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German Pages 170 [168] Year 2023
Lothar Böhnisch, Heide Funk Verantwortung – Soziologische und pädagogische Perspektiven
Pädagogik
Editorial Bildung und Erziehung sind – trotz wechselnder Problemlagen – ein konstantes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Erziehungswissenschaft erweist sich in dieser Situation zugleich als Adressat, Stimulanz und Sensorium verschiedenster Debatten, die ins Zentrum sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fragen zielen. Die Reihe Pädagogik stellt einen editorischen Ort zur Verfügung, an dem innovative Perspektiven auf aktuelle Fragen zu Bildung und Erziehung verhandelt werden.
Lothar Böhnisch (Prof. em. Dr. rer. soz. habil.) ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden und ehemaliger Kontraktprofessor für Soziologie an der Universität Bozen/ Bolzano. Heide Funk ist emeritierte Professorin für Sozialwissenschaft an der Hochschule Mittweida.
Lothar Böhnisch, Heide Funk
Verantwortung – Soziologische und pädagogische Perspektiven
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© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839462850 Print-ISBN: 978-3-8376-6285-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6285-0 Buchreihen-ISSN: 2703-1047 Buchreihen-eISSN: 2703-1055 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Inhalt
Einleitung .................................................................................7 Zwei Sphären der Verantwortung .......................................................... 8 Teil I: Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven ............................ 9 Verantwortung zwischen Autonomie und Angewiesenheit .................................. 9 Soziale Bezüge von Verantwortung in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit....................................................................... 12 Historische Erweiterungen des Verantwortungsbegriffs .................................... 15 Verantwortungsethik, Pluralisierung und Globalisierung des Verantwortungshorizonts ....... 17 Zum gesellschaftlichen Hintergrund von Angewiesenheit und Verantwortung................ 21 Verantwortung gegenüber der Natur ...................................................... 24 Verantwortungslosigkeit ................................................................. 25 Autonomie und Angewiesenheit in dialektischen Ansätzen................................. 28 Verantwortung zwischen überforderter Autonomie und verleugneter Angewiesenheit ...... 30 Feministische Kritik und Praxis ........................................................... 34 Asymmetrie und Care .................................................................... 40 Hilfebedürftigkeit und Vulnerabilität als Tiefendimensionen von Verantwortung ............ 42 Zumutungen von Verantwortung .......................................................... 47 Angewiesenheit und Verantwortung in persönlichen Beziehungen.......................... 53 Teil II: Gesellschaftsmodelle der Verantwortung ....................................... 55 Gebundene Autonomie in der ›Verantwortungsgesellschaft‹ – das kommunitäre Modell..... 55 Die Gesellschaft der ›Commons‹.......................................................... 59 Die Gesellschaft der Sorge als Tätigkeitsgesellschaft ...................................... 62 Verantwortung für die Zukunft als »Vergegenwärtigung« .................................. 66 Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen.. 69 Nachhaltigkeit in der Spannung zwischen Externalisierung und Sorge....................... 71 Gesundheit und Verantwortung zwischen sozialer Bindung und gentechnologischer Machbarkeit .................................................... 79 Die Entgrenzung des Reichtums .......................................................... 83
Die Enteignung der Nutzer*innen ......................................................... 88 ›Remaskulinisierung‹ zwischen Dominanzversprechen und transpatriarchaler Illusion ..... 90 Teil IV: Pädagogik der Verantwortung .................................................. 97 Zur Geschichte des Verantwortungsbegriffs in der Pädagogik.............................. 97 Verantwortung als Generationenfrage.....................................................102 Gruppe und Verantwortung ...............................................................104 Dialogische Verantwortung ...............................................................106 Empathie und Respekt ...................................................................107 Pädagogische Verantwortung und Geschlecht – Männliche Verantwortung in der Erziehung ................................................ 110 Verantwortung und Konflikt............................................................... 112 Beteiligung und Verantwortung ........................................................... 113 Verantwortung in Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit am Beispiel der Schule ................................................................... 114 Öffentliche (sozialstaatliche) Verantwortung .............................................. 141 Verletzlichkeit und pädagogische Verantwortung – Vulnerabilität bei Kindern und Jugendlichen ..............................................143 Verantwortung im ›Pädagogischen Bezug‹ ................................................147 Verantwortung und Vertrauen ............................................................150 Gegenseitige Integration als Verantwortungsprinzip ....................................... 151 Parteilichkeit ........................................................................... 153 Nachhaltigkeit als pädagogische Verantwortung ..........................................154 Literatur ................................................................................157
Einleitung
In diesem Buch wird versucht, den Begriff der Verantwortung soziologisch und pädagogisch so zu verorten, dass er in seiner Dialektik erkannt und entsprechend strukturiert werden kann. Das Paradigma, das wir in dieser Absicht entwickelt haben – Verantwortung in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit – öffnet den Blick für die Ambivalenz, die in dem Begriff steckt. Ein sozialphilosophischer Bezugsrahmen zeigt den erweiterten Horizont auf, vor dem Verantwortung zu definieren ist. Autonomie und Angewiesenheit gehen im Begriff der sozialen Freiheit zusammen, in dem sich auch verantwortliches Handeln bewegt. Dabei treten weitgehend vernachlässigte Dimensionen der Verantwortung hervor: Verletzlichkeit als Tiefendimension der Verantwortung, die sozialen Bedingungen von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit und die Kritik geschlechtshierarchischer Verengungen von Verantwortung. Die drei Gesellschaftsmodelle der Verantwortung, die wir vorstellen – ›Verantwortungsgesellschaft‹, Commons und Gesellschaft der Sorge – sind Versuche, Verantwortung zum Schlüsselbegriff der Vergesellschaftung zu machen. Dabei haben sich längst Tendenzen entwickelt, welche die Verantwortung für die Zukunft des Menschen bis hin zur Verantwortungslosigkeit blockieren. An Beispielen, wie dem Diskurs zur Nachhaltigkeit, zum gentechnologischen Machbarkeitswahn oder zur Entgrenzung des Reichtums kann gezeigt werden, wie die Balance zwischen Autonomie und Verantwortung gestört ist. Vor diesem Hintergrund wird eine Pädagogik der Verantwortung entwickelt, in der die Spannung zwischen Autonomie und Verantwortung erziehungstheoretisch und erziehungspraktisch umgesetzt werden kann. Das Paradigma eröffnet den Zugang zu einer pädagogischen Konfliktkultur, in der traditionelle Grundlagen der Erziehung neu gesehen werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Schule, deren Demokratisierung und Öffnung in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit strukturiert wird. Verantwortung wird so als Leitbegriff der Schulreform erkennbar.
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Verantwortung – Soziologische und pädagogische Perspektiven
Zwei Sphären der Verantwortung Verantwortung entwickelt und begründet sich sozial im dialektischen Verhältnis zwischen Autonomie und Angewiesenheit, existenziell in der Verletzlichkeit des Menschen und in seinem Verhältnis zur Natur. Das Spannungsverhältnis zwischen personaler Autonomie und sozialer Angewiesenheit ist durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung bedingt. Verletzlichkeit wiederum ist die Bedingung des Menschseins, zu der die Menschen in einem inneren Spannungsverhältnis stehen. Darin ist die Kategorie der Sorge aufgehoben. Beide Sphären können sich überschneiden. Das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Angewiesenheit fordert ein Handeln der Vermittlung heraus. Wo diese Vermittlung nicht gelingt oder gestört ist, kann Verantwortungsabwehr bis hin zur Verantwortungslosigkeit entstehen. Sorge (Care) begründet sich in besonderen Verhältnissen der Angewiesenheit und Verantwortlichkeit in den Zonen der Hilfebedürftigkeit.
Teil I: Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven
Verantwortung zwischen Autonomie und Angewiesenheit »Wir erleben in den beiden letzten Jahrzehnten einen gesellschaftlichen Verantwortungsdiskurs, der sich scheinbar nur begrenzt den Fragen nach der sozialen Verantwortung in einer wachstumsfixierten Gesellschaft angesichts der ökonomischen Globalisierung stellen kann. Wachstum und technische Innovation werden hier unkritisch befürwortet, und man erhofft sich den humanen und sozialen Fortschritt als Nebenfolge einer wachstums- und innovationsorientierten Politik. Die Anwendung von umfassenden Verantwortungskategorien in einem normativen Horizont von ethischen, sozialen und politischen Implikationen scheint unnötig und unzeitgemäß zu sein. Die Botschaft lautet, sich auf neue Risiken einzulassen, die neue Risiko-Gesellschaft anzunehmen, alte soziale Sicherheiten, einschließlich des Modells des europäischen Sozialstaats mit seinen Ziel, gegen existenzielle Risiken abzusichern, aufzugeben« (Nida-Rümelin 2011: 143f.). Das Kriterium ›Verantwortung‹ scheint darin gegenüber dem Kriterium ›Erfolg‹ oder ›Effizienz‹ nachrangig. Erst wer Erfolg hat, kann sich so etwas wie Verantwortung leisten: Milliardäre über eine gnadenlose Marktkonkurrenz und das darin enthaltene Prinzip der Verantwortungslosigkeit reich geworden haben soziale Stiftungen gegründet. Es ist eine Verantwortungsübernahme, die patrimonial gewährt wird, die nicht aus einer gesellschaftlich vermittelten Verständigung entspringt und deshalb auch nicht zur Kritik gewendet werden kann. Kapitalistische Erfolgslogik verbindet sich mit der Macht, Verantwortungsbereiche zu definieren aber auch andere Personen von der Möglichkeit auszuschließen, von denen jedoch gleichzeitig verlangt werden kann, aktiv zu werden und persönlich Verantwortung zu übernehmen/tragen. Im Folgenden ist es wichtig zwischen Angewiesenheit und Abhängigkeit zu unterscheiden; Angewiesenheit bezieht sich auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die damit verbundene Notwendigkeit der Kooperation und des Austausches. Abhängigkeit verweist auf eine existenzielle Angewiesenheit, wie z. B, die eines Kindes auf stete, unmittelbare, altersgerechte Unterstützung sowie Sorge bei
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Krankheit und im Alter. Soziale Abhängigkeit basiert auf sozialer Asymmetrie und Macht. In Sozialen Bewegungen, Initiativen und ihren Projekten wird stellvertretende Verantwortung praktiziert, die sich auf das Versagen öffentlicher Verantwortung und auf ungelöste gesellschaftliche und soziale Probleme beruft. In der Generationenfrage, in der der Generationenvertrag als ungeschriebene Verantwortung der Generationen füreinander eine zentrale Rolle spielt, hat sich ein neuer Verantwortungsdiskurs entwickelt. Während der traditionelle Generationendiskurs die Verantwortung der mittleren und älteren Generationen für die Zukunft der Jugend betont, zeichnet sich in der Symbolik der Friday for Future-Demonstrationen geradezu eine Umpolung der Generationenverantwortung ab. Teile der jungen Generation übernehmen nun Verantwortung und klagen Verantwortung zum Handeln gegen die Folgen des Klimawandels und für die Bewahrung der natürlichen Ressourcen eine nachhaltigkeitspolitische Verantwortung ein. Insgesamt zieht sich gegenüber diesen neueren Manifestationen von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit die Klage über die zunehmende Individualisierung. Denn die Beschleunigung einer globalisierten marktgetriebenen Konkurrenz und die soziale Entbettung im digitalen Kapitalismus haben viele Lebensbereiche erfasst und die Individualisierung zu einem neuen Höhepunkt getrieben. Im Mittelpunkt des Marktes stehen die Einzelnen, die sich selbst organisieren und die Risiken auch entsprechend allein tragen und verantworten sollen. An den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit den massiv den Alltag und alle gesellschaftlichen Bereiche betreffenden Verhaltensregeln gegen eine Ausbreitung der Corona-Pandemie wurde erfahrbar, wie sich unter dem Verweis auf gegenseitige Verantwortung nicht nur umfassende, alle Lebensbereiche betreffende Forderungen und Regeln mit darauf folgenden eigenen Einbußen Durchsetzung verschaffen konnten. Gleichzeitig gab es vielfältige Initiativen, in denen kreative Lösungen für solidarische, auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Hilfen gefunden wurden. Gegenseitige Verantwortung und Angewiesenheit gehören immer noch zu einer menschlichen Grunderfahrung, ebenso wie das Erleben von gegenseitiger Verantwortung ausgeschlossen zu sein und das Bestreben andere ausschließen zu wollen. Im Alltag wird Verantwortung mit der Aussicht auf verbindliche Schritte assoziiert, auch wenn Verbindlichkeiten umstritten und geltende Normen unklar sind. Die Einforderung von Verantwortung verbindet sich in privaten Beziehungen, im Beruf, in der öffentlichen Rede, in der Politik – vor allem in Konfliktsituationen – mit der Erwartung, es solle nun darum gehen, dass die Ursachen für Fehlverhalten und Unglück gefunden werden und dass anstehende Aufgaben in kooperativer Anstrengung gelöst werden können. Schon vor dreißig Jahren verband Kaufmann die Karriere des Verantwortungsbegriffs mit realen gesellschaftlichen Veränderungen: »Seine emphatische Aufladung lässt vermuten, dass diese Veränderungen proble-
Teil I: Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven
matischer Natur sind, dass also die Forderung nach ›Verantwortung‹ mit der (möglicherweise) vergeblichen Hoffnung verbunden wird, dass durch ›Verantwortung‹ schwerwiegende gesellschaftliche Probleme gelöst werden sollen« (Kaufmann 1989, 205). Umso problematischer kann es sich auswirken, wenn die mit der angekündigten Übernahme von Verantwortung verbundenen Hoffnungen auf Sicherheit und einvernehmliche Geltung beanspruchende Schritte – angesichts von Krisen- und Konfliktsituationen – enttäuscht werden. Uneingelöste Ansprüche, Verwehrung von Erklärungen und neue Verunsicherungen können die Sehnsucht oder Bereitschaft verstärken, sich in einseitige Abhängigkeiten und ins Einverständnis mit autoritären Lösungen zu begeben. In philosophischer Rückschau wird nachvollziehbar, wie sich Inhalt, Bezugsrahmen und Felder von ›Verantwortung‹ verändert und erweitert haben, bis Verantwortung zu einem »tragfähigen Leitbegriff einer zeitgemäßen Philosophie der Praxis« (Banzhaf 2017: 150) wurde, der ethischen Rechtfertigungs-Ansprüchen und der Konkretion entlang von komplexen sozialen Bezügen genügen kann. Doch es bestehe die Gefahr, dass die Verwendung des Verantwortungsbegriffs diffus, unverbindlich und leer werde. Zu Klärung sollen hier soziologische Fragestellungen von philosophisch-ethischen unterschieden werden, wobei sie sich auch in besonderer Art und Weise überschneiden können. Die ethische Frage »lautet, warum sich Menschen zur Verantwortung ziehen lassen sollen« (Höffe 1993: 16). Ethisch gründet Verantwortung (als Selbstverantwortung und Mitverantwortung) im »Selbsteinsatz aus Freiheit« (vgl. Schulz 1972). Auch soziologisch setzt Verantwortung die Freiheit zur Selbstverpflichtung und entsprechende Handlungsspielräume voraus. Die soziologische Frage, warum und in welchen sozialen Konstellationen mit welcher Verbindlichkeit welche Verantwortung eingefordert wird bzw. werden kann, wird bei Kaufmann unter zeitdiagnostischer Einordnung als Frage nach den sozialen Funktionen von Verantwortung untersucht. »Wenn sich dabei zeigen ließe, dass die Erfüllung dieser Funktionen immer prekärer wird, so würde dies auch die zunehmende gesellschaftliche Aufwertung von ›Verantwortung‹ plausibel machen« (Kaufmann 1989: 225). Der mögliche Verlust von Moral und Verantwortungsbereitschaft ist jedoch schon einmal an der Wende zum 20. Jahrhundert in der Soziologie zum Thema geworden. Max Webers Verantwortungsethik entstand aus der Besorgnis um die politische Verantwortungskrise in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts breit einsetzende Rede von Verantwortung ist im Zusammenhang mit aufbrechenden und verunsichernden Fragen nach der besonderen Stellung des Menschen in einer Welt naturgesetzlicher Abhängigkeit und Schritten der Befreiung aus feudaler Herrschaft zu sehen. Mit Hegel lässt sich seitdem Verantwortung in der Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit verorten: »als Realisierung von Freiheit unter Bedingungen, über die das freie Selbstbewusstsein nicht beliebig verfügt«. Verantwortung in die Spannung zwischen An-
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gewiesenheit und Freiheit gesetzt wird zur »verantworteten Freiheit […] d.h. mit ihren Voraussetzungen und Konsequenzen vermittelten Freiheit« (Arndt 2005: 12). Ausgehend von diesem Verständnis kann Verantwortung als Aufgabe der Vermittlung zwischen Autonomie und Angewiesenheit aufgefasst werden. In gesellschaftstheoretischer Perspektive kann gefragt werden, wie eine solche verantwortungsvolle Vermittlung angesichts von Ungleichheits- und Machtstrukturen und unter ökonomischen Sachzwängen in gesellschaftlichen Umbrüchen gelingen kann. Die Frage, wie die Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit vom einzelnen Menschen bewältigt wird, verweist einerseits auf innere Konflikte, die in der Spannung zwischen Autonomie und Abhängigkeit liegen. Die andere Frage, inwieweit Machtstreben zur einseitigen Auflösung dieser Spannung missbraucht wird, steht seit der Befreiung vom Faschismus im Vordergrund.
Soziale Bezüge von Verantwortung in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit 1) Die Übernahme von Verantwortung ist gebunden an Autonomie, an lebensgeschichtlich erworbene Handlungsfähigkeit. Diese knüpft an kindliches Autonomiestreben an und braucht Ermutigung, sich den Anstrengungen und den Anforderungen und Widrigkeiten der Lebensrealität stellen zu können. Autonomie gründet sich auf Selbstwert/ Selbstwirksamkeit und Selbstachtung, die lebensgeschichtlich erworben – gut verankert – auch Zeiten der sozialen Isolierung überstehen kann. In biografischen Krisen oder Umbrüchen sind im Hintergrund verlässliche Bezugspersonen oder auch Netzwerke präsent, die aber nicht immer sichtbar sind. Persönliche Freiheit ist im Grundgesetz als Menschenrecht mit dem Anspruch auf Menschenwürde festgehalten. Als Problem benennt Pollmann, »dass Menschenrechte, von denen durchgesetzt werden müssen, die zugleich die Macht haben, sie zu verletzen« (Pollmann 2023). Das ist von konfliktreichen Aushandlungen abhängig, in denen diejenigen, die am verletzlichsten sind, über wenig Macht und den geringsten Einfluss verfügen. Ihre Handlungsfähigkeit droht dabei noch einmal durch diskriminierende Verfahren und verstärktes Schuld- und Schamgefühl eingeschränkt zu werden. Die Absicherung von Autonomie in Situationen erkannter und akuter Hilflosigkeit wird unter professionelle Verantwortung von psychotherapeutischer Hilfe und sozialen Hilfen gestellt und in privaten Beziehungen zur moralischen Verpflichtung. Beides wird heute unter der Generationenverantwortung und Lebenssorge (King 2013: 82) als persönliche und gesellschaftliche Aufgabe verhandelt. Hier geraten grundsätzliche Probleme von Macht und Asymmetrie zusammen mit gesellschaftlich uneingelösten Ansprüchen auf Autonomie angesichts von existenzieller Angewiesenheit in den Blick.
Teil I: Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven
In einer strukturell vorgegebenen Asymmetrie liegt die Gefahr der Verschiebung von Verantwortung auf unterlegene Positionen, von Machtbildungen zur eigenen Absicherung und damit der Verweigerung von Autonomie. In menschenrechtlichem Rahmen benennt Fraser als Folge von Machtbildungsprozessen: Ökonomische Hindernisse für Teilhabe, Verweigerung von Kultureller Anerkennung und Status sowie als Drittes die fehlende Absicherung von Rahmungen, die Teilhabe erst ermöglichen. Die Verantwortung besteht also darin, Voraussetzungen dafür zu schaffen, damit Prozesse der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit unter der Frage »was die Bürger einander schulden« abgesichert werden (Fraser 2009: 95). Auf der seelischen Seite von asymmetrischen Beziehungen braucht es für Verantwortungsübernahme die Überwindung von Angst, von mentalen Verengungen wie Unfähigkeit zu Perspektivübernahme oder Verlust von Empfindsamkeit, die sich aus Ambivalenzen, Enttäuschungen und in Krisen entwickeln. Als Beispiele dafür stehen die Verweigerung von Verantwortung und die Umkehr der Verantwortung in Kontrolle oder Manipulation. Aus dieser Spannung erklären sich auch Idealisierungen von Formen der Vermittlung: der Sorge, der Liebe, der Bedeutung von privaten und offiziellen Ritualen, der brüchigen Hoffnung auf die Haltbarkeit von Beziehungen, der Häufung von Versprechen, der Suche nach unbedingter Gemeinsamkeit. Ausgehend von dieser Grundkonstellation deutet sich an, welche Formen eine Umkehr von Verantwortung annehmen kann: Als äußerste Form der Rechtfertigung von Macht und Gewalthandeln findet sich das Verlagern der Verantwortung in das Gegenüber, in das Opfer. Als innere Form der Opfererfahrung, aus Verletztheit heraus, aus der man das eigene Handeln kaum mehr erklären und als Basis für das Recht, Wiedergutmachung für sich einklagen zu können. 2) In diesen Zusammenhängen wird reflektierbar, was im Alltag verdrängt, ja von vielen in der Betonung persönlicher Freiheit aktiv negiert wird, dass wir konkret und persönlich aber auch in unpersönlicher, scheinbar abstrakter Form in der Absicherung man unserer Autonomie auf andere angewiesen sind. Eine lebenslange Angewiesenheit im öffentlichen, im beruflichen noch mehr im Privatleben wird uns erst spät bewusst, wenn Handlungsfähigkeit verloren gegangen ist – bis dahin, wo sie zur existenziellen Abhängigkeit wird. In privilegierten Positionen können Angewiesenheit und relative Autonome durch bezahlbare Dienstleistungen ausgeglichen werden. Dabei stützen sich diese Positionen nicht selten auf die Ausnutzung einer unter strukturellen Ungleichheiten erzeugten Abhängigkeitskonstellation. 3) Auf dem Wege der praktischen Einlösung von Verantwortung werden auch andere Konflikte sichtbar. Es sind Konflikte, die sich über mehrere Ebenen zwischen persönlichen Erwartungen, Interessen und Bedürfnissen, über widersprüchliche Auftrage in Institutionen bis hin zu widersprüchlichen Folgen von Entscheidungen erstrecken. Sich dieser Konflikte gewahr werden zu können und gesellschaftliche Anerkennung dafür zu finden, gehört aber wohl zu den positiven Effekten von Ver-
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antwortungsübernahme. Doch Konflikte werden zunächst als störend empfunden. Sie entfalten ihre destruktiven Wirkungen erst dann, wenn sie umgelenkt und nicht positiv neu gerahmt werden können. Davor liegen Probleme der Thematisierbarkeit von Konflikten, die tabuisiert oder nicht zugelassen sind. Die schmerzlichen und konfliktreichen Auseinandersetzungen (in der Öffentlichkeit und in privaten Beziehungen), zeigen, dass es zu allen Zeiten anhaltenden persönlichen Mut brauchte, Konflikte offen zu benennen, wenn Menschenrechte und Menschwürde verletzt werden. Und damit die Erfahrung von Betroffenen Anerkennung finden kann, braucht es den Rückhalt von Mitstreiter*innen, von begleitender Vermittlung und Vernetzung hin zur Verbreiterung in einer sozialen Bewegung, bis deren Anliegen in neue und übergeordnete Regeln Eingang finden, die auch kontrolliert werden können. Darin zeigt sich die vielfältige Angewiesenheit bei mehrfach wissenschaftlich belegten und dennoch nicht anerkannten und immer wieder verdeckten Unrechtserfahrungen (vgl. ECCHR 2023). 4) Die Bedeutung von Wissen als Voraussetzung für verantwortliches Handeln sieht sich immer neuen Anforderungen ausgesetzt, die von technologischem Wandel unter Konkurrenzbedingungen und globaler Bedrohung angetrieben werden. Heute geht es, um ein aktuelles Beispiel zu benennen, um die Entwicklung eines ethischen Rahmens, der die Gefahren künstlicher Intelligenz im Sog des technischen, medizinischen und sozialen Fortschritts einhegen hilft. Verantwortung für die Einhaltung von Kriterien für wissenschaftliche Verfahren hat sich auch mit den sozialen Folgen auseinander zu setzen. Entgrenztes Wissen einzuholen gehört so zu den Voraussetzungen von politischer Handlungsfähigkeit, gilt aber auch in Bildungseinrichtungen und privaten Beziehungen. Unter dem Vorzeichen von Verantwortung erweitert sich die Frage nach den Bedingungen der Wissensproduktion selbst (vgl. Harraway 1995): Welches Wissen bleibt ausgeschlossen, z.B. weil es nicht profitabel ist, welche Perspektiven dominieren die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen? Methodisch muss der Rahmen für Konflikterfahrungen unter geschlechtshierarchischen Verdeckungen erst geöffnet werden (vgl. Bitzan 2022) Die Kritik an unserer hegemonialen Verfügungs- und Definitionsmacht über uns fremde Welten stellt unser eigenes Wissen und nicht nur die damit verbundenen Über- und Unterordnungen in Frage, sondern auch die jahrhundertelang auf Ausbeutung basierenden Vorstellungen von ›Überlegenheit‹ westlicher Kultur und eines materiell abgesicherten Fortschrittsglaubens (vgl. Gutiérez-Rodriguez 2006). In der Anerkennung der Situiertheit von Wissen und darauf aufbauender Handlungsfähigkeit können Formen der eigenständigen Organisation von Versorgung und Gegenwehr gegen Vernichtung von Ressourcen in – von uns aus – entlegenen Regionen gewürdigt werden. Das Wissen gegen rassistische Diskriminierung kann heute von Betroffenen positiv medial vermittelt werden: Das zeigt z.B. der Einsatz einer Roma Künstlerin für das Recht auf Bildung für alle und gegen die Ethnisierung der Folgen von Ausgrenzung. Unter
Teil I: Soziologische und sozialphilosophische Perspektiven
dieser Perspektive stellen sich bleibende Fragen nach ausgeschlossenem Wissen, tabuisiertem Wissen und der Hilflosigkeit angesichts folgenlosen sozialwissenschaftlichen Wissens für die Verhinderung von Machtmissbrauch und gegen die Ausbreitung immer »fortschrittlicherer« Waffensysteme. Wie ist Wissensproduktion in eine Praxis von Verantwortung einzubinden, die zwischen Autonomie und Angewiesenheit vermitteln kann, in dem sie ihre eigenen Abhängigkeitskonstellationen, ihre Begrenzungen bei der Einbeziehung unterlegener Perspektiven und bei der Anerkennung von Widersprüchen berücksichtigt; aber auch die Folgen von Konkurrenzförmigkeit der Arbeit in den Wissenschaften nicht übergeht. 5) Die ethischen Fragen, warum soll man gut sein, wie lassen sich ethische Gebote begründen – und welche Normen finden darunter real, empirisch nachvollziehbar in bestimmbaren Konstellationen Anwendung, haben sich bis heute unter der Kategorie der Verantwortung intensiviert. Freiheit und Menschenwürde als einzulösendes »hohes moralisches, politisches und rechtliches Schutzgut« (Pollmann 2022:326) kann nicht vorausgesetzt, sondern muss erst unter fragilen Bedingungen abgesichert und gefüllt werden. In Konfliktfällen verletzter Menschenrechte bedarf es der zusammenfassenden Beachtung und Abwägung aller menschenrechtlichen Aspekte menschenwürdigen Lebens (ebda.:400) durch staatlich-hoheitliche Instanzen. Doch im privaten Alltag ist die Wahrung der Menschenwürde abhängig von moralischer Verantwortung (ebda.: 340). Als Schlüsselkategorie für »menschenrechtlichen Würdeschutz« erweist sich bei Pollmann verkörperte Selbstachtung: »Der menschenrechtliche Würdeschutz soll ein Leben in verkörperter Selbstachtung, weitgehend frei von Missachtung, Demütigung und Erniedrigung ermöglichen. Diese Selbstachtung verdankt sich der Verinnerlichung egalitärer Achtungsbeziehungen« (Pollmann 2022: 357). Damit bleibt die Einlösung von Menschenwürde einerseits rückgebunden an die Angewiesenheit auf Moral und die Geltung hoheitlicher Regeln, die die Anwendung von Wissen und die Einbindung von Betroffenen leiten, andererseits auf die belastbare Erfahrung egalitärer Achtungsbeziehungen.
Historische Erweiterungen des Verantwortungsbegriffs Der Begriff ›Verantwortung‹ findet erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Verwendung in Philosophie, Moralphilosophie und Ethik (Bayertz/Beck 2017: 134). Als solcher erfährt er in philosophischen Texten eine umfassende Bearbeitung. Verantwortung wird hier als relationaler Begriff definiert, der mehrere soziale Bestimmungen zusammenbindet. In dieser allgemeinen Definition bezeichnet Verantwortung die Rechenschaftspflicht gegenüber Instanzen oder auch zwischen Personen; Verantwortung für etwas – ein Objekt/eine Handlung bezieht sich zuerst auf die Verletzung einer eingeforderten oder geltenden Norm – auch in der allgemeinen Form, dass eine
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Person/eine Institution für Aussagen und Handlungen gegenüber Adressaten/ Betroffenen grundsätzlich rechenschaftspflichtig ist. Wichtig und übereinstimmend wird dabei festgestellt: Es geht dabei um Regeln und Normen in der Öffentlichkeit, im beruflichen und privaten Alltag, – auch da, wo sich moralische Bewertungen zusammen mit Erwartungen stillschweigend und im Hintergrund entwickelt haben. Davon abgegrenzt werden Normverletzungen, über die in einem reglementierten und schrittweise umzusetzenden straf- oder zivilrechtlichen Verfahren vor Gericht entschieden werden muss. Daneben wird der Begriff ›Verantwortung‹ heute gleichbedeutend mit ›Zuständigkeit‹ verwendet, und damit wird auf – mehr oder weniger formell festgelegte – übernommene oder zugeschriebene Aufgaben verwiesen. Die Zuständigkeit kann sich auf Verantwortung für Sachen und/oder für Personen, auf die Anwendung von abstrakten Können und Wissen oder die Entwicklung und Überwachung technischer Prozesse situativ oder als Umschreibung beruflicher Aufgaben beziehen. In Dienstleistungsbereichen oder Professionen verbindet Verantwortung in besonderer Weise Fachwissen mit sozialen Kompetenzen. In bewusster Abgrenzung zu Theorien, die Verantwortung als »unausweichliches Komplement der Freiheit, die das Wesen der menschliche[n] Existenz ausmacht«, behandeln (vgl. Bayertz/Beck 2017: 135) konzentriert sich eine erste Rückschau auf die »inhaltlichen Wandlungen des Verantwortungsbegriffs« im Zusammenhang mit Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels und »objektiven Problemverschiebungen« (Bayertz/Beck 2017: 134ff.). Die Erweiterungen gehen von diesem »klassischen Modell« des relationalen Verantwortungsbegriffs aus, der eine soziale Praxis beschreibt, in dem ein Subjekt/eine Person für die (negativen) Folgen seines/ihres Handelns vor einer Instanz im Rahmen eines Normen- und Wertesystems zur Verantwortung gezogen werden kann und erklärend Rechenschaft ablegt/ablegen muss (ebd.). Diese Form der nachträglichen Rechtfertigung genügte in einer arbeitsteilig und anonym organisierten Arbeitswelt mit ihren unkontrollierbaren Risiken, die der technologischen Entwicklung und der (rücksichtslosen) Orientierung an Effizienzsteigerungen geschuldet waren, nicht mehr. Mit der Entwicklung zu einer »verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung« wird »Verantwortung entmoralisiert und als Instrument der sozialen Schadensregulierung eingesetzt» (Bayertz/Beck 2017, S. 141). In der Folge verändert sich Verantwortung zum Mittel und zur Norm, Schäden durch vorausschauendes Handeln zu verhindern und angestrebte Ergebnisse zu erreichen (ebd.). Mit Verweis auf Kaufman (1989) betonen Bayertz/Beck die Erweiterung durch eine Neutralisierung des Verantwortungskonzepts: Verantwortung liegt im Spannungsfeld zwischen Verantwortung als Selbstverpflichtung einerseits und der Zuschreibung von Verantwortung für zukünftige Aufgaben und Sorgepflichten andererseits. Verantwortung wird hier zur sozialen Funktion der »Mobilisierung von Selbstverpflichtung im Sinne nicht programmierbarer Handlungsbereitschaft für spezifi-
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sche Zwecke sozialer Systeme« (Kaufmann 1989: 205–207). Diese muss gleichzeitig als notwendig persönlich-freiwillige Handlungsbereitschaft und zugeschriebene Handlungsfähigkeit in offenen risikoreichen Konstellationen verstanden werden (ebd.: 212). Und dabei beziehen sich Risiko-Bewertungen auf immer neue Handlungsfolgen und soziale Zusammenhänge. Das verweist aber auf das konfliktreiche Problem, dass ökomische Risiken auch soziale Risiken sind, die aus der Sicht von Kapitaleigner*innen eine andere Qualität annehmen als für Sozialhilfeempfänger*innen. Betrachtet man im Rückblick die Arbeitsbedingungen in den ersten Zentren industrieller Produktion, so löste hier die Norm der vorausschauenden Verantwortung die rigide Aufsicht und willkürliche Strafe zur Verhinderung von Schäden und Sicherung von Produktionsabläufen ab. In diesen Zusammenhang gehören sicher auch die steigenden Ansprüche an Qualifizierung der Arbeitskraft im staatlichen Bildungswesen, die stetige Steigerung von betrieblicher Ausbildung, desgleichen die Anerkennung von Berufen aber auch der Arbeitsschutz und die betriebliche Unfallversicherung. Sie konnten sich im 20. Jahrhundert auch mit den gewerkschaftlichen Forderungen nach Humanisierung der industriellen Arbeitswelt verbinden. Besondere Geltung beansprucht ein solcher Verantwortungsbegriff in den neuen Professionen und Berufsfeldern.
