Gerechtigkeit und Verantwortung: Liberale Gleichheit für autonome Personen 9783050078212, 9783050035086

Liberale Personen legen Wert auf ihre Verantwortlichkeit. Liberale Regeln der Gerechtigkeit sollen dieser Wertschätzung

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German Pages 242 [244] Year 2000

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Gerechtigkeit und Verantwortung: Liberale Gleichheit für autonome Personen
 9783050078212, 9783050035086

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Bernd Ladwig Gerechtigkeit und Verantwortung

Bernd Ladwig

Gerechtigkeit und Verantwortung Liberale Gleichheit für autonome Personen

Akademie Verlag

Dissertation am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin während des Dekanats von Prof. Dr. Hartmut Häußermann 1. Gutachter: Prof. Dr. Herfried Münkler 2. Gutachter: Prof. Dr. Axel Honneth

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ladwig, Bernd : Gerechtigkeit und Verantwortung : liberale Gleichheit für autonome Personen / Bernd Ladwig. - Berlin : Akad. Verl., 2000 Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999

ISBN 3-05-003508-0 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck: GAM MEDIA, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Meinen Eltern

Inhalt

Vorwort

7

Einleitung 1. Fragestellung und Aufbau der Arbeit 2. Begriffliche Vorbemerkungen

9 9 12

TEIL I AUTONOMIE

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus 1. Freiheit und Autonomie 1.1 Zwang und Möglichkeit 1.2 Wahlfreiheit und Freiheit des Willens 1.3 Eine Bemerkung zum Verantwortungsbegriff 2. Welche (Freiheits-)Rechte haben wir?

23 26 28 33 39 42

Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus 1. Personen bei Rawls 2. Systematischer Einschub: Ebenen einer Theorie des Guten 3. Dworkins ethischer Liberalismus

48 48 57 61

Kapitel III. Autonomie als Antwortfahigkeit 1. Verfügung und Responsivität 2. Rationalität und Täuschungsfreiheit 3. Die Frage der Reichweite

70 70 77 81

Kapitel IV. Die Ressourcen der Person 1. Perspektiven einer Kritik von Präferenzen 2. Allgemeine Ressourcen 2.1 Allgemeine Tauschmittel 2.2 Bildung und Informationen

85 85 88 90 92

6

Inhalt

2.3 Selbstachtung 2.4 Handlungsfähigkeit 2.5 Lebensformen 2.6 Einige Bemerkungen zur Binnenstruktur der Liste 3. Ressourcen und Grundgüter

97 100 103 113 116

TEIL II GLEICHHEIT

123

Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen? 1. Gutes Befinden 2. Aussichten und Umstände 3. Drei Ergänzungen der Ressourcentheorie

128 128 132 141

Kapitel VI. Die Stufen der Gleichheit I: Bedürfnisgleichheit 1. Ausschluß und Demütigung 2. Vordringlichkeit und Insuffizienz der Bedürfnisgleichheit

146 148 159

Kapitel VII. Die Stufen der Gleichheit II: Chancengleichheit 1. Substantielle Chancengleichheit 2. Erweiterte Chancengleichheit 2.1 Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit 2.2 Ein material erweitertes Auktionsmodell 2.3 Möglichkeiten und Grenzen 'primärer Umverteilung': Das Beispiel multikulturelle Chancengleichheit 2.4 Talente und Löhne

162 162 170 171 179

Kapitel VIII. Ausblick: Die Politik der liberalen Gleichheit 1. Der Ort der Demokratie 2. Die Grenzen der reinen Gerechtigkeit 3. Vier Auswege

205 205 208 212

Literatur

217

Namensregister

235

Sachregister

239

182 195

Vorwort

In der sozialpolitischen Debatte unserer Zeit bilden 'Gerechtigkeit' und 'Verantwortung' ein suggestives Begriffspaar. Die Forderung nach einem substantiellen Abbau der sozialen Sicherungssysteme wird mit dem Recht mündiger Menschen auf eine selbstverantwortliche Lebensführung begründet. Diese Begründung geht über die Feststellung objektiver Schwierigkeiten hinaus, die heute jede um materiale Gleichheit bemühte Politik begleiten: Sie versieht diese Schwierigkeiten mit einem gerechtigkeitstheoretischen Gütesiegel. Man könnte fragen, was uns die Norm der Gerechtigkeit in der Zeit einer entfesselten 'Standortkonkurrenz', unter dem dreifachen Vorzeichen deregulierter Finanzmärkte, transnationaler Unternehmen und staatlicher Fiskalkrisen, noch zu sagen habe. Ohne handlungsfähiges politisches System scheint jeder Diskussion über soziale Gerechtigkeit der Bezugspunkt in der realen Welt zu fehlen, denn der rational operierende Markt ist seinem Wesen nach nicht an Gerechtigkeit interessiert. Zwingt uns diese Feststellung aber zur Preisgabe eines normativen Selbstverständnisses, das uns solche Schwierigkeiten überhaupt erst als Herausforderungen zu verstehen erlaubt? Wer dieser Ansicht ist, muß sagen können, wie sich die institutionelle Ordnung liberaldemokratischer Gesellschaften mit einem resignativen oder gar zynischen Bewußtsein vereinbaren läßt, das die Frage nach der Legitimität von Herrschaft wahlweise für gegenstandslos erklärt oder allein noch auf sozialtechnische Methoden der Glaubensbeschaffung vertraut. Offenbar kann eine solche Einstellung nicht mehr mit der Perspektive von Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden, die von ihren Gesellschaften mehr als effizientes Funktionieren erwarten: die beteiligt und berücksichtigt sein wollen, wenn Entwicklungen und Entscheidungen ihre fundamentalen Interessen berühren. Eine 'neoliberale' Argumentation greift diesen Anspruch auf, wo sie ihre eigene Idee der Gerechtigkeit präsentiert; eine Idee, die mit der sozialpolitischen Selbstabwicklung der Staaten vollkommen harmonieren soll. Der Wohlfahrtsstaat widerspricht demnach der menschlichen Eigenverantwortung, weil er die Bürgerinnen und Bürger zur Passivität geradezu erzieht. Diese Kritik kann sich entweder auf die bürokratische Form der Leistungsgewährung (und auf das mögliche Problem ihrer unzureichenden Zieleffizienz) beziehen oder auf das zugrundeliegende Prinzip: die Idee sozialer Teilhaberechte. Wie ich zeigen möchte, kollidiert die zweite Art der Kritik mit ihrer eigenen

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Vorwort

erklärten Voraussetzung, der Wertschätzung von Autonomie. Eine Leitthese dieser Arbeit lautet, daß ein liberaler 'Vorgriff auf Verantwortlichkeit' einem starken Verständnis von Gleichheit nicht etwa entgegensteht, sondern nach einem solchen Verständnis geradezu verlangt. Überlegungen dieser Art geben uns gewiß keinen operativen Schlüssel an die Hand. Aber sie erlauben uns, den Abstand zwischen den Geboten der Gerechtigkeit und dem Lauf der Welt als Abstand wenigstens noch zu erkennen. Sie sollen verhindern, daß der drohende - und mancherorts schon beobachtbare - Verfall der sozialpolitischen Standards mit einem Verfall des normativen Anspruchsniveaus einhergeht, auf dem allein wir unseren politischen Sprachgebrauch und unsere Selbstwahrnehmung als freie und gleiche Bürgerinnen und Bürger angemessen verstehen können. Das Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Sozialwissenschaften an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Herfried Münkler und Axel Honneth möchte ich für die Unterstützung und Begutachtung der Arbeit herzlich danken. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am autonomen Apfelwein-Colloquium haben mir in einigen Diskussionsrunden wertvolle Hinweise gegeben. Gelegenheiten zur Ordnung und Überprüfung meiner Gedanken boten mir auch die Colloquien von Gerhard Göhler und Ulrich K. Preuß sowie ein von Hubertus Buchstein und Arnd Pollmann geleitetes Seminar, in denen ich jeweils Thesen der Arbeit präsentieren durfte. Sidonia Blättler verdanke ich die Möglichkeit zu einem Vortrag im 'Philosophischen Kreis' des Instituts für Philosophie an der Freien Universität Berlin, die ich gerne und mit intellektuellem Gewinn wahrgenommen habe. Mit Kerstin Haase, Mattias Iser, Grit Straßenberger und David Strecker habe ich weite Teile der Arbeit eingehend besprochen; ihre Einwände und Vorschläge waren auch dort hilfreich, wo ich ihnen schließlich nicht gefolgt bin. Jan Giesau hat mit Geduld und Sorgfalt mein Manuskript in eine druckfahige Form gebracht. Ihm möchte ich ebenso danken wie Mischka Dammaschke, der sich für die Aufnahme dieser Studie in das Programm des Akademie Verlages eingesetzt hat. Alle lieben Menschen schließlich, die in der ganzen Zeit dazu beigetragen haben, daß ich über das gute Leben nicht nur zu schreiben brauchte, seien mit einem Dank ganz eigener Art bedacht.

Einleitung

1. Fragestellung und Aufbau der Arbeit In der folgenden Arbeit möchte ich einige Probleme des liberalen Egalitarismus im Lichte einer formalen Konzeption des guten Lebens diskutieren. Der Titel betont die besondere Wertschätzung der Verantwortlichkeit in liberalen Theorien der Gerechtigkeit. Liberale Gleichheit ist eine Gleichheit für autonome Personen. Sie bezieht sich auf das basale Interesse mündiger Menschen, ein selbstbestimmt gelingendes Leben zu fuhren. Autonomie in diesem Sinne ist weder mit moralischer noch mit rechtlicher Autonomie gleichzusetzen, sondern liegt beiden zugrunde. Sie bildet den materialen Kern der politischen Philosophie des Liberalismus.1 Diese Behauptungen möchte ich begründen. Sie sprechen für eine Verknüpfung von liberalem Gleichheitsverständnis und liberalem Personenbegriff. Die Arbeit argumentiert für eine Spielart der Ressourcengleichheit, die sich allein auf der Folie eines starken Verständnisses von personaler Verantwortlichkeit gegen konkurrierende Versionen des Gleichheitsdenkens verteidigen läßt. Das Erfordernis eines ethisch gehaltvollen Personenbegriffs läßt sich rückwirkend bereits für die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls nachweisen. Es wird transparenter in Theorien, die das liberale Gleichheitsdenken auf die Unterscheidung zwischen unverschuldeten Umständen und selbstverantworteten Entscheidungen zuspitzen. Diese Differenzierung kennzeichnet die Diskussion um distributive Gerechtigkeit, seitdem der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin sie Anfang der achziger Jahre in zwei Artikeln zur Frage der Gleichheit hervorgehoben hat (Dworkin 1981; 1981a). Auf diese Diskussion bezieht sich die vorliegende Arbeit im Lichte einer ethischen Lesart der politischen Philosophie des Liberalismus. Damit ist ihr zeitlicher und sachlicher Rahmen umrissen. Unter einer liberalen politischen Philosophie verstehe ich eine auf individuelle Rechte zugeschnittene Theorie der Legitimation politischer Herrschaft. In den ersten

Diese Formulierung habe ich in Anlehnung an Martin Seel gewählt, der in seiner vorzüglichen Studie über die Form des Glücks auf einer allgemeineren Ebene festgestellt hat: „Ein formaler Begriff des Guten ist der materiale Kern der universalistischen Moral" (Seel 1995: 11). Auch sonst sind in meine Untersuchung viele Anregungen aus Seels Arbeit eingeflossen.

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Einleitung

drei Kapiteln möchte ich zeigen, daß die liberale Theorie der Rechte - und der Gerechtigkeit - auf ein ethisches Verständnis von Autonomie verweist. Kapitel I soll den liberalen Grundwert der Autonomie gegen den konkurrierenden Grundwert der Freiheit profilieren. Im Zuge einer immanenten Kritik am 'Liberalismus der Freiheit' möchte ich die Behauptung stützen, daß eine liberale Rechtsordnung dem Schutz und der Förderung der menschlichen 'Bestimmung' zur Selbstbestimmung dient. Eine so verstandene Rechtsordnung impliziert zugleich eine generalisierte Unterstellung personaler Verantwortlichkeit. Der damit umrissene Personenbegriff soll in Kapitel II als ethische Konzeption freigelegt werden. Zu diesem Zweck setze ich mich zunächst kritisch mit dem politischen Personenbegriff des späteren Rawls auseinander. Dabei geht es mir um den negatorischen Nachweis, daß die liberale Idee der verantwortlichen Person keine ausschließlich politische Idee sein kann. Aus der gleichen Einsicht zieht der spätere Dworkin die Konsequenz der Einbettung seiner egalitären Theorie in den Begründungszusammenhang eines ethischen Liberalismus. An diesen Vorschlag werde ich in Kapitel III mit meiner eigenen Konzeption der 'Autonomie als Antwortfahigkeit' anknüpfen. In Kapitel IV wird der liberale Personenbegriff'materialistisch' erweitert. Eine Liste allgemeiner Ressourcen bildet die genaue Hinsicht der Gleichheit für mündige Personen. Sie soll die generalisierte Unterstellung der Verantwortlichkeit mit allgemein dienlichen Mitteln und Hintergrundvoraussetzungen untermauern. Diesen Vorschlag möchte ich in Kapitel F von der konkurrierenden Leitvorstellung der Gleichheit des Wohlergehens abgrenzen. Ich werde die liberale Idee der Verantwortlichkeit heranziehen, um zu begründen, warum wir in politischer Absicht nicht ethisches Gelingen als solches, sondern lediglich gleichen Zugang zu den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens anstreben sollten: Theorien des Wohlergehens nehmen die Antwortfahigkeit mündiger Personen nicht ernst genug. Die beiden anschließenden Kapitel handeln von der Aggregierungsfimktion - oder den Verteilungsregeln - der Gleichheit. Ich werde zwei Stufen einer egalitären Theorie unterscheiden. In Kapitel VI betrachte ich die basale Stufe der Bedürfnisgleichheit. Unter den negatorischen Gesichtspunkten des Ausschlusses und der Demütigung soll die besondere Dringlichkeit einer menschenrechtlichen Minimalgerechtigkeit zutage treten, die vor allem die Selbstachtung mündiger Personen, und damit die wichtigste allgemeine Ressource, zu schützen hätte. Die politisch-moralische Grundnorm der gleichen Achtung und Berücksichtigung weist allerdings über diese Elementarstufe hinaus. Kapitel VII handelt deshalb von der anspruchsvolleren Norm der Chancengleichheit. Unter dem ernüchternden Eindruck der engen Grenzen einer bloß formalen Rechtsgleichheit hat diese Idee eine zunehmende Radikalisierung erfahren: Als Kriterium für substantielle Chancengleichheit gilt die Gleichheit der Erfolgsraten aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Die Angleichung der Aussichten von Gruppen findet ihren moralischen Ankerpunkt jedoch allein in dem individualistischen Leitgedanken einer anfänglichen Gleichstellung der einzelnen Personen. Weil diese Vorstellung in der Wirklichkeit - nicht nur - der kapitalistischen Gesellschaften keine Entsprechung fin-

1. Fragestellung und Aufbau der Arbeit

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det, soll sie im Zuge eines Gedankenexperimentes entfaltet werden: Ich werde die Liste allgemeiner Ressourcen in den kontrafaktischen Ausgangszustand einer walrasianischen Auktion einfügen und somit - dogmengeschichtlich gesprochen - einen an Rawls angelehnten Grundgüterindex mit dem methodischen Zuschnitt von Dworkins Theorie der Ressourcengleichheit verbinden. An den Beispielen des Multikulturalismus und des Umganges mit ungleichen Talenten soll auf Möglichkeiten und Grenzen einer solchen erweiterten Chancengleichheit beim Übergang von einer idealen in die reale Welt hingewiesen werden. Das abschließende Kapitel VIII gibt einen politisch akzentuierten Ausblick auf weitere Folgeprobleme eines liberalen Egalitarismus und deutet an, mit welchen anderen normativen Gesichtspunkten die 'reine' Idee der Gerechtigkeit zu vermitteln wäre, um ihren Platz im reflexiven Ganzen unseres moralischen Denkens zu finden. Und schließlich soll eine Frage wenigstens gestreift werden, die ansonsten in der vorliegenden Arbeit - wie in der Diskussion um distributive Gerechtigkeit überhaupt - zu kurz kommt: die Frage nach dem Verhältnis der materialen Theorie der Gleichheit zu einem prozeduralen Verständnis von Demokratie. Diese Problematik besitzt für mein Verständnis von politischer Philosophie eine größere Bedeutung, als die vorliegende Arbeit über weite Strecken vermuten läßt. Gerechtigkeit ist ein Gesichtspunkt, der in den meisten politischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielt. Doch viele Akteure verbinden damit nur vage und unstimmige Vorstellungen. An dieser Stelle kommt der Theorie der Gerechtigkeit eine klärende Funktion zu. Sie vermag den politischen Prozeß mit bestimmten Argumentationsmustern zu versorgen, kann ihn jedoch weder im ganzen simulieren noch gar ersetzen. Auch in diesem Sinne sind die folgenden Überlegungen als Beitrag zu einer politischen Theorie der Gerechtigkeit gedacht: Sie sollen politischen Akteuren zu einem möglichst kohärenten und umfassenden Verständnis der Bedeutung sozialer Gerechtigkeit verhelfen und einen vorteilhaften Einfluß auf das Niveau der inner- wie vor allem außerakademischen Diskussionen ausüben. Was die Philosophie dazu beisteuern kann, ist im günstigsten Fall nicht wenig: „die Bereitschaft und Kompetenz zur Offenlegung argumentativer Figuren, eine gewisse Disziplin in der Begriffsbildung, begleitende Methodenreflexion, Verfügen über ein Instrumentarium zur Virtualisierung der vorgenommenen Abstraktionen, Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit der behandelten Probleme, Standards der philologischen Genauigkeit und hermeneutischen Gerechtigkeit im Umgang mit fremden Texten" (Keil 1996: 48). An diesen Ansprüchen sei auch die vorliegende Arbeit gemessen - mit einer wichtigen Ausnahme: Die Geschichtlichkeit der hier verhandelten Probleme muß leider zu kurz kommen; hierfür hoffe ich in Anbetracht der wahrhaft endlosen Geschichte des Nachdenkens über Gerechtigkeit auf Verständnis.

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Einleitung

2. Begriffliche Vorbemerkungen In meiner Aufgabenstellung verbinden sich Fragen der politischen Moral des Liberalismus mit solchen der Ethik des guten Lebens. Vier zentrale Prädikate sollen einleitend umrissen werden: (a) politisch, (b) moralisch, (c) ethisch, (d) liberal. Dem letzten Prädikat werde ich mich ausführlicher zuwenden, weil es das diskursive Feld absteckt, auf dem sich die gesamte Argumentation bewegen wird. (a) Ziel der Arbeit ist eine dezidiert politische Theorie der Gerechtigkeit. Anders als der spätere Rawls möchte ich die Gerechtigkeitslehre damit nicht von 'metaphysischen' oder 'philosophisch umfassenden' Lehren absetzen, sondern lediglich, und so weit folge ich Rawls, auf einen bestimmten Gegenstandsbereich begrenzen: auf die Grundstruktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Politische Theorien der Gerechtigkeit handeln von Institutionen, Prozeduren und Entscheidungen, für die wir als Bürgerinnen und Bürger und als Inhaber hoheitlicher Ämter und Positionen verantwortlich zeichnen oder die uns als solche zumindest betreffen. Ihren Kernbereich bildet ein Gewebe von Einrichtungen, welche die Wechselbeziehungen von individuellen und kollektiven Akteuren und ihren Zugang zu den zentralen Gütern und Chancen einer Gesellschaft regulieren: „Solche Institutionen definieren und regulieren z. B. Eigentum, Arbeitsteilung, Sexualität und familiäre Beziehungen, sowie den politischen und wirtschaftlichen Wettbewerb; und sie regeln die Planung und Durchführung gemeinsamer Projekte, die Beilegung von Konflikten und auch, wie soziale Institutionen selbst geschaffen, verändert, interpretiert und durchgesetzt werden" (Pogge 1997: 1). Dieses Institutionenverständnis geht über Verfassungsfragen im engeren Sinne hinaus. So haben sich die feministischen Kritiken an der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie zu Recht auf die Vernachlässigung der herrschaftlichen Binnenverhältnisse von Familien konzentriert (Moller Okin 1989; 1995). In einer neueren Schrift hat der Jerusalemer Philosoph Avishai Margalit (1997) den Begriff der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen auf formal private, aber für das soziale Selbstverständnis unter Umständen wesentliche Einrichtungen wie Theater und freie Schulen ausgeweitet. In jedem Fall aber sollten wir nur solche Problematiken 'politisch' nennen, die legitimerweise zum Gegenstand öffentlicher Regulierung werden können, weil sie die Grundordnung oder die konstitutiven Prinzipien eines Gemeinwesens berühren. Beispiele wären wirtschaftliche Entscheidungen, welche die Lebensaussichten ganzer Regionen beeinflussen, oder systematische Praktiken der Herabsetzung und Ausbeutung, die sich mit der Achtung aller Menschen als Gleiche nicht vertragen. Politische Thematiken, so lautet in knappen Worten mein Vorschlag, haben einen allgemein nachvollziehbaren Bezug auf das gesellschaftliche Allgemeine, und wo dieser fehlt, sollten wir eine Sache bis zum Beweis des Gegenteils als Privatangelegenheit betrachten. Dieses Politikverständnis impliziert keine ontologische Unterscheidung zwischen politischen und privaten, öffentlichen und nichtöffentlichen Handlungssphä-

2. Begriffliche Vorbemerkungen

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ren. Es ist daher offen für eine Politisierung von bislang dem politischen Streit entzogenen Aspekten des sozialen Lebens (Offe 1987). Bei aller notwendigen Auseinandersetzung über die jeweiligen Grenzen des Politischen empfiehlt sich allerdings schon im Angesicht des möglichen Zwangscharakters politischer Regelungen eine gewisse Zurückhaltung: Das bleibt der berechtigte Kern in dem altliberalen Bemühen, dem übermächtigen und potentiell übermütigen Leviathan einen unverfügbaren Bereich der Privatheit abzutrotzen. Das politische Denken der Neuzeit steht von Anbeginn unter dem Eindruck der Herausbildung von rechtlich institutionalisierten Anstalten mit Gewaltmonopol. Ein zentraler Bezugsrahmen politischen Handelns ist seitdem der Staat. Dieser Umstand gibt der Frage nach der Legitimität politischer Ordnungen eine besondere Brisanz: Wann wenn überhaupt - ist die Konzentration der Gewaltmittel im Staat gerechtfertigt, und wann dürfen die Gewaltunterworfenen zur Selbsthilfe greifen, den Monopolisierungsanspruch also ihrerseits gewaltsam zurückweisen? Unter welchen Umständen darf von Männern und Frauen normativ erwartet werden, kollektiv bindende Entscheidungen tatsächlich zu befolgen? Solche Fragen bilden den Gegenstand der modernen politischen Philosophie (vgl. Kaufmann 1999). Sie handeln von der Moral des Politischen. Das setzt voraus, daß es möglich und sinnvoll ist, moderne Politik - in den drei Bedeutungsdimensionen der Ordnung {polity), der Zielorientierung {policy) und der Prozesse {politics) - moralisch zu beurteilen, sie als mehr oder weniger gut, richtig oder gerechtfertigt zu bewerten. (b) Unter 'Moral' verstehe ich in dieser Arbeit eine Sozialethik, deren Gegenstand die Regeln und Grundsätze reziproker Berücksichtigung bilden. Moral steht also für das intersubjektiv, mit Bezug auf den oder die jeweils anderen Gebotene. Auf dem moralischen Standpunkt bemühen wir uns, die Ansprüche eines jeden unparteilich zu berücksichtigen. Wir suchen nach Weisen des Umgangs mit möglichen oder tatsächlichen interpersonalen Konflikten, die alle Adressaten gleichermaßen als allgemeine Richtlinien ihres wechselseitigen Handelns annehmen können (Koller 1994: 80). Ohne das elementare Recht auf Berücksichtigung könnten die Individuen eine soziale Regelung nur als eine Form der Exklusion oder des bloß zwanghaften Einschlusses verstehen. Sie hätten dann keinen guten Grund, sich innerlich an sie gebunden zu fühlen. Allein die Möglichkeit der moralischen Selbstbindung erlaubt eine von den jeweiligen Kräfteverhältnissen unabhängige und in diesem Sinne friedliche Auflösung von Interessen- oder Wertkonflikten zwischen pluralen Akteuren. Moderne Moralsysteme deuten den Grundsatz der unparteilichen Berücksichtigung universalistisch und egalitär. Sie fordern eine Behandlung aller Personen als Gleiche. Nachdem die metaphysischen und traditionalen Gewißheiten zu bestenfalls noch vernünftig vertretbaren 'Ansichten neben anderen' geworden sind, entfällt die moralische Voraussetzung für „primäre Diskrimination" unter den Menschen (Tugendhat 1993; 1997). Apriorische Wertunterscheidungen zwischen (Kategorien von) Personen haben ihre allgemeine Plausibilität eingebüßt. Damit muß jede moralisch gerechtfertigte Regelung zwei Bedingungen erfüllen (Forst 1994: 68): Niemand darf von einem anderen

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Einleitung

grundsätzlich mehr verlangen, als er selbst zuzugestehen bereit ist (Reziprozität), und niemand, dem zugemutet wird, sich an gemeinschaftlich bindende Regelungen zu halten, darf von ihrer gemeinschaftlichen Begründung ausgeschlossen werden (Allgemeinheit]). Das Recht auf Berücksichtigung wird so zu einem Recht auf Rechtfertigung (ebd.: 133): Jede Person kann Gründe verlangen, und von jeder kann verlangt werden, solchen Gründen gemäß zu handeln, wenn - und nur wenn - sie allgemein teilbar sind. Auf diese Weise gelangen wir zu einer intersubjektivistischen Lesart des Kantischen Begriffs moralischer Autonomie. (c) Das Wort 'Ethik' steht in dieser Arbeit abkürzend für eine Individualethik des je für mich oder je für uns - als Kollektivsubjekt - guten Lebens. Sie gibt Auskunft über Bedingungen und Standards des Gelingens eines Lebens. Damit steht sie in der Tradition der antiken Güterethiken; einer Tradition, die in der praktischen Philosophie der Gegenwart eine nachmetaphysisch ernüchterte Auferstehung feiert. An diesem Ereignis möchte die vorliegende Arbeit teilhaben. Eine ihrer Leitthesen lautet, daß der politische Liberalismus aus Gründen der Konsistenz zugleich ein ethischer Liberalismus sein muß. Freilich muß sich der politische Liberalismus auch nur so weit auf ethische Fragen einlassen, wie das zur Einlösung seiner gerechtigkeitstheoretischen Absichten wirklich erforderlich ist.2 Meines Erachtens bedarf ein ethischer Liberalismus lediglich einer Vorstellung von den allgemeinen Bedingungen und Formen gelingenden Lebens, während er sich aus dem Streit um Konzeptionen des Guten heraushalten kann oder sich zu ihnen sogar neutral verhalten soll. Auf diese Weise läßt sich die liberale Skepsis gegenüber stark perfektionistischen Ethiken (vgl. Hurka 1993) auch auf der Grundlage eines ethischen Liberalismus bewahren; ja dieser gibt eigenständige Gründe für eine Rechtfertigung dieser Skepsis. (d) Was ich nicht vorhabe, ist eine direkte philosophische Verteidigung des Liberalismus als solchem. Insofern bleibt meine Arbeit 'bodenständig': Sie begibt sich nicht in die luftigen Höhen metaethischer Erörterungen oder in die (Un-)Tiefen moralphilosophischer Letztbegründungen. Vielmehr verbleibt sie in der Immanenz einer besonderen, für das Selbstverständnis demokratischer Rechtsstaaten allerdings unabdingbaren und in wesentlichen Hinsichten maßgeblichen 'Ideologie'. Das hat den Vorzug, daß die Thomas Scanlon bemerkt zu Recht, daß viele vermeintliche Theorien des Guten von vorneherein auf den Bezugsrahmen einer Moraltheorie oder auf Fragestellungen der politischen Philosophie zugeschnitten sind. Sie beanspruchen keine umfassende Deckung des ethischen Orientierungsbedarfs einer ersten Person: „I believe that the conceptions of well-being that figure in moral thinking more generally can be expected to diverge in similar ways from the conceptions that individuals might use in assessing their own lives. Whether they diverge or not, however, these conceptions of well-being will be moral conceptions, that is to say, they derive their significance, and to a certain extend their distinctive shape, from their role in the moral structures in which they figure" (Scanlon 1998: 110). Dieser Umstand ändert aber nichts daran, daß auch eine solcherart restringierte ethische Diskussion immer noch eine ethische Diskussion ist; der Ausdruck „moral conceptions" ist insofern irreführend, als sich Theorien des Wohlergehens oder des guten Lebens durch eine eigene Art von Geltungsansprüchen von moralischen Theorien im engeren Sinne unterscheiden.

2. Begriffliche Vorbemerkungen

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hier erörterten Prinzipien und Normen der Realität nicht gegenüberstehen wie ein bloßer Wunsch einer widerständigen Wirklichkeit. Als Ansprüche, Erwartungen und tragende Idealisierungen haben sie an den tatsächlichen politischen Ordnungen und Prozessen teil. Meine Untersuchung geht daher den Weg einer rationalen Rekonstruktion weltimmanenter und die jeweilige Wirklichkeit zugleich übersteigender normativer Gehalte. Eine solche Rekonstruktion sollte die wichtigsten Aspekte ihres Gegenstandes einbeziehen und in diesem Sinne umfassend sein; im Falle des Liberalismus sind dies etwa die Aspekte der Toleranz und Neutralität, der Autonomie und Verantwortlichkeit, der Rechte und der gleichen Berücksichtigung. Und sie sollte diese Aspekte in eine kohärente Ordnung bringen. Das erste Kriterium darf allerdings nicht mit einem Anspruch auf Vollständigkeit verwechselt werden. Die Auswahl der relevanten Gesichtspunkte wird von einem Gegenstandsvorverständnis geprägt, das im Falle des Liberalismus unweigerlich moralisch imprägniert ist (vgl. Larmore 1993; Waldron 1995). Der Bedeutungsraum dieses Ausdrucks läßt sich durch eine Untersuchung der tatsächlichen Wortverwendungen nicht ausmessen. Das liegt daran, daß 'Liberalismus', nicht anders als seine etymologische Namensgeberin, die Freiheit {libertas), ein intern normativer Begriff ist. Wir verbinden damit bestimmte Wertvorstellungen und möchten andere ausschließen. So werde ich etwa die Bedeutung der Grundrechte in der liberalen politischen Philosophie betonen und damit eine Trennlinie zum Utilitarismus ziehen. William B. Gallie (1965) nennt solche Begriffe, um auf ihren streitbaren Charakter hinzuweisen, „essentially contested concepts". Schmittianer mögen hinzufügen, daß ein Begriff, sobald er der einen oder anderen Seite im politischen Streit zugeschrieben wird, eine polemische Färbung annimmt (Schmitt 1932; zur Diskussion Bohlender 1995); ein Beispiel ist die von amerikanischen Konservativen geprägte verächtliche Wendung „L-word" (für liberalism). An die Wortverwendung, der diese Polemik gilt, werde auch ich mich anlehnen, allerdings in affirmativer Absicht. Die politische und philosophische Tendenz, für die sie steht, dürfte hierzulande eher sozialdemokratisch anmuten, weil sie den Gesichtspunkt der materiellen Gleichheit sehr viel stärker betont, als das viele erklärte Liberale zu tun pflegen: „In Germany this extended use of the term 'liberalism' is little known, perhaps because it is the social democratic party which maintained the position of emphasizing liberty and equality equally. The fact that in England and in the United States there was no social democratic party may have been one reason why this extended meaning of liberalism came into use" (Tugendhat 1992: 352f.). Wie diese Differenzierung schon andeutet, eignet dem Liberalismus nicht die Geschlossenheit einer einzigen Doktrin. Vielmehr bezeichnet er eine Familie von moralischen Theorien des Politischen, die, wie jede echte Familie, ihre Binnenunterscheidungen und ihre schwarzen Schafe kennt und deren Grenzen nicht immer klar auszumachen sind, obwohl wir Grund zu der Vermutung haben, daß es sie gibt. Der politische Liberalismus, wie er in dieser Arbeit verstanden wird, ist kein eifersüchtiger Gott, der das Ganze der politischen Philosophie zu verkörpern oder aus sich

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Einleitung

herauszusetzen behauptet. Aber er ist eine kämpferische Doktrin, die um die Grenzen ihrer Zustimmungsbereitschaft weiß (vgl. Taylor 1993: 57; Waldron 1995: 131). Was ich glaube - hier jedoch nur postulieren, nicht auch belegen möchte - , ist, daß andere Stränge unseres politischen Selbstverständnisses jeweils spezifisch liberale Anknüpfungen erlauben und zumindest keine illiberalen Fortsetzungen erfahren sollten. Sie mögen sich zum Liberalismus komplementär verhalten oder mit diesem inkommensurable Werte vertreten, aber sie dürfen mit seinen grundlegenden Prinzipien nicht inkompatibel sein.3 Für den Kommunitarismus ist das mittlerweile ausfuhrlich gezeigt worden (Forst 1993; 1994). Seine moderateren Varianten erweisen sich als immanente Korrekturinstanz des liberalen Denkens, wie dieses schon einige auf den Plan gerufen hat (Walzer 1993a). So betont der Republikanismus den Eigenwert politischer Partizipation und das funktionale Erfordernis von demokratischen Bürgertugenden (Münkler 1992; Taylor 1995). Sozialismus und Feminismus sind Herausforderungen für den Liberalismus, die zugleich als seine legitimen Kinder gelten dürfen, weil sie unter je eigenen Gesichtspunkten ausbuchstabieren, was im frühliberalen Gleichheitsdenken bloß abstrakt und durchaus nicht klassen- und geschlechtsneutral - beansprucht worden ist (vgl. für den Sozialismus etwa Kymlicka 1990; Nielsen 1985; für den Feminismus Moller Okin 1989; Nagl-Docekal 1995). Das romantische Korrektiv schließlich erinnert den Liberalismus an die gemeinschaftlichen Einbettungen und starken Wertbindungen auch 'liberaler Personen' (Larmore 1993). Der neuere Kommunitarismus hat jede dieser Korrekturinstanzen in bestimmten Aspekten beerbt oder teilt mit ihnen zumindest, wie im Falle des Feminismus, zentrale Kritikpunkte am Liberalismus (Rössler 1992). Wie viel auch diese Arbeit, bei aller Kritik, der kommunitaristischen Anregung verdankt, dürften etwa die Abschnitte über 'multikulturelle Gerechtigkeit' verraten, die von der normativen Bedeutung starker Gemeinschaftsbindungen für eine liberale Theorie der Rechte handeln (Kapitel IV: 2.5; Kapitel VII: 2.3). Ich habe dieser Diskussion schon deshalb einen relativ großen Raum gegeben, weil sie sich als Testfeld für die relative Neutralität meiner Konzeption des ethischen Liberalismus gegenüber konkurrierenden Leitvorstellungen von einem gelingenden Leben anbietet. Wichtiger noch ist, daß wir den ethischen Liberalismus selbst als konstruktive Antwort auf den Kommunitarismus verstehen können. Er konzediert, daß sich eine strikte Diskontinuität zwischen Fragen des (Ge-)Rechten und Fragen des guten Lebens nicht durchhalten läßt. Damit kommt er den kommunitaristischen Kritikern an einem entscheidenden Punkt entgegen: Liberale Prinzipien und Normen bringen durchaus spezifische Wertschätzungen ethischer Natur zum Ausdruck. Dieses Eingeständnis erschwert Inkommensurabel nenne ich grob gesagt solche Doktrinen, die sich nicht ineinander übersetzen oder in eine gemeinsame Rangordnung bringen lassen, weil sie auf unterschiedliche Fragen antworten. Inkompatibel sind im Unterschied dazu solche Doktrinen, die auf dieselben Fragen miteinander unvereinbare Antworten geben. In diesem Fall kann es durchaus rational sein, nach einer einzigen bestmöglichen Antwort zu suchen, während das bei inkommensurablen Lehren nicht der Fall ist.

2. Begriffliche Vorbemerkungen

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die Begründung einer liberalen Position in einer wesentlichen Hinsicht: Es verbietet jede strikte Strategie der Vermeidung ethischer Kontroversen in politisch-moralischer Absicht (Macedo 1990: 60). Der Liberalismus läuft somit Gefahr, als eine lediglich partikulare Lehre entlarvt zu werden. Wäre diese Gefahr vermeidbar, so wäre dies ein hinreichender Grund, den ethischen Liberalismus abzulehnen, denn moralische Theorien sollten um der verbindlichen Orientierung unseres Handelns willen keine Veranlassung zu unnötigen und womöglich unauflöslichen Kontroversen geben. Zudem sind liberale Prinzipien aufgrund ihrer konzeptionellen Bindung an die Idee der Menschenrechte intern auf universale Geltung angelegt. Daher bevorzugen Liberale vergleichsweise abstrakte moralische Regelungen oder Metanormen, die sich nach Möglichkeit neutral zu den unterschiedlichen Vorstellungen von einem gelingenden Leben verhalten sollten. Wenn sich jedoch das spezifisch liberale Neutralitätsverständnis selber nur auf dem Hintergrund einer ethischen Konzeption von personaler Verantwortlichkeit umfassend und kohärent erläutern läßt, so kann die Neutralität in Fragen des Guten keine absolute sein. Der neutrale Standpunkt des Liberalismus läßt sich dann nicht seinerseits neutral begründen. 4 Wie ich zeigen möchte, treten die Grenzen eines liberalen Neutralitätsverständnisses nicht zuletzt auf dem Gebiet der distributiven Gerechtigkeit zutage. Sie werden sichtbar, sobald man die Regeln der Verteilung auf eine bestimmte Hinsicht der Gleichheit bezieht: sobald man fur diese Variable zum Beispiel eine Liste von Grundgütern oder allgemeinen Ressourcen und nicht Wohlergehen als solches einsetzt.5 Diese Konzession an den Kommunitarismus ändert jedoch nichts daran, daß auch ein ethischer Liberalismus nach wie vor ein Liberalismus ist. Was ich in dieser Arbeit umreiße, ist keine teleologische Moraltheorie auf der Grundlage einer letztlich konventionalistischen Gemeinschaftsethik, sondern eine deontologische Theorie der Rechtfertigung - und Kritik - politischer Herrschaft auf der Grundlage eines starken Verständnisses von Menschen- und Bürgerrechten. Für Liberale wurzelt die mögliche Legitimität politischer Ordnungen nicht in einem noch so eingelebten gemeinschaftlichen Selbstverständnis als solchem, da alle Traditionen prinzipiell der kritischen Überprüfung unterliegen können. Sämtliche 'Üblichkeiten' müssen sich aus liberaler Sicht am Kriterium der Vereinbarkeit mit den unbedingten Ansprüchen von Individuen messen lassen und nach dieser Maßgabe auch revisionsoffen sein. In diesem Sinne können sich liberale Prinzipien für das Ethos konkreter Gemeinschaften durchaus als Prinzipien der „Entzweiung" (Hegel) darstellen. Wie zentral diese Frage ist, mag pars pro toto ein Zitat von Charles Larmore verdeutlichen. Larmore versteht die Möglichkeit einer Neutralität zweiter Ordnung als Lackmustest für Liberale: „Controversy about ideals of the good life and the demand that the state remains neutral toward them have been the central ingredients of the liberal vision of politics. This means that if liberals are to follow fully the spirit of liberalism, they must also devise a neutral justification of neutrality. This is a second sort of justification, one which is not easily to be found in the liberal tradition, but an imperative one for liberals to work out" (Larmore 1987: 53; kursiv im Original). Für eine Klärung dieses zentralen Punktes bin ich Mattias Iser zu Dank verpflichtet.

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Einleitung

Eine liberale politische Philosophie erkennt man zuallererst an der Weigerung, die Zugehörigkeit zu einer wie auch immer bestimmten politischen Ordnung zu ontologisieren. Liberale ziehen in Zweifel, daß das Regiertwerden ein natürlicher Zustand des Menschen ist (Waldron 1995: 118). Sie unterwerfen daher jeden faktischen Zwang einem argumentativen Zwang zur Rechtfertigung: Weil der Mensch sich auch eine wilde Freiheit zumindest vorzustellen vermag, muß man ihm Gründe geben, warum er sich gleichwohl hinter das Gatter eines Herrschaftsverbandes begeben sollte (Kaufmann 1999). Daß der Mensch sich überhaupt nur in einer bestimmten Ordnung verwirklichen und diese Ordnung nicht einmal gedanklich überschreiten könne - dieser Glaubenssatz hat den liberalen Widerspruchsgeist immer wieder geweckt. Liberale lassen es freilich bei diesem Negativismus nicht bewenden. Ihre konstruktive Fragestellung gilt einer Form des politischen Zusammenschlusses, der alle Beteiligten als Freie und Gleiche gleichermaßen zustimmen könn(t)en. Das Ideal der liberalen politischen Philosophie ist eine Herrschaft der Gesetze, die sich die Bürgerinnen und Bürger in moralischer Einstellung selbst gegeben haben, oder kurz: politische Autonomie. Jede Adressatin einer kollektiv bindenden Regelung muß sich zugleich als (Mit-) Autorin dieser Regelung verstehen können. Augenscheinlich ist der Liberalismus eine Frucht vom Baum der Aufklärung: „Das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige" (Hegel 1821: § 318). Die soziale Welt hat sich vor der menschlichen Vernunft, als einem (inter-)subjektiven Vermögen, zu bewähren. Der Liberalismus möchte sie als von uns verantwortete und für uns bestehende Welt rational ( r e k o n struieren.6 Zu diesem Zweck zerrt er jede bloß faktische Ordnung vor den Richterstuhl der Vernunft. Ihre konstitutiven Prinzipien und grundlegenden Strukturen dürfen kein für einen Arkanbereich oder eine Priesterkaste - oder einen funktionalistischen 'Beobachter zweiter Ordnung' - reserviertes Geheimnis bleiben. Vielmehr müssen sie von der gemeinen Menschenvernunft, aus der Perspektive von Teilnehmern, durchdrungen und für gut befunden werden können. Allgemeine Anerkennung verdient allein, was sich öffentlich darlegen läßt (Kant 1795). Die aufklärerische Kritik ist das eine Lebenselexier des Liberalismus. Das andere ist der Individualismus·. Die subjektive Freiheit und das mögliche Glück des einzelnen bilden einen unhintergehbaren Bezugspunkt für das aus seinen religiösen Verankerungen gerissene normative Denken der Neuzeit. Eine Ordnung, die vor einem jeden soll bestehen können, muß daher auch für einen jeden annehmbar sein. Jede und jeder einzelne hat im Angesicht der Ordnung eine Art Vetorecht: „Wenn es ein Individuum gibt, dem keine Rechtfertigung gegeben werden kann, dann würde die gesellschaftliche Ordnung, was dieses Individuum angeht, besser durch andere Arrangements ersetzt, denn der Status quo hat dann keinen An-

In diesem Anspruch zeigt sich der konstruktivistische Grundzug des modernen Ordnungsdenkens, auf den vor allem Zygmunt Bauman (1995: Kap. 1) hingewiesen hat.

2. Begriffliche Vorbemerkungen

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spruch auf die Bindung dieses Individuums an seine Ordnung begründen können" (Waldron 1995: 117; kursiv im Original). Ronald Dworkin (1990a: 299ff.) hat diese Idee eines Vetorechts als Naturrecht auf gleiche Achtung und Berücksichtigung gedeutet. Wichtig ist allerdings der Zusatz, daß damit eine nichtkumulative Bedingung der Legitimität gemeint ist (Nagel 1994: 198f.). Auch der Utilitarismus kann ja für sich beanspruchen, einen jeden, vom Bettler bis zum König, als Gleichen zu behandeln: In der überindividuellen Nutzenkalkulation zählt jede individuelle Nutzenfunktion als eine und nur als eine (Everybody counts for one and nobody for more than one" - Hutcheson). Diese Aggregatfunktion garantiert aber nicht die Integrität der Individuen. Sie behandelt das Aggregat aus den vielen Individuen wie ein Individuum im Großen (Rawls 1979: 45). Weil der Utilitarismus konzeptionell kein anderes 'Recht' kennt als das auf gleiche Berücksichtigung in einer überpersönlichen Kalkulation, wird er der gleichen Schutzwürdigkeit jedes einzelnen nicht unbedingt gerecht. Er verletzt damit die elementare Legitimitätsbedingung der Zumutbarkeit: „Eine Gesellschaftsordnung, der Legitimität zukommen soll, darf nicht bloß aus einem radikal distanzierten Blickwinkel anerkennenswert sein, sie muß zusätzlich immer jedem konkreten Menschen selbst erträglich sein, und zwar aus einer prinzipiell heterogenen Perspektive heraus, in welche die Anerkennung ähnlich heterogener Perspektiven bei anderen eingeht" (Nagel 1994: 198). Die Sorge der Liberalen gilt demnach der Unvertretbarkeit des einzelnen, wie sie in der performativen Einstellung der ersten Person Singular zutage tritt (vgl. Löw-Beer 1994). Sie schreiben daher den Individuen unveräußerliche Rechte zu. Rechte sind die Form, in der die Unvertretbarkeit des einzelnen von einer politischen Gesellschaft im Angesicht ihrer öffentlichen Machtmittel geachtet wird. Liberale sind der Auffassung, daß die grundlegenden Rechte der Individuen alle kollektiven Ziele im Konfliktfall ausstechen. Rechte sind „Trümpfe" (Dworkin 1986a: 198; 1990: 14), mit denen sich Individuen gegen gemeinschaftliche Zumutungen zur Wehr setzen können, wenn diese etwa die Bedingungen personaler Integrität angreifen. Sie lassen sich daher nicht gegen eine Anhebung des Durchschnitts- oder Gesamtnutzens saldieren. Der Staat kann seine Pflicht, die individuellen Rechte zu achten, nicht mit dem Aktivposten einer - vorgeblichen - Gemeinwohlorientierung ausgleichen. Andernfalls behandelte er zumindest einen Teil seiner Bürgerinnen und Bürger als Mittel zum Zweck und nicht zugleich auch selbst als Zweck der Gesetzgebung.

Teil I Autonomie

Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

Daß Menschen Rechte haben, ist eine leere Auskunft, solange wir nicht wissen, worauf und -woraufhin sie Rechte haben. Der erste Teil dieser Frage zielt auf die Gegenstände des Rechts, der zweite zielt auf das, was wir, einer Formulierung von Charles Taylor (1995: 73ff.) zufolge, den (konzeptionellen) „Hintergrund" nennen können: Mit Bezug auf was haben wir bestimmte Rechte? Was ist der Zweck, das 'Worumwillen' des Rechts? Man könnte auf diese Frage eine fiinktionalistische Antwort geben und etwa auf das moderne Erfordernis der Erwartungsverläßlichkeit im interessengeleiteten Verkehr unter Fremden verweisen. Verstehen wir diese Frage hingegen normativ, so erscheint sie dubios. Wird damit nicht der deontische Sinn des Rechts von vorneherein teleologisch verfehlt? Das Woraufhin - oder der Zweck - des Rechts soll doch gerade ins Belieben des Rechtssubjekts selbst gestellt werden. Wer ein Recht auf X hat, darf X tun - welche Hintergrundvorstellung er dabei auch immer hegen mag. Das Recht zeichnet Freiräume des Handelns aus,1 nicht innere Einstellungen. Es fragt nicht danach, ob das Rechtssubjekt den Rechtsgegenstand im Lichte der richtigen Wahrnehmung des Wertes dieses Gegenstandes gebraucht. Es regelt die Freiheit der Willkür, nicht die Freiheit des Willens - wenn wir darunter etwas Edleres oder Höheres als bloße Willkür verstehen wollen, etwas, das der behaupteten Hinsicht des Rechts entspricht oder diese Hinsicht verkörpert. Der Wille verweist, Kantisch gesprochen, ins Reich der Zwecke, das Recht jedoch gehört ganz und gar zum mundanen Wirkungsraum der Handlungen: „Das Recht verwirklicht keine Zwecke, es ermöglicht uns die gleichermaßen freie Verfolgung beliebiger Zwecke. Insofern verfehlt der Begriff des Zwecks den des Rechts. Recht dient spätestens dann keinem Zweck mehr, wenn es nurmehr die Verfolgung beliebiger Zwecke nach selbst gegebenen Gesetzen möglich macht" (Brunkhorst 1994: 180). Mit diesem Einwand wird jedoch die Rolle des Hintergrundes konkretistisch verkannt. Der Einwand richtet sich, kurz gesagt, gegen die Vorstellung, die Rechte der Menschen müßten irgendeiner objektiven, den einzelnen Menschen vorgegebenen Te-

Strenggenommen gilt das nur für die Freiheitsrechte (im engeren Sinne des Wortes). Diese rechtstheoretische Einschränkung soll hier allerdings keine Rolle spielen.

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

leologie dienen: der Verschönerung oder Vervollkommnung des Kosmos, der Verwirklichung des Marx'sehen Reichs der Freiheit, der Einübung in die Tugenden o. ä. Dagegen steht der Stolz des neuzeitlichen Individuums, seine Zwecke selbst setzen zu können. Das Recht 'dient' dieser subjektiven Teleologie, indem es die Freiheit des einzelnen Menschen, sich nach eigenen Vorstellungen vom Guten, Richtigen, Schönen, Nützlichen, Aufregenden oder einfach nur Angenehmen zu entfalten, mit einem Schutzgürtel umgibt. Das aber ist ein Zweck des Rechts: Es schützt die subjektive Freiheit, die, wie oben angedeutet, im liberalen Prinzip der Rechtfertigung politischer Ordnungen als zentraler Bezugspunkt fungiert. Die Frage nach dem Hintergrund des Rechts ist so gesehen unhintergehbar: Für irgend etwas muß diese Institution ja gut sein, und sei es für die Freiheit, je selbst zu bestimmen, was wofür gut ist. Das Recht der Neuzeit, so scheint es, bringt gegen das objektive Zweckdenken der Alten eine subjektive Teleologie zur Geltung. Es bezieht sich auf die zentrale Fähigkeit des mündigen Menschen, eigene Ziele zu setzen und diesen Zielen gemäß zu handeln. Ist damit aber schon alles gesagt, was es über den Hintergrund des Rechts zu sagen gibt? Können wir uns mit der Feststellung begnügen, daß das Recht uns die Freiräume verschafft, die wir brauchen, um zu tun, was immer wir tun wollen - vorausgesetzt, wir verletzen damit nicht das gleiche Recht eines jeden anderen? Der Liberalismus, so scheint es, kann und sollte sich mit diesem mageren Ergebnis begnügen. Liberale haben ja allem Anschein nach eine geringere Neigung als andere Menschen, die tatsächlichen Wünsche der Personen zu zensieren. Im Namen des Liberalismus wird gegen Regulierungen und Bevormundungen aller Art gestritten: Wer sich an Pornographie erbaut, soll dies tun können. Wer als Mann lieber mit Männern als mit Frauen schläft, soll dies tun können. Wer abends länger einkaufen oder auch am Sonntag seine Waren anbieten möchte, soll dies tun können. Wer einen eigenen Fernsehsender gründen und darin nur seichte Unterhaltung anbieten möchte, soll dies tun können. Und wer Tag und Nacht vor dem Fernseher verbringen will, weil er genau diese Art von Zerstreuung sucht, soll auch dies tun können. Liberale, die solche Auffassungen vertreten, scheinen sich um das womöglich brachliegende Potential der Menschen nicht zu kümmern. Was immer eine Person bei umsichtiger Lebensführung aus sich machen könnte: Ihr gebührt der rechtliche Freiraum, zu tun, was ihr zu tun beliebt. Nur der Schaden für andere rechtfertigt das Eingreifen eines Gesetzgebers. Nichts hat den liberalen Widerspruchsgeist so sehr herausgefordert wie die Anmaßung, andere Menschen 'zu ihrem eigenen Besten' am Gängelband zu führen. Überspitzt gesagt: Der schlimmste Despotismus, den sich Liberale vorstellen können, ist der Paternalismus.2 Ich erwähne diese wohlbekannten Positionen, um die Suggestivkraft des Rechtsprinzips der Freiheit zu verdeutlichen. Paradigmatisch kommt dieses Prinzip in Kants Norberto Bobbio (1988: 129) sieht den Liberalismus von Anbeginn in einer Frontstellung nicht zum absoluten, sondern zum paternalistischen Staat. Aus diesem Grund könnten die Neoliberalen heute auch dem demokratisch legitimierten Wohlfahrtsstaat, einer Frucht und Folgewirkung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, vorhalten, er führe die Menschen auf den „Pfad der Versklavung" (Hayek).

25 (1797: AB 45) einzigem Menschenrecht zum Ausdruck: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschlichkeit, zustehende Recht". Sofern der Liberalismus von diesem Hintergrundverständnis getragen wird, spreche ich im folgenden vom Liberalismus der Freiheit. Wir werden sehen, daß damit keine Apologie eines Minimalstaates verbunden sein muß: Auch soziale Rechte lassen sich im Namen der Freiheit rechtfertigen. Entscheidend ist, daß dieser Liberalismus in der Freiheit des einzelnen das einzige maßgebliche Rechtsprinzip erblickt: Alle Rechte - im starken, liberalen Sinne dieses Wortes - müssen sich wenn schon nicht als Rechte auf Freiheit, so doch als freiheitsdienliche Rechte verstehen lassen. Ein solcher Liberalismus scheint durch eine zentrale Erfahrung der neuzeitlichen Gesellschaften zusätzliche Rückendeckung zu erhalten: durch die Erfahrung der religiösen Entzweiung und der fortschreitenden Pluralisierung der Lebensweisen. Er scheint dem Erforderais der Neutralität in Fragen des guten Lebens so nahe wie irgend möglich zu kommen. Die einzige Fähigkeit der Menschen, auf die er sich beruft, ist ja die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Weder macht er die Evaluation dieses Vermögens von der Wahl bestimmter Ziele abhängig, noch trifft er nähere Angaben über die Art und Weise des menschlichen Wollens. Weder fragt er nach der ethischen Vertretbarkeit der jeweils selbstgesetzten Zwecke, noch maßt er sich an, das Zustandekommen und den Modus der Verfolgung dieser Zwecke genauer zu qualifizieren. Ob der Mensch dies oder jenes will, ob er seine Ziele schwerblütig oder leichtfüßig verfolgt, ob er sich entschlossen auf sein eigentliches Seinkönnen entwirft oder uneigentlich vor sich hin treibt, ob er seinen selbstgesteckten Ansprüchen genügt oder hinter ihnen zurückbleibt, ob er fromm oder frivol lebt, all das geht das Recht nichts an und darf folglich auch die Begründung des Rechts nicht berühren. Eben diesen Schluß möchte ich im folgenden zurückweisen. Ich nehme an, daß das liberale Rechtsdenken von einem stärkeren Hintergrundverständnis des Wertes der Rechte getragen wird. Das 'Worumwillen' der Rechte ist der Schutz und die Förderung unserer Fähigkeit zur Autonomie. Auch damit werden zwar nicht bestimmte substantielle Ziele menschlichen Wollens, wohl aber das Wie dieses Wollens ausgezeichnet. Zu diesem Ergebnis möchte ich im Zuge einer immanenten Kritik am Ideal der Freiheit gelangen. Ich werde unterschiedliche Möglichkeiten betrachten, den Grundwert der Freiheit zu interpretieren. Die normativ überzeugendste Interpretation dieses Grundwertes, so behaupte ich, läuft auf personale Autonomie und damit auf die Gegenposition zum Liberalismus der Freiheit hinaus. Im Lichte des Autonomieprinzips lassen sich dann auch die liberalen (Freiheits-)Rechte plausibel begründen. Das Prinzip der Freiheit ist dafür zu unbestimmt. Aus der Freiheit als solcher folgen keine unbedingt bindenden Rechte. Was diese Rechte vielmehr schützen, ist die personale Fähigkeit zu einer selbstverantwortlich gelingenden Lebensführung. Der Sinn dieser Gegenüberstellung mag allerdings nicht unmittelbar einleuchten: Auch die Autonomie hat ja einen begrifflichen Bezug zur Freiheit. Gleichwohl ist in der

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

Tradition des Freiheitsdenkens immer wieder zwischen der Freiheit der Willkür und der Freiheit des Willens, zwischen bloßer Wahlfreiheit und Selbstgesetzgebung o.ä. unterschieden worden. Solche Unterscheidungen lassen sich, wie ich meine, in einem nachmetaphysischen Bezugsrahmen sinnvoll reformulieren. Sie setzen keine Kantische Zwei-Reiche-Lehre und keine höhere Einsicht in das eigentliche Wollen der Menschen voraus.

