdifferenzierung dreier Sphären der sozialen Wertschätzung sind also die Prinzipien entstanden, die festlegen, in welchen Hinsichten die Subjekte die Anerkennung bestimmter Aspekte ihrer Persönlichkeit von anderen erwarten dürfen. Von einer Normativität dieser drei in ihrer historischen Genese beschriebenen Prinzipien lässt sich zunächst nur deswegen reden, weil die unterschiedlichen Hinsichten 43 44 45
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Ebd. Ebd., S. 166. Honneth, »Umverteilung als Anerkennung«, a. a. O., S. 168.
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der Anerkennung einen »Geltungsüberhang« besitzen, wie Honneth das nennt. Es komme nämlich nun innerhalb der Sphären zu sozialen Konflikten, zu »Kämpfen um Anerkennung«, die die richtige und das meint die unparteiische Auslegung des jeweiligen Anerkennungsprinzips zum Gegenstand haben. Stets hätten diese Kämpfe die Form, dass sich Subjekte in der Weise missachtet fühlten, dass ihnen Anerkennung gemäß der bereits geltenden Anerkennungsprinzipien verweigert würden. 46 Missachtung bedeutet somit, Opfer einer willkürlichen Anwendung und das meint der willkürlichen Außerkraftsetzung eines der drei Legitimationsprinzipien zu werden. 47 Dürfen die Subjekte also legitimer Weise verlangen, dass sie als gleiche Staatsbürger und in ihren Leistungen in der Sphäre des Marktes anerkannt werden? Das ist klarerweise zu verneinen, wie an einem Beispiel verdeutlicht sei. Mit der Freisetzung der Liebe von ökonomischen und sozialen Zwängen wird es im Prinzip jeder Person rechtlich möglich, den Partner ihrer Wahl zu heiraten. Die Ehe kann man dabei als eine Institution auffassen, die die jeweilige Lebensgemeinschaft rechtlich schützt und mit bestimmten Privilegien ausstattet. Gleichwohl wird dieses egalitäre Recht über Jahrhunderte hinweg gleichgeschlechtlichen Paaren vorenthalten. Dass aber nur heterosexuelle Paare heiraten dürften, ist ein Prinzip, das dem in der Sphäre des Rechts geltenden Gleichheitsgrundsatz widerspricht. Es ist diese widersprüchliche Anwendung einer universellen Regel, die Honneth als einen Geltungsüberhang bezeichnet. Nun gibt es aber zwei Möglichkeiten, oder anders formuliert, zwei Richtungen, diesen logischen Widerspruch aufzulösen: die egalitäre und die antiegalitäre Konsistenz. Soll der Grundsatz der Rechtsgleichheit gelten, müssen zwingend auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen. Sie hätten in diesem Fall einen gerechtfertigten Grund, sich in ihren Rechtsansprüchen und das heißt als Bürger zweiter Klasse missachtet zu fühlen. Es könnte aber mit gleichem Recht der Fall sein, dass die heterosexuelle Mehrheit die Institution der Ehe beschmutzt und entwürdigt sähe, sollten homosexuelle Paare heiraten dürfen. Die heterosexuelle Mehrheit wird also, wenn sie so denkt und empfindet, in dieser Angelegenheit den Gleichheitsgrundsatz außer Kraft setzen. Sie wird vielleicht nicht nur in dieser Angelegenheit so handeln, sondern sich veranlasst se46 47
Ebd., S. 177 ff. Ebd., S. 183. A
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hen, den Gleichheitsgrundsatz überhaupt in Zweifel zu ziehen. Das ist ein logisch völlig konsistentes Verhalten: Die gleichgeschlechtlichen Paare hätten in diesem Fall keinen gerechtfertigten Grund sich missachtet zu fühlen. Die Rede von einem »Geltungsüberhang« bezeichnet eine rein formale Gerechtigkeit: Regeln, gleichgültig welchen Inhalts, sind unparteiisch anzuwenden. Der Kampf um Anerkennung führt also auf dieser Ebene der Argumentation in die Aporie. Soll es sich bei der Theorie der Anerkennung um eine moralphilosophische und nicht nur um eine historisch-soziologische Theorie handeln, muss Honneth in einem vierten Schritt die normative Gültigkeit der drei Anerkennungsprinzipien über das historisch kontingente Faktum ihrer Genese hinaus begründen. Honneth betrachtet die Ausdifferenzierung der drei Sphären der Anerkennung als einen geschichtlichen Fortschritt. 48 Damit ist endgültig die Ebene der Beschreibung verlassen: Geschichte wird an einem normativen Maßstab gemessen, der nun seinerseits nicht mehr historisch erklärt werden kann. Honneth beschreibt das »Ziel einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie« auf folgende Weise: »es sollen nicht einfach normative Prinzipien, die wir als solche für wohlbegründet halten, auf eine gegebene Sozialordnung angewendet werden, um so zu Urteilen über moralisch gerechtfertigte Korrekturen oder Verbesserungen zu gelangen; vielmehr muss die gesellschaftliche Wirklichkeit ihrerseits schon so beschrieben werden, dass deutlich wird, inwiefern die für gerechtfertigt gehaltenen Normen oder Prinzipien darin bereits zu sozialer Geltung haben gelangen können.« 49 Honneth »versteckt« seine normativen Prinzipien, die er braucht, um eine gegebene Sozialordnung kritisch beurteilen zu können, in seiner Geschichtsphilosophie: Die Geschichte drängt auf ein Telos hin, auf die durch »moralische Einsichten« 50 (!) in Gang gebrachte Entwicklung eines bestimmten Verständnisses des Personseins. Soll diese Entwicklung aber affirmativ beschrieben werden, dann ist Rechenschaft abzulegen über dieses Menschenbild, dessen normative
Ebd., S. 203. ff. Axel Honneth, »Die Pointe der Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung, a. a. O., S. 271–305; hier S. 295. 50 Ebd. 48 49
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Gültigkeit niemals durch die Beschreibung einer sozialen Wirklichkeit oder eines historischen Prozesses erwiesen werden kann! Den Maßstab der Sozialkritik sieht denn Honneth auch der Grundintention seiner Theorie entsprechend in einer bestimmten Theorie des guten Lebens begründet. Mit der institutionellen Ausdifferenzierung der Anerkennungssphären steige für das Subjekt die Chance einer Zunahme von Individualität, »wenn darunter die Möglichkeit verstanden wird, sich der Einzigartigkeit der eigenen Persönlichkeit unter sozialer Zustimmung in wachsendem Maße zu versichern«. 51 Von einem historischen Fortschritt lässt sich reden, weil die Unterscheidung dreier Kontexte der sozialen Wertschätzung der Person einen höheren Grad an Individualität ermögliche und sozial inkludierend wirke. 52 Nur wer in den drei Sphären der Anerkennung die jeweils angemessene soziale Wertschätzung erfahre, könne auch selbst das Bewusstsein seines eigenen Wertes erlangen, findet also zu einer intakten Identität. Aus dieser abstrakten Konzeption des guten Lebens wird nun ein Gerechtigkeitsmaßstab abgeleitet: »die Gerechtigkeit oder das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstatten gehen kann.« 53 Das ist ein konsequentialistischer normativer Maßstab. Um ihn zu würdigen, betrachten wir die Sphäre der Leistung, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist. Trägt die Anerkennungstheorie dazu bei, einen kritischen Maßstab der Leistung zu explizieren, aus dem sich konkretere Forderungen sozialer Gerechtigkeit ergäben als der genannte abstrakte Gerechtigkeitsmaßstab? Auch hier in der Sphäre der meritokratischen Wertschätzung entdeckt Honneth seiner Methode entsprechend zunächst einen Geltungsüberhang. Das Leistungsprinzip verlange, allgemein gesprochen, »die tätigen Beiträge aller Gesellschaftsmitglieder gemäß ihrer Leistung angemessen wertzuschätzen.« 54 Umverteilungskämpfe im Kapitalismus besäßen typischerweise die Form, »dass soziale Gruppen in Reaktion auf die erfahrene Missachtung ihrer tatsächlichen Leistungen versuchen, die 51 52 53 54
Honneth, »Umverteilung als Anerkennung«, a. a. O., S. 169. Ebd., S. 218. Ebd., S. 206. Ebd., S. 175. A
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etablierten Bewertungsmuster in Frage zu stellen, indem sie für eine höhere Wertschätzung ihrer gesellschaftlichen Beiträge kämpfen und damit eine ökonomische Umverteilung erzwingen wollen.« 55 Für den Beleg dieser These eigne sich »am klarsten« (es wird kein zweites Beispiel genannt) der feministische Kampf um die soziale Aufwertung der »weiblichen« Hausarbeit. Auch hier entwickelt sich ein »Kampf um Anerkennung« und das meint die Forderung nach der unparteiischen Anwendung des geltenden Leistungsprinzips: Wenn Kinderaufzucht Leistung ist, gehört sie entlohnt. An dieser Stelle ist aber auf einen bedeutsamen Unterschied zwischen der Forderung nach Anerkennung von Familienarbeit, die Axel Honneth skizziert, und der Begründung dieser Forderung durch Angelika Krebs aufmerksam zu machen. 56 Nach Krebs ist die verweigerte Anerkennung dieser Tätigkeit ungerecht, nach Honneth ist sie schlecht. Im ersten Fall verstößt die verweigerte Anerkennung gegen ein Gerechtigkeitsprinzip, das Tauschprinzip nämlich, welches besagt, dass in Kooperationsbeziehungen alle Teilnehmer durch ihre Beiträge einen Anspruch auf faire Gegenleistungen haben. In dieser Argumentation ist also nicht die Forderung nach Anerkennung, sondern die Idee der Statusgleichheit der Kooperationsteilnehmer das tiefer liegende Prinzip, das allererst festlegt, wie sich die Forderung nach Anerkennung von Leistung begründet. Das ist etwas ganz anderes als die von Honneth beschworene formale Gerechtigkeit, die nur die unparteiische Anwendung einer faktisch geltenden Gerechtigkeitsnorm verlangt. Mit Rawls gesprochen: die Idee der Statusgleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft begründet, warum wir bestimmte Tätigkeiten von Mitbürgern als Kooperationsbeiträge werten müssen, für die sie eine faire Gegenleistung verdient haben. Daran kann aber Honneth nicht interessiert sein. 57 Seinem vierten Argumentationsschritt zufolge ist die verweigerte Anerkennung moralisch falsch, weil sie schlechte Konsequenzen hat: Die verweigerte Anerkennung der Leistung von Kinderaufzucht muss bei den Betroffenen – in den meisten Fällen bei den Frauen also – zu einer beschädigten Identität führen, zu einem Leiden an einem Mangel an sozialer Wertschätzung. Dabei muss jedoch völlig offen bleiben, wie Ebd., S. 183. Vgl. dazu ausführlich und kritisch Kap. 9 dieser Arbeit. 57 Honneths Versuch, Krebs’ Buch Arbeit und Liebe seiner Anerkennungstheorie zu vereinnahmen, ist daher zurückzuweisen: Vgl. Honneth, »Pointe der Anerkennung«, a. a. O., S. 303. 55 56
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diesem Leiden von Seiten der Gesellschaft zu begegnen ist. Warum muss die Anerkennung eine monetäre Form annehmen? Honneth stellt diesen Zusammenhang zwar nirgends her, weil er sich ganz auf den Aufweis eines Geltungsüberhangs konzentriert und dabei die Frage außer Acht lässt, wie sich die Anwendung des Leistungsprinzips über die Forderung nach einer unparteiischen Anwendung dieses Prinzips hinaus begründen lässt. Vor dem Hintergrund seines abstrakten Gerechtigkeitsprinzips kann es aber allein die Auswirkung verweigerter Anerkennung auf das Lebensglück sein, die im Letzten Forderungen nach Anerkennung begründet. 58 Um aber zu zeigen, inwiefern Formen verweigerter Anerkennung ein gerechtfertigtes moralisches Leiden auslösen, muss Honneth die Konzeption der Person, die seiner Anerkennungstheorie zugrunde liegt, genauer explizieren. Weiterführend für die Begründung von Anerkennungsforderungen mag das Kapitel über drei »Muster intersubjektiver Anerkennung« in seinem Buch Kampf um Anerkennung sein. Honneth legt dort in einer wesentlich ausführlicheren Art und Weise drei unterschiedliche Muster der Anerkennung, der Liebe, des Rechts und der Solidarität, seinem Verständnis von Missachtung zugrunde. In der (zwischengeschlechtlichen) Liebe erfährt das Subjekt sicherlich die höchste Form der Wertschätzung seiner Persönlichkeit; dies allein schon deswegen, weil die Liebe ein höchstes Maß an Zuneigung und Sympathie darstellt. Sie richtet sich – ohne in unserem Kontext in die Tiefe gehen zu müssen – auf solche Eigenschaften der Person, die sie in den Augen eines anderen einzigartig erscheinen lassen. Die Liebe ist daher für das Selbstwertgefühl eines Menschen in einer unvergleichlichen Art und Weise bedeutsam. 59 Anders als die partikulare Wertschätzung der Liebe ist die Anerkennungsform des modernen Rechts universalistisch. Sie ist es deswegen, weil sich die »Anerkennung« des Rechts einer Person auf Eigenschaften bezieht, die diese unterschiedslos als ein Mensch auszeichnet. Honneth sieht das die Rechtssubjektivität auszeichnenDarauf macht auch Nancy Fraser aufmerksam. Jede Forderung nach Anerkennung sei bei Honneth teleologisch zu rechtfertigen: als ein Mittel zum Zweck des guten Lebens: Nancy Fraser, »Anerkennung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Eine Erwiderung auf Axel Honneth«, in: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung, a. a. O., S. 259. 59 Das gilt für die Eltern-Kind Liebe und die zwischengeschlechtliche Liebe, bei allen Unterschieden. 58