Verantwortungsethik, Pluralisierung und Globalisierung des Verantwortungshorizonts Als eine Erweiterung des ethischen Bezugsrahmens wertet Banzhaf eine Verantwortung, die von ihrer Aufgabe aus begründet wird (Banzhaf 2017: 151). Angesichts der atomaren Bedrohung und der sichtbar werdenden Gefährdungen unserer Lebensgrundlagen durch Klimawandel und Ausbeutung der Natur erweitert sich bis in unsere Zeit der kosmologische und moralphilosophischen Horizonts wie Jonas (1975) ihn in seiner Ethik der Verantwortung begründet hat: »Verantwortung werde so durch das Sein begründet, das von solchen Handlungen betroffen ist«. Verantwortung in sozialen Beziehungen und gegenüber der Natur sei der Kern menschlicher Identität und damit allen Menschen zugehörig. Sie begründet sich aus der darin eingebetteten Existenz des Menschen und ihrer Erhaltung. Sie enthält Empathie genauso wie die Suche nach den Menschen in den ökonomischen Verhältnissen. Jonas überträgt den Begriff der Sorge auf die gesamte Natur. Nicht nur der Mensch ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses geht, sondern jedes Lebewesen hat den Anspruch auf Leben und Überleben (vgl. Moser 2016). Grundlegend dabei ist, dass Rechte und Ansprüche sich nicht auf ein Vertragsverhältnis beziehen, sondern dieser Anspruch eben in der Verletzlichkeit des Seins von Mensch und Natur selbst begründet ist. Daraus erwächst eine prinzipielle Pflicht des Bewahrens, die
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keine institutionelle Rechtfertigung braucht, sondern im Leben und Überleben des Menschen angelegt ist. Eine Begründung aus dem »Objekt« und nicht dem Zweck des verantwortlichen Handelns, als quasi naturrechtlich vorgefundene Norm, die nicht mehr begründet werden muss, stellt jedoch ein eigenes philosophisches Problem dar, das hier nicht behandelt werden soll (vgl. Ineichen 2005). Hier werden mit der Anerkennung von Angewiesenheit direkt Begründungen für Ethik und Moral verknüpft: als Begründung z.B. als Verpflichtung auf Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechte und Menschenwürde. Jonas – wie viele andere – greift auf der Suche nach einem überzeugenden Beispiel auf eine aus sich selbst begründete Verantwortung zurück, wie sie scheinbar selbstverständlich als körperlich-emotionaler und kulturell-normativer Auftrag einer Mutter für ihr hilfebedürftiges neugeborenes Kind aufgegeben ist. Hier liegt die Begründung in der Formel des für sein Überleben und die Entwicklung von Autonomie auf unmittelbare und stetige Fürsorge angewiesene Kind. Der moralische Anspruch eines Kindes wird ganz in die Verantwortung einer Person gegeben, die dafür freigestellt und seelisch in der Lage sein muss. Diese Person ist hier immer noch eine weibliche Bezugsperson, die das Kind geboren hat – heute erweitert und auch ersetzt um weitere (weibliche) Verwandte, neue Elternpersonen und Dienstleister*innen. Doch diese Konstellationen sind voraussetzungsvoll; sie enthalten nicht nur eine Idealisierung der Eltern-Kind-Beziehung, sondern fußen auf geschlechtshierarchischen Zuschreibungen und ungelösten gesellschaftlichen Konflikten. Dennoch ist es wichtig, hier schon auf eine Neuorientierung hinzuweisen, die Moser in der Argumentation von Jonas herausstellt: »Die Schwächsten werden zur Verantwortungsinstanz, vor der die Mächtigen sich zu verantworten haben« (Moser 2016: 69). Verletzlichkeit ist eine gewichtige Kategorie für die Sensibilisierung bis hin zum Aufweis von Diskriminierungen, wie sie z.B. für die #MeToo Bewegung bedeutsam geworden ist. Verletzbarkeit und Verletzlichkeit haben so den Verantwortungsrahmen und die Praxis der Konfliktbearbeitung erweitert. Das gilt z.B. auch für Klimaschutz in verfassungsrechtlicher Aufarbeitung, mehr noch für den Aufweis rassistischer und sexistischer Diskriminierung durch Betroffenen-Initiativen. Doch es sollten auch gesellschaftliche Bereiche Aufmerksamkeit erlangen, in denen Betroffenen-Orientierung bisher erschwert ist bzw. verweigert wird, z.B. bei Diskriminierungserfahrungen in Armutslagen und bei drohender Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Ein Beispiel sind die Hindernisse, die die Festsetzung eines Mindestlohns und die Kontrolle von dessen Einhaltung begleiten. Die historisch bedeutsame Erweiterung, bei der Menschenwürde zum Ziel und zur inhaltlichen Bestimmung der Menschenrechte herangezogen wird, die verfassungsmäßig im Rechtsstaat und in internationalen Organisationen für Menschenrechte ihre Verankerung gefunden haben, ist erst unter dem Eindruck von Verfolgung, Krieg und Vernichtung im Nationalsozialismus durchgesetzt worden (Pollmann 2022). In dem Maße, wie sich das Wissen unter dem Einfluss von Naturwis-
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senschaften vermehrt, werden Grenzen und Nicht-Eingelöstes sichtbar: Es ist Aufgabe von Ethik-Kommissionen, zwischen Machbarkeit und Wünschbarkeit z.B. in der Genom-Forschung, für die medizinisch und sozial eröffneten Möglichkeiten der Unterstützung von Kinderwunsch, oder in den Regelungen der Freiheit zur Selbsttötung einen ethisch-normativ begründbaren Weg zu finden (vgl. Teil III). Einen weiteren Wandel im Verantwortungsbegriff sieht Banzhaf (2017) darin, dass Verantwortung nun auch auf die Herstellung von systemischen Anordnungen angewendet werden und sich für eine Organisationskultur einsetzen lassen kann, die die Übernahme von Verantwortung erst ermöglicht und absichert (Banzhaf 2017: 163f.). Erweiterte Ansprüche an eine Systemverantwortung werden bei Beck durch dynamische Prozesse begründet, die sich – systemisch gesprochen – auch hin zum Chaos entwickeln können und die eine Kontrollverantwortung überschreiten. Diese Ansprüche machen es auch ethisch und politisch erforderlich, Risikofolgen, die sich in systemischen Prozessen selbst, aber auch aus Ungewissheit und Unsicherheit ergeben, zu berücksichtigen. Dafür seien Handlungsspielräume offen zu gestalten, Ressourcen abzusichern und eine Entscheidungskultur mit der Selbstbindung an Regeln und Normen zu fördern. Diese zielt also gleichzeitig auf Rahmenbedingungen für Selbstregulierung ab, in denen am Ende eine Person dafür sorgt, dass die Eigensteuerung von Organisationen in kooperativer Abstimmung mit Fremdinteressen erfolgt ( vgl. Beck 2016). Zur Pluralisierung von Verantwortung gehört auch die neue Betonung von Selbstverantwortung. Selbstverantwortung als Verantwortung vor sich selbst und für sich selbst wird oft nicht klar genug voneinander unterschieden. Dabei kann Selbstverantwortung institutionell erwartet werden und moralische Verantwortung vor sich und für sich selbst vor allen Dingen im Dialog mit sich selbst und »bedeutsamen Anderen« bearbeitet werden. Als postmodernes Beispiel kann der Eigenbericht eines sich zum Software-Spezialisten herangebildeten Mannes gelten. Er erzielte seine finanzielle Absicherung mit der Entwicklung von Spyware und dem Schutz vor Hacker-Angriffen und geriet in das entgrenzte Feld der Produktion von Kinderpornografie. Er entschuldigte sich direkt bei den Opfern und fasste den Entschluss, sich in der Hilfe bei der Aufdeckung von Kindesmissbrauch im Netz einen neuen Beruf zu suchen. Das Beispiel kann um die Ausstiege aus BankKarrieren und anderen Berufszweigen, die unter moralischen Gesichtspunkten fragwürdig geworden sind, ergänzt werden. Die Erweiterungen des Verantwortungsbegriffs um Selbstverantwortung und Selbstsorge haben im privaten Alltag – aber auch in der Arbeitswelt – Verbreitung gefunden. So soll z. B. die Interaktionskompetenz mit Hilfe von Übungen gestärkt werden, die gegen (projektive) Kommunikationsblockaden die Eigenverantwortung der Teilnehmer*innen für ihre Gefühle entwickeln hilft. Dies soll sowohl der betrieblichen Verantwortung für Gesundheit am Arbeitsplatz und dem sozialen Klima bei der Konfliktbewältigung dienen. Öffentliche Gesundheitsvorsorge und die zahl-
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reichen medienwirksamen Handlungsanweisungen für ein gesundes Leben finden ihre Grenzen in weiterbestehenden Belastungen, die nicht zur Diskussion stehen und nicht beseitigt werden. Dann bleiben zwischen abverlangter Selbstverantwortung und Grenzen der Verantwortlichkeit in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen vor allen Dingen Zumutungen und Anforderungen an Selbstoptimierung zurück. Die Verlagerung von Verantwortung in die abhängig Beschäftigten ohne übergeordnete betriebliche Verantwortungsübernahme hat den prekären Status der ›Arbeitskraftunternehmer*in‹ hervorgebracht. Als Verantwortung in der Spannung zwischen Selbstsorge und Machtkritik angesiedelt, kann daraus aber auch die Suche nach neuen Zielen und Organisationsformen entstehen. Andererseits muss damit gerechnet werden, dass sich innerhalb von Organisationen Verantwortung dann in Zonen der Überlastung verlagert, wenn sich widersprüchliche Handlungslogiken entwickeln und normative Bewertungshorizonte sich widersprechen. Dabei macht es einen Unterschied, ob diese Widersprüche offen als Konflikte bearbeitet werden können oder verdeckt bleiben und nur als Leiden ausgelebt werden können. Offen formuliert kann Verantwortung so einerseits den Mut zur Gestaltung stärken und dabei zur eigenverantwortlichen und kritischen Überprüfung der Ziele führen, andererseits aber auch eine stillschweigende Unterordnung unter Ziele in Kauf nehmen, auch wenn sie nicht von allen geteilt werden. So können z.B. betrieblich vorgegebene Wachstumsziele fremdbestimmt bleiben bzw. einer fremden Entscheidungsmacht und Zielen der Gewinnabschöpfung für Eigner*innen zugewiesen werden (Shareholder-System unter Konkurrenz-förmigen Verwertungsprinzipien des Kapitals). Ein Blick in die Rolle von Verantwortung in Handreichungen für optimale Mitarbeiterführung zeigt, dass Offenheit für die Anliegen und Sorgen der Mitarbeiter*innen und Gestaltungsfreiheit an ein konkurrenzförmiges Wachstumsziel gebunden bleiben. In der Pluralisierung von Verantwortung können Widersprüchlichkeiten in und zwischen Verantwortungsbereichen sichtbar werden. Aber auch die ungelösten Konflikte, die gesellschaftlichen Einbrüche von Moral und mitmenschlicher Verantwortungsfähigkeit angesichts von Flucht und Vertreibung und die Beispiele der Aufrichtung einer auf Bedrohung angelegte gesellschaftliche Ordnung müssen uns bewusst bleiben. Die bisher historisch einmalig im Nationalsozialismus dokumentierten Handlungen von Täter*innen und die Erfahrungen von Opfern bleiben als nicht endgültig einlösbare Aufgabe der Zeugenschaft und Aufklärung. Und bis heute werden Menschen vom Recht auf Leben ausgeschlossen. Dieser Einbruch fand nach dem Krieg unter Schwierigkeiten Eingang in den Auftrag einer historischen Verantwortung. Er gründet auf den Initiativen, dem Engagement und den Anstrengungen der Überlebenden und Zeug*innen, Verantwortung einzuklagen. Eine besondere Rolle spielen immer noch die Kämpfe um Arbeiter*innen-Rechte und Daseinsvorsorge sowie für die internationale Geltung sozialstaatlicher und menschenrechtlicher Ansprüche. Angesichts von weltweiter Armut erweitert sich
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gesellschaftliche Verantwortung für die Folgen einer auf Expansion ausgerichteten Wirtschaftspolitik und die Grenzen entwicklungspolitischer Maßnahmen. Die philosophischen und wissenschaftlichen Bemühungen, die zerstörerischen Wirkungen der Atomkraft von der nachträglichen in vorausschauende Verantwortung zu überführen, sind nach dem Krieg gewachsen und drohen heute wieder zu scheitern. Wissenschaftliche Warnungen vor Umweltzerstörung, gegen die Ausbeutung der Natur haben immer neue soziale Bewegungen angeleitet. Eingefordertes Wissen um die Wirkung von Sklaverei als Grundlage für Diskriminierung und postkoloniale Lebensverhältnissen zeigt erst jetzt, dass die Praxis der Verleugnung von Verantwortung nur unter dem Druck von sozialen und politischen Bewegungen aufgegeben werden kann.
Zum gesellschaftlichen Hintergrund von Angewiesenheit und Verantwortung Das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bildet die zentrale Hintergrundstruktur von Angewiesenheit und Verantwortung. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung – so Emile Durkheim (1973) – befördert zwar die Individualisierung des Menschen, lässt ihn aber auch gleichzeitig das soziale Angewiesen-Sein auf andere existentiell spüren. Dennoch hat Durkheim nicht auf einen sozialen Automatismus vertraut, denn er wusste um die Brüche und Diskrepanzen zwischen ökonomischtechnologischer und sozialer Integration und die Eigengesetzlichkeit der Vergesellschaftung. Deshalb kommt auch schon bei ihm der Staat als Moderator und Gewährleister vor, der die Balance von bürgerlicher Individualität, Vergesellschaftung, sozialer Integration und sozialer Verantwortung halten soll. Dennoch bleibt auch in diesem Modell der Begriff der Freiheit individualistisch, denn er steht dem individuellen Kalkül, dass das soziale Angewiesen-Sein auf andere dem eigenen Nutzen näher ist als dem Willen zur sozialen Verantwortung. Weder im Marktmodell noch in dem der Arbeitsteilung ist die Machtfrage thematisiert oder die historische Tatsache berücksichtigt, dass Freiheit und Verantwortung nicht nur anthropologisch begründete ethische Werte, sondern Resultat entsprechender konflikthafter Formen der Vergesellschaftung sind. Norbert Elias (1983) wiederum geht davon aus, dass mit der Herausbildung moderner Staatlichkeit und dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit dem Übergang in die frühindustrielle Zeit die Menschen nicht nur in Sicherheit miteinander leben können, sondern auch begreifen müssen, dass sie aufeinander angewiesen und darin zur Kooperation gezwungen sind. Dies verlangt von ihnen aber entsprechende emotionale und soziale Selbstkontrolle und vom staatlichen System gesellschaftliche Integrationskraft. »Schrittweise verwandelten sich zwischenmenschliche Fremdzwänge in einzelmenschliche Selbstzwänge, denn
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mit Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols setzte eine Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Recht und Politik ein. Diese wiederum beförderte eine stärkere Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen (Interdependenz), machten die Abstimmungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern notwendig, sodass der einzelne gezwungen war, sein Verhalten differenzierter, gleichmäßiger und stabiler zu regulieren« (Adloff/Hindeja 2019: 109). Der Prozess der Zivilisation, wie ihn Elias historisch aufgeschlossen hat, kann somit als komplexer Modernisierungsprozess und darin als Prozess der Emanzipation verstanden werden. Machtverhältnisse werden im Prozess der Staatenbildung zentralisiert und darin legitimiert, die gesellschaftliche Differenzierung und damit die Angewiesenheit der Menschen aufeinander nehmen zu. Das hat zur Folge, dass die äußeren institutionellen Kontrollen abnehmen und innere Kontrollen als Formen der Selbstkontrolle sich zunehmend entwickeln: von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung. Mit der gesellschaftlichen Differenzierung steigt die gegenseitige Angewiesenheit und Verantwortung und damit auch die Aufforderung, sich in andere hineinversetzen zu können. Das verlangt ein hohes Maß an Affektkontrolle und Rationalität in der Organisation des eigenen Lebens. Von feministischer Seite ist diesen erwarteten Zivilisationsgewinnen entgegengehalten worden, dass davon Gewalthandeln gegenüber Frauen und Kindern in familiären privaten Beziehungen nicht eingedämmt sondern tabuisiert und der Verantwortung entzogen wurde. Unter dem Konzept der Individualisierung benennt dagegen Beck (1986) widersprüchliche Vergesellschaftungsformen der Subjekte in der fortschreitenden Moderne: Freisetzung und Individualisierung bedeuten nicht eine Aufwertung der Subjekte sondern zeigen, dass Autonomie, individuelle Verselbstständigung, gerade schwieriger werden. Der einzelne Mensch wird aus alten Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen befreit und steht stattdessen unter Zwängen und Anforderungen abstrakter gesellschaftlicher Institutionen (Bildungseinrichtungen, Arbeitsmärkte, sozialpolitische Versorgungsysteme). Konflikte wandern ab in die Struktur und sollen privat bewältigt werden. Die mit Individualisierung umschriebenen Veränderungen fordern auch die Innenwelten und seelischen Ausstattungen der Subjekte heraus. Sie müssen selbst gegen eine Auflösung innerer und äußerer Sicherheiten gewappnet sein und sich um Einbindung und soziale Integration ebenso wie um ein gelingendes Leben darin bemühen. Soziale Bewegungen müssen mit ihren Forderungen die Reichweite der Institutionen kritisch überschreiten, damit eine Neuformulierung über die unmittelbaren Betroffenheiten und über die (global) freigesetzten Lebensthemen möglich und konsensfähig wird. Das Engagement ihrer Mitglieder müssen sie deshalb auch durch »inneres commitment« erlangen (Imbusch/Rucht 2007: 51). Bei Kaufmann (1989: 205) wiederum zeigt sich, dass die letztlich unsichere Bindung an die moralische Selbstverpflichtung von Personen die Auseinandersetzung mit den sich daraus notwendig ergebenden sozialen Konflikten übergeht.
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Für ihn besteht die soziale Funktion der Zuschreibung von Verantwortung und Verantwortlichkeit in der »Mobilisierung von Selbstverpflichtung im Sinne außergewöhnlicher nicht programmierbarer Handlungsbereitschaft für spezifische Zwecke sozialer Systeme«. Erwartungssicherheit bei gleichzeitiger Offenheit für verschiedene soziale Zwecke mache Verantwortung anwendbar bzw. anschlussfähig für kommunikativ verankerte Handlungslogiken, nach denen sich gesellschaftliche Bereiche ausdifferenziert haben, um Komplexität zu reduzieren (vgl. Luhmann 1985). Die Herkunft aus der Systemtheorie Luhmanns zeigt sich in der Verbindung von Verantwortung mit Erwartungssicherheit und Vertrauen. In Abgrenzung zu privaten Beziehungen muss diese Erwartungssicherheit in komplexen Situationen und über verlängerte Handlungsketten gegeben sein, die dazwischen in »intermediären Sozialsystemen« formaler Organisationen festgeschrieben sind. In diesen Organisationen erhält verantwortliches Handeln mit der Größe der Aufgabe auch größere Handlungsspielräume, ist dabei aber in konflikthafte Erwartungen eingebunden, die zugleich risikoreiche Entscheidungen erfordern. Die Zuschreibung von Vertrauen bindet sich vor allem an professionalisierte Berufe, insofern sie hier durch Fachausbildung gesichert und Berufsverbände beglaubigt werden kann. »Die Organisation fungiert somit als eine Art Vertrauensschutz in zunehmend anonymer werdenden Sozialbeziehungen« (Kaufmann 1986: 213). Zwischen den »Zwecken sozialer Systeme« bleibt bei Kaufmann Verantwortung jedoch an die abgesicherte Möglichkeit einer »Identifikation mit teilsystemübergreifenden normativen Vorstellungen also z.B. der eines freien zur Verantwortlichkeit aufgerufenen Wesens« rückgebunden. Hierin sieht Kaufmann den »Kern des Verantwortungsproblems«: »Mit dem Ruf nach Verantwortlichkeit rekurrieren betroffene und unbetroffene Dritte auf den moralischen Bestand von Persönlichkeiten, weil sie auf andere Weise bestimmte Steuerungsprobleme sozialer Systeme nicht mehr glauben in den Griff bekommen zu können« (Kaufmann 1989: 220). Einer solchen ethischen Fundierung konnte man sich aber nicht immer sicher sein. In seiner Untersuchung bei Führungskräften wiesen Ergebnisse darauf hin, dass Opportunismus durchaus mit eine Verantwortlichkeit sich selbst gegenüber vereinbar ist (vgl. Kaufmann u.a.1986) Erwartungssicherheit kann aber so auch – entgegen sonst Zwang und Kontrolle zugeschriebenen Wirkungen – als stillschweigendes Wirkprinzip angenommen werden, wenn Handlungsaufträge, die eine Diskriminierung oder auch die existenzielle Bedrohung für Betroffene bedeuten, deswegen erfüllt werden, weil erwartet werden kann, dass alle anderen auch so handeln werden. Das Problem einer ›gespaltenen Verantwortung‹, das auf einer weiteren Verantwortungsebene thematisiert werden muss, entsteht vor allem in der Nachhaltigkeitsfrage: Wenn in der Auseinandersetzung um den Klimawandel die gesellschaftliche Verantwortung für die Zukunft des Planeten angemahnt und eine rasche Energiewende zulasten fossiler Energien gefordert wird, so wird dem politisch meist
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entgegengehalten, man habe doch genauso Verantwortung für die dortigen Arbeitsplätze und die dürften nicht so ohne weiteres gefährdet werden (vgl. TeiI II).
Verantwortung gegenüber der Natur Seit Hans Jonas (1975) in seinem »Prinzip Verantwortung« propagiert hat, dass die Zukunft der Erhaltung der menschlichen Existenz von der Bewahrung der Natur abhängt, ist die Bedeutung von Natur als ein konstituierendes Element Gesellschaft auch in der Soziologie erkannt worden. »Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur, Natur nicht mehr ohne Gesellschaft verstanden werden«. In der Ersten Moderne wurde Natur immer als etwas »Nichtgesellschaftliches« gedacht. »Damit aber immer als etwas Gegenüberstehendes. Diese Unterstellungen hat der Industrialisierungsprozess selbst aufgehoben. […] Am Ende des 20. Jahrhunderts ist Natur […] geschichtliches Produkt geworden, in den natürlichen Bedingungen ihrer Reproduktion zerstörte oder gefährdete Innenausstattung der zivilisatorischen Welt. Das aber heißt: Naturzerstörungen integriert in die universelle Welt der Industrieproduktion, hören auf, bloße Naturzerstörungen zu sein und werden integraler Bestandteil der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Dynamik«. Naturzerstörungen verwandeln sich in ökonomisch-gesellschaftliche Konflikte (Beck 1986: 107). Diese Erkenntnis hat aber auch ihre Geschichte: »Bis zu den heutigen Diskussionen über eine biopolitische Wende in der gesellschaftlichen Selbstthematisierung, erscheint es eher so, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenüber erst Voraussetzung für neue Konzepte ist« (Groß 2006: 111). In seinem letzten Buch ›Metamorphosen‹ (2015) treibt Ulrich Beck diese Integrationsperspektive Gesellschaft/Natur weiter und spricht davon, dass der Klimawandel Natur und Gesellschaft vereint habe. Das einigende Band heißt Nachhaltigkeit und hier erweitert sich der Verantwortungs-Begriff über den Menschen hinaus und fällt doch wieder auf ihn zurück. Mit der Einbindung in die menschliche Existenz verliert die Natur ihre Objekthaftigkeit und wird zum Subjekt ähnlich der – wenn auch nicht bewussten – Subjekthaftigkeit des Menschen. Das geht so weit, dass die Natur als Rechtssubjekt gedacht werden kann (vgl. Kersten 2020). Verantwortung für die Natur ist damit Antwort auf das Recht der Natur. Wenn die Natur den Menschen anklagt, wie dies alltagssprachlich heißt, so ist das nun nicht mehr nur metaphorisch, sondern materiell zu verstehen. Die evolutionäre Entwicklung von Mensch und Natur tritt in den Vordergrund (vgl. Kirchhoff 2020). Wenn man Gesellschaft gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Kneer 2013), als netzwerkdynamisches Makro-Gebilde versteht, in dem unterschiedliche Entitäten – soziale, ökonomische, technologische und eben auch naturhafte – aufeinander bezogen sind, dann erscheint Natur als kritische Größe im Vergesellschaftungsprozess. Sie setzt Handlungsaufforderungen, ja Handlungszwänge frei, die einen
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gesellschaftlichen Aufforderungsraum Care abstecken. Insofern ›handelt‹ die Natur zwar nicht im Sinne sozialen Handelns, sondern als ›Aktant‹ in diesem gesellschaftsübergreifenden Netzwerk. Wenn man allgemein Handeln als Fähigkeit begreift, Prozesse in Gang zu setzen, Kausalitäten zu schaffen und Grenzen zu verändern (vgl. auch Giddens 1995: 66), dann ist die Natur zweifellos ein zentraler Aktant der Gesellschaftsentwicklung (vgl. Laux 2014: 119ff.). Gleichzeitig wird in dieser gesellschaftlichen Spannung zur Natur die Erkenntnis von der ›Natur des Menschen‹, seiner natürlichen Begrenzung und darin seiner Verletzlichkeit freigesetzt. Trotz dieser gesellschaftlichen Einbeziehung der Natur »ist es erforderlich, auch die Differenz zwischen Natur und Gesellschaft zu reflektieren. […] Wie lässt sich eine […] Soziologie erfinden, welche das Soziale nicht als Ausgangspunkt, sondern als Resultat einer Ko-Produktion von Gesellschaft und Natur begreift« (Lemke 2008: 4175). In der relationalen Kategorie der Verantwortung ist diese Differenz gewahrt und wird gleichzeitig diese Ko-Produktion gefordert. In Verantwortung ist Respekt enthalten. Respekt bedeutet, die Würde und Eigenheit der Natur anzuerkennen und diese Anerkennung in das eigene Gesellschaftsverständnis selbstkritisch zu integrieren. Respekt meint Gegenseitigkeit. Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer solchen Ko-Produktion bei Achtung der Differenz ist im Prozess der reflexiven Modernisierung freigesetzt worden. So kann das zyklische Prinzip der Natur sich hemmend wie korrigierend auf den Beschleunigungsdruck der Externalisierungsgesellschaft auswirken und zum Innehalten auffordern, während seitens der Gesellschaft das Nachhaltigkeitsprinzip der Natur ihre evolutionäre Autonomie sichert.
Verantwortungslosigkeit Im Internet verliert sich das moralische Prinzip. Zu offenkundig werden sozialmoralische Grundprinzipien wie Verantwortung oder Respekt verletzt. Verantwortung und Verantwortungslosigkeit stehen beliebig nebeneinander, genauso wie Möglichkeiten der manipulativen Steuerung und Chancen der Partizipation. Das World Wide Web ist sicher auch zu einer Plattform geworden, in der territorial voneinander getrennte Initiativen und soziale Bewegungen sich aufeinander beziehen und neue Formen der Netzwerkkommunikation wie der Meinungsmobilisierung entwickeln können. Dadurch werden ihre sonst sozial und territorial begrenzten Interessen in ein global-mediales Netzwerk eingebunden, das dann an verschiedenen sozialen Orten der Welt aktiviert werden kann. Als Voraussetzung bleibt aber, dass ein Zusammenhang zwischen sozial eingebundener und Internetkommunikation bestehen bleibt und dadurch sozial wirksam werden kann. Weiter ist zu diskutieren, wie es um den Umgang mit Konflikten steht. Die Link-Kultur des Internets ist im Prinzip undialektisch strukturiert, Widersprüchliches kann beliebig nebeneinander gestellt und miteinander vermischt werden.
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Der konkrete Sozialraum, in dem Interessen erfahrbar aufeinander stoßen, fehlt. Dazu kommt die digitale Eigendynamik des Mediums: Es generiert eine Überfülle von Informationen, die aber gleichzeitig im Wettbewerb um das Neueste, Außergewöhnliche und Einmalige stehen. So hat das Netz inzwischen seine Eventspiralen, die auch entsprechend nachgefragt werden. Denn bei all dieser neuen Mediendynamik darf nicht vergessen werden, dass die Nutzer*innen – seien sie auch gleichzeitig Produzent*innen – nicht in einer virtuellen, sondern in einer konkreten sozialen Welt leben, aus der heraus sie sich ins Internet begeben. Auch hier gilt wieder der Grundsatz der Medienwirkungsforschung, nach dem die Medienwirkung immer abhängig ist von der sozialen Umgebung, in der sich die Nutzer*innen befinden und aus der heraus sie medial interagieren. Deshalb wehren sich auch viele politische Bildner*innen gegen eine bloße Anpassung ihrer Bildungsarbeit an die Eventdynamik der neuen Medien und bestehen auf sozial gebundenen und reflexiven Arrangements; also darauf, dass die Teilnehmer*innen zwar lernen, als Produzent*innen im Netz zu agieren, dies aber jederzeit auf die reale soziale Welt hin gewichten und relativieren zu können. In der schnellen Abfolge von Innovationen hat seit einiger Zeit die Künstliche Intelligenz insbesondere um die weltweit verfügbare Chat-GBT einen qualitativen Umbruch erreicht. Aus zahlreichen kontrovers geführten Debatten lässt sich ablesen: In vielen Feldern erreichen selbstlernende Systeme wichtige Fortschritte. Dazu zählt der medizinische Bereich und in der industriellen Produktion die (selbstlernende) technologische Überwachung von Fehlern schon in der Entstehung. Die Bedeutung moralisch fundierter Entscheidungsprozesse, die eine überlegte, von Begründungen getragene Kommunikationsfähigkeit voraussetzen, lässt sich nun noch weniger in den von Fake-News in überschwemmten Netzwerken unterscheiden. Doch als noch gravierender sieht der TV-Experte Rangar Yogishvar, dass die für die verantwortliche Rekonstruktion der Folgen von Handlungen notwendige Transparenz von Kausalitätszusammenhängen durch Korrelationen von digitalen Mustern ersetzt wird, die je nach individueller Nachfrage im Netz neu zustandekommen. Doch nicht nur die Autorenschaft geht verloren sondern auch das in der Begegnung sich manifestierende verantwortliche Interesse am anderen Menschen. Die Verantwortung für die Absicherung vor diesen Risiken richtet sich zuerst auf staatlich und überstaatlich zustande kommende Regulierungen. Soziale Entbettung (vgl. Giddens 1995) und Abstraktionen spielen in diesen Zwischenwelten der Verantwortungslosigkeit zusammen. Die Finanzsysteme haben keinen Bezug zur realen sozialen Welt, die Akteure als Täter kennen ihre Opfer nicht. Die staatlichen Institutionen erleben es als neue Integrationskrise. In ihrer empirisch rückgebundenen Analyse zur gesellschaftlichen Verantwortung von (meist männlichen) Wirtschaftseliten haben Peter Imbusch und Dieter Rucht (2007) gezeigt, dass die Führungskräfte kleiner und mittlerer Unternehmen sich eher als Großunternehmen und Konzerne verbindlich zu einer solchen sozialen Verant-
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wortung bekennen und entsprechende Projekte fördern. Das verweist darauf, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen regionaler Bindung und sozialer Verantwortung und zwischen globaler Entbettung und Verantwortungslosigkeit gibt, der jedoch gegenüber profitökonomischen Interessen vertreten werden muss (vgl. auch Connell 1998). Global agierende Konzernen verfolgen mit lokalen Projekten, in denen sie soziale Verantwortung auf freiwillige und private Basis zu stellen, das Interesse, sich auch auf dem regionalen Arbeitskräfte- und Absatzmarkt zu verorten (Zeller 2001). So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich viele von ihnen nichts dabei denken, wenn sie einerseits vollmundige Bekenntnisse zur corporate social responsibility abgeben und gleichzeitig in ihren Konzernen Massenentlassungen ökonomisch rechtfertigen. Es sind ja für sie zwei voneinander getrennte Welten. So lassen sich profitökonomische und wohlfahrtliche Haltung – gleichsam als Module – miteinander verbinden. Beispiele: In ihren Berichte(n) aus der Bankenwelt haben Neckel u.a. (2010) eine Struktur der Herausbildung von Verantwortungslosigkeit beschrieben, die durchaus verallgemeinerungsfähig ist. Sie zeigen, wie die Akteure versuchen, trotz der Hilflosigkeit, die die Finanz- und Bankenkrise der 2000er Jahre erzeugt hat, Handlungsfähigkeit durch Abspaltungen zu suggerieren. »Die Verantwortungslosigkeit der staatlichen Institutionen bezüglich der Bankenregulierung und die kriminelle Verantwortungslosigkeit der handelnden Manager verbinden sich in einer Zwischenwelt, die durch Empörung und Skandalisierung nicht zu durchdringen ist. »Vielfach verliert sich die Frage nach der Verantwortung im Ungefähren. Ein abgedrängtes Schuldbewusstsein wird dorthin verbracht, wo das eigene Gewissen keine Risiken eingehen muss. Daher hat sich im Bankermilieu eine Art Verschiebebahnhof der Verantwortung etabliert, dessen Gleise in unterschiedlichste Richtungen abgehen. Zum einen sind im Prinzip alle Schuld an der Krise gewesen, also die Gier des Menschen schlechthin. In der Metaphorik der Gier, die übermächtig alle Äußerungen zur Erklärung der Finanzkrise durchdringt, naturalisiert sich jetzt, was das Resultat institutionalisierter Wettbewerbszwänge ist, zu einem vorgeblich anthropologisch verankerten Antrieb des Menschen, der auf den Finanzmärkten nur ein besonders lohnendes Anwendungsfeld fand. Die Konsequenz der ›Gier‹ als Deutungsfigur ist eine generelle Entlastung: Da alle Menschen gierig sind, haben die gierigen Banker nur getan, was jeder andere an ihrer Stelle gemacht hätte. In der öffentlichen Kritik an der Finanzspekulation artikulieren sich demnach auch nur der Neid, vorher beim ›Abcashen‹ nicht dabei gewesen zu sein. Nicht die Regelmäßigkeit der Finanzmärkte, nicht überzogene Renditemodelle und benennende Interessen an Macht-und Gewinnsteigerung stehen dann für die Finanzkrise, sondern eine Emotion, die sich vermeintlich unabweisbar im ökonomischen Handeln geltend macht. […] Im Zentrum eines zweiten Musters, dass der strukturieren Verantwortungslosigkeit mental Vorschub leistet, steht die Delegation. Dann waren es immer die anderen, die uns die Finanzkrise eingebrockt haben. Zu ihnen gehören
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wahlweise die Investmentbanken, die Finanzingenieure, die Ratingagenturen, die Finanzdienstleister, die Kunden, die Männer, das Topmanagement, die Amerikaner, die Politik oder der Staat. Die große Exkulpationsmaschinerie aber ist ›der Markt‹, der das eigene Handeln angeblich wie eine Naturgewalt determiniert und von der Glaubensbruderschaft der neoliberalen Ökonomie in den letzten dreißig Jahren zur absoluten Instanz erklärt worden ist. Hinter dem Markt und seinen Gesetzen verschwindet alles, was Akteuren und ihren Interessen noch zurechenbar wäre« (Neckel u.a. 2010: 305f.).