1. Freiheit und Autonomie Daß Liberale die Freiheit lieben, darf als Gemeinplatz, wenn nicht als Tautologie gelten. Schon wortgeschichtlich verweist der Liberalismus auf die libertas, die Freiheit. Von Kant bis Rawls und Habermas haben auch nichtlibertäre Liberale den Freiheitsrechten einen Primat zugesprochen: Menschenrechte sind aus dieser Sicht immer zuerst - oder sogar allein - Rechte auf das größtmögliche Maß an subjektiven Freiheiten, das mit den gleichen Freiheiten für alle anderen vereinbar ist. Was aber sind Freiheiten, und worin genau besteht ihr Maß? Zur Beantwortung dieser Fragen reicht eine Analyse der möglichen Wortverwendungen im alltagssprachlichen Gebrauch nicht hin, denn Freiheit ist ein intern normativer Begriff, oder in den Worten Gallies (1965): ein „essentially contested concept". Mehr oder weniger 'richtig', oder angemessen, ist eine Definition von Freiheit immer nur im Verhältnis zu einer übergreifenden politischmoralischen Konzeption. Aus diesem Grund erscheint es mir auch nicht sinnvoll, eine Diskussion unterschiedlicher Freiheitsvorstellungen auf dem Wege einer strikt deskriptiven Begriffsbestimmung zu entscheiden.3 Wir sollten vielmehr fragen, warum wir

Gottfried Seebaß (1996: 761ff.) ist der Ansicht, daß es einen rein deskriptiven Gattungsbegriff der Freiheit gibt. In seinem Zentrum stehe die Idee der Hindernisfreiheit, die wiederum zwei Komponenten habe: einen Spielraum von Möglichkeiten, der dem Gehinderten verschlossen bleibe, und ein Moment der 'Wesentlichkeit': Die verschlossenen Alternativen müßten eigentlich zugänglich sein. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die erste Komponente zumindest zweideutig ist und die zweite einen evaluativen Kern hat. Daß etwas möglich ist, kann einerseits heißen, daß es nicht kausal ausgeschlossen ist. Es kann aber auch heißen, daß etwas vom Willen einer Person abhängt. Natürlich darf auch einem Willen keine kausale Unmöglichkeit entgegenstehen, aber ob das Mögliche dann auch geschieht, hängt nicht mehr von externen Ursachen, sondern von einer (ausdrücklichen oder faktischen) Entscheidung ab. Ein Fluß ist folglich in anderer Weise frei, über die Ufer zu treten, als ein mündiger Mensch frei ist, über die Stränge zu schlagen. Mag nun diese Zweideutigkeit noch für die deskriptive Allgemeinheit des Begriffes der Hindernisfreiheit sprechen, so gilt das für den zweiten Bedeutungsaspekt, die Wesentlichkeit, gerade nicht. Mit ihm kommt ein teleologischer Gesichtspunkt ins Spiel: Als freiheitsbeschränkendes Hindernis soll nur das zählen, was jemandem vorenthält, was ihm genuin zukommt: Die Unzugänglichkeit einer Option muß „wider seine Natur" sein (ebd.: 763; kursiv im Original). Im strikt deskriptiven Sinn aber läßt sich von einer Freiheit bzw. Freiheitsbeschränkung auch dann sprechen, wenn das Kriterium der Wesentlichkeit keine Anwendung findet: Ein Mann hat normalerweise nicht die Freiheit, eine Frau zu sein, ich bin nicht frei, mich

1. Freiheit und Autonomie

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Freiheit wertschätzen, worin ihr Wert besteht.4 Diese Frage zielt nicht auf die einzig verständliche, sondern auf die evaluativ überzeugendste Verwendung des Wortes. Grundbegrifflich wird Freiheit gewöhnlich als dreistellige Relation verstanden (z.B. MacCallum 1967; J. Gray 1980; T. Gray 1990): als Freiheit eines Subjekts (des Freiheitsträgers) von etwas (dem Freiheitshindernis) zu etwas (dem Freiheitsgegenstand). Verschiedene Konzeptionen der Freiheit - und nur um diese geht es mir im folgenden unterscheiden sich in der Gewichtung und der Ausfüllung der Variablen.5 Die folgenden Überlegungen orientieren sich am Leitfaden der zweiten Variable, des Freiheitshindernisses. Dabei setze ich jeweils voraus, daß der Freiheitsträger eine menschliche Person ist: Alle Hindernisse beziehen sich negatorisch auf die Freiheit eines menschlichen Wesens, dem eigenen Willen zu folgen. Wir können zum einen verschiedene Hindernisse nach ihrem 'Sitz' unterscheiden: Ein Hindernis kann dem Gehinderten selbst innewohnen; in diesem Fall handelt es sich um ein internes Hindernis. Ein Mensch hat zum Beispiel ohne Hilfsmittel nicht die Freiheit, 100 Kilogramm zu stemmen, wenn seine Körperkraft dies nicht zuläßt. Andere interne Hindernisse wie Obsessionen und zwanghafte Fixierungen sind psychischer Natur. Auch sie wohnen dem Gehinderten selbst inne; auch sie entspringen seiner eigenen Konstitution. Das unterscheidet sie von externen Hindernissen: Diese wirken von außen auf den Gehinderten ein; sie entspringen den äußeren Bedingungen seines Handelns. Wir können zum anderen eine 'ontologische' Unterscheidung nach der Art des Hindernisses vornehmen. Natürliche Hindernisse resultieren aus den Naturgesetzen und aus naturgegebenen Tatsachen, soziale Hindernisse ergeben sich aus dem Handeln anderer Menschen oder aus den Folgewirkungen ihrer Handlungen. Wir erhalten somit vier Typen von Hindernissen: interne natürliche Hindernisse, externe natürliche Hindernisse, interne soziale Hindernisse und externe soziale Hindernisse (vgl. Feinberg 1973: 12f.; Koller 1996: 115f.). Im politischen Kontext sind die sozialen Hindernisse von besonderer Bedeutung. Sie lassen sich ja kausal einer sozialen Ordnung und dem Handeln oder Unterlassen anderer Personen zurechnen. Zu den externen sozialen Hindernissen gehören etwa direkte Gewalt und zwangsbewehrte (Rechts-)Normen. Interne soziale Hindernisse hingegen resultieren aus einem Mangel an sozial vermittelten Ressourcen wie Bildung, berufliche Qualifikationen, Einkommen und Vermögen (Koller 1996: 116). Aber auch vorgeblich ohne technische Hilfsmittel in die Lüfte aufzuschwingen, hingegen habe ich normalerweise die Freiheit, in der Nase zu bohren. Man mag diese Wortverwendungen in den meisten Kontexten für ungewöhnlich halten, keine von ihnen ist jedoch unverständlich. Diese Formulierung hat einen anderen Sinn als die gleichlautende bei John Rawls (1979: 233; 1994b: 197). Rawls unterscheidet zwischen der Freiheit als dem System der bürgerrechtlichen Freiheiten und dem Wert der Freiheit, worunter er den Nutzen der Freiheitsrechte fur die jeweiligen Personen versteht. Die Freiheit als solche setzt Rawls augenscheinlich mit der Abwesenheit von Zwang gleich, den Wert der Freiheit hingegen mit der Abwesenheit aller effektiven Hindernisse. Auf diese Unterscheidungen werde ich später zurückkommen. Für diese Unterscheidung bin ich Kerstin Haase zu Dank verpflichtet.

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

natürliche Beschränkungen können sozial vermittelt sein; in diesem Fall sollten wir sie ebenfalls zu den internen sozialen Hindernissen zählen. Damit allerdings geraten wir in eine Grauzone: Es ist häufig umstritten oder sogar unentscheidbar, bis zu welchem Grad eine interne - körperliche, seelische oder intellektuelle - Eigenschaft der 'nackten' Natur geschuldet und bis zu welchem Grad sie sozial verursacht ist. Das gilt selbst für solche vermeintlich reinen Naturtatsachen wie die Körpergröße. Noch etwas komplizierter wird das Bild, wenn wir uns nicht auf die Art der Hindernisse, sondern auf die Möglichkeiten einer Gesellschaft im Umgang mit Hindernissen konzentrieren. Unter diesem zweiten Gesichtspunkt spielt die ursächliche Herkunft des Hindernisses nicht unbedingt eine Rolle. Eine angeborene Krankheit mag eine natürliche Schranke darstellen, und dennoch hat der Kranke ein Recht auf medizinische Betreuung. Das spricht dafür, einige unmittelbar natürliche zugleich als mittelbar soziale Restriktionen zu verstehen.6 Mittelbar sozial sind solche natürlichen Barrieren, auf deren Beseitigung der Gehinderte nach Maßgabe der gesellschaftlichen Möglichkeiten einen Anspruch hat. Wiederum: Fragen dieser Art lassen sich nicht begrifflich entscheiden, sie verweisen auf übergreifende politisch-moralische Konzeptionen.

1.1 Zwang und Möglichkeit Bereits auf dieser analytischen Folie jedoch läßt sich die Selektivität vieler vorgeblich umfassender Freiheitsdefinitionen erkennen: Thomas Hobbes (1651: 163) etwa behauptet, daß jeder Mensch frei sei, der „nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen". Diese Definition berücksichtigt allein externe Hindernisse. Sie entspricht ganz und gar dem naturalistischen Bild einer äußeren Einwirkung von Hindernissen auf bewegliche Körper. Interne Hindernisse spielen hingegen keine begriffliche Rolle: Wer sich von Natur aus nicht bewegen kann - etwa ein Körperbehinderter - , kann auch nicht von außen an der Bewegung gehindert werden. Und wer einer psychischen Barriere unterliegt, ist doch frei, denn seine äußeren Spielräume werden davon nicht berührt. Hobbes verdeutlicht dies am Beispiel der Furcht: „Furcht und Freiheit sind vereinbar. Wenn z.B. jemand aus Furcht, das Schiff könne sinken, seine Ladung ins Meer wirft, so tut er dies dennoch mit vollem Willen und kann es auch unterlassen, wenn er es will - deshalb ist dies die Handlung eines Freien" (ebd.: 163f.; kursiv im Original). Noch etwas zeigen diese Überlegungen. Freiheit ist der naturalistischen Auffassung zufolge kein Potential, das ein Mensch erst durch Übung, allein und im Zusammenspiel mit anderen, verwirklichen müsse; sie ist eine Eigenschaft, die beweglichen Körpern

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Diese groben Unterscheidungen sollen nur zur vorläufigen Orientierung im Gestrüpp der Freiheitskonzeptionen dienen. In Kapitel IV werde ich eine Liste allgemeiner Ressourcen vorschlagen, die sowohl unmittelbar als auch mittelbar soziale Restriktionen zu berücksichtigen erlaubt.

1. Freiheit und Autonomie

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von Haus aus zukommt und nur nachträglich, durch äußere Einwirkung, beeinträchtigt werden kann. In diesem Sinne ist die Ansicht, daß der Mensch von Natur aus frei sei, ganz wörtlich zu nehmen: Andere Personen können dieses 'Gut' zwar gefährden, aber nichts zu seiner Hervorbringung beitragen. Freiheit gilt per definitionem nicht als Frucht des sozialen Lebens, sondern als Mitgift einer mehr oder weniger gnädigen Natur. Eine weitere Zuspitzung erfährt dieses Freiheitsverständnis, wenn Freiheit mit der Abwesenheit von Zwang gleichgesetzt wird. Paradigmatisch formuliert dies Friedrich August Hayek (1960: 12): Freiheit „means always the possibility of a person's acting acording to his own decisions and plans, in contrast to the position of one who was irrevocably subject to the will of another, who by arbitrary decision could coerce him to act or not to act in specific ways". Mit dieser Definition fallen selbst externe natürliche Hindernisse aus dem Freiheitsverständnis heraus. Begrifflich entscheidend sind jetzt allein externe soziale Hindernisse. Der Unfreie unterliegt „unwiderruflich" (irrevocably) dem Willen einer anderen Person: Er wird von ihr formell oder faktisch versklavt. Die freie Person ist frei von dieser Art von Einschränkung - was immer sie tatsächlich vermag. Wie Freiheit, so ist auch Zwang ein relationaler Begriff (vgl. Oppenheim 1961): Er impliziert das Vorhandensein von mindestens zwei Personen Ρ und S, die mit Bezug auf ein Gut oder eine Handlung X über ein ungleiches Drohpotential verfügen. S unterliegt dem Zwang von P, wenn diese S hinsichtlich X durch glaubhafte Androhung eines Übels ihrem Willen zu unterwerfen vermag. Oder in der ausführlicheren Definition, die Joseph Raz im Anschluß an Robert Nozick vorschlägt: „P coerces Q into not doing act A only if (1) Ρ communicates to Q that he intends to bring about or have brought about some consequence, C, if Q does A. (2) Ρ makes this communication intending Q to believe that he does so in order to get Q not to do A. (3) That C will happen is, for Q, a reason to get weight for not doing A. (4) Q believes that it is likely that Ρ will bring about C if Q does A and that C would leave him worse off, having done A, than if he did not do A and Ρ did not bring about C. (5) Q does not do A. (6) Part of Q's reason for not doing A is to avoid (or to lessen) the likehood of C by making it less likely that Ρ will bring it about" (Raz 1986: 148 ff.). Für Libertäre wie Nozick (1974) ist eine solch akribische Begriffsbestimmung von besonderer Bedeutung. Sie setzen die Bindung staatlicher Gewalten mit ihrer Begrenzung, und das heißt: mit dem Verzicht auf Zwang gleich. Sie verstehen alle grundlegenden Rechte als Freiheitsrechte und diese als Rechte auf die Abwesenheit von Zwang. Staatlicher Zwang gilt ihnen als ein besonderes Übel, zu dessen Verhütung oder Abwendung besondere, nämlich grundrechtliche Vorkehrungen vonnöten sind. Aber warum? Allein dadurch, daß ich nicht gezwungen bin, etwas zu tun oder zu unterlassen, bin ich ja noch

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

nicht in der Lage, zu tun, woran mir eigentlich liegt. Ich bin dann nur eines bestimmten Hindernisses ledig. Libertäre müssen also zeigen, daß es mit diesem Hindernis eine besondere Bewandtnis hat, die seine begriffliche Hervorhebung rechtfertigt - und das auch in einer Zeit, in der es keine regelrechte Sklaverei mehr gibt. Hier liegt nun folgende Antwort nahe: Wer einen anderen einem Zwang unterwirft, unterwirft ihn zugleich einem fremden Willen. Er hindert den anderen intentional an der Verwirklichung seiner Zwecke. Wer nicht genug Geld hat, um nach Mallorca zu fliegen, mag darin eine Vereitelung seiner Absichten erblicken, er unterliegt jedoch keiner Fremdbestimmung. Wer hingegen dazu gezwungen wird, von einem Flug nach Mallorca abzusehen, ist unfrei, weil sein Verhalten in der relevanten Hinsicht den Vorgaben eines anderen Subjektes folgt. Der libertäre Lackmustest für die Zwanglosigkeit einer Handlung ist ihre Vertragsfähigkeit. Ein gültiger Vertrag setzt die Freiheit jedes beteiligten Willens „von der nötigenden Willkür anderer" (Kant) voraus. Jeder Beteiligte hat beim Vertragsschluß ein Vetorecht. Verträge wahren somit die Unvertretbarkeit des einzelnen im sozialen Verkehr; sie verknüpfen die Verbindlichkeit intersubjektiver Regelungen mit der Freiheit aller Vertragssubjekte, die lediglich dem Zwang unterliegen, dem sie zuvor selbst zugestimmt haben. Zugleich scheint der Vertragsbegriff keine Inhalte zu präjudizieren: Eheversprechen lassen sich ebenso als Verträge verstehen wie Geschäftsabschlüsse oder die Einsetzung von Regierungen. In den verschiedenen Konzeptionen des Besitzindividualismus (Macpherson 1967) wird diese kontraktualistische Leitvorstellung der Freiheit auf naheliegende Weise mit der Freiheit von Märkten verbunden. Man muß zu diesem Zweck nur die Unvertretbarkeit der Person mit ihrer Selbstverfugung als Eigentümerin gleichsetzen: „Da das Individuum nur insofern Mensch ist, als es frei ist, und frei nur insofern, als es Eigentümer seiner selbst ist, kann die menschliche Gesellschaft nur in einer Reihe von Beziehungen zwischen ungebundenen Eigentümern, d. h. in einer Reihe von Marktbeziehungen bestehen" (ebd.: 295f.). Noch die marxistische Kritik nimmt die Prämissen des Possessivismus beim Wort (Cohen 1995): Auch Marx (1861: 146ff.) räumt ein, daß die einmal gewaltsam durchgesetzte Institution der Lohnarbeit nicht auf Zwang - im libertären Sinne des Wortes - , sondern auf vertraglichen Beziehungen beruht. Die Nichteigentümer der Produktionsmittel haben allerdings keine echte Wahl, ob sie zu den vom Kapitalisten vorgegebenen Bedingungen beschäftigt werden wollen oder nicht. Die Figur des Vertrages verschleiert die Natur des Hindernisses, dem die Arbeiterklasse unterliegt: Diese perpetuiert im sozialen Handeln unter kapitalistischem Kommando ihre Unterwerfung unter eine vermeintlich - fremde Macht. Zwar spricht Marx ironisch von der 'zweiten Natur' unserer systemisch verselbständigten sozialen Beziehungen. Die Ironie aber verweist auf die Verfaßtheit der sozialen, nicht auf die Beschaffenheit der natürlichen Welt. Die Arbeiterklasse unterliegt keinem natürlichen, sondern einem - internen - sozialen Hindernis: Sie hat keinen direkten, rechtlich gesicherten Zugang zu den objektiven Bedingungen der Produktion. Dieses Hindernis bringt ihre Angehörigen in eine Situation der

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ungleichen Abhängigkeit, welche die vorgebliche Freiheit aller Vertragssubjekte von Anbeginn vereitelt: In der antagonistischen Beziehung ist die eine Seite der effektiven Freiheit des Neinsagenkönnens beraubt. Damit entfallt die zumindest implizite vertragliche Gültigkeitsbedingung der Vetomacht eines jeden Beteiligten.7 Diese Kritik erweitert die Voraussetzung der Zwanglosigkeit um die der Freiwilligkeit sozialer Beziehungen (Tugendhat 1992: 355ff.). Freiwillig ist eine Handlung, wenn der Handelnde sie vollzieht, weil er dies will. Die Arbeiter jedoch stimmen dem Vertrag nicht deshalb zu, weil sie dies wollen, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Obwohl sie keinem regelrechten Zwang unterliegen, sind sie den Absichten der anderen Seite doch in hohem Maße ausgeliefert. Wie beim Zwang, so handelt es sich auch hier um die Problematik einer sozialen Asymmetrie und damit um eine einseitige Abhängigkeit vom Willen anderer. Dieses Übel unterscheidet sich vom Übel des Zwanges nicht so grundsätzlich, daß die libertäre Entscheidung, nur im einen aber nicht auch im anderen Fall von einem Freiheitshindernis zu sprechen, den Eindruck der Willkürlichkeit oder der ideologischen Voreingenommenheit zerstreuen könnte: „The important point is that this onesided dependency, even when it is a free relationship in Hayek's sense, clearly is an evil and that if we ask why it is an evil, we arrive at an answer which is very close to the reason for which we consider coercion to be an evil: a person does not want to be coerced and does not want to be in onesided dependence for the reason that he then cannot choose as he wishes because of other people blocking the alternatives" (Tugendhat 1992: 359). Die Frage, was die Akteure jeweils tatsächlich vermögen, bekommt dadurch ein anderes Gewicht. Der Akzent liegt jetzt auf der positiven Seite der Hindernisfreiheit: der Verfügung über Optionen. Ich bin frei zu X, wenn X von meinem Willen abhängt: wenn ich X (tun oder erlangen) kann, sofern ich dies will. Die Reduktion von Freiheit auf Freiheit von Zwang privilegiert einseitig den Aspekt des Freiheitshindernisses - und dies wiederum in einseitiger, auf externe soziale Hindernisse beschränkter Form - und verfehlt folglich die entscheidende Bedeutung der effektiven 'Wahrnehmbarkeit' von Optionen. Mit dem Gesichtspunkt der Freiwilligkeit wird hingegen dieser positive Aspekt hervorgehoben: Entscheidend ist jetzt, was ein Subjekt tatsächlich tun kann. Wir können dies die Möglichkeitskonzeption der Freiheit nennen. Gewiß ist Zwang die direkteste Form, einen anderen an der Umsetzung seiner Absichten zu hindern. Und gesetzlicher Zwang soll die Wahrnehmung einer Option nicht nur faktisch, sondern grundsätzlich ausschließen. Gleichwohl verliert die Unterscheidung zwischen der 'negativen' Freiheit, etwas zu dürfen, und der 'positiven' Freiheit, es auch tatsächlich zu

Immanent ist diese Kritik am Vertragsparadigma auch insofern, als die Analyse zwar auf interne soziale Hindernisse - ungleiche Verhandlungsmacht der Vertragsparteien - ausgeweitet wird, aber keine unmittelbar natürlichen Hindernisse wie körperliche und geistige Behinderungen berücksichtigt. Durchgängig unterstellt die Kritik die Leistungsfähigkeit der unterlegenen Seite. Sie orientiert sich daher an einem engen Verständnis von sozialen Hindernissen (vgl. Kymlicka 1990: Chapter 5).

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können, im Lichte der Möglichkeitskonzeption einen guten Teil ihrer Signifikanz (Feinberg 1973: 12f.; Seebaß 1996: 770). Nicht anders verhält es sich mit der Rawls'schen Unterscheidung zwischen der Freiheit und dem Wert der Freiheit (siehe Fußnote 9). Diese Unterscheidung behält einen gewissen Sinn, weil die Opportunitätskosten der Wahrnehmung einer Option größer oder geringer sein können: Der eine kann vielleicht nur dann nach Mallorca fliegen, wenn er dafür auf einen neuen Staubsauger verzichtet, während die andere sich außerdem noch ein neues Auto zu leisten vermag. Überschreiten die Opportunitätskosten jedoch die Schwelle der Zumutbarkeit - müßte ich etwa mit dem Leben meines Kindes bezahlen - , dann ist nicht lediglich der Wert der Freiheit vermindert: Was der Person fehlt, ist die Freiheit selbst. Frei ist die Person der Möglichkeitskonzeption zufolge ja nur dann, wenn sie einen Freiheitsgegenstand tatsächlich erlangen kann. Die Kehrseite einer effektiven Möglichkeit ist die Abwesenheit aller effektiven Hindernisse - aller Beschränkungen, welche die Wahrnehmung einer Option mit untragbaren Opportunitätskosten belasten. Ohne diese Voraussetzung wird schon die Rede von einer Option zur handlungstheoretischen Rabulistik. Gewiß beraubt mich selbst die Pistole auf der Brust nicht der Möglichkeit des Neinsagens. Der Räuber hat aber doch die Prämissen der Entscheidung so sehr zu seinen Gunsten vorentschieden, daß der verbale Hinweis „Du hast die Wahl" dem Opfer zu Recht als purer Hohn erschiene. Die politische Bedeutung dieser Erweiterungen ist erheblich. Wir können jetzt auch soziale Rechte im Namen der Freiheit rechtfertigen: Sie sollen verhüten, daß materielle Not oder Mangel an Wissen einige Menschen zu einem inferioren, an Möglichkeiten armen Leben verurteilen. Einseitige Abhängigkeit und Erpreßbarkeit, wie sie die marxistische Kritik am Grunde der kapitalistischen 'Vertragsfreiheit' vermutet, verletzen die Voraussetzungen einer Freiheit zum Kontrakt (Tugendhat 1992: 358ff.). Und selbst ein vermeintlich paternalistisches Zwangssystem wie die deutsche Sozialversicherung kann zur Vermehrung der Freiheit beitragen, wenn diese nicht auf die Abwesenheit von Zwang verkürzt, sondern mit der Verfügung über effektive Möglichkeiten gleichgesetzt wird: „Noch nie in der Geschichte gab es eine Generation von alten Menschen, die in derart hohem Ausmaß unabhängig war von der Zahlungsbereitschaft und -fahigkeit ihrer eigenen Kinder. Sie müssen nicht um deren beruflichen Erfolg fürchten oder um deren Elternliebe bangen, sie haben ein autonomes Einkommen. Das ist ein ungeheurer Zuwachs an individueller Freiheit" (Fischer 1997).8 Der Liberalismus der Freiheit ist damit über seine libertären Schranken hinausgetreten. Er kann alle Kategorien von Rechten, auch die sozialen, im Namen der Freiheit auszeichnen. Soziale Rechte sichern eine hinreichend gleiche Freiheit von internen sozialen Hindernissen. Damit hindern sie einige Vertragsparteien daran, aus den einge-

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Hinzu kommt, daß die Pflichtversicherungen anders als die Privaten auch das Risiko absichern, zur Beitragszahlung nicht fähig zu sein; würde dieses Risiko allein unter Marktgesichtspunkten gewichtet, wäre die Versicherung für viele 'Risikoträger' (etwa chronisch Kranke) unbezahlbar.

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schränkten Wahlmöglichkeiten anderer einen unfairen Vorteil zu ziehen. Die libertäre Parteinahme für eine unumschränkte Vertragsfreiheit mündiger Personen hingegen läßt auch solche Vereinbarungen zu, die eine ungleiche Verteilung der effektiven Wahlmöglichkeiten geradezu voraussetzen: etwa die Freiheit, andere Menschen zu Hungerlöhnen zu beschäftigen. Weil solche Optionen eine grob ungleiche Verteilung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume indizieren, verletzt ihre Einschränkung kein Recht auf Freiheit, das mit dem gleichen Recht eines jeden anderen vereinbar wäre. Ronald Dworkin bezeichnet diesen Prüfstein als Prinzip der Viktimisierung (victimization): „It denies that liberty is violated when no one is victimized, that is, when the value of the liberty citizens retain is at least as great as the value of the unconstrained freedom they would have had in a defensible distribution" (Dworkin 1987: 48). Eine Person wird dann und nur dann viktimisiert, wenn sie an der Wahrnehmung einer Wahlmöglichkeit gehindert wird, die, Kantisch gesprochen, mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Haben wir aber umgekehrt auf alle Freiheiten ein unbedingtes Recht, deren Wahrnehmung niemanden viktimisiert? Ich bin nicht dieser Ansicht. Im folgenden Abschnitt möchte ich zeigen, daß der wohlverstandene Wert der Wahlfreiheit auf den übergreifenden Wert der Autonomie verweist. Zu diesem Zweck werde ich die Argumentation zunächst auf solche - psychischen Freiheitshindernisse ausweiten, die uns von der effektiven Wahrnehmung gewichteter Optionen abhalten, weil sie die Fähigkeit zur Selbstbindung des Willens untergraben.

1.2 Wahlfreiheit und Freiheit des Willens Der Wert der Wahlfreiheit läßt sich unter zwei Gesichtspunkten erläutern: einem instrumenteilen und einem intrinsischen. Eine bloß instrumenteile Wertschätzung der Wahlfreiheit liegt vor, wenn jemand eine Möglichkeit nur deshalb begrüßt, weil sie ihm ein anderes Gut zugänglich macht. Möglich ist aber auch, daß jemand die Verfügung über Möglichkeiten um ihrer selbst willen schätzt. Die Freiheit bietet ihm dann nicht allein günstige Aussichten, sie ist ihrerseits ein Gegenstand des Genusses, oder anders gesagt: Als günstig gilt die Aussicht auf Freiheit selbst. Ein solcher Mensch wird darauf achten, stets so zu wählen, daß ihm auch künftig ein Spielraum von Wahlmöglichkeiten offensteht (vgl. Seel 1995: 99). Ist er ein besonders freiheitsliebender Mensch - ein existentieller Radikalliberaler - , so wird er überdies danach trachten, die Zahl seiner Wahlmöglichkeiten zu maximieren, und dies wiederum nicht allein aus instrumenteilen, sondern ebenso aus intrinsischen Gründen. Eine Vermehrung von Optionen kann jedoch auch Opportunitätskosten erzeugen. Sie können sowohl extern, in anderen Gütersphären, wie intern, auf dem Felde der Freiheit selbst, zu Buche schlagen. Externe Kosten beziffern wir zum Beispiel als Einbußen an Seelenfrieden, an Sicherheit oder allgemeiner an Wohlbefinden. Im Hinblick auf andere Personen liegt das auf der Hand: Die freie Fahrt für freie Bürger kann andere Menschen Kopf und Kragen kosten oder ihnen zumindest die Ruhe rauben. Die Freiheit zur Pa-

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pierherstellung kann die Genießbarkeit des Trinkwassers untergraben. Die Freiheit zum öffentlichen Musizieren kann ältere Menschen um den Schlaf bringen. Doch auch der jeweilige Akteur selbst mag die Kosten seiner Freiheit am eigenen Leib verspüren und am eigenen Gemüt bemerken. Das Gefühl, zur Wahl verurteilt zu sein, macht manche Menschen übermäßig nervös oder bringt sie gar in die mißliche Lage von Buridans Esel, der verhungerte, weil er sich zwischen zwei Heuhaufen nicht entscheiden konnte: „Some types of choosing can be valuable parts of living, giving us reason to treasure them. But there are other choices that we may have no great reason to value, and the obligatory requirement to face and deal with them may impose on us losses of time and energy which we may have good reasons to resent" (Sen 1992: 63; kursiv im Original). Das Moment der Unausweichlichkeit einer Wahl verweist zugleich auf ihre internen Kosten: auf die Verkehrung von mehr in weniger Freiheit. Eine Vielzahl von trivialen Wahlmöglichkeiten mag einen Menschen so sehr irritieren, daß er schließlich vergißt oder vernachlässigt, woran ihm eigentlich liegt.9 Zwanzig neue Fernsehprogramme sind nicht unbedingt ein Gewinn an Freiheit, wenn jemand den übergeordneten Wunsch hat, eine ganz bestimmte Sendung von Anfang bis Ende zu verfolgen. Ein besonders raffiniertes Computerspiel kann mich von der Vollendung meiner Doktorarbeit abhalten. Manche Anbieter neuer Möglichkeiten sind wahre Virtuosen in der Ausbeutung unserer Willensschwäche: Die Anziehungskraft ihrer Offerten überfordert unsere Fähigkeit zur Selbstbindung. Sie läßt uns kurzfristig erreichbaren, aber oberflächlichen Erfüllungen den Vorzug vor solchen Gütern geben, die eine tiefere, aber nur längerfristig erreichbare Befriedigung versprechen. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um das Problem des falschen Bewußtseins. Gewiß kann eine geschickte Werbestrategie die vorgebliche Konsumentensouveränität beeinträchtigen oder durch Manipulation gänzlich untergraben. Häufig weiß ich jedoch, daß etwas anderes für mich besser wäre als das, was ich tatsächlich präferiere. Dennoch folge ich meinem 'niederen' und nicht meinem 'höheren' Willen; nach Maßgabe meines wohlverstandenen Eigeninteresses ist meine Präferenzordnung suboptimal. Ein System von Anreizen, das zur Bevorzugung trivialer, aber unmittelbar bezwingender Möglichkeiten verleitet, kann sich daher zur Gefahr für die Freiheit auswachsen. Diese Überlegungen sprechen für eine Reformulierung des Ideals der Freiheit: Nicht an der Maximierung der Zahl, sondern an der Optimierung der Ordnung unserer Möglichkeiten sollte uns gelegen sein. Dafür bietet sich ein aus der Ökonomie entlehntes Gleichgewichtsmodell an. Wie Peter Koller (allerdings für den Fall der gleichen Freiheit mehrerer Akteure) vorschlägt, sollten wir einen Zustand anstreben, in dem „sich die Grenzkosten der größeren Freiheit, bestimmte Dinge zu tun, und die Grenzkosten einer weitergehenden Beschränkung dieser Freiheit die Waage halten, wo sie also gleich hoch sind" (Koller 1996: 132). Das wiederum ist der Fall, wo die Gesamtkosten Die zur Selbstironie neigende Kinoreklame hat das erkannt: „Bei täglich zwanzig Seiten channel-news in meinem neuen tv-Magazin komme ich gar nicht mehr zum Fernsehen".

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der Freiheit und ihrer Beschränkung ein Minimum erreichen. Dieses so elegant klingende „Kriterium der Kostenminimierung" (ebd.) erlaubt jedoch, wie Koller selber zugibt, keine mechanische Anwendung. Das liegt nicht nur an der empirischen Ungewißheit vieler Handlungsfolgen und Nebenwirkungen, sondern auch und vor allem am Erfordernis der Gewichtung verschiedener Optionen. Viele Kosten der Freiheit lassen sich nicht quantifizieren. Sie unterliegen einer qualitativen Bewertung im Lichte einer übergreifenden Konzeption des für eine Person wahrhaft Guten. Ihren Maßstab finden sie in Standards gelingender Selbstverwirklichung. Die entscheidende Frage ist jetzt, ob eine Person die sein kann, die sie wirklich und wesentlich sein will. Das wiederum heißt in erster Näherung, daß uns allen an einer Lebensführung gelegen ist, die wir zumindest in ihren ethischen Grundzügen täuschungsfrei bejahen können. Über die für uns wichtigsten Projekte und Prinzipien wollen wir keinen Illusionen unterliegen, und wir wollen uns auch nicht durch minder bedeutsame Möglichkeiten dauerhaft von ihrer lebenspraktischen Bedeutung ablenken lassen. Mit dieser Idee der authentischen Selbstverwirklichung kommt zugleich eine neue Art von Freiheitshindernissen in den Blick: Faktoren, die uns an der ethischen Selbstbindung unseres Willens hindern. Die bezwingende Kraft verlockender Angebote, die uns von unseren eigentlichen Zielen ablenken, läßt sich weder als äußerlich wirksamer Zwang noch als Mangel an externen Ressourcen verstehen. Vielmehr bringt sie die Ordnung im 'inneren' Reich unserer persönlichen Willensbildung durcheinander. Daraufhabe ich oben mit den Worten hingewiesen, daß wir manchmal nicht unserem höheren, sondern unserem niederen Willen folgen. Diese Metaphorik erinnert an einen Aspekt der wohlvertrauten Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit - einen Aspekt, der die Möglichkeitskonzeption der Freiheit transzendiert. Frei bin ich, der positiven Auffassung zufolge, erst dann, wenn ich von den richtigen Kräften innerhalb oder außerhalb meiner selbst 'regiert' werde: wenn ich etwa den höheren und nicht den niederen Seelenanteilen oder einem nationalen und keinem fremdstämmigen Herrn gehorche (Berlin 1995: 21 Off.). Diese Erweiterung trifft die Möglichkeitskonzeption im Kern, weil sie das definitorische Band zwischen Freiheit und Optionalität auflöst. Aus naheliegenden Gründen werden Liberale nervös, wenn ihnen jemand verkaufen will, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei: Mit dieser Formel wird das augenscheinlich Gegensätzliche in ein und demselben Wort zusammengezwungen, und die 'Freiheit' hört auf, ein begrifflicher Widerhalt zur Nötigung zu sein. Sie stellt keine Einspruchsinstanz gegen mögliche Übergriffe mehr dar. Solchen politischen Bedenken zum Trotz läßt sich die Beschränkung auf die Möglichkeitskonzeption der Freiheit nicht aufrecht erhalten. Diese Konzeption weist über sich selbst hinaus. Sie sieht ja vor, daß ein freier Akteur imstande ist, das, was er tun will, tatsächlich zu tun. Folglich rechnet sie mit Akteuren, die erstens etwas Bestimmtes wollen und zweitens dementsprechend handeln können. Die Überlegungen zum freiheitstheoretischen Stellenwert der Selbstverwirklichung sprechen nun für eine Qualifi-

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zierung dieser Voraussetzung. Sie sprechen dafür, das Wollen eines freien Akteurs als ein selber freies Wollen zu verstehen: als ein Wollen, das keinen psychischen Hindernissen unterliegt. Ernst Tugendhat (1980) schlägt vor, ein psychisches Freiheitshindernis als Beeinträchtigung oder völligen Ausfall der Fähigkeit zu willentlich koordiniertem Handeln zu deuten. Die Funktionsfähigkeit des freien Wollens setzt dabei keine Willensfreiheit im metaphysischen Sinne voraus; sie impliziert keinen Indeterminismus des Willens. Vielmehr ist sie ein empirisches Faktum unseres gewöhnlichen Lebens: Wir können uns wertend und wünschend zu unseren eigenen Präferenzen verhalten. Harry G. Frankfurt (1971) erläutert diese Art der Willensfreiheit als Möglichkeit zur Ausbildung von Wünschen und Volitionen zweiter Stufe. Ein Wunsch zweiter Stufe besteht darin, einen Wunsch erster Stufe entweder haben oder nicht haben zu wollen. Eine Volition zweiter Stufe besteht in dem Wunsch, daß ein Wunsch erster Stufe handlungswirksam werde. Ohne Volitionen zweiter Stufe würden wir stets unseren Wünschen erster Stufe nachgeben; wir wären zu reflektierender Beurteilung und Korrektur unserer selbst außerstande. Es ist vor allem diese Fähigkeit, die uns von anderen Wunschsubjekten unterscheidet. Auch höhere Tiere haben Wünsche, doch der Wunsch, einen effektiven Wunsch zu haben, dürfte allein dem Menschen vorbehalten sein. Diese „praktische Überlegungsfähigkeit" (Seel 1995: 128) ist gradualisierbar. Obsessionen oder Drogen etwa können sie teilweise oder vollständig außer Kraft setzen - auf zweierlei Art. Erstens geht sie - teilweise oder vollständig - verloren, wo die Fähigkeit zum eigenen Urteil, zu eigenständiger Erfahrungsdeutung und Schlußfolgerung ausfallt. Das ist der Überlegungsaspekt psychischer Freiheit. Sie geht aber auch dort verloren, wo die Fähigkeit zur eigenständigen Umsetzung abhanden kommt. Extreme Antriebslosigkeit und Willensschwäche, aber auch zwanghafte Fixierungen verhindern die Übersetzung von Wünschen in Taten. Das ist der Handlungsaspekt psychischer Freiheit. In einem unverkürzten Sinne 'innerlich' frei ist, wer zur effektiven Bestimmung des eigenen Handelns imstande ist: wer mit seinen leitenden Überlegungen zumindest auch sein eigenes Tun anleitet.10 Auch für diese Freiheit gilt demnach das negatorische Kriterium der Abwesenheit von Hindernissen. Die Abwesenheit von psychischen Hindernissen jedoch eröffnet einem Akteur nicht lediglich bestimmte Möglichkeiten; sie ist zugleich untrennbar mit der Verwirklichung einiger Möglichkeiten verbunden. Das können wir schon an der Schwierigkeit erkennen, für die begründete Zuschreibung 'innerer' Freiheit ein empirisches Kriterium zu finden. Tugendhat (1992a: 347ff.) macht hier den naheliegenden Vorschlag, die praktische Überlegungsfähigkeit eines Akteurs an seinem Verhalten in typischen Situationen abzulesen, in denen genau diese Fähigkeit verlangt und ihr GeEin solches Tun muß nicht jeder fremden Hilfe entbehren. Auch körperliche Behinderungen erlauben die Zuschreibung von Handlungen, und sei es in Form eines willentlichen Mitvollzugs fremder Handlungen, die wiederum den Willen des Hilfsbedürftigen verwirklichen. Erst wer seine Wünsche überhaupt nicht mehr, und sei es mittelbar, in Handlungen umzusetzen vermag, verdient nicht länger das Attribut eines freien Akteurs.

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brauch zugleich rational geboten ist. Wer zur effektiven Selbstbindung imstande ist, wird dies gewöhnlich dann unter Beweis stellen, wenn man es von einem zurechnungsfähigen Akteur nach Maßgabe seiner eigenen Situationsdeutungen und Präferenzen vernünftigerweise erwarten kann. Anhand dieses Kriteriums können wir in vielen Fällen überprüfen, ob wir einem Menschen zu Recht Verantwortung zuschreiben." Verantwortlich zeichnen wir nur für diejenigen Handlungen, in denen wir grundsätzlich für handlungsbestimmende Überlegungen zugänglich - und durch sie beeinflußbar - sind. Daraus folgt aber, daß wir gar nicht wissen können, ob jemand psychisch frei und also verantwortungfähig ist, solange er oder sie nicht wenigstens gelegentlich auch frei handelt. Und das gilt nicht allein mit Blick auf andere Akteure, sondern grundsätzlich auch für die jeweilige Selbstwahrnehmung. In den Worten Charles Taylors: „Innerhalb dieses begrifflichen Rahmens [der Freiheit als Selbstverwirklichung; B.L.] ist ein bestimmtes Maß an praktischer Übung erforderlich, damit ein Mensch als frei gelten kann. Oder wenn wir uns die inneren Schranken der Freiheit in Analogie zu den äußeren als Hindernisse vorstellen wollen, dann schließt das Innehaben einer Position, die es mir gestattet, meine Freiheit zu praktizieren, das Verfügen über die Gelegenheit zur Freiheit zugleich die Beseitigung von inneren Barrieren ein, und dies ist nicht möglich, ohne daß ich mich in einem bestimmten Grade selbst erkenne. Somit setzt die Freiheit der Selbstverwirklichung, die Gelegenheit, frei zu sein, bereits voraus, daß ich die Freiheit praktiziere. Ein reines Möglichkeitskonzept ist hier ausgeschlossen" (Taylor 1988a: 121f.). Die Idee der Beseitigung innerer Freiheitshindernisse, so können wir Taylor verstehen, verweist auf einen modalen Gehalt der Zuschreibung von Freiheit. Er kommt in der Frage zum Ausdruck, wie jemand überlegt und handelt: frei oder zwanghaft? Wenn wir von jemandem sagen, er sei ein freier Mensch, können wir dieses Prädikat folglich sowohl transitiv (P hat die Freiheit zu X) als auch intransitiv (P handelt im Modus der Freiheit) verwenden. Der modale Bedeutungsaspekt läßt sich, wie gezeigt, der Möglichkeitskonzeption der Freiheit im Zuge immanenter Kritik abgewinnen. Die beiden Aspekte der Freiheit ergänzen einander. Die Freiheit im modalen Sinne fungiert als Hintergrundvoraussetzung für die Verfügung über Optionen: Freiheitsfähig bin ich nur dann, wenn ich zugleich eine Disposition zu praktischen Abwägungen aufweise. Um Möglichkeiten haben zu können, muß ich bereits in einem modalen Sinne wie immer eingeschränkt frei sein. Paradox gesagt: Wer nur Möglichkeiten hätte, hätte nicht einmal Möglichkeiten. Ich kann jetzt zumindest in den Grundzügen erläutern, was ich unter Autonomie im Unterschied zu bloßer (Wahl-)Freiheit verstehe.12 Autonomie ist ein umfassender Modus der Lebensführung, der sich durch zwei Eigenschaften auszeichnet: die effektive 11 12

In Kapitel III werde ich dieses empiristisch anmutende Kriterium diskurstheoretisch reformulieren. Die genauere Klärung dieser Konzeption soll in Kapitel III erfolgen.

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Bindung des Willens an die Verfolgung wesentlicher Ziele und die grundsätzliche Offenheit für neue Erfahrungen und Einsichten. In beiden Hinsichten weist der Autonomiebegriff über die Möglichkeitskonzeption der Freiheit hinaus. Weder können wir uns der handlungswirksamen Bindung an Ziele allein im luftleeren Raum der bloßen Erwägung unserer Optionen versichern, noch wissen wir ohne praktische Erfahrung, ob wir uns tatsächlich durch bessere Einsichten und widerstreitende Erfahrungen folgenreich irritieren lassen.13 Mit der grundsätzlichen Offenheit für Alternativen kommt auch im Bezugsrahmen der Autonomie ein Aspekt der Wahlfreiheit zur Geltung - allerdings in einer signifikanten Verkehrung: Entscheidend ist nicht die Bandbreite der 'äußeren' Angebote, sondern die 'innere' Souveränität des Umganges mit diesen Angeboten. Weil selbst unsere tiefsten Gewißheiten und eingelebtesten Gewohnheiten fallibel sind, sollten wir auch zu einer eigenständigen Berücksichtigung von neuen Informationen und Perspektiven imstande sein. In der grundsätzlichen Zugänglichkeit für abweichende Einsichten nämlich zeigt sich die Ernsthaftigkeit einer Bindung unter Bedingungen der Kontingenz. Das gilt auch und gerade für die leitenden Ideale einer Lebensführung. Ein autonomer Mensch will daher nicht nur seine faktischen Wünsche in eine zeitliche und sachliche Ordnung - der sinnvollen Sukzession und der Wichtigkeit - bringen, sondern auch seine jeweilige Wunschordnung selbst vernünftig vertreten können. Das impliziert eine doppelte 'Antwortfähigkeit': Die Person muß in der Lage sein, ihre wichtigsten Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen im Lichte neuer Erfahrungen und Einwände zu überprüfen. „Zur Selbstbestimmung nämlich gehört wesentlich, daß man sich korrigieren lassen kann - auf grundsätzlich zweierlei Weise: durch die Meinung von anderen und durch die Gegenstände, über die man Meinungen hat" (Seel 1995: 130). Selbstbestimmt ist demnach eine Lebensführung im Modus der Weltoffenheit.14 Dieses Kriterium ist nicht quantitativer, sondern qualitativer Art. Ein Mensch ist nicht um so autonomer, je mehr er selbst entschieden hat. Er ist autonom, wenn er seinen jeweiligen Entwurf selbstverantwortlich und sehenden Auges zu vertreten vermag. Das Kriterium der Selbstverantwortlichkeit besagt, daß sich jemand das eigene Tun als seine

Vielleicht können wir sogar einen Schritt weitergehen und behaupten, daß bereits die begründete Wahl von existentiellen Zielen nicht allein eine Frage der kognitiven Wahrnehmung einer Option ist, sondern ein gewisses Maß an praktischer Übung, an Erprobung der eigenen Möglichkeiten voraussetzt. So, nämlich als weltoffene Selbstbestimmung, versteht auch Martin Seel die allgemeine Form eines guten Lebens. Selbstbestimmung hat bei ihm jedoch eine doppelte Bedeutung. Einerseits steht sie für die Fähigkeit der freien Wahl und selbständigen Verfolgung einer Lebenskonzeption. Andererseits bezeichnet sie die Fähigkeit, im Streben nach Wunscherfullung auch innezuhalten und sich dem unvorhersehbaren Glück des Augenblicks zu überlassen. Sich teleologisch an Ziele zu binden und sich doch nicht auf ihre Verfolgung zu versteifen - in dieser Kunst liegt für Seel die Form des gelingenden und die Voraussetzung des gut oder glücklich gelingenden Lebens (Seel 1995: Kap. 2.4).

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Handlung(en) zuschreiben und für ihre Folgen und Nebenwirkungen auch vor anderen grundsätzlich einstehen kann. Diese Fähigkeit ist konstitutiv für den Status der Person. In unseren Urteilen über andere nehmen wir auf dieses Vorverständnis von Personsein Bezug - sei es, indem wir jemanden dafür loben oder bewundern, daß er diesem Vorverständnis in vorbildlicher Weise gerecht geworden ist, sei es, daß wir ihn für eine Enttäuschung unseres Vorverständnisses kritisieren, tadeln oder verachten. Auf diese Weise schreiben wir ihm im Guten wie im Schlechten eine prinzipielle Verantwortung für die eigene Lebensführung zu. Wir anerkennen ihn als selbstbestimmten oder der Selbstbestimmung fähigen Akteur. Bereits wenn sich die Anerkennung auf einzelne Handlungen oder Unterlassungen bezieht, schreiben wir dem Akteur zumindest die Veranlagung zu einer insgesamt selbstbestimmten Lebensführung zu; wir attestieren ihm eine Disposition zu minimaler Mündigkeit. Ist jemand in einem umfassenden Sinne, 'als Mensch', selbstbestimmt, so erstreckt sich die Anerkennung seiner Autonomie auf die Gestaltung seiner Lebensführung im ganzen.

1.3 Eine Bemerkung zum Verantwortungsbegriff Der Begriff der Verantwortung steht in einem internen Zusammenhang zum Begriff der Freiheit. Offenbar ergibt es keinen Sinn, jemanden für etwas verantwortlich zu machen, der in allem, was er tut oder läßt, unverrückbar festgelegt ist. In der Literatur zum Verantwortungsbegriff ist dieser Sachverhalt vor allem mit Bezug auf moralische Fragen ausführlich erörtert worden. Aus einem naheliegenden Grund: Ohne die Voraussetzung der Freiheit gehen die moralischen Urteile, gehen Lob und Tadel ins Leere (Rachels 1993). In dieser Frage sind sich auch die angeblichen Antipoden Aristoteles und Kant einig. So heißt es im dritten Buch der Nikomachischen Ethik: „Da nun die Tugend sich auf Leidenschaften und Handlungen bezieht und da Lob und Tadel das Freiwillige treffen, das Unfreiwillige aber Verzeihung erlangt, gelegentlich sogar Mitleid, so muß derjenige, der nach der Tugend forscht, wohl auch das Freiwillige und Unfreiwillige bestimmen" (1109 b 30). Kant hatte demnach recht, als er schrieb, daß wir Freiheit voraussetzen müßten, um uns (moralische) Verantwortlichkeit zuschreiben zu können. Nicht recht hatte er mit der Behauptung, daß diese Voraussetzung eine metaphysische sein müsse. Auch die damit verknüpfte Ansicht, daß wir nur in der Selbstbindung ans Sittengesetz frei seien, erweist sich im Lichte des von Frankfurt und Tugendhat vorgeschlagenen Freiheitskriteriums als unnötig.15 Eine verantwortliche Person muß ganz allgemein zur Selbstbindung ihres Willens imstande sein, und die 'inneren' Barrieren, die sie eventuell daran hindern Zu den ideengeschichtlichen Hintergründen und der Begründung der Kantischen „Metaphysik der Freiheit" siehe Kobusch 1997. Auch dieser teilt allerdings die (m. E. irrige) Auffassung, daß jede Konzeption personaler Verantwortlichkeit einer metaphysischen Fundierung bedürfe. - Gegen eine Engfuhrung des Kantischen Freiheitsverständnisses auf eine metaphysische Konzeption der Moral wendet sich Henry Allison (1990).

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können, etwa eine zwanghafte Fixierung oder ein Übermaß an Alkohol, sind nicht weniger empirisch als die Fessel, die mich am Heben des linken Beines hindert. Eine Person, die keinen effektiven Hindernissen, weder äußeren noch inneren, unterliegt, ist für ihr Tun oder Lassen selbst verantwortlich. Sie vollzieht ihre Handlungen in einem Horizont von Möglichkeiten.16 Moralische Verantwortlichkeit setzt daher eine allgemeine Verantwortungsfähigkeit voraus und bildet nicht ihren einzigen Anwendungsbereich. Die allgemeine Bedingung für Verantwortung ist kausale 'Macht' (Jonas 1979: 172). Das gilt schon für den deskriptiven Wortgebrauch. Wir sagen etwa, daß für einen Brand der Blitz verantwortlich ist, und meinen damit, daß der Blitz den Brand verursacht hat. Vom Blitz unterscheidet sich eine Person dadurch, daß sie auf die Behauptung, sie habe etwas verursacht, zu antworten vermag (Werner 1994: 304).17 Personen sind grundsätzlich responsiv, während die äußere Natur allenfalls in einem metaphorischen Sinne antworten, nämlich kausal 'zurückschlagen' kann. Noch etwas verdeutlicht diese Überlegung: Von Verantwortung sprechen wir häufig im Angesicht bestimmter Folgen, und zwar vor allem dann, wenn diese Folgen uns mißfallen. Gilbert Ryle (1969: 89) ist sogar der Ansicht, daß wir nur dann sagen, daß jemand für einen Sachverhalt verantwortlich sei, wenn wir ihn irgendeines Fehltritts bezichtigen wollen. Daher liegt es nahe, das Vokabular der Verantwortlichkeit für den moralischen Geltungsbereich zu reservieren. Anders als Blitze kann man Personen für die negativen Auswirkungen ihrer Machtentfaltung tadeln. Wir führen den ungünstigen Zustand dann auf eine Handlung der Person zurück, und diese Zuschreibung ist prinzipiell „anfechtbar" (Hart 1948/49: 175ff.). Kann die Person nämlich mildernde Umstände geltend machen oder sogar zeigen, daß ihr Tun weder beabsichtigt noch vermeidbar war, so verlieren die Vorhaltung oder sogar die Handlungszuschreibung selbst ihre Berechtigung."

Das heißt zugleich, daß sie nicht die Wahl hat, ob sie frei sein will oder nicht. In all ihrem Tun nämlich hat sie sich immer schon in der einen oder anderen Weise 'entworfen'. Sie ist, wie die Existentialisten hervorheben, zur Freiheit verurteilt. Mit Heidegger (1927) können wir daher auch sagen, daß wir in einen Raum von Möglichkeiten 'geworfen' sind. Den engen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung, Antwortfähigkeit und Verantwortung betont auch Rainer Forst (1994: v. a. 385ff.). Gegen Harts Auffassung, daß wir mit Äußerungen von der Form 'Sie hat es getan' nicht primär Körperbewegungen beschreiben, sondern Verantwortung zuschreiben, sind in der analytischen Handlungstheorie eine Reihe von Einwänden vorgebracht worden. Der in unserem Zusammenhang wichtigste besagt, daß es widersinnig sei, jemanden für eine Handlung als solche verantwortlich zu machen: „Wenn ich sage 'Er spielte Klavier'oder 'Er setzte sich zum Essen hin', kann man dann sagen, daß ich jemandem Verantwortung zuschreibe? Sicher nicht. Man merkt, daß es in solchen Fällen nichts gibt, woför irgend jemand verantwortlich ist, es sei denn unter ziemlich außergewöhnlichen Umständen" (Pitcher 1985: 225f.; kursiv im Original; vgl. auch Feinberg 1985). Feinberg und Pitcher zufolge askribieren wir Verantwortung im Angesicht von Wirkungen oder Konsequenzen, nicht von Taten an sich. Eine zweite Möglichkeit, die Feinberg und Pitcher erwähnen, besteht darin, jemandem einen Verantwortungsbereich zuzuschreiben. Beide übersehen jedoch, daß es in diesem zweiten Verwendungskontext auch sinnvoll sein kann,

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Wenn sich aber die Zuschreibung von Verantwortung stets (retrospektiv) auf die Auswirkungen eines Tuns oder Ereignisses bezieht, warum ist dann der Satz 'Ich bin für mein Tun und Lassen selbst verantwortlich' vollkommen verständlich? Wird hier nicht Verantwortung für Handlungen zugeschrieben und nicht lediglich für mehr oder weniger negative Folgen von Handlungen? Die Auflösung dieses Rätsels verweist auf einen anderen Sinn der Zuschreibung von Verantwortung: die Hervorhebung eines Bereiches, für den jemand zuständig ist. Jetzt stehen nicht mehr die Folgen einer persönlich zuschreibbaren Handlung im Vordergrund, sondern ein Gegenstand, der mir die Gesichtspunkte verantwortlichen Handelns vorgibt. Für diesen Gegenstand bin ich verantwortlich, wenn ich zu seiner „Sachwaltung berufen" bin (Jonas 1979: 175). Das kann bedeuten, daß ich auch für Handlungsfolgen den Kopf hinhalten muß, die ich im ersten Sinne des Wortes gar nicht zu verantworten habe, weil ich sie weder selbst herbeigeführt habe noch sie hätte verhindern können. So wird ein Minister häufig selbst dann zum Rücktritt aufgefordert, wenn der Skandal hinter seinem Rücken und ohne sein Zutun eingetreten ist. Entscheidend ist, daß er in den Zuständigkeitsbereich des Politikers fällt. Wir können in diesem Fall auch von einer bereichsspezifisch generalisierten Verantwortung sprechen. Auch diese prospektive Art der Zuständigkeit setzt allerdings den allgemeinen Zusammenhang zwischen Handlungsfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit nicht außer kraft. Nur eine in den relevanten Hinsichten mündige Person, die zu handlungswirksamen Überlegungen imstande ist, kommt als 'Sachwalterin' und als mögliche Adressatin von Vorwürfen in Betracht. Der Minister etwa muß zumindest in der Lage sein, die Übernahme seines Amtes selbst zu verantworten und auf seine Ausgestaltung einen gewissen Einfluß zu nehmen. Diese zweite Relation gilt in der Literatur gewöhnlich als wenigstens dreistellig: Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsbereich) einer anderen Person oder Instanz gegenüber verantwortlich" (Zimmerli 1987: 102; kursiv im Original). Diese Formulierung verdeutlicht wiederum die enge Bindung der Verantwortungssemantik an den moralischen Raum. Wenn wir immer einem anderen gegenüber für etwas verantwortlich sind, so gibt es stets einen spezifizierten Auftraggeber oder Leistungsnehmer, der widrigenfalls einen besonderen Grund zur Klage oder zum Tadel hat. Auf einen weiten Bereich von Fällen trifft das natürlich zu. Die Müllmänner sind gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ihrer Gemeinde für die Beseitigung und Sortierung der Abfälle verantwortlich, der Beleuchter ist gegenüber der Künstlerin und ihrem Publikum für die richtige Dosierung des Lichts verantwortlich, die heutige Generation ist gegenüber den nachfolgenden für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und der positiven Anteile eines kulturellen Erbes verantwortlich. Meine These ist nun, daß auch das je eigene Leben im ganzen einen Bereich der Verantwortlichkeit bilden kann. Dieser Bereich ist allerdings von besonderer Art: Wenn ich sage 'Du bist für Dein Leben selbst verantwortlich', so impliziert das kein spezifijemandem Verantwortung für Handlungen zuzuschreiben. Auf diesen Punkt werde ich nachfolgend eingehen.