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de Merkmal in der moralischen Zurechnungsfähigkeit der Person begründet. Es ist das Besondere des modernen Rechtsverständnisses, das seine Legitimitätsbedingung an das Kriterium der Zustimmungsfähigkeit gebunden ist. 60 Die rechtsunterworfenen Subjekte müssen aus der freien Einsicht in die (rechts-)moralische Richtigkeit die Gesetze eines Staates befolgen können und das meint, dass sie gegenüber jedem Individuum begründet werden können müssen. Nur so kann es die Allgemeinverbindlichkeit des Rechts anerkennen. Die Legitimitätsbedingung des modernen Rechts setzt also – wie Honneth richtig folgert – die moralische Einsichtsfähigkeit des Subjekts voraus. Wenn aber alle mit Gesetzesverbindlichkeit ausgestatteten gesellschaftlichen Regelungen so beschaffen sein müssen, dass kein Gesellschaftsmitglied einen gerechtfertigten Grund hat, das Gesetz zurückzuweisen, dann liegt in der moralischen Einsichtsfähigkeit der gleiche Status aller Gesellschaftsmitglieder begründet. Jede Verletzung des Rechts einer Person oder Personengruppe ist daher – formal gesprochen – eine Missachtung des egalitären Status’ der Betroffenen und beschädigt deren Selbstachtung. Ins Positive gewendet bedeutet Anerkennung im Kontext des Rechts »die Fähigkeit der autonomen Urteilsbildung« zu achten. 61 Ein Subjekt könne sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung »als eine Person betrachten […], die mit allen anderen Gesellschaftsmitgliedern seines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen; und die Fähigkeit, sich in derartiger Weise positiv auf sich selber zu beziehen, können wir ›Selbstachtung‹ nennen.« 62 In einer weiten Analogie zur Sphäre der Liebe, aber im Unterschied zum Recht, begründet die Leistung in der Sphäre des Marktes eine partikulare Wertschätzung. Durch die Individualisierung der Wertschätzung der Leistungen der Person (im Unterschied zur Wertschätzung der vormodernen ständischen Ehre) erfährt das Subjekt eine Anerkennung partikularer Eigenschaften, seiner besonderen Fähigkeiten, die es von anderen unterscheiden. Diese Unterscheidung dreier Formen der Anerkennung verspricht nun eine genauere Analyse dessen, was es heißt Personen Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 2003, S. 184. 61 Ebd., S. 192. 62 Ebd., S. 195. 60
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die Anerkennung zu verweigern. Dabei wollen wir uns auf die Anerkennung im Bereich des Rechts und der Leistung beschränken. 63 Dabei ist die Bedeutung verweigerter Anerkennung im Kontext des Rechts bereits deutlich geworden. Den Rechtsstatus einer Person als eines vollwertigen Gesellschaftsmitglieds zu missachten, heißt für Honneth ihre moralische Zurechnungsfähigkeit zu leugnen. »Das Besondere an solchen Formen der Missachtung, wie sie in der Entrechtung oder dem gewaltsamen Ausschluss vorliegen, stellt daher nicht die gewaltsame Einschränkung der persönlichen Autonomie allein dar, sondern deren Verknüpfung mit dem Gefühl, nicht den Status eines vollwertigen, moralisch gleichberechtigten Interaktionspartners zu besitzen […]; insofern geht mit der Erfahrung der Entrechtung typischerweise auch ein Verlust an Selbstachtung, der Fähigkeit also, sich auf sich selbst als gleichberechtigter Interaktionspartner aller Mitmenschen zu beziehen, einher.« 64 Dieses sehr allgemeine Verständnis von Missachtung im Kontext des Rechts ist ersichtlich einer diskurstheoretischen Auffassung von Recht geschuldet. Die Verweigerung der Anerkennung von Leistung hingegen habe für die Betroffene einen Verlust an persönlicher Wertschätzung zur Folge, der »Chance also, sich selber als ein in seinen charakteristischen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können.« 65 Was das bedeutet, welche Leistungen aus welchem Grund keine soziale Anerkennung erfahren, deutet Honneth an: Bestimmte individuelle oder kollektive Lebensweisen werden von der Gesellschaft »als minderwertig oder mangelhaft herabgestuft«, was den Betroffenen die Möglichkeit raube, ihren eigenen Fähigkeiten und Lebenszielen einen Wert beizumessen. 66 Nach Honneth ist das Subjekt ganz allgemein auf die kulturelle Wertschätzung seiner je besonderen Art und Weise der Selbstverwirklichung angewiesen. »Die evaluative Degradierung von bestimmten Mustern der SelbstHonneth untergliedert die Liebe in nicht hinreichender Weise in die zwischengeschlechtliche und die Eltern-Kind-Liebe. Daher bleibt völlig im Dunkeln, was hier unter verweigerter Anerkennung zu verstehen ist. Honneth ordnet in Kampf um Anerkennung die Missachtungsmuster der Folter und Vergewaltigung der Sphäre der Liebe zu, aber diese Formen der physischen Beschädigung von Personen gehören ganz sicher in den Bereich des Rechts. 64 Honneth, Kampf um Anerkennung, a. a. O., S. 216. 65 Ebd., S. 217. 66 Ebd. 63
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verwirklichung hat für deren Träger zur Folge, dass sie sich auf ihren Lebensvollzug nicht als auf etwas beziehen können, dem innerhalb ihres Gemeinwesens eine positive Bedeutung zukommt; für den Einzelnen geht daher mit der Erfahrung einer sozialen Entwertung typischerweise auch ein Verlust an persönlicher Selbstschätzung einher, der Chance also, sich selber als ein in seinen charakteristischen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können.« 67 Nun hat diese knappe Skizze von Honneths Unterscheidung dreier Formen der Anerkennung und mitfolgend dreier Formen der Missachtung (!) hinlänglich deutlich werden lassen, dass hier eine tiefe begriffliche Unklarheit herrscht. Die Grundintuition von Honneth lautet, dass der Mensch als ein soziales Wesen auf die Wertschätzung anderer angewiesen ist, ohne die er kein glückliches Leben führen kann. Eine Gesellschaft, die einem Teil der Bürger die Anerkennung ihres Wertes verweigert, muss kritisiert werden. Alle Gesellschaftsmitglieder sind entlang der jeweiligen Anerkennungsformen zu integrieren. Die entscheidende Frage lautet daher: Auf welche Muster der Anerkennung haben die Gesellschaftsmitglieder ein Recht? Zwar kann Honneth sagen, dass zur Ausbildung einer intakten Identität das Subjekt auf die drei Muster der sozialen Wertschätzung angewiesen bleibt. Sollen aber aus diesem Zusammenhang von personaler Integrität und Identität und sozialer Anerkennung moralische Folgerungen gezogen werden können, die begründen, dass Personen auf bestimmte Formen der Anerkennung ein Recht haben, muss die Verweigerung von Anerkennung ein moralisch relevantes Übel darstellen. Genau an diesem Punkt aber versagt die Theorie, und zwar deswegen, weil sie eine Theorie der Anerkennung ist. Darunter versteht Honneth einen Gattungsbegriff, der verschiedene Formen der Wertschätzung umfasst. 68 Mit »Wertschätzung« seien dabei vorläufig verschiedene Arten und Weisen der Anerkennung des »Werts« einer Person bezeichnet. In dieser Definition bleibt offen, um was für eine Art Wert der Person es sich handelt; entscheidend ist allein die Bestätigung dieses Werts durch andere. Unter dem Blickwinkel der Selbstverwirklichung der Person, der ethischen Perspektive, erscheint eine solche Gattungsbezeichnung Ebd. Vgl dazu Honneths Nachwort in der dritten Ausgabe von Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M 2003. 67 68
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der drei genannten Formen der Wertschätzung durchaus als sinnvoll. Es hat sehr viel Plausibilität an sich, ein gutes Leben als ein sozial integriertes zu beschreiben. In dieser Wertungshinsicht kann man sagen, dass ein menschliches Leben kein glückliches sein kann, wenn der Person keine Liebe und Zuneigung zuteil wird, wenn sie eine sozial untergeordnete Stellung einnehmen muss und ihr Leben nicht aus eigenen Einsichten gestalten kann und wenn sie sich nicht als Trägerin von Talenten und Fähigkeiten weiß, die von anderen geschätzt und bewundert werden. Es ist aber falsch, diese drei Formen der Wertschätzung unterschiedslos als Arten der Gattung »Anerkennung« zu begreifen, wenn darunter ein moralischer Begriff verstanden wird, wenn es sich also um eine deontologische Kategorie handeln soll, die Personen oder Institutionen zu einem bestimmten Handeln verpflichtet. Nicht alle drei Formen der Wertschätzung sind verpflichtender Natur. Das ist offensichtlich, wenn wir von der Liebe reden. Die zwischengeschlechtliche Liebe ist nicht moralischen Ursprungs, weder in der Perspektive des liebenden, noch in der Perspektive des geliebten Subjekts. Dass sie das nicht ist, macht die Liebe aus ethischer Perspektive ja gerade so bedeutsam! Margalit sieht in der Liebe etwas Paradoxes: Einerseits wolle der Liebende die geliebte Person für sich vereinnahmen, erstrebe also gewissermaßen die Kontrolle über die Zuneigung der anderen Person; andererseits aber kann nur Liebe »aus freien Stücken« als eine solche gelten. Daher kann er auch keine absolute Kontrolle über die geliebte Person wollen. 69 Wichtig ist aber vor allem, dass eine Verpflichtung zur Liebe auch aus der Perspektive des geliebten Subjekts unsinnig wäre. Obwohl also die Liebe Bestandteil eines guten Lebens ist, kann niemand vernünftigerweise einen Anspruch auf geliebt Werden geltend machen. Deswegen ist im Kontext der zwischengeschlechtlichen Liebe die verweigerte Anerkennung nicht als eine Kränkung, schon gar nicht als eine Missachtung, als eine Herabwürdigung des Werts der Person zu verstehen, obwohl doch das Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung womöglich ein allgemeinmenschliches ist. Ebenso ist Leistung kein Begriff, der per se einen moralischen Gehalt hätte. Wir können z. B. von den Zeitgenossen Kleists oder van Goghs sagen, dass sie aufgrund ihrer ästhetischen Beschränkung kein Verständnis für den außerordentlichen Wert der Werke beider 69
Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 156 f. A
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hatten, aber das kann nicht in einem moralischen Sinne gemeint sein. Auch die Anerkennung einer herausragenden Fähigkeit oder eines Talents ist somit nicht moralischen Ursprungs und auch hier gilt: Genau das macht die Anerkennung einer Leistung ethisch so bedeutsam. Sie richtet sich auf die Partikularität des Subjekts. Allgemein gesprochen lässt sich vielleicht sagen, dass einem solchen Handeln Anerkennung gezollt wird, dessen Handlungsvermögen nicht umstandslos substituierbar ist. Mit dem Grad der Unmöglichkeit, eine bestimmte Fähigkeit einer Person durch die einer anderen zu ersetzen, steigt das Maß der zuteil gewordenen Anerkennung und damit für den Träger dieser Fähigkeit der Wert der Anerkennung. 70 Zusammenfassend lässt sich also sagen: Im Kontext der Liebe und der Leistung erstreben wir auch die Bestätigung unserer Einzigartigkeit, unserer Individualität. Diese Bestätigung bezeichnen wir als Anerkennung. Das ist aber kein moralischer Begriff. Wäre er es, würde die Wertschätzung als eine Anerkennung der Partikularität der Person entwertet. So verstanden richtet sich die Anerkennung immer auf das Besondere des Subjekts, auf sein Anderssein. Es ist aber unzulässig, Anerkennung als einen Gattungsbegriff zu fassen, wenn ihm ein moralischer Sinn verliehen wird. Anerkennung kann in dieser Hinsicht kein Gattungsbegriff zu Liebe, Recht und Leistung sein, weil derart sowohl moralische als auch nichtmoralische Formen der Wertschätzung von Personen unter einen moralischen Begriff subsumiert werden. Im Recht sind es ja, wie Honneth detailliert beschreibt, nicht die partikularen Eigenschaften von Subjekten, denen wir Anerkennung zuteil werden lassen, sondern gerade solche Eigenschaften, die ihre Gleichrangigkeit mit anderen Menschen als Menschen (oder als Staatsbürger) auszeichnen. Deswegen muss hier philosophisch von Achtung, nicht von Anerkennung die Rede sein. 71 Achtung wird daher immer dem gleichen Status einer Person geschuldet, ihrer gleichen Würde. Daraus folgt nun, Selbstverständlich handelt es sich hier nur um eine, und nicht die ganze Wertungshinsicht, warum wir etwas leisten. Jemanden, der die intrinsische Qualität des Erwerbs und der Anwendung einer bestimmten Fähigkeit nicht wertzuschätzen weiß, sondern allein deren soziale Anerkennung erstrebt, bezeichnet man als eitel. 71 Anerkennung hat einen »aktiven« soll heißen, einen Wert zuschreibenden Sinngehalt. Ein anerkannter Wert ist in dieser Bedeutung ein verliehener Wert. Im Kontext der Rede von generellen Rechten hat aber die Person einen absoluten Wert, gleichgültig, ob andere diesen Wert als solchen achten oder gar anerkennen. Gerade für diesen Fall legitimiert das Recht ja auch eine zu erzwingende Achtung. 70
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Anerkennung statt Achtung?