Autonomie und Angewiesenheit in dialektischen Ansätzen Der Verantwortungsbegriff hat den Pflichtbegriff abgelöst. Bis in das 12. Jahrhundert hinein war Eigentum verbunden mit Rechten und Pflichten – ab da wurde es von Pflichten befreit – Eigentum begründet nun Rechte ohne Gegenseitigkeit. Aufstände und Revolten antworteten auf die Verletzung kollektiver Rechte (vgl. Thompson 1971). Verantwortlichkeit als persönliche Rechenschaftspflicht vor einer Strafinstanz tritt erst im 18. Jahrhundert auf den Plan. Mit dieser Sanktionspraxis sollte nicht mehr für alle erfahrbar mit Gewaltausübung ein feudales Herrschaftsrecht bestätigt werden, sondern das einzelne Individuum in seinen inneren Motiven erreicht und normalisierender Disziplinierung unterworfen wird (vgl. Foucault 1977). Gleichzeitig wird »Verantwortung als Begriff in dem Maße aufgewertet, wie sich der Begriff der Freiheit individualistisch radikalisiert und damit die Zuweisung der Verantwortung an ein fremdes göttliches Selbstbewusstsein ausgeschlossen wird« (Arndt 2005: 11). Bei Hegel soll nun Freiheit nicht als Prinzip ausgerufen, sondern im Prozess der Umsetzung als Freiheit erkennbar sein, d.h., »dass Hegel überhaupt das Problem der Freiheit und Verantwortung aus einer individuellen Perspektive herausrückt und letztlich zum Problem der Gestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der gesellschaftlichen Verhältnisse der Individuen zueinander macht« (ebd.: 25). Indem von Freiheit mit Blick auf Wissen um mögliche Konsequenzen in verantwortungsvoller Weise Gebrauch gemacht werden soll, beinhaltet Verantwortung einmal Orientierung unter vorgefundenen fremden Bedingungen, erfordert aber immer auch Selbstbindung und Gestaltung des Beziehungsraumes, der bei Hegel zunächst als vertraglicher gemeint war: »Verantwortung entsteht dort, wo ich aus freier Willensbestimmung wechselseitige Bindungen eingehe, welche als Äußerung des freien Willens meine noch die Willensfreiheit des oder der Anderen beschädigt« (ebd.: 13). Verantwortung zu übernehmen bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch, sich selbst und die eigenen Interessen zurückzunehmen und sich allgemeinen Bestimmungen zu unterwerfen. Darin liegen für Hegel aber grundlegende Probleme der kommunikativen (aber auch tätigen)
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Vermittlung und diese verbinden mit der Aufgabe einer normativen (ethisch-moralischen) Letztbegründung aber auch die Notwendigkeit der Objektivierbarkeit der Anschauungen und der darin enthaltenden Argumente und Wissensgrundlagen. Vermittlungsprobleme der Gestaltbarkeit bestehen zwischen Natur und Kultur einerseits und verschiedenen gesellschaftlichen Subjekten andererseits. Schon die Lösungsversuche Hegels betonten, dass sich die Sicherung und inhaltliche Füllung der individuellen Freiheit erst in der Kooperation – bei Hegel sich vor allem in der Arbeit der Kommunikation – herstellt. Eine über die verschiedenen gesellschaftlichen Subjekte gesetzte allgemein zu »verantwortende Freiheit« wird bei ihm einerseits auf der Ebene der staatlichen Instanz verortet, in der reflektierenden Distanz gegenüber den eigenen Willens-Vorstellungen andererseits (ebd.). Im Anschluss an Hegel hat Marx die Grenzen untersucht, die sich der Handlungsfreiheit und der freien Kooperation objektiv – jenseits von Moral – entgegenstellen. Im Kapitalismus ist individuelle Handlungsfreiheit an Profit und Eigentum gebunden und unterliegt zugleich den Verwertungsprinzipien des Kapitals, das – scheinbar naturwüchsig – auf Wachstum unter Konkurrenzbedingungen angelegt ist (vgl. Schulz 2022). In der Lohnarbeit ergibt sich ein Zwang daraus, dass der Arbeiter, der nur über seine Arbeitskraft verfügt, sich entsprechend den jeweils durchgesetzten Verwertungsbedingungen bis an die Grenzen der Existenzsicherung ausbeuten lassen muss. Eine zweite Grenze der Handlungsfähigkeit entsteht daraus, dass der Arbeiter nicht durchschauen kann, wie er am zu erzielenden Mehrwert, der die Grundlage des Kapitals bildet, beteiligt ist. Als Verdeckungen wirken die Trennung von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware und von Gebrauchswert und Tauschwert der Arbeitskraft. Verdeckt bleibt dabei auch, dass lebendige Arbeitskraft auf Hausarbeit und Lebensvollzüge außerhalb kapitalistischer Produktion angewiesen ist. Diese gelten nicht als produktive Arbeit, höchstens als rückständige Arbeit oder als natürliche Ressource. Zunehmend unterliegen diese der Rationalität konkurrenzförmiger Arbeit, die bis in den Menschen selbst hineinreicht. Thomas Höhne bezeichnet dies als inneren Markt (vgl. Höhne 2013; vgl. auch Aulenbacher 2013). Mit weltweit in Konkurrenz gesetzter Lohnarbeit erhebt sich über alle Bereiche (Ökonomie, Wissenschaft, Kultur) ein konkurrenzförmiger Zwang zur Abgrenzung – z.B. Alleinstellungsmerkmale von Unternehmen und von Städten, aber auch zur Nutzung aller Mittel zur persönlichen Profilierung. Unter Anderem bedeutet das den Verlust einer Basis für Verantwortung in gegenseitiger Angewiesenheit, verlangt und begründet aber auch neue Perspektiven der Kooperation und Vermittlung zwischen Produktion und Reproduktion. Im Kontrast zu diesen Verdeckungen findet sich in der Geschichte des moralphilosophischen Verantwortungsdiskurses das Paradigma der Dialektik der sozialen Freiheit. Dieser entwickelt sich im Konflikt zwischen individueller Freiheit und Gemeinschaft. Verantwortung gilt als Synthese dieser Widersprüchlichkeit (vgl. Heimann 1929). Soziale Freiheit als sozialmoralische Kategorie stand und steht im
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Mittelpunkt des traditionellen sozialistischen und auch heutigen neosozialistischen Diskurses. Für den sozialistischen Theoretiker Eduard Heimann war die soziale Freiheit aufgebaut auf der liberalen rechtlichen Freiheit, die aber der Kapitalismus korrumpiert und mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln enteignet hatte. Soziale Freiheit war deswegen nur in einer solidarischen Gemeinschaftsverfassung gesellschaftlich zu erreichen. Freiheit und Gemeinschaftlichkeit sind bei Heimann untrennbar miteinander verbunden. Soziale Freiheit ist für Heimann eine gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe, die aus der Befreiung der Menschen von der kapitalistischen Herrschaft erwächst. Die Freiheit zur Gestaltung der Arbeitswelt verlängert sich in die soziale Freiheit als gesellschaftliche Gestalt und darin Verantwortung. Beim neosozialistischen Entwurf zur sozialen Freiheit von Axel Honneth (2016) fehlt der radikale antikapitalistische Einschlag. Er baut aber sein Freiheitskonstrukt ähnlich wie Heimann in der Spannung von individueller Freiheit und Gemeinschaft in dem Sinne auf, dass sich die eigenen Interessen mit den Interessen der jeweils anderen – eben als gemeinschaftliche Interessen – in einem »solidarischen füreinander« zusammenfügen: Um diese soziale Freiheit verwirklichen zu können, bedarf es einer offenen, allen Bürgerinnen zugänglichen gesellschaftlichen Kommunikation, in und mittels der gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden können. Es ist der Entwurf einer kommunikativen Demokratie, die in allen Gesellschaftsbereichen eine entsprechend kommunikativ offene »demokratische Lebensform« ermöglicht wie voraussetzt. Diese muss alle Lebensbereiche durchziehen können und nicht – wie im traditionellen sozialistischen Entwurf – auf den ökonomischen Bereich beschränkt bleiben. Das betrifft die persönlichen Beziehungen genauso, wie die Familie, die Schule und die bürgerlichen Assoziationen.
Verantwortung zwischen überforderter Autonomie und verleugneter Angewiesenheit Autonomie bedeutet »Selbstgesetzlichkeit« wie sie in der Definition von Aufklärung verankert ist: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt« (Kant 1975: 53). Seitdem ist es eine Herausforderung für die politische Philosophie und die kritische Sozialwissenschaft, nach den in ihrer jeweiligen Zeit bestehenden Bedingungen und Bestimmungsgründen zu wahren Einsichten mit universellem Anspruch als Grundlage von Herrschafts- und Machtkritik zu gelangen. Die Befreiung von Fremdbestimmung ist aber voraussetzungsvoll, sie umfasst die Freiheit zu eigenständiger Anschauung und den Bruch
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mit herrschender (politischer) Praxis. Bis heute braucht es dabei soziale Bewegungen für die Durchsetzung von Menschenrechten, die es ermöglichen, dass Betroffene Verletzungen der Menschenwürde vor Gericht bringen können, mit dem Ziel der »Realisierung eines mindestens menschwürdigen Lebens für alle Menschen weltweit« (Pollmann 2022: 53). Die Fragen nach Autonomie als Voraussetzung und Ziel von Widerständigkeit radikalisierten sich in kritisch dialektischen Ansätzen in der Nachfolge Adornos und in den historischen Untersuchungen über ›neue Machttechniken‹ bei Foucault. Beide postulierten eine gesellschaftlich-politische Vereinnahmung von Autonomie-Streben. Daher könne sich heute Autonomie nur aus einem diffusen Leiden an Herrschaftsverhältnissen heraus entwickeln und dann zur Durchsetzung ethischmoralischer und rechtlicher Prinzipien beitragen (vgl. Horkheimer/Adorno 1947; Becker-Schmidt 2004). In dialektischer Annäherung entsteht Autonomie in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität, in die ein Mensch hineingeboren wird. »Mündigkeit« ist bei Adorno nicht nur im Autonomieverhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt geformt, sondern damit untrennbar verbunden in der Auseinandersetzung mit dieser und darin mit sich selbst. Der Mensch ist demnach eingepasst in das soziale Rollengefüge als dem in der Gesellschaft wirkenden »Mechanismus zur Unmündigkeit« (Horkheimer/Adorno 1947: 142) und kann erst mündig werden, wenn er sich dieses Gefangenseins und der darin gespürten Ohnmacht bewusst wird. »Wer ändern will kann es überhaupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch, was er tut« (ebd.: 147). Hier spricht Adorno die tiefendynamische Dimension von Mündigkeit an – und die Fähigkeit sie sozial zu thematisieren. Schon an früherer Stelle in seiner Skizze zum Verhältnis Soziologie und Psychoanalyse (1956) hat er erkannt, dass sich Konflikte nicht einfach innerpersonal abbilden, sondern tiefendynamisch umgeformt und in Angstzuständen abgespalten werden. Aber »wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewussten und verschobenen Angst verschwinden« (Adorno 1971: 97). Die Sorge um den Menschen vereinseitige sich in der Moderne zum Berechnen und Beherrschen der Natur, auch der des Menschen selbst. »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen«, schreiben Adorno und Horkheimer, »bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war« (Horkheimer/Adorno 1947: 50). Die Betonung der zerstörerischen Effekte der Moderne ist bei Adorno Teil des Versuchs, den Einbruch von Aufklärung und Menschlichkeit im Holocaust und die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus einzuordnen. Statt die mit der Entfaltung der Produktivkräfte verbundenen Versprechen auf Existenzsicherung und gutes Leben mit dem Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu
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konfrontieren, erfolgte der Umschlag in Zerstörung. Adorno bezieht sich auf die Menschen, die in Vernichtungslagern gelitten haben, ermordet wurden und gestorben sind, wenn er formuliert, es gehe darum, vergangenes »Leiden beredt werden zu lassen«. Daran anknüpfend sollte zukünftig Leiden und Verletzbarkeit als einziger wahrhaftiger Anknüpfungspunkt von Aufklärung gelten (vgl. BeckerSchmidt 2004). Bis heute wirken Strukturen der Ausbeutung im globalen Kapitalismus und gehen mit der Abwertung von fremden Wissen und anderen Lebensbedingungen einher. Im westlichen Begriff der Aufklärung fehlte die Geschichte von Gewalt, die durch die Black-Lives-Matter Bewegung und postkoloniale Aktivist*innen durchdringender in das öffentliche Bewusstsein gelangt und nach Ergänzung verlangt. Probleme von Aufklärung und Autonomie stellen sich doppelt im Umgang mit Fremdheit und Fremden: Geht die Zuschreibung von Fremdheit einher mit Vorurteilen, so zielt sie auch auf die Aberkennung des Rechts auf Lebenssicherung und auf die Verweigerung von Autonomie und Schutz vor Gewalt. Zugleich können die Abwertung und Ausgrenzung von Fremden im psychoanalytischen Sinne auch als Unfähigkeit zur Selbstreflexion, als Abspaltung eigener, nicht zugelassener UnwertErfahrungen, und nicht erfüllter Wünsche als »Verfolgung dessen, was man selbst gern möchte« begriffen werden (Adorno 1960). Sexismus als Aufrechterhaltung einer Verfügbarkeit über Frauen in hierarchischen Geschlechterverhältnissen muss als Brückenideologie zwischen verunsicherten Mittelschichten und rechtsradikalen Standpunkten und Bewegungen bearbeitet werden, die auch LGBTQ feindlich agieren (vgl. Decker u.a. 2020). In der Konfrontation mit rechtsradikaler Gewalt, der Leugnung der Opfer des Faschismus, Antisemitismus und Rassismus erneuerte sich das Interesse an Adornos Vortrag »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« (1960: o. S.). Hinweise über das Fortbestehen der Gründe für nationalsozialistische Tendenzen – Zerstörung der Erinnerung, Verzerren der Tatsachen, Vertrauen auf eine starke Staatsmacht und noch in der Katastrophe zusammenzuhalten. Denn die »objektiven Gegebenheiten für Faschismus« gäbe es immer noch: »Abhängigkeit von Gegebenheit«, »Wut aus dem Zwang zur Anpassung«, »den Schein des Besseren nicht ertragen können«, »die Autonomie als Last empfinden« (ebd.). Auch in soziologisch-abstrakten Funktionen (Luhmann) findet sich die irritierende Undurchschaubarkeit der Person – eingeschlossen in die innere Dynamik. Orientierung und Schutz vor Verletzung bieten hier nur die (kommunikativ herstellbare) erforderliche Erwartungssicherheit entlang von Systemerfordernissen. In historischen Rekonstruktionen suchte Foucault bleibende Kriterien dafür, dass das »Wahrgesprochene«, – wenn nötig auch den daraus erwachsenden eigenen Nachteilen zum Trotz – sich in der Praxis zeige, in der Distanziertheit gegenüber dem Gegebenen aus dem bewegenden Moment der Utopie und in der Orientierung an der Sorge, dass andere für sich sorgen können (Foucault 2010). Unter diesen
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Kriterien beurteilte er die »modernen« Diskurse als Denk- und Kommunikationssysteme, die ihre Sicht auf Ereignisse und ihre Interpretationen auch praktisch durchsetzen. In ihnen bilde sich der Wandel gesellschaftliche Machtmuster bis hin zu modernen Formen der Disziplinierung ab, die in alle Lebensbereiche einzieht, indem sie unsere Bilder vom Menschen und Möglichkeiten der Regulierung unserer Lebensbedingungen von Grund auf mitbestimmen. So haben sich seit dem 19. Jahrhundert bis heute Machtformen entwickelt, die darauf ausgerichtet sind, Leben nach rationalisierten, messbaren Prinzipien zu optimieren. Es fordert von den einzelnen, an den eigenen Fähigkeiten und der Steigerung ihrer Lebenskräfte zu arbeiten. Diese gehen – strukturell – eine Verbindung mit Herrschaftsformen ein, sodass sich eine Form des Regierens entwickeln konnte, die auf Selbstregulierung abzielt (vgl. Foucault 1977) »Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen – Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Prozesse betrachten, an denen die Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden« (Lemke 1997: 264). Macht sei daher keine eindimensionale Größe, sondern ein sich permanent bewegendes und verschiebendes Magnetfeld, in dem unterschiedliche Linien – als Programme und Praxen – verlaufen, sich verstärken aber auch abstoßen. Sie zeige sich nicht nur als sozial konfrontativen, sondern vor allem auch als psychosozial diffundierenden Prozess. Er spricht von der »Mikrophysik der Macht«, in der sich die »feinsten Verzweigungen der Macht bis dorthin [erstrecken], wo sie an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, ihre Gesten, ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt« (Foucault 1976: 236). Die Frage nach Autonomie ergibt sich für Foucault aus einem diffusen Unbehagen »nicht mehr so regiert werden zu wollen«. Gleichzeitig bleibt auch der Ausdruck für dieses Unbehagen durch hegemoniale Diskurse verwehrt und kanalisiert. Bei ihm gibt es nur eine schmale Hoffnung auf »Brüche« in den Machtverschiebungen, wo Selbstsorge z.B. in ästhetischen Formen kreativ, erlebbar und öffentlich sichtbar wird. Die kritische Theorie dagegen betont in der Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum, dass im Individuum ein unauflöslicher Rest bleibt, der nicht in seiner Form als Subjekt aufgeht, insofern »das Subjekt den Anforderungen von Tausch und Lohnarbeit entsprechen muss, ohne dass das Individuum als bedürftiges und leibliches Wesen dies unmittelbar kann« (Schulz 2022: 16). Das Subjekt als unterworfenes kann so doch zum/zur Akteur*in der Bewältigung von Widersprüchen werden. Denn das Selbst mit seinem triebstrukturellen Grund hat seine eigene Logik, und diese entspricht nicht unbedingt der Rationalität der gesellschaftlichen Entwicklung. Es speist sich aus einer anthropologischen Triebdynamik, und ist in seinen Ausgangsbedingungen geradezu konträr zum Gesellschaftlichen angelegt: Während das Gesellschaftliche – vor allem in seiner neuzeitlich modernen
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Version der linearen Entwicklung, des unbegrenzten Fortschritts und der unendlichen Rationalität – in der Postmoderne zwar gebrochen aber immer noch offen erscheint, ist die anthropologische Konstitution des Menschen begrenzt durch Geburt, Tod und Leiblichkeit, was ihn letztlich zum naturgebundenen Wesen macht. Es bleibt die Frage nach dem Raum für den Ausdruck von Unbehagen, nach der Quelle von Widerständigkeit gegen Normalisierung, die nicht wieder von Autonomiebedürfnissen, die darüber hinaus marktförmig beantwortet werden können, eingefangen werden. Hierfür stehen Unterscheidungen bereit: zwischen Eigensinn als Widerstand gegen Bevormundung und Widerstand gegen Einschüchterung und Gewalt. Aus Sicht der die Natur überwindenden Moderne bedeutet Abhängigkeit von der Natur Schwäche, systemwidrige Hilflosigkeit. In der modernen Vergesellschaftung des Menschen ist somit die Tendenz angelegt, ihn aus dieser Abhängigkeit von der Natur und damit aus seinem anthropologischen Selbst herauszulösen. Damit werden die mit der Naturhaftigkeit des Menschen verbundenen Emotionen, die Triebwünsche und Äußerungen des Selbst, Gefühle der Bindung, Geborgenheit, aber auch des Ausgesetzt-Seins entstehen lassen, sozial denunziert. Vor allem in der modernen Konkurrenzgesellschaft sind solche Gefühle der Hilflosigkeit sozial abgewertet. Naturabhängigkeit und Hilflosigkeit sind erst einmal allgemein menschliche Phänomene, die Mann und Frau gleichermaßen erfassen. Doch schon im Verlauf des Aufwachsens wirkt ein (hoch bewerteter) gesellschaftlicher Anpassungszwang, der den Zugang zu den eigenen Gefühlen verwehrt. Denn eine breite Palette von Gefühlen – Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Trauer – würde stören, da sie nicht zum Bild einer arbeitsgesellschaftlich erwünschten umfassenden Verfügbarkeit passe, der sich Frauen und Männer nur schwer entziehen können. Vor allem wenn die hierarchische Anordnung mit Tätigkeiten und Berufen mit einem Dominanzversprechen (für Männer und Frauen) verbunden ist und mit einer für beide hegemonial durchgesetzten »Anforderung… sich selbst als autonomes, durchsetzungsfähiges etc. Subjekt hervorzubringen« (Thon 2012: 39) Die darin vorgegebenen Verwehrungen (sozialstrukturell, symbolisch-kulturell, psychodynamisch) verhindern die Artikulation von Hilflosigkeit, Verletzbarkeit und Angewiesenheit auf andere (Bedürftigkeit). Nicht nur Handlungsspielräume der Lebenslage sondern Verwehrungen, die das innere Gleichgewicht beschädigen, treiben Bewältigungsformen an, die auf Abspaltungen hinauslaufen.
Feministische Kritik und Praxis Die feministische Kritik richtet sich auf eine – bis heute wirksame – zweiwertige Zuschreibung und auf Weiblichkeit und Männlichkeit ungleich verteilte Verknüpfung von Leiblichkeit und Begehren: Naturabhängigkeit, Verletzungsoffenheit,
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Emotionalität, Abhängigkeit, Gebundenheit an Hausarbeit und Sorge vs. Unabhängigkeit, Verletzungsmacht, Verleugnung von Verletzbarkeit und Angewiesenheit. Hier nimmt die feministische Kritik an der strukturellen Verschiebung und darin an der geschlechtshierarchischen Verdeckung von Verantwortung und Dethematisierung gesellschaftlicher Konflikte einen zentralen Raum ein. Aus der Kritik an den geschlechtshierarchischen Verdeckungen entwickelte sich mühsam die Einsicht, dass mit der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit lebenslang grundlegende Ambivalenzen verbunden sind. Autonomie als Anspruch auf Selbstbestimmung war von Beginn der zweiten Frauenbewegung an ein Leitkonzept, mit dem die Befreiung von patriarchal zugestandenen Lebensformen und Fremdbestimmung eingefordert wurde. Dieser Anspruch begründete die Übernahme von Verantwortung für eine andere Praxis: Dazu eröffneten Frauen am Ende der 1960er Jahre einen politischen und kulturellen Raum, der patriarchalische und moderne Formen der Frauenabwertung und damit einhergehenden Ausgrenzung aus Bildung und Berufsfeldern entkräften und für andere (Selbst-)Wahrnehmung, Interessen, Lebensformen stärken sollte. In Freizeit- und Bildungseinrichtungen wurden beispielhaft Räume für Mädchen und Frauen geschaffen, die Anliegen und Ausdruckformen von Mädchen und Frauen in den Mittelpunkt rückten. Die Forderung nach Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs war ein Ziel, das neu mit dem Recht auf Bestimmung über das eigene Leben verknüpft wurde, ebenso wie die Kritik an bevormundender Medizin und Gesundheitsversorgung, an der Psychiatrisierung weiblicher Verletzungsund Konflikterfahrungen oder an sexualisierenden Bildern von Weiblichkeit und weibliche Empfindung und Begehren negierenden sexuellen Praktiken. Der Blick erweitert sich heute z.B. um die unter geschlechtshierarchischen Vorurteilen verdeckten Fragen nach einer inneren sexuellen Empfindungsfähigkeit bei Männern (vgl. Quindeau 2014). Das Recht von Frauen auf nicht bevormundende Formen der Hilfe sollte in autonomen Einrichtungen ›von Frauen für Frauen‹ ohne staatliche Vordefinition abgesichert werden. Erst in diesen geschützten Räumen konnten Frauen das Ausmaß von Gewalterfahrungen in privaten Beziehungen und die Verunsicherung in öffentlichen Räumen benennen. Aus der Selbsterfahrungsarbeit von Betroffenen heraus wurde auch die Verbreitung und Realität von sexuellem Missbrauch überhaupt erst sichtbar und der Bedarf nach Schutzeinrichtungen, Prävention und Beratung anerkannt. Mit der fortschreitenden Sensibilisierung wurden die Ausblendungen der Missbrauchs- und Gewalterfahrungen von Jungen überwunden und männliche Betroffene konnten sich erst spät im Erwachsenenalter melden. Zugleich folgten Hinweise auf Missbrauch in Betreuungseinrichtungen und in besonderen Abhängigkeitsbeziehungen. Feministische Initiativen erstritten und organisierten die Einrichtung von Frauenhäusern und Mädchenzufluchten als notwendige anonyme Schutzräume und ak-
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tive Auswege für Opfer von Gewalt. In der wissenschaftlichen Begleitung und in reflektierender Rückschau zeigte sich, wie einerseits manche Ziele, wie die kooperative Leitung und auch die Unabhängigkeit der Einrichtungen von staatlicher Förderung aufgegeben werden mussten (vgl. Brückner 2018). Andererseits entwickelten sich von der Einrichtung von Frauenhäusern ausgehend die Kooperationen mit Polizei und die Erweiterungen im Strafrecht zur Verfolgung von Gewalt gegen Frauen in Beziehungen und bei sexuellem Missbrauch. Die #Metoo Bewegung hat dann die Übergriffe am Arbeitsplatz öffentlich gemacht. Heute lenkt sich der Blick auf Sexismus als bleibender Hass auf Frauen, der sich mit dem Recht auf Verfügbarkeit über Frauen, Macht und Kontrollrechten verbindet, wie sie in rechten Milieus vertreten werden und weit in die Mittelschichten hineinreichen (vgl. Pohl 2019). Wissenschaftlich begleitet und auf Praxiserfahrungen aufbauend wurden die besonderen Anforderungen für helfende Schritte überprüft und ausgebaut, die beides, Entscheidungsfreiheit und den Schutz vor neuen Übergriffen in gegenseitiger Verantwortung stärkten. Die »Praxisanleitungen« forderten gängige Praxisformen heraus und fanden schließlich Eingang in die Kinder- und Jugendhilfe. In jüngerer Zeit wurde ein ganz neuer Bereich von polizeilichen Maßnahmen zur Verfolgung von Straftaten im Internet geschaffen. Zunehmend dringlich wird der Auftrag an Eltern und pädagogische Einrichtungen, sich den Gefährdungen, dem Ausmaß und der Gewaltförmigkeit des Zugriffs unter Beteiligung der Heranwachsenden zu stellen. In allen Bereichen ist bis heute die Auseinandersetzung über einen angemessenen Umgang mit Gewalt in persönlichen Beziehungen nicht beendet. Das betrifft die Auseinandersetzung mit Ambivalenzen in den Schritten zur Befreiung aus Gewaltsituationen bis hin zum Ausstieg aus und der Prävention von Täterschaft. Bis in jüngste Zeit braucht es Mut zur Enttabuisierung, Eintreten für die Ansprüche der Opfer auf Respekt und Schutz vor einer zweiten »Viktimisierung«. Wie dieses Wissen in eine verantwortungsvolle Forschung eingegangen ist, kann z.B. im Forschungsmanual zur sexuellen Gewalt (Helffe-rich u.a. 2016) gelesen werden. Hier werden auch Täterkonstellationen und der Stand der für sie entwickelnden Hilfen dokumentiert. Den konstruktiven Ansätzen, Konflikte und Machtasymmetrien aufzumachen und dabei Ambivalenzen zu berücksichtigen, stehen Entwicklungen gegenüber, die letztlich auf eine Entpolitisierung hinauslaufen: Dazu gehören Einsparungen, Verringerung der Bereitschaft für finanzielle Absicherung und das Vordringen von Effizienzkriterien (New Public Management). Unter dem Vorzeichen der Einsparung stehen auch die verengten psychologisch-diagnostische Schritte, wenn sie z.B. mit der Begründungspflicht von Leistungsstufen verbunden werden. Verkürzungen in der Bearbeitung von Krisen- und Konfliktsituationen zeigen sich in der Absehung von belastenden Lebenssituationen und den dafür notwendigen Hilfen. Unter diesen Bedingungen grenzen sich die professionellen Verantwortungsbezüge ein, ver-
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ringert sich die Zeit für Auseinandersetzung und Bearbeitung von Konflikten. Das führt zu einer Verleugnung von Wissen, Kraft und Lebensenergien, die professionell notwendig sind. Paradoxerweise verlängern und verlagern sich Hilfeprozesse, die auch einer wirtschaftlichen Effektivitätsprüfung nicht standhalten. Daraus lässt sich immer wieder schließen, dass es eher auf Disziplinierung als auf Verantwortung für die Voraussetzungen und für eine reflektierte Stärkung von Autonomie ankommt. Gerade in der Auseinandersetzung mit Gewalt muss der Begriff der Selbstbestimmung kritisch gerahmt werden: »Selbstbestimmung ist heute zunehmend weniger an kollektive Ideen und Ideale gebunden, sondern kann fast alles meinen« (Brückner 2018: 96). Hier genügt der Verweis auf immer wieder – übergangene Entstehung von mit ökonomischer und gewalttätiger Macht ausgestattete Gruppen, die organisierten Menschenhandel betreiben, der vor allem Frauen in die Prostitution und Männer und Frauen in recht- und namenlose Ausbeutungsverhältnisse zwingt. Immer wieder werden die Bedingungen hingenommen, die es erschweren Armut zu überwinden; uneingelöst bleiben Maßnahmen gegen Kinderarmut und für eine Existenzsicherung für Frauen. Hier schließen sich die feministischen Kritiken an, die in der Auseinandersetzung mit unbezahlter Hausarbeit entstanden waren. Am Anfang wurde Hausarbeit und dazugehörend – aber noch weniger thematisierbar und als widersprüchlich oder unbefriedigend erlebte – Beziehungsarbeit als eine eigene Quelle der Entwertung der Arbeit von Frauen erkannt. Bis sie theoretisch mit der Entstehung der kapitalistischen Lohnarbeit und der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit verknüpft und in geschichtlichen Phasen weiter verfolgt werden konnte (vgl. Hartmann 2020). In den Anfängen bedeutete die Abtrennung von Lohnarbeit und Hausarbeit einen Einschluss der bürgerlichen Frauen in die Privatheit des Hauses (einschließlich Disziplinierung und Psychiatrisierung weiblicher Widerstandsformen). Für Lohnarbeiterinnen führte dies zur Doppelbelastung. Dies verlangte die Veränderung Wohlfahrtsregimes so weit, dass die Hausarbeiterin durch Zahlung eines Familienlohns an den Lohnarbeiter für notwendige Familienaufgaben freigestellt werden sollte. Weiter verlangte es einen stetigen Ausbau von Bildungsund Betreuungsreinrichtungen für Kinder und Jugendliche bis zu den Hilfen für pflegebedürftige Personen, die mit der Einbeziehung von Frauen in das AdultWorker Modell die fehlenden Sorgetätigkeiten der Frauen ausgleichen sollen. Unter heutigen Einsparungszwängen steigt die Angewiesenheit auf ungesicherte migrantische Pflegearbeit (vgl. Aulenbacher 2013). Über alle Bereiche der Lebenssorge hinweg erhöht sich die Kluft zwischen dem, was als notwendig erkannt und kreativ umsetzbar und möglich sei, aber zu Überlastung und Frustration führen muss. Diejenigen, die Sorgearbeit ausübten, waren und sind entweder von Existenzsicherung ausgeschlossen oder erledigen sie unterbezahlt und unter für die Existenzsicherung nicht ausreichenden Bedingungen. Gleichzeitig bedeutete es eine Arbeit in Abhängigkeit, es fehlten und fehlen unter diesen Bedingungen Zeit
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und Kraft für die Pflege der eigenen Kräfte. Auswege und viele der neuen kreativen Lösungen im bezahlbaren Feld der Dienstleister*innen, beim Ausbau öffentlicher (und privater) Einrichtungen in der Kinderbetreuung, der Kinder- und Jugendhilfe, der (ambulanten) Pflege im Alter und bei Krankheit, können modellhaft erprobt werden. Alle anderen stehen dabei beständig in Gefahr, unter Arbeitsdruck, gute Praxis unter Einsparungszwang leisten zu müssen. In feministischen Ansätzen wird Hausarbeit/Reproduktionsarbeit mit prekärer Lohnarbeit als Quelle von Reichtum und als ausgeblendete Grundlage von Lebenssicherung verknüpft. Die unter sozialer Ungleichheit immer schon ungelösten Probleme der Lebenssorge betreffen Erziehung und Bildung, Gesundheit und Krankheit, Alter und Sterben. Ein Zusammenhang wird herstellbar zwischen der Ausgrenzung von Reproduktionsarbeit aus wertbildender Arbeit, der Nutzung entwerteter migrantischer Arbeit und der Arbeit in postkolonialen Regionen. »Ihr Nutzen und ihre Last waren zwischen Herr und Knecht, Mann und Frau, eigenen und fremden Leuten ungleich verteilt«, so formuliert Klinger zugespitzt in der Vorschau auf ihr Buch ›Krise war immer‹ (vgl. Klinger 2024). Die Kluft zwischen dem, was als notwendig erkannt aber als Problem der Lebenssorge nicht zu Ende gedacht wird, zeigt sich auch in den Sozialissenschaften. Hier stehen in immer differenzierteren Einsichten die Bedürfnisse von Kindern im Vordergrund, die Herausforderungen, die Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen in Generationen-Beziehungen zu bewältigen haben, werden eher vernachlässigt (vgl. King 2015). Insbesondere die strukturell vorgefundenen Bedingungen in den Konstellationen der Angewiesenheit und Verletzbarkeit in Generationenverantwortung verleugnen die Ambivalenzen, die in der Bewältigung der Spannungen zwischen Autonomiestreben und Abhängigkeit liegen. Der Umgang mit der Angewiesenheit und der Abhängigkeit eines existenziell auf unmittelbare Versorgung angewiesenen Kindes ist eben - strukturlogisch – kein Tauschverhältnis, sondern beruht auf Ausgleich und bedingungsloser Anerkennung der existenziellen Abhängigkeit in Form einer »Gabe« (ebd.). Die Fragen, in welcher Weise darin die Bewältigung eigener Abhängigkeitserfahrungen aufgerufen wird und worauf die Fähigkeit zur Gabe seelisch gründen und materiell verfügbar sein kann, werden als gelöst vorausgesetzt. So gilt für viele pflegende Elternpersonen, für Pflegebeziehungen in Konstellationen der Sorge, dass die Sorge für diese selbst dann doch versagt bleibt. Der Autonomiebegriff wird bei Butler als patriarchal kritisiert (vgl. Butler 2002), insofern er auf einer heteronormativen (bipolaren und hierarchisch angelegten) Geschlechterordnung basiert. Die heterosexuelle Matrix, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht, schließe die Möglichkeit vielseitigen Begehrens und die Lebbarkeit nicht eindeutiger Geschlechtsidentitäten und Körper aus (vgl. Butler 1991). Heteronormativität unterwerfe alle Lebensbereiche und auch die Konstruktion von Sexualität der normalisierenden Kontrolle, Subjektwerdung bedeute Unterwerfung unter binär-kodierte Geschlechterbilder und Verhaltensnormen. »Die Begierde im
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Sein zu bestehen« könne sich nur durch die Hinwendung zu den von der symbolischen Ordnung bereitgestellten Namen und Positionen erfüllt werden (Meißner 2010: S. 62). Einschränkungen der Lebens- und seiner Begehrensoptionen können nicht betrauert, müssen nach innen genommen werden. (Verwerfung heterosexuellen Begehrens: Er wird zu dem Mann, den er niemals liebte, um den er niemals trauerte.) Umfassend verbindet sich bei Butler Heteronormativität mit »starren Formen des Zwangs zu einer »kohärenten Identität« und als Folge mit dem Zwang zur Abgrenzung von Anderen und von anderen Lebensmöglichkeiten (ebd.: S. 65). Anders gesprochen: Die Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit von Heteronormativität setze andere Lebensmöglichkeiten frei, die auch die symbolische und strukturelle geschlechtshierarchische Spaltung von Autonomie und Abhängigkeit überwinden könne. Eine andere Kritik von Heteronormativität vertraut dagegen der Offenheit und Kreativität, dass aus einer Verbindung von binären Codierungen vielseitige Möglichkeiten des Mann- oder Frauseins hervorgehen können (vgl. Hagemann-White 2022). Darin kann die Voraussetzung eben zweier Geschlechter für die Fortpflanzung und die Naturabhängigkeit von Zeugungsfähigkeit, Schwangerschaft und Geburt anerkannt werden. Allerdings begründet sich hieraus – bei den verschiedenen psychodynamischen Ansätzen – aber auch die Aufgabe der Überwindung der narzisstischen Kränkung, zu Beginn des Lebens von einer Frau abhängig gewesen zu sein (vgl. Becker-Schmidt 2017) Geschlechtshierarchische Begrenzungen, die z.B. Arbeit von Reproduktionsarbeit trennen, und die damit gegebenen Abhängigkeiten und Ambivalenzen grundlegend von einer Reflexion ausschließen, liegen im Bereich der Symbolbildung: Die Ausrichtung von Reflexion, Wissenschaft und auch die Lösung gesellschaftlicher Probleme orientieren sich immer noch entlang einer Rationalität, die das Männliche als das Allgemeine setzt und dabei Naturabhängigkeit, Hilflosigkeit und Verletzbarkeit ausspart. Konflikte, die sich aus Zeugungs(un)fähigkeit ergeben, die Abhängigkeit von der weiblichen Entscheidung über Schwangerschaft, bleiben aus einer verantwortlichen Sensibilisierung bisher weitgehend ausgeschlossen. Hier verlangt Selbstverantwortung es dann auch, das eigene Begehren und den Andern/die Andere als Quelle von (sexueller) Erregung auseinander halten und von neuem aufeinander zu beziehen zu können. Das alles sind bisher eine verdrängten Bedingungen dafür, dass Macht sich mit der Angst vor Abhängigkeit und der Verfügbarkeit über Frauen – oder über die eine oder andere Person in diversen Beziehungskonstellationen verbindet (ebd.). Die Bearbeitung von Ambivalenzen und die Bewältigungsschritte aus Abhängigkeit brauchen Zeit für Entwicklung (ebd.). Konflikte – die im Privaten verdeckt bleiben sollen – können dann in die Öffentlichkeit und in gesellschaftliche Verantwortung gerückt werden. Eine Öffnung bietet die Anerkennung von Angewiesenheit wie sie sich aus der Bearbeitung im Zusammenhang mit Care und Lebenssorge ergibt.