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ziertes Gegenüber und auch keine spezifische Leistungserwartung. Häufig soll der Satz wohl eher eine mögliche Beschwerde des Verantwortungssubjekts vorwegnehmend entkräften: 'Wenn es dir hinterher schlechter geht, dann gib nicht mir die Schuld: Es ist dein Leben; du kannst mit ihm machen, was du willst'. Erneut scheint die Verantwortungssemantik in besonderem Maße von der Antizipation oder der Erfahrung eines Übels angestoßen zu werden. Einen ausdrücklich moralischen Sinn aber muß die verallgemeinernde Feststellung der Selbstverantwortlichkeit nicht haben. Ebenso gut kann sie die Anerkennung der Mündigkeit eines Gegenübers zum Ausdruck bringen. Die Kehrseite dieses Zutrauens ist die Zumutung von Kritik und Selbstkritik. Auch darauf hat das mündige Gegenüber ein 'Anrecht'. Wer jemandem für den Bereich seiner Lebensgestaltung im ganzen eine generalisierte Verantwortung zuschreibt, respektiert ihn als autonome Person. Eben dies erwarten wir auch von einer legitimen Rechtsordnung. Auch sie anerkennt die Mündigkeit der Rechtsgenossen - im Guten wie im Schlechten.19 Auch sie respektiert die grundsätzliche Zuständigkeit der Personen für ihr eigenes Tun oder Lassen. Zwischen den verschiedenen Dimensionen des Verantwortungsbegriffes besteht der folgende Zusammenhang: Die Verantwortungsfähigkeit für den 'Bereich' des eigenen Lebens ist eine allgemeine Hintergrundvoraussetzung, ohne die wir weder prospektiv für einen spezifischen Gegenstand(sbereich) noch retrospektiv fur die Folgen einer Handlung verantwortlich zeichnen können. Jede sinnvolle Zuschreibung von Verantwortung in der zweiten und/oder dritten impliziert ihre Zuschreibung in der ersten Hinsicht. Sie impliziert, daß das Verantwortungssubjekt zu einem personalen Leben in der Lage ist oder zumindest - wie im Falle Heranwachsender - die Voraussetzungen für ein solches Leben sukzessive erwirbt.

2. Welche (Freiheits-)Rechte haben wir? Ich behaupte nun, daß sich die Grundrechte am besten als Vorrichtungen zum Schutz und zur Förderung der Autonomiefahigkeit verstehen lassen. Sie sollen allen Menschen eine selbstbestimmt gelingende Lebensführung ermöglichen. Das gilt auch für die Freiheitsrechte im engeren Sinne. Unter dem Gesichtspunkt der Autonomiefähigkeit sind einige - allerdings recht allgemeine - Freiheiten von besonderer Bedeutung. Diese Deutung geht über den Horizont des Liberalismus der Freiheit hinaus. Dieser müßte 19

Daher konnte Hegel ( 1821 : § 100) sagen, daß der Verbrecher ein Recht auf Bestrafung habe. Auf diese Weise nämlich werde negatorisch seine Verantwortungsfähigkeit geachtet („Daß die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt''; ebd., kursiv im Original.). Umgekehrt trägt das zur Erklärung bei, warum es für viele Verbrecher besonders demütigend zu sein scheint, nicht als schuldfahig anerkannt zu werden. Wer der Empfehlung, sich als unzurechnungsfähig auszugeben, nicht Folge leistet, muß das nicht unbedingt aus Furcht vor dem Irrenhaus tun.

2. Welche (Freiheits-)Rechte haben wir?

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zeigen können, daß wir auf die Freiheit als solche ein Recht haben, weil der eigentliche schutzwürdige Wert die Maximierung von Wahlmöglichkeiten (ihr „größtmögliches Maß") ist. Dagegen aber spricht schon das Erfordernis der Gewichtung von Optionen. Aus dem Blickwinkel eines Liberalismus der Freiheit ist der Unterschied zwischen einem Ladenschlußgesetz und einer Einschränkung der Religionsfreiheit nicht ohne weiteres ersichtlich. Beides beraubt uns bestimmter Optionen. Allenfalls können wir vermuten, daß die eine Einschränkung tiefer geht und folglich schmerzhafter ist als die andere. Dieser Unterschied wäre vielleicht bedeutsam, er bliebe jedoch graduell. Außerdem steht das Ergebnis eines derartigen Vergleichs nicht von vorneherein fest. Einige der in den Verfassungen liberaldemokratischer Gesellschaften ausdrücklich festgehaltenen Grundrechte schützen Freiheiten, an denen vielleicht nur einer Minderheit etwas liegt, etwa die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft. Andererseits gibt es Freiheiten, die keine besondere Erwähnung finden, obwohl sehr viel mehr Menschen etwas von ihnen zu haben scheinen, zum Beispiel die ungehinderte Fortbewegung im städtischen Verkehr (die nicht nur durch Ampeln und Spielstraßen, sondern auch durch Demonstrationen - also durch den Gebrauch eines anerkannten Grundrechts - beeinträchtigt werden kann). Man könnte hinzufugen, daß Listen von Grundrechten nicht im Raum des reinen Sollens entstehen, sondern stets auch historisch-spezifische Erfahrungen der Unterdrükkung und des Kampfes um Freiheiten reflektieren. Eine eigene Hervorhebung verdienen demnach solche Freiheiten, die als besonders gefährdet gelten oder im gemeinschaftlichen 'Gedächtnis' einen privilegierten Platz beanspruchen dürfen. Auf die Religionsfreiheit zum Beispiel trifft beides zu: Sie war - und ist - ein Gegenstand von heftigen Pressionsversuchen und zugleich der zentrale Streitpunkt in den für das neuzeitliche Selbstverständnis besonders wichtigen Religionskriegen. Auch diese rechtshistorische Relativierung eines allzu freihändigen philosophischen Begründungsanspruches vermag jedoch den Unterschied zwischen Grundfreiheiten und anderen Freiheiten nicht zu erklären. In unserer Zeit werden bestimmte Freiheiten, vor allem solche, die mit der Herstellung und dem Verbrauch von materiellen Gütern und mit Techniken der Fortbewegung zu tun haben, von ökologischen Bewegungen einer fundamentalen Kritik unterzogen. Sollen wir sie deshalb allesamt in die Grundrechtskataloge aufnehmen? Sollte ein Verbot von Tempolimits Verfassungsrang erhalten? Betrachtet man die grundrechtlich anerkannten Freiheitsrechte hingegen im Lichte des Autonomieprinzips, wirken sie weit weniger rätselhaft. Die Gewissens- und Gedankenfreiheit sind wesentlich für die Möglichkeit einer zugleich authentischen und weltoffenen Selbstverwirklichung. Sie schützen die Person auch dann, wenn diese von den Erwartungen ihrer Gemeinschaft abweichen und ihren eigenen Weg finden möchte. In ihrer pragmatischen Dimension entsprechen diesen 'innerlichen' Freiheiten die Freiheiten zur Verbreitung einer Überzeugung und zur Versammlung unter Gleichgesinnten. Zusammen sichern diese Freiheiten die Möglichkeiten der Selbstbindung, des kol-

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

lektiven Handelns, des Austritts und des Widerspruchs.20 Auf diesem Pfad lassen sich innerhalb gewisser Grenzen - auch die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst begründen. Daß uns die Freizügigkeit und die Freiheit der Berufswahl im Interesse an einem selbstbestimmt gelingenden Leben etwas bedeuten sollten, dürfte ebenfalls auf der Hand liegen. Da alle diese Freiheiten auch mit den öffentlichen Voraussetzungen und Randbedingungen unseres Zusammenlebens interferieren, bedürfen sie der Ergänzung in Gestalt politischer Rechte. Auch das in Artikel 2, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes verankerte Recht auf Handlungsfreiheit läßt sich als Recht auf Autonomie reformulieren. Der Absatz lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Grundgesetz verstößt". Robert Alexy (1985: 309ff.; 1997: 284) sieht darin eine Bestätigung für das von wesentlichen Teilen der liberalen Tradition behauptete Recht auf Freiheit.21 Die allgemeine Handlungsfreiheit könne allerdings nur den Status eines prima facie-Rechts beanspruchen. Der Preis dafür sei, „daß auf die Liste und in den Grundrechtskatalog ein Recht aufgenommen werden muß, dem auch im Verhältnis zu kollektiven Gütern keine strikte Priorität mehr zukommt" (Alexy 1997: 284). Diesen Preis hält Alexy für relativ gering. Verstehen wir Grundrechte hingegen mit Dworkin (1990: 14) in einem strikteren Sinn als Trümpfe, die utilitaristische Ziele und perfektionistische Werte im Konfliktfall ausstechen, so sind die konzeptionellen Kosten einer solchen Aufweichung erheblich. Vor allem aber scheinen sie mir vermeidbar zu sein. Meiner Lesart zufolge bezieht sich das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit auf die Idee einer autonomen Selbstverwirklichung. Unter dieser Voraussetzung kommen als Verletzung des Rechts lediglich solche Freiheitsbeschränkungen in Frage, die die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensvollzugs im Kern berühren. Die grundlegende Verletzung aber besteht in der Mißachtung der menschlichen Autonomiefahigkeit selbst. Daraus folgt zweierlei: Erstens eignen sich, wie angedeutet, nur einige Arten von Freiheiten als Grundfreiheiten. Zweitens darf der Staat überhaupt nicht grundlos in irgendwelche Freiheiten der Menschen eingreifen. Jede Beschränkung der Handlungsfreiheit mündiger Menschen ist rechtfertigungsbedürftig. In diesem schwachen Sinne haben wir ein prima facie-Recht auf Freiheit. John Rawls (1994b: 161; 166) spricht deshalb von einem „allgemeinen Vorbehalt gegen die Auferlegung gesetzlicher oder anderer Verhaltensbeschränkungen ohne hinreichende Begründung". Dennoch verneint Rawls, daß wir ein Recht auf Freiheit als solche hätten (ebd.). Auch er fordert lediglich ein Recht auf bestimmte Grundfreiheiten, worunter er, ebenso wie Dworkin,

Zur Bedeutung von Austritt und Widerspruch vgl. die schon klassische Untersuchung von Hirschman (1974). Alexy beruft sich auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit 1957. Er erwähnt allerdings auch die abweichende Meinung des Bundesverfassungsrichters (Dieter) Grimm, der sich anläßlich einer Entscheidung über das Reiten im Wald (BVerfGE 80, 137 [167ff.]) gegen die Auslegung des Art. 2 Abs. 1 als Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit gewandt hat.

2. Welche (Freiheits-)Rechte haben wir?

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bindende Ansprüche der Individuen versteht, die utilitaristische und perfektionistische Erwartungen übertrumpfen. Der springende Punkt ist, daß die Einschränkung eines Rechts im Rawls'sehen und Dworkin'sehen Sinne spezifischerer Begründungen bedarf als die legitime Einschränkung irgendeiner anderen Freiheit. Viele Freiheiten dürfen sehr wohl aus Gründen der allgemeinen Sicherheit oder allgemeiner des 'Gemeinwohls' beschnitten werden. Dworkin (1990b: 433f.) gibt das anschauliche Beispiel, daß wir kein starkes Recht darauf haben, die Lexington Avenue hinaufzufahren, weshalb der Staat, wenn er diese Straße zur Einbahnstraße erklärt, nur zeigen muß, daß diese Maßnahme im allgemeinen Interesse ist. Aber auch auf einer allgemeineren Ebene bestreitet Dworkin, daß die Freiheit für Liberale den Stellenwert habe, der ihr häufig zugesprochen wird. Er glaubt, die Freiheitsrechte allein aus dem Grundsatz der gleichen Achtung und Berücksichtigung herleiten zu können, ohne dazu auf irgend einen Wert der Freiheit direkt rekurrieren zu müssen. Gleichheit, nicht Freiheit sei „the nerve of liberalism" (Dworkin 1986a: 183). Nun zeigt schon eine logische Überlegung, daß Freiheit und Gleichheit nicht das grundlegende Oppositionspaar sein können: Die beide Begriffe liegen auf zwei verschiedenen Ebenen. Freiheit ist ein möglicher Inhalt der Gleichheit: „Denn anders als das der Freiheit betrifft das Merkmal der Gleichheit nicht die Frage, was wertvoll ist, sondern die Frage, wer alles in den Genuß gegebener Werte kommt" (Seebaß 1996: 768). Eben deshalb aber bleibt die Idee der liberalen Gleichheit ohne materialen Gehalt leer. Sie muß auf einen bestimmten Wert - oder ein Ensemble von Werten - Bezug nehmen. Und in der Tat weist Dworkin auf solche Werte hin: „Die Regierung muß diejenigen, die sie regiert, mit Rücksicht behandeln, das heißt als menschliche Wesen, die des Leidens und der Enttäuschung fähig sind, und mit Achtung, das heißt als menschliche Wesen, die in der Lage sind, sich nach intelligenten Konzeptionen davon, wie sie ihr Leben leben sollten, selbst zu formen und entsprechend zu handeln" (Dworkin 1990b: 439). Was hier zum Ausdruck zu kommen scheint, ist nicht Gleichheit schlechthin, sondern die spezifisch liberale Idee der Gleichheit für autonomiefähige Personen (vgl. auch Gosepath 1995: 30ff.; Waldron 1995: 109ff.). Die mögliche Selbstbestimmung der Person scheint einen für Dworkins Liberalismus unverzichtbaren Bezugspunkt zu bilden. Das Konzept der Gleichheit impliziert ja nicht schon als solches die Möglichkeit einer eigenständigen Formung der Persönlichkeit. Eben das aber ist Dworkins Ansicht: „What does it mean for the government to treat its citizens as equals? That is, I think, the same question as the question of what it means for the government to treat all its citizens as free, or as independent, or with equal dignity" (Dworkin 1986a: 191). Dworkin begründet diese Behauptung im Lichte des liberalen Neutralitätsprinzips. Sobald nämlich der Staat irgendeine Vorstellung des Guten gesetzlich oder faktisch privilegierte, behandelte er nicht mehr alle Bürgerinnen und Bürger als Gleiche. Wenn er die Freiheit der Selbstwahl und der für Korrekturen offenen Verfolgung eines Lebensent-

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Kapitel I. Zwei Arten des Liberalismus

wurfes nicht allgemein und unparteilich schützen würde, gäbe er einigen Menschen Grund, sich als Bürger/innen zweiter Klasse zu fühlen. Sie müßten dann für ihre Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft den Preis des Verzichts auf authentische Selbstverwirklichung bezahlen, der anderen Personen nicht abverlangt würde. Dieses Argument greift jedoch zu kurz, weil es nur darauf abhebt, wie Liberale mit einer faktisch vorhandenen Vielfalt von Lebensweisen umgehen sollten. Es berücksichtigt nicht, daß Liberale darüber hinaus die Menschen zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der Welt ermutigen und befähigen wollen. Liberale wollen nicht lediglich einen tatsächlichen ethischen Pluralismus mit dem Mantel der Toleranz bedecken; sie wünschen sich ausdrücklich solche Bürgerinnen und Bürger, die zur verantwortlichen Übernahme und revisionsoffenen Verfolgung einer Konzeption des Guten imstande sind. Diese 'perfektionistische' Ambition kommt vor allem auf dem Gebiet der Pädagogik, im liberalen Postulat der 'Erziehung zur Mündigkeit', zur Geltung (vgl. Gutmann 1987). Liberale halten die Autonomie der Person für gut und forderungswürdig, und dies aus zwei Gründen: weil die demokratische Gesellschaft in ihren öffentlichen Sphären auf die Verantwortungsfahigkeit und das Urteilsvermögen ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen sei und weil auch die Individuen in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse ein selbstbestimmtes Leben einem fremdbestimmten vorziehen sollten. Wir können den ersten Aspekt als These des politischen, den zweiten als These des ethischen Liberalismus bezeichnen. Beide Aspekte spielen eine Rolle in der revidierten Theorie der Grundfreiheiten des späteren Rawls. Dieser hat sich von H. L. A. Hart (1973) belehren lassen, daß die Formulierung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes in der Theorie der Gerechtigkeit irreführend ist. Ursprünglich hatte Rawls (1979: 336) „das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten" gefordert, „das für alle möglich ist". Damit aber war er der falschen Annahme einer Quantifizierbarkeit der wesentlichen Freiheiten aufgesessen; außerdem war es ihm nicht gelungen, das Freiheitskriterium an die Interessen seiner fiktiven Entscheidungsparteien im „Urzustand" (original position) zurückzubinden. Auf beide Schwierigkeiten antwortet Rawls mit der neuen Forderung nach dem „gleiche(n) Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem entsprechenden System von Freiheiten für alle vereinbar ist" (Rawls 1994b: 160). Nicht Maximierung, sondern Angemessenheit soll jetzt das System der Grundfreiheiten auszeichnen. Seine Adäquatheit bemißt sich an einem liberalen Begriff der Person. Die Grundfreiheiten sollen die Entwicklung und Ausübung zweier fundamentaler Fähigkeiten ermöglichen: der Selbstbindung an Grundsätze der Gerechtigkeit und der selbstverantwortlichen und revisionsoffenen Verfolgung rationaler Lebenspläne. In dieser Formulierung lassen sich unschwer die beiden oben unterschiedenen Thesen des politischen und des ethischen Liberalismus wiederfinden. Rawls allerdings leugnet die ethischen Implikationen seiner neugefaßten Theorie; er möchte sie allein als politische Gerechtigkeitslehre verstanden wissen. Im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels versuche ich zu zeigen, daß diese Halbierung unhaltbar ist, um dann wiederum auf Dworkin zurückzukommen: diesmal aller-

2. Welche (Freiheits-)Rechte haben wir?

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dings nicht auf den strikten Theoretiker der Neutralität, sondern auf denselben Theoretiker nach seinem ethisch-liberalen coming out. Anders als der erneuerte Rawls nämlich ist sich der erneuerte Dworkin der Abhängigkeit einer liberalen Gerechtigkeitstheorie von einer ethischen Theorie der autonomen Person bewußt.

Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

1. Personen bei Rawls Bereits im siebten Kapitel seiner Theorie der Gerechtigkeit (1979) entwickelt Rawls eine formale oder „schwache" Theorie des Guten. Ihren Mittelpunkt bilden ein Begriff rationaler Lebensplanung und eine darauf bezogene Liste von Grundgütern {primary goods)·. Das sind allgemein dienliche Mittel, von denen jeder rationale Akteur lieber mehr als weniger haben möchte, was immer seine besondere Konzeption des Guten sein mag (Rawls 1979: 112). Diese Liste umfaßt folgende Güter: Grundfreiheiten, Freizügigkeit und freie Berufswahl, mit verantwortungsvollen Ämtern und Positionen verbundene Vorrechte und Befugnisse, Einkommen und Besitz sowie die sozialen Grundlagen der Selbstachtung (vgl. auch Rawls 1994a: 95; 1994b: 179). Doch unter dem Eindruck verschiedener Kritiken (u. a. Teitelman 1972; Schwartz 1973; Nagel 1994b) hat Rawls eingesehen, daß seine Grundgüterliste der Verankerung in einer spezifischen Konzeption der Person bedarf. Nicht länger nimmt er an, sie reflektiere die Interessen schlechthin aller Vertreter rationaler Lebenspläne (vgl. Hinsch 1994). Vielmehr spricht er seit 1980 ausdrücklich von einem moralischen Begriff der Person·. Die moralische Person versteht sich als Teilnehmerin an einem System fairer Kooperation unter freien und gleichen Bürgern und ist vor allem daran interessiert, die Fairneß der sozialen Ordnung und ihre eigene Selbstbestimmung zu wahren. Dieser Personenbegriff ist Rawls zufolge in der politischen Kultur liberaldemokratischer Gesellschaften implizit enthalten: Er umreißt ein Ideal des guten Bürgers, auf welches freiheitliche Gemeinwesen angewiesen und auf das sie abgestimmt sind. Nur für einen solchen Bürger ist es uneingeschränkt rational, der Grundgüterliste aus A Theory of Justice zuzustimmen (Rawls 1994a: 95). Moralische Personen im Rawls'sehen Sinne haben zwei moralische Vermögen. Das erste Vermögen besteht in der Fähigkeit, sich selbst an Grundsätze der Gerechtigkeit zu binden. Moralische Personen sind folglich im Kantischen Sinne autonom und vernünftig. Sie sind autonom, da sie ihre Handlungen mit Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbaren wollen. Dieser Wunsch steht auf einer anderen Stufe als natürliche Neigungen; „es ist ein bestimmter, regulativ höchstrangiger Wunsch, in Einklang mit bestimmten Gerechtigkeitsgrundsätzen angesichts ihrer Verbindung mit dem Begriff der Person als

1. Personen bei Rawls

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frei und gleich zu handeln" (Rawls 1994a: 104). Außerdem sind moralische Personen vernünftig: Sie unterwerfen ihre Urteile über das Gerechte den Einschränkungen des Urzustandes, der den moralischen Standpunkt der Unparteilichkeit verkörpert. Dieser Bestimmung liegt eine wiederum von Kant übernommene Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen zugrunde: Rational ist die auf Begründungen beruhende planvolle Verfolgung je eigener Zwecke, vernünftig hingegen ist die einsichtige Selbstbindung an den moralischen Grundsatz der gleichen Achtung und Berücksichtigung. 1 Der Urzustand repräsentiert in diesem Sinne vernünftige Restriktionen der Entscheidungsfindung für rationale Vertreter freier und gleicher Bürger: „In Gerechtigkeit als Fairneß umrahmt das Vernünftige das Rationale und ist aus einem Begriff der moralischen Person als frei und gleich abgeleitet" (Rawls 1994a: 103). Der Aspekt des Rationalen verweist auf das zweite moralische Vermögen: die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen. Moralische Personen identifizieren sich mit ihren Lebenszielen, doch sie sind nicht unlösbar mit ihnen verbunden. Im Interesse an der Gerechtigkeit wie auch am Gelingen ihres eigenen Lebens sind sie gegebenenfalls bereit, ihre Lebenspläne zu korrigieren. Unter einem Lebensplan versteht Rawls eine geordnete Menge von Zwecken, an denen eine rationale Person ihre Lebensführung langfristig ausrichtet. Konzeptionen des Guten sind teleologisch verfaßt. Ihre Gerichtetheit ist jedoch nicht mit Rigidität gleichzusetzen. Im Lichte rationaler und vernünftiger Überlegungen nämlich kann eine moralische Person ihre Ordnung letzter Zwecke überprüfen. Rawls schreibt ihr also das Vermögen zu, ihre ethische Konzeption durch Grundsätze der Gerechtigkeit zu limitieren und durch prudentielle Erwägungen abzuwandeln. Das wiederum impliziert die Zumutung von Verantwortlichkeit. Personen sind in der Lage, „ihre Bedürfnisse und Wünsche zu kontrollieren, zu revidieren und gegebenenfalls für sie die Verantwortung zu übernehmen" (Rawls 1994: 70). Diesen Vermögen korrespondieren ein höherrangiges und zwei höchstrangige Interessen. Die Parteien im Urzustand wissen, daß sie zu jedem Zeitpunkt über bestimmte Konzeptionen des Guten verfügen, wenn sie auch nicht wissen, worin diese Konzeptionen jeweils bestehen. Folglich haben sie das höherrangige Interesse, ihre jeweilige Ordnung letzter Ziele so gut wie möglich zu schützen und zu fordern. Dieses Interesse ist jedoch den beiden höchstrangigen Interessen untergeordnet. Diese beziehen sich auf die Verwirklichung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen. Moralischen Personen ist demnach vor allem daran gelegen, ihren Gerechtigkeitssinn zu schärfen und ihre Fähigkeit zur Auswahl und revisionsoffenen Verfolgung einer Konzeption des Guten zu kultivieren (Rawls 1994a: 93f.). Mit dieser Formulierung folge ich Dworkins (1990a) Interpretation der Rawls'schen Theorie. Rawls selber hat zu dieser Interpretation in einer langen Fußnote Stellung genommen und sie als eine mögliche, von ihm jedoch nicht als solche intendierte Lesart seiner Theorie bezeichnet (Rawls 1994c: 272f.). Die Differenz bezieht sich im wesentlichen auf die Frage, ob die Theorie der Gerechtigkeit eine rechtsbegründete Auffassung vertrete (was Rawls verneint). Für die oben gebrauchte Formulierung ist dieser Streitpunkt nicht von Belang.

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

Das Interesse an freier Wahl und selbstverantworteter Verwirklichung äußert sich auch in der Entscheidung, unter den verteilbaren Grundgütern den Grundfreiheiten einen lexikalischen Vorrang einzuräumen (Rawls 1994b). Dieser Vorrang fördert zugleich die Selbstachtung rationaler Akteure und damit das wichtigste Grundgut. Die Personen müssen auf die Fähigkeit zur effektiven Selbstbindung an lohnende Lebenspläne vertrauen können. „Ohne Selbstachtung würde nichts der Ausführung wert erscheinen, und sollten einige Dinge für uns einen Wert haben, dann hätten wir nicht den Willen, sie zu verfolgen" (Rawls 1994c: 190). Mit der öffentlichen Anerkennung eines Vorranges der Grundfreiheiten bekunden nun die Bürgerinnen und Bürger „ihre gegenseitige Achtung füreinander als vernünftige und vertrauenswürdige Personen" (ebd.: 191): Sie trauen einander wechselseitig zu, ihre Lebenspläne verantwortlich auszuwählen und zu verfolgen. Vor allem seit Mitte der achziger Jahre betont Rawls den politischen Charakter seines moralischen Begriffs der Person. Dieser Ausdruck ist mehrdeutig. Er soll das Personenkonzept zunächst von allen philosophischen Theorien der personalen Identität absetzen. Rawls möchte nicht entscheiden müssen, ob Personen Substanzen im Sinne von Descartes oder Leibniz sind, ob sie ihre Einheit in einem transzendentalen Ich finden, ob personale Identität in psychophysischer Kontinuität aufgeht usw. (Rawls 1994c: 279f., Fußnote 24; vgl. auch Siep 1997: 385ff). Fragen dieser Art sind philosophisch umstritten und möglicherweise unentscheidbar, jedenfalls soweit sie von metaphysischen Hintergrundannahmen abhängen. Rawls umgeht diese Schwierigkeiten auf dem schon politisch bewährten Weg der Streitvermeidung durch Sphärentrennung; er überträgt gleichsam das Toleranzprinzip auf das theoretische Feld der politischen Philosophie. Seinen Personenbegriff stützt er stattdessen auf eine Art Common sense der politisch urteilenden Bürgerin. Zugleich behauptet er, daß die Idee der moralischen Person zum objektiven Geist westlicher Demokratien gehört und in ihren Basisinstitutionen verkörpert ist. Das Selbstverständnis liberaler Demokratien bringt Rawls (1993 I: § 1.3) auf den Begriff „einer Gesellschaft als eines fairen Systems sozialer Kooperation zwischen freien und gleichen Personen, die betrachtet werden als voll kooperierende Mitglieder einer Gesellschaft während eines ganzen Lebens". Diese Vorstellung sollen die Grundsätze der Gerechtigkeit entfalten, und auf sie ist die Kantische Idee der moralischen Person zugeschnitten. 2 Politisch ist sie demnach in dem zweifachen Sinne, daß ihr eine politische und keine metaphysische oder philosophisch umstrittene Konzeption zugrunde liegt und daß sie zur Beurteilung der Grundstrukturen des sozialen Zusammenlebens beitragen soll. Das Kantische Moment kommt vor allem in der Theorie der moralischen Überzogen ist allerdings die Behauptung von Friedo Ricken (1997), die Argumentationsstruktur von Political Liberalism, dem Hauptwerk des späteren Rawls, sei strikt analytisch. So scheinen mir aus dem sehr allgemeinen Begriff der freien und gleichen Person noch nicht zwangsläufig die beiden höchstrangigen Interessen moralischer Personen zu folgen. Angemessener ist es wohl, in Political Liberalism den Versuch einer hermeneutisch sensiblen und moralisch reflektierten Rekonstruktion von Grundgehalten der politischen Kultur westlicher Demokratien zu sehen.

1. Personen bei Rawls

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Vermögen und der ihnen entsprechenden höchstrangigen Interessen zum Ausdruck. Doch Rawls entkoppelt die Norm der Autonomie von der Kant'schen Metaphysik. Aus den Bewohnern des Reichs der Zwecke werden profane, aber moralisch motivierte Bürgerinnen und Bürger wohlgeordneter Gemeinwesen. Die Idee der höchstrangigen Interessen verantwortlicher Personen ist jedoch weder politisch unstrittig, noch kommt sie ganz ohne philosophische Begründung aus. Für eine strikte Strategie der Vermeidung ist sie entschieden zu anspruchsvoll. Das gilt bereits für die Behauptung, sie sei allgemein anerkannter Bestandteil des politischen Selbstverständnisses westlicher Demokratien. In unserer politischen Kultur kommen neben liberalen auch republikanische Vorstellungen zur Geltung, in deren Mittelpunkt der intrinsische Wert demokratischer Beteiligung und nicht das Ideal einer freien Wahl und revisionsoffenen Verwirklichung rationaler Lebenspläne steht (vgl. nur Bachrach 1970; Pocock 1975; Sunstein 1990; Barber 1994). Manche republikanischen Theorien stellen den Vorrang des Interessenbegriffs als solchen in Frage, da er von der zentralen Bedeutung der politischen Tugenden und der bürgerschaftlichen Verantwortung ablenke (Münkler 1992). Solchen Theorien kommt Rawls nun insofern entgegen, als er seine Personen mit der Tugend eines wirksamen Gerechtigkeitssinnes ausstattet.3 Das (zweite) moralische Vermögen der Auswahl, Verfolgung und Revision existentieller Ziele jedoch verweist auf ein spezifisch liberales Verständnis personaler Verantwortlichkeit. Die damit anklingende Konzeption weltoffener Selbstbestimmung ist weder politisch unumstritten, noch läßt sie sich auf den Geltungsraum der sozialen Grundstruktur beschränken. Gleichwohl berührt sie die Gerechtigkeitsvorstellung in ihrem Kern: Sie beeinflußt Inhalt und Anordnung der Rawls'sehen Gerechtigkeitsgrundsätze, vor allem den unbedingten Vorrang der Grundfreiheiten und die Ablehnung von Kompensationen für selbstverschuldete Nachteile. 4 An dieser Schwierigkeit ändert auch Rawls' Beteuerung nichts, daß es ihm allein um eine ethisch neutrale Bestimmung der Rechtsperson gehe (vgl. auch Forst

Rawls unterscheidet zwischen klassischem Republikanismus und bürgerlichem Humanismus. Ein Republikanismus, der lediglich das Erfordernis einer aufmerksamen Aktivbürgerschaft betone, beruhe nicht zwangsläufig auf einer „umfassenden Lehre" (etwa einem spezifischen Menschenbild) und vertrage sich folglich mit den Grundsätzen von Gerechtigkeit als Fairneß. Der auf Aristoteles zurückgehende bürgerliche Humanismus hingegen sei eine umfassende Lehre, weil er im politischen Handeln die eigentliche oder wesentliche Verwirklichungsform des Menschen erblicke. Als perfektionistische Theorie des Politischen vertrete er eine besondere Sicht der Dinge, die er zu Unrecht als verallgemeinerbare ausgebe (Rawls 1994d: 391ff.). Wie stark der Rawls'sche Personenbegriff ist, geht aus dem folgenden Zitat deutlich hervor: Ein Gesichtspunkt, unter dem Bürgerinnen und Bürger als frei gelten, ist der, „daß sie als fähig erachtet werden, Verantwortung fur ihre Ziele zu übernehmen, und dies berührt die Frage, wie ihre verschiedenen Ansprüche eingeschätzt werden. Grob gesprochen ist der Gedanke der, daß wir unter der Voraussetzung gerechter Hintergrundinstitutionen und einem für alle Personen fairen Verzeichnis von Grundgütern (wie nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit erforderlich) von Bürgern erwarten, ihre Ziele und Bestrebungen den vernünftigerweise zu erwartenden Kosten anzupassen" (Rawls 1994c: 282; vgl. auch ders. 1982: 168ff.).

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

1994: 35ff.). Die „öffentliche Identität" der Personen ist demnach von ihren nichtöffentlichen Bindungen zu unterscheiden: „Auf der Straße nach Damaskus wird Saulus zu Paulus. Es findet aber weder ein Wechsel in unserer öffentlichen oder politischen Identität noch in unserer persönlichen Identität statt, wenn man diesen Begriff so versteht wie einige Autoren der analytischen Philosophie" (Rawls 1994c: 279). Warum aber sollte jemand in seiner Eigenschaft als Bürger das Recht auf ethische Konversion verteidigen, wenn seine „nichtöffentlichen" Überzeugungen keinen Platz lassen für den Wert einer revisionsoffenen Lebensführung? Die Rawls'sehe Trennung zwischen politischer und ethischer Identität ist weder motivational noch konzeptionell einleuchtend. Warum sollte jemand motiviert sein, ein Recht auf Preisgabe ethischer Bindungen anzuerkennen, von deren unbedingter Richtigkeit er als stark wertender Angehöriger einer ethischen Gemeinschaft überzeugt ist? Und warum sollte jemand annehmen, ein solches Recht ließe sich nicht vernünftigerweise ablehnen, solange er keinen zwingenden Grund hat, die liberale Theorie personaler Verantwortlichkeit als ethische Theorie - oder als Teil einer solchen - zu übernehmen (vgl. auch Wolf 1997: 63)? Man kann die Unhintergehbarkeit ethischer Reflexionen an einem für Liberale geradezu paradigmatischen Beispiel überprüfen: am harm-principle von John Stuart Mill (1859: 17): „Das einzige Ziel, um dessentwillen es der Menschheit gestattet ist, einzeln oder vereint, die Freiheit eines ihrer Mitglieder zu beschränken, ist Selbstschutz. Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied der gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten". Da jedoch alle möglichen Entscheidungen - oder Nichtentscheidungen - irgendwelche Auswirkungen auf andere Menschen haben, setzt die sinnvolle Anwendung von Mills Prinzip ein wie immer konkretionsbedürftiges Schadensverständnis bereits voraus. Angenommen, der Staat läßt an einigen Orten den Nudismus zu, so könnten sich manche Menschen schon durch das bloße Wissen verletzt fühlen, daß andere nackt am Strand liegen. Durch die Entscheidung für eine Spielstraße könnten sich Autofahrer in ihrem Recht verletzt fühlen, möglichst schnell an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Durch die Entscheidung für ein öffentliches Fest könnten sich menschenscheue oder lärmempfindliche Zeitgenossen in ihrem Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit gestört fühlen usw. Unter dem Vorzeichen eines radikalen ethischen Subjektivismus führte die Anwendung des Grundsatzes der Schädigungsvemeidung zu einer Selbstaufhebung des öffentlichen Lebens. Auf diesem Grund der allseitig vorgeschützten Verletzbarkeit ließe sich schwerlich ein System der Rechte errichten. Ein solches System setzt vielmehr einen ethischen Sinn für die Erheblichkeit einiger - möglicher oder tatsächlicher Schädigungen voraus: „Our views about what is a burden, and when one burden is greater than another, are not independent of our ethical convictions but sensitive to these" (Dworkin 1990d: 30). Ein liberales System der Rechte zeichnet sich dadurch aus, daß es die Einschränkung der personalen Autonomie für besonders schwerwiegend hält und deshalb grundrechtli-

1. Personen bei Rawls

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che Vorkehrungen gegen diese Art von Schaden trifft: Wer in den wesentlichen Fragen des Lebens gezwungen ist, von seinen Überzeugungen abzuweichen und seine aufrichtig empfundenen Bedürfnisse zu unterdrücken, hat Grund, sich durch andere Personen oder durch die soziale Ordnung instrumentalisiert zu fühlen. Daher legen Liberale zum Beispiel besonderen Wert auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit oder auf die Freiheit der sexuellen Orientierung. Ist das jedoch eine Entscheidung, die sich, in den bekannten Worten von Thomas Scanion (1982: 110), „nicht vernünftigerweise zurückweisen läßt"? Das eben hängt von der Überzeugungskraft einer liberalen Ethik ab, die sich bemühen muß, den fundamentalen Wert einer innengeleiteten, selbstbestimmten Lebensführung zu erläutern. Gerade die Beispiele der Religionsfreiheit oder des Umganges mit 'abweichenden' sexuellen Orientierungen zeigen, daß auf die Verankerung dieses Wertes in 'unserer' politischen Kultur allein kein Verlaß ist. Traditionen und institutionell verkörperte Ansprüche sprechen gerade in den moralisch besonders sensiblen Bereichen selten eine eindeutige Sprache. Konservative Perfektionisten, religiöse Eiferer und selbsternannte Kulturpfleger kehren häufig gerade solche historisch beglaubigten Einstellungen und mentalitätsbildenden Erfahrungen hervor, die aus liberaler Sicht in die falsche Richtung weisen. Sie werden die Freiheit der Person zur revisionsoffenen Verfolgung selbstgewählter Lebenspläne vielleicht nicht pauschal ablehnen, aber ihr doch konventionalistische Grenzen setzen, die liberale Personen im Rawls'schen Sinne nicht akzeptieren können. Die Mehrdeutigkeit unserer Traditionen spricht dafür, nach einer anderen Grundlage für die Zurückweisung solcher Anmaßungen zu suchen. Eine womöglich aussichtsreichere Argumentation könnte beim Rawls'schen Begriff der unvernünftigen Lehren ansetzen. Dieser Begriff hat wiederum zwei Aspekte. Unvernünftig nennt Rawls zum einen solche Lehren, die ihre Anhänger an der Ausbildung eines Gerechtigkeitssinnes hindern und sie von der Suche nach fairen Regeln der sozialen Kooperation grundsätzlich abhalten (etwa Lehren wie der Nationalsozialismus, die sich auftrumpfend zum 'Wert' der Intoleranz bekennen). Unvernünftig seien aber auch solche Lehren, welche die prinzipiellen Schwierigkeiten ethischer und moralischer Verständigung leugneten. Jede vernünftige ethische und moralische Konzeption berücksichtige die „Bürden der Urteilskraft" (Rawls 1993: 54; 1994f: 336ff.): Sie wisse um die Schwierigkeiten der Ermittlung und Gewichtung von Evidenzen, um die Interpretationsbedürftigkeit und Unbestimmtheit vieler Begriffe, um die Erfahrungsabhängigkeit vieler Urteile und um die faktischen Grenzen institutioneller Ordnungen, die niemals allen ethischen Konzeptionen gleichermaßen gerecht werden könnten. Nun sind dies alles jedoch Gründe, die uns an der Möglichkeit einer vernünftigen Einigung in ethischen Fragen zweifeln lassen: Vielleicht habe ich ebenso gute Gründe, auf meiner ethischen Lehre zu beharren wie mein Gegenüber auf der seinen, obgleich die beiden Lehren einander grundsätzlich ausschließen. Die Unvereinbarkeit zweier Lehren ist demnach kein hinreichender Grund für die Annahme, daß sich nicht beide Lehren gleichermaßen vertreten ließen. Vernünftige Personen rechnen folglich mit der Möglichkeit einer „vernünftigen Nichtübereinstimmung" (reasonable disagreement).

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

Warum aber sollte hier der liberale Personenbegriff eine Ausnahme machen? Fällt nicht der Anspruch, gerade diese Konzeption der Person sei die einzig vernünftige, unter dem Gewicht der Bürden der Urteilskraft in sich zusammen? Oder läßt sie sich aus den faktischen Bedingungen des Vernünftigen selbst ableiten? Rawls selber schließt immerhin vom „Faktum" des vernünftigen Pluralismus auf das Erfordernis der Gewissens- und Gedankenfreiheit: „To conclude: reasonable persons see that the burdens of judgment set limits on what can be reasonably justified to others, and so they endorse some form of liberty of conscience and freedom of thought" (Rawls 1993: 61). Dieser Begründungsgang hat den Vorteil der Unabhängigkeit von einem womöglich umstrittenen Begriff des Politischen. Er orientiert sich stattdessen an einer moralisch relevanten Voraussetzung vernünftigen ethischen Urteilens. Er hat aber den Nachteil, daß er nicht von vorneherein den Wert einer innengeleiteten Lebensführung und die Bedeutung authentischer Wertbindungen für die jeweilige erste Person berücksichtigt. Er vermag nicht zu erklären, warum wir die Freiheit zur Verfolgung augenscheinlich irrationaler, wenn auch moralisch harmloser Lehren genießen sollten. An dieser Stelle könnte eine ethische Theorie auf die Unvertretbarkeit des einzelnen hinweisen und Fremdbestimmung direkt als Übel identifizieren. Rawls jedoch benötigt dazu den Umweg über die mögliche inhaltliche Vertretbarkeit einer ethischen Konzeption. Vor allem aber führt kein direkter Weg von dieser Begründung der Gewissens- und Gedankenfreiheit zu jenem stärkeren Anspruch auf eine selbstverantwortliche Lebensführung, der dem Rawls'schen Personenbegriff innewohnt. Diesen Anspruch muß Rawls jedoch verteidigen, soll nicht die Konzeption der Grundgüter in sich zusammenfallen und das liberale Gleichheitsverständnis einer Variante der Wohlfahrtsgleichheit weichen. Nur Personen, welche die eigenständige Orientierung an selbstverantworteten Zielen wertschätzen, werden sich mit allgemein dienlichen Mitteln begnügen, anstatt nach einer direkteren Form der Unterstützung bei der Ausführung ihrer Lebenspläne und dem Streben nach Glück zu verlangen. Nur solche Personen werden folglich auch den Rawls'schen Grundsätzen der Gerechtigkeit zustimmen. Ich werde diesem internen Zusammenhang zwischen einer liberalen Konzeption der Autonomie und einer liberalen Theorie der Gleichheit in Kapitel V nachgehen. Hier möchte ich nur auf die zentrale Rolle hinweisen, die dieser Zusammenhang in Rawls' eigener Argumentation spielt. Rawls erklärt die allgemeine Zustimmungsfahigkeit der Gerechtigkeitsgrundsätze von der Warte einer jeden vernünftig vertretbaren Lehre ausdrücklich zum Testfall für die Tragfähigkeit seiner Theorie. Die „freistehend" gewonnenen Grundsätze der Gerechtigkeit müssen sich im Lichte aller nicht unvernünftigen Lehren bewähren:5 Die Anhänger der unterschiedlichen Lehren müssen die Grundsätze aus ihrer je eigenen Perspektive gutheißen können. Alle verständigen Personen sollten daher zu einem „übergreifenden Konsens" {overlapping consensus) über ihre Richtigkeit gelangen (Rawls 1994e). Das aber setzt voraus, daß sie auch der in diese GrundsätFreistehend (freestanding) nennt Rawls (1993 I: 2; 1997: 197ff.) eine von allen umfassenden Lehren unabhängige Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze.

1. Personen bei Rawls

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ze eingeschriebenen Konzeption der personalen Autonomie zustimmen können. Wir sind damit wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen. Der liberale Begriff der Person bedarf einer eigenständigen Begründung im Kontext einer liberalen Ethik. Der Rawls'sche Begriff des Politischen allein kann diese Begründungslast nicht tragen, weil er auf einer unhaltbaren Theorie der Sphärentrennung beruht, und der Begriff des Vernünftigen ist dafür zu allgemein. Kann aber ein dezidiert ethischer Liberalismus etwas anderes sein als eine partikulare Lehre neben anderen? Und taugt er dann überhaupt zum Bezugspunkt für die Wahl gerechter Sozialstrukturen in pluralistischen Gemeinwesen? Rawls bestreitet beides. Ein ethischer Liberalismus sei unweigerlich Gegenstand des unentscheidbaren Streits um die richtige Lebensweise und könne folglich in diesem Streit nicht als Schiedsrichter fungieren. Mit seiner politischen Reformulierung der Gerechtigkeitstheorie möchte Rawls verhindern, daß sein Liberalismus als allgemeine und umfassende moralische Lehre mißverstanden wird. „Allgemein" nennt Rawls Lehren, die für verschiedene Bereiche des Handelns - im Grenzfall für alle - Gültigkeit beanspruchen; „umfassend" sind Lehren, die der menschlichen Lebensführung bestimmte letzte Ziele und Sinnvorstellungen vorgeben. Allgemein und umfassend sind zum Beispiel die meisten religiösen Doktrinen, außerdem säkulare Lehren wie Utilitarismus und Marxismus. Doch auch die liberalen Theorien von Kant und Mill, in deren Mittelpunkt jeweils eine Norm der Autonomie steht, bezeichnet Rawls als allgemein und umfassend: Beide „sind allgemein, insofern sie für einen weiten Bereich gelten, und umfassend, weil sie Vorstellungen darüber enthalten, worin der Wert des menschlichen Lebens besteht, und welches die Ideale persönlicher Tugend und persönlichen Charakters sind, die unser gesamtes Denken und Handeln prägen" (Rawls 1994e: 30 If.). 6 In der Tat läßt sich unschwer zeigen, daß einige Merkmale der beiden Theorien über den politischen Common sense in westlichen Demokratien hinausgehen. Kant begreift Autonomie als Selbstbindung an die Form des Gesetzes. Nur wer die Maximen des eigenen Handelns dem Gebot der Generalisierbarkeit unterwerfe, sei wahrhaft selbstbestimmt. Zu diesem Zweck müsse der Mensch sich als Glied der intelligiblen Welt verstehen, losgelöst von allen Bindungen an Gegenstände der sinnlichen Welt. Autonomie ist für Kant transzendentale Freiheit, die „als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß" (Kant 1788: A 174). In dieser Theorie ist Autonomie mit moralischem Handeln identisch, und Moral versteht Kant als etwas Metaphysisches. - Mill steht unter dem Eindruck des romantischen Geniekultes und verknüpft daher seine Verteidigung der Rechte des Individuums gegen Konformismus und staatliche Bevormundung mit stark perfektionistischen Ansprüchen. Der Auch Charles Larmore ist der Ansicht, daß Kant und Mill ein durchaus partikulares Ideal menschlicher Wahlfreiheit expliziert haben. Die Umstrittenheit dieses Ideals sei mit der romantischen Bewegung ans Licht gekommen, die den Wert der Autonomie am Wert der Fortsetzung konstitutiver Traditionen relativiert habe (Larmore 1993: 139). Wie Rawls, so plädiert folglich auch Larmore für eine Selbstbeschränkung des Liberalismus auf den 'politischen' Bereich.

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

Zweck von Selbstbestimmung sei schöpferische Originalität. Was den Menschen auszeichne, sei die Freiheit zu wählen und zu experimentieren.7 Mills Ideal „mündet in den Versuch, Rationalismus und Romantik zu verschmelzen: es ist das Ziel Goethes und Wilhelm von Humboldts - der umfassende, spontane, vielseitige, furchtlose, freie und doch rationale, selbstbestimmte Charakter" (Berlin 1995a: 286). Weder metaphysische noch (allzu) perfektionistische Lesarten des Ideals personaler Autonomie sind aussichtsreiche Kandidaten für eine ethische Unterstützung der Gerechtigkeitstheorie. Ja, man mag bestreiten, daß Autonomie überhaupt ein allgemein teilbares Ideal darstellt. Vielleicht ist sie schon in einem prosaischeren Sinne ethisch wünschbar: „als Hintergrundvoraussetzung für die Verwirklichung der unterschiedlichsten Lebensziele" (Gerdes 1996: 50). Als solche jedenfalls ist sie dem Verdacht, den Menschen umfassende Vorgaben für die eigene Lebensführung zu machen, prima facie entzogen. Sie mag dann immer noch (im Rawls'sehen Sinne) allgemein sein, also für unterschiedliche Bereiche und Sphären des Handelns gelten. Gleichwohl unterscheidet sich ein ethischer Liberalismus, der das selbstbestimmte als allgemeine Form des gelingenden Lebens ansieht, signifikant von solchen Lehren, die beanspruchen, Sinn und Wert von Konzeptionen menschlichen Lebens verbindlich festzulegen. Dieser Unterschied ist vor allem im politischen Kontext erheblich. Während umfassende Lehren für sich genommen einen starken Hang zum Paternalismus haben, es sei denn, sie enthalten besondere Sicherungen gegen diese Versuchung, ist der ethische Liberalismus, jedenfalls in seiner nicht- oder nur schwach perfektionistischen Lesart8, antipaternalistisch von Anbeginn, aus seiner eigenen Logik heraus. Der Gegenstand seiner Wertschätzung, das selbstverantwortlich übernommene Leben, entzieht sich durchgängiger Fremdbestimmung; er verlangt nach weitgehender und letztinstanzlicher Freiheit „Wer sich seinen Lebensplan von der Welt oder seiner engeren Umgebung vorzeichnen läßt, der bedarf dazu keiner anderen Begabung als der affenähnlichen Nachahmung. Derjenige aber, der seinen Lebensplan selbst entwirft, nutzt alle seine Fähigkeiten. Er braucht Beobachtungsgabe zum Sehen, Verstand und Urteilskraft zum Voraussehen, geistige Lebendigkeit, um Material für die Entscheidung zu sammeln, Unterscheidungsgabe, um zu wählen, und wenn er sich entschieden hat, so braucht er Festigkeit und Selbstkontrolle, um an der getroffenen Wahl festzuhalten" (Mill 1859: 80). Ambivalent ist in dieser Hinsicht der ethische Liberalismus von Joseph Raz (1986). Raz versteht das harm-principle von Mill nicht lediglich als Schranke gegen staatliche Übergriffe auf individuelle Rechte, sondern zugleich als Aufforderung zur Bereitstellung wertvoller und zur Beseitigung 'abstoßender' Optionen: „Autonomous life is valuable only if it is spent in the pursuit of acceptable and valuable projects and relationships. The autonomy principle permits and even requires governments to create morally valuable options and to eliminate repugnant ones" (ebd.: 417). Andererseits sieht Raz die Gefahr staatlichen Machtmißbrauchs und warnt deshalb vor administrativem Übereifer. Zudem könnten nur selbstgewählte ethische Optionen zu einem guten Leben beitragen. Diese letzte Einsicht spricht jedoch gegen ein allzu perfektionistisches und für ein eher formales Autonomieverständnis - und dies, anders als die Furcht vor einer übereifrigen Staatsgewalt, nicht aus pragmatischen, sondern aus konzeptionellen Gründen. Siehe dazu die ausgezeichnete Kritik von Forst (1994: 101 ff.); vgl. zu Raz auch Waldron (1989); George (1991).

2. Systematischer Einschub: Ebenen einer Theorie des Guten

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des Urteilens und Handelns. Eine formale Theorie des Guten muß diese Freiheit argumentativ verteidigen und ihren Wert erläutern können.

2. Systematischer Einschub: Ebenen einer Theorie des Guten Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens gehört zu den bemerkenswerten Phänomenen in der praktischen Philosophie der Gegenwart. Mit ihr finden Fragestellungen des vorkantischen, auf die Antike zurückgehenden Nachdenkens über Güter und Tugenden Eingang in das moderne (oder postmoderne) Moralverständnis. Diese Renaissance vollzieht sich in einer starken und einer schwachen Variante. Der starken Variante zufolge geht das moralisch Gute in einem umfassenden Begriff des Guten auf (vgl. Williams 1981; 1985; Taylor 1989; Sandel 1982; Spaemann 1989; Rentsch 1989). Für diese Lesart des Verhältnisses zwischen Gutem und moralisch Richtigem scheint ein motivationaler Gesichtspunkt zu sprechen: Als Teil der Identität eines Menschen wird die Moral zu einem Gegenstand menschlichen Wollens. Sie wird zu einem Gut unter anderen Gütern, die zusammengenommen den werthaften Rahmen der individuellen Orientierung bilden (Taylor 1989: Part I). Der Mensch will dann ein moralisches Wesen sein, so wie er etwa ein Ästhet oder ein Homo faber sein möchte. Alle diese und andere Aspekte seines Selbstverständnisses artikuliert er in einem intersubjektiv eingespielten und kulturell verankerten Vokabular 'starker Wertungen' (Taylor 1988). Gleichwohl können Moral und ethische Ziele im Horizont einer Identität auch kollidieren, und dieser Widerstreit unterscheidet sich strukturell von einer Unvereinbarkeit verschiedener ethischer Werte (etwa zwischen einem kontemplativen Leben und dem eines Salonlöwen). Die Moral limitiert die jeweilige Selbstverwirklichung nach Maßgabe einer möglichen intersubjektiven Vereinbarkeit aller verschiedenen Verwirklichungen. Als Grenzwächterin des Guten ist sie deontologisch, nicht teleologisch verfaßt: „Das Richtige ist ein Schutz der Möglichkeit des Guten, gerade weil es ein mögliches Korrektiv jeder Verwirklichung dieser Möglichkeit ist" (Seel 1991: 49). Eine Maxime der Moral verpflichtet den einzelnen nicht, weil und soweit ihre Befolgung für ihn gut ist, sondern weil und soweit sie unparteilich gerechtfertigt ist. Folglich kann das je für mich oder je für uns Gute nicht das Kriterium des moralisch Richtigen sein. Das kategorisch Gebotene läßt sich nicht eudämonistisch begründen. Von dieser Kritik an einer neoaristotelischen Subsumtion der Moral unter das Gute gehen die Anhänger der schwachen Variante aus. Sie verstehen das ethisch Gute und das moralisch Gute als interdependente Grundbegriffe. Das Gute bildet ihnen zufolge die Hinsicht der moralischen Rücksicht (Seel 1995: 23Iff.): Der materiale Bezugspunkt der deontologischen Moral besteht in der teleologischen Struktur von Lebensvollzügen, oder genauer: in den allgemeinen Formeigenschaften und Bedingungen ihres möglichen

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

Gelingens. Mit dieser „integrativen" Lesart der praktischen Philosophie (Krämer 1992) werden Ethik und Moral intern aufeinander bezogen und doch nicht aufeinander reduziert. Ihr Zusammenspiel läßt sich nur aus ihrer Differenz heraus verstehen. Wenn das richtig ist, kann zwischen Ethik und Moral - bzw. moralisch gerechtfertigtem Recht - zwar kein Ableitungsverhältnis, aber auch keine absolute Diskontinuität bestehen. Das Toleranzprinzip allerdings verpflichtet zu äußerster Vorsicht, wenn es darum geht, die allgemeine Gestalt einer gelingenden Lebensführung vorzuzeichnen. Je unkontroverser ein solcher Vorschlag ausfallt, um so eher ist er für alle Personen als Leitlinie ihres je eigenen Lebens annehmbar. Ja, selbst das Wort 'Leitlinie' mag noch zu stark sein: Worum es geht, sind nicht verbindliche Vorschriften, wie ein Beliebiger zu leben habe, sondern lediglich Empfehlungen im Namen des für ihn Zuträglichen. Der Grund dafür ist, daß niemand im Sinne der Unparteilichkeitsmoral verpflichtet ist, ein gutes Leben zu führen. Ihr Zweck ist die verbindliche Regelung interpersonaler Beziehungen, nicht die Vermeidung menschlicher Selbstverfehlung als solcher. Zudem müssen ethische Theorien keinen bestimmten Weg der Selbstverwirklichung vorgeben; es genügt, wenn sie uns über die allgemeine Weise eines gelingenden Lebensvollzuges informieren. Eben dies ist der Anspruch formaler Theorien des Guten. Diese Vorbemerkungen legen einige Differenzierungen nahe, die nicht in allen ethischen Theorien vorgenommen werden. Es ist nicht zuletzt das Fehlen solcher Differenzierungen, das zu Befürchtungen über paternalistische Konsequenzen oder metaphysische Implikationen von Theorien des Guten Anlaß gegeben hat. Im Anschluß an Martin Seel (1995) unterscheide ich zwischen Bedingungen, Formen und Konzeptionen des guten Lebens. 9 Bedingungen sind Gegebenheiten, ohne die keine menschliche oder menschenwürdige Lebensführung möglich ist. Auf dieser Stufe stehen so elementare Dinge wie ein Mindestmaß an Ernährung, sozialer Zuwendung, Welt- und Selbstvertrauen, Schmerzfreiheit, sinnlicher Anregung oder Bewegungsfreiheit. 10 Das menschliche Leben ist auf

Ich übergehe eine vierte Ebene, auf der Seel von Dimensionen des Guten spricht. Gemeint sind allgemeine Fähigkeiten und Räume zur Entfaltung eines guten Lebens. Dimensionen des Guten haben eine subjektive und eine objektive Seite. In subjektiver Hinsicht bezeichnen sie die Fähigkeit eines Menschen, einen Spielraum der Verwirklichung zu erschließen und sich umsichtig in ihm zu bewegen. Die objektive Seite besteht in der Bereitstellung von Gelegenheiten zu lohnender Entfaltung. Auf dieser Ebene gibt eine ethische Theorie Auskunft darüber, auf welche möglichen internen Zwecke ein gutes Leben angelegt ist. In Seels Theorie sind dies die Tätigkeitsformen der Arbeit, der Interaktion, des Spiels und der Betrachtung. Seel (1995: 83ff.) faßt die Bedingungen möglichen Lebensglücks in drei Grundgütern zusammen: minimale Sicherheit, minimale Gesundheit und minimale Freiheit. Als mögliches viertes Grundgut erwähnt er minimale Bildung, verstanden als elementare Orientierungsfähigkeit in der natürlichen und kulturellen Welt. Die Voraussetzungen eines vertrauensvollen In-der-Welt-seins hat der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1970; 1974) untersucht. Teilweise ebenfalls auf psychoanalytischer Grundlage spricht Axel Honneth (1992) von einem basalen, leibbezogenen Selbstverhältnis des Selbstvertrauens, das durch Mißachtungsformen wie Mißhandlung und Vergewaltigung untergraben werde.