dass es keinen normativen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Anerkennung geben kann, derart, dass Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit umweglos in Forderungen nach Anerkennung gegründet werden könnten. Niemand hat das Recht in seiner Partikularität und Besonderheit wertgeschätzt zu werden. 72 Honneth könnte darauf erwidern, dass es ihm in seinem Konzept von Anerkennung vor allem um den moralischen Charakter partikularer Beziehungen im Kontext der Liebe und der Leistung gehe. Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens wäre dann nicht mehr klar, inwiefern die Anerkennungstheorie in einer Idee des guten Lebens wurzelt. Und zweitens müsste Honneth dann die egalitären Prinzipien explizieren, die es erlauben, verweigerte Anerkennung als Formen der Missachtung, der Herabwürdigung oder der Ungerechtigkeit zu bezeichnen. Das hat er, was die Sphäre der Leistung betrifft – und die allein interessiert uns hier – unterlassen. Aus dieser Begriffsverwirrung hilft nur die strenge Unterscheidung zwischen Anerkennung und Achtung. Achtung ist ein normativer Begriff, der immer die Gleichrangigkeit von Menschen zu seinem Gegenstand hat. In Auseinandersetzung mit Avishai Margalits Buch »Politik der Würde« soll daher im Folgenden der Zusammenhang von Würde und Statusgleichheit deutlich gemacht werden, den wir unserer Konzeption sozialer Gerechtigkeit zugrunde legen wollen. 73 Das unterstreicht auch Honneth, wenn es um den Gleichheitsgedanken in der Sphäre des Rechts geht. In seiner Auseinandersetzung mit Nancy Fraser weist Honneth Forderungen nach Anerkennung kultureller Differenzen sehr entschieden und überzeugend zurück: Minoritäre Gemeinschaftskulturen hätten ein Recht darauf, mit gleichem Respekt behandelt zu werden wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch. Ein Anspruch aber auf die Wertschätzung einer anderen Kultur um ihrer selbst willen als etwas Wertvolles sei ein unsinnige Forderung, »weil es nur nach Maßgabe evaluativer Überprüfung spontan oder freiwillig« geschehen könne. Honneth, »Umverteilung als Anerkennung«, a. a. O., S. 199. 73 In der Diskussion mit Honneth vertritt Nancy Fraser eine, wie sie das nennt, zweidimensionale Gesellschaftsstheorie: Sie möchte Forderungen nach »Umverteilung« und solche nach »Anerkennung« in einem »Perspektivendualismus« vereinen. In der Sphäre der Ökonomie ist es die Benachteiligung durch Klassenzugehörigkeit, die Gegenstand der distributiven Gerechtigkeit ist. Forderungen nach Anerkennung richten sich hingegen an die kulturellen Werteschemata einer Gesellschaft. Ungerechtigkeit ist somit ökonomischer, verweigerte Anerkennung kultureller Natur. Beide Perspektiven sind aber immer gleichzeitig zu berücksichtigen; eine ökonomische Benachteiligung kann auch kulturelle Ursachen haben und ein Mitglied einer privilegierten Klasse kann gleichwohl in der Kultur seiner Gesellschaft diskriminiert werden: Nancy Fraser, »Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und 72
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10.4 Würde und Gleichheit Avishai Margalit beschreibt das Ideal einer Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen, die von ihnen abhängig sind, nicht demütigen: die anständige Gesellschaft. 74 Unter Demütigung versteht er das rationale, also begründete Gefühl der Verletzung der Selbstachtung von Seiten eines anderen. Die Idee einer anständigen Gesellschaft beruht daher auf einer Explikation dessen, was unter Demütigung zu verstehen ist. Margalits Grundgedanke lautet, dass in einem Akt der Demütigung dem Opfer der Status als eines vollwertigen Menschen abgesprochen werde. Demütigung sei der Ausschluss einer Person oder Personengruppe aus der Menschengemeinschaft. Mit dieser Definition aber sieht sich Margalit vor ein Problem gestellt. Unter Demütigung versteht er kein psychologisches Phänomen, sondern einen normativen Begriff. Das Gefühl des Gedemütigtseins reicht nicht hin, um von einer Demütigung zu sprechen. Gefühle, wenn sie, wie Charles Taylor das nennt, bedeutungszuschreibend sind, bewerten eine Situation. Der Groll, die Furcht, die Eifersucht z. B. interpretieren eine Handlungssituation in einer bestimmten Weise, die ein angemessenes Reaktionsmuster nahe legt. Gefühle können daher richtig oder falsch, begründet oder unbegründet sein. Irrationale Gefühle verlangen nach einem der Situation nicht angemessenen Reaktionsmuster; sie müssen von einer reflexiven Beurteilungsebene als in einer falschen Weise handlungsleitend Beteiligung«, in: dies./Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung, a. a. O., S. 13– 128. In unserem Zusammenhang ist Frasers Theorie nicht interessant. Sie versteht unter Anerkennung ein Statusmodell, das die »partizipatorische Parität« aller Bürger einklagt. Was sie also als »Anerkennung« versteht, wird hier im Folgenden als »Achtung« bezeichnet. Unter »Achtung« versteht Fraser hingegen das, was man doch mit dem Begriff der Anerkennung benennt: die Wertschätzung der Besonderheit eines anderen. Wie auch immer, durch ihre Unterscheidung zwischen Klasse (Ökonomie) und Anerkennung (Kultur) widerspricht sie einem hier vertretenen Grundgedanken, dass nämlich die gravierenden ökonomischen Benachteiligungen solche des ungleichen Status, der Machtlosigkeit und Unterdrückung sind. Zum Zweiten möchte sie ihr Anerkennungsmodell nicht »psychologisch« verstanden wissen (Ebd., S. 48). Dadurch aber ist ihr Anerkennungsmodell normativ blind gegenüber berechtigten Erfahrungen der Demütigung und Entwürdigung. Zum Dritten schließlich bleibt ihre Konzeption partizipatorischer Parität abstrakt, soll heißen: diskursethisch substanzlos. Die »faire demokratische Beratschlagung« soll bestimmen, »wie berechtigt die jeweiligen Ansprüche auf Anerkennung sind« (Ebd., S. 64). Alle drei Grundgedanken Frasers werden hier nicht geteilt. 74 Vgl. die Definition in: Margalit »Menschenwürdige Gleichheit«, a. a. O., S. 107.
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Würde und Gleichheit
zurückgewiesen werden. Gefühle, wenn sie in einer richtigen, angemessenen Weise handlungsleitend sein sollen, müssen immer als das Ergebnis eines praktischen Urteils verstanden werden, und nicht umgekehrt. Wenn also Demütigung darin besteht, einem Menschen sein Menschsein abzusprechen, wieso kann dann das Opfer einen triftigen Grund haben, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen? Wenn z. B. ein Verbrecher mit seinen Delikten konfrontiert wird und er sich so gezwungen sieht, sein Handeln aus der Perspektive anderer zu beurteilen, wird er sich, sofern er nicht völlig gewissenlos ist, für seine Taten schämen. Das beschädigt die Selbstachtung. Der Verbrecher will nicht die Person sein, die für die Tat verantwortlich ist. Nun ist aber die Leugnung des Menschseins eines Menschen eine Form der Lüge; sie entbehrt als das Resultat von Ressentiment, Hass und Niedertracht jeden rationalen Grundes. Warum sollte sich das Opfer die Perspektive der anderen zu eigen machen, da es doch besser weiß, dass es kein Mensch zweiter Klasse oder eine subhumane Lebensform ist? Wie kann es also einen rationalen Grund haben, sich gedemütigt zu fühlen? Demütigung scheint ein paradoxes Phänomen zu sein. 75 Margalits Antwort lautet, dass dem Gedemütigten nichts anderes übrig bleibt. Zur Demütigung zählt nicht nur das Urteil, dass ein Mensch keinen zu achtenden Wert habe, sondern auch eine Freiheitseinschränkung. Das hängt wiederum mit der Auffassung des Menschen als einer zum rationalen Handeln fähigen Person zusammen. Der Mensch wird nicht einfach durch Triebe und Gefühle zum Handeln veranlasst, sondern durch praktische Überlegung, durch die er die Kontrolle über seine handlungswirksamen Gefühle ausüben kann. Diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle, zur Autonomie ist für Margalit ein Wesensmerkmal des Menschen. Demütigung besteht Margalit zufolge nun darin, einen Menschen dieser Fähigkeit zu berauben, indem ihm die Möglichkeit genommen wird, aus eigenen Entscheidungen zu handeln. Dabei muss der Akt der Demütigung nicht als aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt gedacht werden, dem demütigenden Urteil und der Freiheitsbegrenzung. Die Freiheitsbeschränkung als solche stellt bereits einen Akt der Demütigung dar: »Jemanden die Fähigkeit zur Freiheit abzusprechen heißt, sein Menschsein zu leugnen.« 76 75 76
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Freilich ist diese Definition von Demütigung noch zu allgemein. Unter Demütigung versteht Margalit ein ganz bestimmtes asymmetrisches Machtverhältnis. Unter Macht sei hier jede Chance verstanden, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«. 77 Aber auch das ist noch keine hinreichende Definition einer Demütigung, sonst wäre jede Hierarchie als eine Form einseitiger Machtausübung demütigend. Demütigung kann somit nicht einfach darin bestehen, die Handlungsfreiheit einer Person zu behindern und ihr so die Möglichkeit zu rauben, nach eigenem Willen zu handeln. Vielmehr stelle erst eine solche Machtausübung einen Akt der Demütigung dar, der Menschen an Entscheidungen hindert, »die ihre vitalen Interessen betreffen«. 78 Demütigung bezeichnet in der Perspektive des Opfers die Erfahrung des Verlusts der Kontrolle über die eigene Existenz. Sie stellt somit eine extreme Form der sozialen Ungleichheit dar. Ganz allgemein formuliert: Die Existenz einer Person A hängt vom Willen einer anderen Person B ab. Hier ist zunächst von einer vorsätzlichen Demütigung zu reden, als einer Form nackter Gewalt, zu denken ist etwa an Geiselnahmen und die Vorführung der Opfer in Todesbedrohung in sogenannten Videobotschaften. Das Gefühl des Gedemütigtseins besteht hier in dem Gefühl des totalen Ausgeliefertseins. Margalit sieht im Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit, der Unfähigkeit, für die eigenen lebenswichtigen Interessen sorgen zu können, den berechtigten Grund für den Verlust der Selbstachtung. Es sei die der Demütigung innewohnende existentielle Bedrohung, die ernst genommen werden müsse, nicht das herabwürdigende Urteil des Peinigers. 79 Margalits Bestimmungen sind zu präzisieren: Es ist das Bewusstsein, dass ein anderer die Kontrolle über meine Existenz übernommen hat, die in extremem Maß als demütigend empfunden wird. Demütigung ist die existentielle Abhängigkeit von der Willkür eines anderen. Unter Würde ist entsprechend eine basale Autonomie 80 zu verstehen: aus eigenen Entscheidungen heraus von andeSo die berühmte Definition Max Webers, die Ernst Tugendhat seinem Aufsatz über die geistige Nähe Nietzsches und Hitlers zugrunde legt: Tugenhat, »Macht und Antiegalitarismus«, a. a. O., S. 243. 78 Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 147. 79 Ebd., S. 152. 80 Der Begriff der basalen Autonomie in diesem Zusammenhang stammt von Angelika Krebs. Die existentielle Unabhängigkeit ist zu unterscheiden von der Freiheit, sein Leben aus eigenen Einsichten führen zu können: Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 151. 77
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Würde und soziale Sicherheit
ren unabhängig existieren zu können. Würde bezeichnet immer eine soziale Relation, eine grundlegende soziale Gleichheit: Zwei Personen sind in diesem Sinne einander gleich, wenn niemandes Existenz von der Willkür des jeweils anderen abhängt. 81