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Asymmetrie und Care Sorge (Care) ist das »Herzstück feministischer Sozialpolitik«, die eine gesellschaftliche Praxis begründet, deren Aktivierung »in öffentlicher (statt bisher privater) Verantwortung – unter Beibehaltung privater Aspekte des Sorgens – liegt, ohne als Teil weiblicher Identität und Verpflichtung fest geschrieben zu werden« (Brückner 2001: 133). Wichtig ist hier also die gesellschaftliche und sozialpolitische Lösung der CarePerspektive von der (weiblichen) Geschlechtsdefinition, denn sonst könne sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik immer wieder auf diese Bindung berufen und Frauen auffordern, sich aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess zurückzuziehen. Dies verstärkt sich in der Selbstbindung an Care, die Frauen selbst vornehmen. Deshalb sei ›care‹ nicht länger nur als weibliche Eigenschaft zu etikettieren, sondern als eine im sozialpolitischen Vergesellschaftungsprozess von Frauen ausgehende Kompetenz und Verantwortung, die geschlechtsübergreifend zu verwirklichen und zu gestalten wäre: »Die feministische Kritik an einer nur für Frauen geltenden Gleichsetzung von Arbeit und Liebe (ob zur Familie oder zum Nächsten) gilt deren gesellschaftlicher Funktion, nicht Sorgetätigkeiten als solchen. Denn ›care‹ bekommt eine zentrale Bedeutung angesichts menschlicher Bedürftigkeitssuche, die entwertet und unsichtbar bleibt, so lange diese als weibliche Geschlechtseigenschaft gilt und nicht als allgemeine, gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird« (ebd.: 173) In ihrer Kritik »Unvollständige Individualisierung« analysiert Thon die »Abhängigkeit als das ›Andere‹, das der hegemoniale Individualisierungsdiskurs« ausblenden muss. Die Reflexion von Abhängigkeit passt nicht in die hegemonialen gesellschaftlichen Diagnosen (Thon 2012: 41). Erst mit dem Infragestellen dieser Modernisierungsrhetorik werde es möglich, dessen Widersprüche aufzudecken und zu politisieren (ebd.: 41f.). Ihr Vorschlag mündet in den Auftrag, dem Individualisierungsprogramm und seinen weitergehenden theoretischen Ansätzen die Belege von Angewiesenheit und Abhängigkeit gegenüberzustellen (ebd.: 41). Ausgehend von der Frage der Verantwortung ergibt sich daraus die Aufgabe, Abhängigkeit und Verhältnisse der Angewiesenheit zu zentralen Kategorien des Sozialen zu machen, Probleme der Sorge und damit verbundener Verantwortung, die sonst externalisiert und verschoben werden, als strukturelle Probleme der Asymmetrie und Verletzbarkeit zu thematisieren. Eine Form der Betonung von Sorge und Verantwortung zusammen mit der Aufrechterhaltung struktureller Abhängigkeitskonstellationen findet sich in rechten Gruppierungen und vormodernen Clan-Bildungen, die das moderne Individualisierungsprogramm anprangern. Sie bieten dagegen nicht nur ideologische Orientierung sondern auch Räume existenzieller Absicherung und ein Versprechen gegenseitiger Verantwortung. Darin liegt auf der einen Seite die Gefahr einer Ausbeutung der Abhängigkeit für unkontrollierbare Machtansprüche und auf der anderen die Bereitschaft zur Selbstunterwerfung.
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Mit der Einordnung von Care als notwendige gesellschaftliche Praxis definieren Fisher/Tronto (1990: 40) Caring als Prozess mit mehreren Beteiligten. Darin sind Anteilnahme, Aufmerksamkeit und Unterstützung zusammengebunden und ordnet sich Verantwortung als Praxis zur Befriedigung der festgestellten Bedürfnisse ein. Dazu kommt Versorgen unter Vermittlung affektiver Zuwendung und emotionaler Offenheit für die Resonanz bei den Empfänger*innen von Care (ebd.). In der theoretischen Reflexion und Begleitung der Praxis in Sorgebeziehungen kann auf vielfältige Weise nachvollzogen werden, was es bedeutet, die Autonomie der Empfänger*innen aus der besonderen Angewiesenheit heraus wahrzunehmen und zu Anknüpfungspunkten des gemeinsamen Handelns in Anerkennung gegenseitiger Angewiesenheit und Stärkung ihrer Autonomie zu machen. Auf gesellschaftlicher Ebene muss die Autonomie der Hilfe-Empfänger*innen als Recht auf Autonomie auch sozialpolitisch abgesichert werden. Zur Professionalität einer Einrichtung gehört es auch, ihre Umnutzung durch die Hilfeempfänger*innen als deren Kompetenz, Hilfen autonom d.h. in ihrem eigenen Lebenszusammenhang zu gestalten, anzuerkennen, aber auch der gefühlten Beschämung wegen Hilfebedürftigkeit gegenzusteuern. Umnutzungen, vor allem von monetären Hilfen, wird von vielen öffentlichen Stellen mit Misstrauen begegnet. Doch gerade da gehört es zur professionellen Autonomie, den Sinn dieser Umnutzungen zu verstehen und anzuerkennen, bevor eine Bewertung darüber angebracht ist. Das sprengt manchmal den Rahmen des institutionell vorgegebenen Auftrags (vgl. Brückner 2019). Mit der Abwehr der Angewiesenheit auf Care bei gleichzeitiger Leugnung ihres Wertes wird Care zur unterbewerteten Dienstleistung und zur transnationalen Ware (Tronto 2011: 162). Auch in den wohlfahrtsstaatlichen Diensten und Professionen wird Care mit der Einführung marktähnlicher Steuerungsmechanismen entsprechend warenförmig organisiert (Soiland 2017: 11). Auch medizinische Dienstleistungen werden zu standardisierten Produkten. Professionelle werden – wie in anderen Arbeitsfeldern auch – nicht nur zuständig d.h. verantwortlich für ihren Auftrag, sondern übernehmen an der Basis auch das Controlling und die angepasste Organisation komplexer Abläufe. Sie erleben eine »paradoxe Zunahme von Verantwortlichkeit bei gleichzeitiger Abnahme von Einflussmöglichkeiten« (ebd.: 15). Dies führt in der Pflege zur Abwertung und Auslagerung des eigentlichen Inhalts von Care, nämlich der Beziehungsarbeit aus der formal entlohnten Pflegelohnarbeit (vgl. Müller 2016) und in der Folge zur Verlagerung in interne Konflikte in Organisationen hinein und in innere Konflikte. Verletzbarkeit und Scham über nicht eingelöste Aufträge, die zur Bewältigung von Care gehören (vgl. Brückner 2011) können sich steigern und finden keinen Raum, sie geraten immer mehr in die Gefahr, in regressive Formen umzuschlagen. Diese Dethematisierungen und unbefriedigenden Lösungen bilden auch den Hintergrund für die Schwierigkeiten und Hemmnisse bei der Interessenvertretung
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der Profesionellen (vgl. Rudolph/Schmidt 2019). Aus einer Befragung wird ersichtlich, dass ein innerer Konflikt zwischen arbeitsvertraglich geregelten Aufgaben und der Verantwortung gegenüber Pflegebedürftigen immer noch zu wenig in Forderungen nach anderen Arbeitsbedingungen übersetzt werden kann. Es wird versucht, im Team oder zusammen mit den Vorgesetzten nach Lösungen zu suchen, es fehle aber an der Nutzung des Arbeitsrechts. Diesen Begrenzungen gegenüber fordert Brückner seit langem die Anerkennung von Sorge als gesellschaftliche Aufgabe: Sorge bezeichnet eine Beziehung der Verantwortung für andere und für sich selbst, die Empathie, Mitgefühl und darin Selbstreflexivität voraussetzt. Sorge als Strukturierung meint darüber hinaus auch die gesellschaftliche und mithin kollektive Transformation und Entsprechung dieser Prinzipien in Zuständigkeiten. »Eine subjektorientierte Sorgetätigkeit braucht neben Fachkenntnissen eine eigene Logik, welche die Grenzen einer Wenn-dannAusrichtung überschreitet und prozessorientierte Aushandlung, Befähigung sowie Empathie in den Mittelpunkt ihrer Rationalitätsvorstellungen rückt – im Gegensatz zu einem resultatorientierten Zweck-Mittel-Denken, das individuelle Bedürfnisse und die Würde umsorgter Menschen ausspart« (Brückner 2018: 216). Mit der Einlösung eines Anspruchs auf Hilfe verbindet sich eine Beziehungsgestaltung als Gabe, als Zuwendung, als Zeit für aufmerksamen Austausch, der Verausgabung von Kraft und Ressourcen als Ausgleich für das, was fehlt und nicht (selbst) autonom verfügbar ist. Die Sicherung und der Respekt vor der Autonomie die Hilfeempfänger*innen unter Wahrung der Unterschiede bei starker oder überfordernder Hilfebedürftigkeit braucht auch einen sorgenden Hintergrund für die Hilfe-Gebenden: Die Autonomie in der persönlichen Haltung ist angewiesen auf das Team und die Sicherheit in der Organisation.
Hilfebedürftigkeit und Vulnerabilität als Tiefendimensionen von Verantwortung Hilfebedürftigkeit und Vulnerabilität sind Dimensionen, die in eine symbolische Ordnung eingeschrieben werden müssen, die binäre Codierungen überwindet. »Feministische Kritik richtet sich deshalb gegen das überdeterminierte Autonomieverständnis der modernen Gesellschaft, das eng mit körperbezogenen Geschlechterkonstruktionen verbunden ist, die Weiblichkeit als verletzungsoffen, abhängig und schutzbedürftig und Männlichkeit als verletzungsmächtig, unabhängig und beschützend fixieren. Solche hierarchieförmigen Ko-Konstruktionen von Vulnerabilität und Geschlecht verdecken die Tatsache, dass alle Menschen grundsätzlich sowohl verletzungsoffen als auch verletzungsmächtig sind (vgl. Popitz 1992). Diese generelle anthropologische Konstellation ist in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden, »die das Potential, verletzt zu werden oder zu
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verletzen, sowohl für einzelne Menschen als auch für soziale Gruppen in der Gesellschaft ungleich verteilen. Das zeigen Kriege, Genozide, gewaltförmige Diktaturen und globale gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnisse« (Bereswil 2022: 641). Bisher betreffen negative Opferbilder bei Gewalterfahrungen fast allein nur Frauen – es besteht die Tendenz zur Bagatellisierung oder Blaming the Victim. Doch die Kontexte von Bedrohlichkeit und Macht, aber auch die ambivalenten Strategien mit enttäuschten Erwartungen und Scham umzugehen, sind ebenso von männlichen Erfahrungen aus schwer thematisierbar. Die Gegenseite – die Kritik an der mangelnden Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen – darf gerade nicht mit der besonders friedfertigen Weiblichkeit begründet werden, sondern damit, dass die unmittelbare Verantwortung für die Sicherung von Lebensgrundlagen, die vor allem Frauen überantwortet wird, das Interesse an der Sicherung von Frieden antreibt, praktisch aufrechterhält und auf Dauer besser absichern kann. Letztlich sind die Initiativen für eine Friedensbewegung von den Gewalterfahrungen der Frauen aus entstanden. Hilflosigkeit in kritischen Lebenskonstellationen weist auf die psychosoziale Tiefendimension der Verletzlichkeit (Vulnerabilität) des Menschen hin. Verletzt Sein kann Hilflosigkeit auslösen. Verletzlichkeit ist nicht nur als humane Grundtatsache zu begreifen, sondern auch in sozialen Zusammenhängen zu verorten. Das darin ausgelöste Streben nach Handlungsfähigkeit in der Perspektive der Bewältigung darf diese basale Befindlichkeit nicht zu schnell überblenden, sondern muss sie als möglichen Ausgangspunkt dieser Hilflosigkeit erst einmal klären können. Vulnerabilität als Grundkategorie sozialwissenschaftlicher Erkenntnis ist besonders in der Erziehungswissenschaft bisher wenig thematisiert, obwohl gerade in der Sozialpädagogik von vulnerablen Gruppen und Personen dauernd die Rede ist. »Das liegt u.a. daran, dass die in den Erziehungswissenschaften dominierenden kategorialen Strömungen seit den späten 1990er Jahren in die entgegengesetzte Richtung weisen. Sie fokussieren ihr Interesse tendenziell einseitig auf die Stärken, die Resilienz, die Kompetenzen und Ressourcen von Individuen und setzen konzeptionell vor allem auf Selbstbestimmung und Empowerment. Diese Einseitigkeit des Fokus ist jedoch nichts grundlegend Neues, sie hat vielmehr eine historische Dimension. Seit Beginn der Neuzeit sind Topoi wie Verletzbarkeit, Leiden, Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit und Endlichkeit zunehmend problematisch geworden. Sie wurden als Ausdruck eines Mangels, als nicht hinnehmbare Fehlerhaftigkeit und zu korrigierende Schwäche verstanden. Daher wurde ein ganzes Arsenal von ›Andropotechniken‹ […] entwickelt, die die Funktion hatten – und immer noch haben –, den Menschen gegen seine Verwundbarkeit zu immunisieren« (Burghardt u.a. 2017: 10). Nicht zuletzt hat auch die Professionalisierung der sozialen und therapeutischen Dienstleitungen dazu beigetragen, dass man aus dieser dunklen Zone der Verletzlichkeit herauskommen und sich in der hellen Zone der Ermächtigung etablieren wollte. Das bedeutet aber auch, dass Verletzlichkeit als kri-
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tische Kategorie reflexiver Modernisierung (vgl. Beck 1986) und damit als Teil des humangesellschaftlichen Entwicklungsprozesses erkannt wird, von dem man sich weder moralisch noch technologisch absetzen kann. Verletzlichkeit ist für das menschliche Leben konstitutiv und kann nicht aus der Welt geschafft werden, ist nicht aufhebbar (vgl. Janssen 2018), zuvörderst nicht als körperliche Verletzbarkeit. Diese ist durch die biologische Anfälligkeit des menschlichen Körpers und seine Endlichkeit als Sterblichkeit bestimmt. Ähnlich kann man auch die soziale Verletzbarkeit dimensionieren. Sie resultiert aus der gegenseitigen Angewiesenheit und damit auch Abhängigkeit der Menschen als sozialen Wesen. Sie ist weiter bestimmt durch die Begrenztheit des Menschen gegenüber der Natur trotz technologischem Fortschritts und durch die Anfälligkeit ökonomischer und sozialer Systeme mit ihren inhärenten Tendenzen der Desintegration, die immer wieder kritische Lebenskonstellation hervorbringen können. Verletzlichkeit bedeutet also die doppelte Möglichkeit eines Ausgesetzt Seins. Der Begriff Möglichkeit ist hier zentral, denn er weist darauf hin, dass Verletzbarkeit in menschliches Leben und soziales Geschehen eingebettet ist und damit zur Normalität und nicht zur Besonderheit des Lebens gehört. Viele Verletzlichkeiten sind entwicklungsbedingt programmiert, schon in der Kindheit, dann in der Pubertät und schließlich im Alter. Sie sind sozial programmiert in den Übergängen und Brüchen der Erwerbsbiografie und in den desintegrativen Tendenzen moderner Gesellschaften. Deren Bewältigung ist zu thematisieren. Gerade weil die Qualität der Bewältigungsperspektive (vgl. Böhnisch 2018) in ihrer psychodynamischen Ausgangsform darin besteht, dass mit ihr das Übergangene aufgedeckt werden kann, Botschaften erkennbar und hinter dem Verhalten Hilferufe gehört werden können, ist die vorgängige Annahme von Verletzlichkeit ein zentrales Moment der conditio humana (vgl. Janssen 2018: 18f.). Dann kann sie eben nicht nur negativ, als Mangel oder Schwäche verstanden werden, sondern genauso als humaner und sozialer Antrieb. In dieser Ambivalenz wird sie zur komplexen pädagogischen Herausforderung – aber auch sozial- und gesellschafpolitischen Herausforderung – wie in Beispielen der Betroffenen-Initiativen deutlich gemacht werden kann. Hilflosigkeit ist eher einlinig-negativ konnotiert, verweist nur auf Abhängigkeit. Verletzbarkeit geht tiefer, lässt ein Grundgefühl erkennen, einen Schmerz, in dem auch Sehnsucht nach Umkehr des Gefühls steckt. Hier sind wir einerseits bei den Hilferufen, die in antisozialem Verhalten stecken können. Wenn wir in diesem Sinne die Erfahrung sozialer Unterdrückung und Benachteiligung als sozialen Schmerz begreifen, dann entwickelt sich nicht nur Mitgefühl, sondern auch Respekt gegenüber denen, die dem Leiden an der Gesellschaft besonders ausgesetzt sind. Daraus kann Solidarität auf der einen, Selbstwert auf der anderen Seite entstehen. Die Anerkennung von8) Verletzbarkeit als schmerzhaftem Ausdruck von Angewiesenheit kann Angewiesenheit sozial mobilisieren.
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Denn auch Verletzbarkeit kann Schwäche als Offenheit bedeuten. Hildegard Keul gebraucht dafür ein anregendes Bild aus der Alltagssprache: »Eine Schwäche für jemanden haben, das sagt man im Deutschen, wenn man eine besondere Zuneigung zu jemandem hat […]. Liebe, Zuneigung und Freundschaft sind ohne Verletzlichkeit nicht zu haben. Denn man baut Barrieren ab, man öffnet sich und wird damit verletzlich« (Keul 2021: 102). Zur diagnostischen Hypothese gewendet, bezweifelt diese Idee die Hermetik antisozialer und selbstdestruktiver Verhaltensmuster, nimmt verschüttete innere Möglichkeiten der Öffnung an, ermuntert zur hoffnungsvollen Zuwendung. Von Robert Castel (2000) können wir die Begrifflichkeit »Zonen der Verwundbarkeit« als gesellschaftliche Kontexte potentieller Verletzlichkeit übernehmen. Damit sind jene Bereiche der Arbeitsgesellschaft der Zweiten Moderne gemeint, in denen prekäre Beschäftigungs- und sozial belastete und überforderte Familienverhältnisse vorherrschen, aber auch Grenzbereiche, in denen die Gefahr sozialen Abstiegs droht. Dass prekäre Arbeitsverhältnisse inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, wird öffentlich kaum thematisiert, eher abgespalten und in Zwischenwelten verdrängt. Zwar hat sich herumgesprochen, dass das Normalarbeitsverhältnis längst nicht mehr die Regel ist. »Was den Neoliberalismus gegenwärtig auszeichnet, ist – entgegen noch immer weit verbreiteter Annahmen – dass die Prekären nicht mehr allein diejenigen sind, die an den gesellschaftlichen Rändern marginalisiert werden können. Durch den individualisierenden Umbau des Sozialstaats, die Deregulierung des Arbeitsmarkts und die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse befinden wir uns gegenwärtig in einem Prozess der Normalisierung von Prekarisierung« (Lorey 2015: 33). Das ist aber ein Tabu, dessen Tücke daran liegt, dass sich so in der Zwischenwelt ein verstecktes Prekariatsregime aufbauen konnte, das konträr zum sozialstaatlichen Wohlfahrtsregime steht. Das wird aber eher den betroffenen Menschen angelastet als den sozialstaatlichen Instanzen. Schuld und Scham liegen deshalb bei den Betroffenen eng beieinander und verhärten die Verletzlichkeit und Hilflosigkeit. Pathologische Scham ist Ausdruck des Verlusts der Würde. Dies wird durch Beschämung sozial forciert. Die soziale Blöße tritt hervor. Scham gilt als soziales Konstrukt, das mit Strukturen sozialer Ungleichheit, vor allem mit Armut, korreliert (Becker 2011: 152). Dass Armutspolitik auch Beschämungspolitik ist, ist in Deutschland vor allem an den Hartz IV-Gesetzen diskutiert worden. Armut habe im Sozialstaat nicht nur eine disziplinierende, sondern auch eine machterhaltende Funktion, indem bei den Betroffenen Ohnmacht und Hilflosigkeit und bei der Mehrheitsbevölkerung Selbstbestätigung und soziale Abgrenzung erzeugt wird. Damit wird die sozialstrukturelle Ausgangslage in die innerpsychischen Erschöpfungszonen des Selbstzweifels verschoben. »In einer Gesellschaft, in der sozialer Status – scheinbar oder tatsächlich – auf Eigenleistung basiert und zugleich als Anerkennungsressource dient, wird niedriger sozialer Sta-
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tus […] als persönlicher Misserfolg gedeutet. Für ihren vermeintlichen Misserfolg werden die Betroffenen verantwortlich gemacht, die diese Sichtweise oftmals teilen […]. Gleichwohl bleibt Scham eine schwer darstellbare Emotion in einer von Erfolgsund Leistungsprinzip geprägten Gesellschaft« (Becker/Gulyas 2012: 88). Viele Menschen wehren sich dagegen bis zur Erschöpfung. Ausgehend von diesem Bild kann der Begriff der ›sozialen Erschöpfung‹ Hilflosigkeit und Verletzbarkeit näher beschreiben. Soziale Erschöpfung ist ein Prozess, an dessen Ende sich psychosozialer Stillstand in der Vergeblichkeit ausbreitet. »Erschöpfung ist in ihren Konsequenzen das sichtbare Zeichen eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten. Das Autonomieversprechen der Moderne verflüssigt sich für viele in einer Autonomieerwartung, die sie aufgrund eines verweigerten Zugangs zu Ressourcen und einer höheren Verwundbarkeit nicht wirklich einlösen können« (Lutz 2017: 14). Dazu gehört auch die Erneuerung einer verlorenen Perspektive: die respektvolle Einbeziehung der »hidden injuries of class«. Soziale Erschöpfung, darin gesteigerte Offenheit für Verletzbarkeit und Verletzlichkeit sind auch hier wieder von Scham umgeben. Scham beschädigt nicht nur das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der Betroffenen, »sondern sie führt dazu, dass sich Menschen möglichst konform verhalten, mutlos agieren und kein eigenverantwortliches, reflektiertes Verhalten mehr praktizieren« (Neckel 1991: 95). Sie sind nicht mehr als Akteure erkennbar, resignative bis depressive Tendenzen nehmen zu. Es sind oft überforderte Menschen. Überforderung als Kern von Depressionen finden wir in den inzwischen verbreiteten psychosozialen Erklärungsansätzen, die diese Überforderung aus den Irritationen sozialer Anforderungen ableiten: »Deutlich ist der Einfluss des gesellschaftlichen Umfeldes, vor allem auch wenn es um Brüche in der Berufsbiografie geht. Gesellschaftliche Umbrüche, technologischer Wandel und Informationsüberflutung führen zu Gefühlen von Ohnmacht, Selbstzweifel und Sinnlosigkeit, zumal traditionelle, Halt gebende soziale Strukturen dem postmodernen Menschen verloren gegangen sind« (Payk 2010: 58). Auch Alain Ehrenberg unterstreicht diesen gesellschaftlichen Bezug: »Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare« (Ehrenberg 2004: 277). Die Betroffenen nehmen sich als handlungsunfähig wahr und spalten diese Hilflosigkeit nach innen ab. »Es ist nicht unmittelbar die individuelle materielle Not, die depressiv macht, sondern das Gefühl des grundlegenden individuellen Versagens und deshalb Nicht-HandelnKönnens in einer Welt, die nach gesellschaftlich vorgegebener, aber auch individuell vielfach geteilter Sicht alle Möglichkeiten des Fortkommens bereithält« (Summer 2008: 58).