2. Systematischer Einschub: Ebenen einer Theorie des Guten

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minimale Möglichkeiten eigenständigen Handelns und Wahrnehmens angewiesen. Derartige Bedingungen gelten Philosophen häufig als trivial (vgl. Gosepath 1998: 168f.), aber das ist nicht unbedingt von Nachteil, da es die Verständigung über das absolut Vordringliche (etwa in entwicklungspolitischen Kontexten) erleichtert. Zudem haben manche Denker mit einem essentialistischen Menschenbild zugleich jede noch so allgemeine Vorstellung von den Grundbedingungen menschlichen Lebens verabschiedet und damit die Möglichkeit geleugnet, über elementare Menschenrechte auch nur ein konstruktives Wort zu verlieren. Angesichts dieses Elends eines radikalen Relativismus oder Antihumanismus, die über wirkliches menschliches Elend nichts mehr zu sagen haben, mögen selbst basale Bestimmungen eines menschlichen Minimums als philosophische Kühnheiten erscheinen. Alle inhaltlichen Aussagen auf dieser Ebene allerdings sind empirisch allgemeine Sätze und fallen daher nicht direkt in die Zuständigkeit der Philosophie (Wolf 1998: 32). Verteidiger der Menschenrechte kommen um eine wie immer formale Konzeption menschlicher Integrität nicht herum. Wie stark sie gleichwohl im Banne eines ethischen Bilderverbotes stehen können, zeigt das Beispiel Habermas. Dieser gesteht zunächst zu, daß die Moral dem Schutz von Bedingungen gelingenden Lebens dient. Gleichwohl versagt er sich jede positive Auskunft über die Inhalte solcher Bedingungen, die über die allgemeine Form der Verständigung über diese Inhalte hinausginge. Im Wortlaut: „Gewiß, die Moral läßt sich als Schutzvorrichtung gegen die spezifische Verletzbarkeit von Personen verstehen. Aber das Wissen um die konstitutionelle Versehrbarkeit eines Wesens, das seine Identität nur in der Entäußerung an interpersonale Beziehungen ausbilden und in Verhältnissen intersubjektiver Anerkennung stabilisieren kann, entspringt der intuitiven Vertrautheit mit den allgemeinen Strukturen unserer kommunikativen Lebensform überhaupt. Es ist ein tief verankertes generelles Wissen, das sich als solches erst in Fällen der klinischen Abweichung aufdrängt - aus Erfahrungen, wie und wann die Identität eines vergesellschafteten Individuums in Gefahr gerät. Der Rekurs auf ein Wissen, das sich aus solchen negativen Erfahrungen bestimmt, ist nicht mit dem Anspruch belastet, positiv anzugeben, was ein gutes Leben überhaupt bedeutet. Nur die Betroffenen selbst können sich aus der Perspektive von Beteiligten an praktischen Beratungen jeweils darüber klar werden, was gleichermaßen gut ist für alle" (Habermas 1996: 45). Der leitende Gedanke scheint zu sein, daß in der sprachlichen Struktur der Verständigung über die Bedingungen menschlichen Wohlergehens zugleich die entscheidende Quelle der Gefährdung dieser Bedingungen liegt. Die Teilnehmer an einer kommunikativen Lebensform bedürfen immer auch des gegenseitigen Schutzes, da ihre soziale Abhängigkeit sie zugleich verwundbar macht. Doch augenscheinlich sind wir nicht nur deshalb gefährdet, weil wir an den Fäden sprachlich vermittelter Sozialintegration hängen, sondern auch deshalb, weil wir endliche Leibwesen sind (vgl. O'Neill 1996: v. a. 135ff.). In Habermas' Formulierungen kommen die nicht- oder vorsprachlichen Dirnen-

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

sionen des Selbst- und Weltbezuges zu kurz." Ihre Einbeziehung ergibt ein vollständigeres Bild der Bedingungen menschlichen und menschenwürdigen Lebens, das gleichwohl von der Ausmalung eines schlechthin gelungenen Lebens noch weit entfernt ist. Jede Explikation negativer Erfahrungen impliziert ohnehin die zumindest vage Vorstellung eines Gutes, in dessen Verletzung das Negativum eben besteht. Ein konsequenter Negativismus hebt sich selbst auf. Martin Seel 1995: 87f.) ist der Ansicht, daß jede Betrachtung von Bedingungen gelingenden Lebens intern auf die allgemeine Form dieses Gelingens verweist. Wer von Voraussetzungen des Guten rede, dürfe von dessen Beschaffenheit nicht schweigen. Auf diese hin seien jene bestimmt. Es sei inkonsequent, die grundlegenden Merkmale einer für Menschen zuträglichen Lebenssituation zu untersuchen, vor einer Analyse der Formeigenschaften des in ihr zugänglichen Guten aber zurückzuschrecken. Dieser Auffassung möchte ich mich unter einem Vorbehalt anschließen. Gewiß stiftet schon die Rede von 'Bedingungen des Guten' einen Bezug auf dieses Gute selbst. Zudem erlaubt eine nähere Bestimmung dieses Guten wiederum eine genauere Qualifizierung des ethischen Minimums: Soziale Zuwendung, Bewegungsfreiheit und selbst Ernährung und Behausung bedeuten in manchen Hinsichten für ein autonomiefahiges Wesen etwas anderes als für ein Wesen, dem diese Fähigkeit fehlt. Gleichwohl lassen sich die Bedingungen des Guten begrifflich auf einer so elementaren Stufe ansiedeln, daß sie nicht von vorneherein zwischen Personen und anderen leidensfahigen Geschöpfen diskriminieren: „Wenn Autonomie die einzige Hinsicht moralisch-politischer Rücksicht wäre und Hunger, Kälte, Schmerz, Isolation nur im Hinblick auf Autonomie allgemein schlecht wären, was wäre dann mit dem Hunger, dem Frieren, dem Schmerz, der Einsamkeit etwa von Schwerstgeistigbehinderten oder von Tieren" (Krebs 1998: 241 f.)? Bedingungen des Guten können demnach Bedingungen der Autonomie sein, und im Falle von Personen sollen sie dies wesentlich sein. Ihre Ermöglichungsfunktion kann sich aber auch auf ein menschliches oder artgerechtes Leben schlechthin beziehen. Diese Offenheit für konstitutionell differente Lebensformen unterscheidet sie von den allgemeinen Ressourcen, die ich in Kapitel IV einführen werde: Diese werden funktional als Mittel und Hintergrundvoraussetzungen für eine autonome Lebensführung bestimmt sein. Zu ihnen werden 'Güter' wie die Gesundheit gehören, die in einer anderen Hinsicht als Bedingungen des Guten gelten dürfen. Zu Ressourcen werden sie im Lichte einer liberalen Idee der verantwortlichen Person, die wiederum nach einer genaueren Betrachtung der Form des Guten verlangt. Den entscheidenden Bezugspunkt der moralischen Schutzfunktion bilden, wie es in einem anderen Text heißt, ,jene strukturellen Aspekte des guten Lebens, die sich unter allgemeinen Gesichtspunkten kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt von der konkreten Totalität jeweils besonderer Lebensformen abheben lassen" (Habermas 1991: 20). Aber diese allgemeinen Gesichtspunkte erfassen eben nicht das Ganze der menschlichen Schutzbedürftigkeit; und in ihrer formalpragmatischen Rekonstruktion erschöpft sich auch nicht das Unternehmen einer - anthropologisch ansetzenden und rekonstruktiv verfahrenden - universalistischen Ethik.

3. Dworkins ethischer Liberalismus

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Bevor ich ausfuhrlicher auf diese Form zu sprechen komme, möchte ich kurz auf die dritte Ebene einer umfassenden ethischen Theorie eingehen: die jeweiligen Konzeptionen des Guten. Auf dieser Stufe steht eine Vielzahl von kulturellen und individuellen Sinnentwürfen und Lebensplänen. Alle diese Entwürfe sind inhaltlich gehaltvoll, aber aus eben diesem Grund entziehen sie sich einem gemeinsamen Maßstab des Gelingens. Spätestens auf dieser Ebene hat die liberale Kritik an den Versuchen einer Wiederbelebung substantialistischer Ethiken ihren guten Sinn. Der Preis für die intersubjektiv verbindliche Festlegung auf eine derartige Konzeption wäre die Einebnung des ethischen Pluralismus der Moderne. In jede konkrete Lebensführung fließen Faktoren ein, die um des Glücks der einzelnen willen nicht verallgemeinert werden sollten: die Wahl eines Freundeskreises, eines Berufes, eines Lebensstiles, eines Feldes kreativer Entfaltung etc. Die Möglichkeiten der Philosophie dürften sich hier im besten Falle auf die Erkundung der geeigneten Verfahren existentieller Selbstverständigung beschränken.12 Einen substantielleren philosophischen Anspruch verbinden ethische Liberale mit der Untersuchung personaler Autonomie. Diese gilt in liberalen Theorien explizit oder implizit als allgemeine Form eines gelingenden Lebens - oder jedenfalls als unverzichtbare Vollzugseigenschaft eines solchen Lebens. Formal ist eine solche Bestimmung eben darin, daß sie nicht bestimmte Ziele menschlichen Wollens, sondern das Wie dieses Wollens auszeichnet (Tugendhat 1980: 55). Die allgemein gute Weise des Lebensvollzuges, so lautet die zentrale Behauptung eines ethischen Liberalismus, ist die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens.

3. Dworkins ethischer Liberalismus Die Wertschätzung einer liberalen Ethik gilt einer selbstgewählten und innengeleiteten Weise des Lebensvollzuges (Kymlicka 1990: 203f.). Wie aber läßt sich diese Vorliebe rechtferti gen, wenn wir nicht die wenig plausible Voraussetzung machen wollen, daß sich Menschen gewöhnlich in Fragen des für sie Guten oder Zuträglichen nicht irren können? In den liberaldemokratischen Gesellschaften des Westens scheinen nicht wenige Menschen an ihrer Freiheit zu verzweifeln und in Sekten, autoritären Gruppen oder Drogen Zuflucht zu suchen. Ist demnach der Antipaternalismus Teil einer Moral für Heroen oder gar Ausdruck eines Desinteresses am Wohlergehen aller jeweils anderen? Die Antwort ist nein, und sie verweist auf die Bedeutung von 'Wohlergehen' selbst. Um die Klärung dieses Problems hat sich der spätere Dworkin bemüht, dessen ethische Theorie ich nun umreißen möchte. Bereits im 9. Kapitel seines Buches A Matter of Principle (1986b) ist Dworkin vom methodischen Axiom der Neutralität in Fragen des Um die Erkundung eines solchen Verfahrens bemüht sich Henry S. Richardson (1994), der zu diesem Zweck auf die Rawls'sche Idee eines Überlegungsgleichgewichts zurückgreift. Auch Charles Taylors (1993a) Anmerkungen zur Eigenart und zu den allgemeinen Rationalitätskriterien ethischer Argumentationen könnten hier einen Weg weisen.

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

Guten abgerückt. Die Neutralität selbst bedarf der Begründung, wenn der Liberalismus unseren stärksten philosophischen Überzeugungen standhalten soll. Diese Begründung fuhrt Dworkin zufolge durch das Hoheitsgebiet der Ethik, auf dem sich zeigen muß, daß wir alle ein selbstbestimmtes einem fremdbestimmten Leben vorziehen sollten. Eine solche Begründung für Neutralität ist demnach nicht selber neutral. Zugleich bettet sie den politischen Liberalismus ausdrücklich in eine allgemeine philosophische Lehre ein. Die philosophischen Grundlagen (foundations) des Liberalismus sollen auch das liberale Politikverständnis tragen und die liberale Idee der Gleichheit mit einer anziehenden und überzeugenden Theorie des guten Lebens verknüpfen: „The liberal political perspective must fit with a plausible and attractive account of how people should think and act in their private lifes. Liberalism must, at a minimum, not clash with our ethical convictions, and it will be stronger if it can also be seen as drawn from them" (Dworkin 1990d: 13). Dworkin möchte demnach zwischen 'politischen' und 'persönlichen' Vorstellungen des Liberalismus eine konzeptionelle Kontinuität nachweisen. Er wendet sich damit gegen Rawls' Versuch einer „freistehenden" {freestanding) Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze (Rawls 1993 I: 2; 1997: 197ff.). Eine solche Begründung sieht keinerlei Rückgriff auf eine allgemeine Lehre vor. Wer sich auf dieses Geschäft einläßt, nimmt einen - gemessen an seinen alltäglichen Bindungen und ethischen Überzeugungen artifiziellen Standpunkt ein: Er begibt sich auf einen vorgeblich neutralen Grund, der sich vom Boden unserer gewöhnlichen Parteinahmen prinzipiell unterscheidet (Dworkin 1990d: 18ff.). Allerdings implizieren die Grundsätze der Gerechtigkeit einen durchaus voraussetzungsvollen Begriff der verantwortlichen Person. Wie ich zu zeigen versucht habe, genügt es nicht, die implizite Verankerung dieses Personenbegriffs in unserer politischen Kultur und im objektiven Geist unserer Institutionen zu postulieren. Auch Dworkin bestreitet, daß sich die von Rawls geforderte Diskontinuität zwischen persönlichen und politischen Urteilen durchhalten läßt. Er sucht daher nach einer internen Verbindung zwischen liberaler Gleichheit und ethischer Theorie. Diese Strategie der Kontinuität muß allerdings die Möglichkeit einer unparteilichen Begründung von Regeln der Gerechtigkeit nicht leugnen. In einem schwachen Sinne geht es ihr lediglich um den Nachweis, daß sich die liberale Gleichheit mit einer überzeugenden ethischen Theorie konzeptionell verträgt: daß wir einer liberalen Theorie der Gerechtigkeit anhängen können, ohne unsere wohlbegründeten ethischen Überzeugungen zu verleugnen. Dabei läßt sich die moralpsychologische Frage nach der Möglichkeit einer - im liberalen Sinne - gerechten Person von der genuin ethischen Frage nach der Attraktivität einer solchen Idee der Person unterscheiden. Gewiß impliziert jedes Sollen ein Können, und folglich darf die liberale Theorie von den Menschen, für die sie gelten soll, nichts Unmögliches verlangen. Doch auch eine Theorie, die dieser ersten Bedingung genügt, mag im Lichte unseres ethischen Denkens immer noch so wenig anziehend erscheinen, daß wir sie aus diesem Grund verwerfen sollten. Es ist diese zweite Art von Herausforderung, auf die sich Dworkin einläßt.

3. Dworkins ethischer Liberalismus

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Zugleich verfolgt er jedoch zwei stärkere Beweisziele. Er möchte zeigen, daß sich die liberale Konzeption der Gleichheit mit einer überzeugenden ethischen Theorie nicht allein verträgt, sondern daß sie einer solchen Theorie sowohl bedarf als auch aus ihr folgt. Sie bedarf einer solchen Theorie als ihrer materialen Hinsicht: Liberale Gleichheit bezieht sich auf die legitimen Erwartungen liberaler Personen. Und sie folgt aus einer solchen Theorie, weil das Gerechte selbst ein Teil des guten Lebens ist, wie Liberale es verstehen (sollten). In dieser dreifachen Hinsicht möchte Dworkin die motivierende Kraft der Ethik mit der „kategorischen Kraft" {categorical force) einer liberalen Thorie der Gerechtigkeit auf philosophischer Grundlage zusammenfuhren (ebd.: 24-35). Ich werde mich in meiner Darstellung und im anschließenden Kapitel (III) auf den ersten Aspekt konzentrieren, also lediglich diskutieren, ob eine liberale Ethik die Idee des Guten im formalen Sinne überzeugend zu entfalten vermag. Der interne Zusammenhang zwischen liberalem Personenbegriff und liberaler Theorie der Gerechtigkeit wird uns in Kapitel V beschäftigen. Die stärkste Behauptung schließlich, derzufolge das Gerechte selbst ein Aspekt des Guten ist, werde ich im Abschnitt III: 3 als überzogen zurückweisen. Diese Behauptung geht über den Anspruch eines ethischen Liberalismus, wie er in dieser Arbeit vertreten wird, hinaus. Der Anspruch ist ohnedies stark genug wie schon ein knapper Blick auf die Geschichte der ethisch informierten Kritik am Liberalismus lehrt. Seit der Frühromantik begleitet den Liberalismus der Verdacht, er verkenne die soziale Konstitution des Selbst und das Wesen starker Wertbindungen. Dieser Kritik zufolge fuhrt eine Linie der Radikalisierung von Lockes punktuellem Selbst und Kants intelligiblem Ich zu den (post-)nietzscheanischen Phantasien einer quasi-ästhetischen Selbstschöpfung (vgl. Taylor 1989: Part I). Bereits der frühe Liberalismus sei außerstande gewesen, jene Bindung angemessen zu verstehen und mit motivationaler Kraft zu versehen, an der ihm doch vor allem gelegen war: die Bindung an 'natürliche Rechte' der Individuen. Eine Beweisführung, die von der fiktiven Voraussetzung eines ungebundenen Selbst ausgehe, müsse an den leiblich existierenden, kulturell geprägten und gesellschaftlich geformten wirklichen Menschen abgleiten und könne nicht einmal dem Recht selbst seinen angemessenen Platz in der Totalität des Sozialen zuweisen (Sandel 1982). Insofern sei der Nietzscheanismus, der den Menschen von jeglichem 'Identitätszwang' befreien wolle, nur konsequent, wenn er auch noch die universalistische Moral und das liberale Rechtsdenken als heteronome Zumutungen verwerfe. Der nietzscheanischen Emphase der Überschreitung setzen andere Denker die Behauptung einer Unauflösbarkeit starker Bindungen entgegen. Sie stellen die liberale Idee der Rechtsbindung nicht deshalb in Frage, weil diese den Menschen noch einen Rest an Identitätszwang zumute, sondern weil sie das biographische Gewicht von Identitäten unterschätze. Autoren wie Bernard Williams (1981) und Lynne McFall (1987) sind der Ansicht, daß manche Wünsche in unhintergehbaren persönlichen Verpflichtungen wurzeln, obwohl sie nicht unbedingt auf moralische Pflichten Bezug nehmen, diesen sogar entgegenstehen können. Ohne solche Verpflichtungen - Williams spricht von „kategorischen Wünschen" - wären wir keine qualitativ unterscheidbaren Perso-

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nen. Kategorischen Wünschen kann eine Person nicht einfach widerstehen, ohne sich als ein ganz bestimmtes Subjekt von Wünschen überhaupt zu verleugnen. Und nur ein bestimmtes Subjekt kommt auch als Subjekt der Moral in Betracht. Im Lichte dieses starken Identitätsverständnisses möchte Christoph Menke (1995) zeigen, daß wir für die Bindung ans Recht den Preis einer zweifachen, negativen wie positiven „Normalisierung" zu entrichten haben. In negativer Hinsicht zwinge das Recht zur Beschränkung auf solche Formen der Selbstverwirklichung, die sich mit dem gleichen Recht aller anderen vertragen. In positiver Hinsicht fordere es ein spezifisches personales Selbstverhältnis: Das Subjekt von Rechten müsse den authentischen Vollzug von Idealen an das Modell einer kalkülrationalen Verfolgung von Interessen assimilieren. Anders als letzte Ziele erlaubten Interessen eine gewisse Freiheit der Abstandnahme und der kühlen Abwägung von Kosten und Gewinnen. Das wiederum sei die Voraussetzung dafür, daß das einzelne Rechtssubjekt die Achtung der Rechte anderer nicht als Verletzung seiner individuellen Freiheit, sondern geradezu als Ausdruck ihrer Verwirklichung ansehen könne. Im Anschluß an Alexis de Tocqueville behauptet daher Menke (ebd.: 148): „Durch die Herrschaft der Gleichheit [des Rechts; B.L.] tritt an die Stelle eines an der Schönheit von Idealen orientierten Verhältnisses der (Selbst-)Verwirklichung ein an dem Nutzen von bzw. für Interessen orientiertes Verhältnis der (Selbst-)Verfügung". Dieses Selbstverhältnis aber verfehle nicht allein das abgelebte Ideal der aristokratischen Freiheit; es vertrage sich auch nicht mit seiner 'demokratischen' Nachfolgerin, der Ethik der Authentizität (vgl. dazu Taylor 1992; Ferrara 1994). Diese auf eine 'tragische' Zeitdiagnose zugeschnittenen Überlegungen beziehen sich ebenso wie die identitätstheoretischen Einwände von Williams und McFall vor allem auf den moralischen Aspekt des liberalen Personenbegriffes. Sie wecken Zweifel an der allgemeinen Zumutbarkeit eines Gerechtigkeitssinnes, der von den Personen verlangen kann, die eigenen Wertbindungen an den Rechten anderer zu relativieren und das Gute dem (Ge-)Rechten unterzuordnen. Das Paradigma der Selbstverfügung verschleiert die mögliche Spannung zwischen dem Gerechtigkeitssinn und der Idee des Guten, indem es das Gewicht des Ethischen herabsetzt: Wer keine starken Bindungen kennt, wird einen von der Gerechtigkeit gebotenen Verzicht auch nicht als existentiellen Verlust erfahren. Den eigentlichen Preis aber hat eine solche Person bereits entrichtet: Sie hat ihre starken Wertungen vorauseilend auf dem Altar der Rechtsgleichheit geopfert. Wir kennen nun zumindest die Konturen der Herausforderung, auf die sich eine liberale Ethik einzustellen hätte. Sie müßte einen Weg finden zwischen der Skylla einer Identitätstheorie, die keinen Raum läßt für die Idee einer revisionsoffenen Lebensführung, und der Charybdis des Modells der Selbstverfügung. Der Liberalismus müßte zeigen können, daß wir über die leitenden Ideale unserer Lebensführung nicht voluntaristisch verfügen können, ohne deshalb wie einem Naturzwang dem Gebot der ethischen Selbsterhaltung zu unterliegen. Dieser doppelten Anforderung soll Dworkins ethisches „Modell der Herausforderung" (challenge) genügen. Dworkin führt das Modell der Herausforderung als Modell kritischen Wohlergehens ein. Es bildet einen Bezugsrahmen für die Beantwortung der Frage nach dem guten Le-

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ben einer beliebigen Person. Als spätgeborener Aristoteliker ist Dworkin davon überzeugt, daß diese Frage über ein bloß volitionales Wohlergehen hinausweist. Das volitionale Wohlergehen erschöpft sich in der Erfüllung der faktischen Wünsche einer Person. Das kritische Wohlergehen hingegen hängt von der Erfüllung der Wünsche ab, die jemand haben sollte (Dworkin 1990d: 42 ff.). Im kritischen Sinne will man etwas, weil man es für gut hält, und man hält es nicht schon deshalb für gut, weil man es will (vgl. zu dieser Unterscheidung auch Löw-Beer 1993). Dworkin nimmt demnach eine Verschränkung von (manchen) Wünschen mit Wertüberzeugungen an, die ihrerseits eine gegebene Wunschordnung transzendieren können (vgl. auch Schaber 1998: 159ff.). Gegenstand einer liberalen Ethik sind allerdings nicht die jeweiligen Wertüberzeugungen selbst, sondern die übergreifende Idee des Guten, aus der sie hervorgehen. Im Modell der Herausforderung wird diese Idee aristotelisch gedeutet: Das gute ist das umsichtig vollzogene Leben {skillfull performance of living; Dworkin 1990d: 54). Ein lebenskundiger Mensch - der Phronimos einer liberalen Ethik - begreift die relevanten Voraussetzungen, Randbedingungen und Leitlinien seiner Lebensführung als ebensoviele Herausforderungen, denen er im Bewußtsein der eigenen Unvertretbarkeit begegnet. Er verhält sich angemessen (appropriate) in und zu seiner angemessen wahrgenommenen existentiellen Situation. Weil diese Situation von Person zu Person und von Lebensform zu Lebensform variiert, verbietet sich eine „transzendente" Bestimmung des Guten. Gleichwohl möchte Dworkin auch eine radikal subjektive Antwort ausschließen. Was bleibt, ist die Möglichkeit von intersubjektiv anerkannten Standards ethischen Gelingens. Dworkin (ebd.: 48) spricht daher von einer „kulturellen Indexierung" des ethisch Guten: Will ich wissen, worin mein kritisches im Unterschied zu meinem bloß volitionalen Wohlergehen besteht, muß ich die von meiner Lebensform bereitgestellten Gesichtspunkte in Betracht ziehen und mich mit ihnen auseinandersetzen. Entscheidend aber ist, daß das gute Leben vollzugsorientiert verstanden wird: Sein Gelingen bemißt sich wesentlich an der Weise seines Prozedierens. Eine Analogie zur Kunst mag dies verdeutlichen. An einem Kunstwerk können wir gewiß manches bewundern, ohne dabei an den Prozeß seines Entstehens zu denken: den inhaltlichen Reichtum seiner Gestalten, die stimmige Anordnung seiner Partien, die Bewegtheit seines inneren Geschehens usw. Und doch gehört zur Idee des großen Werkes auch ein Hintergrundverständnis der allgemeinen Bedingungen seiner Genese: Wir nehmen an, daß das Werk aus der Auseinandersetzung eines authentischen Künstlers mit seinem eigenen Ausdrucksbedürfnis, mit dem Material seiner Gestaltung, mit anderen Werken, mit der sozialen Umwelt und dem historischen Kontext des Werkschaffens erwachsen ist. Es ist für das Kunstverständnis der meisten Menschen - noch? - nicht egal, ob das final noch so gelungene Werk auch wirklich ein Werk und nicht vielmehr ein Plagiat ist - oder das Zufallsprodukt eines bewußtlos mit den Elementen spielenden Affen. Wir verstehen das Kunstwerk dann als welterschließende Antwort des Künstlers auf die Parameter seiner innerweltlichen Situation. Diese Parameter kann sich der Künstler nicht einfach aussuchen; in ihnen kommt ein intersubjektiv wirksames Vorverständnis der Kontexte seines Tuns zur Geltung. Gleichwohl determiniert dieses Vorverständnis nicht

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Kapitel II. Politischer und ethischer Liberalismus

das Urteil über das Gelingen eines Werkes. Das liegt daran, daß es für künstlerisches Gelingen keine strengen Kriterien gibt und ein überzeugendes Werk deshalb auch neue Sichtweisen auf mögliches Gelingen zu eröffnen vermag. Diese Sichtweisen sind kulturell indexiert und zugleich der Kreativität des Kunstschaffens selbst ausgesetzt: „We expect artists to make claims that, if successful, might expand or at least change what the tradition counts as artistic achievement. These claims (we might say) offer to make something of nothing, to make value out of a kind of performance in which none was recognized before" (ebd.: 64). Dworkin bedient sich dieser Analogie nicht, um das Leben selbst als ein mehr oder weniger gelingendes Kunstwerk zu kennzeichnen. Er folgt nicht den irreführenden Spuren einer „Ästhetik der Existenz" (vgl. dazu Foucault 1987; Schmid 1991; zur Kritik siehe Seel 1996b: 20ff.). Vielmehr möchte er den Aspekt der eigenständigen Auseinandersetzung mit Vorgegebenem hervorheben, aus der das Kunstwerk als eine mögliche Objektivation eines Lebensvollzuges resultiert. Dieser Vollzug im ganzen aber läßt sich gerade nicht objektivieren, und er läßt sich auch nicht auf die Bereicherung der Welt um noch so gelungene Hervorbringungen reduzieren. Eben diesem Irrtum unterliegen die Anhänger des ethischen Modells der „Einwirkung" {impact). Für sie besteht ein gutes Leben in der objektiven Bereicherung der Welt. Sein ethischer Gehalt geht ganz und gar in den Ergebnissen der Lebensführung auf. Mozart, Michelangelo, Nelson Mandela und Mutter Teresa mögen in diesem Sinne exemplarisch gut gelebt haben (oder noch leben). Selbst das persönliche Unglück van Goghs mag hinter dem Glück verschwinden, daß er mit seinen Bildern die moderne Malerei angeregt und unser Empfindungsvermögen erweitert hat. Hitler hingegen hätte diesem rein ergebnisorientierten Modell zufolge ein besseres Leben gehabt, wäre er schon in der Wiege gestorben oder ein Leben lang eingesperrt gewesen, denn sein Einfluß auf die Welt war unbestreitbar desaströs (Dworkin 1990d: 76). Anders als das Modell der Herausforderung verlangt das Modell der Einwirkung nach transzendenten Kriterien ethischen Gelingens: nach Kriterien, die jedem besonderen Lebensvollzug als unverrückbare Maßstäbe vorausgehen. Gläubige Menschen mögen für diese Variable das Wohlgefallen im Auge Gottes einsetzen, Utilitaristen die Vermehrung der übersubjektiven Summe des Glücks. In jedem Fall aber kommt dem Weg oder der Weise der Hervorbringung des objektiv Guten kein eigenes Gewicht zu: Das gute Leben wird nicht „konstitutiv", sondern „additiv" verstanden. Entscheidend ist nicht, ob das jeweilige Subjekt der Lebensführung ihr Gelingen als solches erlebt, sondern allein, was diese Lebensführung zu einem vorab bestimmten Bonum beiträgt (ebd.: 75ff). Nun glauben viele Menschen tatsächlich an ein jedem subjektiven Bemühen vorgegebenes Kriterium des Gelingens; zumindest für religiöse Lebensentwürfe ist dieser Glaube sogar konstitutiv. Diesem Sachverhalt muß auch das Modell der Herausforderung gerecht werden. Als formales Modell ethischen Gelingens ist es dazu auch durchaus imstande. Es verknüpft allerdings den propositionalen Gehalt der angenommenen Erfahrung des Guten mit der performativen Einstellung des Subjekts dieser Erfahrung.

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Damit gewinnt das personenrelative Verhältnis zu einer personenirrelativen Wahrheit eine zentrale ethische Bedeutung. Es ist nicht irgendwer, sondern Saulus, dem Gott die Augen geöffnet hat; und es sind Saulus' Augen, die zuvor verschlossen waren, so daß Saulus die Einwirkung Gottes als Bekehrung zu erfahren vermag. Die Bedeutung dieser Erfahrung wird ihm auf dem Hintergrund seiner bisherigen Lebensführung bewußt, die er nun als verfehlte erkennt. Eben darin aber, in dieser Erfahrung der existentiellen Umkehr liegt zugleich der - negatorische - Sinn auch des bisherigen Lebensweges. Die subjektive Bedeutung der Erfahrung erschließt Saulus, der nunmehr als Paulus zu seiner Bestimmung gefunden hat, den objektiven Sinn dieser Erfahrung. Sie erschließt ihm den Weg Jesu als schlechthin exemplarischen Weg zum Heil auf der Kontrastfolie des eigenen unheilvollen Lebensvollzuges. Zwischen dem alten Selbstverständnis des Saulus und dem neuen des Paulus muß demnach ein Bindeglied bestehen, an das ein Lernprozeß - oder eine schlagartige Konversion - anknüpfen kann. Mit Paul Ricoeur (1992) können wir dieses Bindeglied als „Selbstheit" der Person oder als ¿pse-Identität bezeichnen. Sie gibt Auskunft darüber, wer es ist, den Gott für seine Sache zu gewinnen vermochte. Sie sichert die Identifizierbarkeit der Person in den verschiedenen Stadien und Situationen ihres Lebens. Paulus und Saulus sind nicht zwei verschiedene Menschen, sie sind ein und derselbe. Was sie unterscheidet, ist der Charakter des Saulus als eines unbekehrten und der Charakter des Paulus als eines bekehrten Menschen. Saulus hat eine andere „Gleichheit" (idemIdentität) als Paulus. Eine einzige /pse-Identität kann folglich im Laufe eines Lebens mit verschiedenen i'dem-Identitäten einhergehen. Eine Bekehrung liegt vor, wo das Subjekt den Wechsel seiner Gleichheiten im Lichte seiner Selbstheit als Lernprozeß oder als qualitativen Sprung zu affirmieren vermag. Mit der Instanz der ipse-Identität tritt die Unvertretbarkeit des Subjekts hervor. An dieser Klippe der Unvertretbarkeit zerschellen alle externen Versuche, das Leben eines Menschen zu verbessern, ohne die Innenperspektive seiner Lebensführung zu berücksichtigen. Denn ebenso, wie es Gott nicht egal sein konnte, ob seine Wahrheit zu einer Wahrheit für Saulus werde, so kann dies auch den innerweltlichen Verkündern dieser Wahrheit nicht gleichgültig sein. Die Kritik an den Überzeugungen und am Lebenswandel einer anderen Person muß auf einen Wandel in der Ansicht des jeweiligen Adressaten abzielen, und zu diesem Zweck muß sie ihm die Parameter seiner bisherigen Lebensführung in einem neuen Lichte zeigen. Ein Glaube hingegen, den jemand allein aus Furcht vor Bestrafung übernimmt, ist kein wirklicher Glaube. Er gründet nicht in besserer Überzeugung und bleibt daher äußerliches Bekenntnis - ein Sachverhalt, der den Sinn von Glauben (oder anderen existentiellen Überzeugungen) verfehlt. Ohne innere Zustimmung ist ein ethisches oder religiöses Bekenntnis nichtig. Diese logische Einsicht findet sich -in protestantischem Gewand - bereits in Lockes berühmtem Letter Concerning Toleration'. „Es ist vergeblich, wenn ein Ungläubiger dem äußeren Anschein nach das Bekenntnis eines anderen Menschen übernimmt. Der Glaube und die innere Aufrichtigkeit allein sind es, die uns den Zugang zu Gott ebnen." Woraus folgt: „Die

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Menschen können nicht unabhängig von ihrem eigenen Wollen oder Nichtwollen zum Heil gezwungen werden" (zit. in: Walzer 1993: 65f.). Eine neue Überzeugung läßt sich demnach in die Gedankenwelt der Person nicht einfach implantieren wie eine neue Niere in einen Körper. Aber kann die Person nicht dennoch von außen auf den richtigen Weg geleitet werden, wenn man ihr nur alle falschen Pfade versperrt? Vielleicht gibt es ja objektive Gründe, ein Leben im öffentlichen Raum politischen Handelns einem Leben hinter den Mauern eines Klosters vorzuziehen; und vielleicht würde Peter der Mönch, wenn man nur alle Klostertüren gesetzlich verriegelte, in seinem politischen Leben außerordentlichen Erfolg haben. Für wen aber wäre dies ein Erfolg? Sicherlich für die Person, welche das politische dem monastischen Leben vorzieht. Kaum jedoch für Peter selbst, der ja gezwungen wäre, an seiner angenommenen Berufung vorbeizuleben. Vielleicht wird auch ihm der politische Erfolg nicht gänzlich gleichgültig sein; dennoch aber wird er ihm allenfalls als schaler Ersatz für seine eigentliche Bestimmung erscheinen. Von der Warte des Modells der Einwirkung ist dies ein vernachlässigenswerter Gesichtspunkt. Von der Warte des Modells der Herausforderung jedoch läßt sich die Innenperspektive des jeweiligen Lebensvollzuges nicht überspringen: Ihm zufolge bemißt sich das Gelingen eines Lebens immer auch an der Bedingung ethischer Integrität: „Ethical integrity is the condition that this life, in its central features, is an appropriate one for him, that no other life he might live would be a plainly better response to the parameters of his ethical situation rightly judged" (Dworkin 1990d: 80).13 Dieses Modell impliziert keinen ethischen Skeptizismus. Es schließt die Möglichkeit existentieller Irrwege ebensowenig aus wie die Erkennbarkeit dieser Irrwege aus der Perspektive einer zweiten oder dritten Person. Autonome Personen rechnen mit dieser Möglichkeit und vermeiden daher den Fehler, ihre jeweils tatsächlichen Überzeugungen mit den - für sie - an sich angemessenen Überzeugungen einfach gleichzusetzen. Sie sind deshalb grundsätzlich offen für neue Einsichten und abweichende Erfahrungen (ebd.: 81). Gleichwohl kann die Person in ihrem gewöhnlichen Lebensvollzug nicht anders, als ihre jeweiligen Überzeugungen eben so zu verfolgen, als seien sie die tatsächlich richtigen. Niemand verbringt sein ganzes Leben mit ethischer Reflexion, weil es sonst gar nichts gäbe, über das nachzudenken sich für ihn lohnte. Man kann seine we-

An dieser Stelle wird deutlich, daß Dworkin die aristotelische Leitvorstellung der umsichtigen Lebensführung mit der spezifisch modernen Wertquelle der „Innerlichkeit" (Taylor 1989: Part II) zusammenfuhrt. Solange der Lebenskreis eines Menschen durch seine Stellung in einer segmentaren oder stratifizierten Sozialordnung vorgezeichnet war, dürften 'interne' Empfindungen und Wünsche gegen 'externe' Wertvorgaben keine eigene normative Kraft besessen haben. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Identitätsfrage in der Moderne. Unter dem Eindruck der Rousseau'schen Konfessionen und der frühromantischen Radikalisierung des Ideals der Selbstverwirklichung ist ein gutes Leben nur mehr möglich, wenn der einzelne den Kontakt zu seinen tiefsten Überzeugungen und Empfindungen nicht verliert: Das gute ist immer auch das authentische Leben.

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sentlichen Bindungen nicht durchgängig wie Hypothesen behandeln und das eigene Leben als Schauplatz eines anhaltenden Experiments verstehen, ohne am Gebot der ethischen Integrität vorbeizuleben. So wie wir in praktischer Absicht unsere fallibilistischen Vorbehalte auch einklammern müssen, um überhaupt zur Tat schreiten zu können, so können wir in existentieller Absicht die reflexive Distanz nicht zur normalen Einstellung erheben, weil wir andernfalls in keiner Form der Verwirklichung auch nur vorläufig aufgingen. Das ist der wahre Kern in den oben erwähnten starken Theorien der Identität. Diese Unausweichlichkeit des Engagements entfallt in der Einstellung einer Dritten Person. Diese kann daher durchgehend an der Richtigkeit der Selbstwahl eines anderen zweifeln. Gleichwohl muß sie die Bedingung ethischer Integrität als faktische Grenze der 'wohlwollenden' Fremdbestimmung anerkennen (ebd.). Die Überzeugungen eines anderen nämlich zählen zu den Parametern seiner Existenz, an deren Meisterung sich der Erfolg seines Lebens wesentlich bemißt. Was immer die autonome Lebensführung einer anderen Person vermissen läßt: Die unfreiwillige Abweichung vom Pfad ihrer Überzeugungen wäre für diese Person das größere Übel. So mag das aus eigener Einsicht gewählte Leben als Politiker für Peter objektiv besser sein als ein ebenso ernsthaft verfolgtes Leben in religiöser Demut. Auch dieser zweite Entwurf aber ist einer unfreiwillig übernommenen oder aus schierer Willensschwäche 'gewählten' politischen Existenz vorzuziehen, welche die Person zeit ihres Lebens verabscheuen wird (ebd.: 81 f.). Wer auf sein eigenes Leben wie auf ein fremdes zurückblicken muß: Wie darf der glücklich heißen?

Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

1. Verfügung und Responsivität Dworkins Antipaternalismus beruht auf einer responsiven Lesart des Ideals der Autonomie. Der einzelne ist unvertretbar eben darin, daß er selbst auf die Parameter seiner Lebensführung zu 'antworten' hat. Warum aber müssen wir überhaupt antworten? Wird damit nicht der Inbegriff der Autonomie, die weltbildende Spontaneität des Willens, zu etwas bloß Sekundärem herabgesetzt? Besteht nicht wahre Autonomie in der selbstbewußten Verfügung über die Bedingungen und Umstände der eigenen Existenz? Zielt sie nicht auf menschliche Selbstbestätigung vermittelst einer rationalen Kontrolle über die Kräfte der ersten und zweiten Natur? Mit diesem Drang zur Selbst- und Weltbemächtigung jedoch tritt, einer verbreiteten philosophischen Kritik zufolge, zugleich eine unheilvolle Dialektik der Aufklärung zutage. Das Streben nach universeller Verfügung, so lautet der von Hegel und den Romantikern über Heidegger und Adorno bis Foucault stets wiederkehrende Tenor der Einwände, verkehrt sich in eine Verdinglichung des nach Verfügung strebenden Subjekts: Der Zwang zur Objektivierung, der diesem Streben innewohnt, macht vor uns selbst nicht halt (vgl. ausführlich Habermas 1985). Dieser Kritik zum Trotz zeugen noch die postmoderne Feier der ungebundenen Selbstgestaltung und die (vulgär-)liberale Affirmation einer selbstzweckhaften Vermehrung unserer Optionen von der Anziehungskraft des Ideals der Verfügung. Zudem scheint es durch eine reale Tendenz empirische Rückendeckung zu erhalten. Neuere Zeitdiagnosen betonen immer wieder, daß die heutigen Menschen flexibler und gleichsam präsentischer leben als alle vorausgegangenen Generationen: daß sie in politischer, sozialer, familialer und geographischer Hinsicht mobiler sind (Walzer 1993a: 164ff); daß sie sich weniger um geschichtliche Bindungen und primordiale Zugehörigkeiten kümmern und sich eher von Erlebnissen als von Erfahrungen leiten lassen (Schulze 1992). Zygmunt Bauman zum Beispiel nimmt an, daß die Menschen unter 'postmodernen' Vorzeichen vor allem als Spieler und als Konsumenten konstruiert werden, als Sozialtypen also, deren gemeinsames hervorstechendes Merkmal eine hochgradige Ungebundenheit ist: „Die Individualität, die sich daraus ergibt, läßt sich daher folgendermaßen charakterisieren: 1. Die Individuen sind zuallererst 'Erlebnisorganismen', die, im-

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mun gegen Sättigungseffekte, beständig nach neuen Erfahrungen und neuen Erlebnissen suchen. Sie sind fähig, einen ununterbrochenen und vorzugsweise anschwellenden Strom von Stimuli aufzunehmen und auf diesen zu reagieren. - 2. Die Individuen sind 'schöpferisch'; das heißt, sie sind Akteure, für die spontane, reizsensible Beweglichkeit und Elastizität des Verhaltens kennzeichnend ist und die nur in geringem Maße an frühere Lernprozesse und Gewohnheiten fixiert sind" (Bauman 1996: 55). Ungebundener als ihre 'modernen' Vorläufer sind solche Charaktere in vierfacher Hinsicht: Sie sind zeitlich weniger auf die Vergangenheit und auf die Zukunft bezogen und überlassen sich eher den Wechselfällen des jeweiligen Augenblicks. Sie sind sozial weniger auf vorgefundene Gemeinschaften mit ihren naturwüchsigen Solidaritäten eingestellt und wählen ihre Beziehungen stärker in der Erwartung von angenehmen und anregenden Erlebnissen, was eine hohe Wahrscheinlichkeit von häufigen Brüchen und Neuorientierungen bedingt. Sie sind sachlich weniger zu starken Formen der Wertschätzung bereit und beurteilen tendenziell alle Güter unter dem nivellierenden Aspekt der Nützlichkeit - bzw. wiederum: der stimulierenden Wirkung. Zusammen legen diese Veränderungen auch Modifikationen im Selbstbezug der Akteure nahe: Diese empfinden die Zumutung eines gefestigten Charakters - einer durchgehaltenen Zc/em-Identität - schnell als einschränkend und streben nach Überschreitung vorgegebener Grenzen der Verwirklichung: morgens Sadomasochist, nachmittags Eheberater, abends Raver. In solcher Wandlungsfähigkeit versichert sich das mittelpunktlose Subjekt seiner Selbstverfügung als Freiheit vom Zwang zur Selbstgleichheit.1 Bereits die letzte Formulierung legt freilich die 'reflexive' Vermutung nahe, daß auch das vermeintlich radikal dezentrierte Selbst eines Bezugsrahmens qualitativer Unterscheidungen bedarf, um die Wertschätzung größerer Ungebundenheit als Wertschätzung allererst artikulieren zu können. 2 Diese Überlegung spricht nicht gegen die Wahrnehmung einer größeren Offenheit 'postmoderner' Identitäten, wohl aber gegen die Diagnose eines Verschwindens von Identitäten überhaupt (Joas 1997: Kap. 9). Umstritten ist außerdem - neben der empirischen Triftigkeit der Diagnose - , ob der Zugewinn an Selbstverfügung nicht ein scheinbarer ist. Vielleicht zeigt sich der postmoderne Mensch an der Selbstsorge nicht zuletzt deshalb so interessiert, weil er die äußeren Bedingungen seines Lebensvollzuges immer weniger zu kontrollieren vermag. Adornitisch gesprochen: In der fröhlichen Verzweiflung des nur scheinhaft freien Spielers affirmiert das Subjekt, als vorweg schon unterworfenes, was doch nicht sich ändern läßt; Nicht nur die postmoderne Identitätskritik, auch der Liberalismus wird häufig als Parteigänger dieses präsentischen und spielerischen Typus der Selbstgestaltung verstanden. Zumindest in seiner vulgären Form wütet er, einer kulturkritischen Philippika zufolge, gegen alles Feste und Hergebrachte: Im wegwerfenden Gestus des Deregulierers bekunde er seine Geringschätzung der Institutionen; seine große Liebe sei die hochflexible Informationsgesellschaft, die uns von den Rigiditäten des fordistischen Fabrikzeitalters befreien werde (Roß 1998). Charles Taylor (1989: 32) zählt deshalb das Erfordernis starker Wertungen zu den „transzendentalen" Bedingungen menschlichen Lebens.

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

kreativ allein im Verhältnis zur Form seiner Anpassung. - Aber auch eine weniger aufs Ganze gehende Kritik weckt Zweifel am behaupteten Freiheitsgewinn. Womöglich sind nicht einfach alte Vorgaben entfallen, sondern zugleich neue an ihre Stelle getreten: Moden und massenmediale Images füllen dann die Leerstellen, die Eltern und andere hergebrachte Autoritäten hinterlassen haben. Die offene Fremdbestimmung wird abgelöst von einer Kolonisierung der Körper und Seelen durch die Kulturindustrie. Die behauptete Emanzipation entpuppt sich als Nullsummenspiel. Vermutungen und Befürchtungen dieser Art, nicht anders als der schon an der Buntheit neuerer Buchumschläge ablesbare Optimismus von Individualisierungstheoretikern, verlangen einerseits nach differenzierender Analyse und empirischer Überprüfung (Honneth 1994). Andererseits verweisen sie auf die genuin philosophische Frage nach dem angemessenen Hintergrundverständnis von Autonomie: Ist ein Mensch autonom nur in dem Maße, wie es ihm gelingt, möglichst viele Vorgaben in Gegenstände seiner Wahl zu verwandeln oder durch solche zu ersetzen? Man kann diese Frage so zuspitzen, daß sie auf einen Fluchtpunkt der Autarkie verweist: Jede Art der Abhängigkeit von anderen Subjekten gilt dann als Form der Fremdbestimmung. Solange ich auf das Anerkanntwerden nicht verzichten kann, bin ich nicht wahrhaft Herr meiner selbst. Aber auch Moden und Künste, ja alle spezifisch sozialen Hervorbringungen halten mich in einem Einflußfeld der Eitelkeiten und Vorurteile gefangen und appellieren immer wieder an meinen Herdentrieb. Man kann Rousseaus Kritik an der amour propre, dem falschen Stolz, so verstehen, daß sie nur den stoischen Ausweg der Autarkie eröffnet - oder das Aufgehen der einzelnen in einem mit sich differenzlos identischen Kollektivsubjekt.3 Ist dieser Gedankengang sozialtheoretisch wenigstens noch nachvollziehbar, so führt ein weiterer Schritt der Radikalisierung ins Nirvana. Dieser Schritt besteht in der konsequenten Anwendung des Ideals der Selbstverfügung auf die Struktur des eigenen Willens. Im Existentialismus Sartres (1962) ist dieser Schritt zumindest angedeutet worden. Der radikal freie Akteur, das Subjekt der ursprünglichen Selbstwahl, ist frei auch noch von der bestimmenden Kraft der eigenen Präferenzen. Damit aber ist er nicht länger als eigenständiger Charakter erkennbar; ihm fehlen alle Voraussetzungen für eine intelligible, auf nachvollziehbaren Gründen beruhende Entscheidung und alle Kriterien für eine Beurteilung ihrer Angemessenheit. Ohne irgendwelche vorgegebenen Koordinaten, ohne jeden 'inneren Kompaß', kann es lediglich kriterienlose Sprünge über einen Abgrund des Nichts, aber keine se/ósíverantwortlichen Entscheidungen geben (Taylor 1988: 34). Darin besteht die Paradoxie eines radikalen Dezisionismus: Eine vermeintlich voraussetzungslose Wahl wäre überhaupt nicht mehr als die Wahl einer

In seiner erhellenden Rousseau-Interpretation bezieht Charles Taylor (1993: 35ff.) diese Kritik auf die Dilemmata einer geschichteten Ordnung der Ehre. In der stratifizierten Gesellschaft setze der Wunsch nach Wertschätzung unweigerlich eine Dialektik von Herr und Knecht in Gang, die nur in einer strikt egalitären Ordnung zum Stillstand kommen könne.

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bestimmten Person erkennbar, würde sie nicht letztinstanzlich auf einen Grund verweisen, der bei der Entscheidung nicht zur Disposition steht: „Nur wenn ein Mensch über seine Optionen im Rahmen von Beschränkungen befindet, die er nicht durch die bloße Entscheidung aufheben kann, sie aufzuheben, findet der Begriff der Selbstbestimmung oder Autonomie einen Halt. Ein Mensch, der von allen Begrenzungen frei ist, entbehrt so vollständig aller identifizierbaren Tendenzen und Einschränkungen des Willens, daß er keine Abwägungen vornehmen kann: Er kann keine bewußten Entscheidungen treffen. Wenn er überhaupt zu wählen fähig ist, werden die Entscheidungen ganz und gar willkürlich sein. Sie können keine authentische personale Bedeutung besitzen, denn sein Wille ist unbestimmt" (Frankfurt 1993: 110). Diese Überlegung widerspricht keineswegs dem allgemeinen Verständnis von Freiheit als Hindernisfreiheit: Als Hindernis empfinden wir etwas ja nur dann, wenn es uns an der Verwirklichung unseres Willens hindert. Wer hingegen mit sich im Einklang ist, hat gewöhnlich keinen Grund, ein Freiheitsdefizit zu beklagen, selbst wenn er um die subjektive oder objektive - Alternativlosigkeit seines Tuns weiß. Wer sich ernsthaft auf einen Wert, ein Prinzip, eine andere Person, eine Verwirklichungsform einläßt, scheint damit sogar bestimmte Optionen einzubüßen, die er sich bei nur oberflächlicher Bindung bewahrt hätte. Bereits am Beispiel der Wahl einer Lebenspartnerin läßt sich zeigen, daß wir hier nicht allein wählen, sondern zugleich auf unausweichliche Erfahrungen antworten: Der Entscheidung für die Partnerin geht gewöhnlich ein Gefühl der weder selbstgewählten noch unfreiwilligen Anziehung voraus. Liebe ist geradezu das Paradigma eines beglückenden Gewahrens von Grenzen der Selbstverfugung. Aber auch moderatere Anhänger des Ideals der Verfügung mögen sich auf dieses Beispiel berufen: Hat nicht die Liebe immer wieder die Fesseln der Tradition gesprengt? Hat sie nicht die ständische Gesellschaftsordnung herausgefordert, welche die Menschen gegen ihren Willen zusammenführte oder voneinander fernhielt? Hat sie nicht die innere Natur des Menschen gegen die Naturwüchsigkeit seiner äußeren Zugehörigkeiten zur Geltung gebracht? Und ist es nicht das, was wir ganz allgemein anstreben sollten: uns von allen bloß hergebrachten Mächten zu befreien? Liberale Autoren berufen sich in diesem Zusammenhang gerne auf besonders kosmopolitische Lebensläufe (Waldron 1995a). Während der 'bodenständige' Patriot die jeweiligen Üblichkeiten blind affirmiert, wahrt der Kosmopolit als habitueller Fremdling jene Bereitschaft zur Reserve, auf die liberaldemokratische Gesellschaften im Interesse an ihrer konstitutiven Reflexivität nicht verzichten können. Diese kritische Haltung legt es nahe, alles schlechthin Vorgegebene zu überschreiten und allein noch selbstgesuchte Bindungen zu bejahen, wie im folgenden Zitat des Migranten Vilém Flusser: „Ich wurde in meine Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt zu werden, ob mir das zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich selbst habe sie übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier" (Flusser 1994). Diese verabsolutierende Haltung der Ungebundenheit allerdings steht zumindest für ein stark perfektionistisches Autonomieverständnis, das die möglichen Kosten einer Auflösung starker und dauerhafter Bindungen gar nicht mehr als autonomie/'«ter«e Probleme zu verstehen erlaubt. Auch wenn wir hinter Flussers Bekenntnis nicht lediglich die nachträgliche Überhöhung einer ursprünglich gar nicht so freiwilligen Situation der Wanderschaft vermuten, sind doch Zweifel an seiner Generalisierbarkeit angebracht: Zeugt wirklich jedes Festhalten an 'primordialen' Bindungen von mangelnder Freiheitsliebe der im doppelten Sinne „Zurückgebliebenen"? Verweist jedes Gefühl der Verpflichtung im Angesicht vorgefundener Beziehungen allein auf eine Grenze der Autonomie? Lassen sich manche Faktoren unserer 'Geworfenheit' nicht wenigstens ebenso gut als Koordinaten der Selbstbestimmung ansehen? Angenommen, Sabrina ist im Säuglingsalter von ihren Eltern getrennt worden und führt jetzt ein sorgenfreies Leben inmitten von Freunden, die sie sich selbst ausgesucht hat.4 Sie weiß nicht, daß ihre Eltern in bitterer Armut leben, weil sie nicht weiß, wer ihre Eltern sind. Wüßte sie es, so wäre ihre Sorglosigkeit dahin, und sie würde sich verpflichtet fühlen, ihren Eltern beizustehen. Unter dem Gesichtspunkt der Wahlfreiheit ist es besser, daß sie ihre nächsten Verwandten nicht kennt, denn eine Rückkehr in das Dorf, aus dem man sie einst - zu ihrem 'eigenen Besten' - geraubt hat, würde sie um die vielfältigen Optionen des großstädtischen Lebens bringen und sie zugleich an die Probleme ihrer Eltern ketten. Aber ist Sabrina deshalb in der Stadt selbstbestimmter, als sie es auf dem Land, im Beisein ihrer Eltern wäre? Sie würde sich ja, wie wir vorausgesetzt haben, für ihre angenommenen Verpflichtungen als Tochter entscheiden, wenn sie ihre Entscheidung im Lichte einer zusätzlichen Information treffen könnte.5 Gewiß ließe sich einwenden, daß sie in diesem Fall einem patriarchalen Vorurteil auf den Leim ginge, das gerade den Frauen eine besondere Verantwortung für ihre hilfsbedürftigen

Ich übergehe hier die naheliegende Möglichkeit, daß Sabrina schon allein unter der Tatsache leidet, daß sie nicht weiß, wer ihre Eltern sind. Mit Axel Honneth (1994: 24) können wir auch sagen, daß das Leben in der Stadt einen höheren Grad an Individualisierung erlaubt: Honneth versteht darunter „die fortschreitende Differenzierung von Lebenslagen auf dem Weg einer institutionellen Erweiterung von individuellen Entscheidungsspielräumen". Das allein garantiert aber nicht die Fähigkeit zur autonomen Nutzung der neuen Möglichkeiten. Unter Autonomisierung versteht Honneth vielmehr jene Vorgänge, „durch die Individuen dazu befähigt werden, mit vorgegebenen Handlungsalternativen auf eine reflektierte, selbstbewußte Weise umzugehen" (ebd.: 25). Mit meinem Beispiel will ich zeigen, daß wir uns autonom auch für ein weniger 'individualisiertes' und stärker 'gebundenes' Leben entscheiden können.