10.5 Würde und soziale Sicherheit Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: (1) Gewalt und (2) das Angewiesensein auf fremde Hilfe. Im ersten Fall haben wir es mit einer intentionalen Freiheitsberaubung zu tun. Dabei mag es sich um Gewaltakte wie z. B. Geiselnahmen handeln oder um eine vorsätzliche Degradierung der Person ausschließlich zum Zwecke ihrer Demütigung. Im zweiten Fall können wir vom Angewiesensein auf fremdes Wohlwollen in einer Situation der Not sprechen. Es ist diese zweite Form existentieller Abhängigkeit, die sich Margalit zu nutze macht, um einen Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Würde aufzuzeigen. Der Sozialstaat verleiht der Idee Ausdruck, dass die Gesellschaft die institutionalisierte Verantwortung für die soziale Sicherheit aller Bürger trägt. 82 Er schützt den einzelnen vor sozialen Risiken. Darunter versteht der französische Soziologe Robert Castel ein Ereignis, »das die Fähigkeit der Individuen beschränkt, eigenständig für ihre soziale Unabhängigkeit zu sorgen«. 83 Damit ist das Stichwort gefallen: Soziale Sicherheit bezeichnet die Fähigkeit, seine Existenz aus Diese erste Begriffsbestimmung von Würde ist natürlich an Kants Rechtsbegriff angelehnt, sie findet sich so bei Margalit nicht. Margalit versäumt es in seinem Buch den Zusammenhang von Würde und Gleichheit explizit zu machen, wie wir es hier tun. Sein Aufsatz »Menschenwürdige Gleichheit« (a. a. O.) ist hier wenig erhellend. Dort findet sich die Definition, dass Ungleichheit dann demütigend sei, wenn sie eine Haltung der Herabsetzung ausdrücke – »die Ansicht, dass der andere in der sozialen Hierarchie unter mir steht«: Ebd., S. 108. Das ist zwar eine relationale Definition von Demütigung, aber was hier fehlt, ist der Begriff der Macht. Nur dann, wenn jemand auch die Macht hat, einem anderen einen untergeordneten sozialen Rang zuzuweisen, macht der Begriff der Demütigung einen Sinn. Nicht unerwähnt bleiben soll Angelika Krebs’ Meinung, dass Margalit der Gleichheit von Menschen keinen zentralen Eigenwert beimesse: Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 160. Ein radikaleres Missverständnis lässt sich nicht mehr denken. 82 Vgl. Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, a. a. O., S. 21. 83 Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 33. 81
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eigener Kraft zu sichern. 84 Armut bedeutet entsprechend die Unfähigkeit, die für das Existenzminimum notwendigen Güter selbst erwerben zu können. Armut ist in diesem Sinne kein komparativer, sondern ein absoluter Begriff. Denn arm ist man nicht, wenn man zur untersten Einkommensschicht zählt, wie Margalit hier im Einklang mit Frankfurt, Parfit und Raz feststellt, sondern wenn man weniger als das Existenzminimums erhält. 85 Margalit spricht an der selben Stelle zwar von einem relativen Begriff: Wer in Kalifornien arm sei, könne in Kalkutta als ein reicher Mann gelten. Aber hier geht es um Armut in einer Gesellschaft und wer in Kalkutta oder Kalifornien arm ist, hat dort absolut zu wenig, weil er nicht aus eigener Kraft, bzw. nur mit größter Mühe und auf elendem Niveau existieren kann. Das ist ein absolutes Übel und als solches unabhängig davon zu bewerten, was andere besitzen. Daraus hat, es sei hier wiederholt, der Nonegalitarismus den Schluss gezogen, dass die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen gar keine Ungerechtigkeit darstelle, solange niemand arm sei. Wenn es sich hierbei schon um ein non sequitur handelt, ist die noch weiter reichende Schlussfolgerung, die den Nonegalitarismus als eine Gerechtigkeitskonzeption kennzeichnet, noch radikaler – und haltloser. Gerechtigkeit habe überhaupt nichts mit Gleichheit zu tun. Um zu dem Urteil zu gelangen, dass ein bestimmtes Handeln oder eine bestimmte durch menschliches Handeln herbeigeführte Situation gerecht oder ungerecht sei, müsse man die Ansprüche oder die Umstände der Personen nicht miteinander vergleichen. Entscheidend sei vielmehr darauf zu achten, dass es den Menschen gemessen an absoluten Maßstäben gut gehe und das soll heißen, dass niemand unter Not leide. Gerechtigkeit als Gleichheit verstanden führe hingegen entweder zu ungerechtfertigten oder redundanten moralischen Forderungen. Ungerechtfertigt sei es, eine weiter gehende Angleichung der Lebensumstände zu fordern, wenn niemand (mehr) unter Not leide. Dem Nonegalitarismus ist es deshalb vollkommen gleichgültig, wie der Wohlstand in einer Gesellschaft verteilt ist, wenn nur alle »genug« haben. Die Forderung nach einer gerechteren Verteilung des Wohlstandes erscheint aus der Perspektive dieser Philosophen als anmaßend und als Ausdruck einer hohlen, materialistischen Konzeption des guten Lebens, die die Gier der Menschen in den 84 85
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Rang von Gerechtigkeitsansprüchen erhebe. 86 Redundant sei es, wenn im Namen der Gerechtigkeit gefordert werde, allen Bürgern gleichermaßen zu einem Existenzminimum zu verhelfen. Das folge aus der universalistischen Regel, dass niemand unter Not leiden dürfe. Auf das Prädikat der Gleichheit könne man verzichten, ohne am Charakter dieses Gerechtigkeitsprinzips etwas zu verändern. Das ist das bekannte Argument von der Verwechselung von Allgemeinheit mit Gleichheit: Gleichheit besitze gegenüber universellen Prinzipien keinen normativen Eigenwert. 87 Nun ist die analytische Unterscheidung zwischen komparativen und nichtkomparativen Werten ohne Zweifel verdienstvoll. Bestimmte moralisch relevante Übel sind für die betroffene Person absolut, d. h. zunächst unabhängig davon zu werten, in welcher Beziehung sie zu anderen steht. Das sind solche Übel, die entstehen, wenn grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt werden können. Dass es sich hierbei um absolute Übel handelt, ist keine triviale Feststellung. Es macht einen Unterschied, ob man beispielsweise urteilt, es sei ein Übel, wenn eine Person aufgrund einer Krankheit schlechter gestellt sei als andere, oder ob man urteilt, die Krankheit der Person an sich sei ein Übel, gleichgültig wie es anderen geht. Im ersten Fall bewertet man zugleich auch den Umstand, dass es anderen besser geht, und von da aus ist es ein kleiner Schritt zu behaupten, es sei ungerecht, dass es den anderen besser gehe. Wenn A bspw. zwei gesunde Nieren besitzt, B aber auf die Dialyse angewiesen ist, dann ist nach der ersten Auffassung der ungleiche Gesundheitszustand als ungerecht zu bewerten. Daher muss es als gerechtfertigt gelten, wenn A zu einer Nierenspende gezwungen wird und so beide jeweils über eine gesunde Niere verfügen können. 88 Das ist ein Gebot ausgleichender Gerechtigkeit in der Sphäre des Bedürfnisses. Wenn man das Übel aber nichtkomparativ auffasst, kann es keinen Grund geben, A zu einer Organspende zu zwingen, weil ihr Gesundheitszustand nicht Gegenstand der moralischen Bewertung ist. Vor dem Hintergrund der nichtkomparativen Bewertung kann es aber gerechtfertigt sein, alle Bürger, also A eingeschlossen, zu Organspendeausweisen zu zwingen. Dieser Unterschied ist kein kleiner. Der grundsätzliche Irrtum des Nonegalitarismus besteht aber 86 87 88
Vgl. Raz, a. a. O., S. 76 und Schramme, »Anmaßung«, a. a. O. Vgl. z. B. John Stuart Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1976, S. 78 f. Vgl. Parfit, a. a. O. A
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darin, ein nichtkomparatives Gerechtigkeitskonzept begründen zu wollen. Das ist ein Widerspruch in sich. Die moralische Intuition, dass Menschen, die in Not geraten sind, geholfen werden müsse, teilt bspw. auch Kant. Ihm zufolge ist es unmoralisch, wenn man der Not anderer mit Gleichgültigkeit begegnet und jede Bereitschaft zurückweist, Hilfe zu leisten. Kant ist aber gleichzeitig der Überzeugung, dass die Not, das »Bedürfnis«, kein Recht auf Hilfe begründe. Der Gedanke, dass der Staat die Verantwortung für die soziale Sicherheit der Bürger trage, ist Kant daher völlig fremd. Menschen in Not zu helfen, ist für Kant ein ethisches, kein Rechtsprinzip. Die Bereitschaft zur »Wohltätigkeit« ist eine Tugendpflicht, der als solcher keine Rechtsansprüche anderer korrespondieren. Es reicht also nicht hin die Sozialstaatsidee auf nichtkomparativen Wertmaßstäben gründen zu wollen. Soll es eine grundlegende Forderung sozialer Gerechtigkeit darstellen, dass niemand unter elenden Umständen existieren dürfe, 89 muss gezeigt werden, gegen welches Gleichheitsgebot die verweigerte Hilfeleistung verstößt. Nach Kantischer Auffassung sichern Rechte ihren Trägern den Status als Gleiche. Welcher Gleichheitsgedanke steht also hinter dem Rechtsanspruch auf soziale Sicherheit? Die Antwort auf diese Frage hat sich der Nonegalitarismus verbaut. 90 »Nonegalitaristisch« lässt sich kein Rechts- oder Gerechtigkeitsprinzip begründen. 89 So lautet nach Krebs das nonegalitaristische Gerechtigkeitsprinzip: Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 133. 90 Rainer Forst kritisiert zurecht den sogenannten nonegalitaristischen Humanismus, der unter Menschenwürde das Verfügen über Mittel des grundlegenden Bedarfs versteht. Hierbei gerate völlig aus dem Blick, dass Würde ein soziales Verhältnis, einen Status bezeichne. Forsts diskursethisch inspiriertes Verständnis von Menschenwürde kann gleichwohl nicht überzeugen: Würde gründe allein in einem »normativen Verständnis der Person als begründendes, rechtfertigendes Wesen – als Wesen, das Rechtfertigungen ›braucht‹«. Bezogen auf den Fall der Armut bedeutete dies: Würde verletzend sei dieser Zustand nur dann, wenn Menschen gezwungen sind in Armut zu leben, und zwar durch Menschen, die diesen Zustand verursacht haben oder ihn ändern könnten. Demütigend sei, dass dieser Zustand nicht zu rechtfertigen sei (und nicht umgekehrt!). Die Würdeverletzung bestehe nicht so sehr in der Armut selbst, sondern »in erster Linie« darin, dass die Ansprüche der Betroffenen schlichtweg übergangen und nur unzureichend beantwortet würden. Die Würdeverletzung bestehe im Vorenthalten des »Rechts auf Rechtfertigung«, indem die Interessen und Ansprüche der Armen ignoriert werden. Sie fristen ein »legitimatorische[s] ›Luftsein‹«: Rainer Forst, »Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/2005, S. 589–596; Zitate S. 590. Nun muss man hier natürlich fragen, warum denn Armut nicht zu rechtfertigen ist. Was macht das legitimatorische Übergangenwer-
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Mit Margalit lässt sich nun dafür argumentieren, dass die Notlage der Armut nicht das einzige Übel darstellt. Das mindestens genauso schwer wiegende Übel für den in Not Geratenen sei der damit einhergehende Verlust der Selbstachtung. 91 Armut begründet eine soziale Ungleichheit: Wenn ich aus eigener Kraft nicht die für das Leben notwendigen Güter erwerben kann, bin ich auf das Wohlwollen anderer angewiesen. Vom guten Willen eines anderen hängt es ab, ob ich ein anständiges Leben führen kann oder nicht. Ein anderer hat die Macht, meine grundlegenden Interessen zu befriedigen oder eben nicht. Genau darin liegt die Demütigung. Armut führt in die existentielle Abhängigkeit von anderen und ist in dieser Hinsicht ein relationaler Begriff. Das Demütigende an der Armut ist also zum einen die soziale Abhängigkeit. Entwürdigend ist aber auch der wirtschaftsliberale Mythos, der Armut als das Resultat selbstverschuldeten Versagens auf dem freien Markt begreift. 92 An dieser Stelle ist es hilfreich, Margalits Analyse der Selbstachtung mit der von Rawls zu vergleichen. 93 Nach Rawls setzt sich die Selbstachtung aus dem Selbstwertgefühl und dem Selbstvertrauen zusammen. Ersteres besteht in der Überzeugung, dass der eigene Lebensplan einen Wert besitzt, der seiner Verfolgung allererst einen Sinn verleiht. Das Selbstvertauen besteht in dem Bewusstsein, den Lebensplan aus eigener Anstrengung verfolgen zu können. Wer aber arm ist, dem ist jede Möglichkeit verwehrt ein wertvolles Leben zu führen. Wenn also Armut von der Gesellschaft als selbstverschuldet begriffen wird, drückt sich darin die Verachtung gegenüber den Armen aus. Der Selbstschuldvorwurf beschädigt nach Margalit die Menschenwürde der Armen. Der Mythos, dass Armut das Resultat eigenen Versagens sei, betrachtet die Hilfsbedürftigen als »wertlose Menschen, die nicht einmal in der Lage sind, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen.« 94 Hier ist von Verachtung, nicht von verweigerter Anerkennung die Rede. Der grundlegende Unterschied wird deutlich, wenn wir den Begriff des Guten analysieren. Gut ist, was für eine bestimmte Person einen Wert besitzt. Dabei sind aber drei verschiedene Bedeutunden in diesem Fall so demütigend? Nicht alle Handlungen, die sich nicht unparteiisch rechtfertigen lassen – z. B. eine ungerechte Verteilung der Steuerlasten – demütigen. 91 Vgl. Margalit, »Menschenwürdige Gleichheit«, a. a. O., S. 109. 92 Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 264. 93 Vgl. Abschnitt 2.5 dieser Arbeit. 94 Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 265. A