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Zumutungen von Verantwortung Am Beispiel der Elternverantwortung kann man zeigen, dass da, wo Verantwortung zugeschrieben und zugemutet wird, nach den Kontexten gefragt werden muss, die eine Verantwortlichkeit verhindern oder ermöglichen und aufrechterhalten helfen. So beinhaltet diese Erziehungsverantwortung die Zuschreibung der Pflicht der Mütter und Väter gegenüber ihren Kindern – d.h. als deren Mütter sie biologisch zugerechnet werden und/oder sich formell dazu erklärt haben und als die sie von einer staatlichen Instanz anerkannt sind – »auf Grund eines normativen Anspruchs, der durch diese Instanz eingefordert werden kann und vor dieser zu rechtfertigen ist« (Oelkers 2013: 165) Für die Ausübung von Verantwortung gilt ein bestimmtes Maß an Autonomie, Handlungsfreiheit und die Möglichkeit, etwas beeinflussen zu können (man denke hier an Einflussmöglichkeiten bei Konflikten eines Kindes im Schulbereich). Verantwortlichkeit dagegen bezieht sich auf die Frage, in welchem Maße Eltern für ihre Handlungen »zur Rechenschaft zu ziehen« sind (ebd.). Welche Handlungsfreiheit haben Eltern in besonderen Belastungssituationen, wie können sie auf besondere Konflikt- und Krisensituationen im Beziehungsalltag mit Kindern und Jugendlichen reagieren? Eine erste Annäherung ermöglicht der Blick auf ihre materiellen Lebenslagen. Die Ausarbeitungen von Pothmann (2014) aus der laufende statistische Erhebung der Jugendhilfe in Nordrhein Westfalen über den Zusammenhang von prekären Lebenslagen mit Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung zeigen, dass sich insgesamt die Hilfen zur Erziehung einschließlich Erziehungsberatung von 1991 bis 2009 – so kann man sagen – mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen verdoppelt haben. Im Jahre 2009 entfielen dann 48 % aller Hilfen auf die an die freie Initiative der Eltern geknüpfte Erziehungsberatung, 52 % auf familienunterstützende und familienersetzende Hilfe. Hiervon waren es 66 % ambulante Hilfen und 34 % stationäre Hilfen. Fragt man nach einem Zusammenhang von sozioökonomischen Lebensbedingungen bzw. prekären familiären Verhältnissen, gemessen am Bezug von Transferleistungen und der Inanspruchnahme von Hilfen, so ergibt sich, dass 61 % aller Bezieher*innen gleichzeitig auf Transferleistungen angewiesen sind. Dabei sind es bei den Einzelbetreuungen 49 % und bei der Vollzeitpflege 76 %. Man könnte also sagen, dass steigende Angewiesenheit auf Hilfen zur Erziehung mit Angewiesenheit auf Transferleistungen einhergehen. Vergleicht man die Anteile des Bezugs von Transferleistungen so sind es bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe 66 %, die auf Transferleitungen angewiesen sind, in der Erziehungsberatung aber nur 18 % und bei den Hilfen nach §35 KJHG 25 %. Eine größere Freiheit bei der Inanspruchnahme von Hilfen besteht vor allemda, wo Eltern soziale Dienstleistungen kennen, beurteilen und bezahlen können. Bei den Problemlagen bei drohender und manifester Kindewohlgefährdung wird
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nun allgemein zwischen Belastungen aus prekären Lebenslagen und individuell-biografischen Konflikt-Belastungen, in denen sich auch innere unbewältigte Konflikte ausdrücken, unterschieden. Die Bezüge zwischen den lebenslagenbezogenen Spielräumen wie Einkommen, Wohnverhältnisse, soziale Kontakte und den bewältigungsbezogenen Aneignungschancen sind offensichtlich. Aber auch der Zusammenhang zwischen Abhängigkeitsverhältnissen und Einkommens- und Beteiligungsspielräumen, sowie zwischen Kontakt- und Beteiligungsspielraum und der sozialen Chance, kritische Befindlichkeiten zur Sprache zu bringen, ist herstellbar. Das sind natürlich keine kausalen Bezüge, deshalb brauchen wir auch entsprechend beobachtende und biografisch narrative Zugänge. Auch der Rückbezug auf sozialstatistische Daten der Lebenslage erfordert interpretativ-kommunikative Verfahren. Die Belastung der Eltern-Kind-Beziehung wächst in dem Maße, wie Kinder zum Teil der privaten Lebensplanung werden, wobei hier immer schon Männer und Frauen anders betroffen sind und jeweils andere tiefliegende Konflikte aufbrechen können. Der Kinderwunsch wird vordergründig eingebunden in Vorstellungen von Selbstentfaltung und Selbstwertsteigerung (vgl. King 2012). Gesellschaftlich immer noch übergangene Konflikterfahrungen zwischen Frauen und Männern bestimmen schon früh die Entscheidung für ein Kind, die Schwangerschaft und die ersten Monate als Mutter und Vater. Es sind nicht nur die getrennten Erfahrungswelten sondern auch eigene Ängste und unausgesprochene Bedürftigkeiten zusammen mit Umstellungen des Alltags zu bewältigen. Von da an steigen auch die inneren Anforderungen, die man sich als Mutter oder Vater an die eigenen Erziehungskompetenzen stellt, die aber gleichzeitig von außen - nach der Maßgabe von Elternpflichten – fremdbestimmt kontrolliert werden. Erziehungsschwierigkeiten, vor allen Dingen da, wo sie nach außen sichtbar werden, stellen sie die eigene Person sowohl in ihrem Erwachsenenstatus als auch ihren Lebensentscheidungen in Frage. Hier wird eine strukturell begründete innere Ambivalenz verstärkt und damit das Schwanken der Mütter oder Väter zwischen liebevoller Zuwendung und Ablehnung aus Überlastung erklärbar. Der Umschwung entsteht durch eine Enttäuschung, eine Infragestellung ihrer selbst durch das Kind. Diese Infragestellung muss bewältigt werden und dazu braucht es innere Ausgeglichenheit, zuverlässige Freunde oder selbstverständlich-professionellen Rückhalt. Unter bestimmten Umständen geraten Kinder als Stellvertreter*innen für die Einlösung eigener verwehrter Wünsche der Eltern unter Druck, was den Eltern oft schwer zugänglich ist und obendrein durch äußere Erziehungsanforderungen verstärkt wird. Unter diesen Bedingungen wird die Familie zu einem überlasteten Ort, an dem Glücksversprechen und Glückserwartungen stellvertretend eingelöst werden sollen (vgl. Wahl 1989). Aus der mehrfachen Überforderung heraus ist ein Scheitern in der familiären Beziehungswelt einerseits normal, andererseits ein Zeichen von Versa-
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gen, das in jedem Fall vermieden werden muss; da, wo dies nicht gelingt, stellt es die eigene Person in Frage und muss neu eingeordnet und möglichst konstruktiv bewältigt werden. Das ist der strukturelle Hintergrund, die Modernisierungsfalle: In der emotionalen Dichte ist die Familie von innen ein fragiles Gebilde, das sich unter den Belastungen von außen bewähren muss, ein entspannteres pragmatisches Interesse am Bestand der Familie kann sich so kaum noch durchsetzen. Äußere Belastungen ergeben sich aus zunehmender Armut und dauerhafter Arbeitslosigkeit in den Familien. Dies und der erzwungene Wechsel in andere unqualifizierte Tätigkeiten haben in Ostdeutschland vor allem die Mütter und Väter entwertet, die ehemals anerkannte Berufsfelder aufgeben mussten und deshalb den Wechsel eben nicht immer als Gewinn und Chance er- leben konnten. Die Erfahrungen der Erwerbslosigkeit in den Familien betreffen jedes Familienmitglied, alle sind potentiell betroffen. Dies verstärkt wiederum die Bedeutung und den Wert von Arbeit. Damit steigt der Druck auf die Erziehungsanstrengungen der Eltern. Aber auch der Druck, der von Qualifizierungsansprüchen ausgeht, wird durch verunsicherte, aber auch statusbewusste Eltern an die Kinder weitergegeben. Studien zur Wirkung von Arbeitslosigkeit enthalten Hinweise, dass viele Familien versuchen, Handlungsfähigkeit über ein gelingendes Familienleben zu erreichen, sodass der innere Kontrolldruck auf die Familie und die Tendenz zur Abschließung steigt (vgl. Schindler u.a. 1990). Diese Tendenz ist nach Untersuchungen in einer ostdeutschen Großstadt abhängig von Bildungsstatus und fürsorglichem Umgang mit materiellen Engpässen; hierarchische, patriarchale Beziehungsformen verschärfen sich (vgl. Nietfeld/Becker 1999). Erwerbslosigkeit und Einkommensarmut führen zu sekundären Belastungen wie die Einbindung in Zeitstrukturen amtlicher Behörden oder zum Wechsel in belastende Wohnverhältnisse. Diese gehen zusammen mit anderen Krisen und Konflikten oder lebenslangen Einschränkungen (vgl. Rogge 2009: 80f.). Unter der Arbeitslosigkeit kann sich die emotionale Verständigung erschweren, erlebte Minderwertigkeit wirkt in Richtung einer emotionalen und kommunikativen Distanzierung im Nicht-mehr-Miteinander-Reden-Können. Kinder werden zum wichtigen Kitt der Familie, zu Adressaten überhöhter Leitungsanforderungen oder über die Verlagerung der emotionalen Bedürfnisse auf das Kind. Alle Auswirkungen auf innerfamiliale Prozesse führen zur Vermehrung von Konflikten (vgl. Heintze 2002); Konflikte aus soziökonomischen Belastungen und Sorgen um Kinder verstärken sich dabei gegenseitig (vgl. Strehmel 2005). Damit ergibt sich eine Reduzierung der Menge an kooperativen und positiven Interaktionen, an erfahrener gemeinschaftlicher Bewältigung des Alltags. Mit der Zeit können sich Hoffnungslosigkeit und Demoralisierung verfestigen; es kommt zur Erosion familienbiographischer Pläne, zu gegenseitigen Vorwürfen, beeinträchtigtem Erziehungsstil, schlechtem Befinden der Eltern (ebd.) Dies verstärkt wiederum Zukunftsängste oder beschleunigt Trennungen. Eine Entwertung
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des Alltags begünstigt psychische Beeinträchtigungen, rigide geschlechtshierarchische Rollenaufteilungen und vermehrte negative Handlungsfähigkeit (Nietfeld/ Becker 1999). Ein destruktiver Problemlösungsstil geht zusammen mit dem Gefühl geringerer Kontrolle über den Alltag, wie es im Arbeitsverhältnis erlebt wurde. Die Gegenerfahrung, dass man ein Familien-Harmonie-Modell nicht braucht, sondern dass es darum geht, Konflikte austragen zu können, dass es notwendig ist, Konflikte nicht lange zurückzuhalten, sich in der Konfliktaustragung mit dem/der jeweils Dritten Rückhalt zu geben, auch über unterschiedliche Interessen hinweg, ist inzwischen von der entsprechenden Forschung belegt (vgl. Ossyssek u.a. 1995). Aber diese Konfliktfähigkeit geht verloren, wenn sie allzu oft herausgefordert wird, z.B. auch durch zeitliche Belastung beider Eltern. Die Qualität der Bewältigung von Konflikten nimmt in Fällen intensiver, fremdbestimmter zeitlicher Inanspruchnahme durch Erwerbsarbeit ab. Die Art der Konfliktbewältigung, die Qualität des Rückhalts, den sich Eltern im Erziehungsalltag gewähren, ist abhängig vom partnerschaftlichen Umgang – doch gerade dieser ist durch die Häufung von Konflikten bei Alltagsstress gefährdet. Die Veränderungen in den beruflichen Anforderungen nach der deutschen Wiedervereinigung – so ergab die o.g. Untersuchung – bedeuteten gleichzeitig eine Verringerung der Zeiten für das gemeinsame Familienleben und Einbußen an seelischer Kraft, die Mütter für die Erziehung und die emotionale Aufmerksamkeit aufbringen und Kindern zuteilwerden lassen. Das ergab eine Langzeit-Studie aus Ostberlin. Schon im frühen Kindesalter reagieren Mädchen darauf eher als Jungen mit kognitiven Bewältigungsanstrengungen (vgl. Ahnert/Schmidt 1995). Aus Einzelfallbeschreibungen im Feld von Fördermaßnahmen wird kann sichtbar werden, wie die geschlechtsspezifische Entwertungen, die Elternpersonen hinnehmen mussten, – unter bestimmten familiendynamischen Bedingungen – einseitig an Töchter oder Söhne durch übermäßige Anforderungen und Verpflichtungen auf Versorgung und Wohlverhalten abgegeben werden. Der Familie kommt eine zentrale Unterstützungs- und Orientierungsfunktion im oft langwierigen Prozess des Übergangs von der Schule in den Beruf zu. Die Freiheit von Eltern, von Vätern und Müttern, Experimentierraum zu gewähren und den Übergang von Schule in Ausbildung, von Ausbildung in den Beruf entlastet zu gestalten, bei »Übergangskarrieren« – gerade auch da, wo sie schwierig sind – familiären Rückhalt zu gewähren, unterliegt jedoch oft harten Belastungsproben. Das Konfliktpotential und der soziale Druck innerhalb der Familien verstärken sich, »…wenn die Jugendlichen trotz vorhandener schulischer Qualifikation und größter individueller Bemühungen auf Grund regionaler Engpässe in den Ausbildungsstellen und des Arbeitsmarktes von einer Perspektive langfristig gesicherter beruflicher Existenz ausgeschlossen bleiben und die soziale Teilhabe an dieser Gesellschaft durch Arbeit und Beruf in Frage gestellt ist« (Preiß u.a. 1999: 79).
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Konflikte, die Mütter und Väter besonders belasten, entstehen auch durch den von Mädchen und Jungen eingeforderten und gerade den Mädchen oft nicht zugestandenen Experimentierraum (vgl. King 2015). Dieser ist heute auf eine andere Art riskanter und weiter gesteckt als in den Erfahrungen der Mütter und Väter davor. Gelingende Phasen der Selbst-Erfahrung – auch über Umwege, Krisen und deren Bewältigung in der Zeit der Adoleszenz – stellen grundlegende Bedingungen für die zukünftigen Individuierungsprozesse dar. Diese Umwege und Krisen sind der vergangenen Generation auf Grund der zumindest durch Erziehungs- und Bildungsinstitutionen stärker vorstrukturierten Lebensläufe – so könnte man vermuten – fremd; eher noch unterliegen sicher viele Erwachsenen heute diesen das eigene Selbst herausfordernden Anforderungen der Neuorientierung und Selbstfindung und sind da selbst vom Rückhalt für diese abverlangte Experimentierhaltung abhängig. Man könnte formulieren, sie stehen zu den Umwegen und Überschreitungen der Mädchen- und Jungen-Generation in Konkurrenz. Exzessive Drogenerfahrungen, Essstörungen, Gewalt, Weglaufen sind als jugendeigene Bewältigungs- und Aufschubzeiten zu betrachten, die auf tieferliegende Krisen und Konflikte verweisen, auch in der Generation der Eltern, deren Ausgang aber offen und vom Zugang zu angemessenen Hilfestellungen abhängig ist (vgl. Möller u.a. 2000). Elternrecht und elterliche Verantwortung sind Teil sozialpolitischer Zielformulierungen und wohlfahrtsstaatlicher Aufgabenbestimmung und werden dort unter verschiedenen Prämissen verhandelt. So wird der Anspruch der Eltern auf einen Kindergartenplatz in Verbindung mit der Realisierung von Kinderwunsch und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen, für Männer und Großeltern ins Gesetz aufgenommen und zugleich unter die Prämisse gestellt, dass insbesondere Kinder »bildungsferner Eltern« auf frühe Förderung angewiesen seien. Gleichzeitig wird von Eltern eine Orientierung an vielseitigen Fürsorge- und Förderstandards verlangt. Auch die Verteilungsprozesse von Verantwortung zwischen öffentlichen Einrichtungen und Angeboten im Bereich von Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen und dem Aufgaben-Verständnis und Engagement von Eltern stellen sich nicht einheitlich dar: So haben sich die Felder erweitert, wo Versorgung, Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu regulären öffentlich zu organisierenden Aufgaben werden. Hier haben die Interessen der einzelnen Eltern im Bereich der Kitas aber auch der Schule an Einflussmöglichkeiten gewonnen. In der Schule stehen sich heute z.B. Rationalisierungsanforderungen im Bildungssystem der Sorge der Eltern um Ausstattung und Qualität der Schule aber auch um mehr Entwicklungszeit für Kinder gegenüber. Doch bei der Diskussion um Bildungsinhalte geraten die sogenannten »bildungsfernen Eltern« unter Druck und ihnen wird stillschweigend die Anerkennung der eigenen familiär bedeutsamen Erfahrungen abgesprochen (vgl. Betz 2008). Die Diskussion um Defamilialisierung oder Refamilialisierung von staatlichen Leistungen bezieht sich zuerst darauf, an wie vielen Stellen materielle
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Versorgungsleistungen in die Familie zurückverlagert werden (vgl. Oelkers 2012). Allgemein aber auch auf die Erziehungshilfen bezogen, steht die kritische Frage im Raum, wie Druck auf die Anstrengungen von Eltern und auf das Gelingen ihrer Erziehungsverantwortung ausgeübt wird. Wenn heute die Belastbarkeit von Eltern und Einrichtungen herausgefordert wird treten auch Brüchigkeit und die Grenzen deutlicher hervortreten, so dass Fragen aus der feministischen Care-Perspektive neu gestellt: In welcher Weise fußt der Sozialstaat nicht nur auf den materiellen Versorgungsleistungen und -ansprüchen in familiären Zusammenhängen sondern auch auf den notwendigen Anstrengungen von Eltern, Müttern, Vätern und deren weiteren Familien. Auch in der Angebotsstruktur und in der Ausgestaltung des gesellschaftlichen Auftrags der Jugendhilfe manifestiert sich die Qualität und regulierenden Kraft, wie sich der Wohlfahrtsstaat auf die familiären Beziehungen stützt, indem er diese unterstützt und einfordert. Die Zuschreibung von Verantwortung in der Form eines Apells an die Selbstverantwortung gewinnt nun im Rahmen der neuen Gouvernementalität (vgl. Foucault 2005) als zentrale politische Steuerungskategorie an Bedeutung. D.h. hier wird mit Selbstverantwortung an die Anspannung eigener Kräfte appelliert – ohne auf Kontexte und Rahmenbedingungen für die Übernahme von Verantwortung zu achten. In diesem Sinne dient heute Verantwortung als politischer Leitbegriff: »Im Kontext einer wohlfahrtsstaatlichen Transformation, innerhalb derer aktive Leistungen zunehmend zurückgenommen werden, gewinnen Strategien der Aktivierung sowie der Übertragung von Verantwortung (Responsabilisierung) gegenüber rechtlich verbrieften Leistungen an Bedeutung und führen zu Konditionalisierung eben dieser Leistungen« (Oelkers 2012: 163). Diese Aktivierung von Verantwortung im Hilfeprozess ohne angemessene Rahmenbedingungen erzeugt neue Überforderung, Druck und soziale Spaltung und auch die Gefahr der Beschämung gegenüber denen, die scheitern. Diese Kritik wird zuerst in Bezug zu den SGB II Regulierungen von Arbeitslosigkeit formuliert und muss aber auf die Problemlagen von Eltern erweitert werden. Zum einen kommt es – gestützt auf das Fazit mehrerer Untersuchungen über rechtliche Regelungen (Hartz IV) oder auch über die Einschränkung der Angebotsbreite und -dauer – zu einer Rückverlagerung von Verantwortung zwischen Eltern und Kindern in private, familiäre Zusammenhänge (vgl. Richter 2013) zum anderen hat sich der Einfluss von fachlichen Einschätzungen auch in der Verpflichtung zur institutionellen Kooperation bei drohender Kindeswohlgefährdung verstärkt. Weiterhin ist heute die heutige Diskussion durch eine unter ökonomischem Druck als alternativ gesetzte Konkurrenz zwischen der Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Familien und einer Verbesserung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Familien bestimmt. Bei Eltern mit eingeschränkten Lebenslagen hat dies bereits zu einer diffamierenden Sozialberichterstattung geführt.
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Was sozialpolitisch in die Bestimmung der Problemdefinitionen und der elterlichen Ansprüche eingeht, die zur Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern beitragen sollen, nähert sich heute einem positiven Mindeststandard, was Kinder brauchen und was Eltern dazu mit ihrem Verhalten beitragen an. Wo findet sich eine inhaltlich begründbare Bestimmung dessen, was (diese) Eltern brauchen, damit sie ihr Erziehungsrecht und ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen können. Dies erschließt sich nicht unmittelbar sondern erst aus der Annäherung an die jeweils individuellen Lebenslagen und der noch weniger offenliegenden Bewältigungslagen von Müttern, Vätern in der biografischen Aufschichtung ihrer Erfahrungen. Diese greifen - je nach Lebenslage unterschiedlich gewichtet – entsprechend einem stillschweigend angewendetem übergeordneten Standard, indem bürgerlich-mittelschichtige Lebens- und Arbeitszusammenhänge von Müttern und von Vätern und die hier angesprochenen Hoffnungen eine positiv-übergeordnete Bewertung erhalten und diesen gegenüber fremde Milieuerfahrungen insbesondere aber belastete Familiensituationen dahinter zurückbleiben. Wenig beachtet bleibt auch, wo Anstrengungen in aussichtslosen Situationen verlangt werden oder zugemutet werden können.
Angewiesenheit und Verantwortung in persönlichen Beziehungen Eine persönliche Beziehung ist eine wechselseitige Beziehung, die ganz von der Begegnung zwischen zwei Personen abhängt und eben nicht in einem funktionsgemäßen Anlass begründet und begrenzt wird. Die Beziehung ist idealerweise auf unbegrenzte Zeit, auf Fortdauer angelegt, in der sich zunehmend ein Wissen über die »Identität« der »ganzen Person« entwickelt und bisherige Einsichten sich durch neue Erfahrungen um durchaus schwierigen Seiten der Person ergänzen. Immer wieder wird betont, dass eine gegenseitige emotionale Bindung bei einer (asymmetrischen) Abhängigkeit von Verletzlichkeit Enttäuschung, Misstrauen aber grundsätzlich von bedeutsamen emotionalen Auseinandersetzungen begleitet ist. Gleichzeitig zeichnen sich persönliche Beziehungen ebenso sehr durch ihre kreativen, entlastenden und Sicherheit vermittelnden Qualitäten aus. Insofern sich zunächst dyadisch gedachte persönliche Beziehungen zu Netzwerken erweitern, bzw. in Netzwerke eingebettet sind, bilden sie ein Beziehungsgefüge, in dem wesentliche Sozialisationserfahrungen gemacht werden, die durchaus auch Gefährdungen enthalten können. Lenz und Nestmann (2009: 14), die Autoren dieser Definition, sehen sie daher auch als Basis und Ressource für Fürsorglichkeit und leicht zugängliche Hilfe: »Alltägliche persönliche Beziehungskonstellationen (außer einer Interaktion unter Fremden) sind der Hintergrund, auf dem soziale Unterstützung in Problem- und Krisensituationen erfolgt und ausgetauscht wird«. Wenn in diesen Bestimmungen weniger von ›Verantwortung‹ die Rede ist, so finden sich hier doch wesentliche An-
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knüpfungsunkte, insofern es um die gegenseitige Berücksichtigung von Bedürfnissen geht. In allen Dimensionen kann man verantwortliches Handeln (Rechtfertigung, präventive und vorausschauende Rücksichtnahme oder diskrete Hilfe – im besonderen Personenbezug, in der Ausrichtung auf Dauer, im Umgang mit Asymmetrien) verorten. Die Fragen nach Art der Begegnung und der Verantwortungsübernahme verweisen zur genaueren Betrachtung auf die Ebenen des Analyse-Rahmens: von der Ebene des Beziehungsalltags, über die der persönlichen Biografie, die Art, wie man sich auf kulturelle Leitbilder stützt, die Ungleichheitsstrukturen und sozialen Milieus, die diese Beziehungen prägen, bis zur symbolischen Ebene, auf die sich der Fortbestand gründet und in der sich die Beziehung ausdrücken kann (ebd.: 20f.). Hier lässt sich die Ergänzung Schützeichels (2010) einfügen, dass auch Verantwortung und Unterstützung mit unterschiedlichen moralischen Regeln (»Grammatiken«) und ethischen Begründungen eingeklagt oder erwartet werden kann, wie sie im jeweiligen Milieu gelten, wie sie sich im engeren Raum der persönlichen Beziehung entwickeln und sich dabei schließlich auch auf universelle Regeln berufen können. In der historischen Verortung von »Verantwortung« in persönlichen Beziehungen ist man auf die Epoche der Individualisierung verwiesen. Auch in der Hervorhebung der »ganzen Person« deuten sich Prozesse der Freisetzung und Individualisierung an, die es ermöglichen oder auch erfordern, sich neu auf einzelne als ›Ganze Person‹ – unabhängig von Organisationen oder bestehenden Institutionen – zu stützen. Persönliche (dyadische) Beziehungen finden sich in Beziehungen zwischen Eltern und in Eltern-Kind-Beziehungen. Diese sind jedoch auch immer familien- und sozialpolitisch gerahmt und zugleich auf alte und neue Netzwerke persönlicher und professioneller Beziehungen angewiesen (vgl. Roseneil 2008). In eine familien- und sozialpolitische Rahmung können auch Verwandtschaften und Zweierbeziehungen einbezogen sein. Die persönlichen Beziehungen am Arbeitsplatz unter Kolleg*innen bilden ein nicht nur verlässliches sondern auch konfliktreiches Unterfutter für die Bewältigung des Arbeitsalltags (vgl. Sickendiek 2009). Bewusst übernommene private Care-Beziehungsarbeit ist einerseits mit charakteristischen Unterschieden von persönlichen Beziehungen und andererseits von professionellen Beziehungen abzugrenzen. Nicht nur in der Asymmetrie sondern auch im Anlass, im organisatorisch und institutionell gerahmten Auftrag und durch festgelegte Dauer unterscheiden sich die letzteren grundlegend von der definierten Kategorie persönlicher Beziehungen. In der überlegenen professionellen Steuerungskompetenz – besser dem Mehr an spezifischem Wissen und einer größeren Handlungsfreiheit – ist enthalten, dass dabei ein Rahmen von »distanter Nähe« entstehen kann, in dem zwei Personen offen und verantwortungsvoll miteinander neue Erfahrungen machen können (vgl. Großmaß 2009).
Teil II: Gesellschaftsmodelle der Verantwortung
Die drei Modelle nehmen für sich in Anspruch, Verantwortung als zentrale Kategorie der Vergesellschaftung einzuführen. Dabei betonen sie das Verhältnis von Autonomie und Angewiesenheit unterschiedlich. Das Modell der ›Verantwortungsgesellschaft‹ betont die individuelle Freiheit der Bürger*innen zwar im Gemeinschaftsbezug, der allerdings nur freiwillig und normativ eingefordert wird. Das Modell der Commons geht von der Gestaltung der Angewiesenheit aus und sieht darin die Autonomie des Menschen als soziale Freiheit neu begründet. In der ›Gesellschaft der Sorge‹ ist gegenseitige Angewiesenheit in der ›Triade der Arbeit‹ angelegt. Darin ist eine sozial relationale Autonomie aufgehoben.
Gebundene Autonomie in der ›Verantwortungsgesellschaft‹ – das kommunitäre Modell Der kommunitaristische Diskurs hat sich in den 1980er und 1990er Jahre in den USA und darüber hinaus ausgebreitet und ist in gewissem Sinne zu einer Bewegung geworden, die sich gegen den zunehmenden Egozentrismus und die ›Erosion der Moral‹ im Lande wandte und zu einem neuen Gemeinschaftsdenken aufforderte und die »Verantwortungsgesellschaft« als bürgerdemokratisches Modell entwarf (vgl. Etzioni 1997). Im Mittelpunkt steht das Konstrukt der »gebundenen Autonomie«, in dem sich die Interessen der Individuen immer in Bezug zur Gemeinschaft entfalten sollen. Auf den ersten Blick finden wir in dem Modell jene Spannung zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl, aus der heraus sich Verantwortung entwickelt und das ja auch unser Modell in der Struktur bestimmt. Der Unterschied ist der, dass Amatai Etzioni, der Protagonist der kommunitären Bewegung, ein normatives Modell entwickelt, während wir von einem Strukturmodell – die Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit – ausgehen. Für die Kommunitaristen braucht es einen Kernbestand gemeinsam geteilte Werte, der sich in den Familien und Gemeinden von unten her in entsprechenden Diskursen entwickelt. Da es in modernen Gesellschaften keine strikte Trennung zwischen öffentlicher und
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privater Sphäre gibt, solche Diskurse also beide Sphären durchziehen, können sie aufeinander bezogen werden. So kann die kommunitäre Erneuerung von den Familien ausgehen und über die Schulen in die gesellschaftlichen Assoziationen hineinreichen Es sind also nicht – wie in liberalistischen Programmen – die individuellen Entscheidungen und Interessen, die in rationalen und vertraglichen Übereinkünften Gemeinschaft hervorbringen, sondern »moralische Dialoge« als »Verständigungsprozesse über Werte«. Das kommunitäre Diskursmodell ist ein Konfliktmodell, in dem die widerstreitenden Elemente zu einer integrativen Synthese gebracht werden. Diese besteht aus der Anerkennung allgemein geteilter Grundwerte, die zu »Bürgertugenden« werden. In der Verantwortungsgesellschaft sollen die Bürger*innen auf der Basis der Freiwilligkeit gemeinwohlorientierte Motivationen entwickeln und damit eine Gesellschaft stärken, in der die Werte des Gemeinwohls im Mittelpunkt stehen. Das erfordert einen bürgerschaftlichen Diskurs, der immer wieder neu bewegt werden muss. Die Verantwortungsgesellschaft soll von unten her – in den Familien, Gemeinden, Unternehmen und öffentlichen Institutionen – aufgebaut sein. »Humanitäre Gesellschaften müssen ein Gleichgewicht zwischen ihren ordnungsstiftenden und autonomiefördernden Kräften bewahren. Ein solches Gleichgewicht kann sich sowohl auf einem niedrigen Niveau von Ordnung und Autonomie befinden als auch auf einem hohen Niveau ›in einer Gemeinschaft‹ in der affektive Bindungen und gemeinsame Werte ebenso stark ausgeprägt sind wie die Strukturen zum Schutz der Autonomie. In jedem Fall kann das spannungsvolle Verhältnis zwischen diesen beiden Kräften nicht völlig überwunden werden. Allerdings können humanitäre Gesellschaften ein bemerkenswertes Spektrum aufweisen, in dem die ordnungsstiftenden und autonomiefördernden Kräfte sich eher gegenseitig verstärken als dass sie sich antagonistisch gegenüber stünden« (Etzioni 1997: 74). Auch hier ist Verantwortung die Synthese. Dazu müssen aber Autonomie und gemeinwohlorientierte soziale Ordnung in einer Balance befinden. Denn »wenn es eine Gesellschaft allerdings zulässt, dass dem Individuum entweder immer mehr Rechte zugesprochen oder immer mehr soziale Verantwortlichkeiten auferlegt werden, dann kommt es zu einem Punkt, an dem diese beiden Elemente sich gegenseitig eher unterminieren als dass sie sich wechselseitig verstärken« (ebd.: 72). Der Idealtyp der sozialen Ordnung ist dabei eine gemeinwohlorientierte Wertegemeinschaft zu der sich die Individuen in Freiheit moralisch in Beziehung setzen können. Es handelt sich dabei um »umfassende Grundwerte«, die diese Synthese bilden sollen. Wichtig dabei ist die freiwillige Einsicht in die Notwendigkeit dieser Grundwerte. Etzioni hebt immer wieder hervor, »dass eine gute, auf der Grundlage eines freiwilligen Einverständnisses aufgebaute Gesellschaft sich auf die Einsicht ihrer Mitglieder stützen muss, das von ihnen erwartete Verhalten stimme mit den Werten, an die sie glauben, überein. Keineswegs darf man dieses Verhalten allein durch die veröffentlichten Autoritäten oder mittels ökonomischer Anreize herbeizuführen
Teil II: Gesellschaftsmodelle der Verantwortung
versuchen« (ebd.: 126). In der Kritik an dem kommunitaristischen Modell wird vor allem danach gefragt, welche gesellschaftlichen Gruppen in der Lage sind, von sich aus solche Werte als Interessen und darin kommunitäre Gestaltungskraft zu entwickeln. Es sind die Aktivbürger*innen der Mittelschicht, die als Akteure im Mittelpunkt stehen. Das kommunitäre Modell wurde auch in Deutschland entsprechend adaptiert und praktisch in ›Bürgerstiftungen‹ erprobt. Kommunitäre Argumentationen sind in Deutschland seit den 1990er-Jahren populär geworden, als das Vertrauen in die Integrationskraft des Sozialstaates zu schwinden schien und neue Modelle der sozialen Verständigung und Verantwortung jenseits sozialstaatlicher Regulation gesucht wurden. Gerechtigkeit, Freiheit und Gestaltung des Sozialen sollten demnach nicht mehr im Gebäude sozialstaatlicher Reglementierung und Bürokratisierung dressiert sein, sondern dem selbstbestimmten Zusammenspiel der bürgerlichen Kräfte aufgegeben werden. In diesem Kontext wird eine Rückbesinnung auf das antike Ideal des Aktivbürgers vorgeschlagen, das zwar »in der modernen, komplexen, vernetzten mobilen Gesellschaft nicht mehr trägt«, aber für den »überblickbaren, politischen Raum« (Thürer 2000: 206) durchaus als zukunftsfähig erachtet wird. Innerhalb dieser Perspektive bürgergesellschaftlicher Praxis erleben wir eine Renaissance: Die Stadt oder die Region werden als politische Gestaltungsräume von Aktivbürgern (vgl. z.B. die städtischen Bürgerstiftungen) neu entdeckt, nachdem die politischen Gestaltungsmodelle, die sich in den Diskussionen der 1970er-Jahre vor allem auf gesellschaftliche Großgebilde – wie eben den Sozialstaat – bezogen, am Ende des 20. Jahrhunderts als nicht mehr gestaltungsfähig erscheinen. Über das Konstrukt des Aktivbürgers sollen dabei einerseits soziale Gestaltung, Verantwortung und Gerechtigkeit im Gemeinwesen neu belebt und so in ein – nun nicht mehr sozialstaatliches – intermediäres Magnetfeld gebracht werden. Diese intermediären bürgerschaftlichen Strukturen – lokale Kampagnen, Runde Tische, periodische Interessenbündnisse sowie Organisationsformen des dritten Sektors – sollen das Handeln der sozial aktiven Bürger*innen gesellschaftlich transformieren. Als kommunikatives Kernstück der intermediären Bürgerformationen gilt dabei das unabhängige freie Argument, das nur jenseits institutioneller und bürokratischer Verregelungen seine Gestaltungskraft entwickeln kann – der Bürgerstatus als Idealstatus. Die Kategorie der Verantwortung hat auch in den hiesigen bürgergesellschaftlichen Konzepten einen sehr hohen Stellenwert. Lange genug sei die soziale Verantwortung in den Sozialstaat eingeschrieben und definiert worden, nun sei es an der Zeit, dass die Bürger*innen selbst Verantwortung für sich und das Gemeinwesen übernehmen und diese direkter und freier gestalten können als im normierten sozialstaatlichen System. Es wird auch hier von der Bürgergesellschaft als einer ›Verantwortungsgesellschaft‹ gesprochen, in der durch vernetzte Initiativen ein ›Ver-
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antwortungskapital‹ entwickelt und akkumuliert werden kann, das die repräsentative Demokratie so nicht erbringen kann (vgl. Gohl 2001: 11). Eine zentrale Bezugsdimension des Diskurses um die Bürgergesellschaft – vor allem in Deutschland – ist die des bürgerschaftlichen Engagements. Zu fragen ist nun, wie weit dieses Engagement trägt. Welche Personengruppen stehen sozusagen Modell für die Figur des Aktivbürgers in diesem republikanischen Ordnungsrahmen? Es sind die Bürger*innen der Mittelschicht (vgl. Enquetekommission 2002; Deutscher Bundestag 2017). Dabei sehen wir insbesondere drei Personengruppen: Engagierte im Rahmen von sozialen Hilfeprojekten, Engagierte im Auftrag lokaler Interessengemeinschaften und das bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen (coporate citizenship). Diese Aktivbürger*innen sind meist beruflich und sozial abgesichert und können so in der Mehrzahl der mittleren Mittelschicht zugerechnet werden. Sie haben eigene bürgerschaftliche Kommunikations- und Projektkulturen entwickelt, was oft zur Folge haben kann, dass sozial benachteiligter Bürger*innen (meist nicht intendiert) ausgeschlossen werden oder von vornherein den Projekten fernbleiben. Dass politisches Engagement und darin verantwortliche Beteiligung eng mit den Spielräumen der Lebenslage, der jeweiligen Verfügung über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verbunden sind, ist inzwischen oft beschrieben worden. Die Enquête des Bundestages zur Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland (2002) macht in diesem Zusammenhang die engagierten Bürger*innen als Mitglieder jener Bevölkerungsgruppe aus, die im Bezug zu einem Normalarbeitsverhältnis stehen und an ihrem Wohnort in soziale Netze eingebunden sind. Dass sich sozial Benachteiligte im Kontrast dazu wenig bis kaum engagieren, ist deshalb auch auf ihre prekäre Lebenslage zurückzuführen. Dieser sozialstrukturelle Verweis reicht aber nicht aus. Sozialarbeite*innen klagen häufig darüber, dass sozial Benachteiligte sich auch engagieren möchten, aber – trotz gemeinwesenpädagogischer Unterstützung – den Zugang zum bürgerschaftlichen Engagement nicht finden, mit den herrschenden Beteiligungsformen und -sprachen schwer zurechtkommen und sich so nach einiger Zeit wieder – nun doppelt – ausgegrenzt fühlen. Generell ist bei sozial benachteiligten Bürger*innen in segregierten Quartieren zu beobachten, dass sie von ihrer Lebenslage her keinen Draht zur bürgerschaftlichen Perspektive finden können. In entsprechenden Studien (vgl. dazu Munsch 2013) wurde deutlich, dass sie für die Bewältigung ihres Alltags so viele Energien verbrauchen müssen, dass sich kein Surplus für alltagsüberschreitende Aktivitäten und Interessen entwickeln kann. Deshalb darf ihr bürgerschaftliches Potenzial nicht aus der Sichtweise der Mittelschicht-Initiativen gesucht und bewertet werden, sondern es muss danach gefragt werden, welche besonderen Voraussetzungen in der Lebenslage der benachteiligten Bürger*innen selbst liegen. Deutlich geworden ist, dass sie kein Forum haben, in dem sie ihre Bewältigungsprobleme darstellen können. Gleichzeitig wissen wir
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aber, dass sie in ihrer Binnenwelt viel miteinander darüber sprechen und Handlungsmuster der Gegenseitigkeit entwickeln, die sie selbst pragmatisch begreifen und wie selbstverständlich praktizieren. Diese Muster in den bürgerschaftlichen Diskurs einzubringen, bringt Anerkennung in eine Bevölkerungsgruppe, die täglich unter Ausgrenzung und Entwertung leidet.