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Angehörigen ansinnt. Doch vielleicht besteht das Vorurteil nur in der einseitigen Belastung der weiblichen Familienangehörigen, während vielmehr auch die Söhne sich ihrer Verantwortung, recht verstanden, nicht entziehen können. Mit diesem Beispiel wollte ich nicht suggerieren, daß Sabrinas Gefühle unbedingt begründet sind. Ich habe mich lediglich gegen die substantialistische Auffassung gewandt, daß sie zwangsläufig unbegründet seien, da Sabrina sich ihre Eltern und deren Nöte schließlich nicht aussuchen konnte. Gewiß ist es ein Gewinn an Selbstbestimmung, wenn man eine Zumutung nicht einfach hinzunehmen hat, sondern sie zu hinterfragen vermag. Das aber sagt auch das Modell der Antwortfähigkeit: Wer sich ernsthaft bindet, sollte dies im Modus der Offenheit für mögliche Korrekturen tun. Die autonome Person kann sich in der Zeit ihres Lebens überlegend zu dieser Zeit verhalten. Sie kann die Einheit ihres Lebens im Horizont möglicher Alternativen wahrnehmen. Was sie jedoch nicht kann, ist, über die Parameter ihres Lebens restlos zu verfügen (Kambartel 1989). Der Ausdruck 'Antwortfahigkeit' enthält selbst bereits einen Hinweis auf die Grenzen der Verfügbarkeit: Wie Bernhard Waidenfels (1994) betont, sind Antworten stets Antworten auf etwas - im doppelten Sinne des Eingehens auf einen Appell, der uns anspricht, und auf die Leerstellen im propositionalen Gehalt einer Frage. In diesem Sinne unterscheidet Erving Goffman (1981: Kap. 1) zwischen der Beantwortung einer Frage {answer), der Erwiderung auf eine Feststellung {replay) und dem Inbegriff verbaler und nonverbaler Antworthandlungen {response), mit denen wir auf den mit einer Frage verbundenen Anspruch eingehen. Dabei erfinden wir „bis zu einem gewissen Maße das, was wir im Reden und Handeln antworten, wir erfinden nicht das, worauf wir antworten" (Waldenfels 1997: 81). Zwischen Frage und Antwort besteht folglich eine zweifache logische Asymmetrie: Die Frage geht der Antwort zeitlich voraus, und sie „zwingt uns in eine Situation, in der wir 'nicht nicht antworten können'" (ebd.). Keine Antwort nämlich wäre auch eine Antwort; noch wer bewußt weghört, bestätigt damit die Unausweichlichkeit des fremden Anspruches. Fragen appellieren an unsere Zuständigkeit und nehmen sie zugleich in die Pflicht. Sie konfrontieren uns mit unserer Verantwortlichkeit im Angesicht von Unverfügbarem. Eben dies besagt in allgemeineren Worten auch Dworkins „Modell der Herausforderung": Unsere Lebensgestaltung steht unter vorgefundenen Bedingungen, auf die sie nicht umhin kann zu antworten. Die Antworten sind Weisen des Lebensvollzuges. Sie sind Versuche, mit den unverfügbaren Faktoren unserer Zeit, unseres Ortes, unserer Herkunft, unserer Zugehörigkeit, unserer Körperlichkeit, unseres Geschicks zu Rande zu kommen - Faktoren, unter denen sie zugleich eine Auswahl treffen. Der Antwortbegriff ist dabei nicht nur metaphorisch zu verstehen: Er verweist zugleich auf den stets auch - wenigstens virtuell - dialogischen Charakter der Selbstverständigung und damit auf die Möglichkeit der Beurteilung durch Dritte. So sind mit dem biologischen Geschlecht als solchem natürlich nur in einem übertragenen Sinn bestimmte 'Fragen' verbunden. Wirkliche Fragen aber können daraus erwachsen, wenn das Geschlecht zum Gegenstand sozialer Zuschreibungen wird. Manche Merkmale un-

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serer Existenz bilden zugleich Felder der Verantwortlichkeit, auf denen wir uns, ob wir wollen oder nicht, moralisch zu bewähren haben. In den meisten Gesellschaften gehen „partizipative Identitäten" (Hahn 1997) wie die Zugehörigkeit zu einer Familie oder Nation von vorneherein mit spezifischen Erwartungen einher. Wer seine pflegebedürftigen Eltern vernachlässigt oder die aus der nationalen Vergangenheit überkommenen Verpflichtungen verleugnet, kann die Vorhaltungen Dritter nicht einfach mit dem Hinweis entkräften, er habe sich seine Verwandtschaft schließlich nicht ausgesucht und die Nation sei ihm schon immer egal gewesen. Allgemeiner gesagt: Die Selbstbeschreibung der Individuen ist mit der Selbstbeschreibung von Familien, kulturellen Gemeinschaften, Vereinigungen und ganzen Gesellschaften verschränkt. Dabei spielen drei Arten von Unterscheidungen eine Rolle. Die erste treffen wir, indem wir unter den mannigfachen möglichen Gesichtspunkten, unter denen sich unsere Situation darlegen ließe, einige prädikativ hervorheben. Was überhaupt in das Blickfeld unserer Selbstauslegung gelangt, steht nicht vorab fest. Dabei können wir uns über die Kriterien der Relevanz prinzipiell irren, weshalb bereits hier ein mögliches Einfallstor für externe Korrekturen vorliegt. Das ändert aber nichts an der unvermeidlichen Selektivität und der individuellen Besonderheit jeder derartigen Sichtung. Unter den für uns relevanten Faktoren unterscheiden wir zweitens zwischen solchen, die wir als Teil unserer Identität ansehen, und solchen, die wir als bloße Randbedingungen oder Widerfahrnisse erfahren. Zur zweiten Gruppe gehören einerseits äußere oder von außen kommende Einflüsse wie Krankheiten und unfreiwillige Ortswechsel, andererseits Merkmale des eigenen Charakters, die wir uns deskriptiv zuschreiben, mit denen wir uns aber nicht identifizieren können oder wollen - in diesem Sinne stehen auch sie zu unserem Selbstverständnis in einem Verhältnis der Fremdheit. Drittens unterscheiden wir innerhalb der Menge unserer identitätsbestimmenden Parameter zwischen handlungsleitenden und handlungsbegleitenden. Handlungsbegleitend sind Konstellationen von Umständen, Voraussetzungen und Eigenschaften, die in einem Lebensentwurf zur Geltung kommen, weil das Subjekt des Handelns sich mit ihnen und über sie identifiziert. Bei der Wahrnehmung dieser Faktoren spielen typischerweise deskriptive und evaluative Komponenten eine Rolle - in schwer durchschaubaren Mischungsverhältnissen. So implizieren scheinbar sachliche Angaben wie „Ich komme aus Berlin", „ich bin Handarbeiter" oder „ich bin die Tochter des Polizeipräsidenten" oft zugleich Werturteile wie: „Es ist etwas besonderes, aus der Hauptstadt zu kommen", „Handarbeit ist eine besonders wichtige Tätigkeitsform, weil sie zur Umbildung der Welt beiträgt" oder „ich habe Grund, auf mein Elternhaus stolz zu sein (oder mich seiner zu schämen)". Diese 'doppelte Codierung' entfallt bei den handlungsleitenden Faktoren. Handlungsleitend sind Projekte und Prinzipien. Mit Neil Roughley (1996: 252) verstehe ich Projekte als „lang andauernde Orientierungen, die verschiedene Handlungsziele zusammenfassen". Läßt diese Bestimmung den Grad an Bestimmtheit noch offen, so gilt dies für Prinzipien gerade nicht: An sie fühle ich mich in einem starken Sinne gebunden, und zugleich gehe ich von ihrer überpersönlichen - im Grenzfall,

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aber keineswegs immer: personenirrelativen - Gültigkeit aus.6 Moralische Grundsätze sind ein Paradigma für Prinzipien, aber diese sind nicht auf die Menge moralischer Grundsätze beschränkt. Projekte und Prinzipien bilden die normative Seite einer Identität. Als konstitutive Bestandteile des Selbstverständnisses einer Person stehen auch sie nicht ohne weiteres zu deren freier Verfügung. Ihre Verabschiedung oder Modifikation veränderte ja zugleich die charakterliche Gleichheit (/¿few-Identität) eines Menschen. Zudem sind sie, wie Dworkin hervorhebt, mit einem kulturellen Index versehen: Noch in der Negation verweisen sie auf überindividuelle Standards der Werthaftigkeit, welche die Person in ihrer Lebensform zunächst vorfindet und zu denen sie sich so oder so verhalten muß. In diesem Sinne ist auch die Sozialisationsgemeinschaft konstitutiv für das Selbstverständnis jedes einzelnen Angehörigen.

2. Rationalität und Täuschungsfreiheit Anders als Michael Sandel (1982) annimmt, spricht dies jedoch nicht gegen den liberalen Autonomiebegriff, wenn wir diesen, wie vorgeschlagen, auf die Antwortfähigkeit mündiger Personen beziehen. Er besagt dann nicht, daß sich ein Mensch im Supermarkt der Lebensstile jederzeit ein neues Selbstverständnis besorgen könnte. Was Liberale den Menschen vielmehr zutrauen, ist die Fähigkeit, auf Hinterfragungen (von Aspekten) der Identität zu antworten und neue Erfahrungen und Argumente in der eigenen Lebensführung zu berücksichtigen. Auf diese Weise nehmen Liberale den Stellenwert existentieller Projekte und Prinzipien nicht etwa zu leicht. Sie nehmen ihn vielmehr besonders ernst, indem sie jedem Subjekt ein Interesse an täuschungsfreier Vertretbarkeit der eigenen tiefsten Überzeugungen zuschreiben. Das ethische Selbst ist nicht vor seinen Zielen da, doch es kann sich zu seinem Glück reflexiv zu ihnen verhalten. In der Bereitschaft, Widerständigkeiten und Einwände ernstzunehmen, bezeugt es die Ernsthaftigkeit seiner Bindung. Autonomie steht in einer internen Beziehung zur Rationalität, weil autonom nur heißen kann, wer sein Handeln an begründbaren Überlegungen auszurichten versucht. Worin immer die Wünsche einer autonomen Person bestehen: Sie muß daran interessiert sein, daß ihr Wollen nicht auf falschen oder einer Vernachlässigung relevanter Informationen beruht und daß es sich nach Regeln rationalen Schließens vertreten läßt. Dabei kommt es nicht darauf an, daß die Überlegungen einer Person jederzeit zutreffen. Vollkommener und unwiderruflicher Wahrheitsbesitz ist ohnehin ein illusionäres Ziel -

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Technisch gesagt: Ein ausformuliertes Prinzip „besteht aus einem Quantor, einem Personenprädikat, einem modalisierten Verb und einem Handlungsprädikat" (Roughley 1996: 252f.; vgl. auch O'Neill 1975: 4ff.).

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

zumal sich ein solcher 'Besitz' epistemisch niemals einholen ließe.7 Was autonome Akteure jedoch auszeichnet, ist ein durchgängiges Interesse an rationaler Vertretbarkeit der eigenen Überzeugungen (Gosepath 1992: 375 ff.; Seel 1996a). Ob jemand in diesem Sinne selbstbestimmt urteilt und handelt, zeigt sich im Zweifelsfall in einer Argumentation. Eine Argumentation ist ein Redetypus, in dem Geltungsansprüche mit Gründen eingelöst oder zurückgewiesen werden. Zu diesem Zweck müssen die Gründe auf für alle Argumentationsteilnehmer einsichtigen Evidenzen beruhen und mit den strittigen Geltungsansprüchen systematisch verknüpft sein (Habermas 1981, 1. Band: 38; 44ff.). Besteht nun Zweifel an der Autonomiefahigkeit eines Akteurs, so liegt es nahe, diesen Zweifel vermittelst eines geregelten Austausches von Gründen entweder zu beschwichtigen oder zu bestätigen. Im Idealfall ist der Handelnde selbst zur Teilnahme am Diskurs imstande. In dem Maße, wie er die in sein Handeln eingelassenen Geltungsansprüche argumentativ zu verteidigen und relevante Einwände ernstzunehmen - nicht zwangsläufig: zu übernehmen - vermag, verdient er das Prädikat 'autonom'. Maeve Cooke (1994: 65) setzt in diesem Sinne personale Autonomie mit rationaler Zurechnungsfahigkeit {rational accountability) gleich.8 Darin sieht sie eine Bedingung „postkonventioneller Selbstverwirklichung". Diesen Behauptungen liegen zwei logisch unabhängige, aber miteinander verknüpfte Annahmen zugrunde. Erstens gehe ich davon aus, daß der Zusammenhang zwischen einem bestimmten Wunsch W und dem höherstufigen Wunsch nach täuschungsfreier Vertretbarkeit von W kein bloß instrumenteller, sondern ein begrifflicher ist (1). Zweitens nehme ich an, daß sich die Autonomie einer Person zur täuschungsfreien Vertretbarkeit eines Wunsches nicht allein wie ein Mittel zum Zweck verhält, sondern zugleich die ausgezeichnete Weise des Ernstnehmens von Wünschen ist. Der Wert der Selbstbestimmung wäre dann seinerseits nicht lediglich instrumenteil, sondern auch - in einem

Ich verstehe Wahrheit als 'unverlierbare' Eigenschaft von Aussagesätzen und Meinungen, die in bestimmten Kontexten der Rechtfertigung als regulative Idee fungiert. Als solche ist sie uns nur über die begründete und begründende Bezugnahme auf Sätze zugänglich. Anders als 'rationale Rechtfertigung' und 'Begründung' ist jedoch 'Wahrheit' kein epistemischer Begriff. Die Wahrheit von ρ darf daher mit der rationalen Akzeptierbarkeit von ρ unter noch so idealen Bedingungen nicht gleichgesetzt werden. Vgl. dazu Lafont 1994. Bei dieser diskurstheoretischen Bestimmung des Autonomiebegriffes besteht allerdings die Gefahr, Unterschiede in der sprachlichen Kompetenz verschiedener Akteure zu unterschätzen oder ihnen ein übermäßiges Gewicht zu geben. Ein Mensch wäre dann um so autonomer, je besser er sich in Argumentationen einzubringen vermag. Dieser Gefahr könnte man durch ein schwächeres Kriterium entgehen. Was wir einem autonomen Akteur müssen zuschreiben können, ist ein aus seiner Binnenperspektive explizierbarer Sinn. Dieser ist potentiell immer Gegenstand von Argumentationen und insofern nie nur subjektiv. Gewöhnlich gehen wir davon aus, daß ein Akteur sein Vorgehen, Art und Abfolge seiner Handlungssequenzen usw. auf Nachfrage erläutern kann. Das schließt allerdings eine gewisse advokatorische Unterstützung für diese Person in Argumentationssituationen, mit denen sie nicht hinreichend vertraut ist, nicht aus. Entscheidend ist, daß die Unterstützung auf die Binnenperspektive des Handelnden, also auf subjektiv vermeinten Sinn, bezogen bleibt.

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direkteren Sinne - ethisch begründet (2). Der zweite Punkt ist mir allerdings weniger klar als der erste; die diesbezüglichen Überlegungen sind daher tastende Schritte auf einem noch wenig erforschten Terrain. (1) Sicherlich spricht vieles dafür, daß ein weltoffener Mensch weniger leicht zum Opfer von Selbst- und Fremdtäuschungen wird oder sich über die Erreichbarkeit und den - personenrelativen oder personenirrelativen - Wert eines Zieles falsche Vorstellungen bildet. Ein hohes Maß an empirischem Wissen und Selbsterkenntnis verringert die Wahrscheinlichkeit existentieller Irrwege. Doch warum sollten wir daran überhaupt interessiert sein? Sind es nicht letztlich allein die eigenen Empfindungen, die über den Erfolg einer Lebensführung entscheiden? Unter dieser Voraussetzung könnte die Argumentation zugunsten eines reflektierten Selbst- und Weltverhältnisses nur probabilistisch ausfallen: Nur sofern und soweit das Verkennen eines für die eigene Wunscherfüllung relevanten Sachverhaltes auch eine Minderung des subjektiven Wohlbefindens erwarten läßt, ist es irrational, sich der Aufklärung zu verschließen - eine Annahme, immerhin, für die prima facie vieles spricht: „Selbsterkenntnis umfaßt das Bewußtmachen aller, möglichst auch aller unbewußten Wünsche sowie aller ihrer Ursachen. Diesen Prozeß der Aufklärung zu durchlaufen ist vernünftig, weil nur er die beste Gewähr dafür bietet, daß die Erfüllung meiner Wünsche mich mehr als die Erfüllung vergleichbarer anderer befriedigt, d.h. das Risiko, daß meine Präferenzen frustriert werden, ist nur auf diesem Weg gering zu halten. Ein solchermaßen vernünftiger Mensch, der sich reflexiv zu seinen Zielen verhalten kann, erreicht ein hohes Maß an Autonomie und Rationalität" (Gosepath 1992: 371). Diese Argumentation betont die Unwahrscheinlichkeit illusionären Glücks, doch sie schließt seine Möglichkeit nicht aus. Wenn es allein auf das Befinden des Subjekts ankommt, so muß der Sachverhalt der Täuschung die vorgestellte Erfüllung nicht eintrüben. Doch das ist eine Verkürzung, wie das folgende Beispiel zeigen soll (vgl. auch Griffin 1986). Angenommen, Freundschaft zählt zu den zentralen Werten in meinem Leben: Ich bin dann in besonderem Maße an der Erfahrung einer selbstzweckhaften Verbundenheit mit anderen Menschen interessiert. Diese Erfahrung ist real nur als wechselseitige, als Erfahrung unter Freunden. Sie ist ein kollektives Gut, das sich nur im 'öffentlichen' Raum gemeinsamer Orientierungen genießen läßt. Mein Wunsch nach Freundschaft kann daher keine Erfüllung finden, solange er von anderen Menschen, an denen mir liegt, nicht wirklich geteilt wird. Mein subjektives Befinden ist folglich nicht die einzige für die Beurteilung der Situation relevante Instanz. Konzeptuell ist es möglich, daß selbst eine nichtpathologische Person sich in bezug auf zentrale Anliegen ihrer Lebensführung durchgängig täuscht (Seel 1998: 295). Vielleicht wird sie von ihren 'Freunden' so geschickt hintergangen, daß sie den Betrug beim besten Willen nicht bemerken kann (sie fällt dann nicht unter v. Wrights [1963] Fall der Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber). Eine solche Person könnte aus der vermeintlichen Erfahrung wahrer Freundschaft eine tiefe Befriedigung ziehen, ohne daß sie dazu im Lichte ihrer eigenen Wertvorstellungen einen objektiven

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfahigkeit

Grund hätte. Der Gegenstand ihres Glückes wäre illusionär, und das kann die Aussagen über den Charakter ihres Glücks nicht unberührt lassen, sofern diese Aussagen sich advokatorisch auf das beziehen, was die Person selbst will. Was sie will, ist ja wahre und nicht bloß eingebildete Freundschaft. Beruht ihr Wohlbefinden auf einer falschen Meinung, so ist noch das wahrhaftigste Gefühl der Erfüllung trügerisch, weil es das Wunschsubjekt über die Wirklichkeit der Erfüllung hinwegtäuscht: „Was wir aber wünschen, wenn wir etwas wünschen und wollen, ist nicht entweder die Erfüllung unserer Wünsche oder das gute Gefühl solcher Erfüllung, sondern beides·, die gelingende Verwirklichung der erhofften oder erstrebten Situationen - die glückhafte Begegnung mit dem Widerstand der Welt" (Seel 1998: 296; kursiv im Original). Wenn das richtig ist, dann gibt es nur eine Möglichkeit, die Lage unseres unglücklichen Freundes zu verbessern: ihm die Augen zu öffnen für die wahre Natur seiner Bindungen. Gewiß kann es moralisch gewichtige Gründe geben, dies nicht zu tun: Vielleicht ist das Opfer der Täuschung so labil, daß es die Aufklärung über seine Lage nicht überleben oder unweigerlich dem Wahnsinn verfallen würde. Dann aber entfällt in der relevanten Hinsicht die Voraussetzung der Autonomiefähigkeit: Die Person kann sich nicht wirklich selbstverantwortlich zu ihren starken Wertungen verhalten. Sie ist außerstande, sich sehenden Auges auf ihre ethische Wirklichkeit einzulassen. Das führt uns zum zweiten Punkt. (2) Wer die Vertretbarkeit seiner Überzeugungen nicht zu überprüfen vermag, ist auch dann ein Spielball seiner Umstände und der Meinungen anderer, wenn er sich nicht irrt. Das nämlich ist dann nicht mehr als ein glücklicher Zufall. Diesem aber sollte man sich auf dem Hoheitsgebiet der wesentlichen Wertfragen nicht ausliefern wollen. Deshalb sind autonome Männer und Frauen daran interessiert, sich in den für sie wichtigen Hinsichten nicht zu irren, und zugleich daran, (sich und anderen) zeigen zu können, daß sie sich nicht irren. In diesem 'zugleich' liegt die behauptete interne Verbindung von Täuschungsvermeidung und Autonomie. Wiederum ist das Argument nicht, daß für Autonomie allein die größere Wahrscheinlichkeit der Irrtumsvermeidung spricht. In vielen Situationen ist es aus genau diesem Grund vernünftig, dem Urteil von Fachleuten mehr zu vertrauen als dem eigenen Eindruck. Wenn ich mich in einen Sessellift setze, dann muß ich mich darauf verlassen können, daß der TÜV die Sicherheit der Anlage zuvor gewissenhaft geprüft hat. In diesem Fall zählt allein die rationale Allgemeinheit, und das heißt: die Personenirrelativität des Urteils, und das Vertrauen in Fachleute ist vernünftig nur deshalb, weil sie derartige Urteile am besten begründen können. In ethischer Absicht jedoch kommt es außerdem darauf an, wer für eine existentielle Überzeugung im Lichte ihrer möglichen Fehlbarkeit einsteht: je ich selbst oder ein anderer an meiner statt. Diesen Gesichtspunkt hat Heidegger in Sein und Zeit (1927: § 53ff.) mit dem Begriff der „Eigentlichkeit" hervorgehoben, auch wenn er ihm eine vollkommen arationale, die Möglichkeit ethischer Rechtfertigungen verneinende Fassung gegeben hat. Bringen wir diese Möglichkeit ins Spiel, und zwar gerade als den 'Ernstfall' ethischer Verantwortlichkeit, so gelangen wir

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zu folgenden Schlüssen: Ich will mich in den für mein Leben wesentlichen Fragen nicht täuschen, weil ich für meine Werte als meine Werte einstehen können will. Daß ich urteilen muß, folgt aus der möglichen Fehlbarkeit aller ethischen Urteile; daß ich urteilen muß, folgt aus meiner Unvertretbarkeit. Im ethischen Urteil sind rationale Allgemeinheit und Individuierung verschränkt (vgl. Hackenesch 1996). Autonomie ist demnach zweierlei: Sie ist ein Mittel zur Erlangung von Wohlergehen, und sie ist die Weise, in der allein wir uns unseres Wohlergehens vergewissern können. Das hypothetische Argument der größeren Erfolgswahrscheinlichkeit (der höheren erwartbaren 'Trefferquote') wird durch ein begriffliches Argument zugleich gestützt und überboten: Wer etwas wirklich will, will sich über seinen Wunschgegenstand nicht täuschen, und er will seiner Wirklichkeit sehenden Auges, im Modus der Selbstbestimmung, begegnen können.

3. Die Frage der Reichweite Wie weit aber muß die Antwortfähigkeit mündiger Menschen gehen? Worauf müssen sie antworten können? Die bisherigen Überlegungen sprechen für die Berücksichtigung zweier Faktoren: der Wertbindungen einer Person und der Relevanzstrukturen ihrer Lebensform(en). Der erste Faktor entscheidet darüber, welche Art von Person jemand sein will, welchen ethischen Standards er die eigene Lebensführung unterstellt. Der zweite Faktor gibt Auskunft über das soziale Bezugssystem, innerhalb dessen jemand für das eigene Selbstverständnis primär einzustehen hat. Nur in der Differenz zu einer Lebensordnung, der das Individuum zugleich angehört und von der es sich deshalb nicht wie von einem Ding gänzlich distanzieren kann, liegt der Spielraum für eine zugleich selektive und intersubjektiv nachvollziehbare Responsivität.9 Der Bedeutungsraum, der sich dem einzelnen mit der Selbstbindung an Projekte und Prinzipien eröffnet, dürfte ohnehin mit dem keines anderen völlig übereinstimmen, und die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten reduziert sich mit zunehmender Individualisierung der Lebenslagen. Weder die relevanten Voraussetzungen und Erfahrungen der Menschen noch die Auswahl und interne Gewichtung ihrer Lebensziele und sinngebenden Überzeugungen lassen sich ohne nichtidentischen 'Rest' auf einen gemeinsamen Nenner bringen - ungeachtet des weiterhin intersubjektiven Charakters einer jeden erschlossenen Welt. Aus dem Gesagten folgt, daß das Kriterium der Antwortfähigkeit ein formales ist: Es präjudiziell keine bestimmten Inhalte und setzt folglich die Entscheidungsfreiheit der ethischen Person nicht außer kraft, es gibt ihr lediglich einen mehr oder weniger beweglichen überindividuellen Bezugsrahmen vor. Auch eine reflektierte Wahl ist immer Natürlich sind die beiden Aspekte verschränkt: Individuelle Leistungen der Welterschließung können wie immer unmerklich zur Modifikation der kulturellen Voraussetzungen ihres Gelingens beitragen, wie sie umgekehrt von diesen immer schon in wesentlichen Hinsichten angeleitet und lebensweltlich 'getragen' werden.

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

noch eine Wahl. Ohne jedes Moment der Entscheidung, ohne irgendeine Möglichkeit der Ja/nein-Stellungnahme wird es sinnlos, von Selbstbestimmung zu sprechen. Auch in einem nichtdezisionistischen Verständnis von personaler Freiheit hat die Dezision ihren Platz. Keinen Platz hat in ihm lediglich die Idee völliger Ungebundenheit und Kriterienlosigkeit. Keinen Platz hat in ihm die Vorstellung, wir vollzögen unsere Wahlakte unter völlig frei gewählten Voraussetzungen oder in einem Vakuum der Bedeutungslosigkeit. Alles, was wir erreichen können, ist eine situierte Selbstbestimmung, aber diese muß immer noch als Se/ès/bestimmung erkennbar sein. Der Gesichtspunkt der Selektivität wird meines Erachtens unterschätzt, wenn dem autonomen Menschen begrifflich zugemutet wird, für alle möglichen Fragen gleichermaßen empfänglich zu sein. Über dieses extensive Verständnis von Antwortfahigkeit werden vor allem Momente der Moral in den Autonomiebegriff eingeschmuggelt, so in der folgenden Behauptung von Maeve Cooke: „Da sich (für das postkonventionelle Selbst) ethische Geltungsansprüche gegen keine Gegenargumente im Prinzip verschließen können und sie für die möglichen kritischen Einwände anderer im Prinzip offen sein müssen, müssen sie auch für moralische Einwände offen sein" (Cooke 1994: 69). Die personale Autonomie des „postkonventionellen Selbst" ist jedoch, wie Cooke wenige Seiten zuvor (ebd.: 65) selbst hervorgehoben hat, mit moralischer Autonomie nicht gleichzusetzen. Warum also sollte eine mündige Person sich nicht für die Anforderungen der Moral taub stellen können, ohne deshalb zwangsläufig ihre Autonomie einzubüßen? Warum müssen wir unbedingt von der mit dem Autonomiebegriff verbundenen minimalen zu einer im Kantischen Sinne umfassenden Mündigkeit übergehen? Eine mögliche Antwort, in der Neoaristoteliker, Wittgensteinianer, Pragmatisten und Formalpragmatiker zusammenfinden könnten, lautet: Die Person bewegt sich, ob sie will oder nicht, immer schon in einem Netzwerk moralischer Erwartungen. Weil das Erfordernis wechselseitiger Rücksichtnahmen zur 'Grammatik' sozialer Beziehungen gehört (vgl. Strawson 1974: 13; 23), kann niemand sich der Frage, wie er es mit der Moral halte, vollständig entziehen. Das unterscheidet Fragen der moralischen Vertretbarkeit von partikularen Gesichtspunkten wie dem, ob eine Lebensgeschichte genug Stoff für einen spannenden Roman hergibt. Noch wer sich moralisch verantwortungslos verhält, verhält sich damit in bestimmter Weise zu den berechtigten Ansprüchen seiner Mitwelt; keine Antwort ist bekanntlich auch eine Antwort. Diese Überlegung spricht erneut dafür, daß wir uns nicht einfach aussuchen können, worauf wir zu antworten haben. Zumindest aus der Sicht anderer hat auch der Amoralist eine moralisch erhebliche Antwort immer schon gegeben. Ist er deshalb aber um der eigenen Autonomie willen gezwungen, die Maßstäbe seiner moralischen Kritiker zu übernehmen? Vielleicht entspricht seinem Selbstverständnis eher das Ideal einer um moralische Rücksichten unbesorgten künstlerischen Gestaltungsfreiheit. Er mag dann seinen Kritikern entgegnen, daß er die Realität der Moral keineswegs ignoriere, jedoch allein unter ästhetischen Gesichtspunkten mit ihr umzugehen gedenke. Ich sehe nicht, wie man diese Behauptung im Namen seiner Autonomiefahigkeit von vorneherein aus dem Feld schlagen will.

3. Die Frage der Reichweite

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Jede ethische und eben noch nicht per se moralische Kritik müßte zeigen können, daß der Amoralist sich in wesentlichen Hinsichten selbst verfehlt. Das könnte auf zumindest zweierlei Weise geschehen. Entweder man könnte dem Amoralisten nachweisen, daß sein tatsächliches Verhalten eine Bindung an die Moral verrät, die er auf der Ebene seines ausdrücklichen Selbstverständnisses verkennt. Diese Art der Kritik - wir können sie explikativ nennen - bezöge sich also auf eine mögliche Inkongruenz von praktischem und epistemischem Selbstverhältnis; sie zielte auf den Ausschluß von Selbstmißverständnissen, und ihre Methode wäre die Explikation des Impliziten. Oder man könnte dem Amoralisten am Leitfaden seiner eigenen Überzeugungen, Wünsche und Empfindungen zeigen, daß er etwas gewänne, wenn er die Moral in sein Selbstverständnis aufnähme, und daß dieser Gewinn alle ethischen Verluste überwöge (vgl. Putnam 1982: 227ff.). Diese zweite Art der Kritik (Joel Anderson [1994] nennt sie „erschließend") dürfte auf keine sonderlich starke Konzeption von Geltung, aber womöglich auf weithin geteilte Intuitionen zurückgreifen können. Wie immer es sich damit verhält: Ohne petitio principii scheint sich dem bloßen Begriff der ethischen Selbstbestimmung keine Bindung an die Gebote der Moral abgewinnen zu lassen. Zirkulär ist auch Dworkins (1990d) Argumentation in seinen Foundations of Liberal Equality. Im ausdrücklichen Anschluß an Piaton zählt er das Gerechte zu den Parametern, die bei jeder Entscheidung über das ethische Gelingen eines Lebens zu berücksichtigen seien. Zwar sei dieser Parameter, anders als Piaton annahm, eher „weich" (soft) als „hart": Das Leben in einer ungerechten Gesellschaft müsse nicht schon allein aus diesem Grund völlig fehlschlagen. Und doch wäre jeder Gewinn an Gerechtigkeit zugleich ein ethischer Gewinn selbst für die bislang begünstigten Gesellschaftsangehörigen. Diese Behauptung bezieht sich allerdings auf das kritische, nicht auf das volitionale Wohlergehen. Dworkins formales Kriterium für kritisches Wohlergehen ist die angemessene Meisterung von angemessenen Herausforderungen. Was aber ist angemessen? Dworkin zufolge immer nur das Gerechte: „Once we accept that the best life means a life responding well to the right circumstances, and that the right circumstances are circumstances of justice, we become aware of how difficult it is to lead anything like the right life when circumstances are far from just" (ebd.: 74). Das setzt jedoch voraus, daß die Gerechtigkeit bereits im Begriff des kritischen Wohlergehens enthalten ist. Natürlich könnten wir kritisches Wohlergehen genau so definieren, aber damit hätten wir noch nichts bewiesen. Auch der Hinweis auf die kulturelle Indexierung aller Konzeptionen des Guten genügt nicht. Der in einer Lebensform angelegte kritische Sinn für das Gute muß nicht unbedingt auch ein Sinn für das moralisch Richtige sein. Selbst der rücksichtslose Ästhet mag sich der Rückendeckung durch eine (Sub-)Kultur erfreuen, in deren Bezugsrahmen er seinen Selbstentwurf rational zu vertreten vermag. Auch und gerade unter grob ungerechten Vorzeichen kann eine Person im ethischen Sinne Großes vollbringen, zum Beispiel einen faszinierenden Film drehen, dem Hunderte von Komparsen zum Opfer fallen. Eine gerechtere Gesellschaft würde unseren Freund des Schönen solcher Möglichkeiten berauben, ohne ihm dafür unbe-

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Kapitel III. Autonomie als Antwortfähigkeit

dingt einen ästhetischen Gegenwert zu offerieren. Eine notwendige Förderung des eigenen Wohlergehens sieht darin allenfalls, wer sich bereits als moralischer Akteur versteht. Nur für einen Menschen mit ausgeprägt moralischem Selbstverständnis ist ein Leben, das ungebührlich auf Kosten anderer geht, schon deshalb ein in wesentlichen Hinsichten verfehltes Leben. Dieses Selbstverständnis läßt sich jedoch, wie Dworkins eigene Argumente gegen den Paternalismus gezeigt haben, nicht erzwingen (Forst 1994: 99). Wird es begrifflich vorausgesetzt, so beißt sich die Katze in den Schwanz.

Kapitel IV. Die Ressourcen der Person

1. Perspektiven einer Kritik von Präferenzen Aus dem Begriff der Autonomie als Antwortfahigkeit läßt sich die Bereitschaft zur gerechten Berücksichtigung der Ansprüche anderer nicht ableiten. Anders mag sich das Bild darstellen, wenn wir es aus der 'Empfängerperspektive' betrachten: Vielleicht kann nur der ein selbstbestimmtes Leben fuhren, dem eine zumindest minimale Gerechtigkeit bereits zuteil wird. Dieser Vermutung will ich im folgenden nachgehen. Vordergründig betrachtet, scheint die kritische Reichweite der Theorie situierter Selbstbestimmung sehr begrenzt zu sein. Weil wir unsere Wünsche und Wertvorstellungen stets unter bestimmten Bedingungen ausbilden, ist der bloße Hinweis, daß wir unter anderen Umständen etwas anderes vorziehen würden, noch kein Einwand gegen die Vertretbarkeit unserer jeweiligen Orientierungen. Die besonderen Umstände der Wunschformierung nämlich sind für unsere Wahlfreiheit konstitutiv und begrenzen sie zugleich. Begrifflich scheint es sogar gleichgültig zu sein, aus welchen Bedingungen unser aktuelles Selbstverständnis erwachsen ist, sofern wir es nur eigenständig, im Modus handlungswirksamer Überlegung, zu vertreten vermögen. Dieses Kriterium für Autonomie wäre rein internalistisch. Es hätte allein die Responsivität einer Person zu einem gegebenen Zeitpunkt im Blick. Der Autonomiebegriff scheint folglich mit sehr verschiedenen sozialen Verhältnissen, gerechteren wie ungerechteren, gleichermaßen verträglich zu sein. Für die Beurteilung unserer Autonomiefähigkeit ist es allerdings nicht völlig unerheblich, unter welchen Bedingungen wir unsere Überzeugungen erworben haben. Zumindest ist das die Ansicht der früheren Kritischen Theorie (vgl. etwa Marcuse 1967). Besonders repressive oder entbehrungsreiche Verhältnisse fördern demnach die Verinnerlichung falscher Bedürfnisse. Wenn das richtig ist, bedarf das internalistische der Ergänzung um ein externalistisches Kriterium von Autonomie. Ist ein noch so wortreich und in sich stringent verteidigter Wunsch zum Beispiel das Ergebnis einer Gehirnwäsche, so kann er nicht als Ausdruck personaler Autonomie gelten (vgl. Merle 1995). Rationale Personen haben demnach Entstehungspräferenzen bezüglich ihrer Wünsche. Stefan Gosepath, von dem ich diesen Ausdruck übernehme, bestreitet allerdings, daß solche Wünsche höherer Stufe gegen ideologiekritische Zweifel gefeit sind.

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Kapitel IV. Die Ressourcen der Person

Wer faktische Wünsche für ideologisch halte, müsse auch Vorbehalte gegen Metapräferenzen haben. Diese aber ließen sich nicht ihrerseits begründen, ohne die Ausrichtung an der Autonomie des einzelnen aufzugeben (Gosepath 1992: 374). Zumindest ein Maßstab allerdings läßt sich der Orientierung an Autonomie selbst abgewinnen: Die Genese unserer Wünsche darf unsere Fähigkeit zum Nachvollzug dieser Genese nicht untergraben; sie darf uns nicht grundsätzlich an effektiver Selbstreflexion hindern. Eben dies ist bei einer Gehirnwäsche der Fall. Sie macht es unmöglich, die Geschichte eines Wunsches im Lichte eines Lernprozesses zu rekonstruieren. Auf diese Weise setzt sie einen Aspekt unserer Antwortfahigkeit außer kraft: Wir sind dann außerstande, auf Hinterfragungen, die der Herkunft eines Wunsches gelten, wahrhaftig einzugehen. Allenfalls sind wir zu falschen Rationalisierungen in der Lage. Das gleiche gilt für schmerzhafte, etwa traumatische Bedingungen der Wunschentstehung. Allgemeiner gesagt: Wünsche, die auf Verdrängung oder Verleugnung der Umstände ihres Entstehens konstitutiv angewiesen sind, lassen sich nicht autonom vertreten. Sie sind heteronome Fremdkörper im Selbstkonzept einer Person.1 Autonome Menschen wollen, daß ihre Wünsche unter Bedingungen gebildet wurden, in deren Kenntnis sie sich weiterhin als ihre Wünsche vertreten lassen. Gesellschaftskritische Stoßkraft entfaltet dieses formale Kriterium dann, wenn sich zeigen läßt, daß auch Unterdrückung und soziale Ungleichheit die Selbstverständigung von Männern und Frauen systematisch verzerren können. Das allerdings ist eine empirische Frage, die nach klinischen Kriterien der Überprüfung verlangt. Mit dieser externalistischen Erweiterung sind die Möglichkeiten einer materialistischen Kritik der Aussichten auf eine autonome Lebensführung jedoch nicht erschöpft. Zur Autonomie gehört ja nicht nur das Vermögen der Selbstreflexion, sondern auch ein gewisses Maß an effektiver Handlungsfähigkeit: Nur ein Akteur, der zur eigenständigen Verfolgung selbstgesetzter Ziele imstande ist, verdient im vollen Sinne das Prädikat 'selbstbestimmt'. Das aber setzt die Verfügung über personeninterne und personenexterne Möglichkeiten voraus, zumal beide Aspekte aufeinander verweisen: Ein Fehlen äußerer Ressourcen hat häufig eine restringierte Selbstwahrnehmung zur Folge, weil Menschen dazu neigen, den jeweiligen Horizont ihrer Handlungsmöglichkeiten als gegeben hinzunehmen und ihre im alltäglichen Handeln erfahrenen Grenzen zu naturalisieren („das ist sowieso nichts für mich").2 Das Problem der angepaßten Präferenzen sollte bei der Beurteilung von Lebenslagen ein wesentliche Rolle spielen. Vor allem Amartya Sen hat immer wieder darauf Das muß nicht heißen, daß die Person ohne diese Wünsche glücklicher wäre. Wenn es jedoch in ihrem übergeordneten Interesse liegt, sich zu ihrem Selbstkonzept autonom verhalten zu können, bedeuten heteronome Wünsche auch dann einen Mangel, wenn sie nicht als solcher erfahren werden. Wie oben gezeigt, kann das Ernstnehmen einer Überzeugung mit dem Wunsch nach einem möglichst ungetrübten Wohlbefinden in Konflikt geraten. Diese Vermutung spielt eine zentrale Rolle in Pierre Bourdieus Theorie der im Medium habitusgeleiteten Handelns geführten Klassenkämpfe um symbolische Distinktionsgewinne (vgl. etwa ders. 1982; 1985).

1. Perspektiven einer Kritik von Präferenzen

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hingewiesen, daß Wohlfahrtstheorien, die sich allein am jeweiligen subjektiv erstrebten Nutzen orientieren, den Selbsteinschätzungen der Betroffenen ein zu großes Gewicht beimessen; sie tendieren daher zu einer zirkulären Bestätigung der Situation besonders benachteiligter Personen: „The battered slave, the broken unemployed, the hopeless destitute, the tamed housewife, may have the courage to desire little, but the fulfillment of those disciplined desires is not a sign of great success and cannot be treated in the same way as the fulfillment of the confident and demanding desires of the better placed" (Sen 1987: 11). Worin aber besteht in solchen Fällen das Problem? Daß wir unsere Präferenzen endogen, in Abhängigkeit von unseren jeweiligen äußeren und inneren Lebensumständen bilden (vgl. zusammenfassend Elster 1983), ist, wie oben gezeigt, kein hinreichender Grund, jemandem die Selbstbestimmung abzusprechen. Es gibt eine große Zahl von Faktoren, die einen Menschen zur Anpassung seiner Ambitionen an die gegebenen Voraussetzungen und Randbedingungen seiner Lebensführung veranlassen können, und die wenigsten würden wir intuitiv als Einschränkungen seiner Autonomiefahigkeit ansehen: Kleine Menschen können in der Regel keine Basketballstars werden, Menschen mit dünner Stimme eignen sich nicht als Opernsänger, ein Pykniker kommt kaum als Model für Männerunterwäsche in Frage, ein Athletiker dürfte in einer Verfilmung der Geschichte der Frankfurter Schule schwerlich den Adorno geben usw. In all diesen Fällen scheint es nur vernünftig zu sein, die jeweiligen persönlichen Erwartungen mit den eigenen Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Die „gezähmte Hausfrau" hingegen hätte einen Grund, ihre Lage in einem anderen Licht zu betrachten und weniger die eigenen Erwartungen der Welt, als vielmehr die Welt den eigenen - erweiterten - Erwartungen anzupassen: Ihre 'Bescheidenheit' ist lediglich die Kehrseite der pleonexia anderer Personen, die zugleich über die erforderliche Definitionsmacht verfügen, um der Hausfrau ihren Platz und ihre Selbsteinschätzung vorzugeben. Ein Mangel an Informationen über die eigentlich vorhandenen Alternativen und eine unterentwickelte Selbstachtung mögen der Hausfrau ein Maß an Zufriedenheit mit den eigenen Möglichkeiten einflößen, das sie unter günstigeren Randbedingungen selbst als unangebracht erkannt hätte. Wie aber können wir kontrafaktische Konditionalsätze dieser Art rechtfertigen, ohne damit die Orientierung an Autonomie preiszugeben? Wissen wir denn, was die Hausfrau unter anderen Umständen gewählt hätte, und wenn ja, impliziert dieses (angemaßte) Wissen nicht die Behauptung, sie sei jetzt fremdbestimmt? Wenn das der Fall wäre, spräche nichts dagegen, die Frau einem Umerziehungsprogramm zu unterwerfen: Da sie bis auf weiteres ohnehin nicht autonomiefahig ist, hätte sie auch durch neuerliche Fremdbestimmung nichts zu verlieren; im Gegenteil, sie würde dadurch allererst in die Lage versetzt, für sich selbst zu sprechen. Wie aber verträgt sich diese Ansicht mit einem liberalen Entmündigungsverbot (Tugendhat 1981)? Das Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten und politischen Gefahren, die mit Urteilen über den Grad der Autonomiefahigkeit anderer Personen verknüpft sind. Damit

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Kapitel IV. Die Ressourcen der Person

scheinen wir vor einem Dilemma zu stehen: Entweder wir bleiben konsequent auf dem Pfad der Verteidigung personaler Autonomie, dann müssen wir die tatsächlichen Präferenzen als letzte Instanz der Beurteilung des Wollens mündiger Menschen akzeptieren, auch wenn dies das Gewicht restriktiver Verhältnisse noch vergrößert; oder wir sprechen den Menschen unter den gegebenen Umständen die Autonomiefähigkeit ab, dann geraten wir auf den rutschigen Grund des Paternalismus. Gibt es einen dritten Weg zwischen inhärent konservativem Präferentialismus und inhärent autoritärem Kritizismus; einen Weg, der zugleich vereinbar ist mit den Prämissen einer liberalen politischen Philosophie?

2. Allgemeine Ressourcen Die liberale Wertschätzung menschlicher Autonomiefähigkeit findet ihren Ausdruck in der generalisierten Zuschreibung von Verantwortung für Entscheidungen, Aussagen und Handlungen. Dieser 'Vorgriff auf Verantwortlichkeit', so möchte ich im folgenden zeigen, antizipiert zugleich einen Zustand der gerechten Verteilung von allgemeinen Ressourcen: Er verlangt intern nach effektiven Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten. Sie nämlich fundieren und erweitern das Vermögen, auf welches der erklärte Freund der Freiheit setzt. Zugleich erweitert sich damit aber die Betrachtung von der Beurteilung der Autonomiefähigkeit von Individuen auf die Beurteilung der Grundstrukturen einer Gesellschaft. Die leitende Idee ist, daß wir unter der Bedingung einer gerechten Grundstruktur keinen Grund mehr hätten, an der tatsächlichen Mündigkeit eines zur Mündigkeit disponierten Menschen zu zweifeln. Der Sinn dieses Kriteriums besteht nicht zuletzt darin, uns vom Erfordernis einer Bewertung individueller Fälle zu entlasten. Eine Person ist ex hypothesi selbstbestimmt, wenn sie ihren jeweiligen Lebensentwurf unter gerechten Voraussetzungen verfolgt. Das rechtfertigt nicht den Umkehrschluß, daß ein Mensch, der weniger Möglichkeiten hat, als ihm gerechterweise zustehen, allein deshalb fremdbestimmt sein muß. Die Gerechtigkeitstheorie soll uns gerade erlauben, in Problembereichen dieser Art bis zu einem gewissen Grad agnostisch zu bleiben. Dafür spricht nicht nur eine pragmatische, sondern auch eine moralische Erwägung. Wer einem anderen, und sei es in sozialkritischer Absicht, die Autonomie abspricht, bringt damit eine grundlegende Mißachtung dieses anderen zum Ausdruck: „Judgements about whether others have freely chosen their conceptions of the good are not only ones we cannot very easily make, they are ones we ought not to make. Such judgements are disrespectful" (Korsgaard 1993: 61). Die wechselseitige Zuschreibung von Verantwortlichkeit spielt eine tragende Rolle im Gerüst unserer alltäglichen Interaktionen. Der Sinn einer Gerechtigkeitstheorie kann es nicht sein, dieses Gerüst zum Einsturz zu bringen, sondern nur, seine über die gegebenen Verhältnisse hinausweisenden konstitutiven Idealisierungen freizulegen. Die we-

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sentliche Idealisierung besagt, daß ich an einem autonomen Lebensentwurf auch dann festhalten könnte, wenn ich ihn im Lichte zumindest derjenigen allgemeinen Ressourcen überprüfen könnte, die mir in einer gerechten Gesellschaft zukämen. Wer eine Konzeption des Guten autonom zu vertreten glaubt, weist damit zugleich die Unterstellung zurück, sein Entwurf stehe und falle mit der Voraussetzung eigener Benachteiligung. Dieses Kriterium benennt lediglich ein Minimum-, es läßt offen, ob wir auch die heute Privilegierten für fremdbestimmt halten sollten, sofern auch sie ihre Lebensentwürfe unter gerechten Randbedingungen modifizieren müßten. Die Theorie der Ressourcengleichheit darf allerdings keine inhaltliche Vorentscheidung über die Lebenswege implizieren, für die sich Personen in einer gerechten Gesellschaft entscheiden würden. Alles, was wir uns von ihr versprechen dürfen, ist „a standard of healthy preference formation that is neutral in the sense that it is not rigged by any prior judgment about what sorts of preferences this process ought to produce" (Arneson 1990: 170). Andernfalls handelte es sich um die nur notdürftig getarnte Variante einer objektivistischen Theorie menschlichen Wohlergehens, welche die eigenständige Urteilsfähigkeit der Menschen mißachtete. Vielleicht verrät ja die Formel von der 'gezähmten' Hausfrau nur die Vorurteile feministischer Avantgarden, die in Wirklichkeit jede Hausfrau schon deshalb für gezähmt halten, weil sie sich gerade für dieses 'feminine' Rollenverständnis entschieden hat. Vielleicht halten manche Marxisten die Entscheidung für ein Lohnarbeitsverhältnis schon deshalb für fremdbestimmt, weil sie selber einem perfektionistischen Ideal der Arbeiterselbstverwaltung anhängen. Die Theorie der Ressourcengleichheit darf nicht zirkulär genau das zum Ergebnis haben, was der Gesellschaftskritiker zuvor in sie hineingelegt hat. Aus diesem Grund kommt nur eine Verteilung allgemeiner Ressourcen als Gradmesser der Angemessenheit einer Entscheidungssituation in Betracht. Ressourcen stehen in einer 'Um-zu-Relation' zu Gütern. Je spezifischer die Ressourcen sind, über die ich verfüge, um so spezifischer sind die Güter, die ich mit ihrer Hilfe erlangen kann. Die Unterscheidung zwischen Gütern und Ressourcen ist funktional zu verstehen, denn manches Gut läßt sich unter einem anderen Gesichtspunkt als Ressource ansehen und umgekehrt. Unter Gütern verstehe ich alle Gegenstände oder Zustände, die von Personen zumindest auch um ihrer selbst willen angestrebt und geschätzt werden. Das können Tätigkeiten ebenso sein wie Konsumgüter oder etwa Beziehungen und Gemeinschaften; nicht alle Güter lassen sich im Alleingang genießen. Die Wertschätzung bestimmter Güter variiert mit den Konzeptionen gelingenden Lebens. Messen wir die Bedingungen einer Lebensführung daher an einem Güterindex, so verfügen wir über kein von der jeweiligen Wunschordnung unabhängiges Kriterium ihrer Beurteilung. Das gleiche gilt für spezifische Ressourcen: Weil sie intern auf besondere Güter bezogen sind, ist auch ihre Wünschbarkeit eine Funktion von spezifischen Lebensentwürfen. Um folglich die Freiheit der Selbstbestimmung für alle zu wahren, darf eine Ausgangsverteilung nur Bündel aus allgemeinen Ressourcen umfassen. Für sich genommen ist dieser Begriff recht vage. In funktionaler Hinsicht nämlich kann alles mögliche die Rolle einer allgemeinen Ressource spielen. Zum Beispiel ist ein

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Gewehr in der Wildnis eine allgemeine Ressource, sofern ich mir mit seiner Hilfe eine Menge unterschiedlicher Güter verschaffen kann, von fleischlicher Nahrung bis zu fremder Arbeitskraft. Unter anderen Umständen, die vor allem nach schneller Fortbewegung und beweglicher Kriegführung verlangen, mag ein Pferd die gleiche Bedeutung besitzen. Über weite Strecken der bisherigen Menschheitsgeschichte dürften „Pflug, Schwert und Buch" (Gellner 1991) die maßgeblichen Machtmittel gewesen sein.3 In der kapitalistischen Produktionsweise der Moderne kommt augenscheinlich dem Geld die Schlüsselrolle zu, und mit dem Übergang zur Informationsgesellschaft rückt die Zugänglichkeit von Informationen in den Rang einer zentralen Machtressource ein. Kurz, allgemeine Ressourcen sind Güter, betrachtet unter dem Gesichtspunkt ihres funktionalen Stellenwerts für die Erlangung einer Vielzahl anderer, spezifischerer Güter. Die Liste allgemeiner Ressourcen, die ich nun erstellen möchte, steht hingegen in einem internen Verhältnis zum bisher betrachteten Begriff der Person. Einige Ressourcen sind allgemein dienliche Mittel oder Hintergrundvoraussetzungen, die unser Verständnis von selbstbestimmten Akteuren konkretisieren, so wie sie deren Erwartung begründen, daß ihr Leben für sie selbst einen Wert haben werde.

2.1 Allgemeine Tauschmittel Unter diesen Ressourcen ist nun das Geld von besonderem Interesse, weil es in einer internen Beziehung zur Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit von Individuen steht. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, eine besonders plastische Passage aus Georg Simmeis Soziologie zu zitieren. Nachdem Simmel auf die durch das Geldmedium ermöglichte räumliche und sachliche Ausweitung des Wirtschaftshandelns hingewiesen hat, fährt er fort: „Und auf der anderen Seite bewirkt das Geld eine ungeheure Individualisierung des wirtschaftenden Menschen: die Form des Geldlohnes macht den Arbeiter unendlich viel unabhängiger als jede irgend naturalwirtschaftliche Entlohnung, der Geldbesitz gibt dem Menschen eine früher unerhörte Bewegungsfreiheit, die liberalen Normen, die regelmäßig mit der Geldwirtschaft verbunden sind, stellen den Einzelnen in freien Konkurrenzkampf gegen jeden andern, endlich erzwingt diese Konkurrenz ebenso wie jene Ausdehnung des Wirtschaftskreises eine sonst garnicht in Frage kommende Spezialisierung der Tätigkeit, auf die Spitze getriebene Einseitigkeit ihrer, die nur durch die Ausgleichungen im Rahmen eines ganz großen Kreises möglich ist. Innerhalb der Wirtschaft ist das Geld das Band, das die maximale Ausdehnung der wirtschaftlichen Gruppe mit der maximalen Differenzierung ihrer Mitglieder, nach der Seite der Freiheit und Selbstverant-

Machtmittel im engeren Sinne sind diese Ressourcen allerdings nur unter der Voraussetzung ihrer ungleichen Verteilung und namentlich ihrer Monopolisierung in den Händen herrschender Klassen.

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wortlichkeit, wie nach der qualitativ-arbeitsteiligen Differenzierung, in Beziehung setzt" (Simmel 1908: 832). Das Geld fungiert somit als Katalysator der Individualisierung - im zweifachen Sinne der Ausdifferenzierung von Leistungen und der erheblichen Vermehrung von Wahlmöglichkeiten. Simmel verschweigt nicht die darin liegende Ambivalenz („auf die Spitze getriebene Einseitigkeit"), doch zugleich erkennt er den normativen Stellenwert des Geldmediums für das liberale Leitbild der verantwortlichen Person. Im Vergleich zu einem an den Boden gebundenen Menschen ist der Geldbesitzer hochgradig mobil und verfugt damit über ein sehr viel größeres Spektrum an Verwirklichungsmöglichkeiten: Liquidität verflüssigt auch die Lebensformen. In der normativen Absicht einer Theorie der autonomen Person ist das Geld vor allem als allgemeines Tauschmittel oder Äquivalent von Belang. Mit seinem Besitz ist die Erreichbarkeit aller spezifischen Ressourcen und Güter verbunden, die einen Tauschwert haben. Gerade weil die wenigsten es um seiner selbst willen schätzen, ist es das prototypische Mittel, das Menschen benötigen, um sich in der Welt nach eigenen Vorstellungen des Gelingens verwirklichen zu können. Seine allgemeine Akzeptiertheit, seine Teilbarkeit und Transportabilität und schließlich seine schon von John Locke (1689) hervorgehobene Eignung als Wertspeicher - Geld stinkt nicht wie Fische und verdirbt nicht wie Korn - machen es zum Muster einer universalen, an keine besonderen Verwendungszwecke gebundenen Ressource. Ihr Stellenwert wird auch von solchen Theoretikern grundsätzlich anerkannt, die für eine Blockierung bestimmter Tauschmöglichkeiten eintreten (Walzer 1992: 15Iff.). Die Abstraktion von allen besonderen Bedeutungen im Äquivalententausch kann in die Realabstraktionen einer schlechthin entfesselten Warenwirtschaft umschlagen, und damit wird das Geld - bzw. seine selbstbezügliche Form, das Kapital - zum „dominanten Gut" (ebd.): Es dringt wie eine Kolonialmacht in alle Poren der Lebenswelt ein und unterwirft sich auch solche Güter, die 'eigentlich' seinem Zugriff entzogen bleiben sollten (vgl. Gorz 1989). Aber noch die schärfsten Kritiker solcher Entgrenzungen sollten nicht verkennen, daß man halbwegs selbständige, ihrer Individualität bewußte Männer und Frauen nur gewaltsam daran hindern kann, in Tauschbeziehungen einzutreten und sich dazu eines universalen Mediums zu bedienen. Für nicht wenige Menschen - die kaufmännischen Naturen - ist die Einmischung ins Marktgeschehen intrinsisch wertvoll. Doch auch die lediglich instrumenten motivierte Teilnahme an geldvermittelten Interaktionen ist nicht allein eine versachlichte Form der Sozialorientierung, sondern zugleich Ausdruck einer Freiheit, der ermangelt, wer über Geld nicht verfügen darf: in der Bundesrepublik etwa Bürgerkriegsflüchtlinge, die mit Sachleistungen buchstäblich abgespeist werden.