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gen von »gut« zu unterscheiden: (1) das Gute als Ziel, (2) das Gute als Mittel und (3) das Gute als Abwesenheit eines Übels. In diesem Sinne sind bspw. drei verschiedene Kategorien von Antworten möglich, wenn wir eine Person fragen, wie es ihr geht. Sie könnte antworten, dass es ihr gut (1) gehe, weil sie ein wichtiges Lebensziel erreicht habe, etwa, wenn sie einen Berufswunsch realisiert hat. Sie könnte aber auch antworten, dass es ihr gut (2) gehe, weil sie sich über den günstigen Erwerb eines Autos freue und sie so nun über ein bequemes Fortbewegungsmittel verfüge. Und sie könnte schließlich antworten, dass es ihr gut (3) gehe, weil sie nach längerer Krankheit wieder genesen sei und sich freue wieder gesund zu sein. Wir haben es also mit drei unterschiedlichen Arten und Weisen des Wertens zu tun, wobei klar ist, dass es sich hierbei um eine analytische Unterscheidung handelt. Ein und dieselbe Sache kann in allen drei Hinsichten als gut bewertet werden. So kann z. B. das Autofahren Bestandteil einer Konzeption des guten Lebens sein, was bei einem Rennfahrer der Fall sein wird; es kann als Fortbewegungsmittel geschätzt werden oder es wird als Vermeidung eines Übels betrachtet, etwa, wenn das zu Fuß Gehen als lästige Mühsal betrachtet wird. Diese Unterscheidung des Begriffs des Guten macht verständlich, warum der Selbstschuldvorwurf das Selbstvertrauen der Betroffenen in einer Art und Weise beschädigt, die demütigend ist. Jemand kann darin scheitern, ein anspruchsvolles Ziel zu erreichen. Das Scheitern hat einen Verlust an Anerkennung zur Folge. Jemandem ein solches Scheitern als persönliches Versagen anzukreiden, ist kränkend und verletzt das Selbstwertgefühl. Die Ideologie, dass Armut Resultat eigenen Versagens sei, geht aber viel tiefer, weil sie nicht das Vertauen zerstört, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, eine bestimmte Leistung zu vollbringen, sondern die Handlungsfähigkeit als solche in Frage stellt. Indem den Armen die Fähigkeit abgesprochen wird, aus eigener Kraft zu existieren, werden sie, so Margalit, als wertlose, als Menschen zweiter Klasse betrachtet. 95 Hier wird in gewisser Weise eine soziale Abhängigkeit von Natur aus unterstellt. Die libertäre Auffassung, dass der Staat ausschließlich für die Rechtssicherheit der Bürger Verantwortung trage, nicht aber für deren soziale Sicherheit, setzt die Überzeugung voraus, dass Armut und soziale Not von den Betroffenen selbst verursacht sei. Aber die Umkehrung gilt nicht. Wer Armut als selbstverschuldet begreift, kann 95
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gleichwohl der Gesellschaft die Verantwortung für das Wohlergehen der Armen einräumen. Das ist deswegen konsistent, weil die letztere Forderung aus dem Elend der in Not Geratenen begründet werden kann. Aber das wäre eine Form der Hilfeleistung, die aus Mitleid geschieht. Darunter versteht Margalit im Anschluss an Nietzsche ein Motiv der Wohltätigkeit, das eine asymmetrische Relation zwischen dem Helfenden und dem in Not Geratenen ausdrückt. 96 Mitleid erwächst aus einem Überlegenheitsgefühl: Es richtet sich auf die Hilflosigkeit und Not des anderen, vor der der Mitleidende sich selbst gefeit sieht. Derart ist Mitleid Ausdruck der Geringschätzung des anderen, ein Angerührtsein von der Schwäche des Notleidenden, seiner Unfähigkeit sich selbst zu helfen. Mitleid und der Selbstschuldvorwurf gehen also Hand in Hand. Obwohl also den Notleidenden geholfen wird, werden sie dennoch als Menschen zweiter Klasse behandelt und diese Einstellung der Ungleichheit ist der gerechtfertigte Anlass, dass sich die Hilfsempfänger in ihrer Selbstachtung verletzt fühlen, insofern das Motiv der Hilfe demütigend ist. 97 Damit ist klar, dass die grundlegende Forderung sozialer Gerechtigkeit, die Sozialstaatsaufgabe, nicht ohne Rekurs auf Gleichheitsprinzipien begründbar ist. Der Nonegalitarismus scheitert bereits auf seinem ureigenstem Terrain, der Verteilung von Bedarfsgütern, weil er keine Idee davon entwickeln kann, welche sozialen Relationen die Bedingungen einer menschenwürdigen und also humanen Existenz beschreiben. Die Verfügung über elementare Bedarfsgüter ist dafür nicht hinreichend. Wie sind also die grundlegenden Bedarfsgüter so zu verteilen, dass sie die Selbstachtung der Betroffenen nicht verletzen? Margalits Antwort lautet, dass Hilfeleistung in Not genau dann nicht demütigend ist, wenn sie nicht als Wohltat verstanden wird. Diese Bedingung ist dann gegeben, wenn der Hilfsempfänger ein Recht auf Bedarfsgüter hat. Wie aber gelangt der Einzelne zu einem solchen Recht? Robert Castel unterscheidet zwischen modernen und prämodernen sozialen Unsicherheitskonfigurationen. Es sei für vormoderne Gesellschaften charakteristisch, dass sie durch Kriege, Hungersnöte und Epidemien von außen bedroht werden. Von innen aber scheinen 96 97
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sie gesichert. Das Individuum ist durch seine Gruppenzugehörigkeiten definiert. Die Familien-, Herkunfts- und Gruppenbindung bietet Abhängigkeit und Schutz zugleich. So ist z. B. das Individuum in Städten als Mitglied städtischer Berufskörperschaften eingebunden, die ihm Schutz um den Preis der Abhängigkeit bieten. 98 Mit dem Auflösungsprozess der Gruppenbindungen in der Moderne erreicht das Individuum seine Unabhängigkeit, allerdings um den Preis sozialer Unsicherheit. Nun trete das Eigentum an die Stelle traditioneller Abhängigkeits- und Sicherungsnetze. »Das Eigentum bildet den Eckpfeiler der Ressourcen, die es einem Individuum ermöglichen, für sich selbst zu existieren und weder auf einen Herrn noch auf die Barmherzigkeit Dritter angewiesen zu sein. Der Besitz bietet nunmehr eine Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, gegen Krankheiten, Unfälle und die Not jener, die nicht mehr arbeiten können.« 99 Das Privateigentum mache in der Moderne »das Soziale« überflüssig. Als eine Garantie gegen die Unwägbarkeiten der sozialen Existenz trete es an die Stelle all jener Strukturen, »die geschaffen werden, um das Defizit an Ressourcen auszugleichen, die einem das Leben in der Gesellschaft aus eigener Kraft ermöglichen«. 100 Der moderne Rechtsstaat hat die bürgerliche und soziale Sicherheit der Individuen zu garantieren: die bürgerliche Sicherheit, indem er das Individuum vor Übergriffen schützt und ihm so einen privaten Freiraum garantiert. Die soziale Sicherheit gewährleistet der Staat, indem er das Privateigentum der Bürger sichert. »Zu Beginn der Moderne erlangt das Eigentum eine tiefe anthropologische Bedeutung, weil es – Locke hat dies als einer der ersten erkannt – als das Fundament erscheint, von dem aus das Individuum die Voraussetzung für seine Unabhängigkeit finden kann, wenn es sich aus dem traditionellen System aus Absicherung und Unterordnung gelöst hat.« 101 Vielleicht stärker noch als bei Locke lässt sich diese Bedeutung des Eigentums bei Kant finden. Wir sind im zweiten Kapitel darauf eingegangen. 102 Neben dem Demokratieprinzip hat der Kantische Rechtsstaat für bürgerliche und soziale Sicherheit zu sorgen, für die autonome Lebensgestaltung des Einzelnen. Genau darin liegt auch Castel, a. a. O., S. 13 ff. Ebd., S. 20. 100 Ebd., S. 26. 101 Ebd., S. 24. 102 Vgl. Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. 98 99
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Sinn und Zweck des Eigentums: Es schafft die ökonomische Unabhängigkeit, die Existenz aus eigener Kraft zu gestalten. In dem Maße, indem der Staat nach Auffassung des klassischen Liberalismus die soziale Sicherheit der Bürger über den Schutz des privat erworbenen Eigentums sichert, wird die Freiheit, die er garantiert, zu einer ungleichen. In sozialer Unsicherheit leben all diejenigen, die eben nicht über Eigentum verfügen, die also nicht eigenständig für ihre soziale Unabhängigkeit sorgen können. Das bleibt gerade vor dem Hintergrund der klassischen liberalen Idee der Unteilbarkeit von Freiheit und Gleichheit ein Skandal. Kant hat die ungleiche Eigentumsverteilung dadurch zu legitimieren versucht, dass er sie unter die Bedingung (formaler) Chancengleichheit gestellt hat. Auch den Habenichtsen, den Tagelöhnern, muss es rechtlich erlaubt sein, durch Fleiß in den Status von Eigentümern zu gelangen. Ganz unabhängig von der Formalität dieser Chancengleichheitsidee hat Kant hier in die falsche Richtung gewiesen. Robert Castel hat Recht, daran zu erinnern, dass Unsicherheit ebenso bürgerlicher wie sozialer Natur ist. 103 Genauso wie es keinen Grund geben kann, ungleiche bürgerliche Sicherheit zu rechtfertigen, kann es einen Grund geben, ungleiche soziale Sicherheit zu legitimieren. Chancengleichheit aber ist ein Legitimationsprinzip der Ungleichheit. Es findet immer dort Anwendung, wo bestimmte Güter aus verschiedenen Gründen nicht gleich verteilt werden können. 104 Bekanntlich hat Hobbes die Sicherheit als ein Grundgut für den Menschen für die politische Philosophie entdeckt. Das Leben in Unsicherheit ist armselig, in existentieller Bedrohung wird die Zukunft nicht mehr gestaltbar, hat nichts mehr einen Wert außer der Sorge um die eigene Existenz. Hobbes hat hier die bürgerliche Sicherheit im Sinn. Ohne Unterschiede einebenen zu wollen, gilt das analog auch für die soziale Sicherheit. Castel erinnert an die »berüchtigte ›Sorglosigkeit‹«, die die Moralisten des 19. Jahrhunderts den unteren Volksklassen, also dem Proletariat der ersten Industrialisierung, zum Vorwurf machten. So als ob deren Sorglosigkeit nicht begründet gewesen wäre. »Wie sollte […] jemand, den Tag für Tag die Unsicherheit zermürbt, Zukunftspläne schmieden und sein Leben in die Hand nehmen? Die soziale Unsicherheit verwandelt diese Existenz in einen
103 104
Castel, a. a. O., S. 33. Vgl. Abschnitt 2.3 dieser Arbeit. A
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täglichen Überlebenskampf mit stets ungewissem Ausgang.« 105 Soziale Unsicherheit ist ein Übel, weil sie die Planbarkeit und Gestaltbarkeit des eigenen Lebens unterminiert. Und sie ist insofern ein Übel, weil sie in die entwürdigende soziale Abhängigkeit führt. Es ist Dworkins Verdienst, die Sozialstaatsidee für den Liberalismus theoretisch erschlossen zu haben. Nach Dworkin können wir eine Gesellschaft dann als sozial gerecht bezeichnen, wenn alle Bürger die Möglichkeit haben, sich gegen gravierende Lebensrisiken zu versichern. Er begründet das, indem er jedem Bürger ein legitimes Interesse an seiner sozialen Sicherheit zuschreibt. In Anschluss an Margalit lässt sich der Idee der sozialen Sicherheit ein egalitaristisches Fundament geben: Soziale Sicherheit ist ein Gebot der Statusgleichheit, der gleichen Achtung vor der Würde aller Staatsbürger. Vielleicht lässt sich ohne allzu sehr zu übertreiben sagen, dass hier der philosophische Liberalismus der historischen Entwicklung 100 Jahre hinterher hinkt. Und es vielleicht kein Zufall, dass der philosophische Liberalismus die soziale Sicherheit genau zu dem Zeitpunkt »entdeckt«, an dem sie wieder von bestimmten gesellschaftlichen Kräften massiv in Frage gestellt wird. Castel erinnert daran, dass der Staat im 19. Jahrhundert die soziale Sicherheit egalisiert, indem er den Charakter der Arbeit verändert. Der Wert, der vorher im klassischen Liberalismus dem Eigentum zugeschrieben wurde, wird nun auch auf die Arbeit übertragen: Sie soll soziale Sicherheit garantieren. Die Aufgabe des Sozialstaats besteht daher nicht in der Umverteilung von Eigentum. Vielmehr wird Arbeit »zu einer Beschäftigung, versehen mit einem Status, der über den Markt hinaus Garantien bereithält, wie einen Mindestlohn, arbeitsrechtliche Bestimmungen, Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung und so fort«. 106 Überspitzt formuliert wird der Arbeiter vom Tagelöhner zum Angestellten. Das pseudokontraktualistische Verhältnis zwischen einem allmächtigen Arbeitgeber und einem mittellosen und also abhängigen Arbeitnehmer wird verrechtlicht, Arbeit wird zu einem Status, indem sie mit Schutzmechanismen und einem Anspruch auf »soziales Eigentum« verknüpft wird. Unter letzterem versteht Castel »die Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen […], wie sie zuvor allein das Privateigentum lieferte«. 107 Er 105 106 107
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Castel, a. a. O., S. 39. Ebd., S. 40 f. Ebd., S. 42.