Die Gesellschaft der ›Commons‹ Commons sind Gemeingüter, die Menschen solidarisch nutzen, produzieren und verwalten. Es ist ein Modell jenseits von Markt und Staat. Spektakulär geworden sind vor allem die weltweiten Versuche gemeinschaftlicher (Wieder)Aneignung von Naturressourcen, Kulturgütern und Wissen, über die die Medien immer wieder berichten. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang – über den Nobelpreis – die US-amerikanische Ökonomin Elenor Ostrom (2012), die gezeigt hat, wie es mit solchen solidarischen Modellen gelingen kann, die Übernutzung von Naturressourcen zu verhindern. Commons-Modelle sind Modelle der gemeinschaftlichen Verantwortung bei den Versuchen der Wiederaneignung von existenziellen Lebensgrundlagen. Aus dem Geist der Commons sind z.B. die solidarischen Projekte der Gemeinwesensökonomie oder Gemeinwohlökonomie in vielen Ländern und so auch in Deutschland entstanden, die wir hier als exemplarische Beispiele für ›Commoning‹ auswählen. Die gemeinwohlökonomischen Projekte richten sich gegen eine kapitalistische Ökonomie, die ihr Verwertungs- und Profitinteresse auch auf die unmittelbaren und existenziellen Lebensgrundlagen der Menschen richtet. Dass in diesem Zusammenhang die Genossenschaftsidee wieder Fuß gefasst hat, erinnert an die Modelle der Gemeinwirtschaft, wie wir sie aus den 1920er Jahren kennen. Damals galten die Milieus der proletarischen Siedlungs- und Werkgemeinschaften als Basisformen sozialistisch-demokratischer Vergesellschaftung. Bis heute ist wichtig, dass sich die soziale Idee der lokalen und regionalen gemeinwohlökonomischen Initiativen nicht im antikapitalistischen Widerstand erschöpft, sondern selbst Prinzipien des solidarischen Wirtschaftens entwickelt, die nicht nur im Kontrast zur herrschenden Ökonomie gestaltet werden, sondern auch für sich beanspruchen, für die Reform der Ökonomie insgesamt Modell zu stehen. Es ist eine sozial gebundene Stakeholder-Ökonomie, in der, im Gegensatz zum sozial entbetteten neoliberalen Shareholder-Modell, alle am Wirtschaftsprozess von der Produktion bis zur Distribution Beteiligten genossenschaftliche Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten übernehmen. Die Mitglieder sind als »Konsumenten eigene Lieferanten, als Mieter eigene Vermieter, als Kreditnehmer eigene Kreditgeber, als Arbeitnehmer eigene Arbeitgeber« (Elsen 2007: 44). Es ist ein Modell der reziproken Verantwortung, der ›cross responsibility‹. Es sind gemein-
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wesenpolitisch formierte Gruppen, die für die kollektive Bewahrung des ›gemeinen Eigenen‹, der solidarischen Nutzung der existenziellen Lebensgrundlagen kämpfen und lokale Beteiligungs- und Sicherungsmodelle als Schutz vor industriellen Übernahmen entwickeln. Im Kontrast zu den klassischen Genossenschaften, die sich aus dem Solidaritätsgehalt der Milieus herausgebildet haben, sind es heute Zusammenschlüsse von Bürger*innen, die nicht nur das gemeinsame Interesse um die Erhaltung der basalen Lebensgrundlagen – Commons – zusammenführt, sondern die auch den biografischen Eigenwert genossenschaftlicher Selbsttätigkeit für sich entdecken. Commons »sind jene vielfältigen Formen gemeinsamen Sorgetragens, die für die am homo oeconomicus orientierten Marktökonomien weithin unwesentlich bleiben. Sie ermöglichen uns, das Wertvolle, das Unveräußerliche in den Blick zu nehmen. Die Beziehungen zur Natur müssen nicht an Verwertung und Extraktion orientiert sein – sie können den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Fairness folgen. […] Das ›Problem‹ ist, dass sich [ihr] Nutzen auch nicht einfach messen lässt. Es gibt keine skalierbare Größe, die ihn misst, sowie der Preis dies mit handelbaren Waren tut. Den schöpferischen Prozessen der Commons auf die Spur zu kommen, ist komplexer und langfristiger als für die Mandarine des Marktes denkbar, denn Commons neigen dazu, ihre Gaben in der Dynamik des Lebens selbst zum Ausdruck zu bringen« (Helfferich/Heinrich Böll Stiftung 2012: 21). In dieser Begrifflichkeit sind zentrale Dimensionen enthalten, die die milieubildende Kraft von Commons ausmachen: Sorge und Verantwortung als moralischer Horizont und gemeinschaftsbildende Struktur, das Gemeine Eigene als Magnetlinie der Interessen, eine dem homo oeconomicus entgegengerichtete Mentalität und schließlich eine Aneignungsperspektive der Nachhaltigkeit. Normativer Rahmen und Medium der Verantwortungsübernahme in gemeinwohlökonomischen Projekten ist die Solidarität, die nicht nur die Arbeitsbeziehungen, sondern die sozialen Beziehungen insgesamt umfasst. Im Modell der Tätigkeitsgesellschaft (s.u.) kann beschrieben werden, wie die Bereiche der Sorgearbeit, der Bürgerarbeit und der Erwerbsarbeit gleichrangig nebeneinander bestehen können und darin die bisher auch sozial determinierende Kraft der marktgebundenen Ökonomie relativiert ist. Die Milieus der solidarischen Ökonomie sind nicht mehr durch abstrakte Marktbeziehungen, sondern durch konkrete Beziehungen der Akteur*innen untereinander geprägt. »Die entscheidenden Faktoren, die das Verständnis von Solidarität und solidarischer Ökonomie bestimmen, sind persönliche Begegnungen, umfassende Partizipation und Selbstbestimmung. Das Verhältnis zwischen diesen drei Prinzipien lässt sich wie folgt bestimmen: persönliche Begegnung ermöglicht die Realisierung von umfassender Partizipation und beide Prinzipien tragen zusammen dazu bei, dass Selbstbestimmung (bestmöglich) verwirklicht werden kann« (Harney 2016: 90). Einige Gruppen in der Commons-Bewegung erheben auf den Anspruch, gesellschaftsbildend zu sein. Diesen Anspruch gab es in Deutschland – wie gesagt –
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bereits in der sozialistischen Siedlungsbewegung der 1920er Jahre. Siedlungsund Produktionsgemeinschaften der Arbeiter sollten – im Sinne einer direkten Demokratie – als Gruppen in das Parlament gewählt werden. Heute scheint es – zumindest ist in Deutschland – in der Commons-Bewegung Konsens zu sein, dass es den Sozialstaat brauche, um den Projekten und Netzwerken sowohl sozialpolitische Hintergrundsicherheit als auch antikapitalistischen Schutz zu geben. Es erfordert aber ein politisches Konzept, das die antikapitalistische Substanz des Sozialstaats wieder in den Vordergrund rückt. Der Sozialstaat als Institutionalisierung des Sozialpolitischen – so der Sozialreformer Eduard Heimann in seiner »Sozialen Theorie des Kapitalismus« (1929) – ist zugleich Fremdkörper und notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Systems. Man kann hier von einer Dialektik der Angewiesenheit sprechen. Der demokratische Sozialstaat ist auf der einen Seite auf mündige Bürger*innen mit sozialen Rechten und Ansprüchen angewiesen, diese Mündigkeit ist aber immer wieder durch kapitalistische Verwertungsinteressen blockiert. Er ist auf der anderen Seite auf diesen Kapitalismus angewiesen, da er die Basis für jenen Wohlstand schaffen kann, der Hintergrundsicherheit für eine aktive demokratische Lebensform garantiert. Die Synthese ist ein ermöglichender und gestaltender Sozialstaat, den der Kapitalismus als Stabilitätsfaktor produktionspolitisch wie legitimatorisch als Regulierungssystem braucht und hinnehmen muss, der aber gleichzeitig demokratische und eben auch antikapitalistische Experimentierräume als Sphären sozialer Freiheit und der Einübung von Mündigkeit ermöglicht. In dieser Konflikt- und Risikozone liegt die Gestaltungskraft des Staates, von der vor allem auch Gemeinwesenprojekte profitieren können. Letztlich ist es die sozialstaatliche Hintergrundsicherheit, auf die sich Bürger*innen verlassen können, wenn sie sich in gesellschaftlichen Konflikt- und Risikozonen engagieren. Der Staat muss – wenn man sich den heutigen Governance-Diskurs anschaut – Commons unterstützen, wenn er notwendige intermediäre Strukturen des Regierens erreichen, aber auch den gesellschaftlichen Konflikt wach halten will. Der demokratische Sozialstaat ist also nicht nur Ausfallbürge des Kapitalismus sondern genauso Garant der sozialen Demokratie. Das bedeutet vor allem auch, dass der Sozialstaat in seiner Saatstätigkeit nicht der marktkapitalistischen Sphäre allein verhaftet bleibt, sondern auf der Grundlage eines nun erweiterten Arbeitsbegriffs alle Bürger*innen in ein gemeinsames System der sozialen Sicherung und Tätigkeitsförderung aufnimmt. Es ist nun ein Staat, der sich auf eine erweiterte Arbeitsgesellschaft als Tätigkeitsgesellschaft (s.u.) bezieht und Infrastrukturen für soziale Gestaltung und politische Teilhabe schafft. Diese Gestaltungsmacht bezieht er weiterhin aus seiner antikapitalistischen Konfliktgeschichte, die es zu repolitisieren gilt. Das ist eine Sozialpolitik, die nicht einseitig an Markt und Erwerbsarbeit, sondern am Fortgang des demokratisch-bürgerschaftlichen Prozesses und am sozialen Rebetting des Wirtschaftens orientiert ist. So können gerade gemeinwesenökonomische Projekte als exemplarische Beispiele für die Aneignung und Struktu-
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rierung sozialpolitischer Möglichkeitsräume im Spannungsfeld von aktiver Zivilgesellschaft, ermöglichendem Sozialstaat und konfliktstarken sozialen Bewegungen gelten. Hier kann sich eine neue Sozialpolitik aus der Dialektik der Angewiesenheit entwickeln. Der Staat ist zwar auf der einen Seite der kapitalistischen Ökonomie verpflichtet, gleichzeitig brauchte er die antikapitalistische Kraft der Bewegungen für seine Demokratisierung.
Die Gesellschaft der Sorge als Tätigkeitsgesellschaft Unter Sorge verstehen wir eine vorausschauende Haltung der Anteilnahme an den Leiden und am Wohl anderer, am Gemeinwohl und an der uns umgebenden, aber auch darüber hinaus reichenden Natur. Diese Haltung beginnt bei sich selbst, wobei diese Selbstsorge immer auch in der Spannung zur Sorge um andere steht. Die Sorge um andere scheint in der Erziehung biografisch vorausschauend auf, in der sozialen Hilfe die aktuelle Lebensbewältigung umfassend. Gesellschaftlich ist diese vorausschauende Haltung in die Daseinsvorsorge des Sozialstaats eingebettet. Global geht es um die Erhaltung der menschlichen Existenz im Verhältnis zur Natur. Martin Heidegger als prominenter Vertreter der Existenzphilosophie sieht in der Sorge das menschliche Dasein bestimmt. Sorge meint für ihn mehr als eine bestimmte Haltung und ein entsprechendes Verhalten, sondern bestimmt die Grundverfasstheit des Menschen in seiner Zeitlichkeit. Verantwortung ist im Begriff der Sorge dreifach aufgehoben. Sorge hat eine sozialanthropologische, eine sozial interaktive und eine gesellschaftlich-sozialstaatliche Dimension. Sozialanthropologisch betrachtet, stellt sich Sorge als menschliche, frühkindliche internalisierte Erfahrung des Umsorgtseins und des Schutzes als ein basales Bindungs- und Verantwortungsverhältnis – in der elterlichen Verantwortung dar. Der Charakteristik des Menschen als sozialem Wesen entspricht die sozial-interaktive Seite der Sorge im Kontext des Aufeinander-angewiesen-Seins und der Gegenseitigkeit in Gruppe und Gemeinschaft, in denen sich Verantwortung konstituiert. In der gesellschaftlich Perspektive schließlich definieren wir Sorgeverhältnisse als Kontexte der Daseinsvorsorge und darin der sozialstaatlichen Verantwortung. Diese drei Dimensionen stehen nicht getrennt nebeneinander sondern sind in unterschiedlicher Weise in verschiedenen Kontexten aufeinander bezogen. Dabei ist auch die Ambivalenz des Sorgens und Umsorgtwerdens zu thematisieren. Denn schon Sorge als tiefenpsychologisch verankerte Bindungskategorie ist von ihrer Grundstruktur her – vor allem in den familialen und schulischen Erziehungsverhältnissen – asymmetrisch und durch entsprechend diffuse Machtbeziehungen geprägt. In der sozialen Gruppe kommt es darauf an, ob diese demokratisch oder autoritär strukturiert ist und die gesellschaftlich-sozialstaatlichen Sorgeverhältnisse können in Disziplinierungsverhältnisse umschlagen,
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wenn sie nicht öffentlich kontrollierbar sind. Entsprechend ist auch Verantwortung in Sorgeverhältnissen zu thematisieren. Bei dem Soziologen und Sozialpädagogen Carl Mennicke, einem sozialpädagogischen Verantwortungstheoretiker der 1920er Jahre (s. Teil IV), ist es immer die gegenseitige Verantwortung, die Gemeinschaft ermöglicht. Deshalb muss diese Gegenseitigkeit als Spannungsverhältnis thematisiert werden. Elterliche Verantwortung braucht als Gegengewicht Kinderrechte, in sozialen Gruppen muss das Verhältnis von Individualität und Kollektivität ausbalanciert seien und der demokratische Sozialstaat braucht das zivilgesellschaftliche Gegengewicht. Sorge und damit auch Verantwortung als gesellschaftliche Kategorie erweitert sich heute in der sozialökologischen Nachhaltigkeitsperspektive um ihren Bezug zur Natur. Seit Hans Jonas in seinem »Prinzip Verantwortung« propagiert hat, dass die Zukunft der menschlichen Existenz von der Bewahrung der Natur abhängt, ist die Bedeutung der Natur als ein Konstitutiv der Gesellschaft auch in der Soziologie erkannt worden (s. Teil I). Sorge ist zwar sozialpolitisch in der Daseinsvorsorge des Sozialstaats institutionalisiert. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie als zentraler gesellschaftlicher Wert – vergleichbar mit dem des ökonomischen Wachstums – anerkannt ist. Die Abspaltung des Wertes der Sorge vom ökonomischen (Markt)System in unserer Gesellschaft folgt der Logik der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Sorgearbeit, vor allem als weibliche Haus- und Beziehungsarbeit, ist nicht nur gegenüber der Erwerbsarbeit minder bewertet, sie ist auch als selbstverständlich vorausgesetzt. Sie gilt als quasinatürliche Ressource, gleichsam als sozialer Rohstoff, den man der gängigen Marktbewertung entziehen kann. Sie ist deshalb – so heißt es in der WertAbspaltungs-These (vgl. Scholz 2011) – nicht wertbildend und damit notwendig abgespalten. Es ist eine Abspaltung der weiblichen Sorgearbeit »vom Wert […] der abstrakten Arbeit und den damit zusammenhängenden Rationalitätsformen, wobei bestimmte weiblich konnotierte Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Emotionalität usw. der Frau zugeschrieben werden« (ebd.: 11). Damit verschwindet der reproduktive Wert in der Zwischenwelt und wird erst dann – meist dramatisch – herausgeholt, wenn gesellschaftliche Krisen – wie zum Beispiel die Coronakrise 2020f. – die bedingungslose Angewiesenheit der Gesellschaft auf Sorge freilegen. Diese Erkenntnis der Angewiesenheit verschwindet aber wieder im Alltag. Dass gearbeitet werden kann, ist aber nur möglich, wenn die Menschen immer wieder ihre Arbeitskraft emotional und sozial in ihren Familien wiederherstellen können. Die Schule setzt voraus, dass ihre Kinder und Jugendlichen jeden Tag schulfähig gemacht werden und in der Pflege verlässt man sich auf die quasinatürliche Ressource weiblicher Fürsorge. Die tiefere Abspaltungslogik zeigt sich schließlich darin, dass Sorgearbeit mit Hilflosigkeit konnotiert ist. Hilflosigkeit aber passt nicht in eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft, die ja im Gegenteil auf ihrer Überwindung, ja Ächtung beruht.
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Sorge (Care) kann nur in einer Gesellschaft zur Schlüsselkategorie reüssieren, in der neben der ökonomischen Sphäre auch die anderen Sphären gesellschaftlich konstitutiv sind. In diesem Sinne bedürfen »Post-Wachstums-Gesellschaften« der Erweiterung sozialen Kapitals. Die Industriegesellschaften der 2030er Jahre und danach werden »zunehmend soziales Kapital erarbeiten [müssen], während intelligente Technologien in der gewerblichen Arena einen großen Teil – nicht aller[r] – menschlicher Arbeit ersetzen werden« (Rifkin 2011: 281). Diesem Verlust an herkömmlicher Erwerbsarbeit wird man mit einem gewandelten Verständnis von Arbeit und Beschäftigung begegnen und dabei die Menschen mit Formen des Grundeinkommens versehen müssen, wenn der ökonomisch notwendige Konsum und die soziale Integration für die ökonomische und soziale Stabilität erhalten bleiben sollen. Von neuen sozialen Tätigkeitsfeldern in einer die herkömmliche Arbeitsgesellschaft übergreifenden Tätigkeitsgesellschaft oder Gesellschaft der pluralen Tätigkeiten wird nun gesprochen und darin von neuen sozialen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten für die Bürger*innen. Nicht oder wenig gesprochen wird davon, dass auch in fünfzig Jahren der Kapitalismus – eben seinem Wesen nach – profitorientiert sein wird, egal ob er nun in seiner dann noch mehr digitalisierten Struktur monopolartig oder dezentral organisiert sein wird. Grundeinkommen und neue, kulturell und sozial eigenwertige Tätigkeitsformen werden deshalb auch weiter gegen das Kapitalinteresse durchgesetzt werden müssen. Die Grundstruktur des sozialpolitischen Konflikts bleibt auch in der Tätigkeitsgesellschaft erhalten, denn es bleibt eine kapitalistisch grundierte Gesellschaft. Durch alle Modelle der Tätigkeitsgesellschaft ziehen sich die Vorstellungen von einer ›Triade der Arbeit‹. Erwerbsarbeit, Bürgerarbeit und Sorgearbeit sollen im Bewertungsrahmen menschlicher Wohlfahrt gleichberechtigt nebeneinanderstehen und in fließenden Übergängen den Menschen im Laufe ihrer Biografie zugänglich sein. Sorgearbeit, sei sie privat oder professionell geleistet, ist integrativer Teil dieses tätigkeitsgesellschaftlichen Modells. Sorge als Verantwortung muss deshalb im ökonomischen Bereich genauso wirken (Gemeinwohl), wie in den sozialen und kulturellen Gesellschaftsbereichen. »Die politische und gesellschaftliche Anerkennung einer pluralen Ökonomie und eine institutionalisierte Unterstützung zur Kombination verschiedener Tätigkeiten impliziert […] die Überwindung des alten Modells der Lohnarbeitsgesellschaft. Sie ist geeignet, die bürgerschaftliche Integration zu befördern, zur psychosozialen Stabilität beizutragen und für alle ein Anrecht auf soziale Sicherung sowie auf ein persönlich erwirtschaftetes Geldeinkommen zu gewährleisten« (Senghaas-Knobloch 1998: 26). Für die Erwerbsarbeit bedeutet das neue Modelle der Arbeits- und Arbeitszeitorganisation, die ihre Öffnung gegenüber den bürgerschaftlichen und sorgearbeitlichen Bereichen ermöglichen. Es wird aber nicht mehr den klassischen Block der Erwerbsarbeit mit dem Normalarbeitsverhältnis als Korsett geben, sondern eine Pluralisierung und Diversifizierung der Unternehmens- und Erwerbsarbeitsformen. »Das Unternehmen des späten 20.
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Jahrhunderts […] war nur eine Übergangsform. Es überdauerte zwar mehr als 100 Jahre, aber nur wenige Unternehmen dieser Art sind heute übrig geblieben. Heute wird nahezu jede Aufgabe von Teams mit bis zu zehn Mitgliedern ausgeführt, die aus unabhängigen und selbstständigen Vertragspartnern oder kleinen Firmen zusammengesetzt sind, verbunden durch Netzwerke, die nur für vorübergehende Zeiträume zusammenkommen, um die unterschiedlichsten Projekte zu bearbeiten und sich wieder auflösen, sobald das Projekt erledigt ist« (Sikora 2000: 23). Auch wird es neben solchen Unternehmungen unterschiedliche Arbeitsprojekte geben, die von den Arbeitenden selbst gestaltet werden und die von der Zone der Erwerbsarbeit in die Zone der Bürgerarbeit hineinreichen können. Der Tätigkeitsgesellschaft liegt somit ein »pluralistisches Arbeitsmodell« zu Grunde, »in dem es viele verschiedene Arten des Arbeitens gibt, die alle gesellschaftlich gleichermaßen anerkannt sind. Arbeiten wird so zum Handeln, zur Mitgestaltung von Gesellschaft, […] ein andauernder Prozess. Er ist ergebnisoffen. Und: er spielt sich zwischen Menschen ab sowie zwischen Menschen und der natürlichen Mitwelt. In diesem Prozess ist jede und jeder gleich wichtig« (Biesecker/von Winterfeld 2000: 285). In diesem relational erweiterten Arbeitsbegriff ist Arbeit als »gesellschaftliche Arbeit« definiert, aus der »Perspektive des Ganzen«; die Sorge- und Versorgungsarbeit ist dabei Teil des »gesellschaftlichen Leistungsaustauschs« (Biesecker 2000: 7). Allerdings können die Sorgetätigkeiten nun nicht mehr mit dem Arbeitsbegriff der kapitalistischen Warenökonomie erfasst werden. Denn es sind Tätigkeiten »denen das Zwischenmenschliche zu Grunde liegt«, und die sich deshalb »mit und aufgrund ihrer anderen Logik der ›betriebswirtschaftlichen Rationalität‹ der abstrakten Arbeit« widersetzen (Hartman 2020: 58). Deshalb bedarf es, statt der herkömmlichen ökonomischen Messgrößen des Bruttoinlandsprodukts, einer Gemeinwohlbilanz (vgl. v. Ferber 2018), in der die ökonomischen Faktoren zu ethischen, sozialen und ökologischen Größen in Beziehung gesetzt sind. Wenn Sorge die basale Schlüsselkategorie in der Gestaltung der Tätigkeitsgesellschaft ist, so ist Gemeinwohl die finale Schlüsselkategorie. Gemeinwohl gilt als normativ verpflichtend und darin soziale Verantwortung bildend. Gemeinwohlverantwortung findet sich in Deutschland in einigen Länderverfassungen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit aber erschöpft sich Gemeinwohl oft in moralischen Beschwörungen oder Harmonievorstellungen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt und der gemeinsame Nutzen werden in diesem Zusammenhang zwar oft hervorgehoben. Dabei wird meist übergangen, dass Gemeinwohl eine Konfliktkategorie ist. Erst über die Anerkennung und Austragung sozialer Konflikte wird soziale Integration möglich. Es ist die Dialektik des demokratisch Konflikts, plurale bis widerstreitende Interessen auf ein gemeinsames Niveau des GemeinwohlKompromisses zu heben. Das bedeutet auch, dass die Gesellschaft einen hohen sozialen und politischen Beteiligungsgrad durch alle sozialen Schichten hindurch aufweisen muss. Vor allem aber entscheidet sich die Verwirklichung von Gemein-
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Verantwortung – Soziologische und pädagogische Perspektiven
wohl in der gesellschaftlich-ökonomischen Konfliktzone. Es ist der kapitalistischen Gesellschaften innewohnende Konflikt zwischen Ökonomie und Sozialem, zwischen individuellem Profitinteresse und Gemeinwohlverpflichtung. Deshalb ist es sinnvoll, die Verwirklichung des Gemeinwohls dort zu suchen, wo diese Spannung zwischen Sozialem und Ökonomie abgebaut ist, also in den gemeinwirtschaftlichen Projekten der Gemeinwohl- und Gemeinwesenökonomie. Hinzu kommt, dass wir hier auch jene Milieus finden, in denen eine ›Tätigkeitsgesellschaft im Kleinen‹ verwirklicht werden kann. Die kapitalistische Ökonomie scheint erst einmal nicht auf die gemeinwesenökonomischen Aktivitäten angewiesen. Dann aber doch wieder, denn sie kann sie für ihren sozialökologischen Transformationsprozess nutzen. Das bedeutet aber auch, dass sie sich gegenüber den anderen tätigkeitsgesellschaftlichen Sphären öffnen muss, in denen andere Prinzipien des Wirtschaftens gelten als die des Markt- und Profitkapitalismus. Damit eröffnen sich Möglichkeiten der Etablierung einer ›dualen Wirtschaft‹ als einer möglichen Wirtschaftsform der Tätigkeitsgesellschaft, in der kapitalistische Marktwirtschaft, öffentliche Unternehmen und regionale Gemeinwohlökonomien zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Gemeinwirtschaft ist in diesem Verständnis nicht nur ein ökonomisches System, sondern ein sozialer und kultureller Lebenszusammenhang, eine verantwortungshaltige Lebensform. Viele Menschen sehen sich heute wieder mit elementaren Ansprüchen, existenziellen Lebensthemen konfrontiert, die nicht länger in der sozialstaatlichen Zone der Befriedung sozialer Probleme gehalten werden können. In dieser Erfahrung des Betroffen-Seins wird das Gemeinsame, das Aufeinander-angewiesen-Sein als Substanz des Gemeinwohls erkannt. Das »Gemeine Eigene« wird damit zur Schlüsselkategorie für die Formierung sozialer Interessen und die Gestaltung einer Kultur der gegenseitigen Angewiesenheit als Basis der Suche nach einer Balance zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen.
Verantwortung für die Zukunft als »Vergegenwärtigung« Nun scheint eine solche ›Gesellschaft der Sorge‹ im Bereich der Utopie zu liegen. Es ist aber keine spekulative, sondern eine konkrete Utopie. Damit ist eine Zukunftsperspektive gemeint, die auf gegenwärtig schon sichtbaren Entwicklungslinien wie auf unabweisbaren Notwendigkeiten aufbaut. Solche Notwendigkeiten ergeben sich aus dem Risikoarsenal der Zweiten Moderne, vor allem aus der drohenden sozialökologischen Krise, die die Sorge um die Existenz der Menschheit heraufbeschworen hat und zur Begrenzung des ökonomischen Wachstumszwangs und zu Innehalten und Umkehr auffordert. Der Sozialwissenschaftler und Verantwortungstheoretiker Carl Mennicke war (in den 1920er Jahren) ein Verfechter einer solchen konkreten Utopie und suchte ›seinen‹ Sozialismus der Zukunft schon in
Teil II: Gesellschaftsmodelle der Verantwortung
der Arbeit an der Gegenwart. Er nannte das »Verantwortung für die Gegenwart«, oder auch die »Vergegenwärtigung« des Kommenden. Thomas Ulrich fasst diese programmatische Perspektive Mennickes in eine systematische Argumentation: »Nun verhindert die gegenwärtige Struktur der Gesellschaft, dass sich bei den Massen überhaupt Verantwortlichkeit ausbildet, weil keine Gelegenheit besteht, sie auszuüben. Aber ebenso wenig würde das Verantwortungsbewusstsein wie ein Deus ex Machina plötzlich voll entwickelt hervortreten, wenn durch eine Umwälzung seine gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen wären. Es entspringt also weder aus dem bloßen Wort der ethischen Forderung, noch aus der bloßen Wirklichkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, sondern kann nur erwachsen und sich allmählich ausbilden im Prozess gegenwärtiger Weltbewältigung, in konkreter Praxis, im Ernstnehmen der Gegenwart. Denn dann bilden sich die personalen Kräfte in einer Arbeit an den gesellschaftlichen Strukturen, die diese nicht unverändert lässt, sondern sie mit dem Geist der Verantwortung durchdringt, in dem sie als gegenwärtige Verantwortungssituation wahrgenommen werden. Der abstrakte Gegensatz von persönlicher und gesellschaftlicher Verwirklichung löst sich im Prozess gegenwärtiger gesellschaftlicher Gestaltung, dessen Träger die zur Gemeinschaft verbundenen Individuen sind. […] Die Arbeiterschaft muss lernen, ihr auf das sozialistische Ziel gerichtetes Wollen in der Arbeit an den gegenwärtigen Aufgaben der Gestaltung zu bewähren und reifen zu lassen« (Ulrich 1971: 401f.). Das Denken auf die Zukunft hin muss sich für Mennicke in und aus der gegenwärtigen Lebenslage heraus formen. Das bedeutet für ihn, dass sich in allen Lebensbereichen, in der Familie, der Schule, der Arbeit und in den Geschlechterbeziehungen auch ein Gestaltungswille und darin jene Verantwortlichkeit entfaltet, in der die gegenwärtige Aufgabe und die zukünftige Perspektive ineinander aufgehen können. »Es wurde gezeigt, daß nur dadurch, daß den Arbeitern die unmittelbar gegenwärtigen Dinge ihres Lebens wichtig würden, daß sie sich verantwortlich beteiligt fänden mit dem Gefühl, etwas zu schaffen und zu fördern, eine allmähliche Überwindung jener leeren und blinden Oppositionsstellung und damit eine positive Wendung der sozialistischen Bewegung zum Gestaltungswillen, zur Orientierung an einer Aufgabe hin erreicht werden könne« (Mennicke 1925: 76). Heute scheint dieses Paradigma der Vergegenwärtigung im feministischen Diskurs zur Sorgeökonomie im sozialökologischen Leit- und Handlungsprinzip »Vorsorge« wieder auf (vgl. Biesecker/Hofmeister 2013). Dafür braucht es aber Lebens- und Arbeitsbedingungen, in denen immer wieder die Brücke von den Alltagserfahrungen zu weiterreichenden zukünftigen Gestaltungsperspektiven geschlagen werden kann. Gruppe und Gemeinschaft sind in diesem Zusammenhang die sozialen Formen, in denen dies möglich wird. Dieser Ansatz Mennickes liegt durchaus in der Nähe von Oskar Negts Programm »Soziologische Phantasie und Exemplarisches Lernen« (1975), nach dem in der wechselseitigen Begegnung in der Gruppe die Chance liegt, Alltagserfahrun-
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gen aus ihrer Pragmatik heraus mit gesellschaftlichen Gestaltungsperspektiven zu assoziieren.