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2.2 Bildung und Informationen Allgemeine Tauschmittel allein machen allerdings die Menschen noch nicht zu entscheidungs- und handlungsfähigen Akteuren. Sie allein verbürgen noch keine selbstbewußte und kompetente, den reflektierten Eigeninteressen entsprechende Beteiligung am 'Markt der Lebensmöglichkeiten'. Die Fähigkeit zu vernünftiger Urteilsbildung und Entscheidungsfindung hängt ab von der Bildung und den Informationen, die der Person zur Verfugung stehen. Unter Bildung verstehe ich die Menge an Kenntnissen und Fertigkeiten, die uns zu erfolgreichem Handeln und sinnhaftem Wahrnehmen in einer intersubjektiv erschlossenen Welt befähigen. Wir können diesen Begriff ausdifferenzieren nach epistemischen und praktischen Aspekten der Vertrautheit (Münkler/Ladwig 1997: 33ff.). Epistemische Vertrautheit offenbart sich als 'knowing that', als deklaratives Wissen (Ryle 1969). Sie umfaßt einen Wissensbestand über Normen, Techniken und Sachverhalte, der grundsätzlich aus dem Gedächtnis 'abrufbar' ist und in sprachlicher Form vermittelt werden kann. Aus diesem Vorrat versorgen wir uns mit den im kommunikativen Handeln erforderlichen Interpretationen (Habermas 1981, 2. Bd.: 209).4 Alles deklarative Wissen jedoch wird in letzter Instanz getragen von praktischen Fertigkeiten oder Dispositionen, die nicht wiederum auf ein ausdrückliches Regelwissen zurückverweisen. Diese Fertigkeiten umfassen das 'knowing how', das prozedurale Wissen einer Person (Ryle 1969). Statt von Wissen können wir hier auch von einem Können sprechen. Der Wissensbegriff hebt hervor, daß auch prozedurales Wissen, von angeborenen Fertigkeiten abgesehen, eine Frage des Lernens ist. Ein Wissenserwerb in der Dimension praktischer Kompetenzen vollzieht sich allerdings vor allem durch Übung und praktische Gewöhnung: durch 'learning by doing'. Zusammen sichern epistemisches und praktisches Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten die Orientierungsfähigkeit der Person. Diese Fähigkeit wird durch Informationen herausgefordert. Luhmann (1997: 71) definiert Information als „überraschende Selektion aus mehreren Möglichkeiten. Sie kann als Überraschung weder Bestand haben noch transportiert werden; und sie muß systemintern erzeugt werden, da sie einen Vergleich mit Erwartungen voraussetzt". Informationen bilden demnach einmalige Ereignisse, die beim zweiten Mal bereits nicht mehr informativ sind.5 Diese Einsicht läßt sich auch dann festhalten, wenn man Luhmanns

Vor allem der Grad deklarativen Wissens ist gemeint, wenn von Bildung im engeren Sinne die Rede ist: Ein Mensch ist demnach um so gebildeter, je mehr er weiß, und sein Wissen bemißt sich an seiner Fähigkeit zur Beantwortung von Fragen. Schlechthin 'gebildet' nennen wir einen Menschen, der über einen außergewöhnlichen Fundus an kulturell ausgezeichnetem Wissen verfugt. Bildung in diesem Sinne ist ein (informeller) Ehrentitel, der für einen kompetenten Umgang mit Standards und Hervorbringungen der Hochkultur verliehen wird. In der Tradition Wilhelm von Humboldts wird Bildung umfassender als Reifung und möglichst vielseitige (nicht nur kognitive) Entfaltung der Persönlichkeit verstanden. Luhmann bestimmt Information als eine von drei Komponenten in einem zeitpunktbezogenen Begriff der Kommunikation (die beiden anderen sind Mitteilung und Verstehen).

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Definition handlungstheoretisch reformuliert. Sie nimmt dann Bezug auf die Erwartungshaltung eines Subjekts, das durch sprachlich strukturierte Ereignisse6 an die epistemische Fragwürdigkeit seines jeweiligen Vorverständnisses und seiner Routinen erinnert wird. Die zumeist impliziten Unterstellungen, die unseren gewöhnlich vorreflexiven Praktiken innewohnen, sind fehlbar auch unabhängig vom möglichen Scheitern der Praktiken selbst: Vielleicht besteht ja die Brücke, über die ich viele Male gegangen bin, aus versteinertem Knetgummi und nicht, wie ich vermutet hatte, aus Beton. In diesem Fall berichtigt die Information nur ein naives Vorverständnis meines Tuns; in anderen Fällen betrifft sie die konstitutiven Grundlagen einer Praxis und macht diese unmöglich, indem sie jene untergräbt. Die Einordnung und Verarbeitung solcher Überraschungen geschieht im Rückgriff auf den Wissensbestand einer Person. Dabei 'repräsentieren' Informationen die Kontingenz der Welt. Sie führen uns die Möglichkeit des Andersseins vor Augen, während unser jeweiliges Wissen, pace Luhmann, ein Reich der Redundanzen bildet, in dem das zunächst Neue durch Wiederholbarkeit gebändigt wird. Bildung und Informationen ergänzen einander: Jene steht für einen zunächst nicht problematisierten und niemals im Ganzen problematisierbaren Hintergrund an Kenntnissen und Fertigkeiten,7 diese sorgen für mehr oder weniger heilsame Irritationen und halten die Welt- und Selbstwahrnehmung des Subjekts im Fluß. Diese Weltoffenheit ist eine elementare Rationalitätsbedingung, der autonome Akteure genügen müssen. Damit ist mehr gemeint als eine grundsätzliche Empfänglichkeit für Neues. Vernünftige Personen entfalten zugleich eigene Aktivitäten, um möglichst alle erreichbaren relevanten Informationen in einer Entscheidungssituation berücksichtigen zu können (Gosepath 1992: 111). Eine Wahl nämlich ist um so reflektierter, je mehr relevante Informationen in den Überlegungsvorgang eingeflossen sind und je konsistenter und vielseitiger die Person ihre Entscheidungsalternativen im Lichte der verfügbaren sinnvollen Interpretationen abgewogen hat. Informationen liefern gleichsam den Stoff der Überlegung, während Bildung das Vorhandensein eines Hintergrundes an Kenntnissen und Fertigkeiten verbürgt. Auf diese Weise gelangen wir zu einem wohlbekannten, auf Henry Sidgwick zurückgehenden Kriterium für gute oder angemessene (einem jeweiligen reflektierten Eigeninteresse entsprechende) Entscheidungen: Gut sind Entscheidungen, die das Subjekt auch unter bestmöglichen Urteilsbedingungen nicht bereuen würde. Von 'richtigen' Informationen im engeren Sinne des Wortes haben einen propositionalen Gehalt: 'Es verhält sich so (es ist der Fall), daß p'. Welche Bildung wir benötigen, läßt sich natürlich nur relativ zu den jeweiligen lebensweltlichen (oder auf die Lebenswelt einwirkenden) Herausforderungen sagen. Zur Bildung dürften aber in jedem Fall gehören: ein in die jeweils besten Theorien eingebettetes empirisches Wissen über die Welt, eine Vertrautheit mit den grundlegenden Regeln und Prinzipien des Zusammenlebens und die Beherrschung elementarer Kulturtechniken. Auch historische Kenntnisse, die uns mit unseren ererbten Zuständigkeiten und Verpflichtungen konfrontieren, zählen in vielleicht allen menschlichen Gemeinschaften zur elementaren Bildung.

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Präferenzen können wir daher nur im Lichte der regulativen Idee einer idealen Entscheidungssituation sprechen: Sie würden in voller Kenntnis aller relevanten Randbedingungen und Alternativen und in unverkürzter Antizipation der wesentlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen nach reiflicher Überlegung gewählt werden. Oder in den Worten Sidgwicks (1874: 11 lf.): „(...) a man's future good on the whole is what he would now desire and seek on the whole if all the consequences of all the different lines of conduct open to him were accurately foreseen and adequately realized in imagination at the present point of time" (vgl. auch Rawls 1979: 447; Gosepath 1992: 11 Off.; Arneson 1990: 163; 1994: 337). Für dieses Kriterium sprechen eine Reihe von Überlegungen, die Wilfried Hinsch (1996: 154) in dem Satz zusammenfaßt: „Es kann aus der Perspektive der ersten Person niemals wahrhaft gut oder objektiv-rational für die Person sein, etwas zu tun, was sie nicht täte, wenn sie keinen sachlichen Irrtümern oder logischen Fehlschlüssen unterläge und alles Nötige berücksichtigte; andernfalls wäre es gut für eine Person, Dinge zu tun, zu denen es eine aus ihrer Sicht alles in allem bessere Alternative gibt". Was aber ist „alles Nötige"? Einer radikalen Interpretation zufolge, die Richard Brandt (1979) favorisiert, zählen dazu absolut alle Informationen, die die Neigungen einer Person kausal zu beeinflussen vermögen. Auf diese Weise hofft Brandt, ein mit den Standards der behavioristischen Verhaltenstheorie vereinbares Relevanzkriterium zu gewinnen. Inhaltliche Aspekte dürfen bei der Auswahl der Informationen keine Rolle spielen. Das hat zugleich Auswirkungen auf die Vorstellung, die sich Brandt von der Überwindung fehlerhafter Überzeugungen macht. Er versteht darunter einen kausalen Prozeß, den er als „cognitive psychotherapy" (ebd.: 113) bezeichnet. Eine solche Therapie schließt die Dekonditionierung bestehender Dispositionen ebenso ein wie eine wiederholte Veranschaulichung von Dingen und Ereignissen. Nur Wünsche, die einer solchen Therapie standhalten, sind objektiv-rational: Sie allein sind im Lichte der bestmöglichen Informationen gerechtfertigt. Gegen diese naturalistische Lesart des Relevanzkriteriums und das damit verbundene Modell therapeutischer Wunschkritik hat Gilbert Harman (1982) eine Reihe von Gegenbeispielen aufgeboten. Vielleicht würde ein Mensch nach wiederholter anschaulicher Darstellung der Verdauungsvorgänge seiner Mitmenschen die Fähigkeit verlieren, in Gemeinschaft zu essen. Womöglich würde ein untadeliger Beamter in voller Kenntnis der Annehmlichkeiten, die er sich durch Bestechung verschaffen könnte, seine Integrität einbüßen und wider bessere Überzeugung die Hand aufhalten. Eventuell hätte eine besonders drastische Präsentation menschlichen Leids einen völligen Verlust der Mitleidsfähigkeit zur Folge. Dadurch würden ungeselliger Verzehr, Korruption und Abstumpfung aber noch lange nicht objektiv-rational. Was Brandt übersieht, ist die Bedeutung von Metapräferenzen für die Relevanz von Informationen (Gosepath 1992: 366, Fn. 25). Damit kommen inhaltliche Gesichtspunkte ins Spiel, die nicht zuletzt auf die identitätsbildende Rolle starker Wertungen

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verweisen. Weil unser vernünftiges Wollen von unseren Überzeugungen geprägt wird, sind nicht alle kausal relevanten Informationen auch sachlich relevant (Hinsch 1996: 153ff.)· Daraus folgt zugleich, daß sich die Aufklärung über eine fehlerhafte Urteilsbildung nicht behavioristisch umdeuten läßt. Argumentationen, in denen auch Gegenevidenzen zur Geltung kommen können, sind etwas grundsätzlich anderes als Dekonditionierungen. Ein weiterer Fehlschluß wäre die Hypostasierung der Idee einer idealen Entscheidungssituation. Zu jeder realen Entscheidungssituation gehört eine gewisse Opazität, der Welt wie des Selbst und seiner jeweiligen Dialogpartner. Gewiß, jeder Anspruch auf vernünftige Vertretbarkeit einer Präferenz weist über alle zu einem bestimmten Zeitpunkt verfugbaren Argumente und Evidenzen hinaus und ist in diesem Sinne stets kontexttranszendierend. Er verweist aber nicht auf ein Jenseits aller Kontexte. Das spricht für eine strikt innerweltliche und doch nicht zahnlose Lesart des Rationalitätskriteriums: Eine vernünftige Person ist daran interessiert, ihre Präferenzen unter möglichst günstigen epistemischen Bedingungen vertreten zu können, und muß deshalb an der Erreichbarkeit möglichst aller relevanten Informationen und geeigneten Interpretationen interessiert sein. Dieses Erfordernis findet keine definitive Erfüllung in der Zeit; es weist über jede zu einem bestimmten Zeitpunkt erzielte Übereinstimmung mit sich selbst und anderen hinaus - auf eine prinzipiell unabsehbare Folge weiterer Widerlegungsversuche sowie neuer Erfahrungen und Deutungsangebote (vgl. Wellmer 1993: 160ff.). Mit Blick auf unsere gezähmte Hausfrau ergibt sich ein profaneres Problem, das nicht den epistemischen Status, sondern den Gebrauchswert des Wissens betrifft: Angenommen, sie kann ihre Lage unter hinreichend günstigen kognitiven Bedingungen begutachten und stellt fest, daß sie die falsche Wahl getroffen hast: Eigentlich wäre sie zu Höherem berufen gewesen. Eigentlich hätte sie Konzertpianistin werden sollen. Nun fehlt ihr aber die nötige Energie zur Umkehr; außerdem zweifelt sie nach Jahren der häuslichen Abgeschiedenheit an der Festigkeit ihres Selbstvertrauens und an ihrem Durchsetzungsvermögen. Auch das nötige Geld - nehmen wir an, das Ministerium für die Verteilung allgemeiner Ressourcen würde ihr die erforderliche Summe einräumen kann ihre inneren Zweifel nicht beschwichtigen. Für sie scheint der Satz eines ehemaligen Generalsekretärs zu gelten: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Diese Überlegung verdeutlicht, daß es nicht nur darauf ankommt, welche Mittel jemand hat, sondern auch, wann und unter welchen Voraussetzungen er sie erhalten hat. Nicht nur die jeweiligen Ausgangsbedingungen, auch die subjektiven Kosten ihrer Korrektur können erheblich differieren und Menschen an der Verwirklichung selbstgewählter Lebenspläne hindern. Richard J. Arneson (1994: 337f.) unterscheidet deshalb zwischen erstbesten und zweitbesten rationalen Präferenzen. Erstbeste Präferenzen wären solche, die jemand im Lichte angemessener Entscheidungsbedingungen und gründlicher Überlegung verfolgen würde, wenn er seine aktuellen Neigungen kostenfrei korrigieren könnte. Für die Formierung zweitbester Präferenzen entfallt diese kontrafaktische Voraussetzung. Jetzt zählen auch Informationen, die sich auf subjektive Wider-

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stände gegen vernünftige Ratschläge, auf die Kosten von (Um-)Erziehungsprogrammen und auf die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung neuer besserer Einsichten beziehen: „Dann sind meine zweitbesten Präferenzen diejenigen, die ich hätte, wenn ich unter idealen Bedingungen und im vollen Wissen um meine gegenwärtigen Vorlieben und ihre schwere Veränderbarkeit über meine Vorlieben nachdenken würde" (ebd.). Die Differenz zwischen erst- und zweitbesten Präferenzen würde verschwinden, wenn wir konzeptionell von Menschen mit noch völlig ungeformten Präferenzen ausgehen könnten, von Menschen, die in volitionaler Hinsicht einer tabula rasa glichen. Diesen Vorschlag macht John Roemer:8 „From a conceptual viewpoint, my modelling strategy would have been to imagine that the resource distribution is carried out so that it provides 'children' (that is, persons whose preferences have not yet been formed) with the opportunity 'to engage in thoroughgoing deliberation about [their] preferences with full pertinent information, in a calm mood, while thinking clearly and making no reasoning errors.' Then we would need only consider Arneson's first-best preferences" (Roemer 1996: 267). So absurd das auf den ersten Blick erscheint: Es scheint mir die gerechtigkeitstheoretisch gebotene Strategie zu sein. Nur sie nämlich verheißt eine Lösung für das Problem der angepaßten Präferenzen. Absurd erscheint der Vorschlag deshalb, weil jeder Mensch, wenn er eine wirkliche Entscheidung zu treffen hat, sich immer schon an bestimmten Zielen und Wertvorstellungen orientiert. Die Idee eines präferentiellen 'Nullpunktes' der Existenz scheint daher das Musterbeispiel für eine schlechte Idealisierung zu sein, wie sie seit langem von Onora O'Neill kritisiert wird: „Insofern die modernen Gerechtigkeitstheorien von 'idealen' Annahmen über Personen, Rationalität oder Unabhängigkeit ausgehen, sind sie nicht bloß abstrakt. Sie setzen spezifische Ideale voraus, anstatt deren Vorhandensein nachzuweisen. Sofern sie dann keine Gründe angeben (...), werden ihre Theorien strenggenommen unanwendbar sein auf Beispiele, in denen es um wirkliche Menschen geht" (O'Neill 1996: 60; vgl. auch dies. 1996a: 419f.). Nicht jede Idealisierung bringt jedoch ein - noch dazu undurchschautes - Ideal zum Ausdruck. Es gibt zum einen konstitutive Idealisierungen im Sinne der Formalpragmatik: tragende, wiewohl kontrafaktische Unterstellungen, die unweigerlich mit einer bestimmten performativen Haltung einhergehen.9 Zum anderen kennen die Wissenschaften und die Philosophie auch methodisch bewußte Idealisierungen. In den beiden letztRoemer versteht diese Idee nur als eine freundliche Konzession an Arneson, dem er vorhält, mit der Konzentration auf zweitbeste Präferenzen das selbst gesetzte gerechtigkeitstheoretische Ziel, welches Arneson als „Gleichheit zur Erlangung von Wohlergehen" bezeichnet, zu verfehlen. Nach Roemers Ansicht kann es jedoch grundsätzlich keine „ideally considered preferences" geben. Damit unterschätzt er jedoch meines Erachtens die methodischen Möglichkeiten des von ihm eröffneten Weges. Dazu mehr in Kapitel V. Allgemeiner gesagt: Eine Idealisierung ist konstitutiv, wenn sie in eine Praxis eingeschrieben ist, die ohne die Idealisierung nicht verstehend rekonstruiert werden kann.

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genannten Fällen können die Idealisierungen erforderlich oder zumindest hilfreich sein bei der Suche nach einem geeigneten Maßstab der Kritik. Eben dies ist auch der Zweck der methodischen Idealisierungen, die in meine Theorie der allgemeinen Ressourcen einfließen. Mein Vorschlag lautet, die gegebenen Verhältnisse mit einer kontrafaktischen Situation zu kontrastieren, in der alle mündigen Menschen ihre Entscheidungen immer schon unter der Bedingung einer angemessenen Ausstattung mit Bündeln allgemeiner Ressourcen treffen könnten. Später werde ich diese Leitidee mit einigen Bemerkungen über Möglichkeiten und Grenzen nachträglicher Kompensationen zu konkretisieren versuchen.

2.3 Selbstachtung Auf eine weitere allgemeine Ressource, deren angemessene Verteilung wir - im genannten Sinne idealisierend - voraussetzen sollten, habe ich negatorisch, am Beispiel der verhinderten Pianistin, bereits hingewiesen: Ich meine die Selbstachtung. Dieser Begriff hat in der politischen Philosophie Karriere gemacht, seitdem ihn Rawls (1979) an die Spitze seiner Liste von Grundgütern gestellt hat. Rawls versteht darunter ein zweiseitiges Phänomen. Die eine Seite bildet das Selbstwertgefuhl, das dem Glauben an den Wert eines besonderen Lebensentwurfes entspringt, die andere Seite ist das Selbstvertrauen, das sich in der Überzeugung ausdrückt, man sei ganz allgemein zu einer Verwirklichung der eigenen Absichten in der Lage. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in Avishai Margalits begriffsanalytisch ansetzender und phänomenologisch verfahrender Untersuchung über die Decent Society (dt. 1997). Auch Margalit bezieht die Selbstachtung auf die Anerkennung des Allgemeinen, die Selbst(wert)schätzung auf die Anerkennung des Besonderen: Geht es im ersten Fall um die Zugehörigkeit zur Menschengemeinschaft bzw. zu einer kulturellen Gemeinschaft überhaupt, so im zweiten Fall um spezifische Leistungen und Vermögen sowie um das mit besonderen sozialen Stellungen verbundene Prestige. Grundlage der Selbstschätzung ist ein durch Zuspruch Dritter beglaubigtes Vertrauen in die Respektabilität der eigenen Darbietungen und des eigenen Ranges; Grundlage der Selbstachtung ist die intersubjektive Wahrung der logisch vorrangigen Fähigkeit zur Führung des eigenen Lebens im Modus der Selbstkontrolle. Selbstachtung äußert sich als Interesse zweiter Ordnung an der Respektierung als Subjekt von Interessen überhaupt (ebd.: 57). Eine Gesellschaft darf „anständig" {decent) heißen, wenn ihre Institutionen die Selbstachtung der Menschen, die sich in ihrem Machtbereich befinden, nicht untergraben. Institutionelle Angriffe auf die Selbstachtung geben einem Menschen Grund, sich gedemütigt zu fühlen. Die basalen Formen der Mißachtung stellen sich von der Warte des Gedemütigten vor allem als Kontrollverlust dar, aus der Perspektive dessen, der demütigt, steht der Ausschluß aus der Menschengemeinschaft oder aus einer ihrer identitätskonstitutiven Untergemeinschaften im Vordergrund. Dabei lassen sich drei idealtypische Formen der Exklusion unterscheiden: Wer einen Menschen als oder wie ein

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Tier betrachtet, spricht ihm die Verantwortungsfähigkeit ab. Wer ihn wie eine Maschine behandelt, spricht ihm die Spontaneität ab. Wer ihn als Nummer behandelt, spricht ihm den Namen ab (ebd.: Kap. 13). Im Umkehrschluß heißt das: Wer einen Menschen als konkretes, zur absichtsvollen Initiative fähiges Gegenüber ansieht, schont und fördert seine Selbstachtung.10 Dieses Entgegenkommen ist grundlegender als die Wertschätzung, die wir dem anderen für besondere Darbietungen oder andere Leistungen entgegenbringen. Im folgenden spreche auch ich von 'Selbstachtung' nur in diesem ersten Sinne. Der Grund dafür ist, daß Selbstwertschätzung die Verfolgung eines Lebensplanes schon voraussetzt: Sie wurzelt im gelingenden Vollzug eines bestimmten Entwurfes oder umfassender - in einem Zustand komplexer Wunscherfüllung, während meine Liste angeben soll, welche Ressourcen allen Personen bereits zur Verfügung stehen müssen, damit sie unter hinreichend günstigen Randbedingungen an die Auswahl und Verwirklichung einer Konzeption des Guten herangehen können. Eben deshalb empfiehlt sich die methodische Fiktion der präferentiell ungeformten 'Kinder' für die Ebene der elementaren Ressourcenbestimmung. Im Grenzfall untergräbt ein Mangel an Selbstachtung zugleich die Fähigkeit, ein eigenständiges Leben zu führen. Das ist der Fall, „wenn einige Menschen durch die Verknüpfung von geringer natürlicher Begabung und familiären und gesellschaftlichen Bedingungen in psychologischer Hinsicht derart geschädigt sind, daß sie nicht mehr fähig sind, etwas aus ihrem Leben zu machen" (Rachels 1993: 168f.). In diesem Grenzfall allerdings entfallt die Voraussetzung der Autonomiefahigkeit überhaupt. In allen anderen Fällen gilt: Selbstachtung stützt die allgemeine Disposition von Personen zu eigenverantwortlichem Urteilen, Entscheiden und Handeln. Die Person weiß dann um ihr Anrecht auf Teilnahme am 'Markt der Lebensmöglichkeiten'. Sie nimmt als verantwortungsfahiger Akteur am gesellschaftlichen Leben teil, weil sie davon überzeugt ist, daß ihr die faire Chance auf ein im Lichte der eigenen Vorstellungen gelingendes Leben zusteht. Sie entscheidet im Wissen um ihre Unvertretbarkeit, mit der voluntativen Aussicht auf ein Leben, das für sie selbst einen Wert hat.

In besonders eindrucksvollen, an Lévinas erinnernden phänomenologischen Passagen (ebd.: Kap. 6) gelingt Margalit der Nachweis, daß sich die Menschlichkeit im Antlitz des anderen gar nicht willentlich verkennen läßt: „Menschen als Menschen zu sehen ist ebensowenig eine Frage des freien Willens wie das Sehen von Farben" (ebd.: 126). Wir nehmen ein Gesicht nicht einfach als beliebiges Objekt wahr, weil wir darin unweigerlich auch die Beseeltheit des Subjekts erblikken. Mit der Wahrnehmung des Körperlichen geht die Erfassung psychischer Bedeutungen einher: Wir sehen nicht einfach einen eiförmigen kahlen Gegenstand mit Einkerbungen, wir sehen ein spöttisches oder entsetztes Gesicht; wir verfolgen nicht einfach einen beweglichen Körper, wir erkennen einen energischen Schritt oder einen ängstlichen Gang. Wer andere mißachtet, ist für diese Ebene der Wahrnehmung nicht blind, er bemüht sich jedoch nach Kräften - oder hat von klein auf gelernt - , den anderen zu ignorieren oder seine hervorstechenden Merkmale als Stigmata zu betrachten. Er erkennt den anderen wohl als Menschen, aber er nimmt ihn nicht aus einer humanitären Perspektive wahr.

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Zugleich glaubt die Person an ihre Fähigkeit zur tätigen Umsetzung eigener Lebensentscheidungen, auch in der Erwartung einer unvermeidlichen Widerständigkeit der Realität. Selbstachtung ermöglicht das begründete Festhalten an einem Lebensentwurf gegen den Andrang äußerer und innerer Infragestellungen. Nur wer sich selbst in diesem grundlegenden Sinne für achtenswert hält, ist fähig, etwas aus seinem Leben zu machen und für die eigenen Urteile, Entscheidungen und Handlungen vor sich selbst und anderen 'gerade zu stehen'. Nicht zuletzt die Bereitschaft zur Selbstkorrektur erfordert ein starkes Zutrauen in die eigene psychische Stabilität. Selbstachtung ist daher auch eine Voraussetzung für die Antwortfahigkeit der mündigen Person. Aus naheliegenden Gründen ist es schwer, für den hier umrissenen Begriff der Selbstachtung eine empirische Entsprechung zu finden - eine Schwierigkeit, auf die Margalit (1997) hingewiesen, die er aber vielleicht auch unterschätzt hat." In der Realität sind Menschen ja immer schon mit bestimmten Lebensentwürfen verwoben, so daß sich ihre Selbstwahrnehmung nicht einfach von ihren Handlungen und Erwartungen trennen läßt. Daher liegt es nahe, von einem ontogenetischen Wechselspiel zwischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung auszugehen: Indem ich auf anerkennenswerte Weise an meiner Welt teilhabe, gewinne und festige ich das Zutrauen in meine Handlungs- und Entscheidungsfahigkeit überhaupt. Dieses Grundvertrauen wiederum trägt mich über Brüche und Krisenerfahrungen hinweg und sichert die Kontinuität meines affirmativen Selbstverhältnisses im Wandel meiner Umstände und Orientierungen. Dennoch glaube ich, daß es möglich ist, die Grundgewißheit, achtenswert zu sein und selbstgesetzte Ziele erreichen zu können, von der Einsicht in den Wert einer je besonderen Lebenssituation zu trennen. Die Ressource Selbstachtung ist eine Bedingung für das Erlangen und den Genuß von Lebensgütern, während Selbstwertschätzung als deren psychisches Korrelat auf der Ebene der Lebensgüter selbst angesiedelt ist. Diese Unterscheidung ist allerdings nur als analytische möglich, da Selbstachtung und Selbstwertschätzung in jedem realen Prozeß der Sozialisation ineinanderwirken und aufeinander verweisen. Sie hat keinen vorrangig anthropologischen oder entwicklungspsychologischen, sondern einen primär normativen Stellenwert - eben im Rahmen einer Theorie allgemeiner Ressourcen. Daher impliziert sie auch keine Neuauflage der altliberalen Idee des „ungebundenen Selbst" (Sandel 1982): Die ethische Person ist nicht vor ihren Zielen da, doch der Begriff der ethischen Person setzt keine Bindung an bestimmte Ziele voraus - wohl aber die effektive Fähigkeit zur Auswahl und revisionsoffenen Verfolgung von Zielen im Lichte selbstverantwortlich übernommener Wertvorstellungen.

Margalit übersieht meines Erachtens, daß sich auch bestimmte institutionelle Angriffe auf die Selbstwertschätzung als Demütigungen verstehen lassen, weil auch sie die Selbstachtung untergraben können - aber eben vermittelt über die damit verwobene Selbstwertschätzung. Eine Regierung kann zum Beispiel eine unbequeme Schriftstellerin dadurch zu brechen versuchen, daß sie ihre Fähigkeiten als Autorin gezielt herabsetzt. Das spricht für eine stärker 'ganzheitliche' Deutung des Zusammenhanges von Selbstachtung und Selbstwertschätzung.

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2.4 Handlungsfähigkeit Komplementär zur Selbstachtung steht die Handlungsfähigkeit,12 Ihre Verbindung zum Autonomiebegriff liegt im Tätigkeitsaspekt der Selbstbestimmung: Nur wer zur Verwirklichung von Absichten in einer widerständigen Welt imstande ist, verdient im vollen Sinne die Bezeichnung 'autonomer Akteur'. Ohne Handlungsfähigkeit wären Personen vielleicht zu eigenständigen Entscheidungen, doch nicht zur eigenständigen Umsetzung dieser Entscheidungen imstande. Erst sie verleiht dem Wissen um die Zugänglichkeit von Gütern eine lebenspraktische Bedeutung. Wie leicht ersichtlich, kommt mit dem physischen Aspekt der Handlungsfähigkeit ein relativierender Faktor ins Spiel, denn welche körperlichen Funktionen für erfolgversprechendes Handeln erforderlich sind, hängt wesentlich von den jeweiligen Lebensumständen ab. Gleichwohl lassen sich bestimmte physische Fähigkeiten und Zustände identifizieren, an deren Erreichbarkeit wohl allen Menschen gelegen ist - selbst wenn sie notgedrungen mit einer körperlichen Ausstattung auskommen müssen, die ihnen eine oder einige dieser Gaben für immer versagt. Diese Fähigkeiten und Zustände lassen sich unter die Oberbegriffe 'Vollständigkeit' und 'leibliche Gesundheit' subsumieren. Unter Vollständigkeit verstehe ich die Verfügbarkeit aller handlungsrelevanten körperlichen Grundmöglichkeiten. Dazu zählen in jedem Fall der Gebrauch der fünf Sinne, die Fähigkeiten des Gehens und Stehens, der Artikulation sprachlicher Laute, des Ergreifens und Manipulierens von 'zuhandenen' Gegenständen sowie der Koordination von Körperfunktionen. Negativ gesprochen ist Vollständigkeit die Abwesenheit körperlicher Behinderungen. Unter leiblicher Gesundheit verstehe ich, wiederum negativ gesprochen, die Abwesenheit umfassenden, an körperliche Zustände gebundenen Leids. Dieser Begriff ist enger als das medizinische Kriterium einer Abwesenheit von pathologischen Zuständen und Prozessen überhaupt (Schramme 1996a). Nicht jede Funktionsstörung beeinträchtigt akut oder in ihrem weiteren Verlauf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Person und schmälert daher den allgemeinen Ressourcenbestand, über den die Person verfügen sollte. Anders verhält es sich, wenn die körperliche Handlungsfähigkeit durch physische Qualen oder Ermattungszustände ganz oder teilweise unterminiert wird. Ein Mensch, der von einem körperlichen Leiden beherrscht wird, ist unfähig zu kontinuierlichem und konzentriertem Handeln.

Ich ziehe den Ausdruck 'Handlungsfähigkeit' dem Ausdruck 'Gesundheit' vor, weil dieser den Gegenbegriff der 'Krankheit' auf den Plan rufen würde. Zur vollen Handlungsfähigkeit jedoch gehört neben der Abwesenheit von Krankheiten auch die Abwesenheit von Behinderungen. In beiden Fällen können wir von Ausfällen oder Einschränkungen der Funktionsfähigkeit sprechen (beides sind daher pathologische Zustände im weiteren Sinne), doch von Behinderungen unterscheiden sich Krankheiten begrifflich durch ihren Verlaufsaspekt. Behinderungen hingegen sind für sich genommen Zustände verminderter Funktionsfähigkeit (die vorübergehend oder dauerhaft sein können).

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Dazu nämlich gehört, wie Hans-Georg Gadamer (1993: 138) erkannt hat, immer auch eine gewisse 'Selbstvergessenheit': Der Akteur muß von der eigenen Leiblichkeit ablenkbar sein, soll er sich voll und ganz einer Handlung hingeben können.13 Er muß sich auf die Welt einlassen und tätig in ihr aufgehen können. Hannah Arendt hat deshalb die Erfahrung starker körperlicher Schmerzen als privateste aller Erfahrungen bezeichnet: Mit ihr fallt der Leidende aus der Welt; durch sie wird er völlig auf sich zurückgeworfen und selbst noch der sprachlichen Ausdrucksmittel beraubt, die das Leiden wenn schon nicht teilbar, so doch mitteilbar machen würden: „Aber der Schmerz ist nicht nur die vielleicht einzige Empfindung, die überhaupt ungestaltbar ist und daher in der Öffentlichkeit nie in Erscheinung treten kann; er beraubt uns zugleich unseres Realitätsgefühls in einem solchen Maße, daß wir nichts anderes schneller und leichter vergessen können als gerade die unübertreffbare Intensität, mit der er einen längeren oder kürzeren Zeitraum unseres Lebens im wahrsten Sinne des Wortes ausfüllte. Es ist, als gäbe es keine Brücke von der radikalsten Subjektivität, in der ich 'unkenntlich' bin, zu dem äußeren Vorhandensein von Welt und Leben" (Arendt 1958: 50). Wer schlechthin vom Schmerz beherrscht ist, dem wird nicht einmal die Gnade des schnellen und leichten Vergessens zuteil, weil der Schmerz ihn immer wieder heimsucht oder gar nicht mehr aus seinem Griff entläßt. Und kaum besser steht es um eine Person, die einen Großteil ihres Lebens in einem Dämmerzustand der Indifferenz verbringen muß: Auch sie ist eine Gefangene ihrer Situation, weil sie sich auf keine bestimmten Gegenstände mehr zu konzentrieren vermag. Die Gerichtetheit ihrer Orientierungen geht in ihrer leiblich induzierten Verfassung verloren. Umstrittener als solche Phänomene eines leibgebundenen Leids sind die Kriterien für seelische Gesundheit oder Krankheit. Ich möchte diese schwierige Diskussion hier umgehen und mich an den schon erwähnten Vorschlag von Tugendhat (1980) halten: Psychische Gesundheit besteht in der Funktionsfähigkeit des freien Wollens. Sie zeigt sich im willentlich koordinierten Handeln und wird durch 'innere' Zwänge wie Manien, Depressionen und ungewollte Fixierungen ganz oder teilweise außer kraft gesetzt. Auch hier kann es verschiedene Grade, von der bloß lokalen Störung bis zur umfassenden Seelenqual geben. Handlungsfähigkeit ist eine allgemeine Ressource der Person, aber ihre Verfügbarkeit hängt in wesentlichen Hinsichten von der Beschaffenheit der objektiven und sozialen Welt ab.14 Einem Gehbehinderten ist mit einem Rollstuhl allein nicht geholfen, solange die Gebäude und öffentlichen Wege für ein solches Gefährt unbefahrbar bleiAn dieser Stelle könnte Helmuth Plessners (1975) Unterscheidung zwischen „Leibsein" und „Körperhaben" zur weiteren Klärung beitragen. Obwohl alles menschliche Tun leibgebunden ist, vermag die Person über ihren Leib als Körper auch zu verfugen. Diese Doppelstruktur hat Plessner im Begriff der „exzentrischen Positionalität" festgehalten. Als pathologisch dürfte dann eine Weise des Leibseins gelten, die eine distanzierende Einstellung zu sich selbst nicht mehr zuläßt und die Person damit ihrer Handlungsspielräume beraubt. Diesen Hinweis verdanke ich David Strecker.

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ben. Ein klaustrophiler Mensch ist im öffentlichen Raum auf besondere Rücksichtnahme seiner Mitmenschen angewiesen, eine Behinderten-WG muß auf die Hilfe ambulanter Sozialdienste zurückgreifen können. Ohne 'entgegenkommende' kulturelle, infrastrukturelle und architektonische Randbedingungen lassen sich manche Einschränkungen der Handlungsfähigkeit weder korrigieren noch kompensieren. Aber sollten wir das überhaupt in jedem Fall tun? Warum sollten wir einem Behinderten unbedingt einreden wollen, daß sein Zustand in irgendeiner Hinsicht defizient sei und nach besonderer Hilfestellung verlange? Wäre das nicht normalisierend? Würde es nicht die unhinterfragte Bindung an typische Situationen und Lebenslagen befestigen, und besteht das basale Problem eines Behinderten nicht eher in der Vorherrschaft solcher Typisierungen als in seiner körperlichen oder geistigen Verfassung als solcher? Verstehen wir 'Behinderung' ganz neutral als ein bestimmtes „Verhältnis von Körpern [oder psychischen Zuständen und Dispositionen; B.L.] zu konventionellen Regeln und Praktiken" (Young 1993: 296), dann scheint es sich keineswegs von selbst zu verstehen, die primäre Einschränkung bei den Körpern und nicht bei den Regeln und Praktiken zu lokalisieren. Sollte nicht gerade ein liberaler, um größtmögliche ethische Neutralität bemühter Staat gegen jegliche Hierarchisierung und Standardisierung von Lebensweisen einschreiten, anstatt solche Wertungen durch seine politischen Programme noch zu bekräftigen? Diese Fragen zeigen, wie schmal der Grat sein kann, auf dem sich ein ethischer Liberalismus bewegt. Prima facie liegt allerdings nichts Normalisierendes in den Wunsch, bestimmte Hintergrundvoraussetzungen und Hilfsmittel für eine autonome Lebensführung allgemein zugänglich zu machen. Auf die Zugänglichkeit allgemeiner Ressourcen haben alle Personen ein Anrecht. Ein rechtlich gesichertes Angebot kann man wahrnehmen, doch man kann es auch ausschlagen. Damit aber scheint der Normalisierungsvorwurf auf diejenigen zurückzufallen, die eine bestimmte Behinderung von vorneherein als besondere Lebensweise und nicht als Handicap gewertet wissen wollen. Eine Verallgemeinerung dieses Standpunktes wäre schon deshalb problematisch, weil Personen an ihre jeweiligen Lebensentwürfe nicht unverrückbar gebunden sind. Auch wer heute als Behinderter ein Leben ohne Hilfsmittel vorzieht, wird vielleicht morgen nach der Erreichbarkeit einer Lebenssituation verlangen, die ihm ohne kompensatorische Maßnahmen verschlossen bliebe. Diese Möglichkeit müssen auch solche Vertreter der Behindertenbewegung einräumen, die mit guten Gründen gegen eine pauschalisierende Kultur des Mitleids zu Felde ziehen. Auch sie dürfen ihre ethischen Präferenzen nicht zum Maß aller Rechtsansprüche machen. Diese Anmerkungen sollen jedoch nicht die Normalisierungskritik als solche ins Zwielicht bringen. Den Vorzug dieser Kritik sehe ich darin, daß sie auf die relationale Natur von - vor allem körperlichen - Behinderungen aufmerksam macht: Eine körperliche Behinderung ist nicht einfach eine physische Eigenschaft, sondern eine Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Körpers in - und im Verhältnis zu - einer bestimmten Welt. Eine weniger standardisierte Ausgestaltung wichtiger Handlungsfelder und Erfahrungsräume würde einen Teil der heutigen 'Behinderungen' zum Verschwin-

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den bringen, ohne daß sich an der Beschaffenheit der Körper selbst etwas ändern müßte. Manche menschlichen Möglichkeiten allerdings sind zu grundlegend, als daß wir sie bei der Einrichtung unserer Welt unberücksichtigt lassen könnten: dazu gehören etwa die Bewegungsfreiheit und die Fähigkeiten, in schriftlicher Form und über größere Entfernungen hinweg zu kommunizieren. Einem Behinderten den Zugang zu Hilfsmitteln vorenthalten, hieße daher, ihn von zahlreichen Feldern der Verwirklichung dauerhaft fernzuhalten. Angenommen aber, eine Taubstumme möchte partout nicht als Behinderte gelten. Zu Recht weist sie darauf hin, daß ja auch sie sich mit bestimmten Fähigkeiten wie etwa der Kunst des Lippenlesens von ihren 'normalen' Mitmenschen abhebe. Stehen ihr gleichwohl Gründe für besondere Unterstützungsansprüche zu Gebote; Gründe, die nicht auf dem wenigstens impliziten Eingeständnis beruhen, eben doch behindert zu sein? Warum sollte sie den hohen Preis für ein Gehörlosentelefon erstattet bekommen, wenn sie doch die Möglichkeit, ihr Handicap einzugestehen, verworfen hat? Der Argumentationspfad, der ihr gleichwohl offensteht, verweist auf eine weitere generalisierte Voraussetzung menschlicher Selbstbestimmung: Die Gruppe der Gehörlosen darf in bestimmten Hinsichten als askriptive Gemeinschaft gelten, der anzugehören besonders kostspielig und mit spezifischen Verwundbarkeiten behaftet sein kann.15 Wenn sich zeigen läßt, daß auch solche Gemeinschaften zu den allgemeinen Ressourcen gezählt werden sollten, dann bilden auch sie einen möglichen Bezugspunkt der Berichtigung von moralisch arbiträren Nachteilen.

2.5 Lebensformen Wenn Hannah Arendt darauf hinweist, daß der von Schmerzen Gequälte regelrecht aus der Welt geworfen wird, so will sie damit negatorisch zugleich sagen, daß wir unsere eigentliche Bestimmung im öffentlichen Raum verständigungsorientierten Handelns finden. Der Schmerz, so läßt sich ihre Bemerkung verstehen, findet keinen angemessenen Ausdruck in den symbolischen Strukturen einer mit anderen geteilten Lebensform. Die kommunikative Teilnahme an der nur intersubjektiv zugänglichen Welt aber gilt Arendt als intrinsisch wertvoll. Nicht nur schweigsame Heideggerianer, auch extrovertierte Liberale mögen hier Zweifel anmelden. Kann der Mensch nicht auch auf Bergeshöhen oder an der Börse zu sich selbst finden und sich selbst verwirklichen? Sind nicht auch der Einsiedler oder der Stratege vertraute Gestalten eines gesellschaftlichen Lebens, das als Leben in Gesellschaft nicht zureichend verstanden werden kann? Andererseits: Auch sie sind Gestalten, die das gesellschaftliche Leben hervorgebracht hat, Formen der Abwendung von Dieser Begründungsweg bietet sich vielleicht mehr noch für Menschen an, die selber gar nicht behindert sind, aber die Bindung an die Lebensform ihrer behinderten Bezugspersonen nicht verlieren möchten; ein Beispiel wären Kinder von Taubstummen. - Den Hinweis verdanke ich einem Manuskript von Thomas Schramme (1996: 11).

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Kommunikationen, die sich gleichwohl nur kommunikativ erläutern lassen. Noch der Einsiedler, der sich einmal zu einer Erklärung seiner Wahl herabläßt, greift dazu auf ein nicht allein und nicht ursprünglich selbstgeschöpftes Vokabular zurück. Auch sein Entwurf ist eine Antwort auf eine Welt, die vielleicht andere Entwürfe für ihn vorgesehen hatte, und bleibt ihr in dieser Negation zugleich verbunden. Ohne die zumindest anamnetische Bezugnahme auf eine symbolisch strukturierte Lebensform wüßten Menschen offenbar überhaupt nicht, was sie wählen sollten. Die Kriterien und Perspektiven ihrer Entscheidungen stammen aus Bedeutungsräumen, die keinen privaten Besitz, sondern eine gemeinschaftliche Infrastruktur darstellen (Seel 1995: 129f.). Jede Wahrnehmung von Optionen verweist auf Netzwerke von Sinn, ohne die eine Wahlmöglichkeit für uns keinerlei Bedeutung besäße, also eigentlich keine Option wäre. Optionen sind in Verweisungsganzheiten eingewoben und werden in welterschließender Praxis entdeckt. Die Fähigkeit zum sinnhaften Anschluß an kulturelle Praktiken erwerben Menschen als Angehörige einer Sozialisationsgemeinschaft. Eine solche Gemeinschaft determiniert die Orientierungen der einzelnen nicht, doch sie gibt ihnen einen Bezugsrahmen vor. Innerhalb dieses Rahmens verständigen sich die Individuen über die Bedeutung und den Wert von Optionen. Folglich verdanken sie ihre Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit nicht zuletzt ihrer kulturellen Zugehörigkeit (Kymlicka 1989; 1995; zum 'semiotischen' Kulturbegriff siehe Geertz 1987: 9). Aus diesem Grund ist es sinnvoll, auch kulturelle Zugehörigkeit als allgemeine Ressource anzusehen. Wenn aber Personen ihre Wertvorstellungen gar nicht anders als in Horizonten kollektiver Sinnkonstruktionen ausbilden und revidieren können, ist dann nicht der Horizont, als ermöglichende Bedingung des Guten, zugleich selber ein Gut? Verlangt er nicht geradezu gebieterisch nach intrinsischer Wertschätzung? Dieser Ansicht ist Charles Taylor (1990): Eine Lebensform sei kein bloßes Instrument zur Erlangung von Gütern, weil es spezifisch menschliche Güter ohne gemeinschaftlichen Werthorizont und ohne Sprache gar nicht geben könne. Wer daher ein Gut um seiner selbst willen schätze, müsse auch den kulturellen Rahmen der Erschließung dieses Gutes um seiner selbst willen schätzen. Ohne Zweifel benennt Taylor damit einen wichtigen Unterschied zwischen Lebensformen und teilbaren Ressourcen wie Geld, die man in seiner Tasche tragen und rein instrumenteil gebrauchen kann. Gleichwohl ist der Schluß von der kulturellen Konstitution eines Wertes zum Wert einer Kultur vorschnell. Eine Vorbedingung des Guten ist nicht zwangsläufig selber gut, wie man an analogen Beispielen leicht erkennen kann: „the pre-conditions or determinants of something's being humorous, beautiful, or politically legitimate, need not themselves be humorous, beautiful, or politically legitimate" (Moore/Crisp 1996: 610). Das Auge, das Schönes sieht, muß kein schönes Auge sein. Moore und Crisp weisen auf ein weiteres Problem hin: Wäre jeder Ort, an dem Gutes gedeiht, schon deshalb gut, so wäre umgekehrt jeder Ort, von dem Schlechtes ausgeht, schon deshalb schlecht (ebd.). Da wohl alle Kulturen unter beiden Gesichtspunkten evaluiert werden können, wären sie alle sowohl intrinsch gut als auch intrinsisch

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schlecht. Das ist zwar keine strikte Kontradiktion, aber wohl kaum eine vernünftige Schlußfolgerung in Taylors Sinne. Als Ressource betrachtet, ist die Lebensform kein Instrument strictu sensu, doch verdient sie Wertschätzung allein, weil und soweit sie die Erreichbarkeit anderer Güter verbürgt. In dieser Hinsicht ist sie eine Bedingung des Guten. Ich meine nun, daß der liberale Begriff der autonomen Person mit innerer Folgerichtigkeit auf die Auszeichnung von Lebensformen als Resourcen hinausläuft, aber nicht zwangsläufig auf ihre Affirmation als Güter. Diese Unterscheidung mag uns helfen, eine verbreitete Konfusion über den Stellenwert von 'kollektiven Identitäten' auszuräumen. Die ursprüngliche Zugehörigkeit zu einer Sozialisationsgemeinschaft - zum Beispiel einer ethnischen Gruppe - ist ein askriptives Merkmal; man erwirbt sie nicht durch eigene Wahl. Trotzdem verbindet sich mit ihr gewöhnlich die soziale Erwartung affektiver Anteilnahme. Die Wertschätzung der Herkunftsgemeinschaft gilt als unverzichtbarer Bestandteil der Wertschätzung der Person selbst (Margalit/Raz 1995: 82ff.). Eben diese Erwartung wird oft mit dem Begriff 'kollektive Identität' verknüpft. Doch es ist keineswegs immer klar, was damit gemeint ist. Wir sollten zumindest zwei mögliche Bedeutungen unterscheiden. Die erste Bedeutung umfaßt das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Sozialisationsgemeinschaft. Dieses Wissen bezieht sich wenigstens teilweise auf die deskriptive Dimension einer Identität (Habermas 1991): Wie und in welchen Kontexten bin ich zu dem geworden, der ich bin? Die Antwort auf diese Fragen ist sicher nicht normativ neutral; sie schließt eine gewöhnlich auch affektive Bezugnahme auf biographisch wichtige Bindungen und Erfahrungen ein. Zugehörigkeiten dieser Art zählen häufig zu den handlungsbegleitenden Parametern eines Selbstverständnisses. Gleichwohl begründen sie nicht automatisch die zentralen Projekte und Prinzipien einer Person. Ein Wissen um die eigene Herkunft ist nicht gleichzusetzen mit der normativen Wertschätzung des Herkunftskontextes im ganzen. Es kann mit einer kritischen Absetzung von zumindest einigen Aspekten des eigenen Gewordenseins einhergehen. Diese Möglichkeit wird oft übersehen, weil viele Autorinnen und Autoren dieses Wissen mit einem stärkeren Verständnis von kollektiver Identität verwechseln. In dieser zweiten Bedeutung des Wortes ist 'kollektive Identität' die Identität eines Kollektivsubjektes. Formal ist sie durch einen starken Gebrauch des Wortes 'Wir' gekennzeichnet: „Wir denken, daß...", „wir glauben, hoffen oder erwarten, daß...". In solchen Worten bringen Menschen eine kollektive Intentionalität zum Ausdruck, in deren Licht die Unterscheidung zwischen meinen und deinen Ansichten zurücktritt hinter die von uns beiden geteilte Bezugnahme (Searle 1997: 34ff). Als Ausdruck der Identität verweist das Personalpronomen der ersten Person Plural vor allem auf die evaluative Dimension eines Selbstverständnisses: In dieser zweiten Bedeutung steht 'kollektive Identität' für die geteilten Werte einer Gemeinschaft. Nun muß eine identitätsbildende Gemeinschaft im zweiten nicht unbedingt auch eine im ersten Sinne sein: Meine stärkste Loyalität muß keiner askriptiven Gemeinschaft

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gelten.16 Vielleicht passen meine Projekte und Prinzipien viel eher in den Werthorizont einer freien Assoziation oder selbstgewählten Gruppe. Warum also sollten wir gerade die nichtgewählten Kontexte unserer Selbstverständigung moraltheoretisch hervorheben? In dieser Frage liegt bereits ein Teil der Antwort: eben weil wir sie uns zunächst nicht aussuchen konnten. Hinzu kommt ihre anhaltende Relevanz selbst noch für kulturelle Grenzgänger und Konvertiten. Die meisten Menschen verlassen ihre Lebensform auch unter 'kosmopolitischen' Vorzeichen niemals vollständig. Und selbst wenn der lückenlose Übergang in eine andere Kultur manchmal schmerzlos möglich sein sollte (Waldron 1995a), dürften sich die Muster der ursprünglichen Sozialisation doch auch in den neuen Kontexten strukturierend bemerkbar machen (Frank 1998: 397, Fn. 11). Der Schluß von der Schmerzlosigkeit in einigen (wenigen) Fällen zur moralischen Unerheblichkeit der Schmerzen in (den meisten) anderen Fällen ist ohnehin unzulässig.Was hier nämlich auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit, sich selbst wertzuschätzen, ohne die eigene Herkunft zu verleugnen. Eine unverzerrte Selbstverständigung muß die soziale Dimension der eigenen Geschichte einschließen können, gleichviel, ob das Subjekt zu einigen Abschnitten und Aspekten dieser Geschichte auf Distanz geht. Wer sich unter dem Gesichtspunkt seiner Herkunft diskriminiert sieht, hat zusätzliche Schwierigkeiten, ein gesundes Selbstverhältnis aufzubauen. Diese Unterscheidung zweier Lesarten der Identitätsthese entspricht derjenigen zwischen einer Lebensform als Ressource und einer Lebensform als Gut. Als Ressource ist die Lebensform ein Kontext der Wahl (Kymlicka 1989), als Gut ist sie das Ergebnis einer Wahl. Auch wenn die Gemeinschaft den Ausgangspunkt der Suche nach einem ei-

Diese Möglichkeit kommt in Iris Marion Youngs Unterscheidung zwischen Assoziationen und Gruppen zu kurz: „Tritt man einer Assoziation bei, dann faßt man die Mitgliedschaft selbst dann, wenn sie das Leben grundlegend beeinflußt, nicht so auf, als definiere sie die eigentliche Identität, wie beispielsweise die Bestimmung , ein Navajo zu sein, sie zu definieren vermag. Die Gruppenaffmität dagegen hat den Charakter dessen, was Heidegger 'Geworfenheit' nennt: Man findet sich selbst als Mitglied einer Gruppe vor, deren Existenz und Verhältnisse man als immer schon dagewesen erlebt, denn die Identität einer Person wird im Zusammenhang damit definiert, wie andere sie oder ihn identifizieren, und andere tun dies gemäß den Gruppen, mit denen schon spezifische Attribute, Stereotype und Normen assoziiert sind, auf die auch Bezug genommen wird, wenn sich die Identität einer Person ausbildet" (Young 1993: 281). Hier meint 'Identität' offensichtlich das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer askriptiven Gruppe. Im normativen Sinn des Wortes aber wird die 'eigentliche Identität' von den Projekten und Prinzipien der Person bestimmt, und diese müssen selbst im Falle des Navajo nicht aus dem kulturellen Fundus der askriptiven Gemeinschaft stammen. Noch deutlicher wird dies, wenn Young den Gruppenbegriff auf soziale Kategorien wie 'Frauen', 'Alte', 'Behinderte' oder 'Schwule' überträgt (ebd.: 283). Alle diese Kategorien unterscheiden sich von Assoziationen durch eine askriptive Komponente, aber das allein macht sie noch nicht zu ,,umfassende[n] Identitäten und Lebensweisen" (ebd.: 291). Einige dieser Identitäten dürften ohnehin primär negatorisch, durch verbindende Erfahrungen der Benachteiligung, gestiftet sein. Dann aber wird die Rede von der 'eigentlichen Identität' vollends fragwürdig, denn ein allein auf Benachteiligung beruhendes Gemeinsamkeitsgefühl ist so wenig ein Gut wie die zugrundeliegende Diskriminierung. Mit dieser würde auch jenes verschwinden - oder allenfalls in düsteren Erinnerungen fortleben.