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Würde und soziale Sicherheit
veranschaulicht das am Beispiel der Rente. Der Rentner kann, was seine Alterssicherung betrifft, mit dem durch seine Vermögenswerte abgesicherten Rentner rivalisieren. Das Rentenversicherungssystem schützt vor einer der dramatischsten Form sozialer Unsicherheit, der Altersarmut. Sie ist keine Hilfsmaßnahme, sondern stellt einen Rechtsanspruch dar, der an die Erwerbsarbeit gekoppelt ist: »Sie ist das Eigentum des Arbeiters und wird nicht nach der Logik des Marktes, sondern über die Vergesellschaftung des Lohnes gebildet: Ein Teil des Lohnes fließt an den Arbeiter (als indirektes Gehalt) zurück. Wenn man so will, ist es ein Eigentum zur Existenzsicherung, die den Arbeiter nach dem Ende seiner Erwerbstätigkeit absichert.« 108 Durch den Ausbau der Sozialversicherungssysteme entstehe eine Gesellschaft der Ähnlichen, so Castel. Alle Bürger sind abgesichert, wobei sich, wie am Beispiel der Rente deutlich wird, die Versicherungsleistungen nach der Höhe des jeweiligen Rentenniveaus richten. Insofern lässt der Sozialstaat die Wohlstandsungleichheiten unangetastet. 109 Aber die Rede von der Ähnlichkeit ist missverständlich. Die Idee des Sozialstaats besteht darin, bestimmte Lebensrisiken wie Altersarmut, Arbeitsunfähigkeit und Krankheit zu sozialisieren. Sie werden nicht mehr als private vorhersehbare Ereignisse betrachtet, gegen die sich das Individuum versichern kann oder auch nicht. Gerade durch die Vergemeinschaftung des Risikos haben nun alle Bürger Anspruch auf die entsprechende Versicherung.110 Den Sozialstaatsgedanken trägt die Idee der Solidarität. Alle Bürger verstehen sich als gleich darin, Opfer sozialer Risiken werden zu können und sie helfen sich wechselseitig vor Not und Armut, indem sie der Solidargemeinschaft der Versicherung beitreten. Bei Margalit bleibt letztlich offen, wie eine anständige Gesellschaft Solidarität übt, die aus Mitgefühl und nicht aus Mitleid geschieht, in der also eine grundsätzliche solidarische Gleichheit zwischen Helfendem und Hilfsempfänger gewahrt bleibt. Durch den Beitrag, den eine Person in einen Versicherungstopf leistet, erwirbt sie im Notfall den Anspruch auf Hilfeleistung. Hilfe ist hier eine Form der Gegenleistung und dieses Reziprozitätsprinzip schafft eine solidarische Gemeinschaft der Gleichen. Alle leisten gemessen an ihren finanziellen Möglichkeiten 108 109 110
Ebd. Ebd., S. 47. Ebd., S. 83. A
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ihren solidarischen Beitrag und erkennen so die Tatsache an, dass sie zu den in Not Geratenen gehören könnten. Freilich darf hier die Gerechtigkeitsperspektive nicht verschwiegen werden. Die Möglichkeit, einer Versicherung beizutreten, ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Das folgt aus dem Prinzip der Gleichverteilung der Lasten der Solidarität. Allerdings setzt das Versicherungsmodell voraus, dass alle Bürger aus eigener Kraft ihren Beitrag leisten können. Nicht nur bezogen auf eine Arbeitslosenversicherung bedeutet dies, dass Arbeitslosigkeit für die Betroffenen ein temporärer Zustand bleiben muss. Wenn ein Teil der Bürger keine realistischen Chancen mehr besitzt, eine Erwerbsarbeit zu finden, versagt das Versicherungsmodell. Diese Tatsache hat Dworkin übersehen. Der Anspruch, eine Arbeit zu finden, ist daher die grundlegende Forderung sozialer Gerechtigkeit überhaupt. Sie wird durch den Wert der Arbeit begründet, zu einem Leben aus eigener Anstrengung zu befähigen. Arbeitslosigkeit demütigt, weil die Person nicht aus eigener Kraft existieren kann und weil sie sich als sozial nutzlos begreifen muss. Und das in einem doppelten Sinne: Weder wird sie als eine Person anerkannt, die über irgendwelche Fähigkeiten verfügt, die es anderen wert sind, dafür zu zahlen, noch verfügt sie über die Fähigkeit, aus eigener Kraft Beiträge ins Solidarsystem zu zahlen und verliert so letztlich das Bewusstsein, ein Recht auf Solidarität zu besitzen. So grundlegend der Anspruch auf eine Arbeit ist, so wenig ist ihm mit einem Grundrecht auf Arbeit geholfen. Wie jeder eines solchen Rechtes teilhaftig werden kann, ist eine ökonomische, keine philosophisch zu beantwortende Frage. Begründen aber lässt sich, dass Arbeit einen sozialen Status der Selbständigkeit und Unabhängigkeit schafft. Halten wir also fest: Arbeit hat für das Individuum einen doppelten Wert. Sie ist ein Mittel zum Gelderwerb, oder anders formuliert: ein Mittel zur Existenzsicherung. Diese Funktion erfüllt Arbeit aber nur, wenn sie mit Sicherungsgarantien verknüpft ist, wenn sie dem Arbeitenden derart eine Perspektive bietet und so die Möglichkeit eröffnet, die Zukunft zu planen und zu gestalten. Sie ist daher mit einem Rechtsstatus zu verknüpfen, der dem Arbeitenden sowohl die Mitgliedschaft in einem sozialen Sicherungssystem garantiert als auch mit Rechten gegenüber dem Arbeitnehmer ausstattet: Minimallohn, Kündigungsschutz etc. Das folgt aus der Idee der Statusgleichheit, die hier, im Kontext sozialer Gerechtigkeit, als ein letztes grundlegendes normatives Prinzip betrachtet wird. Erst der recht360
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liche Status verleiht der Arbeit Würde im Sinne basaler Autonomie. Darunter ist nicht das Vermögen zu verstehen, eine Konzeption des Guten als Lebensziel selbstbestimmt zu entwerfen, verfolgen und ggf. revidieren zu können. Basale Autonomie meint das Vermögen, überhaupt aus eigener Kraft existieren zu können, unabhängig davon, ob man die eigenen Lebensziele erreicht oder nicht. Der Gegenbegriff ist die existentielle Abhängigkeit von anderen. Soziale Sicherheit ist eine notwendige Bedingung der Menschenwürde.
10.6 Würde und Chancengleichheit Ist sie im Kontext der sozialen Gerechtigkeit auch eine hinreichende? Margalit bejaht das. Ein ganz entscheidendes Merkmal seiner Auffassung einer anständigen Gesellschaft ist deren Unterscheidung von einer gerechten Gesellschaft. Die anständige Gesellschaft demütigt nicht, die gerechte Gesellschaft kränkt nicht. Unter einer Kränkung versteht er im Unterschied zur Demütigung nicht die Verletzung der Selbstachtung, sondern des Selbstwertgefühls eines Menschen. Letzteres gründet auf den Leistungen einer Person und – so können wir hinzufügen – auf deren sozialer Anerkennung. 111 Die gerechte Gesellschaft zeichnet sich also dadurch aus, dass die Leistungen der Bürger unparteiisch anerkannt werden. Eine gerechte Gesellschaft müsse auch eine anständige sein, aber die Umkehrung gelte nicht: Eine anständige, also auf wechselseitiger Achtung der Bürger basierende Gesellschaft sei nicht schon gerecht. Gerechtigkeit wird von Margalit also als etwas verstanden, was über die Forderung nach gleicher Würde hinausgeht, als eine Art Surplus zur anständigen Gesellschaft. Die Forderung nach einer anständigen Gesellschaft hat für Margalit Priorität; Demütigung ist schlimmer als Kränkung. Aber die Unterscheidung zwischen einer anständigen und einer gerechten Gesellschaft ist prekär. Ist denn die Verteilung solcher Güter, deren Wert über die Sicherung basaler Autonomie hinausgeht, nicht Gegenstand der Forderung nach gleicher Achtung? Kann also die ungerechte Verteilung solcher Güter nicht demütigen? 112 Wir 111 Margalit, Poltik der Würde, a. a. O., S. 61 ff. Zu seiner Unterscheidung zwischen der anständigen und der gerechten Gesellschaft vgl. Krebs, Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 148 ff. 112 Krebs moniert zurecht, dass Margalit offenbar keinen Zusammenhang zwischen
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wollen diese Frage gleich präzisieren. Wir haben den Begriff der Arbeit als zentrale Kategorie sozialer Gerechtigkeit bestimmt. Arbeit schafft Unabhängigkeit und Würde. Erschöpft sich aber darin der Wert der Arbeit in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich als Gleiche achten? Diese Frage soll hier verneint und damit Margalits Unterscheidung zwischen der anständigen und der gerechten Gesellschaft zurückgewiesen werden. Damit können wir an das eingangs von Mason gestellte Problem und an das zweite Kapitel dieser Arbeit anknüpfen. Dort wurde mit Rawls (und gegen sein berühmtes Argument für seinen Grundsatz demokratischer Gleichheit) begründet, dass Arbeit aus einem weiteren Grund wertgeschätzt wird, und zwar als ein konstitutiver Bestandteil eines guten Lebens. Arbeit ist nicht nur ein Mittel zur Existenzsicherung und damit eine notwendige Bedingung sozialer Unabhängigkeit. In der Arbeit oder besser in bestimmten Arbeiten »verwirklicht« sich das Selbst, indem es Talente und Fähigkeiten zur Anwendung bringt, mit denen es sich identifiziert. Rawls bezeichnet das als Aristotelischen Grundsatz. Aristotelisch ist dieser Grundsatz, weil er der Idee Ausdruck verleiht, dass jeder Mensch über ein Begabungspotential verfügt, dessen Entwicklung und Verwirklichung zu Fähigkeiten als intrinsisch wertvoll begriffen wird. Je anspruchsvoller und komplizierter die Tätigkeit, zu der das Selbst befähigt ist, desto höher der Grad seiner Freude an derselben. 113 Dieser Grundsatz hat eine wichtige soziale Komponente. Das Selbst strebt nach sozialer Anerkennung seiner Fähigkeiten. Durch die Wertschätzung seiner besonderen Leistungen erwirbt es sich ein sicheres Selbstwertgefühl. Eine intakte Identität, so kann man sagen, zeichnet sich durch eine weit gehende Übereinstimmung zwischen dem normativen Selbstbild und seiner sozialen Bestätigung aus. Hierin besteht Einigkeit zwischen Rawls und der Anerkennungstheorie. Arbeit wird daher nicht nur wertgeschätzt, weil sie die Existenz sichert, sondern weil sie Bestandteil des guten Lebens ist. Daraus folgt nun für eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit, die auf der Idee der Statusgleichheit der Bürger gründet, zweierlei. Zum Würde und der Freiheit, das Leben aus eigenen Einsichten führen zu können, sieht: Arbeit und Liebe, a. a. O., S. 153. Die Sicherung der ethischen Autonomie des Individuums ist Aufgabe der gerechten Gesellschaft. Insofern ist die anständige Gesellschaft bei Margalit keine klassische liberale Gesellschaft. 113 Dieser Grundsatz stammt bekanntlich von Mill: Utilitarismus, a. a. O., S. 15 f.
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einen haben alle Bürger nicht nur einen Anspruch auf Arbeit, sondern auch auf Arbeitsbedingungen, die nicht vollkommen stumpfsinnig sind. Arbeit darf nicht derart anspruchslos sein, dass sie die Person lädiert. Dieses Prinzip hat allerdings eine Grenze, weil Arbeit durch die Nachfrage nach bestimmten Tätigkeiten entsteht, nicht aber um der Selbstverwirklichung willen existiert. Mag aber jemand eine anspruchslosere Tätigkeit ausüben, so erfährt er doch die (minimale) Anerkennung als jemand, der arbeitet und sozial nützlich ist. Anspruchsvolle Tätigkeiten sind daher kein gleich verteilbares, sondern ein knappes Gut. Hier gilt also ein Verteilungsmodus, der allen, die bereit und fähig sind, gleiche Chancen auf anspruchsvolle Berufe und die Möglichkeit der Qualifikation garantiert. Der von Rawls so genannte Aristotelische Grundsatz und der Wert der Anerkennung für ein gutes Leben macht allererst verständlich, warum vorteilhafte berufliche Positionen ein Gut darstellen, dessen Verteilung Gegenstand sozialer Gerechtigkeit ist. Gleichwohl kann es aus den oben dargelegten Gründen kein Recht auf Anerkennung geben, so als ob es ein Recht gäbe, in bestimmten Leistungen von anderen anerkannt zu werden. Es kann hier nur um Autonomie und Achtung gehen: Jede Person hat das verfassungsmäßig garantierte Recht, eigene Berufsentscheidungen zu treffen. Zum anderen macht die Idee der gleichen Achtung verständlich, worin das besondere moralische Übel besteht, wenn Bürger aus Bildungsinstitutionen der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben. Sie werden absichtlich oder de facto so behandelt, als ob sie nicht über die Fähigkeiten zur Qualifikation verfügten. Sie werden derart als eine soziale Gruppe behandelt, die über mindere Fähigkeiten verfügt als die besser Gestellten. Das ist demütigend, weil die Ausgeschlossenen keine Möglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und dergestalt als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. 114 Anders als im Fall der Demütigung durch existentielle Abhängigkeit ist diese Form der Demütigung an die Gruppenzugehörigkeit gebunden. Demütigend ist nicht der Misserfolg, sich für eine bestimmte Position zu qualifizieren. Das ist beschämend. Demütigend ist auch nicht die verweigerte Anerkennung für eine bestimmte Leistung. Das ist kränkend. Die Selbstachtung beschädigend ist vielmehr das Bewusstsein zu einer sozialen Gruppe zu gehören, der von der 114 Chancenungleichheit, ob vorsätzlich oder toleriert, bedeutet für die Betroffenen immer die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit.
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Gesellschaft der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen und vorteilhaften Positionen verwehrt wird. Aus welchen Gründen auch immer der Ausschluss geschieht, aus gesellschaftlichen Vorurteilen, aus Geringschätzung einer Minderheit, aus einem gesellschaftlichen Rollenverständnis (siehe das vorherige Kapitel) oder aus ökonomischen Gründen: Dem Individuum wird als Gruppenmitglied ein geringerer gesellschaftlicher Status zugewiesen; es wird unabhängig von seinen Begabungen und Ambitionen stereotypisiert. Margalit vertritt in seinem Buch ein ganz anderes Verständnis von Gruppenzugehörigkeit, um den Zusammenhang von Ausschluss und Demütigung zu verdeutlichen. Ihm zufolge ist es Ausdruck unseres Menschseins, dass wir die Zugehörigkeit zu Gruppen anstreben, mit denen wir uns identifizieren. Die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen konstituiere unser Selbstverständnis, im positiven Sinne wohlgemerkt. Margalit versteht unter solchen Gruppen vor allem kulturelle und religiöse Gemeinschaften. Seine Intuition lautet, dass eine Gesellschaft nicht anständig sein kann, die einem Teil der Bürger einen gerechtfertigten Grund gibt, sich für legitime 115 Gruppenzugehörigkeiten, die für das eigene Selbstverständnis konstitutiv sind, zu schämen. Offen bleibt aber, welche Rolle die Identifikation mit der Gruppenzugehörigkeit für den Sinngehalt der Demütigung spielt. Muss sich das Individuum mit seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe identifizieren, um gedemütigt werden zu können? Und stellt z. B. die Verspottung religiöser Symbole eine Demütigung der ganzen betroffenen religiösen Gemeinschaft dar? Die erste Frage ist klarerweise zu verneinen. Stigmatisierende Gruppenzugehörigkeiten sind häufig Konstrukte des Ressentiments und des Hasses. Auch wäre es falsch, davon auszugehen, dass sich Bürger über die Zugehörigkeit zu einer ökonomisch schlechter gestellten Gruppe positiv identifizierten. Geschieht dies dennoch, dann als bewusste Reaktion auf die gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung, die aus der Abwehrhaltung heraus ein positives Gemeinschaftsverständnis bewirkt. Hier ist also die Identifikation die Folge, nicht aber die Ursache von Diskriminierung und Demütigung. Auch die zweite Frage ist zu verneinen. Zu fragen wäre hier, welchen Einfluss die Verspottung auf die Art und Weise hat, in der 115 Die Bedingung der Legitimität der Gruppe versteht sich von selbst: Die Zugehörigkeit zu verbrecherischen Gruppen oder die unrechtmäßige Durchsetzung von Gruppenzielen kann keinen Anspruch auf gleiche Achtung geltend machen.