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
Wir haben bereits die Folgen sozialer Entbettung von Unternehmen für deren gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein thematisiert. Ebenso folgenreich sind die Entgrenzungen, in denen sich gewohnte gesellschaftliche Kontexte dramatisch verändern können. Mit dem Begriff der Entgrenzung können die gesellschaftlichen Wandlungstendenzen beschrieben werden, mit denen gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine »neue Unübersichtlichkeit« (Habermas 2018) in das Welt- und Sozialgeschehen gekommen ist. Die Postmoderne oder ›Zweite Moderne‹ ist vor allem deshalb eine ›andere Moderne‹, weil die inneren und äußeren Ordnungs- und Grenzlinien der fordistischen Gesellschaft brüchig geworden sind oder sich aufgelöst haben. Gleichzeitig entwickeln sich aber neue Grenzen als Zwänge und Risiken. Das, was an dem zivilisationstheoretischen Optimismus kritisiert wurde, die Überschätzung der Fähigkeit des Subjekts zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, wie auch die Überschätzung der Integrationsmacht des Staates, erhält nun angesichts von Entgrenzungsdynamiken eine neue Brisanz. Vor allem die Dynamik des sich durchsetzenden digitalen Kapitalismus im Prozess der Globalisierung, welche die Internationalisierung und nationalstaatliche Entgrenzung der Ökonomie vorantreibt, dominiert diesen Entgrenzungsprozess. Vor dem globalen Hintergrund dieser ökonomischen Entgrenzung wirken weitere Entgrenzungen, welche den Zivilisationsprozess aus seiner emanzipatorischen Bahn werfen und sowohl die Überforderung des Individuums als auch die Überforderung der Integrationskraft des Staates verstärken können. Zum einen die Entgrenzung der Zeit, die als Beschleunigung beschrieben werden kann. Zum zweiten die Entgrenzung der Arbeit, die als ›Verarbeitlichung des Alltags‹ gedeutet wird und im Bild der ›work-life-balance‹ ihren sozialen Ausdruck findet. Und schließlich die Entgrenzung der Bildung und des Lernens, in der die traditionelle Trennung von persönlichkeitsorientierter Sozialisationslogik und ökonomischer Produktionslogik aufgehoben scheint. All diese Entgrenzungsprozesse haben gemeinsam, dass sie die Subjekte wie auch die staatlichen Institutionen überfordern und unter Abspaltungsdruck setzen können, Sie erzeugen Probleme der sozialen Orientierung und sozialen Verortung und darin Tendenzen der Überforderung in der Sphäre der Le-
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bensbewältigung wie in der Sphäre der sozialen Integration. Auf der Subjektebene entstehen Bewältigungsdilemmata, auf der gesellschaftlich-sozialstaatlichen Ebene Integrationsdilemmata, die jene Abspaltungen erzeugen können. Mit den Prozessen der Entgrenzung geht ein Prozess der Entbettung einher. Der Begriff stammt von Anthony Giddens (1995: 33f.), der darunter das »Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebunden Interaktionszusammenhängen« und ihre unbegrenzte Verselbstständigung versteht. In unserem Zusammenhang ist damit zum einen die Herauslösung ökonomischer Beziehungen aus ihren gesellschaftlichen Bindungen in der marktkapitalistischen Gesellschaft gemeint. Diese Entbettung hat Rückwirkungseffekte, die nun als ökonomischer ›Sachzwang‹ Druck auf die sozialen Beziehungen auslösen (vgl. Altvater/Mahnkopf 1999: 478ff.). Soziale Beziehungen und soziale Werte werden der Marktlogik unterworfen. Das ökonomische Konkurrenzprinzip schlägt sich in den sozialen Prinzipien des Mithaltens und des sozialen Verdrängens nieder, soziale Werte werden von Marktwerten überformt, ökonomischer Verwertungs- und Effizienzdruck dominiert nun das soziale Geschehen, entsprechende Bewältigungsprobleme entstehen. Zum anderen verweist der Begriff auf die Verselbstständigung der Ökonomie gegenüber den nationalstaatlichen Gesellschaften im Prozess der Globalisierung. Die Globalisierungskonstellation ist nun vor allem und im Kontrast zu historisch vorangegangenen Konstellationen dadurch gekennzeichnet, dass sich Unternehmensverflechtungen supranational ausweiten und gegenüber den nationalen Gesellschaften verselbstständigen, ihre Produktionen und Dienstleistungen international ausrichten und diese entsprechend vernetzen. Was die dabei so folgenreich und für den nationalen Sozialstaat so bedrohlich macht, ist eine Entwicklung, in der global agierende Konzerne – zunehmend unabhängig gegenüber nationalstaatlicher Regulation – eigene Machtsphären mit nationalgesellschaftlicher Rückwirkung ausbilden. Diese entgrenzte und entbettete Macht entzieht sich jeder Legitimation. Da Verantwortung in legitimierte Macht eingeschrieben ist, wird so die Verbindung von Macht an Verantwortung gelöst. Verantwortungslosigkeit ist nahe. Im Folgenden werden wir Entgrenzungen und Entbettungen thematisieren, die Verantwortungslosigkeit oder zumindest Verantwortungsdiffusion entstehen lassen können bzw. transnationale Verantwortung für die Zukunft des Menschen herausfordern. Es sind dies die ungebremste ökonomische Externalisierung, die Brisanz der ›genetischen Revolution‹, die Entgrenzung des Reichtums, die Enteignung der Nutzer*innen im Internet und die Tendenzen der ›Remaskulinisierung‹. In all diesen Problembereichen wird deutlich, wie die Vermittlung, die Balance zwischen Autonomie und Angewiesenheit und damit Verantwortung gefährdet ist. Entweder als Leugnung der Angewiesenheit im Falle der Nachhaltigkeit, der Entgrenzung des Reichtums oder der sozialen Entbettung der Männlichkeit als Remaskulinisierung in der Form der Transpatriachie. Oder in der Bedrohung der menschlichen Auto-
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
nomie als Selbstbestimmung durch die Enteignung der Nutzer*innen im digitalen Raum und die Gefahr der ›Entmenschlichung‹ des Menschen in der ›genetischen Revolution‹.
Nachhaltigkeit in der Spannung zwischen Externalisierung und Sorge Zygmunt Bauman (2003) hat das gesellschaftliche wie persönliche Dilemma, in dem wir heute alle stecken, so formuliert: »Wir befinden uns […] in einem Faustischen Dilemma: Jeder Zugewinn an Wissen geht mit technischen Fortschritt einher – und dieser technische Fortschritt muss, in dem wir unseren Handlungsspielraum erweitert, zugleich unsere Unwissenheit bezüglich der Folgen unseres Handelns vergrößern und damit das Bewusstsein der Unvollkommenheit unserer Humanität verschärfen. Je schneller wir laufen, desto größer und beunruhigender scheint die Entfernung, die uns von der Ziellinie trennt! Das Ausmaß dessen, was wir wissen müssen, um den Forderungen der Humanität gerecht zu werden, wächst schneller als unser Wissen darüber, wie wir die bedauerlichen Folgen unserer Ignoranz beheben können« (ebd.: 129). Baumans Diagnose von der sozialen Gespaltenheit des Wissens über die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft und des entsprechenden Handelns trifft in die Mitte der Nachhaltigkeitsfrage. Wir wissen um die Folgen der ökonomischgesellschaftlichen Wachstumsfixierung, die wir auch als Externalisierung (s.u.) bezeichnen und sind dennoch nicht in der Lage, ihren Folgen Herr zu werden. Der Begriff der Nachhaltigkeit als Gebot der Bewahrung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Ressourcen für die nächsten Generationen, muss deshalb diesen inneren Bruch als Konflikt ausdrücken können. Es reicht nicht, ihn linearprogrammatisch zu fassen, er muss dialektisch gefasst werden. Dabei wird die Mehrdimensionalität deutlich, in der sich Nachhaltigkeit konstituiert, die inneren Widersprüchlichkeiten und Entsprechungen werden sichtbar. Was bei Baumans Charakterisierung vor allem durchdringt, ist die Hilflosigkeit, die sich mit dem Unvermögen, Nachhaltigkeit einzulösen, verbindet. Diese Hilflosigkeit ist eine Strukturierung, die sich von der personalen Befindlichkeit bis hin zu einen gesellschaftlichen Zustand zieht. Dies sind die Grundsätze, von denen wir uns im Folgenden bei der Entwicklung des Verhältnisses von Verantwortung und Nachhaltigkeit leiten lassen. Im Nachhaltigkeitsdiskurs werden drei Dimensionen (›Säulen‹) von Nachhaltigkeit und ihre Verflechtung beschrieben. Eine ökonomische, eine ökologische und eine soziale Dimension. Die ökologische Frage ist dabei die ursprüngliche. Hier steht das Problem des sparsamen Umgangs mit den Ressourcen der Natur und ihre Regenerationsfähigkeit im Vordergrund. Aktuell werden vor allem die Erweiterung regenerativer Energien und die Reduzierung von Schadstoffemissionen diskutiert.
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In der ökonomischen Dimension geht es vor allem um die zentrale Frage, ob unbegrenztes quantitatives Wirtschaftswachstum mit ressourcenerhaltender nachhaltiger Entwicklung verträglich ist oder ob stattdessen eine Begrenzung des ökonomischen Wachstums oder eine Umsteuerung auf »qualitatives Wachstum« anzustreben sei. In der sozialen Dimension, um die es hier geht, bezieht sich der Nachhaltigkeitsdiskurs vor allem auf die intergenerative Gerechtigkeit, also auf die Berücksichtigung der Lebensinteressen zukünftiger Generationen. Das bedeutet, dass die Grundlagen dafür schon in der Gegenwart geschaffen werden müssen. Soziale Gerechtigkeit über Klassen und Ethnien hinweg und Geschlechtergerechtigkeit sind z.B. sozialpolitische Gegenwartsfragen, über die ein nachhaltigkeitssensibler Brückendiskurs in die Zukunft aufgemacht werden muss. In diesem Zusammenhang wird die Entwicklung und Bewahrung soziokultureller Ressourcen wie Solidarität, Partizipation, Gemeinwohl- und Netzwerkorientierung angemahnt. Hier ist auch die Sozialpolitik angesprochen. Im Mittelpunkt steht dabei das »Prinzip Verantwortung«, das – nach Hans Jonas (1975) – die Verantwortung der Menschen für die Bewahrung ihrer Existenz im Einklang mit der Natur meint. Die Existenzfrage ist heute verschüttet, von sozialen und institutionellen Sedimenten überlagert, bricht aber immer wieder in Ängsten auf, die verdeckt schwelen, aber sich auch in sozialen Bewegungen formieren. Der Sozialstaat, der die menschliche Existenzfrage in der west- und mitteleuropäischen Kultur scheinbar gelöst hat, scheint sie heute eher zu verdecken. Die Existenzfrage als Zusammenhang existenzieller Lebensthemen, als Frage der Menschenwürde, verbindet inzwischen die sozial unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen der Welt. Hier öffnet sich auch die Sozialpolitik transnational. Diese Dimensionen sind miteinander verflochten, bilden ein integratives System der Nachhaltigkeit. Naomi Klein hat dies an der Klimafrage wie folgt dargestellt: »Ausgebeutete Arbeiterinnen und Arbeiter und ein ausgebeuteter Planet gehen offensichtlich Hand in Hand. Ein destabilisiertes Klima ist, mit anderen Worten, […] der Preis des liberalisierten Kapitalismus, seine unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Konsequenz« (Klein 2015: 106). So wie der Kapitalismus den Menschen als Ware betrachtet und seinem Profitstreben unterordnet, so muss er dieser Logik folgend auch die Natur als Ware betrachten und ihre profitable Ausbeutung betreiben. Für Klein hat der spät erkannte Grundkonflikt zwischen liberalkapitalistischen Marktgesetzen und Naturgesetzen eine genuin sozialpolitische Relevanz, indem die Lebensgrundlagen und -sicherheiten der Menschen auf dem Spiel stehen. Allerdings behauptet die Kapitalfraktion, die Klimafrage über den Markt lösen zu können. Ähnlich wie damals der fordistische Konsumkapitalismus, der den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit über die Transformation des Arbeiters zum Konsumenten aushebeln wollte, versuchen heute die Apologeten eines ›grünen Kapitalismus‹, den Widerspruch zwischen Markt und Ökologie zu entkräften, Ökonomie, Soziale Frage und Umweltfrage gleichsam zu ›entkoppeln‹. Eine innovative Ökotechnik mit
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
steigenden Energiespareffekten wirke doch so substitutiv, dass das überkommene Wachstumsmodell beibehalten, weil ökologisch modernisiert werden könne. Die Klimakritiker bezweifeln die weltweite Machbarkeit dieser technologischökonomischen Prognose innerhalb des Zeitraums, in dem die Erderwärmung ihre kritische Grenze erreichen wird. Sie weisen darauf hin, dass sich damit nichts an der kapitalistischen Profitlogik verändere, denn diese bestimme dann weiter die energiepolitischen Strategien. Deshalb fordern sie ein anderes, eben nachhaltiges und sozial ausgeglichenes Wachstum, eine Regionalisierung der Nahrungsmittelproduktion und -distribution, eine Kapital- und Vermögensbesteuerung zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens und die Wiederbelebung und Stärkung des öffentlichen Sektors als Sphäre des ›Gemeinen Eigenen‹. Damit ist ein ganzes sozialpolitisches Bündel geschnürt, das über die Klimafrage ein neues Gewicht erhält. Im Mittelpunkt dieser sozialökologischen Vision steht der nun vom marktkapitalistischen Wachstumsstress entlastete Mensch, der dann Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfindet, unter denen er einen neuen, achtsamen Bezug zur Natur aufbauen kann. Wenn wir von dieser Vision wieder zur sozialen Wirklichkeit zurückkehren, so stoßen wir neben der Spaltung der sozialen Idee auf eine weitere Barriere, die der Wende in der Klimapolitik entgegensteht. Es ist wieder die ökonomische Globalisierung, die die weltweite Durchsetzung des sozialstaatlichen Prinzips unterläuft. Es funktioniert zwar noch nationalgesellschaftlich, wird aber global in dem Maße gleichsam aufgelöst, in dem das Kapital sich seine Arbeitskraft nach seiner Profitlogik international je neu und je andernorts suchen kann: »Dass zwischen Umweltverschmutzung und Ausbeutung der Arbeitskraft eine Verbindung besteht, war schon seit den Anfängen der industriellen Revolution klar. Aber wenn sich die Arbeiter in der Vergangenheit organisierten und höhere Löhne forderten, und wenn sich die Stadtbewohner zusammentaten und bessere Luft verlangten, waren die Unternehmen weitestgehend gezwungen, die Arbeits- und Umweltbedingungen zu verbessern. Das änderte sich mit dem Aufkommen des Freihandels: Weil buchstäblich alle Barrieren für den Kapitalfluss beseitigt wurden, konnten die Konzerne ihre Koffer packen und weiterziehen, sobald die Arbeitskosten zu steigen begannen. Aus diesem Grund verließen sie Ende der 1990er-Jahre Südkorea und gingen nach China, und deshalb verabschieden sich jetzt viele aus China, wo die Löhne steigen und lassen sich in Bangladesch nieder, wo die Bezahlung erheblich schlechter ist« (Klein 2015: 106). Solange die Anerkennung der globalen gegenseitigen Abhängigkeit von Ökonomie, Mensch und Natur von den Nationalstaaten aus nicht international durchgesetzt werden kann, sind die global agierenden sozialen und ökologischen Bewegungen als öffentliche Foren für die internationale Thematisierung dieser Angewiesenheit so wichtig. Dennoch bleiben die nationalen Sozialstaaten in ihrer Mittlerfunktion im Spiel. Wir denken an die Mittlerfunktion des Sozialstaats zwischen Globa-
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lem und Regionalem, wie sie Richard Münch (1996) definiert hat. Auf die Klimathematik bezogen bedeutet das, dass der Sozialstaat die Vermittlung zwischen eigengesellschaftlicher und internationaler klimapolitischer Verantwortung zum Politikziel macht. Das heißt aber nicht nur, dass er energiepolitisch agiert, sondern auch die damit zusammenhängenden sozialpolitischen Bedingungen anerkennt und ihre Realisierung zumindest in seinem Hoheitsbereich fördert. Energiewende und sozialpolitische Wende sind nach diesem Verständnis miteinander verknüpft. Jeremy Rifkin wiederum beschreibt die systemische Verflechtung der Nachhaltigkeitsdimensionen in einem Rückkoppelungsmodell. »Neben den klimatischen Rückkoppelungsschleifen, die bisher im Gespräch sind, gibt es auch die ökonomischen, politischen und sozialen Rückkoppelungsvariablen, von denen in den Hochrechnungen der Klimamodelle eher selten die Rede ist. Die sich anbahnende Klimakatastrophe stellt bereits jetzt eine beispiellose Bedrohung für die Sicherheit von hunderten von Millionen und bald Milliarden Menschen dar. Hurrikan, Überschwemmungen, Dürren, Flächenbrände und steigende Temperaturen an Land und im Wasser führen weltweit zu Konflikten. Es wird Klimakriege geben, man wird um Wasser, Erdöl, Land, Mineralien und zahllose andere Ressourcen kämpfen, die für das Überleben notwendig sind. Flüchtlinge werden zu Millionen über die Grenzen strömen, um den Auswirkungen der steigenden Energiepreise und des Klimawandels zu entkommen, und die Staaten bzw. staatlichen Gemeinschaften, in die sich diese Flüchtlinge retten wollen, werden ihrerseits polizeilich und militärisch aufrüsten, um die Massenmigration mit Gewalt zu unterbinden« (Rifkin 2011: 358f.). Benjamin Görgen und Björn Wendt unterstreichen deshalb den Begriff sozialökologisch, da sich »die soziale Frage nicht ohne die Lösung der ökologischen Frage und die ökologische Frage sich nicht ohne Lösung der sozialen Frage ernsthaft beantworten« lässt. »Bei der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit lassen sich zwei grundlegende Ebenen differenzieren. Die erste bezieht sich auf die Implikationen und Wirkungen der ökologischen Grenzen menschlicher Entwicklung, auf die klassischen Theorien und Diskurse zu Gerechtigkeitserwägungen, als jenen Komplex sozialer Ungleichheitsstrukturen und Konflikte, der klassischer Weise mit dem Begriff soziale Frage zusammengefasst wird. Die andere verweist auf die sozialen Mikro- und Makro-Prozesse, die der Reproduktion der Gesellschaft und somit auch einer nachhaltigen Entwicklung zu Grunde liegen« (Görgen/Wendt 2015: 6f.). Das Grundprinzip des Sozialen besteht darin, den Menschen in seiner Würde und Gemeinschaftlichkeit in ökonomisch-gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen zur Geltung zu bringen. »Zur Geltung bringen« bedeutet, dass der Mensch in seinen Freiheitsrechten, seinen individuellen Befähigungen und sozialen Handlungsmöglichkeiten sowie deren institutioneller Absicherung in den Mittelpunkt gestellt wird. »In Spannung« bedeutet, dass sich das Soziale immer in Konflikten herausbildet und sich historisch auch so herausgebildet hat. Eine Theorie
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
des Sozialen muss deshalb konflikttheoretisch angelegt sein. Grundlegend ist dabei das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Ökonomie, also zwischen menschlicher Autonomie und Integrität und der wirtschaftlichen Definition des Menschen als Kosten- und Marktfaktor. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Lebensweltbezug und administrativer Systemlogik gehört in diesen Zusammenhang. Schließlich stehen auch die zwischenmenschlichen Beziehungsstrukturen wie Gemeinschaft, Solidarität und Sorge im Konflikt mit Marktstrukturen wie Konkurrenz, Verdrängung und Kategorisierung. Im Nachhaltigkeitsdiskurs wird bewusst auch von sozialer Entwicklung gesprochen. In diesem »begrifflichen Doppelverständnis« geht es »zum einen um eine – eher statische – Erhaltung von natürlichen und kulturellen Ressourcen. Zum anderen steht – dynamisch – die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft im Mittelpunkt, mit der Betonung auf dem Entwicklungsgedanken zur Verbesserung der Situation vieler heute lebender Menschen« (Grunwald/Kopfmüller 2006: 8). Diese Differenzierung ist gerade in unserem Falle der sozialen Nachhaltigkeit wichtig. Wenn z.B. massive soziale Ungleichheit als Nachhaltigkeitsbarriere gilt, so müssen schon für die heute Betroffenen sozialpolitische Maßnahmen entwickelt werden, wenn zukünftige Generationen nicht mehr in Armut leben sollen. Wenn Nachhaltigkeit nur als normativer und darin programmatischer Zielhorizont formuliert wird, dann besteht die Gefahr, dass diese Zielvorgabe immer wieder zerdefiniert und hinausgeschoben wird. Nachhaltigkeit ist vielmehr als gesellschaftliche Strukturierung zu begreifen, die aus dem Widerspruch zwischen Externalisierung und Sorge hervorgeht. Wir sind in dieser Strukturierung gefangen, Engagement wie Abwehr sind hier zwei Seiten derselben Medaille. Der von Anthony Giddens (1988) entlehnte Begriff der Strukturierung stellt vor allem solche Entsprechungen in den Mittelpunkt, die sich zwischen den subjektiven Befindlichkeiten, den sozialen Praktiken und den gesellschaftlichen Strukturen herstellen lassen. Wenn wir Giddens’ Konstrukt der Entsprechung herausstellen, interessiert auch seine These, dass Struktur und Handeln als kollektive Praxis rekursiv aufeinander bezogen sind und – vor allem –, wie sich in diesen Entsprechungen eigene strukturelle Formungen ausbilden, die die Gesellschaft intermediär durchziehen. In ihnen sind tiefenpsychisch verankerte Bewusstseinslagen, soziale Praktiken und Diskursstränge, genauso wie institutionelle Kontexte aufeinander bezogen. Nachhaltigkeit wird so als in die Gesellschaft eingelagerter, personell wie sozial und institutionell wirksame Strukturierung bestimmbar, deren Magnetlinien Anziehungen und Abstoßungen erzeugen. Externalisierung zeigt sich im Kapitalismus in verschiedenen Dimensionen. Die ökonomische Dimension hat Stephan Lessenich (2017: 24f.) wie folgt beschrieben: Externalisierung bedeutet »Entwicklung zu Lasten anderer […], Ausbeutung fremder Ressourcen, Abwälzung von Kosten auf Außenstehende, Aneignung der Gewinne im Inneren, Beförderung des eigenen Aufstiegs bei Hinderung bis
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zur Verhinderung des Fortschritts anderer«. Unter dem Gesichtspunkt sozialer Nachhaltigkeit wird damit das Prinzip sozialer Gerechtigkeit zerstört und soziale Ungleichheit verstärkt. Dieser Externalisierungsprozess ist aber auch ein Abspaltungsprozess. »Abgespalten werden […] die Reproduktionstätigkeiten vom Wert, von der abstrakten Arbeit und den damit zusammenhängenden Rationalitätsformen.« (Brenssell/Habermann 2001: 256) Die soziale Dimension der reproduktiven Sorge ist für den soziologischen Zugang weiterführend. Denn hier zeigt sich auch die besondere Entsprechung, die die Strukturierung Externalisierung ausmacht: sowohl als psychodynamisch rückgebundenes menschliches Verhaltensund Bewältigungsmuster (tiefenpsychischer ›Externalisierungszwang‹) als auch als ökonomisch-gesellschaftliche Wachstumsformel. Darin wirkt die Spannung zwischen dem Eigentlich-innehalten-Müssen und dem Nach-außen-gedrängtSein. Der fortgeschrittene Kapitalismus ist auf Begrenzung angewiesen, will er überleben und sich weiterentwickeln. Nachhaltigkeitskonzepte wenden sich dementsprechend gegen die Fortschreibung der marktzentrierten Wachstumsformel, die das Marktversagen im Hinblick auf die sozialen Kosten der herrschenden Wirtschaftsweise ausblendet. Anzeichen gibt es heute schon dort, wo die sozialstaatlichen Definitionen sozialer Probleme nicht mehr wirken, durch global ausgelöste Strömungen unterspült werden. So galt Armut in den westeuropäischen Staaten als sozialstaatlich regulier- und begrenzbar. Nun grassiert die Angst vor Armut sogar in europäischen Wohlstandsregionen und man sieht sich plötzlich einem globalen Sog ausgesetzt. Aus sozialen Problemen werden so existenzielle Lebensthemen, die biografisch nicht mehr so ohne weiteres ausgrenzbar sind und die die scheinprivilegierte abendländische Situation für einige Menschen mit der in anderen Teilen der Welt vergleichbar macht. Gleichzeitig werden die Folgen einer Enteignungsökonomie am eigenen Leibe gespürt: Die Privatisierung öffentlicher Güter (commons), vor allem von Basisgütern wie Wasser, Raum und Energie, setzen das Bewusstwerden kollektiver Abhängigkeiten und darin Widerstand frei. Es sind existenzielle Ängste, die Männer und Frauen gleichermaßen heimsuchen. Ideologischer und damit pädagogisch wirksamer Taktgeber dieser Wachstumsökonomie ist die neoliberale Humankapitaltheorie. Sie lässt den Menschen im Markt aufgehen: »In der Humankapitaltheorie werden die Einzelnen als Teilnehmer des Arbeitsmarktes definiert. Sie spielen hier eine Doppelrolle. Sie sind zum einen Arbeitskraft und zum anderen Bürger, die die Arbeitskraft als Humankapital besitzen. Die Arbeitskraft gleicht dinglichem Kapital darin, dass über sie instrumentell verfügt werden kann« (Lenhart 2001: 316). Diese Verfügbarkeit lässt die Menschen nicht zu sich, zum Innehalten kommen. Den Halt, den auch die Arbeitenden als naturgebundene wie sozial angewiesene Menschen brauchen, müssen sie sich selbst in den privaten Lebenswelten der Familie und den lokalen Gemeinschaften suchen. Je unübersichtlicher die digitalisierte Arbeitswelt wird, je kontingenter
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
Lebens- und Karriereperspektiven, desto wichtiger wird der lebensweltliche Halt, steigt die Sehnsucht nach seiner und die Angst um seine Verlässlichkeit. Externalisierung ist im Genderdiskurs geschlechtstypisch konnotiert. So wird die Prognose kolportiert, die Männer würden in Zukunft die sozial entbettete globalisierte Sphäre, die Frauen die sozial gebundenen Terrains dominieren. Dahinter steht die These, dass die in der Globalisierung sich verselbstständigenden transnationalen Korporationsstrukturen ein lokal entbettetes Gender-Regime aufgebaut haben, das jenseits von Rasse und Nationalität durch einen männlichen Code zusammengehalten wird. Indem der neue Männerbund der Global Player die Kultur der internationalen Beziehungen in Wirtschaft und Politik okkupiert, nistet sich hegemoniale Männlichkeit in fast allen transnationalen Organisationen ein. Männliche Hegemonie scheint sich zunehmend in die Sphären sozial entbetteter Technologie und Ökonomie zu verlagern, die sich sozialen Bindungen und gesellschaftlicher Verantwortung entziehen, sozialpolitische Angewiesenheit leugnen. Verkörpert wird diese neue hegemoniale Männlichkeit durch entsprechende Leitfiguren in den weltweit operierenden transnationalen Konzernen, Technologie- und Finanzzentren (vgl. dazu Boltanski/Chiapello 2006; Connell 2010). Damit ist aber nicht nur vordergründig gemeint, dass Frauen den Part der Nachhaltigkeit spielen, Männer diese aber wieder verspielen. Vielmehr tritt in diesem Nachhaltigkeitsdiskurs die reproduktive Dimension des Sozialpolitischen neu hervor. Sorge (Care) ist nicht mehr nur auf die Reproduktion der Arbeit bezogen, sondern erhält eine erweiterte sozialökologische Rahmung. Auch in der Globalisierungsdynamik des fortgeschrittenen Kapitalismus hat sich eine globalisierte Sorgekultur entwickelt. Klimadiskurse, Migrations- und Armutsdiskurse bestimmen die Schlagzeilen. Beim näheren Hinsehen wird aber deutlich, dass diese Sorgediskurse eine bezeichnende Asymmetrie aufweisen – es sind Diskurse einer Zitadellenkultur (vgl. Werckmeister 1989): Wir müssen uns um die Armen und Zurückgebliebenen dieser Welt kümmern, müssen uns um sie sorgen, damit sie uns nicht eines Tages bedrohen, denn es werden mehr sein, als heute vor unseren Mauern stehen. Sozialökonomische und politische Konflikte werden in Sorgeverhältnisse umgedeutet. Die Milliardäre dieser Welt kümmern sich um die Probleme dieser Welt. So können bestehende Machtverhältnisse in Sorgeverhältnisse umgedeutet und auf diese Weise weiter, aber legitimatorisch neu, stabilisiert werden. Sorgekulturen können so zu Verdeckungskulturen von Macht werden. Deshalb ist es nicht so einfach, dem global wirksamen gesellschaftlich-ökonomischen Externalisierungssystem ein Gesellschaftsmodell des Innehaltens, der Sorge entgegenzusetzen, obwohl dies historisch notwendig ist. Diese historische Notwendigkeit gilt es gerade angesichts der Nachhaltigkeitsproblematik zu explizieren. Externalisierung und Sorge sind zwei zueinander widersprüchliche Strukturierungen, die das gesellschaftliche Konfliktfeld ausbilden, aus dem heraus sich der so-
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ziale Nachhaltigkeitsdiskurs entwickelt hat. Soziale Nachhaltigkeit stellt damit eine resultante Strukturierung dar, in der immer wieder nach dem integrativen Punkt in der Spannung zwischen ökonomischem Wachstumszwang, seiner Begrenzung und der sozialökologischen Reproduktion gesucht wird. Einen ersten Zugang zur Begründung dieser ökonomisch-sozialökologischen Dialektik finden wir in der Hypothese, dass der Kapitalismus, der, obwohl er systemlogisch den Menschen nur als Ware betrachten kann, doch auf das Soziale angewiesen ist (vgl. Heimann 1929; Böhnisch/Schröer 2016). Denn wenn sich die kapitalistische Ökonomie in der Industriegeschichte technologisch weiterentwickeln, modernisieren und damit ihren Profit steigern wollte, brauchte sie qualifizierte Arbeiter, war auf deren Humanvermögen angewiesen und musste deshalb deren Lebensbedingungen entsprechend verbessern, soziale Belange und Interessen aufnehmen. Das war der strukturell erzwungene Einbruch des Sozialen in das Gehäuse des Kapitalismus. Diese sozialpolitische Hypothese der Angewiesenheit des Kapitalismus auf das Soziale muss dahingehend erweitert werden, als deutlich wird, dass die kapitalistische Ökonomie nicht nur auf die Qualifikation der Arbeitenden, sondern genauso auf die sorgende Reproduktion dieser Arbeitskraft angewiesen ist. Vor dem Hintergrund des Modells der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung sprechen wir deshalb von einer doppelten sozialen Angewiesenheit der Ökonomie sowohl auf das humane Arbeitsvermögen als auch auf die reproduktive Sorge. Im nationalen Sozialstaat und seiner Sozialpolitik ist diese Angewiesenheit institutionalisiert. Mit der Perspektive der Nachhaltigkeit hat sich nun diese Dialektik der Angewiesenheit erweitert. Nicht nur die soziale Zähmung und darin ökonomische Begrenzung des Kapitalismus ist nach wie vor dringlich, sondern nun vor allem auch seine ökologisch notwendige Umpolung. Und es geht nicht mehr nur darum, dass der Mensch in der kapitalistischen Ökonomie zur Geltung gebracht wird, sondern es geht grundsätzlich um die zukünftige Existenz des Menschen in seiner Abhängigkeit von der bedrohten Natur. Um dieses Risiko als ein gemeinsames erkennen und anerkennen zu können, bedarf es der sozialen Verankerung dieser Erkenntnis und seiner Anerkennung in entsprechenden Normen und Institutionen. Es bedarf der ökosozialen Nachhaltigkeit. Im Paradigma der ökosozialen Nachhaltigkeit vereinigen sich die sozialen und ökologischen Gegenkräfte zum digitalen Kapitalismus. Denn während die ökonomische Globalisierung die sozialstaatliche und darin sozialpolitische Kraft schwächt, entwickelt sich im aufkommenden sozialökologischen Katastrophendiskurs von Klimawandel und weltweiter Arm-Reich-Spaltung eine Gegenströmung, die dieser Dialektik der Angewiesenheit wieder Kraft verleihen kann. Naomi Klein hat das Zusammenwirken von ökologischer und sozialer Ausbeutung eindrucksvoll dargestellt (s.o.). Der große Unterschied zur Ersten Moderne besteht darin, dass die sozialökologischen Bewegungen nicht die sozialpolitische Kraft entfalten können, wie dies die nationalstaatlich gebundenen sozialen Bewegungen früherer
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
Zeit – Arbeiterbewegung, Frauenbewegungen – konnten. Im digitalen, ortlosen Kapitalismus hängen sie gleichsam in der Luft und können immer nur wieder einzelne sozialpolitische Punkte setzen. Dennoch können sie auf regionale und nationalstaatliche Entwicklungen einwirken und zur Schaffung eines sozialökologischen Bewusstseins beitragen. Seit der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro sind es vor allem Frauenbewegungen, die global agieren und zeigen können, wie sich sozialökologisches Bewusstsein in regionalen Projekten realisieren lässt. Im europäischen Raum sind es die gemeinwohlökonomischen Initiativen und Projekte einer Sozialen Ökonomie, die antikapitalistische Strömungen speisen. »Die Soziale Ökonomie strebt nicht an, industriegesellschaftlich mit den multinationalen Konzernen Schritt zu halten, wohl aber sich zwecks Existenzsicherung aus ihrem Griff zu lösen« (Wallimann 1998: 61). Wir haben es bei der ökonomisch-gesellschaftlichen Externalisierung nicht nur mit einer innerkapitalistischen Logik zu tun, sondern auch damit, dass es die innere Angst des Kapitalismus vor Begrenzung und Innehalten ist, die die Externalisierung zur Abspaltung macht. Dieser Zwangscharakter hat sich in die Mentalität der Menschen genauso eingegraben wie in das Rationalitätsprinzip der kapitalistischen Ökonomie. Abspaltungen gehen mit Abstraktionen einher. Die Schäden und Opfer der Wachstumsneurose werden ausgeblendet, denn es geht um das ökonomische Überleben des kapitalistischen Systems. Angesichts der globalen Macht des digitalen Kapitalismus ist es allerdings nicht leicht, seine innere Hilflosigkeit zu thematisieren. Manchmal – wie in den weltweiten Finanzkrisen der 2000 er-Jahre – scheint sie auf. Aber gerade über das Aufzeigen dieser Hilflosigkeit öffnet sich der Bildungspfad für eine Pädagogik der Nachhaltigkeit (vgl. Teil IV).