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genen Lebensweg verkörpert, muß sie doch nicht dessen gesamten Verlauf vorgeben. Unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Entscheidungsfreiheit fungiert die Lebensform als allgemeine Ressource. Sie ist ein Ermöglichungsraum menschlicher Freiheit und zugleich ein möglicher Inhalt ihrer Erfüllung. Eine weitere mögliche Quelle der Konfusion sind die Unklarheiten im Wort 'Gemeinschaft' (Waldron 1995a). Bis jetzt habe ich zu diesen Unklarheiten beigetragen, indem ich undifferenziert mal von Herkunfts- oder Sozialisationsgemeinschaften, mal von kulturellen Kontexten oder Lebensformen gesprochen habe. Im deutschen, von Ferdinand Tönnies gefärbten Wortgebrauch läßt 'Gemeinschaft' nur allzu schnell auf Homogenität und Geschlossenheit schließen. Das Modell dieser Art von Gemeinschaftlichkeit bilden dörfliche Formen des Zusammenlebens, die eine klare Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem zu erlauben scheinen. Im Unterschied zu dieser Tradition verwende ich einen funktionalistischen Gemeinschaftsbegriff: Mich interessiert ganz allgemein, aus welchen Kontexten wir einen Sinn für qualitative Unterscheidungen zwischen Optionen (und das Vokabular zur Artikulation dieser Unterscheidungen - Taylor 1988) gewinnen. Gemeinschaften in diesem Sinne müssen weder geschlossen noch homogen sein; wichtig ist allein, daß sie die Individuen mit der Fähigkeit zur eigenständigen Orientierung ausstatten. Auch decken sie sich nicht unbedingt mit Wir-Gruppen oder ethnischen Gemeinschaften. Eine längere Passage aus Elias Canettis autobiographischem Buch Die gerettete Zunge mag das veranschaulichen: „Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt für ein Kind, und wenn ich sage, daß sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulängliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Außer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Türken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenüberliegenden Ufer der Donau kamen Rumänen, meine Amme, an die ich mich aber nicht erinnere, war eine Rumänin. Es gab, vereinzelt, auch Russen. Als Kind hatte ich keinen Überblick über diese Vielfalt, aber ich bekam unaufhörlich ihre Wirkungen zu spüren. Manche Figuren sind mir bloß in Erinnerung geblieben, weil sie einer besonderen Stammesgruppe angehörten und sich durch ihre Tracht von anderen unterschieden. Unter den Dienern, die wir im Laufe jener sechs Jahre im Hause hatten, gab es einmal einen Tscherkessen und später einen Armenier. Die beste Freundin meiner Mutter war Olga, eine Russin" (Canetti 1994: 10). Hier haben wir alles beisammen, was einen völkischen Reinheitsfanatiker mit Schrecken erfüllen dürfte. Zwar gibt es unterscheidbare 'ethnische' Wir-Gruppen (die Spaniolen und andere, die sich durch ihre Tracht zu erkennen geben), aber zwischen diesen Gruppen herrscht eine heillose Durchmischung. Und doch bezeichnet Canetti die Stadt seiner Herkunft, dieses unreine Gemisch, als wunderbar. Es wäre künstlich, wollte man die Gruppe der Spaniolen, der der Erzähler angehört, als Sozialisationsge-

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meinschaft abtrennen von der sie umgebenden Mannigfaltigkeit. Nicht die isolierte Wir-Gruppe, sondern die geschilderte Situation in ihrer Gesamtheit läßt uns den Herkunftskontext des Autors erahnen. Zu diesem gehört die rumänische Amme ebenso wie die armenischen und tscherkessischen Diener und wie Olga, die russische Freundin der Mutter. Was schließlich die Sprache seiner 'starken Wertungen' und 'tiefen Erfahrungen' angeht, so ist es das relativ spät erlernte Deutsch, in welchem der Autor die größte Gewandtheit des Ausdrucks erlangen sollte. Mit diesem gewiß extremen Beispiel wollte ich auf die große Offenheit in den Begriffen 'Lebensform' und 'Herkunftskontext' hinweisen. Beide determinieren keine Grenzen und Grade der Einheitlichkeit einer Gemeinschaft. Das weist darauf hin, daß die Diskriminierung eines Menschen aufgrund seiner Herkunft keineswegs mit der Diskriminierung einer einzigen ethnischen Gruppe einhergehen muß. Auch puristische Anhänger der eigenen Gruppe können die Abwertung von Herkunftskontexten betreiben, indem sie andere Gruppenangehörige daran hindern, sich mit der Gesamtheit ihrer prägenden Einflüsse und Bindungen wie immer kritisch zu identifizieren. Die innere Vielfalt mancher Herkunftskontexte verweist zugleich auf die Fragwürdigkeit der geläufigen Unterscheidung zwischen einer Kultur und ihrer Umwelt. Ein kultureller Kontext ist das stets vorläufige Ergebnis der Verarbeitung 'äußerer' Einflüsse im Lichte geteilter und mit einer gewissen Verbindlichkeit tradierter Erfahrungen und Deutungsmuster. Im Vorgang der Verarbeitung jedoch wird der kulturelle Inhalt mit dem Verarbeiteten auch vermittelt. Diese etwas abstrakte Überlegung erlaubt eine wichtige Schlußfolgerung: Die Forderung nach Anerkennung der kulturellen Identität eines Menschen sollte stets auf die umfassende Situation bezogen werden, in der dieser Mensch nach Anerkennung verlangt (Schiffauer 1995). Nicht daß es verschiedene kulturelle Gruppen gibt, soll damit bestritten werden, sondern daß es sinnvoll ist, solche Gruppen allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Selbstbezüglichkeit zum Adressaten einer Anerkennungspolitik zu machen. Was das heißt, läßt sich am Beispiel einer Diaspora-Situation verdeutlichen: Eine minoritäre Gruppe, die ihre Eigenart unter dem Druck einer hegemonialen Kultur zu behaupten sucht, neigt schnell zu einer Überbetonung ihrer Besonderheiten. Die vermeintlich selbstgewählte Besinnung auf unverfälschte Ursprünge erweist sich dann als bloß reaktive Betonung des 'Eigenen'. Eine multikulturalistische Politik, die sich unreflektiert am Erscheinungsbild einer solchen Gruppe orientierte, liefe Gefahr, falsche Substantialitäten zu konservieren und so den alten Schwierigkeiten der Minderheit eine neue hinzuzufügen. Die eigentliche Schwierigkeit dieser Gruppe nämlich besteht nicht darin, überhaupt einem Umwelteinfluß ausgesetzt zu sein, sondern darin, diesem Einfluß nicht im Modus zwangloser Selbsttransformation begegnen zu können (Habermas 1993). Die 'Lebensfähigkeit' kultureller Gruppen hängt wesentlich von ihrer Fähigkeit zu flexiblem Eingehen auf veränderte Umstände ab. Diese Fähigkeit wiederum verweist auf die inneren Entwicklungspotentiale und die relative Offenheit einer Gruppe. Äußerer Druck und Benachteiligung jedoch können die Bereitschaft zur Öffnung einer

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Gruppe vermindern und ihren Hang zu innerer Geschlossenheit verstärken. Auf diese Weise droht die Gruppe den Anschluß an die 'äußere' Entwicklung zu verlieren. Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Kriterien für eine Förderung personaler Autonomie unter 'multikulturellen' Vorzeichen herauslesen: Erstens müssen alle Lebensformen ein Mindestmaß an äußerer Akzeptanz genießen, zweitens müssen alle ihren Angehörigen etwas mitzugeben haben, was diese zur eigenständigen Orientierung in der Welt befähigt. Das zweite Kriterium ist von dem ersten gewiß nicht unabhängig. Eine Gesellschaft, die eine bestimmte Lebensform als minderwertig ansieht, verwehrt Menschen die Möglichkeit, frei von Scham am Leben dieser Gesellschaft teilzunehmen. Zumindest sind diese Menschen einem erhöhten Druck zur Konversion oder zur Verleugnung ihres Herkunftskontextes ausgesetzt. Größere Schwierigkeiten wirft das zweite Kriterium auf, wenn wir es für sich betrachten. Offenbar hängt es nicht nur von einer Mehrheitsgesellschafit und ihrem politischen System ab, ob die äußere Welt dem von einer Lebensform bereitgestellten Orientierungsrahmen 'entgegenkommt'. Eine besonders sektiererische oder unbewegliche Lebensform wird Menschen hervorbringen, die in einer dynamischen Gesellschaft auch ohne fremde Schuld auf der Strecke zu bleiben drohen. Allenfalls läge die 'Verantwortung' bei den anonymen Verhältnissen, die Ausdruck und Resultat der gesellschaftlichen Dynamik wären. Eine solche Dynamik aber läßt sich häufig unter zwei Gesichtspunkten betrachten, die gegensätzliche normative Bewertungen nahelegen: Sie läßt sich sowohl auf die 'strukturelle Gewalt' systemischer Imperative als auch auf eine Vielzahl legitimer individueller Entscheidungen (als Folgewirkungen) zurückführen. Offenbar ist es zum Teil eine theoriepolitische Frage, welche Lesart jemand bevorzugt. Mit der folgenden Überlegung möchte ich andeuten, wie eine moralphilosophische Antwort ausfallen könnte. Lebensformen zählen zu den allgemeinen Ressourcen, weil und soweit sie Menschen die eigenständige Orientierung in der Welt ermöglichen. Ihre moralphilosophische Rechtfertigung ergibt sich aus dieser Um-zu-Relation zwischen gemeinschaftlichen Kontexten und selbstgewählten Lebensgütern. Lebensformen dürfen Menschen von der Richtigkeit eines gemeinschaftlichen Gutes - oder des Gutes einer Gemeinschaft - zu überzeugen versuchen, doch sie dürfen sie nicht zur Gefolgschaft zwingen. Wenn sich einmal nicht mehr genügend Menschen finden, die sich an den Sinnangeboten einer Lebensform orientieren, so ist es zwecklos und mit der Freiheit von Personen unvereinbar, die Dauerhaftigkeit einer solchen Lebensform politisch garantieren zu wollen. Lebensformen können absterben, wenn sie den Menschen nicht mehr als wertvoll erscheinen. Gemeinschaftliche Kontexte müssen folglich für die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der aus ihnen hervorgegangenen Personen empfänglich sein (Green 1995). Zumindest müssen sie diesen Personen ein effektives Austrittsrecht zubilligen (Raz 1995; Galston 1995). Ob eine Person dieses Recht tatsächlich wahrnehmen kann, bemißt sich an ihrer Verfügung über allgemeine Ressourcen, von Tauschmitteln über Bildung und Informationen bis zu Selbstachtung und Handlungsfähigkeit. Zwar ist die Zugehörigkeit zu einer extern akzeptierten und intern integrierten Lebensform selbst ein Bestandteil

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dieser Liste, doch unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung einer personalen Lebensführung läßt sich keine Ressource gegen eine andere ausspielen. Eine Lebensform, die einige ihrer Angehörigen an der freien Entfaltung als Personen hinderte, wäre für diese Menschen kein Kontext der Wahl, sondern ein Käfig (Finkielkraut 1989: 109ff.). Das bedeutet zum Beispiel, daß keine Lebensform das Recht hat, jungen Mädchen den Zugang zu basaler Bildung zu verbauen oder ihnen wesentliche Informationen über ihre Lage vorzuenthalten. Andernfalls ließe sich der Anspruch dieser Lebensform auf externe Anerkennung nicht mit ihrer Bedeutung als allgemeine Ressource rechtfertigen. Der Begriff der Person erlaubt keine Abstufung zwischen männlichen und weiblichen Gemeinschaftsangehörigen hinsichtlich der Aussicht, ein selbstbestimmt gelingendes Leben zu führen. Gleichwohl ist die Integrität einer Lebensform ein schutzwürdiges Gut, weil und sofern diese Lebensform einen Orientierungsrahmen für die Entscheidungsfreiheit von Personen bereitstellt. Daher ist sie in gewisser Weise den einzelnen Wahlakten vorgeordnet. Dieser zunächst nur genetische Gesichtspunkt wird moralisch relevant, sobald eine Entscheidung - oder eine Summe von Entscheidungen - einen gemeinschaftlichen Ermöglichungsrahmen von Entscheidungen zu beschädigen droht. Stellen wir uns zur Verdeutlichung vor, daß ein Stück Land für eine Lebensform eine religiöse Bedeutung besitzt, auf der das Selbstverständnis dieser Lebensform in entscheidendem Maße beruht. Ihre Wahrnehmung des Landes verträgt sich nicht mit der Perspektive von Verkehrsplanern, Rohstoffjägern und Bodenspekulanten. In einem solchen Fall wäre es geboten, das Stück Land aus dem Fonds der verkäuflichen Güter herauszunehmen und der Lebensform ein gemeinschaftliches Recht auf die Kontrolle dieses Bodens zuzubilligen (Johnston 1995). Der Grund dafür ist, daß die Integrität einer Lebensform als allgemeine Ressource der Möglichkeit einer Aneignung spezifischer Ressourcen und Güter moralisch vorgeordnet ist. Das Ergebnis dieses Gedankenganges lautet, daß interne Beschränkungen des Zugangs zu allgemeinen Ressourcen im Namen der Erhaltung einer kollektiven Wertordnung unzulässig sind. Anders verhält es sich mit Schutzmaßnahmen gegen die Beschädigung oder Zerstörung einer Lebensform durch die Aneignung spezifischer Ressourcen oder Güter. In diesem Fall übertrumpft die Bedeutung der Lebensform als Kontext der Wahl die Freiheit zu einzelnen Wahlakten. Der anomische Zerfall einer Ordnung, der einige Individuen ihre Orientierungsfahigkeit verdanken, wäre ein so schwerwiegender Verlust, daß seine Abwendung auch gewisse Einschränkungen spezifischer Freiheiten rechtfertigt.17

Meine Unterscheidung ist nicht deckungsgleich mit derjenigen, die Kymlicka zwischen externer Protektion und interner Restriktion als möglichen Zwecken von Gruppenrechten getroffen hat. Kymlicka (1995) zufolge können Liberale den ersten Zweck akzeptieren, den zweiten nicht. Doch Maßnahmen wie das Verbot des Landverkaufs in Reservaten lassen sich unter beiden Gesichtspunkten lesen: Sie richten sich nicht nur gegen potentielle Landkäufer von außen, sondern auch gegen solche von innen; auch Angehörige der Gemeinschaft haben kein Recht, sich am

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Dieses Ergebnis ist allerdings zu glatt, um so wahr zu sein. Jedes leidlich erfolgreiche Bemühen um Gerechtigkeit kann auf den Niedergang von Lebensformen hinauslaufen, die ihren Angehörigen - und vielleicht nicht nur diesen - noch etwas Wertvolles mitzugeben hätten. Das liegt daran, daß keine soziale Regelung in ihren Auswirkungen auf die unterschiedlichen kulturellen Kontexte völlig neutral bleiben kann. Es gibt keine noch so gerechte soziale Welt, in der alle prinzipiell forderlichen Lebensformen einen Platz fanden: „Keine Gesellschaft kann alle Lebensformen in sich realisieren. Wir können uns in der Tat über den gewissermaßen begrenzten Raum sozialer Welten, insbesondere unserer eigenen, beklagen, und wir mögen einige der unausweichlichen Auswirkungen unserer Kultur und unserer Gesellschaftsstruktur bedauern. Aber wie Sir Isaiah Berlin seit langem vertritt (es ist eines seiner grundlegenden Themen), gibt es keine soziale Welt ohne Verluste, das heißt keine soziale Welt, die nicht einige Lebensformen ausschlösse, die auf ihre besondere Weise bestimmte grundlegende Werte verwirklichen. Jede Gesellschaft wird sich aufgrund ihrer Kultur und ihrer Institutionen mit einigen Lebensformen als unvereinbar erweisen" (Rawls 1994d: 382f.; Rawls bezieht sich auf Berlin 1978). Womöglich noch fundamentaler ist ein anderer Einwand: Wird hier nicht das Kriterium für das 'Förderliche' vom Modell liberaler Lebensformen abgelesen? Sollten wir Lebensformen wirklich einseitig als Kontexte der Wahl betrachten, obwohl dieser 'eurozentrische' Gesichtspunkt manchen Gemeinschaften ganz äußerlich sein dürfte? Sollten wir sie nicht umfassender als Kontexte der Identitätsbildung begreifen (Forst 1997)? Die Antwort ist ein entschiedenes sowohl als auch. Einerseits kann es im Lichte einer liberalen Theorie der autonomen Person natürlich nicht gleichgültig sein, in welchem Maße eine Lebensform die Autonomiefähigkeit ihrer Angehörigen fördert oder hemmt. Andererseits kommt alles darauf an, was wir unter einer Förderung von Autonomie verstehen: eine Maximierung von Wahlmöglichkeiten oder eine Unterstützung der Antwortfahigkeit. Im ersten Fall sind nichtliberale Lebensformen nichts weiter als Hindernisse auf dem Weg zu einer Welt, in der sich alle mündigen Menschen ihrer Selbstbestimmung erfreuen könnten. Von dieser Warte spricht grundsätzlich nichts gegen eine notfalls gewaltsame Auflösung 'repressiver' Lebensformen, etwa durch Trennung der Kinder von ihren Eltern. Von der Warte des Modells der Antwortfähigkeit hingegen wäre die wahrscheinliche Folge dieses Vorgehens eine Zerstörung von Parametern, auf die eine selbstbestimmte Lebensführung angewiesen ist. Die Antwortfähigkeit der Personen würde untergraben, wenn es nichts gäbe, worauf einzugehen sich für sie lohnte. Eben dies kennzeichnet Situationen der Anomie, der Auflösung oder lebensweltlichen Entwertung eingespielter Normgefüge. Im Zustand normativer Orientierungslosigkeit ermangeln die Menschen

Boden ihrer Vorfahren zu bereichern. Deshalb läßt sich Kymlickas Unterscheidung nicht in allen Fällen durchhalten.

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der Koordinaten für eine selbstbestimmte Lebensführung. Sie sind dann frei höchstens in dem ironischen Sinne, in dem Marx dieses Wort bisweilen gebraucht hat: los und ledig aller Mittel, der Voraussetzungen für echte Wahlfreiheit beraubt. Bereits eine Trennung der Kinder von ihren Eltern kann, wie die Erfahrung mit den geraubten Kindern australischer Aborigines lehrt, anomische Folgen zeitigen.18 Die Möglichkeit, mit den eigenen Eltern zu kommunizieren, sich mit ihren Vorstellungen und Vorgaben auseinanderzusetzen, ihrem Vorbild zu folgen oder es zu verwerfen, scheint für die allermeisten Menschen einen schwer verzichtbaren Bezugsrahmen der Selbstverständigung zu bilden. Man kann daher nicht einfach Kontexte der Wahl erzeugen, indem man Kontexte der Identitätsbildung zerstört. Das Modell der Antwortfähigkeit rückt damit zugleich die mögliche Tragik einer um Autonomie bemühten Politik in ein schärferes Licht: Im Angesicht offenkundig repressiver Herkunftsgemeinschaften scheinen wir häufig vor der Wahl zwischen einer Erhaltung tradierter Praktiken und ihrer anomischen Auflösung zu stehen. Beides aber würde die Möglichkeiten der Selbstbestimmung für zumindest einige Menschen vereiteln: Entweder die Parameter ihrer Lebensführung erlauben keine eigenständigen Urteile, Entscheidungen und Handlungen, oder ihre 'Selbstbestimmung' läuft normativ ins Leere. Dieses Dilemma mag sich mit der Zeit und über eine Folge von mehreren Generationen zumindest abschwächen (ohne daß es dafür eine Garantie gibt); begrifflich und pragmatisch wichtig ist aber, daß eine rücksichtslose Beseitigung von Hindernissen nicht unbedingt die Autonomie fordert, sondern manchmal nur lebensgeschichtlich verbrannte Erde hinterläßt.

In Australien wurden noch bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein viele Kinder von Aborigines gewaltsam von ihren Eltern getrennt. Amtliche 'Kinderschnapper' verschleppten insgesamt wohl hunderttausend Kinder, gaben ihnen neue Namen und sorgten dafür, daß diese Menschen mit ihren Eltern keinen Kontakt aufnehmen konnten. Auch wenn hier religiöses Eiferertum, Rassismus und echte Sorge um das Wohl vernachlässigter Reservatsbewohner eine schwer durchschaubare Mischung eingegangen sind, könnte auch ein irregeleitetes Autonomieverständnis in diese Praktiken hineingespielt haben: Waren nicht die traditionalen Lebensformen der Ureinwohner die reinsten Käfige aus Vorurteilen und verhinderter Bewegungsfreiheit? Doch was auch immer diese Politik motiviert haben mag, ihre Folgen sind desaströs: „Nur noch 20 Prozent der Entwurzelten sprechen eine der alten Sprachen. Und viele finden sich in einer europäischen Zivilisation einfach nicht zurecht. Sie haben Hemmungen, zu weißen Ärzten zu gehen, mit Europäern im Wartezimmer zu sitzen. In ihrer Ernährung überwiegt 'fast food', sie trinken literweise Alkohol oder süßliche Limonade, viele haben Übergewicht - und Diabetes, die bei farbigen Männern mehr als viermal so häufig ist wie bei Weißen" (FAZ, 8.6.1996). Aus der Sicht einer Betroffenen stellt sich das so dar: „Im Kopf dachten wir wie Weiße, sonst aber fühlten wir uns als Schwarze. Wir waren weder das eine noch das andere. In weißer Gesellschaft fanden wir uns nicht akzeptiert. Und mit den Aborigines konnten wir uns nicht identifizieren, weil wir unsere Traditionen verlernt hatten. Wir sind ganz einfach eine verlorene Generation von Kindern, ich weiß es, ich gehöre dazu" (FAZ, 3.3.1998). Diese verlorene Generation, so können wir auch sagen, ist um die angemessenen Parameter ihrer Lebensführung betrogen worden.

2. Allgemeine Ressourcen

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2.6 Einige Bemerkungen zur Binnenstruktur der Liste Die verschiedenen Ressourcen sind auf vielfaltige Weise miteinander verbunden. Zum Beispiel verhalten sich Handlungsfähigkeit und Selbstachtung komplementär zueinander, zumal diese gleichzeitig zu den psychischen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit zählt. Bildung und Informationen berühren und überschneiden sich mit Lebensformen. Zum einen stellen Lebensformen selber bestimmte Bildungsgüter und Informationen bereit, zum anderen liefern sie Kriterien für die Bewertung und Einordnung von Bestandteilen des Wissens. Selbst in Gesellschaften mit allgemeinem, die einzelnen kulturellen Kontexte übergreifendem Schulsystem erfahren die Heranwachsenden einen erheblichen Teil ihrer Ausbildung in den Gemeinschaften ihrer Herkunft. Andererseits können allgemeine Kenntnisse bestimmte Aspekte einer Herkunftsgemeinschaft in ein verändertes Licht rücken und zur Neubewertung von 'Üblichkeiten' nötigen19. Doch auch Selbstachtung und Wissen verweisen aufeinander: Wer besser über seine Situation und seine Chancen Bescheid weiß, hat mehr Grund zu einer selbstbewußten Orientierung in der Welt; er kann seine Gelegenheiten im doppelten Sinne des Wortes besser 'wahrnehmen'. Daher gilt auch umgekehrt: Selbstachtung ist eine Voraussetzung für die interessierte Teilnahme an der Welt. Ohne Selbstachtung kein Wille zum Wissen. Schließlich bedarf die Selbstachtung einer Verankerung in Lebensformen. Will Kymlicka (1989) zum Beispiel schlägt vor, kulturelle Zugehörigkeit in die Liste der Rawls'schen Grundgüter aufzunehmen, da sie zu den Ermöglichungsbedingungen von Selbstachtung gehöre. Dieser Gedanke läßt sich vor allem negatorisch nachvollziehen: Eine zerstörte oder herabgewürdigte Lebensform kann keine Quelle der Selbstachtung sein, da sich Personen nicht positiv mit einem solchen Kontext ihrer Sozialisation zu identifizieren vermögen. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1970: 21 f.) nahm sogar an, daß die Angehörigen einer diskriminierten Herkunftsgemeinschaft zur Verinnerlichung von abwertenden Fremdzuschreibungen und damit zur Ausbildung einer „negativen Identität" neigten. Der gleiche Gedanke findet sich in Frantz Fanons antikolonialem Manifest Die Verdammten dieser Erde (1966). Fanon ging so weit zu glauben, daß die Unterdrückten erst im Akt der Tötung ihrer Unterdrücker zu einem affirmativen

Martha C. Nussbaum erwähnt eine Umfrage unter Witwern und Witwen in Indien, die um eine Einschätzung ihres jeweiligen Gesundheitszustandes gebeten wurden. Während die Witwer zunächst voller Klagen waren, schätzten die Witwen ihren Gesundheitszustand meist als gut ein. Eine medizinische Untersuchung ergab jedoch, daß die Witwen sehr viel häufiger als die männlichen Befragten an Krankheiten infolge von Mangelernährung litten. Nach einigen Jahren der 'Bewußtseinsbildung' wurde die Umfrage wiederholt. Jetzt zeigten sich die Frauen sehr viel unzufriedener mit ihrem Gesundheitszustand, obwohl ihre objektive medizinische Situation gleich geblieben war. Nussbaum kommentiert diese Wandlung aus der Sicht eines aristotelischen Essentialismus: „Ihre [der Witwen; B.L.] Wünsche und Erwartungen stimmten nunmehr besser mit der Information darüber überein, wie ein gedeihliches Leben aussehen könnte. Sie wissen nun, welche Funktionen ihnen fehlen" (Nussbaum 1993: 348).

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Verständnis ihrer selbst als handlungsfähige Personen gelangen könnten (vgl. auch Sartre 1988). Aus diesen Andeutungen ergibt sich, daß die Selbstachtung unter den allgemeinen Ressourcen wohl die voraussetzungsvollste ist. Ihre 'Verteilung' verweist auf eine sehr komplexe Hintergrundstruktur an Bedingungen. Es ist diese Struktur, von der Rawls spricht, wenn er die sozialen Grundlagen der Selbstachtung als Grundgut bezeichnet. Sie umfassen die Gesamtheit der Faktoren, die Menschen ein Gefühl für ihre Personalität und für den Wert eigenständigen Urteilens und Handelns geben. Zu diesen Bedingungen gehören nicht die übrigen Ressourcen allein, doch spielen sie in jedem Fall eine tragende Rolle. Selbstachtung ist eine 'abhängige' Ressource; sie könnte nicht für sich stehen, da sie der stützenden Nachbarschaft anderer Ressourcen bedarf. Für diese Überlegung spricht, daß Selbstachtung die affektive Komponente der Handlungs- und Entscheidungsfahigkeit von Personen darstellt, deren materialer und kognitiver Ermöglichung die übrigen Ressourcen dienen. Diese bilden daher einen Bestandteil des größeren Hintergrundkontextes, aus dem die Selbstachtung erwächst. In diesen Hintergrundkontext fügen sich auch die allgemeinen Tauschmittel ein. Unter dem Gesichtspunkt der Handlungsermächtigung des Subjekts kommt ihnen eine herausragende Bedeutung zu, denn mit ihrem Besitz ist die grundsätzliche Erreichbarkeit aller spezifischen Ressourcen und Güter verbunden, die einen Tauschwert haben. Wer rechtmäßig über allgemeine Tauschmittel verfügt, erfährt zugleich Anerkennung als vertragsfähige Person. Dieser Sachverhalt stützt unter normalen Umständen auch die Selbstachtung. Neben solchen gegenseitigen Ergänzungen gibt es auch bedeutende Differenzen zwischen den Ressourcen. Auf manche von ihnen bin ich im Abschnitt über Lebensformen bereits beiläufig eingegangen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im folgenden einige wichtige Unterschiede erwähnt werden, die sich einem vergleichenden Blick auf zwei recht unterschiedliche Ressourcen, Geld und Selbstachtung, geradezu aufdrängen. Zunächst bildet Geld das Paradigma einer teilbaren Ressource. Selbstachtung hingegen ist ein Selbstverhältnis von Personen; sie kann daher als solche weder mit anderen geteilt noch von der jeweiligen Person abgelöst werden. Im Falle des Geldes läßt sich ein bestimmtes Verteilungsmuster intentional herstellen, während Selbstachtung nur als Folgewirkung oder Begleiterscheinung anderer Praktiken gefördert werden kann - das verbindet sie mit der Handlungsfähigkeit und den Kontexten unserer Sozialisation. Geld ist daher ein möglicher und naheliegender Gegenstand der Verteilung, während Selbstachtung nur als einer ihrer Bezugspunkte in Betracht kommt. Geld ist in den meisten Fällen ein instrumentelles Gut, während Selbstachtung eine psychische Grundlage eigenständigen Urteilens und Handelns darstellt, deren Bedeutung vielleicht erst in Situationen klinischer Abweichung zutage tritt. Im positiven Fall würde sich demnach die Selbstachtung gar nicht als solche bemerkbar machen, sie käme nur modal, in der Art und Weise eines jeweiligen Selbst- und Weltbezuges, zur Geltung. Das spricht übrigens sowohl für eine mögliche Parallele zwischen Selbstachtung und Tauschmitteln als auch für einen dieser Parallele zugrundeliegenden Gegensatz. Es scheint schwer vorstellbar, Geld oder Selbstachtung auch um ihrer selbst willen, als in-

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trinische Werte, erwerben und pflegen zu wollen. Eine Lebensform kann zum sinngebenden Mittelpunkt einer selbstbestimmten Lebensführung avancieren, ebenso die Förderung der körperlichen Fitneß oder der Erwerb von Bildung und sogar die Erschließung immer neuer Quellen von Informationen. Im Falle von Geld oder Lebensformen jedoch mutet die gleiche Vorstellung eigentümlich fetischistisch am (im zweiten Fall können wir vielleicht von einem 'therapeutischen' Fetischismus sprechen). Für das Geld läßt sich dies leicht einsehen. Sein Wert als Tauschmittel beruht gerade darauf, daß niemand es als Selbstzweck schätzt, aber alle mit seiner Hilfe erlangen können, was sie für ein Leben nach ihren selbstgewählten Vorstellungen zu benötigen glauben. Noch wer eine strikte Liquiditätspräferenz verfolgt, tut dies gewöhnlich nicht, um wie Dagobert Duck in seinem Geld baden zu können, sondern aus einer pessimistischen Risikoeinschätzung heraus: Gerade weil man das Geld nicht um seiner selbst willen gebrauchen kann, kann man vielleicht nicht wissen, wozu man es noch gebrauchen kann. Auch ein ausgeprägter Hang zur Geldhortung ist daher kein hinreichendes Indiz für eine Verkehrung von Mittel und Zweck des Tausches. Etwas ähnliches scheint für das positive Selbstverhältnis der Person zu gelten. Bereits die Selbstwertschätzung taugt nicht zum direkten Zweck menschlichen Perfektionsstrebens. Zwar steht sie mit den Lebensgütern auf ein und derselben Stufe, aber nur als ihr psychisches Korrelat. Wer seine Selbstwertschätzung aufbessern will, muß daher den Weg der Bezugnahme auf (andere) Werte beschreiten, und dieses Vorgehen ist gerade kein bloßer Umweg zum eigentlichen Ziel eines gelingenden Selbstverhältnisses.20 Nur im und über den - gewöhnlich intersubjektiv gestützten - Glauben an den Wert einer Lebenskonzeption nämlich erschließt sich der Person ihre Selbstwertschätzung. Im Unterschied dazu trägt und stützt die Selbstachtung als allgemeine Ressource das Handlungs-, Urteils- und Entscheidungsvermögen autonomer Personen als solches. Auch sie aber ist als psychisches Korrelat an die Entfaltung der von ihr geforderten Fähigkeiten gebunden. Mag ich nun auch die Freiheit zum eigenen Urteil und zur Verfolgung selbstgesetzter Ziele um ihrer selbst willen schätzen, so geht es mir doch nicht im gleichen Sinne um meine Selbstachtung. Diese scheint vielmehr mit dem 'Worumwillen' der Existenz im Modus der Autonomie überhaupt verknüpft zu sein: Sie greift gleichsam durch jede besondere selbstbestimmte Zielorientierung immer schon hindurch. Wann immer wir etwas bestimmtes wollen und zielbewußt herbeiführen, tritt mit diesem Wollen und Handeln unsere wie immer rudimentäre Selbstachtung zutage. Darin besteht nun auch die angesprochene, der oberflächlichen Analogie zugrundeliegende Differenz zum Geld: Geld ist kein sinnvoller Selbstzweck, weil es das prototypische Tauschmittel ist, Selbstachtung ist kein sinnvoller Selbstzweck, weil sie die prototypische Hintergrundbedingung einer auf selbstzweckhafte Verwirklichung zielenden Lebensführung ist. Das erhellt zugleich ihre herausgehobene Bedeutung: Im

Selbst in der eigentümlich verselbständigten Therapiekultur scheint dazu zumindest ein Glaube an den intrinsischen Wert solcher Güter wie Ganzheitlichkeit, Authentizität, Reflexivität und rückhaltlose Aufrichtigkeit zu gehören.

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Modus der Selbstachtung affirmiert die Person ihr Personsein als solches. In ihm erfährt sich die Person, Kantisch gesprochen, stets auch als ihr eigener Zweck. Selbstachtung bildet gleichsam die affektive Reflexionsform des Status' eines autonomen Akteurs. Sie ist von einer Wertschätzung der eigenen Freiheiten und vom Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten nicht zu trennen. Wer aber zu solcher Wertschätzung gänzlich außerstande ist, kommt schwerlich als selbstbestimmter Mensch in Frage. Ohne Geld hingegen lassen sich immer noch wenigstens ärmliche Restformen einer autonomen Lebensführung durchhalten - jedenfalls solange, wie der Grad der Abhängigkeit und die Scham über das eigene Erscheinungsbild die Selbstachtung nicht untergraben. Dann aber bildet diese und nicht die monetäre Ausstattung den definitiv begrenzenden Faktor. Verallgemeinern wir diese Betrachtung, so liegt es nahe, der Selbstachtung eine besondere Stellung in der Liste allgemeiner Ressourcen einzuräumen. Sie ist bestimmt als Selbstverhältnis einer Person, die sich als solche anerkannt weiß; auch ist sie kein bloßes Mittel, das die Anzahl unserer Optionen vermehrt, sondern eine unverzichtbare Hintergrundvoraussetzung für eine autonome Lebensführung überhaupt. Von allen anderen Ressourcen schließlich unterscheidet sie ein umfassender Bezug auf den Begriff des selbstbestimmten Akteurs: Ihre basale Bedeutung erstreckt sich ebenso auf die Überlegungs- wie auf die Handlungsdimension von Autonomie. Die übrigen allgemeinen Ressourcen lassen sich funktional eher der einen oder der anderen Seite dieser Unterscheidung zuordnen. Bildung und Informationen eröffnen primär die Möglichkeit eines qualifizierten Erkennens und Abwägens von Optionen. Lebensformen werden zu Ressourcen vor allem in ihrer Eigenschaft als Kontexte der Bedeutung. Die Vorzüge des Geldes und das Erfordernis der Handlungsfähigkeit hingegen verweisen in erster Linie auf die praktische Seite der Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Diese Dominanz je eines Gesichtspunktes fehlt im Falle der Selbstachtung. Sie ist gleichermaßen unabdingbar im Prozeß der Urteilsbildung wie in dem des Handelns. - In Kapitel VI werde ich aus diesen Überlegungen den Schluß ziehen, die Selbstachtung als zentrale Bezugsgröße der Bedürfnisgleichheit einzuführen.

3. Ressourcen und Grundgüter Meine Liste umfaßt folglich sowohl teilbare als auch unteilbare Ressourcen, sowohl Mittel im engeren (Instrumente) als auch im weiteren Sinne (Hindergrundbedingungen), sowohl mögliche Gegenstände als auch mögliche Bezugspunkte der Distribution, sowohl schlechthin unverzichtbare als auch allgemein hilfreiche Dinge. Diese Heterogenität teilt sie mit der Liste der Grundgüter von John Rawls, in der ja ebenfalls neben direkten Gegenständen der Verteilung wie Einkommen und Vermögen auch die Selbstachtung vorkommt, und zwar wiederum als der wichtigste Bezugspunkt für eine (faire) Verteilung überhaupt. Beide Listen bringen folglich ein um unteilbare und personeninterne Faktoren erweitertes Verständnis von distributiver Gerechtigkeit zum Ausdruck.

3. Ressourcen und Grundgüter

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Und wie mein Bündel aus allgemeinen Ressourcen, so beruhen auch die Grundgüter des späteren Rawls auf einem Begriff der autonomen Person. Die Einschränkung, daß dieser Begriff politisch und nicht ethisch sei, daß er kein philosophisch 'allgemeines' Verständnis menschlicher Selbstbestimmung impliziere, habe ich in Kapitel II zurückgewiesen. Damit hängt zusammen, daß die Liste von Rawls auch auf ein höchstrangiges Interesse an der Ausbildung und Pflege des Gerechtigkeitssinnes, also auf ein im engeren Sinne moralisches Vermögen, abgestimmt ist. Dieser Gesichtspunkt entfällt im Falle der allgemeinen Ressourcen. Die autonome Person, von der ich ausgehe, ist am selbstbestimmten Gelingen ihres Lebens interessiert, wobei sie zugleich weiß, daß ihr Leben nur als selbstbestimmtes wirklich gelingen kann. Unter diesem ethischen Leitaspekt ist die mögliche Selbstbindung an Grundsätze der Moral begrifflich kontingent; sie hat folglich keinen Einfluß auf die Zusammenstellung der Liste allgemeiner Ressourcen. Einen solchen Einfluß vermag ich freilich auch im Falle der Rawls'schen Grundgüter nicht zu erkennen: Keiner der darin aufgelisteten Punkte ist ausschließlich oder auch nur konzeptionell vorrangig mit einer moralischen Orientierung verknüpft, wenn auch natürlich keiner eine solche Orientierung ausschließen oder auch nur erschweren muß. Das aber hat der Rawls'sehe Vorschlag wiederum mit dem meinen gemeinsam. Gleichwohl gibt es drei Unterschiede, auf die ich in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Wichtigkeit jeweils knapp eingehen möchte. Sie betreffen die Bezeichnung der Rawls'schen Liste (a), ihre Ergänzungsbedürftigkeit (b) und die Stellung der Grundrechte (c). (a) In funktionaler Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen 'Grundgütern' und 'allgemeinen Ressourcen'. Ich ziehe die zweite Bezeichnung vor, weil sie die Um-zuRelation zwischen Mitteln und Zielen hervorhebt. Den Ausdruck 'Güter' beschränke ich hingegen auf Gegenstände oder Zustände, die von Personen zumindest auch um ihrer selbst willen geschätzt werden. Allgemeine Ressourcen sind diejenigen - mit Rawls gesagt - „allgemein dienlichen Mittel", die in einer Um-zu-Relation nicht zu spezifischen Vorhaben oder Gütern, sondern zu dem übergreifenden 'Gut' eines selbstbestimmt gelingenden Lebens stehen. Im weiteren Sinne mag man nun alle Gegenstände oder Zustände, die man wollen und wertschätzen kann, als Güter bezeichnen. Weil das in jedem Fall auch für die Dinge und Hintergrundbedingungen gilt, von denen dieses Kapitel handelt, mögen manche den Ausdruck 'Grundgüter' der Rede von 'allgemeinen Ressourcen' vorziehen. Der erste Ausdruck legt allerdings das Mißverständnis nahe, er bezeichne besonders wesentliche Güter. Gemeint ist jedoch, daß die Grundgüter die allgemeinsten Güter sind, da alle Personen, was immer sie sonst wollen, an ihrem Besitz oder wenigstens an ihrer Zugänglichkeit interessiert sein sollten. In dieser entscheidenden Hinsicht gleichen sie den allgemeinen Ressourcen. (b) Wichtiger als diese terminologische Frage ist der zweite Punkt. Auch die Rawls'sche Liste verrät, wie schon angedeutet, ein erweitertes Distributionsverständnis, das sich nicht nur auf quantifizierbare und unmittelbar verteilungsfähige Gegenstände erstreckt, sondern auch auf qualitative Güter oder Hintergrundbedingungen wie (die so-

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Kapitel IV. Die Ressourcen der Person

zialen Grundlagen der) Selbstachtung.21 Um so erstaunlicher ist, daß Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit (1979) alle 'natürlichen' Güter wie Gesundheit und Lebenskraft aus der Liste ausschließt. Seine Begründung, daß sie von der sozialen Grundstruktur „nur mittelbar beeinflußt" werden (ebd.: 83), überzeugt nicht, da dies auch für die Selbstachtung gilt. Nun wirft die Untrennbarkeit von Talenten und persönlichen Präferenzen in der Tat besondere verteilungstheoretische Schwierigkeiten auf, die ich in Abschnitt VII: 2.4 diskutieren möchte. Der Ausschluß der Gesundheit jedoch erzeugt, wie Dworkin (1981: 339) und Kymlicka (1990: 71) gezeigt haben, ein ernstes Problem. Bekanntlich sieht das Differenzprinzip vor, daß eine Verteilung materieller Güter gerecht ist, wenn sie den am meisten Benachteiligten den größten Vorteil verschafft. Dieser Vorteil bemißt sich an der Verfügung über Grundgüter. Da die betreffende Liste keine körperlichen und geistigen Eigenschaften einschließt, werden die verteilungsrelevanten Benachteiligungen ohne Rücksicht auf mögliche Kompensationen für Krankheiten und Behinderungen bestimmt. Zwei Menschen mit gleichem Einkommen und Vermögen stehen nach Rawls auf der gleichen Stufe der Ausstattung mit Grundgütern, auch wenn der eine teure Arzneimittel benötigt, während die andere die gleiche Summe bei Feinkost Käfer verjubeln kann. Eine solche Absurdität ließe sich durch die Berücksichtigung der Handlungsfähigkeit in der Liste der Grundgüter ausschließen.22 Eine weitere Ressource, die Rawls vernachlässigt, ist die Zugehörigkeit zu einer intakten Lebensform. Was diesen Punkt betrifft, erinnere ich an Kymlickas Argument, daß Lebensformen zu den sozialen Grundlagen der Selbstachtung zählen, also aus immanenten Gründen in der Rawls'sehen Liste enthalten sein sollten. Zugleich ließen sich auf diese Weise auch stärker gemeinschafitsbezogene Konzeptionen des Guten mit der Grundgüterliste vereinbaren, die für sich genommen einen stark individualistischen bias zu haben scheint. Das jedenfalls ist die Ansicht von Richard J. Arneson (1990a: 432): „Kommunalistische" Vorstellungen vom Guten erforderten ein höheres Maß an intersubjektiver Koordination und seien deshalb unter sonst gleichbleibenden Umständen Ich übergehe im folgenden zwei Grundgüter, die sich in der Rawls'schen Liste finden: „Freizügigkeit und freie Berufswahl" sowie „mit verantwortungsvollen Ämtern und Positionen verbundene Befugnisse und Vorrechte". Das erste Grundgut zählt in meinem Verständnis zu den Freiheitsrechten (die ich nachfolgend von allgemeinen Ressourcen unterscheide), und das zweite Grundgut steht bereits für eine recht spezielle Vorstellung vom guten Leben: Wer verantwortungsvolle Ämter anstrebt, will Karriere machen. Auf dieses vermeintliche Grundgut werde ich zurückkommen, wenn ich den Grundsatz der substantiellen Chancengleichheit diskutiere (auch Rawls möchte die Verteilung von Ämtern nach dem Grundsatz der „fairen Chancengleichheit" geregelt wissen, so daß sich hier eine gewisse Parallele ergibt). An einer Stelle deutet Rawls an, daß sich die Liste der Grundgüter behutsam erweitern ließe, so daß sie „sogar bestimmte mentale Zustände, etwa die Abwesenheit körperlicher Schmerzen" enthielte (Rawls 1994d: 372). Allerdings sollte jede Erweiterung mit den einschränkenden Bedingungen der Einfachheit und der Verfügbarkeit von Informationen rechnen. D'accord! Doch es scheint mir nicht einfacher, sich über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung zu verständigen als über das Bedürfnis eines Schmerzpatienten nach schmerzstillenden Mitteln.

3. Ressourcen und Grundgüter

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mit höheren Transaktionskosten verknüpft; zudem spiele häufig der Wunsch, die eigenen Werte an zukünftige Generationen und vor allem an die eigenen Kinder weiterzugeben, eine herausragende Rolle. Beide Schwierigkeiten ließen sich durch Einfügung von Lebensformen in die Liste allgemeiner Resourcen zwar nicht restlos ausräumen, aber doch abmildern: Wir hätten einen gerechtigkeitstheoretischen Grund, die versehrbare Infrastruktur von Herkunftsgemeinschaften zu schützen und in manchen Fällen auch durch äußere Hilfestellung zu stabilisieren; und wir wären angehalten, für faire Sozialisationsbedingungen zu sorgen. (c) Im Unterschied zu mir nimmt Rawls die Grundrechte in seine Liste auf. Gegen diesen Punkt wendet Habermas (1992: 505f.; 1996: 71) ein, daß Rechte keine distributionsfahigen Güter seien, da sie nicht besessen und konsumiert werden könnten. Habermas bekräftigt damit ein Argument aus Iris Marion Youngs fundamentaler Kritik am „Distributionsparadigma" : „Rights are not fruitfully conceived as posessions. Rights are relationships, not things; they are institutionally defined rules specifying what people can do in relation to one another. Rights refer to doing more than having, to social relationships that enable or constrain action" (Young 1989: 25). Nun haben eine ganze Reihe von - individuellen und kollektiven - Gütern mehr mit Sein als mit Haben, mehr mit Handeln als mit Horten zu tun. Und selbst der Unterschied zwischen Gütern, die man in der Tasche tragen kann, und solchen, deren Bedeutung nur im Raum sozialer Interaktionen zutage tritt, ist häufig weniger grundsätzlich, als Young und Habermas nahelegen. Nicht jedes teilbare Gut eignet sich zum privaten Verzehr; auch der Wert von individuell verfugbaren Gütern kann ganz oder teilweise in sozialen Beziehungen gründen. Das beste Beispiel ist Geld: Sein jeweiliger Wert besteht im Verhältnis der monetären Gesamtnachfrage - dem Produkt aus Geldmenge und Geldumlaufgeschwindigkeit - zur Menge der angebotenen Güter. Und es ist der Geldwert, nicht die bloße Anzahl an Scheinen, Blechstücken oder digitalen Ziffern, der Geld zu einem begehrten Gegenstand der Verteilung macht. Soweit, scheint es, beruht Youngs und Habermas' Einwand gegen die Einbeziehung von Rechten in Güterlisten auf einem verkürzten Verständnis von (ver)teilbaren Gütern. Rawls umgekehrt vertritt, wie auch seine Berücksichtigung der Selbstachtung zeigt, einen um immaterielle Güter und Hintergrundbedingungen erweiterten Distributionsansatz. Gleichwohl unterscheidet Rawls meines Erachtens nicht hinreichend zwischen Grundgütern und Rechten auf und zum Gebrauch von Grundgüter(n). Die Rechtsgleichheit als solche ist kein im Urzustand erst ausgehandeltes Ergebnis: Sie geht bereits aus der wechselseitigen Anerkennung moralischer Akteure als freie und gleiche hervor (Habermas 1992: 503f.; 1996: 71). Schon dieses intersubjektive Verhältnis konstituiert gleichursprünglich das basale Rechtsprinzip der gleichen Achtung und Berücksichtigung. Wie Dworkin (1990: 299ff.) gezeigt hat, kann man das Design des Rawls'sehen Urzustandes als Veranschaulichung dieses Rechtsprinzips verstehen. In seinem Rahmen spezifizieren die Parteien ihre grundlegenden Rechte, und sie einigen sich auf die Verteilung generalisierter Mittel.

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Kapitel IV. Die Ressourcen der Person

Im Lichte dieser Unterscheidung wird klar, daß und warum die Zuschreibung von Grundrechten keine Funktion der Klugheitskalküle rationaler Nutzenmaximierer sein kann, ohne ihren deontologischen Sinn zu verlieren. Die Rechtsgleichheit bringt das Anerkanntsein der Personen zum Ausdruck. Die Gleichverteilung der Rechte verweist direkt auf das zugrundeliegende Rechtsprinzip. Sie ist eine Funktion des moralischen Rahmens - bei Rawls: des Urzustandes - , nicht das Ergebnis eigeninteressierten Deliberierens in diesem Rahmen.23 Inhaltlich differenzieren sich die Rechte - vor allem - aus in bürgerliche Freiheitsrechte, in politische Teilnahmerechte und in soziale Rechte. Die politischen Rechte regeln unter anderem reflexiv die Bedingungen der Partizipation an öffentlichen Verfahren der Rechtserzeugung und Rechtsfortbildung. Anders als allgemeine Ressourcen beziehen sie sich von vorneherein auf eine gemeinschaftliche Praxis (vgl. Dworkin 1987a). Politische Rechte sind keine generalisierten Mittel und Hintergrundvoraussetzungen für beliebige Formen der persönlichen Verwirklichung; vielmehr verschaffen sie uns Freiräume und Gelegenheiten zur individuellen Teilnahme am kollektiven Unternehmen der gesellschaftlichen Selbsteinwirkung im Medium demokratischen Handelns. Sie bringen die positiven „Freiheiten der Alten" (Benjamin Constant) in der neuzeitlichen Form subjektiver Rechte zur Geltung. Bürgerliche Freiheitsrechte spezifizieren die Spielräume für autonome Verwirklichung, die allen Personen unter dem Gesichtspunkt der gleichen Freiheit eines jeden zustehen. Sie ergänzen die „Freiheiten der Alten" um den Schutz der modernen Freiheit zur 'privaten' Selbstbestimmung. Mit der Idee der Autonomie kommt der Begriff der Person ins Spiel und damit auch die Liste allgemeiner Ressourcen. Freiheitsrechte selber sind keine Ressourcen, sie sind Rechte zur selbstbestimmten Nutzung von Ressourcen. Sie bezeichnen, wie Dworkin (1987) sagt, eine Grundlinie (baseline) des jeweils zugelassenen Ressourceneinsatzes. Diesseits der Linie schützen sie den freien Gebrauch, den die Person im Lichte ihrer jeweiligen Lebenskonzeption von ihren Mitteln und Möglichkeiten macht. Aus diesem Grund ist es nicht sinnvoll, die Freiheitsrechte mit den Ressourcen auf eine Stufe zu stellen. Das gilt schließlich auch für soziale Rechte, die sich im Sinne des liberalen Personenbegriffs am besten als Rechte auf allgemeine Ressourcen verstehen lassen (erweitert um das 'kulturelle' Recht auf Mitgliedschaft in einer halbwegs intakten Lebensform).

Wie Thomas Pogge (1998) zeigt, kann Rawls nicht ausschließen, daß sich die Parteien im Urzustand auf Regelungen einigten, die unserem Rechtsstaatsverständnis widersprechen: Ihr rationales Eigeninteresse mag sie etwa zu einer Umkehr der Beweislast in Strafprozessen oder zur Androhung und Verhängung grob unverhältnismäßiger Strafen verleiten (Todesstrafe fur Trunkenheit am Steuer). Die Wurzel dieses Problems vermutet Pogge in einer zu konsequentialistischen Anlage der Rawls'schen Theorie: Die Bewertung sozialer Institutionen im Urzustand sei auschließlich „empfängerorientiert" und verfehle den deontischen Eigensinn der Grundrechte. Sie habe sich daher vom Utilitarismus nicht so weit entfernt, wie Rawls vermeint hatte. Mit Habermas können wir hinzufugen, daß sich die Nähe zum Utilitarismus aus der Angleichung von Rechten an distribuierbare Güter mit einer gewissen Folgerichtigkeit ergibt.

3. Ressourcen und Grundgüter

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Daher folge ich Habermas zwar nicht in jedem einzelnen Begründungsschritt, doch im Ergebnis: Rechte sind keine allgemeinen Ressourcen (bzw. Grundgüter). Sie regeln die Bedingungen der Teilnahme am demokratischen Prozeß der gesellschaftlichen Selbstgesetzgebung, sie verbürgen Ansprüche auf Ressourcen, sie stellen die Freiheit zu ihrem Gebrauch unter den Vorbehalt der Generalisierbarkeit und sie bilden eine „Schutzhülle" (Forst 1994: 131) für die Orientierung an Lebenszielen und sinngebenden Überzeugungen.

Teil II Gleichheit

Der ethische Liberalismus sieht eine interne Verbindung zwischen der Gerechtigkeit einer Grundordnung und der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger: Die Lebensqualität bildet die inhaltliche Hinsicht einer gerechten Verteilung. Die Ressourcentheorie ist ein Vorschlag zur näheren Bestimmung dieser Hinsicht unter dem leitenden Gesichtspunkt der personalen Autonomie: Sie stellt die generalisierte Zuschreibung von Verantwortlichkeit auf die materiale Grundlage einer Ausstattung aller Personen mit allgemein dienlichen Mitteln und Hintergrundvoraussetzungen fur eine selbstbestimmt gelingende Lebensführung. Von Gleichheit war im vorangegangenen Kapitel nicht zentral die Rede. Sie scheint aber wie von selbst ins Spiel zu kommen, sobald die Theorie von der ethischen auf die eigentlich moralische Ebene übergeht und sich mit der Frage nach der gerechten Verteilung befaßt. Wie schon Aristoteles, so gehen auch die meisten zeitgenössischen Philosophen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, daß eine Theorie der Gerechtigkeit zugleich eine Theorie der Gleichheit (bzw. eine egalitäre Theorie) zu sein habe. Sie befassen sich mit zumindest einer von zwei Fragen: nach der genauen Hinsicht und nach der Aggregierungsfunktion der Gleichheit (Pogge 1997: 3). Die erste Frage (equality of what? - Sen 1980) gilt dem materialen Bezugspunkt der Gleichheit. Hier sieht sich der Ressourcenansatz einer Reihe von wohlfahrtstheoretischen Einwänden ausgesetzt, die vor allem im Lichte eines ethischen Liberalismus prima facie überzeugend wirken. In Kapitel V möchte ich die Liste allgemeiner Ressourcen gegen einige dieser Einwände verteidigen und begründen, warum wir nicht gleiches Wohlergehen als solches, sondern lediglich gleichen Zugang zu den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens anstreben sollten. Dabei wird dem Begriff der Autonomie eine wesentliche Bedeutung zukommen. Theorien des Wohlergehens, so werde ich argumentieren, nehmen die Antwortfahigkeit mündiger Personen nicht ernst genug. Die Aggregierungsfunktion gibt an, wie ein interpersonelles Verteilungsmuster beschaffen sein muß, um als (hinreichend) egalitär zu gelten. Zu den wichtigsten Vorschlägen auf diesem Gebiet gehören die Befriedigung der Grundbedürfnisse, die Maximierung des Durchschnittsnutzens oder des Minimums ('Maximin') sowie strikte Gleichverteilung. Hinzu kommen 'historische' und rein prozeduralistische Ansätze (vgl. Nozick 1974; Young 1989), die allenfalls eine gleiche Ausgangsverteilung von

126 Rechten, Chancen oder Diskurspositionen anstreben, alle weiteren (Um-)Verteilungen jedoch von ergebnisoffenen Verfahren - der legitimen Übertragung von Eigentumstiteln, des fairen Kräftemessens oder einer möglichst herrschaftsfreien Verständigung abhängig machen wollen. Ich werde zwei Stufen der Gleichheit unterscheiden: Bedürfnisgleichheit (Kapitel VI) und Chancengleichheit (Kapitel VII). Auf der zweiten Stufe werde ich schließlich eine erweiterte (2) von einer substantiellen (1) Gleichheit der Chancen abheben. Zusammen sollen sie zumindest die Konturen einer liberalen Theorie der distributiven Gerechtigkeit ergeben. Das abschließende Kapitel (VIII) gibt einen knappen Ausblick auf die eher politischen Folgeprobleme eines liberalen Egalitarismus. Die systematisch erste Frage jedoch lautet: warum überhaupt Gleichheit? Auf diese Frage möchte ich in aller Kürze eine zweistufige Antwort geben. Die erste Stufe verweist auf die rechtsphilosophischen Grundlagen des Liberalismus: Jede plausible Theorie der Verteilung muß dem Rechtsprinzip der gleichen Achtung und Berücksichtigung gerecht werden. Unter der Bedingung moderner Staatlichkeit wird von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet, ein für alle gleichermaßen geltendes Gesetz gleichermaßen zu befolgen. Im legitimationstheoretischen Umkehrschluß heißt dies, daß alle Bürgerinnen und Bürger von 'ihrem' Staat gleichermaßen gute Gründe für eine loyale Gesetzesbefolgung verlangen können. Bis hierher scheint sich die Bezugnahme auf Gleichheit von selbst zu verstehen. Wir müssen Gleichheit nicht teleologisch, als intrinsischen Wert, um ihrer selbst willen schätzen, um zu einem starken Verständnis von bürgerschaftlicher Egalität zu gelangen (anders McKerlie 1996): Die Norm der Gleichheit ist in die Bedingungen politischer Legitimität unter posttraditionalen Vorzeichen selbst eingeschrieben. Sinnvoller Streit um das Gleichheitsprinzip kann erst auf einer zweiten Stufe aufkommen. Jetzt geht es um die Frage, was das Rechtsprinzip der gleichen Achtung und Berücksichtigung genau gebietet. Nur unter der Voraussetzung dieser Ebenentrennung wird etwa Dworkins (1986a; 1986b; 1996) berühmte Unterscheidung zwischen einer gleichen Behandlung und einer Behandlung als Gleiche(r) plausibel. Wie Dworkin zeigt, ist die zweite Norm die basale: Nicht immer gebietet der Grundsatz der gleichen Achtung und Berücksichtigung auch strikte Gleichbehandlung, während umgekehrt gilt: Die Forderung nach gleicher Behandlung folgt, wenn sie folgt, aus dem Prinzip der Behandlung aller als Gleiche. Der konservative Pappkamerad der 'Gleichmacherei' ist damit schon auf der Prinzipienebene verabschiedet. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung lassen sich auch naheliegende Mißverständnisse ausräumen. Harry S. Frankfurt (1987) etwa hält die Orientierung an Gleichheit für eine Form des Fetischismus: Aus der Empfangerperspektive sei nicht die Gleichheit einer Verteilung relevant, sondern allein der Grad der Befriedigung von Interessen. Im Idealfall sollte jeder erhalten, was ihm im Lichte der eigenen Vorstellung von einem guten Leben als ausreichend {sufficient) gilt. Dieser Wert übersteige die Ebene der Befriedigung elementarer Bedürfnisse, aber er bleibe unterhalb eines absoluten Sättigungsniveaus: Weder genüge es, daß eine Person nur eben über die Runden

127 kommt, noch müsse jede weitere Zuwendung unbedingt einen negativen Grenznutzen zur Folge haben (ebd.: 37f.). Entscheidend sei, daß der Person ein weiterer Zuwachs nicht mehr wirklich wichtig ist, so daß sie sagen kann: „Das sollte reichen". Genauere Auskünfte zu diesem Schwellenwert bleibt Frankfurt schuldig, aber deutlich wird in jedem Fall die Personenrelativität einer derartigen Verteilung: Was der einen Person zu genügen scheint, läßt die andere noch völlig unbefriedigt. An solchen interpersonellen Unterschieden ginge jede strikte Gleichverteilung vorbei. In diesem Zusammenhang kritisiert Frankfurt auch das unter anderem von Thomas Nagel (1994: 94f.) vertretene Theorem des fallenden Grenznutzens. Diesem Theorem zufolge kommt ein Zuwachs an übertragbaren Ressourcen den Ärmeren typischerweise in höherem Maße zugute als den Reicheren - eine Vermutung, die auf der Annahme einer hinreichenden Ähnlichkeit menschlicher Grundbedürfnisse und Wunschstrukturen beruht. Im Lichte der Formbarkeit menschlicher Präferenzordnungen allerdings verliere diese Annahme viel von ihrer Überzeugungskraft. Die fehlenden fünfzig Mark, welche einen Millionär am Erwerb eines Gemäldes von Kandinsky hindern, frustrieren den vermögenden Sammler vielleicht mehr als einen besonders genügsamen Armen die fehlenden fünfzig Mark zum Kauf eines neuen Pullovers. Aus eben diesem Grund hält Frankfurt auch utilitaristische Versuche der Rettung des Gleichheitsprimats für verfehlt: Unter Umständen mindere eine egalitäre Verteilung den Durchschnittsnutzen. Wie Robert Goodin (1987) zeigen kann, richtet sich Frankfurts Argument jedoch nicht gegen Gleichheit als solche, sondern gegen eine sehr spezielle Gleichheitsvorstellung: die Gleichverteilung von allgemeinen Tauschmitteln. Frankfurts Gleichheitsfetisch entpuppt sich als guter alter Geldfetisch. Allein eine Theorie der Ressourcengleichheit braucht sich von Frankfurts Einwänden beunruhigen zu lassen. Er selbst bevorzugt eine Variante der Wohlfahrtstheorien, mit denen ich mich im folgenden befassen werde. Diese aber bieten keine Alternative zu Gleichheit schlechthin, sondern eine bestimmte Vorstellung vom Gleichheitskriterium. Wohlfahrtstheorien bemessen die Gleichheit einer Verteilung an subjektiven Zuständen der Empfänger wie Glückseligkeit oder Wunscherfullung.1 In dieser Hinsicht, wie immer sie näher spezifiziert wird, verdienen alle Personen die gleiche Achtung und Berücksichtigung. Auch Frankfurts Kriterium der sufficiency macht hier keine Ausnahme: Gewiß verlangt dieses Kriterium nach ungleicher Verteilung von Geldmitteln, aber nur deshalb, weil Frankfurt an einer (hinreichenden) Gleichstellung der Verteilungsadressaten auf der Ziellinie subjektiver Befriedigung interessiert ist.