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sich die Mitglieder der religiösen Gruppe öffentlich zu ihrem Glauben bekennen können. Ist die Herabwürdigung Ausdruck gesellschaftlicher Verachtung, dann ist es diese Einstellung, die demütigt, nicht der singuläre Akt. Julian Nida-Rümelin betrachtet Margalits Verständnis des Zusammenhangs von Gruppenzugehörigkeit und Demütigung als kollektivistisch. Ein angemessener normativer Begriff von Menschenwürde sei hingegen konsequent individualistisch. 116 »Niemand hat Grund, sich als Individuum gedemütigt zu fühlen, weil ein anderes Individuum der Gemeinschaft, der er angehört, gedemütigt wurde.« 117 Ebenso wenig, wie ein Individuum einen gerechtfertigten Grund habe, Stolz zu empfinden, weil ein anderes Gruppenmitglied besonderes geleistet hat, könne es sich auch nicht herabgewürdigt fühlen, wenn andere Gruppenmitglieder gedemütigt werden. Daraus folgert Nida-Rümelin ganz allgemein, dass man keinen begründeten Stolz oder eine begründete Scham empfinden könne »wegen eines Ereignisses, auf das man keinen Einfluss hatte«. 118 Wenn das richtig ist, kann Chancenungleichheit nicht demütigen. Denn natürlich haben die benachteiligten Mitglieder keinen Einfluss auf ihren Ausschluss. Ansonsten wären die Chancen nicht ungleich. Margalit und Nida-Rümelin beschreiben zwei Extrempositionen, die in unserem Zusammenhang zurückgewiesen werden müssen. Von einer demütigenden Gruppenzugehörigkeit kann nur gesprochen werden, wenn der Akt der Demütigung einen gravierenden Einfluss auf jedes einzelne Gesellschaftsmitglied hat. Demütigung verleiht einen untergeordneten gesellschaftlichen Status, der eben häufig an Gruppenzugehörigkeiten gebunden ist. In unserem Zusammenhang besteht die Demütigung gerade darin, dass Gesellschaftsmitgliedern die Möglichkeit verwehrt wird, durch eigene Leistungen, Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Dadurch erfährt das Individuum qua Mitgliedschaft eine herabwürdigende Stereotypisierung, ganz unabhängig davon, was es getan hat oder zu tun in der Lage ist. Wenn z. B. Frauen der Zugang zu höher qualifizierten Berufen und Bildung versagt ist, hat jede Frau einen gerechtfertigten Grund sich als Gesellschaftsmitglied zweiter Klasse behandelt zu 116 Julian Nida-Rümelin, »Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht«, in: ders., Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 127–159; hier S. 148. 117 Ebd., S. 147. 118 Ebd., S. 149.
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fühlen, gleichgültig, ob sie eine solche Position erstreben möchten oder nicht. Gleiches gilt für das Bewusstsein, sich einer sozialen Schicht zugehörig zu fühlen, der aufgrund fehlender ökonomischer Mittel der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen und beruflichen Positionen versagt bleibt. Wer ein Konzept sozialer Gerechtigkeit auf der Forderung nach gleicher Achtung gründet, kann die Idee sozialer Sicherheit und den Chancengleichheitsgedanken nicht auseinander dividieren.
10.7 Würde und Tauschgerechtigkeit Arbeit hat einen Wert, weil sie eine eigenverantwortete Existenz sichert und Arbeit, insofern sie als sinnvoll und von anderen als wertgeschätzt erfahren wird, ist ein konstitutiver Bestandteil eines gelingenden Lebens. Arbeit ist aber auch, das wurde in anderen Kapiteln dieser Arbeit hervorgehoben, ein Tauschverhältnis. 119 Die Frage lautet daher abschließend, ob es einen Zusammenhang zwischen Arbeit als Leistungsaustausch und Würde gibt. Die Frage lässt sich auch anders formulieren: Ist Ausbeutung demütigend? Hier sind mehre Formen von Ausbeutung in lexikalischer Rangfolge zu unterscheiden. Der schwerste Fall von Ausbeutung ist Zwangsarbeit, also Arbeit, die ausgeführt werden muss, weil sie ein anderer durch Androhung von Gewalt erzwingt. Nach Margalits Verständnis von Demütigung scheint klar zu sein, dass Zwangsarbeit die Würde der Person verletzt: »Eines der zentralen Merkmale von Demütigung ist der Verlust der menschlichen Autonomie und Kontrollfähigkeit, und weil Menschen, die Zwangsarbeit verrichten, physisch einem fremden Willen unterworfen sind, werden sie auch gedemütigt.« 120 Dieser Zusammenhang ist klar: Jemand hat die Macht, mich zu einem Handeln zu zwingen, das ich ohne Sanktionsdrohung nicht ausführen würde. Aber bloß deshalb, weil ich etwas unter willkürlichem Zwang tue, werde ich nicht schon ausgebeutet. Wer mich z. B. zwingt mit der Zahnbürste den Gehsteig zu putzen, demütigt mich in extremer Weise, aber er beutet mich nicht aus, und zwar deshalb, weil die erzwungene Tätigkeit keinen Nutzen für andere hat. Daraus folgt, dass es etwas anderes sein muss, was Zwangsarbeit zu einer besonderen 119 120
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Vgl. Kap. 6 (insbes. Abschnitt 6.3) und Kap. 9 dieser Arbeit. Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 294.
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Würde und Tauschgerechtigkeit
Form der Demütigung macht. Es liegt nahe, die Demütigung in der Instrumentalisierung einer anderen Person zu einem bloßen Werkzeug oder zu einer Art Nutztier zu sehen, wie es bei der Sklaverei und der Leibeigenschaft der Fall ist. Neben der Demütigung durch physischen Zwang ist es also diese Leugnung des Menschseins der Person, kantisch gesprochen: diese radikale Missachtung der Person als ein Zweck an sich selbst, die die Selbstachtung verletzt. Da Arbeit als eine eigenverantwortete Existenzsicherung Bedingung der Würde ist, wurde durch diesen Wert der Arbeit die Forderung nach einem Mindestlohn begründet. Eine nicht Existenz sichernde Entlohnung für eine (Vollzeit-) Arbeit ist demütigend, weil die Betroffene durch ihre Arbeit nicht vollständig von fremder Hilfe unabhängig ist. Die Frage ist nun aber, ob es auch demütigend ist, von einer anderen Person in dieser Form ausgebeutet zu werden. Auch in diesem Fall liegt eine einseitige Instrumentalisierung vor: Da der erste Sinn und Zweck der Arbeit die Existenzsicherung ist und also das notwendige Interesse darstellt, ein Arbeitsverhältnis einzugehen, wird niemand freiwillig für einen Hungerlohn arbeiten. Hungerlöhne sind daher das Ergebnis der Macht des Arbeitgebers, die Bedingungen des Arbeitsverhältnisses zu diktieren. Der Unterschied liegt also in der Perspektive: Demütigend ist auf Dauer von der Hilfe und dem Wohlwollen anderer abhängig zu sein. Demütigend ist aber auch die Machtlosigkeit, gegenüber dem Arbeitgeber die eigenen existentiellen Interessen nicht vollständig durchsetzen zu können, und das im Bewusstsein, dass dieser den vollen Nutzen aus der für ihn geleisteten Arbeit zieht. Die nicht in Existenz sichernder Höhe bezahlte Arbeitskraft wird einseitig instrumentalisiert, ist abhängig vom Wohlwollen des Arbeitgebers, der frei bestimmen kann, in welcher Höhe er den Arbeitenden bezahlt. Auf einen Mindestlohn aber hat der Arbeitende durch seine Leistung ein Recht. Daraus ergibt sich nun die Forderung, das einseitige Machtverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber anzugleichen, damit der Arbeitnehmer nicht in existentieller Abhängigkeit der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert bleibt. Neben dem Mindestlohn ist an Kündigungsschutz zu denken, gewerkschaftliche Organisation, Formen der Mitbestimmung etc. Nur unter diesen Bedingungen ist das Arbeitsverhältnis insofern ein gleiches, als keine Partei in existentieller Abhängigkeit der Willkür der anderen schutzlos ausgeliefert ist. Damit bleibt abschließend die Frage, ob es jenseits der Forderung nach einem Mindestlohn keine Ausbeutung gibt bzw. ob es eine A
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demütigende Ausbeutung darstellt, wenn Arbeitnehmer zwar den Mindestlohn erhalten, nicht aber am erwirtschafteten Gewinn partizipieren können. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt darin begründet, dass unklar ist, wenn man von Ausbeutung sprechen kann: Was ist eine faire Gewinnbeteiligung? Wenn sich der Sinngehalt von Ausbeutung nicht bestimmen lässt, dann macht es natürlich auch keinen Sinn nach dem Zusammenhang von Ausbeutung und Demütigung zu fragen. Margalit versteht mit Gerald Cohen 121 unter Ausbeutung eine distributive Ungerechtigkeit: Von Ausbeutung könne man im eigentlichen Sinne nur dann sprechen, »wenn die Produktionsmittel, die das Eigentum des Kapitalisten sind und die er in den Produktionsprozess einbringt, zu irgendeinem Zeitpunkt jemand anderem entwendet wurden. Dazu müssen sie nicht unbedingt ihrem rechtmäßigen Besitzer geraubt worden sein, sondern nur jemandem, der moralisch gesehen ihr Eigentümer war.« 122 Dieses Verständnis von Ausbeutung hängt ganz und gar am Begriff des Eigentums. So kommt Margalit dazu, Ausbeutung nicht als demütigend anzusehen: »Es ist nicht grundsätzlich demütigend, an einer Maschine, deren Eigentümer man eigentlich sein sollte, Dinge zu produzieren.« Denn bei diesem Akt der Ausbeutung handele es sich weder um einen Ausschluss aus der Menschengemeinschaft noch um einen Verlust der individuellen Autonomie oder Kontrollfähigkeit. »Nur wenn sie mir selbst gestohlen wurde und ich gezwungen werde, an ihr zu arbeiten, können wir sagen, dass es sich nicht um eine Kränkung, sondern um eine Demütigung handelt.« 123 In der gegenwärtigen politischen Philosophie herrscht nach wie vor die allgemeine Tendenz vor, sich auf Fragen der distributiven Gerechtigkeit zu konzentrieren. 124 Beispielhaft lässt sich das an Stefan Gosepaths Buch Gleiche Gerechtigkeit demonstrieren: Unter Egalitarismus wird dort eine abstrakte Verteilungsregel verstanden. Der Tauschgerechtigkeit wird hingegen nur ein sekundärer Status zugestanden. Denn ein Tausch setze bereits voraus, dass die beteiligten Parteien rechtmäßig über ihre Tauschgüter verfügten. Einer Beurteilung der Tauschgerechtigkeit gehe somit immer die Frage nach der Gerald A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History: A Defence, Oxford 1978. Margalit, Politik der Würde, a. a. O., S. 296. 123 Ebd., S. 299 f. 124 Das gilt übrigens auch und gerade für den Nonegalitarismus, der ja ausschließlich distributive Gerechtigkeitsgrundsätze attackiert – sei es das Prinzip einer Präsumtion der Gleichverteilung oder der Schicksalsegalitarismus. 121 122
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Würde und Tauschgerechtigkeit
gerechten Verteilung dieser Güter voraus. 125 Dieses Argument ist natürlich Kants Eigentumstheorie entlehnt. 126 Kant hat aber die Rechtmäßigkeit des Eigentums nicht ausschließlich auf ein Verfahren der Besitznahme und also auf ein prozeduralistisches Konzept distributiver Gerechtigkeit gegründet. Für ihn bleibt das Problem, dass die Macht des Eigentümers verrechtlicht werden muss. Kant hat dieses Problem nicht gelöst, im Gegenteil: Er redet ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen das Wort, wenn soziale Hierarchien nur unter der Bedingung formaler Chancengleichheit stehen. In Auseinandersetzung mit den Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Dworkin hatten wir die Frage nach einem fairen Einkommen hingegen in erster Linie in der Perspektive der Tauschgerechtigkeit beantwortet: Die Einkommensverteilung ist dann gerecht, wenn die Marktteilnehmer unter fairen Bedingungen Verträge schließen können. Ausbeutung sei daher auch als die Machtlosigkeit verstanden, bei der Einkommensverhandlung nicht als ein Tauschpartner aufzutreten zu können. Ob der Besitz der Produktionsmittel rechtmäßig ist, hängt immer auch davon ab, welche Macht der Eigentümer der Produktionsmittel besitzt. Wenn der Kapitaleigner unabhängig vom Profit die Einkommenshöhe diktieren kann, können wir von Ausbeutung sprechen, auch dann, wenn der Mindestlohn nicht unterboten wird. Freilich hängt diese Macht auch von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ab und damit von der chancengleichen Qualifikation. Tauschgerechtigkeit verlangt also nach der Organisation der Arbeitnehmer und betrieblicher Mitbestimmung, damit sie als Tauschpartner auftreten können. Ist diese dritte Form der Ausbeutung auch demütigend? Sie ist gegenüber den ersten beiden Formen gewiss eine schwächere Form der Instrumentalisierung: Der Arbeitende wird nicht verdinglicht und er kann durch seine Arbeit aus eigener Kraft existieren. Entsprechend lässt sich auch nicht plausibel machen, dass er in gleicher Weise gedemütigt würde. Man kann von einer verweigerten Anerkennung der Arbeitsleistung reden. Aber insofern die monetäre Anerkennung qua Arbeitsleistung geschuldet ist, beruht die Verweigerung auf einseitiger Macht und stellt daher eine Missachtung des anderen als eines gleichen Tauschpartners dar. Das ist in der Tat demütigend. 125 126
Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, a. a. O., S. 84 ff. Vgl. Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. A
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Schluss: Egalitarismus im Kontext sozialer Gerechtigkeit
10.8 Vier Prinzipien sozialer Gerechtigkeit Wir haben somit drei Sphären sozialer Gerechtigkeit unterschieden. Aber anders als Michael Walzer 127 treffen wir diese Unterscheidung nicht hinsichtlich dreier Prinzipien, die jeweils eine eigene Sphäre der Gerechtigkeit konstituieren: des Bedürfnisses (soziale Sicherheit), der Leistung (Chancengleichheit) und des Tausches (Arbeit als Leistungsaustausch). Vielmehr nimmt die Argumentation ihren Ausgang bei einer formalen Bestimmung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit: Die mit Gesetzesverbindlichkeit ausgestatteten Regeln, die die Rahmenbedingungen der sozioökonomischen Institutionen festlegen, müssen so beschaffen sein, dass sie die Selbstachtung der Menschen nicht verletzen. Im Zentrum dieses Verständnisses sozialer Gerechtigkeit steht somit der Begriff der Würde. Damit bezeichnen wir zunächst ganz abstrakt die Fähigkeit des Subjekts, ein autonomes, ein selbstverantwortetes Leben zu führen. Autonomie meint aber immer die Unabhängigkeit von anderen in bestimmten Hinsichten. Egalitaristisch verstanden ist daher die Autonomie nur unter der Bedingung der Statusgleichheit aller Subjekte als ein Recht zu fassen. Nun muss gefragt werden, durch welche Bedingungen im sozioökonomischen Kontext diese Fähigkeit des Subjekts beschädigt wird. Auf diese Weise haben wir drei unterschiedliche substantielle Bedeutungen der Würde unterschieden. Zunächst bezeichnet sie die basale Unabhängigkeit des Subjekts, ein Leben ohne fremde Hilfe führen zu können, oder positiv formuliert, aus eigener Kraft existieren zu können. Dieser fundamentale Wert begründet einen Anspruch auf eine in Existenz sichernder Höhe entlohnte Arbeit. Auch wenn wir das nicht als ein Grundrecht verstehen wollen, ist doch damit allen Gerechtigkeitstheorien eine klare Absage erteilt, die statt eines Anspruches auf Arbeit ein von der Erwerbsarbeit entkoppeltes Grundeinkommen für alle Bürger einklagen. Ob es sich dabei um ein einklagbares Recht handelt, ist wiederum eine ökonomische, keine philosophische Frage. Aber in die Tat umgesetzt würde ein solches Grundeinkommen zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft führen, in die Leistungsträger auf der einen und in die Nutzlosen auf der anderen Seite. Was bedeutet das für die Selbstachtung der vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen? 128 127 128
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Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a. a. O. Die werden sich in dreifacher Hinsicht als nutzlos gegenüber den Erwerbstätigen
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Vier Prinzipien sozialer Gerechtigkeit
Als Bedingung der Existenzsicherung muss Arbeit mit einem besonderen Status verknüpft sein. Sie muss dem Arbeitenden die soziale Sicherheit garantieren, durch die er gegen die gravierenden Lebensrisiken wie Altersarmut, Arbeitsunfähigkeit und Krankheit abgesichert ist. Arbeit schafft auf diese Weise Zutritt zu einem sozialen Sicherungssystem, durch den die Person ein Recht auf und eine Verpflichtung zu Hilfe in Not erhält. Hilfe ist hier kein Gegenstand des Altruismus und der Barmherzigkeit, sondern der Solidarität. Die zweite Sphäre sozialer Gerechtigkeit erschließt sich aus dem besonderen Wert der Arbeit als einer sinnerfüllenden Tätigkeit. Anspruchsvollere Arbeit und ihre soziale Anerkennung ist formaler Bestandteil einer objektiven Idee des guten Lebens. Dieser Wert begründet das Recht auf freie Berufswahl und den chancengleichen Zugang zu den Bildungsinstitutionen der Gesellschaft. Der Ausschluss von vorteilhaften beruflichen Positionen und von den Bildungsinstitutionen schafft einen Bürgerstatus zweiter Klasse. Das ist demütigend. So haben wir im Kontext der Verteilung von beruflichen Positionen und von Bildung den zweiten Sinngehalt von Würde bestimmt. Und schließlich ist drittens der Tauschcharakter von Arbeit zu berücksichtigen: Beide Tauschparteien müssen einander in fairen Verhandlungspositionen begegnen können. Soll das Tauschverhältnis eines der wechselseitigen Achtung sein, dann ist die Macht des Arbeitgebers zu beschränken. Der Arbeitende muss seine existentiellen Interessen (Mindestlohn, Kündigungsschutz) ebenso wie sein Interesse auf Gewinnbeteiligung zur Geltung bringen können. Diese vier Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, der Anspruch auf Arbeit, der Anspruch auf soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Tauschgerechtigkeit, spezifizieren die Forderung nach gleicher Achtung und Würde im sozioökonomischen Kontext. Aber wie verhalten sie sich zueinander? Ist es sinnvoll, sie in eine lexikalische Rangfolge zu bringen, so dass der Anspruch auf Arbeit Vorrang gegenüber der sozialen Sicherheit, diese wiederum Vorrang gegenüber der Chancengleichheit, der Mindestlohn Vorrang gegenüber der Gewinnbeteibegreifen müssen: Zum Ersten als unfähig, für den eigenen Lebensunterhalt selbst sorgen zu können, zum Zweiten als Menschen, die über keine ökonomisch verwertbaren Fähigkeiten verfügen und zum Dritten als Kostgänger der Erwerbstätigen. Außerdem muss geklärt werden, wer denn die Pflicht hat, für ein von der Erwerbsarbeit entkoppeltes Grundeinkommen aufzukommen? Der Staat? Wer aber bezahlt den? Wer also muss arbeiten und Steuern zahlen? A
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Schluss: Egalitarismus im Kontext sozialer Gerechtigkeit
ligung hat? Dafür spricht, dass wir die vier Prinzipien in eine Rangfolge gestellt haben. Es ist schlimmer, in Armut vom Wohlwollen anderer angewiesen zu sein als aufgrund von Chancenungleichheit nur einen geringer qualifizierten Beruf erlernen zu können. Und es ist schlimmer von den Institutionen der Gesellschaft als ein Mitglied zweiter Klasse behandelt zu werden als keine Macht zu besitzen, ein faires Einkommen auszuhandeln. Gleichwohl sollen alle vier Prinzipien als gleichrangig verstanden werden. Rawls’ lexikalischer Vorrang des Chancengleichheitsvor dem Differenzprinzip, der detailliert im zweiten Kapitel dieser Arbeit diskutiert wurde, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass letzteres ein konsequentialistisches Prinzip ist: Es bietet als ein solches die Möglichkeit der Rechtfertigung, die Chancengleichheit einzuschränken, wenn es den am schlechtesten Gestellten nutzt. Der lexikalische Vorrang verbietet diese Möglichkeit und setzt das Differenzprinzip im Konfliktfall außer Kraft. Vorrangregelungen relativieren die Gültigkeit von Gerechtigkeitsprinzipien. Das ist bei Rawls möglich, weil die Chancengleichheit und das Differenzprinzip ganz unterschiedliche Werte, in Rawls Terminologie: Grundgüter schützen. Unsere vier Prinzipien haben aber ein Gemeinsames: Sie werden alle durch den freilich unterschiedlichen Wert der Arbeit für ein Leben in Würde begründet. Wer daher die Einschränkung der Tauschgerechtigkeit, der Chancengleichheit oder der sozialen Sicherheit mit dem Argument rechtfertigt, dass dies die ökonomische Bedingung dafür sei, das erste Prinzip, den Anspruch auf Arbeit, in Kraft zu setzen, verändert den Wert der Arbeit. Das Gut, auf das die Bürger in einem solchen Fall Anspruch hätten, wäre nicht mehr eines, das in einem umfassenden Sinne Freiheit und Gleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit garantiert. Deswegen sind die vier Prinzipien gleichrangig.
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Personenregister
Anderson, E. 18, 60, 197, 202, 206, 219, 227, 231–232, 266, 280, 328 Aristoteles 11–12, 15, 116, 247–249, 252 Arneson, R. 55, 59–60, 63–66, 229 Arrow, K. 239 Berlin, I. 138 Brandt, R. 28 Castel, R. 349, 355–359 Chwaszcza, C. 19, 21, 222, 272 Clayton, M. 55, 95 Cohen, G. A. 16–17, 100, 102–103, 192, 203, 206–207, 229, 264, 266, 323–324, 368 Cohen, J. 172–174 Daniels, N. 39 Dworkin, R. 17, 19–21, 26, 49, 77–78, 90–101, 103–104, 106, 112–119, 123– 140, 142–157, 160–167, 169–172, 174, 176–180, 182, 184–193, 195–203, 208– 209, 211–214, 217–230, 241, 250, 260– 269, 271–281, 283, 285, 288, 290, 297, 318, 329, 358, 360, 369 Eckl, A. 30 Elster, J. 296 Feinberg, J. 13, 38, 41 Forst, R. 118, 352 Frankena, W. K. 109, 251 Frankfurt, H. 14, 79, 270 Fraser, N. 339, 345–346 Ganßmann, H. 300 Gauthier, D. 236
Gosepath, S. 16, 142, 316–317, 320, 327, 369 Gutmann, A. 159, 306 Habermas, J. 30, 142, 174–175 Hart, H. L.A. 118, 146 Hinsch, W. 246 Hobbes, Th. 88, 145, 235, 254, 272, 357 Höffe, O. 236 Holst, J. 270, 281–282 Honneth, A. 307, 316, 330–342, 344–346 Kambartel, F. 300, 302–303, 307–309, 313 Kant, I. 25–30, 32, 34–35, 86, 91, 107– 108, 235–237, 244, 352, 356–357, 369 Kaufmann, F. X. 222, 224, 304–305, 308, 313, 349 Kersting, W. 19, 21, 74, 190–191, 200, 222, 305–306 Koller, P. 15 Krebs, A. 11, 13–14, 16, 18, 102, 247, 270, 285, 291–292, 296, 300, 302–304, 307– 311, 313, 326, 338, 348–349, 352, 361 Kymlicka, W. 16, 25, 72, 121, 195, 200, 220, 227, 230–231 Laaser, U. 270, 281–282 Ladwig, B. 21 Lauterbach, K. 284 Locke, J. 116, 134, 356 Ludwig, B. 30 MacCallum, G. C. 141 Marc-Wogau, K. 13 Margalit, A. 11, 58, 260, 285, 293–295, 315, 343, 346–350, 353–355, 358–359, 361–362, 364–366, 368 A
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Mason, A. 39, 50, 320–328, 362 Mill, J. S. 72, 108–110, 119, 351, 362 Miller, D. 17, 35, 38, 42, 45, 141, 158–160 Nagel, Th. 24, 34, 36, 43, 46, 48–52, 223 Nida-Rümelin, J. 365 Nietzsche, F. 348 Nozick, R. 201 Nussbaum, M. 17, 234, 237, 242, 244– 245, 247–260, 270–272 Parfit, D. 14, 43, 66–67, 127, 310, 325, 350–351 Pauer-Studer, H. 17, 78, 142, 196, 252, 262–263, 265 Pfannkuche, W. 73, 207, 275, 278–279, 295–296 Pogge, T. 59–60, 63 Rawls, J. 15–19, 23–26, 33–37, 40, 42–61, 63–77, 79, 92, 95, 106–107, 109–112, 118–120, 131, 140, 146, 160–161, 173, 186–187, 189–190, 193, 195, 197–199, 202, 206–207, 211–213, 218, 220, 226– 227, 229–230, 232–235, 237–239, 241– 248, 250, 253–255, 257, 260–261, 272, 286–287, 289, 295, 303, 309, 320–323,
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328–329, 331, 338, 353, 362–363, 369, 372 Raz, J. 14, 270, 310, 350–351 Rössler, B. 93, 96, 307, 309 Scanlon, Th. 113, 319 Scheffler, S. 185, 229, 231–232 Scherer, Ch. 251 Schmidt am Busch, H.-Ch. 292–293, 295 Scholz, O. 18 Schramme, T. 16, 351 Sen, A. 17, 43, 45–47, 239 Strawson, P. 98 Taylor, Ch. 79–85, 87–90, 346 Tugendhat, E. 12, 15, 80, 82, 231, 319– 320, 332, 348 Unruh, P. 30 Walzer, M. 17, 39, 124, 158–160, 183, 204–208, 224–226, 231–232, 370 Weber, M. 348 Westen, P. 141 Wildt, A. 326 Williams, B. 38–39 Young, I. M. 61–62, 231–232
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Eckhard Romanus
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