Wie Goodin zeigt, spielt dabei die Verteilungsrelation von 'Machtressourcen' wie Geld eine größere Rolle, als Frankfurt suggeriert: Bei gegebener Menge eines im Verhältnis zur Nachfrage begrenzten (knappen) Gutes ist der für mich erreichbare Anteil eine reine Funktion der relativen Kaufkraft der anderen Nachfrager.

Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen?

1. Gutes Befinden Wohlfahrtstheorien weisen den Vorschlag zurück, die sozialen (und kulturellen) Rechte als Rechte auf Ressourcen zu verstehen. Damit scheinen sie dem ethischen Liberalismus eher gerecht zu werden als mein eigener Ansatz. Geht es nicht auch diesem erklärtermaßen um das gute Leben, also um Wohlergehen? Sind Ressourcen nicht bloße Mittel zur Erreichung von Wohlergehen? Ihr vornehmster Zweck sollte doch die Förderung einer guten menschlichen Befindlichkeit sein. Diese Überlegung spricht dafür, Ressourcen zum Gegenstand der Verteilung zu erklären und Wohlergehen zu ihrer Hinsicht: Die Theorie der Ressourcen sagt, was verteilt werden sollte, die Theorie des Wohlergehens, woraufhin verteilt werden sollte. An Ressourcen liegt uns ja nur insofern, als sie Wohlergehen zumindest in unsere Reichweite rücken. Wollen wir diesen Vorschlag überprüfen, so müssen wir zunächst klären, was 'Wohlergehen' heißt. Vor allem zwei Vorschläge werden in der Literatur immer wieder diskutiert: Im einen Fall wird Wohlergehen an erfreulichen Bewußtseinszuständen abgelesen, im anderen Fall an der Erfüllung von Wünschen oder dem Erreichen von Zielen (vgl. Dworkin 1981a; Parfit 1984; Sen 1985; Griffin 1986; Cohen 1989).1 Empfindungstheorien des Wohlergehens orientieren sich allein an mentalen Zuständen. Ein prominentes Beispiel ist der Hedonismus, der Wohlergehen als Empfindung von Lust (im engeren oder weiteren Sinne des Wortes) versteht. Lust liegt vor, wenn ein psychischer Zustand den Wunsch nach seinem eigenen Bestehen erzeugt: „Verweile

Ich übergehe hier die sogenannten objektivistischen Theorien des Wohlergehens, weil umstritten ist, ob es sich dabei überhaupt um Wohlfahrtstheorien handelt (Cohen 1989: 909, Fn. 4). Solche Theorien nämlich treffen Aussagen über das menschliche Wohlergehen ungeachtet des faktischen Wollens der Menschen. Sie berufen sich „auf die Art, wie Menschen sind, gestützt von der Weigerung, die von Menschen ausgedrückten Wünsche als die grundlegende Ebene menschlichen Seins gelten zu lassen" (Annas 1996: 267). Sofern es sich dabei lediglich um Aussagen über die notwendigen Bedingungen oder die Form gelingenden Lebens handelt, sind alle formalen Theorien des Guten zugleich objektivistische Wohlfahrtstheorien; das gilt demnach auch für die Theorie allgemeiner Ressourcen. Sofern sie hingegen auch zu Konzeptionen ethischen Gelingens Stellung nehmen, fallen sie unter die antipaternalistische Kritik.

1. Gutes Befinden

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doch, oh Augenblick, du bist so schön!" Von allen Wunschtheorien des Guten unterscheidet sich dieser Vorschlag dadurch, daß er nicht bei den Wünschen der Person, sondern bei ihrem Befinden ansetzt·. Die Natur eines Zustandes geht hier dem Wunsch nach dem Zustand voraus, nicht umgekehrt. Peter Schaber (1998: 151 f.) hat deshalb die hedonistische Theorie als Spielart einer objektiven Theorie des Wohlergehens entschlüsselt - einer objektiven Theorie allerdings, deren Besonderheit in der ausschließlichen Bezugnahme auf die 'subjektive Welt' besteht. Es gibt ein berühmtes philosophisches Beispiel, an dem sich die kontraintuitiven Folgen einer hedonistischen Verkürzung unseres Glücksverständnisses veranschaulichen lassen: Robert Nozick (1974: 42ff.) hat eine fiktive Welt entworfen, in der sich Menschen über Elektroden im Gehirn an eine Glücksmaschine anschließen können, die sie unausgesetzt mit guten Gefühlen 'versorgt'. Diese Menschen empfinden Lust, und doch scheint etwas mit ihrem Wohlbefinden nicht zu stimmen. Was ihnen abgeht, ist der gelingende Austausch mit einer widerständigen Welt; was ihnen fehlt, ist die Erfahrung eines Glücks, das sich nur im wirklichen Vollzug des Lebens einstellen kann und das eben nicht in bloßen Gefühlen aufgeht. Das mindeste, was wir sagen können, ist, daß der Entscheidung für ein maschinell induziertes Glück eine recht exzentrische Glücksvorstellung zugrundeliegt. Nur unter dieser Voraussetzung könnte sich ein Mensch an der Maschine zugleich am Ziel seiner Wünsche wähnen. Mit dieser Überlegung aber verkehrt sich die Reihenfolge: Die Wünsche, nicht die Empfindungen sind jetzt die unabhängige Variable. Und diese Wünsche können auf alles Mögliche ausgehen, nicht nur auf angenehme psychische Zustände. Das Bizarre an Nozicks Beispiel besteht eben darin, daß hier das mentale Wohlsein als Wunschziel verabsolutiert wird. Soviel allerdings scheint an den hedonistischen Theorien richtig zu sein: Nur eine solche Wunscherfüllung kann zum Wohlbefinden beitragen, um die das Wunschsubjekt auch weiß: „What benefits the person must make some intrinsic difference in the person. Otherwise there would be nothing in it for him" (Kagan 1992: 186). Es genügt daher nicht, daß ich ρ will und ρ zugleich der Fall ist; entscheidend ist meine tatsächliche Einstellung zum Sachverhalt, 'daß p'. Zu dieser Einstellung wiederum gehören im Falle von Wünschen eine kognitive und eine emotive Komponente: Ob es tatsächlich mein Wunsch war, der da in Erfüllung gegangen ist, verraten mir nicht zuletzt meine Empfindungen. Läßt mich die Erfüllung eines Wunsches vollkommen kalt, so dürfte an meiner Präferenz etwas faul gewesen sein; ich habe dann rückwirkend Grund, an der Angemessenheit des Wunsches zu zweifeln und meine Wunschordnung in der relevanten Hinsicht zu überdenken. Wird dieser 'hedonistische' Aspekt allerdings berücksichtigt, so spricht alles für eine Wunschtheorie und gegen eine hedonistische Theorie des Wohlergehens.

130

Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen?

Wunschtheorien des Wohlergehens bemessen das Gelingen eines Lebens am Grad der Erfüllung von - gewichteten und rational ermittelten - Vorlieben,2 worin immer diese bestehen. Sie sind daher weitherziger als hedonistische Theorien und rechnen von Anbeginn mit einer möglichen Vielfalt menschlicher Präferenzordnungen. Aus diesem Grund haben sie in den meisten utilitaristischen Theorien das noch von Jeremy Bentham bevorzugte Kriterium des mentalen Wohlbefindens verdrängt. Benthams szientifische Hoffnung auf eine von unkalkulierbaren subjektiven Neigungen und Vorlieben unabhängige und gleichsam allgemein konvertierbare Glückswährung hat sich nicht erfüllt: Das vermeintlich streng objektive, von der menschlichen Natur beglaubigte Kriterium des Strebens nach einem Höchstmaß an angenehmen Empfindungen hat sich als lediglich ein Wunschaspekt neben oder unter anderen erwiesen. Benthams Glücksmaß läuft daher der utilitaristischen Leitvorstellung zuwider, einen jeden in der Nutzenkalkulation als Gleichen zu berücksichtigen. An der Ausgangsbedingung der gleichen Achtung und Berücksichtigung scheitert aber auch das nicht näher qualifizierte Kriterium der Wunscherfüllung oder Zielerreichung: jedoch nicht, weil es zu wenige, sondern weil es zu viele Wünsche zuläßt. Manche Menschen wünschen mit großer Dringlichkeit, daß andere Personen weniger Rechte oder Spielräume haben sollten als sie selbst; ihr Glück ist geradezu eine Funktion fremden Unglücks. Eine Berücksichtigung solcher externen Vorlieben würde augenscheinlich den Grundsatz der gleichen Achtung und Berücksichtigung verletzen. Die Befriedigung ungerechter Wünsche kann kein Ziel einer um Gerechtigkeit bemühten Politik sein. Rawls (1979: 49) und vor allem Dworkin (1990c: 379ff.) haben dieses Argument gegen den Utilitarismus gerichtet, doch Sen (1980: 211) sieht darin einen Einwand gegen jede Wohlfahrtstheorie der Gerechtigkeit. Nicht alle Wünsche, die sich nicht direkt auf das eigene Wohlergehen beziehen, sind inhärent ungerecht. Manche Wünsche gelten sogar der bestmöglichen Annäherung an Gerechtigkeit selbst. Nehmen wir an, Peter ist davon überzeugt, daß Wohlergehen der falsche Maßstab für gerechte Verteilung ist; sein ganzes Glück hängt davon ab, daß seine Mitmenschen endlich die Überlegenheit der Ressourcentheorie einsehen mögen. Die offizielle Politik aber orientiert sich an Gleichheit des Wohlergehens. Im Falle von Peter gerät sie deshalb ins Schleudern: Ihre Gleichheitsvorstellung gebietet ihr, dem unglücklichen Peter eine Kompensation zu gewähren. Es ist aber gerade diese Vorstellung, unter der Peter leidet. Was auch immer das Wohlfahrtsministerium tut, im Falle Peters scheint es das Falsche zu sein. Eine Lösung läge darin, lediglich solche Wünsche zu berücksichtigen, die sich direkt auf das eigene Wohlergehen beziehen. Nur selbstbezogene Präferenzen sollten als Gesichtspunkte der Beurteilung einer Verteilungssituation in Betracht kommen. Dieser Vorschlag ist allerdings nicht unproblematisch. Zum einen verletzt er den Grundsatz 2

Die meisten Wunschtheorien betrachten nur solche Wünsche als wahre Präferenzen, die aus einer rationalen Deliberation im Lichte aller erforderlichen Informationen hervorgegangen sind (vgl. Brandt 1979; Parfit 1984; Gauthier 1986; Arneson 1990; 1994; Fehige 1997).

1. Gutes Befinden

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der Gleichbehandlung, da das Wohlergehen einiger Menschen stärker von 'unpersönlichen' oder externen als von 'persönlichen' oder internen Vorlieben abhängt. Manche Menschen leiden weniger unter ihrer persönlichen Lage als unter einem äußeren Sachverhalt wie der Dominanz bestimmter politischer Vorstellungen oder der Widerlegung einer wissenschaftlichen Hypothese. Die Beschränkung auf selbstbezogene Vorlieben käme, wie leicht ersichtlich, vor allem den narzißtischen Zeitgenossen zugute. Zum anderen ist es nicht immer möglich, persönliche von unpersönlichen Vorlieben klar zu trennen. Manche persönlichen Vorlieben sind zum Beispiel eingefärbt von Vorurteilen. Die Vorliebe eines Rassisten für den Umgang mit auschließlich weißen Kollegen ist einerseits 'persönlich', da ihre Erfüllung nicht direkt von einer Schlechterstellung der Schwarzen abhängt. Andererseits aber beruht sie auf einer 'unpersönlichen' Überzeugung. Es wäre bizarr, jemanden für ein Wohlfahrtsdefizit zu entschädigen, das auf der Voraussetzung ungerechter Vorurteile fußt (Dworkin 1990c: 384f.).3 In unserem Beispiel gäbe das den schwarzen Kollegen sogar Grund, sich gedemütigt zu fühlen: Ihre bloße Anwesenheit gälte offiziell als moralisch erheblicher Nachteil. Daß diese Wertung keinen staatlichen Vorurteilen, sondern einer strikt empfängerorientierten Idee der Gerechtigkeit geschuldet wäre, dürfte an der demütigenden Sachlage aus Sicht der Schwarzen nichts ändern.4 Der wohl prominenteste Einwand gegen eine Gleichheit des Wohlergehens aber trifft auch solche Ansätze, die allein persönliche Vorlieben berücksichtigen. Er zielt auf die mögliche Ausbeutung der bescheideneren durch die unbescheideneren Zeitgenossen: Diese könnten straflos die teuersten Vorlieben ausbilden, weil ihnen für die zusätzlichen Schwierigkeiten der Bedürfnisbefriedigung in jedem Fall Kompensationen zustünden. Auf diese Weise würden sie aus den Anstrengungen anderer einen unfairen Vorteil ziehen. Nun wäre es im strikten Sinne irrrational, einen Wunsch allein in der Erwartung solcher Ausgleichszahlungen zu kultivieren: Soll eine gegebene Ressourcenmenge unter einer Gruppe von Personen nach dem Grundsatz der Gleichheit des Wohlergehens verteilt werden, so sinkt im Maße der Ausbildung teurer Vorlieben das Wohlfahrtsniveau jedes einzelnen Beteiligten (Roemer 1996: 241). Daraus folgt allerdings nicht, daß niemand auf die Idee kommen könnte, eine solche irrationale Entscheidung zu treffen, und so bleibt das Problem der Ausbeutung virulent: In jedem Fall

'Bizarr' muß in unserer Welt nicht unrealistisch heißen: „Die Richter eines Flensburger Amtsgerichts [haben] Touristen eine Ermäßigung des Reisepreises zugestanden, weil ihre Urlaubsfreude durch den Anblick von schwerstbehinderten Gästen im Hotelrestaurant getrübt worden sei" (Frankfurter Rundschau, 18.5.94). Konsequenterweise müßte das Wohlfahrtsministerium dann wiederum die Schwarzen für ihr Wohlfahrtsdefizit entschädigen. Aber diese Folgerung ginge an der Natur rassistischer - oder anderer vorurteilsgestützter - Demütigungen vorbei. Das einzige, was den Schwarzen Genugtuung verschaffen könnte, wäre eine ausdrückliche Zurückweisung der Schadensersatzforderungen ihres rassistischen Kollegen. Ihm müßte zugemutet werden, seine Präferenzen zu korrigieren. Nur so könnten die staatlichen Institutionen zugleich ihre eigene Bindung an die richtig verstandene Grundnorm der gleichen Achtung und Berücksichtigung unter Beweis stellen.

132

Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen?

nämlich widerspricht es der intuitiven Idee, daß die Menschen für die Folgekosten freiwilliger Entscheidungen selbst gerade zu stehen haben.

2. Aussichten und Umstände Für dieses Problem aber gibt es eine mit dem Wohlfahrtskriterium verträgliche Lösung. Sie besteht darin, die Gleichheit der Verteilung nicht an Wohlergehen als solchem, sondern an den Aussichten auf seine Erlangung abzulesen. Sind die Chancen zweier Personen, Frederik und Antje, zu einem bestimmten Zeitpunkt gleich, und entschließt sich daraufhin Frederik, an einem extrem riskanten Spiel teilzunehmen, so steht ihm im Falle eines Verlustes kein Ausgleich zu. Das gleiche gilt für Antje, wenn diese sich vornimmt, ihren gesamten Getränkebedarf mit Champagner zu decken. In beiden Fällen würden Abweichungen von der ursprünglichen Gleichverteilung in die Verantwortung der Personen fallen. Dabei ist vorausgesetzt, daß sowohl Frederik als auch Antje eine Wahl hatten. Beide haben sich dann die Folgekosten ihrer Entscheidungen selbst zuzuschreiben. Wollen wir die Aussichten zweier Personen vergleichen, so bietet es sich an, für jedes Individuum einen „Entscheidungsbaum" zu konstruieren (Arneson 1994: 340). Die Verästelung des Baumes veranschaulicht die Gesamtheit der im Laufe eines Lebens zugänglichen Wahlmöglichkeiten. Mit jedem Eintreten eines Entscheidungsergebnisses gewahrt das Individuum im Lichte seiner jeweiligen Präferenzen ein neues Spektrum an Optionen. Zwei Entscheidungsbäume sind äquivalent, wenn die Erwartungswerte auf allen 'Ästen' bei beiden Bäumen gleich sind. Das ist der Fall, wenn „der erwartete Wert der besten (= vernünftigsten), der zweit-besten, ...«-besten Wahl von Optionen bei allen der gleiche ist" (ebd.). Unter der Voraussetzung, daß es möglich ist, interpersonale Nutzenvergleiche anzustellen, erhalten wir ein entscheidungstheoretisches Kriterium für die Gleichheit der Chancen zur Erlangung von Wohlergehen.5 Als teure Vorlieben zählen diesem Vorschlag zufolge nur solche Präferenzen, für deren Verfolgung wir die Personen zu Recht verantwortlich machen können. Die vorausDas ist eine vereinfachte Zusammenfassung des Vorschlages von Arneson. Dieser geht außerdem davon aus, daß die beim Nutzenvergleich ausschlaggebenden Präferenzen die „zweitbesten" Neigungen der Personen sein sollten, sofern diese von den „erstbesten" abweichen. Die zweitbesten Präferenzen ergeben sich, wenn die Person ihre Vorlieben im Lichte aller verfügbaren Informationen und im Wissen um die Beharrlichkeit ihrer faktischen Wünsche abwägt. Effektiv äquivalent sind die Optionen zweier Personen jedoch nur, wenn außerdem eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: „1. die Optionen sind äquivalent, und die Menschen verfügen über die gleiche Fähigkeit, diese Optionen 'wahrzunehmen'; 2. die Optionen sind in der Weise nicht äquivalent, daß sie die unterschiedlichen Fähigkeiten zu ihrer Wahrnehmung genau ausgleichen; 3. die Optionen sind äquivalent, und die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen, sie wahrzunehmen, sind durch Gründe bedingt, für die die Individuen zu Recht selbst verantwortlich zu machen sind" (Arneson 1994: 341).

2. Aussichten und Umstände

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gesetzte Chancengleichheit gilt dabei als Bemessungsgrundlage: Wenn zwei Personen zunächst gleiche Aussichten auf die Erlangung von Wohlergehen haben, so bildet jede neuentwickelte Vorliebe, welche die Aussichten auf Befriedigung verschlechtert, eine teure Vorliebe. Doch dieser Maßstab ist kontraintuitiv, wie G.A. Cohen (1989: 925) zeigen kann:6 Die 'teuren' Vorlieben mancher Menschen nämlich sind immer noch billiger als die gewöhnlichen Vorlieben anderer. Hans zum Beispiel beginnt sein erwachsenes Leben mit einer günstigen 'Ressourcenumsatzrate': Er vermag zunächst mit einer unterdurchschnittlichen Ressourcenmenge ein durchschnittliches Maß an Glück zu realisieren. Nach der Lektüre von Hemingway jedoch verschlechtert sie sich rapide. Hans möchte jetzt unbedingt einem Stierkampf beiwohnen. Sein bisheriges Einkommen reicht nicht aus, um auch nur das durchschnittliche Niveau des Wohlergehens zu wahren. Andererseits benötigt er immer noch weniger Geld als die meisten anderen. Auch mit dem erforderlichen Zuschuß fur die Spanienreise verfugte er über ein unterdurchschnittliches Einkommen. Unter dem Gesichtspunkt der Chancen zur Erlangung von Wohlergehen scheint Hans gleichwohl nicht mit einer Unterstützung rechnen zu dürfen: Er hätte ja bei seinen vormaligen Präferenzen bleiben können. Sofern wir nicht annehmen, daß ihn die Hemingway-Lektüre zur Veränderung seiner Vorlieben kausal genötigt hat, machen wir ihn für die Ausbildung seines neuen Geschmacks verantwortlich. Damit scheint die Bedingung für eine teure Vorliebe erfüllt zu sein. Anders verhält es sich, wenn die Selbstveränderung infolge eines Ereignisses eingetreten ist, das sich der Kontrolle der Person entzieht. Vielleicht hat ja Hans seine Vorliebe für Stierkämpfe nur deshalb 'entdeckt', weil ihn zuvor ein Meteoritensplitter am Kopf traf. In diesem, aber auch nur in diesem Fall würde ihm Arneson (1990: 185) eine Kompensation für die gestiegenen Kosten der Bedürfnisbefriedigung zugestehen. Dem liegt ein Kriterium zugrunde, daß Arneson mit Cohen teilt:7 Beide sind der Ansicht, daß es prima facie ungerecht ist, wenn es Menschen schlechter geht, die keine freiwillige Entscheidung getroffen und keine vermeidbaren Fehler gemacht haben (Arneson 1994: 340; Cohen 1989: 922). Jeder Nachteil, der nicht in den Bereich der jeweiligen Eigenverantwortlichkeit fällt, begründet prinzipiell einen Ausgleichsanspruch. Das gilt für eine ungünstige Ressourcenausstattung ebenso wie für eine ungünstige

Das folgende Beispiel übernimmt Cohen von Dworkin (1981a: 228ff.). Cohen (1989; 1993) wählt eine etwas andere Hinsicht der Gleichheit als Arneson, nämlich den „Zugang zu Vorteilen" (access to advantage). Das Kriterium fur 'Vorteile' ist, wie Cohen konzediert, weniger klar als Arnesons Kriterium für Wohlergehen (die Erfüllung idealer zweitbester Präferenzen). Da Cohen jedoch auch Aspekte der Ressourcenausstattung als solche - ohne Bezug auf ihre möglichen Wohlfahrtseffekte - einbezieht, bevorzugt er eine offenere und stärker eklektische Version des Equalisandums. Den Ausdruck 'Zugang' zieht Cohen der Bezeichnung 'Chancen' vor, da er auch die tatsächlichen Kapazitäten der Personen und nicht nur ihre formalen Möglichkeiten berücksichtigt wissen möchte. Das ist jedoch, soweit ich sehe, keine echte Differenz zu Arneson, der ebenfalls die effektiven Freiheiten der Personen im Sinn hat.

134

Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen?

Nutzenfunktion (bzw. Ressourcenumsatzrate).8 Das ganze Gewicht dieses Kriteriums liegt auf einem strikten Verständnis von Verantwortlichkeit: Diese ist koextensiv mit dem Kontrollvermögen einer Person. Der Einfachheit halber schlägt Arneson allerdings vor, den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter als „kanonischen Moment" in der Ausbildung unserer Verantwortungsfähigkeit anzusehen (Arneson 1990: 179). Alle Präferenzen, die eine Person in ihrer Kindheit erworben hat, entziehen sich genealogisch ihrer Kontrolle und sollten daher in die Ausgangsbestimmung ihrer Chancen einfließen. Hat ein Mensch in seinem Elternhaus eine Vorliebe ausgebildet, die sich später als teure Vorliebe erweist, so liegt ein grundsätzlich kompensationsbedürftiger Nachteil vor. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Vorliebe immer schon teuer war oder ob sie sich erst im Laufe der Zeit, infolge einer ungünstigen Marktentwicklung, verteuert hat. Auch im ersten Fall nämlich konnte das Kind seine Vorlieben nicht selbstverantwortlich auf die jeweiligen Schwierigkeiten der Wunscherfüllung abstimmen. Im zweiten Fall hingegen wäre auch der Erwachsene für den Kostenanstieg nicht verantwortlich zu machen. Angenommen, Ralf und Andrea beginnen ihr erwachsenes Leben mit äquivalenten Nutzenfunktionen. Die Kosten fur eine Befriedigung von Ralfs Vorliebe für Computerspiele entsprechen genau den Kosten für eine Befriedigung von Andreas Vorliebe für Fotosafaries (wir nehmen außerdem an, daß die beiden Vorlieben in den beiden Lebensplänen einen äquivalenten Rang einnehmen). Nach einem Jahr fuhrt ein verstärkter Konkurrenzdruck zu einem regelrechten Preisverfall auf dem Gebiet der Computerspiele, während sich nichts Entsprechendes im Segment der Fotosafaries ereignet. Nun steht Andreas Präferenz im Verhältnis zu der von Ralf als teure Vorliebe da, obwohl Andrea sich nicht unvernünftiger oder maßloser verhalten hat als Ralf. Natürlich erlaubt dieses Beispiel verschiedene Lesarten. Vielleicht verhindert eine oligopolistische Anbieterstruktur ein Fallen der Preise für Fotosafaries. In diesem Fall wäre es geboten, die Marktmacht der Anbieter zu brechen. Unter idealen Marktbedingungen allerdings entsprächen die Preisdifferenzen genau den unterschiedlichen Opportunitätskosten. Was spricht dagegen, die Preise nach dieser Maßgabe festzulegen d.h. dem idealen Markt zu überlassen - und die Marktteilnehmer mit eben den Kosten zu konfrontieren, die eine Verfolgung ihrer jeweiligen Präferenzen für andere und für die Gesellschaft als ganze mit sich bringt? Diese Frage führt uns zurück zum philosophischen Terrain des Streits um das angemessene Verantwortungsverständnis. Das Kriterium der Kontrollfähigkeit scheint insofern natürlich zu sein, als es die Zuschreibung von Verantwortung an die Voraussetzung kausaler Macht bindet (vgl. Abschnitt I: 1.3). Was hinter meinem Rücken und ohne mein wissentliches und willentliches Zutun eintritt, entzieht sich meiner Zuständigkeit. Hier machen auch die aggregier-

Ressourcen- und Wohlfahrtstheorie gingen ineinander über, wenn man absolut jeden wohlfahrtsrelevanten Faktor als 'verborgene' Ressource berücksichtigte. Damit aber gelangte man zu einer deterministischen Theorie der Person. Siehe dazu die Auseinandersetzung zwischen Roemer (1986) und Scanion (1986).

2. Aussichten und Umstände

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ten Handlungsfolgen auf Märkten keine Ausnahme: In arbeitsteiligen und Tausende von Markteilnehmern umfassenden Wirtschaftsgesellschaften ist der Kausalnexus zwischen einer einzelnen Handlung und dem Gesamtergebnis viel zu vermittelt, als daß hier eine personalisierende Zuschreibung am Platz wäre. Wir können Verantwortung jedoch auch bereichsspezifisch zuschreiben, und die basale Attribution dieser Art bezieht sich auf den 'Bereich' der je eigenen Lebensführung im ganzen. Mit dieser generalisierten Zuschreibung achten wir die Autonomiefähigkeit einer Person. Unsere Autonomie wiederum sollten wir als Antwortfahigkeit und nicht als Verfügung des Selbst über sich und seine Welt verstehen. Das öffnet uns den Blick für eine andere Lesart des Verantwortungskriteriums: Verantwortlich sind wir für solche Ziele, die wir im Modus der Weltoffenheit zu vertreten vermögen. Die Frage, wie wir zu diesen Zielen gelangt sind, spielt in den meisten Fällen nicht die entscheidende Rolle; ausschlaggebend ist vielmehr, wie wir uns jetzt zu ihnen verhalten (können). Ein Ziel, an dem ich in einem Horizont von Möglichkeiten festhalte, ist prima facie mein Ziel, und das Possessivpronomen indiziert meine Zuständigkeit. Wer immer zur eigenständigen Berücksichtigung neuer Erfahrungen und Einwände imstande ist, darf bis zum Beweis des Gegenteils als mündiger Akteur gelten: als Akteur, der für seine jeweiligen Ziele geradestehen kann. Einem solchen Akteur muten wir grundsätzlich zu, seine Ziele auch im Lichte ihrer Opportunitätskosten selbstverantwortlich zu vertreten oder, wenn ihm der Preis zu hoch erscheint, von ihnen abzurücken. Die Kosten der Zielverfolgung zählen zu den Erfahrungen, in deren Angesicht sich ein Lebensentwurf muß vertreten lassen. Eine Zuerkennung von Kompensationen käme hier schnell einer Aberkennung der Verantwortungsfähigkeit gleich. Aus diesem Grund besteht eine Spannung zwischen unserem Anspruch auf Anerkennung und dem Vorschlag von Cohen und Arneson, in jedem Einzelfall zu überprüfen, ob wir für die Formierung und Verfolgung einer Präferenz auch wirklich die volle Verantwortung tragen. Um noch einmal Christine M. Korsgaard (1993: 61) zu zitieren: „Judgements about whether others have freely chosen their conceptions of the good are not only ones we cannot very easily make, they are ones we ought not to make. Such judgements are disrespectful". Sie sind geeignet, das fragile Gewebe unserer moralischen Anerkennungsbeziehungen zu zerreißen. Cohens und Arnesons Problem gründet, wie ich zu zeigen versucht habe, in einem verkürzten Verantwortungsbegriff, der wiederum in der Wahl des falschen Autonomieverständnisses wurzelt. Das Kriterium der Kontrollfahigkeit ist konzeptuell mit dem Paradigma der Verfügung verschwistert. Es berücksichtigt nicht die vorgängige Verantwortung einer Person für den Bereich ihrer Lebensführung im ganzen - für einen Bereich, der nicht koextensiv ist mit dem Hoheitsgebiet unserer Selbst- und Weltverfügung. Nicht alle Parameter einer selbstverantwortlichen Lebensführung stehen aktuell oder prinzipiell zu unserer Verfügung; oft schreiben wir Verantwortung gerade im Angesicht von Unverfügbarem zu. Dabei setzen wir allerdings voraus, daß die Person auf die jeweiligen Vorgaben eigenständig zu antworten vermag. Der Wunsch, als eine solche antwortfähige Person anerkannt zu werden, verträgt sich nicht mit dem Wunsch

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Kapitel V. Die Hinsicht der Gleichheit: Ressourcen oder Wohlergehen?

nach umfassender Kompensation für jeden wohlfahrtsrelevanten 'Nachteil', wie ihn das Kriterium von Cohen und Arneson zum Ausdruck bringt. Das gilt bereits für solche Randbedingungen und Voraussetzungen einer Lebensführung, mit denen sich die Person nicht unbedingt identifiziert. Wer darunter leidet, daß sein Vater nicht als Chemieprofessor, sondern als Finanzbuchhalter sein Dasein fristet, verdient dafür auch dann keine Kompensation, wenn sein Leiden einen gewissen Schwellenwert der Ernsthaftigkeit überschreitet. In diesem Fall würden wir den Fehler eher bei der Person als in ihrer Welt vermuten, und wir würden die Person, solange wir sie in der relevanten Hinsicht für autonomiefähig halten, davon zu überzeugen versuchen, daß es Schlimmeres gibt als einen Vater bei der Finanzbuchhaltung. Im Unterschied zu solchen bloß vorgefundenen Faktoren sind handlungsbegleitende und erst recht handlungsleitende Parameter einer Lebensführung dadurch definiert, daß die Person sich mit ihnen und über sie identifiziert. Sie gehören nicht einfach zum Rahmen unserer Verantwortlichkeit, für sie übernehmen wir die Verantwortung. Dworkin (1981; 1990d) und Thomas Scanion (1986) sind deshalb der Ansicht, daß wir auf jeden Fall für den Umgang mit solchen Faktoren verantwortlich zeichnen, die wir in unser normatives Selbstverständnis aufgenommen haben. Wenn ich froh bin, einen bestimmten lebensgeschichtlichen Hintergrund oder ein bestimmtes Ziel zu haben, kann ich deren Auswirkungen auf meine Wohlfahrt nicht gleichzeitig wie Handicaps betrachten, für die mir Kompensationen zustehen. Scanion (1986) verdeutlicht dies am Beispiel eines gläubigen Menschen. Der Glaube dieses Menschen wirkt sich nachteilig auf die Nutzenfunktion aus; er veranlaßt unseren Mann zu einer regelrechten Kultivierung seines schlechten Gewissens. Die Bindung an diese bedrückende Religion erfolgte in der frühen Kindheit; im Sinne Cohens und Arnesons ist der Gläubige für seine Wahl also nicht verantwortlich. Nun steht er jedoch zu seinem Glauben, und die ungünstige Nutzenfunktion gilt ihm geradezu als Ausdruck seiner Identität: Wer glücklicher ist, so glaubt er, verschließt nur die Augen vor dem Elend der Welt. Scanion zufolge wäre es sinnwidrig, diesem Mann eine Kompensation zu gewähren: „Quite apart from the fact that it might destroy the point of religious burdens to have them lightened by social compensation, the idea that these burdens are grounds for such compensation (a form of bad luck) is incompatible with regarding them as matters of belief and conviction which one values and adheres to because one thinks them right" (ebd.: 117). Wie gefährlich es sein kann, die Konsequenzen einer Verfolgung existentieller Ziele mit Handicaps auf eine Stufe zu stellen, verdeutlicht ein Blick auf die Zweckbindung von Kompensationen. Für eine körperliche Lähmung steht mir nicht irgendeine Entschädigung zu (jeden Tag ein Dauerlutscher zur Ablenkung?), sondern eine Gehhilfe oder ein Rollstuhl. Was aber steht mir für das Pech zu, einer Überzeugung anzuhängen, die meine Glücksmöglichkeiten mindert? Eine mögliche und naheliegende Antwort wäre, daß mir eine kostenlose Therapie angeboten werden sollte, mit deren Hilfe ich mir eine neue, nutzenfreundlichere Überzeugung zulegen könnte. Dieser Vorschlag aber

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ginge augenscheinlich am Sinn von Überzeugungen vorbei. Eine Überzeugung ist ja etwas, an dem ich hänge, weil es mein jeweiliges Selbstverständnis prägt und durchdringt; ihre Preisgabe käme daher einem zumindest partiellen Selbstverlust (in der Dimension der /cfem-Identität) gleich. Man mag einwenden, daß Scanions Beispiel unglücklich gewählt sei. Ein Mensch, der seine Entscheidung im Lichte aller erforderlichen Informationen nach gründlicher Überlegung getroffen hätte, würde einer derart lebensfeindlichen Religion unweigerlich den Rücken kehren. Das mag so sein, und deshalb sollten wir die Erreichbarkeit einer angemessenen Entscheidungssituation zu den allgemeinen Ressourcen zählen. Was wir aber nicht versuchen sollten, ist, säuberlich zwischen den selbstverantworteten und den fremdverursachten Faktoren im Selbstverständnis einer Person zu trennen, denn damit erklärten wir die Person in wesentlichen Hinsichten ihrer Identität für unzuständig. Man könnte argumentieren, daß eine generalisierte Zuschreibung von Verantwortung die meisten Menschen überfordere und sich Cohen und Arneson deshalb um eine realistischere Einschätzung der tatsächlichen Autonomiefähigkeit einer Person bemühten. Mit Blick auf den konkreten Anderen mag das sogar zutreffen. Ein solches Urteil aber gehört in einen anderen Kontext der Gerechtigkeit. Die Frage, was es heißt, einem bestimmten Menschen gerecht zu werden, ist von anderer Art als die Frage, was alle Menschen als Bürgerinnen und Bürger von einer gerechten Grundstruktur erwarten dürfen.9 Urteile in einem politischen Kontext sollten auf einem höheren Abstraktionsniveau stehen als Urteile in Familien- oder Freundeskreisen. Was im zweiten Bereich zulässig sein mag, kann im ersten Bereich geradezu respektlos sein. Aus der legitimen Sorge um ein versehrbares Gegenüber wird im politischen Kontext schnell eine Individualisierung im Foucault'sehen Sinne. Einen Freund mag man bisweilen zu seinem eigenen Besten bevormunden dürfen, der antipaternalistische Staat aber darf kein Freund seiner Bürger sein wollen: „Mehr als die Umstände des Lebens darf und kann die Gesellschaft nichts angehen; auch ihre Sorge um die Gerechtigkeit kann sich nur als Sorge um gerechte Umstände, gerechte Gesetze, Institutionen, Programme, Systeme niederschlagen. Auch für die Gerechtigkeitstheorie gilt: Individuum est ineffabile" (Kersting 1997: 238; kursiv im Original). Dieser Vorbehalt richtet sich auch gegen einen 'pragmatischen' Vorschlag von John Roemer (1993; 1996), der auf den ersten Blick vom konkreten Anderen völlig abzusehen scheint. Roemer jedoch teilt mit Cohen und Arneson das Kriterium der Kontrollfähigkeit, und daher verläuft auch für ihn die moralische Wasserscheide zwischen den Folgen selbstverantworteter Entscheidungen und den Folgen unverschuldeter Umstände. Das eigentliche Problem der Wohlfahrtstheorien sieht er mit Amartya Sen (1987:

Die erste Frage steht explizit oder implizit im Zentrum postmoderner Moraltheorien (kritisch dazu Honneth 1994b) und einer feministischen Care-Ethik (Gilligan 1984). Aus diskursethischer Sicht hat sich vor allem Lutz Wingert (1993) um die Einbeziehung des konkreten Anderen verdient gemacht.

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11; 1992: 55) im Problem der billigen Präferenzen: Menschen sind zur Anpassung ihrer Erwartungen auch an ungünstige Umstände imstande. Ein wohlfahrtstheoretisches Gleichheitsmaß wäre daher anfällig fur die verzerrenden Auswirkungen von ungerechten Umständen der Wunschformierung. Aus diesem Grund habe ich im vorangegangenen Kapitel von einem inhärenten Konservatismus der reinen Präferenztheorien gesprochen und die Liste der allgemeinen Ressourcen ins Spiel gebracht. Roemer jedoch sucht, weil er sich vom Kriterium der Kontrollfähigkeit nicht lösen will, nach einem anderen Ausweg. Die Gerechtigkeitstheorie sollte eine Neutralisierung aller unverschuldeten Nachteile ins Auge fassen, und das schließe neben Aspekten des Ressourcenmangels auch Defizienzen in der Zugänglichkeit von Wohlergehen ein. Positiv gesprochen geht es Roemer um die größtmögliche Angleichung der Chancen oder Aussichten auf die Erlangung von nicht näher spezifizierten Vorteilen {advantages)·. „We wish to find a distribution of social resources which renders persons equal in advantage insofar as they face similar circumstances, but allows inequality of advantage insofar as the freely chosen aspects of their behavior differ: call this the equality of opportunity principle (EOp)" (Roemer 1996: 276). Roemer schlägt ein vierstufiges Vorgehen vor. Im ersten Schritt einigt sich die Gesellschaft auf einen Index von unverschuldeten Umständen, die in relevanter Weise die Aussichten auf Vorteile beeinflussen könnten - Roemer versteht seinen Vorschlag als „politisch" und will deshalb keine Vektoren von Umständen philosophisch vorgeben. Im zweiten Schritt wird die Gesellschaft nach Maßgabe dieser Liste in verschiedene „Äquivalenzklassen" aufgeteilt: Sind die einschlägigen Gesichtspunkte etwa Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter und Bildung, so gehört die dreißigjährige Türkin mit Hauptschulabschluß in eine andere Klasse als der sechzigjährige schwäbische Professor für Wirtschaftswissenschaften. Im dritten Schritt wird für jede Klasse die Häufigkeitsverteilung von vorteilsrelevanten Verhaltensweisen ermittelt. Die unterschiedlichen Positionen innerhalb einer Klasse indizieren die Verantwortlichkeit der Personen, während die Verteilung selbst eine Funktion der Klasse ist. Auf dieser Grundlage läßt sich im vierten Schritt die effektive Erreichbarkeit von Vorteilen anhand der Wahrscheinlichkeitsverteilungen zwischen den Klassen vergleichen. Die jeweiligen Klassenunterschiede sollen sich nun auch, negatorisch, in unterschiedlichen Ausgleichsansprüchen niederschlagen. Wenn die Türkin seit dreißig Jahren Caramelbonbons ißt und der Professor seit zehn und diese Werte genau den jeweiligen Klassendurchschnitten entsprechen, so ist die Verantwortlichkeit beider Personen für ihr potentiell selbstschädigendes Verhalten die gleiche. Daher haben beide im Falle einer Zahnerkrankung den gleichen Anspruch auf Kompensationen, obwohl das Risiko der Erkrankung im Falle der Türkin dreimal so groß war wie im Falle des Professors. Auch dieser Vorschlag aber verletzt die Grundnorm der politischen Gerechtigkeit, Personen eine generalisierte Verantwortung für ihre Entscheidungen zuzusprechen. Der Süßwarenkonsum eines mündigen Menschen wird hier wie ein berufsbedingtes Unfallrisiko betrachtet. Für ein Bonbon aber kann ich mich entscheiden, während mir ein Un-

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fall zustößt.10 Aus der Perspektive der ersten Person stellt sich das zweite als Widerfahrnis dar, das erste als Ergebnis einer Wahl. Roemers 'politischer' Vorschlag jedoch beruht auf Beobachtungen von der Warte einer dritten Person, deren Urteile sich nicht mit den performativen Einstellungen decken müssen, die mündige Personen selbst zu ihren Verhaltensweisen einnehmen. Das läßt sich an einem Grenzfall verdeutlichen, in dem die Angehörigen einer Klasse ex hypothesi überhaupt keine Wahl mehr haben: Wenn alle dreißigjährigen Türkinnen mit Hauptschulabschluß seit dreißig Jahren Caramelbonbons essen, dann ist der Vorteil, weniger Süßigkeiten zu konsumieren, für die Angehörigen dieser Klasse Roemer zufolge nicht zugänglich: „Given the type [die Äquivalenzklasse], certain choices are effectively, in the sense of Arneson, barred" (ebd.: 277; kursiv im Original). Aus der Perspektive der ersten Person jedoch ist dies eine unzulässige Verallgemeinerung: Mündige Menschen haben Gründe für ihr Handeln und sind für Argumente prinzipiell empfanglich. Ihre Antwortfähigkeit ist keine Funktion ihrer Klasse, sondern Ausdruck ihrer personalen Autonomie. Wenn der Professor seinen Bonbonverbrauch unter dem Eindruck von Gründen einzuschränken vermag, dann vermag das auch die Türkin. Noch einmal: Dieses Urteil beruht auf einer generalisierten Unterstellung in moralischer Absicht. Es muß nicht mit einer realistischen Einschätzung der tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen einer konkreten Person in Einklang stehen. Die Beurteilung von Individen als solchen aber gehört in einen anderen Kontext der Gerechtigkeit als die Beurteilung der sozialen Grundstruktur, deren Bestandteil die Ausstattung aller Personen mit allgemeinen Ressourcen ist. Für eine politische Theorie der Gerechtigkeit ist diese Unterscheidung wesentlich. Einen entscheidenden Vorteil der Ressourcentheorie sehe ich folglich in ihrem relativ hohen Allgemeinheitsgrad. Sie entlastet uns von der moralisch zumindest problematischen Aufgabe, in jedem Einzelfall zwischen selbstverantworteten Handlungen und unverschuldeten Umständen zu unterscheiden, ohne deshalb 'idealistisch' von der ungleichen Verteilung der Lebensaussichten zwischen Personen abzusehen. Ihr Ziel ist gerade die hinreichende Angleichung dieser Aussichten - hinreichend im Lichte der generalisierten Zuschreibung menschlicher Verantwortlichkeit. Unter der Voraussetzung einer hinreichend gleichen Ausstattung mit allgemeinen Ressourcen müssen alle Personen für die Folgen und Nebenwirkungen ihrer Handlungen selbst einstehen können. Mögliche Nachteile fallen dann in den Bereich ihrer Zuständigkeit und begründen grundsätzlich keinen Kompensationsanspruch. Kompensiert werden nur solche Nachteile, die im Fokalraum11 der allgemeinen Ressourcen selbst anfallen und die Gleichheit ihrer Verteilung untergraben. Nur solche Nachteile zählen als Nicht zufällig halten wir es daher für vernünftig, eine Unfallversicherung abzuschließen, während den wenigsten eine Versicherung gegen das Risiko des Kauens von Caramelbonbons in den Sinn kommen dürfte. Den Ausdruck „Fokalraum" übernehme ich von Sen (1992: 20). Er bezeichnet den bevorzugten Bereich von Variablen, in denen sich die relativen Vor- oder Nachteile von Menschen ausdrükken und bewerten lassen (z.B. Einkommen, Nutzen, Grundgüter oder Funktionsfähigkeiten).

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basale Ungleichheiten, die in politisch-moralisch erheblicher Weise die Möglichkeit beeinträchtigen, ein selbstbestimmt gelingendes Leben zu führen. Die Möglichkeit ethischen Gelingens im Modus der Selbstbestimmung bildet die materiale Hinsicht der Verteilung. Auf diese Weise besitzt die Ressourcentheorie einen ethischen Bezugspunkt, ohne den sie in der Tat, wie die wohlfahrtstheoretischen Kritiker (z. B. Frankfurt 1987) monieren, eine Form des Güterfetischismus wäre. Das Ziel der Verteilung von Ressourcen ist die Eröffnung von Spielräumen für ein gutes Leben. Soweit scheint der Unterschied zu Arnesons Kriterium der Chancen zur Erlangung von Wohlergehen nur eine Frage der Wortwahl zu sein. Zugleich aber gründet die Ressourcentheorie im Begriff der autonomen Person, der für eine Zurückweisung oder zumindest erhebliche Modifikation von Arnesons Vorschlag spricht. In der Idee allgemeiner Ressourcen sehe ich eine Alternative zu jener unzulässigen Einzelfallprüfung, zu der uns die Anwendung von Arnesons (sowie Cohens und Roemers) Kriterium immer wieder veranlassen würde. Diese Theoretiker machen nicht wirklich Ernst mit der Einsicht, daß das personale Leben nur als selbstbestimmtes gelingen kann und dazu im öffentlichen Raum auf die generalisierte Zuschreibung von Verantwortlichkeit geradezu angewiesen ist - namentlich dann, wenn die wesentlichen Ziele und sinngebenden Projekte einer Lebensführung auf dem Spiel stehen. Zudem vermute ich, daß für meinen Vorschlag der zweifache pragmatische Vorzug geringerer Komplexität und besserer Überprüfbarkeit spricht. Wollen wir wissen, ob die materialen Voraussetzungen gegeben sind, die wir mit der Zuschreibung von Verantwortlichkeit im politischen Kontext immer schon antizipieren, dann können wir auf die Liste als Beurteilungsmatrix zurückgreifen. Dieser Prüfstein allerdings ist, wie ich gerne zugebe, systematisch unvollständig. Er berücksichtigt nicht sämtliche Faktoren unserer Geworfenheit, die in der einen oder anderen Weise die tatsächlichen Aussichten auf persönliches Wohlergehen beinflussen mögen. Einige Aspekte der Persönlichkeit entziehen sich schon prinzipiell einem äußeren Zugriff. Ein schlechthin melancholischer Mensch wird sich auch durch noch so großzügige Kompensationen nicht in einen sonnigen Zeitgenossen verwandeln. Aber auch sonst fühlen wir uns im politischen Kontext unserer Verantwortung, als Bürgerinnen und Bürger, keineswegs bemüßigt, einen Menschen für jeden noch so geringfügigen Nachteil zu entschädigen (Pogge 1997: 14). Eine etwas zu große Nase, eine etwas zu flache Brust, eine Neigung zum Haarausfall mögen manchen Menschen das Leben nur schwer erträglich erscheinen lassen, und doch gelten sie im Lichte der Ressourcentheorie als politisch unerheblich. Sie gehören eben zu den Normalabweichungen, welche die natürliche Vielfalt der Menschen unweigerlich mit sich bringt und mit denen wir so oder so zu Rande kommen müssen. Von mündigen Menschen erwarten wir, daß sie bloße 'Schönheitsfehler' mit ihrem Selbstbild in Einklang zu bringen oder einfach zu übergehen vermögen. Darin sehen wir einen Aspekt ihrer Antwortfähigkeit. 12

Ich gebe zu, daß es leichter ist, die intuitive Überzeugungskraft dieser Idee der Geringfügigkeit zu veranschaulichen, als zwingende Gründe für sie zu finden. Warum eigentlich sollten wir uns

3. Drei Ergänzungen der Ressourcentheorie

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Damit kommt, wie leicht ersichtlich, eine 'objektivistische' Unterscheidung zwischen zumutbaren und unzumutbaren Schwierigkeiten ins Spiel. Anstatt die Notwendigkeit eines Maßstabs der Dringlichkeit (Scanion 1975) zu leugnen, halte ich es für sinnvoller, nach einem möglichst trennscharfen Unterscheidungskriterium Ausschau zu halten. Die Ressourcentheorie deutet einen Schwellenwert der Ernsthaftigkeit zumindest an: Ist ein Nachteil so gravierend, daß er in einer öffentlich nachvollziehbaren Weise die Möglichkeit der Selbstachtung oder die Handlungsfähigkeit untergräbt, so fällt er in den Geltungsbereich der Liste. Das mag etwa bei besonders auffälligen körperlichen Deformationen der Fall sein. Wird dieser Schwellenwert hingegen unterschritten, so gelten die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Gelingen des eigenen Lebens weiterhin als erfüllt.

3. Drei Ergänzungen der Ressourcentheorie Drei Ergänzungen dieses allgemeinen Kriteriums scheinen mir allerdings vonnöten. Die erste betrifft eine mögliche wohlfahrtstheoretische Implikation der Liste allgemeiner Ressourcen (1), die zweite betrifft das Verhältnis von Ressourcen und Fähigkeiten (2) und die dritte betrifft die Grenzen der Verantwortungsfahigkeit selbst (3). (1) G. A. Cohen (1989: 918f.) macht uns mit dem eigentümlichen Schicksal des kleinen Tim vertraut.13 Dieser verfügt über einen außergewöhnlich starken und beweglichen rechten Arm. Zugleich aber hat er nach jeder Bewegung des Armes starke Muskelschmerzen. Cohen behauptet nun, daß Tim an keinem Ressourcendefizit leidet, sondern an einer Minderung der Möglichkeit des Wohlergehens. Nicht seine Handlungsfähig-

als politische Wesen der Willkür der Natur überantworten? Gleichen ihre Ergebnisse nicht einer Lotterie mit manchen Volltreffern, aber auch nicht wenigen Nieten? Ein möglicher Grund ist, daß hier die Neuauflage der Eugenik politisch näherliegen könnte als eine umfassende (und kaum zu finanzierende) Kompensation fur jeden erdenklichen Nachteil. Nicht nur die Nazis, auch die schwedischen Sozialdemokraten haben ja in diesem Jahrhundert die Norm der menschlichen (oder arischen) Gleichheit konkretistisch gelesen und daraus das Recht abgeleitet, 'lebenswertes' von 'lebensunwertem' Leben zu scheiden. - Überdies könnte man argumentieren, daß der Grundsatz 'Jedem nach seinen Bedürfnissen' auf ein Jenseits der Gerechtigkeit überhaupt verweise, da er die Anwendungsbedingung einer zumindest moderaten Knappheit übergehe (Rawls 1979: 148). Mit diesem Beispiel fuhrt Cohen einen Zweifronten-Kampf. Ich vernachlässige im folgenden den Aspekt des Beispiels, der sich gegen Arnesons Kriterium der gleichen Chancen zur Erlangung von Wohlergehen richtet: Der kleine Tim ist körperlich behindert und benötigt zur angemessenen Fortbewegung einen teuren Rollstuhl. Nun hat er jedoch ein so außerordentlich sonniges Gemüt, daß er selbst ohne diese Hilfe glücklich zu sein vermag. Wie Cohen zu Recht bemerkt, würden wir ihn deshalb noch nicht von der Liste der bevorzugten Rollstuhl-Empfänger streichen. Was hier zählt, ist allein das Ressourcendefizit und nicht die Auswirkung der Ressourcenausstattung auf die Möglichkeit des Wohlergehens.

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keit nämlich sei eingeschränkt, sondern seine Fähigkeit, ein von Schmerzen freies Leben zu fuhren. Dagegen ließe sich einwenden, daß starke Schmerzen in der Regel sehr wohl auch die Handlungsfähigkeit beeinträchtigen: Nach jeder Benutzung des rechten Armes müsse Tim für eine gewisse Zeit von weiteren Handlungen absehen, weil ihn die Schmerzen regelrecht gefangen hielten. Doch vielleicht verfügt unser Freund über die Konstitution eines deutschen Fußballprofis, den körperliche Qualen erst richtig auf Trab bringen. In diesem Fall läge es näher, von einer Erhöhung der Opportunitätskosten seiner Handlung zu sprechen, denn „it is not difficult for the man to move his arms, but it is very costly for him to do so" (ebd.: 918; kursiv im Original). Tim muß für die Benutzung seines Armes einen Preis zahlen, der anderen Menschen nicht abverlangt wird. Meine erste Ergänzung lautet daher wie folgt: Unter der Bedingung einer allgemeinen Zumutbarkeit der Opportunitätskosten gilt im politischen Kontext der Verantwortung: Eine hinreichend gleiche Ausstattung mit allgemeinen Ressourcen eröffnet Personen die Aussicht auf eine selbstbestimmt gelingende Lebensführung.14 (2) Wie die letzte Formulierung schon verrät, ist auch dieses erweiterte Kriterium systematisch unvollständig: Offen blieb bisher die Variable des Hinreichenden. Hier könnte man nun das Einfallstor für einen Vorschlag vermuten, der im Ergebnis die Liste der Ressourcen in etwas anderes verwandelte: in eine Liste wünschenswerter Fähigkeiten. Das eben ist der Vorschlag von Amartya Sen (z.B. 1980; 1985; 1990; 1992; 1993). Sens Fähigkeitenansatz geht aus einer immanenten Kritik an der Rawls'sehen Theorie der Grundgüter hervor: Rawls berücksichtige allein die äußeren Mittel von Personen, aber nicht die ungleiche Verteilung der Fähigkeit zur 'Übersetzung' von Mitteln in tatsächliche Möglichkeiten. Die natürlichen Vermögen der Personen nämlich unterschieden sich in manigfachen Hinsichten, und manche Menschen hätten spezielle Bedürfnisse, die in der Grundgüterliste keine Berücksichtigung fanden. Kurz: Rawls nehme die interpersonellen Unterschiede nicht ernst genug. Diese aber beeinflußten das Maß an effektiven Freiheiten, das die Grundgüter den Personen jeweils eröffneten (Sen 1990: 115). Unter einer effektiven - im Unterschied zu einer bloß formalen - Freiheit versteht Sen die tatsächliche Möglichkeit, einen wünschenswerten Zustand zu erreichen oder eine gewünschte Handlung auszuführen. Die Zustände und Handlungen, auf die sich unsere Freiheiten beziehen, nennt Sen „Funktionsweisen" (funetionings), die Freiheiten selbst bezeichnet er als Fähigkeiten (