Gesundheit und Verantwortung zwischen sozialer Bindung und gentechnologischer Machbarkeit Angesichts des risikoreichen Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft ist der neue Gesundheitsdiskurs neben den traditionellen Arbeitsdiskurs getreten. Der Mensch soll sich, wenn dies zukünftig nicht mehr über identitätsstiftende Arbeit im Normalarbeitsverhältnis für alle möglich sein wird, über den eigenverantworteten Körper und seine Gesundheit entfalten können. Dass dieser Körper inzwischen hoch vermarktet ist, scheint ab und zu wieder auf, wenn über die Gewinne der Pharmaindustrie debattiert wird und über das Paradox, dass die Gesundheitsindustrie die Krankheit braucht, um ökonomisch gewinnfähig zu bleiben. Der risikogesellschaftliche Strukturwandel in seiner Permanenz der Bewältigungszwänge setzt die Menschen unter Stress, produziert immer wieder neue psychophysische Krankheitsbilder, die dann wieder pharmaindustriell kapitalisiert werden. Es geht gar nicht mehr wie früher um die klassischen Risiken körperlicher Arbeit, sondern um den Körper
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überhaupt. Er wird zum Medium der Selbstverantwortung als egozentrische Durchsetzung des Eigenen. Eine verkürzte Autonomie. Die sozialen Disziplinen werden sich damit in Zukunft deutlicher als bisher auseinandersetzen müssen. Bisher reflektiert man aber eher nicht die Problematik dieser verschobenen Verantwortung, sondern diskutiert besorgt darüber, dass Psychologie und Medizin über das ätiologisch verengte medizinische Modell den sozialen Disziplinen die Definitionsmacht im sozialen Feld noch weiter streitig macht. So muss sich zwangsläufig Verantwortungsdiffusion auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs einstellen. Die Frage bleibt offen, ob Gesundheit als Medium der Vergesellschaftung nicht zwangsläufig zur sozialen Spaltung in Gesunde und Kranke, Behinderte und Nichtbehinderte führen muss. Die Protagonisten des digitalen Kapitalismus werden das Gegenteil behaupten. Gesundheit wie Krankheit und Behinderung seien doch inzwischen so kapitalisierbar, dass sie geradezu als Produktivkräfte und deshalb alle Menschen – ob behindert oder nicht behindert – als inkludiert gelten können. Seit der Mensch als Ganzes vermarktungsfähig ist, sind doch wieder alle dabei. Der Sozialstaat mit seiner Erwerbsarbeitszentrierung habe doch die behinderten Menschen zu Bürgern zweiter und dritter Klasse gemacht. Nun agiere der Staat im digitalen Kapitalismus nicht mehr nicht mehr in vormundschaftlicher, sondern in aktivierender Verantwortung für die Exkludierten, als Institution, die ein gesellschaftliches Geschehen reguliert, in dem sie sich in einen Gesundheitsmarkt einbringen können. Natürlich ist die gesundheitstechnologische Entwicklung für die einzelnen Menschen von hohem Wert. Hier aber geht es um die gesellschaftliche Transformation der ökonomisch-technologischen Logiken und Machbarkeitsoptionen, die im Gesundheitsdiskurs stecken. Und die schlagen direkt – wenn auch verdeckt – auf die Einzelnen zurück. Deshalb ist es für zukünftige sozialwissenschaftliche Diskurse wichtig, vor allem den Begriff der »sozialen Gesundheit« besser zu operationalisieren, um ihn zu den medizinisch-ökonomischen Modellen kontrastieren zu können. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Verantwortungsfrage im Gesundheitsbereich endlich auch sozial gestellt wird, so wie die Weltgesundheitsorganisation WHO (1986) in ihrer Ottawa-Charta die Gesundheitsfrage von der pathogenetischen hin zur salutogenetischen Perspektive entwickelt hat. Bisher wurde die Perspektive der sozialen Gesundheit vor allem im Bereich der Prävention entwickelt. Aber gerade in den Präventionsprogrammen wirkt das Verdikt der Selbstverantwortlichkeit, werden die Einzelnen in ihrer Pflicht zur Selbstorganisation aufgefordert, ohne dass danach gefragt wird, ob dies unter ihren Lebensbedingungen und in ihrer alltäglichen Lebensbewältigung überhaupt so möglich ist. So entwickelt und verbreitert sich ein generalpräventives Programm, dem die Subjekte unterworfen sind, das aber keinen sozialstaatlichen Rahmen aufweist, der die ökonomischen und sozialpolitischen Bedingungen formuliert, unter denen eine Erfolgsperspektive individuell geschalteter Präventionsprogram-
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me auch gesellschaftlich abgesichert ist. Die sozialstaatliche Daseinsvorsorge wird weiter privatisiert und schrittweise dem Markt überlassen. »In diesem Lichte kann es nicht verwundern, dass der aktivierende auch ein zur Prävention mobilisierender Sozialstaat ist, der Präventionsstaat somit das alter ego der Aktivgesellschaft in Erscheinung tritt. Ob nun im Gesundheitswesen oder in der Alterssicherung, in der Arbeitsmarktpolitik oder in der Jugendhilfe, bei der pränatalen Diagnostik oder der präfinalen Patientenverfügung: Überall hat der Vorsorgegedanke Hochkonjunktur, stets sollen die Individuen dazu angehalten werden, den Eintritt sozial schädlicher Ereignisse oder Zustände durch Eigentätigkeit und Selbstsorge vorausschauend zu vermeiden. Dabei teilt die Präventions- mit der Aktivierungssemantik […] den Duktus der Unabschließbarkeit […]: Niemals kann ausreichend Vorsorge geleistet werden oder (im Nachhinein betrachtet) geleistet worden sein, immer könnte Vorsorgepolitik noch früher beginnen bzw. einen noch größeren Personenkreis als Zielgruppe der Prävention erschließen« (Lessenich 2008, S. 121). Die Prävention wird – im Zuge ihrer Privatisierung und damit Verengung auf den Einzelnen – zum marktfähigen Gut und der Präventionsmarkt ist so zu einem Zukunftsmarkt geworden. Deshalb muss sich die sozialpolitische Praxis in Zukunft deutlicher einmischen, als sich weiter so ungefragt wie beflissen dem Diktat der marktgängigen Effizienz zu beugen, wie das heute so manche Träger sozialer Dienste tun. Mit der ›genetische Revolution‹, der Verschmelzung von Bio- und Informationstechnologie, ist die Gesundheitsfrage und ihr Verantwortungsbezug sozial entbettet. Denn angesichts der Zwangsläufigkeit ihrer ökonomischen Verwertungslogik erscheinen die naheliegend positiven Effekte des Genomprojektes, die Aussichten auf die Heilung von bisher als unheilbar geltenden Krankheiten, auf die Möglichkeit des Nachbaus von Organen und die deutliche Verlängerung der Lebenszeit des Menschen eher als Feigenblätter. Auch nicht die alchimistischen Träume von einer genetischen Veredelung des Menschen, denen nun abrupt der Charme der Science Fiction genommen ist, werden die Diskurse um den Menschen steuern. Denn nicht das Machbare allein ist in diesem Zusammenhang das Maß aller Dinge, sondern die unbegrenzten Möglichkeiten der Ökonomisierung des Machbaren. Die entsprechende ökonomische Verwertungsperspektive kann man sich in diesem Zusammenhang zweistufig vorstellen. In der ersten Stufe werden die psychosozialen Belastungen und sozialen Desintegrationserscheinungen nicht länger als soziale Probleme definiert und nach entsprechenden sozialen und sozialpolitischen Interventionsmodellen gesucht, sondern sie können nun – weil gentechnologisch fundierte Gegenstrategien in Aussicht stehen – zu technologisch handhabbaren Störungen des ökonomischen Wachstumsprozesses umdefiniert werden. Das ›Eigensinnige‹ des Menschen, das – in seiner ganzen Ambivalenz von bedrohlichen Risiken und Entfaltungschancen – die Entwicklung des sozialen Zusammenlebens bisher bestimmt hat, scheint nun aufgehoben, weil technologisch steuerbar zu sein: »Die Sonderung von Menschen nach ihrer genetischen Aus-
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stattung stellt eine fundamentale Gewichtsverlagerung in der gesellschaftlichen und politischen Machtausübung dar. In einer Gesellschaft, in der die Menschen nach ihrem Genotyp stereotypisiert werden können, nimmt institutionelle Macht jeder Art unweigerlich zu. Gleichzeitig wird auch […] die wachsende Polarisierung der Gesellschaft in genetisch ›höherwertige‹ und genetisch ›belastete‹, wenn nicht genminderwertige Individuen und Gruppen, eine neue starke soziale Dynamik auslösen« (Rifkin in: Süddeutsche Zeitung 147/2000, S. 17; vgl. auch: Rifkin 2000). Dabei ist die genetische Definition und Prognose noch gar nicht gesichert, da ihre praktische Umsetzbarkeit und Reichweite nicht geklärt ist. Dennoch sind inzwischen weltweite und medial spekulative Anwendungsdiskussionen um das Genom entstanden, die sich längst zum Diskurs verselbstständigt haben. Damit ist gemeint – wenn man den Foucaultschen Begriff des ›Kontrolldiskurses‹ heranzieht –, dass inzwischen eine rhetorische Fassade aufklärerischer Rationalität und Plausibilität errichtet worden ist (›der Mensch enthüllt die letzten Geheimnisse der Schöpfung‹), mit der Interessen der ökonomisch-technologischen Steuerbarkeit durchgesetzt werden können, ohne dass sie thematisiert werden müssen. Niklas Rose (2000) hat in diesem Zusammenhang von einem Plausibiltätszwang des GenDiskurse gesprochen. Dies war schon in der Art und Weise angelegt, in der sich seit den 1990er Jahren der Anlage-Umwelt-Diskurs, in den seit über hundert Jahren die Humanwissenschaften eingebettet sind, von der eindeutig sozialwissenschaftlichen Umweltorientierung hin zum – nun genetischen – Anlageargument gedreht hat. Dieser Drive kommt nicht allein aus dem Machbarkeits- und Erfüllungsfanatismus der Biogenetik und -technologie. Die Problematik des genetischen Diskurses liegt vor allem darin, wie er ökonomisch vorangetrieben wird. Mit machbarkeitsideologischen genomischen Prognosen werden die sozialen Grenzen der Ökonomisierung nicht nur noch weiter herausgeschoben, sondern – und dies stellt die neue Qualität der genökonomischen Perspektive dar – die Grenzüberschreitung wird über den und im Menschen selbst vollzogen. Der scheinbar unaufhebbare Gegensatz von Mensch und Ökonomie, von Human- und Warencharakter, welcher die gesellschaftliche Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts in Spannung gehalten und im Sozialpolitischen Prinzip gestalterisch vorangetrieben ist, droht aufgehoben zu werden. Der nun biotechnologisch versierte digitale Kapitalismus treibt die soziale Entbettung nicht nur technologisch weiter – so das Menetekel –, sondern wird nun auch versuchen können, den Menschen vollends nach seinen Gesetzen zu ›gestalten‹, die Spannung zwischen Mensch und Ökonomie im Menschen selbst aufzuheben. Dagegen richten sich seit jener Zeit Kampagnen, die diese finale Ökonomisierung des Menschen anprangern: »Eine Patentierung genetisch veränderter Zellen ist unrechtens, weil sie eine Ökonomisierung des Lebens und ein Eigentumsdenken vom Lebendigen fördert. […] Zukunftsfähige Ethik stört den rasanten Prozess der Beschleunigung und plädiert bei Bedarf auch für Moratorien. […] Das ›Innehalten‹ und die Selbstbesinnung wie -vergewisserung historischer
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und transzendenter Voraussetzungen ethischer Entscheidungen müssen den Charakter des Mit-Wissens (con-scientia) in unseren Entscheidungen erhalten. Solches ›Mit-Wissen‹ heißt seit der Antike ›das Gewissen‹.« (Iserlohner Aufruf 2000). So ist Verantwortung in sozialer Freiheit formuliert. Dies gilt vor allem für die Entwicklung von Cyborg-Technologien, welche die innere Struktur des Körpers verändern, indem sie nicht nur verlorene Körperfunktionen ersetzen; sondern nun Eigenschaften hinzufügen, die – wie die genetischen Veränderungen – vorher nicht da waren. Das Modell des »kybernetischen Organismus« als Endpunkt des perfektionierten Menschen hat längst die Sphäre des Science-Fiction verlassen und steht auf dem Schirm der Genomforschung. Aber: »Falls es gewissen Cyborg-Technologien tatsächlich gelingen sollte, den Menschen in irgendeiner Weise zu verbessern, stellt sich die Frage, ob die Verbesserung des Menschen auch zu einer Verbesserung der Gesellschaft führt. Geht man von der Prämisse aus, dass die Gesellschaft mehr als die Summe ihrer Mitglieder ist und einer eigenen Logik gehorcht, ist absehbar, dass sich auch verbesserte Menschen in Konflikte verstricken und damit nach wie vor um knappe Ressourcen konkurrieren« (Beumeier 2002: 8). Hier, im Gesellschaftlichen, ist der Punkt, an dem sich die Sozialpolitik trotz sonst fehlender Gegenmittel bemerkbar machen muss, angesichts der makabren Vorstellung, dass sie in einer nicht so fernen Zukunft für die neue randständige Masse der »genetisch minderwertigen« Menschen zuständig sein würde. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich im Sinne des Iserlohn Aufrufs engagiert und eine Verantwortungskultur der Anerkennung menschlicher Hilflosigkeit stärker als bisher in ihr sozialethisches Programm setzt und öffentlich macht. Und dass sie weiter an einem Gegenentwurf arbeitet, in dem deutlich wird, dass gerade auch in dieser Hilflosigkeit die Menschenwürde liegt.
Die Entgrenzung des Reichtums Zum Integrationsmodell demokratischer Gesellschaften, wie sie sich in Europa im 20. Jahrhundert herausgebildet haben, gehört eine bestimmte – normativ institutionalisierte und personal internalisierte – Vorstellung sozialökonomischer Balance, wie sie im Bild der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland wohl am prägnantesten eingeschrieben war und sich bis heute gehalten hat: Das ökonomische und soziale Potenzial der Gesellschaft ruht in einer Mitte, die weder durch extremen Abfall in Armut noch durch extreme Auswucherungen von Reichtum in ihrer Ausgeglichenheit bedroht ist. Um diese Mitte gruppiert sich der gesellschaftspolitische Konsens, sie signalisiert gesellschaftliche Erreichbarkeiten für alle und bildet auch das sozialökonomische Fundament der Pädagogik. Bedrohungen dieser Mitte – so lehrt der Einbruch des Faschismus – können diesen ruhenden Konsens aufstören, sprengen, die Mitte aufreiben und in
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den Sog radikaler Strömungen hineintreiben lassen. Der Sozialstaat als Mediator des strukturellen Konflikts zwischen Arbeit und Kapital im 20. Jahrhundert war – und scheint immer noch – der Garant für diese Politik der Mitte, ob sie nun als »linke« oder »rechte« Mitte fungierte, sorgt er doch für die gesellschaftliche Integration von Armut und Reichtum gleichermaßen. So ist die sozialstaatlich gestützte Mitte gleichsam zum Synonym für soziale Gerechtigkeit geworden. Armut galt gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den europäischen Wohlfahrtsstaaten als sozialpolitisch befriedet. Von Armut Betroffene waren in den Sicherheits- und Fürsorgesystemen des Sozialstaates integriert. Man sprach von der wohlfahrtlichen Inklusion der ökonomisch Exkludierten. In dem Maße aber, in dem sich seit den 1980er Jahren das Armutsrisiko über diese statistisch relativ stabilen Randgruppen hinaus in die Gesellschaft hinein verlagerte, entwickelte sich neben der traditionellen Randgruppenpolitik eine differenzierte sozialpolitische Unterstützungspolitik, die auf die Reintegration der neu verarmten Bevölkerungsgruppen zielte, und auf jene, die von Arbeitslosigkeit heimgesucht waren. In diesem Zusammenhang hatte die dynamische Armutsforschung erhoben, dass ein Großteil dieser Gruppen nur periodisch und übergangsweise unter die Armut fallen und die staatlichen Hilfen für eigene Anstrengungen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nutzen. Unter der Entgrenzungsdynamik des digitalen Kapitalismus aber ist die Armut heute aus den sozialstaatlichen Fugen geraten und wieder zu einem existenziellen Lebensthema wie zu einem Grundproblem gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden. Nicht nur, dass das Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko nicht mehr von der nationalstaatlichen Sozialpolitik auflösbar ist, weil es in den Sog nationalpolitisch nicht mehr steuerbarer globalökonomischer Dynamiken gerät. Darüber hinaus ist eine neue Relation zwischen Armut und Reichtum in einer Brisanz freigesetzt worden, die dem traditionellen Armutsdiskurs noch nicht bekannt war. Dabei geht es nicht mehr nur um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sondern genauso um das Problem der Herausbildung zweier widersprüchlicher Moralwelten. Die sich längst abzeichnenden Polarisierungstendenzen zwischen Armut und Reichtum deuten vor allem auch auf eine neue Qualität der Reichtumsentwicklung hin, die mit den Möglichkeiten der Kapitalzirkulation und Kapitalakkumulation im globalisierten Kapitalismus die Grenzen nationaler Geld- und Steuerpolitik gesprengt hat. Die Eigendynamik des Geldes tritt nun hervor: »Geld ist weit mehr als ein bloßes Medium zur Kommunikation güterwirtschaftlicher Dispositionen. Es ist nicht nur Tauschmittel, sondern Vermögen und Kapital. Als solches verleiht es Macht und Einfluss, ist Objekt der Begierde, es ist nicht nur Mittel, sondern Zweck des Handelns. Eine kapitalistische Wirtschaft folgt nicht nur der Logik eines geldvermittelten Gütertausches, sondern der Gütertausch ist seinerseits lediglich ein funktionales Zwischenspiel in einem selbstreferenziellen Prozess der Geldvermehrung« (Deutschmann 2002: 57). ›Unendlich viel‹ Geld ist in der Mentalität der neuen Ökonomie zum
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Medium von Konkurrenz und Durchsetzung und zum Maßstab des Erfolgs geworden. Indem diese freigesetzte Gier nach Geld nicht mehr sozial rückgebunden ist, vielmehr einer verselbstständigten digitalen Akkumulationslogik folgt, muss eine sozial motivierte Kritik an dieser Grenzenlosigkeit des neuen Reichtums und seiner Verdichtung stumpf bleiben. ›Sozialneid‹ gilt jetzt als die typische Untugend der ›Zu kurz Gekommenen‹ und an der neuen Ökonomie ›Gescheiterten‹. Shareholder Mentalitäten treiben die soziale Entbettung und Abstrahierung des Profits voran. Mit der Krise des Sozialstaats im Sog der Globalisierung ist die Gemütsruhe der Mitte dahin. Gleichzeitig gilt Reichtum ohne Grenzen nicht mehr als obszön, Armut wird von manchen schon wieder als Kontrastmittel eines für das ökonomische Wachstum ›notwendigen‹ Reichtums gesehen. Während der Mittelstand fasziniert auf die Grenzenlosigkeit des Reichtums starrt, ist er gleichzeitig von einer diffusen Angst vor einem Armutsrisiko aufgestört, das heute bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht und längst nicht mehr auf soziale Randgruppen begrenzt ist. Der digitale Kapitalismus hat die Armen als ›Überflüssige‹ zwar weiter von der Gesellschaft abgekoppelt, aber gleichzeitig das Armutsrisiko in die Gesellschaft hineingetragen. Im Schatten der beginnenden sozialstaatlichen Regulation entwickelten sich auch im Unternehmertum Ansätze einer gewissen sozialen Verpflichtung des akkumulierten Reichtums im Sinne betrieblicher Sozialpolitik. Sozialethische Strömungen waren dabei genauso ausschlaggebend wie die Absicht der Bindung der qualifizierten Arbeiter an den Betrieb oder der Versuch, ein unternehmerisches ›Gegenmodell‹ zu den antikapitalistischen Perspektiven der Arbeiterbewegungen zu demonstrieren oder aber auch die staatliche Sozialpolitik betrieblich zu ergänzen. Während solche Ansätze – unternehmenseigene Wohnungen für Arbeiter, Konsumvergünstigungen, Betriebsrenten, Stipendien bis hin zu Stiftungen – in Deutschland angesichts einer durchgängigen staatlichen Sozialpolitik eher residual blieben, wurden sie in den USA zu dem Modell der – allerdings freiwilligen – sozialen Bindung des Reichtums. Grundlage dafür war ein Verständnis von kapitalistischem Wirtschaften, das seit Henry Ford mit dem Begriff der »Dienstleistung« (vgl. Ford 1926) verknüpft ist. Im Zuge der mit der tayloristischen Technologierevolution zum Durchbruch gelangten Produktions- und Distributionsweisen von Massenproduktion und Massenkonsum potenzierte sich das noch einmal mehr, was Werner Sombart (1902) schon für die erste Phase des entwickelten Industriekapitalismus festgestellt hatte: Zwar wuchs der private Reichtum weiter überproportional, aber gleichzeitig wurde nicht nur die materielle Grundexistenz der breiten Massen gesichert (Ernährungsproblem), sondern diese Massen mutierten zu Konsumenten, die nun weit über das Existenzminimum hinaus sich Güter der Lebensgestaltung und -erfüllung leisten konnten. Diese breite Konsumentennachfrage kurbelte wiederum die Produktion und die Produktdifferenzierung an und vice versa. Damit war die soziale Frage aus der Spannung von Kapital und Arbeit herausgenommen und
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der sozialen Bereitschaft bis Willkür der kapitalistischen Unternehmer ausgesetzt. Legitimiert war dieses vom Markt abhängige soziale Sicherungssystem von der fordistischen Ideologie, nach der der Kapitalismus als Konsumkapitalismus sich selbst erneuern könne und keine Arbeiterbewegung und keine Gewerkschaften dazu brauche. Höhere Löhne müssten nicht erkämpft werden, sie sind geradezu notwendig um die Gesetzmäßigkeiten von Massenproduktion und Massenkonsum zu erfüllen. Indem die Produktion nun so organisiert ist, dass sie in erster Linie die Kunden anspricht, wird sie – so die fordistische Terminologie – zur Dienstleistung. In ihr geht auch das Geld auf, das für Ford »einfach eine Ware« ist, »die wir genauso brauchen, wie wir Kohle und Eisen brauchen. Sobald man Geld anders betrachtet, sind große Schwierigkeiten unvermeidlich, denn da drängt sich das Geld vor die Dienstleistung.« (Ford 1926: 285) Mit der Bindung des Geldes an das Geschäft, die Dienstleistung, war es in eine ökonomisch-soziale Ideologie eingebunden, die sich in der bis heute in den USA gültigen Formel »success and service« ausdrückte: Reichtum und soziale Verantwortung waren darin aufeinander bezogen. Denn in den USA konnte sich – gerade wegen der Aushebelung des institutionellen Konflikts zwischen Arbeit und Kapital durch die massenkonsumorientierte Lohnpolitik der Unternehmen – kein Sozialstaat im europäischen Sinne entwickeln. Wenn jemand zu Reichtum – egal mit welchen Mitteln – gelangte, hatte (und hat) er die öffentlich-moralische Verpflichtung, soziale Belange zu unterstützen. In diesem Verständnis einer investiven und sozialen Bindung des Reichtums, kulturell erwartet aber nicht in Pflichten und Rechten kodifiziert, sondern gleichsam dem moralisch aufgeforderten Unternehmer überlassen, unterschied man folgerichtig zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Profit, ›produktivem‹ und ›unproduktivem‹ Reichtum. In Deutschland hingegen wurde die Verfügung über Profit und Reichtum nicht primär im Kontext moralischer Verantwortung thematisiert, sondern man ging eher davon aus, dass die sozialpolitisch-sozialstaatliche Zähmung des Kapitalismus die Reichtums Frage und damit einen eigenen Reichtums Diskurs erledigt habe. Zumal die Unternehmer selbst sich in der öffentlichen Präsentation entsprechend ›vornehm‹ zurückhielten und später – in den 1950er und 1960er Jahren – höchstens die ›Neureichen‹ als Emporkömmlinge ohne Stil eine öffentliche Rolle spielten. Diese aber waren weniger in den Reichtums- und Machtkartellen des Kapitals verankert, sondern stellten sich als ›Konsummillionäre‹ dar, deren Aufstieg in den bunten Blättern der damaligen Zeit begleitet wurde. Sie waren im Gegenteil eher ein Indiz für die bei uns herrschende ›Gewissheit‹ von der gesellschaftspolitischen Zähmung des Reichtums, und entsprechend schrill war die Art und Weise, wie mit diesen ›aus der Art geschlagenen ›unproduktiven« Reichen, den Müßiggängern des Kapitals öffentlich umgegangen wurde. Prototypen dafür waren zum Beispiel die Millionenerben Arndt von Bohlen und Hallbach (Krupp) und Gunter Sachs, die als Playboys meist an der Riviera und dort in den sie umgebenden sog.
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›Schmarotzerszenen‹ ihre öffentliche Zur-Schau-Stellung betrieben. Sie waren die Projektionsmagneten der breiten Massen. Man konnte sie gleichermaßen bewundern wie verachten. Bewundern, wie sie die geheimen Sehnsüchte der Massen jenseits materieller und monetärer Grenzen ausleben konnten, verachten, weil es eben ›unproduktive Reiche‹ waren, die ein entsprechendes Stigma trugen. Der Mittelstand ergötzte sich an ihnen, weil sie ihn gleichsam moralisch erhöhten, vielleicht sogar weil man – aus sicher geglaubter Wohlstandswarte – es gerade als einen Ausdruck für Stabilität ansah, dass sich die Wirtschaftswundergesellschaft solche Orchideen leisten konnte, ohne in die soziale Schieflage zu geraten. Die Existenz dieser ›unproduktiven Reichen‹ der damaligen Zeit hat deshalb auch nie zu einem antikapitalistischen bzw. sozialkritischen Reichtums-Diskurs geführt. Im heutigen digitalen Kapitalismus aber ist eine qualitativ neue sozialökonomische Konstellation entstanden. Das noch von Ford so geschmähte spekulative Finanzkapital hat in der Dynamik der Globalisierung seine Eigenkraft und Eigenmacht erhalten und entfaltet. Es hat seinen eigenen globalen Markt und eine entsprechende ökonomische Macht im nun weltweiten Investitionsspiel entwickelt und lenkt die Ströme der multinationalen Kapital- und Unternehmenskonzentrationen. Dabei entfaltet es seine spezifische Akkumulationslogik, die sich gegenüber den konkreten »Geschäften« – wie Ford sagen würde – längst verselbstständigt hat. ›Plötzlich‹ tritt Reichtum als weltweit operierender ökonomischer und politischer Machtfaktor hervor, löst sich aus seinen sozialstaatlichen und normativ-kulturellen Fesseln und beansprucht in der ›Sachlogik‹ des neuen Kapitalismus – zirkulierendes und grenzenlos verfügbares Kapital als die die Arbeit übertrumpfende Produktivkraft – seine uneingeschränkte Geltung. Dabei entwickelt sich eine sozialpolitische und psychologische Brisanz, die das sozialstaatliche Gleichgewicht, in das Reichtum bisher eingebunden war, dramatisch zu gefährden droht. Die Sombartsche Formel, nach der der Reichtum – auch wenn er mit der industriekapitalistischen Modernisierung überproportional wächst – sich letztlich darin legitimiere, dass er im Kontext der Vermehrung der Produktivität und der damit einhergehenden Hebung des Wohlstands aller doch eine sozialintegrative Funktion habe, ist brüchig geworden. Indem die Kapitalakkumulation die technologischen Rationalisierungsprozesse beschleunigt und Produktivität auf Kosten der Arbeit erhöht, wachsen die Kapitalgewinne, ohne dass eine entsprechende gleichgewichtige Vermehrung und Vergütung der Arbeit damit einhergeht. Eher wird Arbeitslosigkeit ausgelöst. Rationalisierungsprozesse, die in den betreffenden Unternehmen Arbeitsplätze freisetzen und – sozialstaatlich gesehen – strukturelle Massenarbeitslosigkeit verstetigen, werden in der Welt der Aktionäre und Börsianer nicht als Problem, sondern im Gegenteil als Erfolgsbotschaften gehandelt. Gleichzeitig wächst die reine Geldakkumulation zum zentralen ›Produktionsspiel‹ dieses weltweiten digitalen Marktes und legitimiert sich aus einer eigenen Sachlogik. Dies hat dann auch entsprechende normative und sozialmoralische Auswirkungen: Geld verdienen so viel als
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möglich, grenzenlos und ungebunden gehört nun geradezu zur erstrebenswerten Charaktereigenschaft, zur Lebensform und zum Wertsystem digitaler Gesellschaften. Fords Postulat, nach dem das Geld nur Mittel des Wirtschaftens sein kann – und nicht mehr – ist aufgehoben. Geldgewinn ist zum absoluten Ziel des unternehmerischen und privaten Wirtschaftens geworden. Egal, was produziert wird, wie und für wen, Hauptsache es bringt Gewinn. Schon Georg Simmel hatte in seiner »Philosophie des Geldes« (1904) die These aufgestellt, dass das Geld – neben der Macht und so auch mit ihr verbunden – das Medium ist, das vor allem dann keinen Sättigungsgrenzen unterworfen ist, wenn es abstrakt wird und schließlich sozial entbettet ist. Dieser Zustand ist heute über den zweiten weltweiten Markt, den digitalen Kapitalmarkt, erreicht. Das Verhältnis von Reichtum und Verantwortung folgt immer noch den Fordschen Definitionen. In einer empirischen Studie (Befragung) dazu heißt es. »Die Art und Weise, wie sie reich geworden sind, spielt eine Rolle für die Bereitschaft zum Engagement [als Ausdruck von Verantwortungsübernahme; d. A). So weisen diejenigen, die durch abhängige Erwerbsarbeit, Selbstständigkeit oder Unternehmertum reich geworden sind, eine […] 2,5 mal höhere Wahrscheinlichkeit [der Übernahme von Verantwortung d. A.] auf, als Personen, die ihr Vermögen durch Erbschaft, Börsengewinn, Immobilienbesitz oder Sonstiges generiert haben« (Ströing/Kramer 2018: 110). Die Bindung von gesellschaftlicher Verantwortung an die »Dienstleistung«, wie bei Ford, gilt immer noch. Auch, dass die Reichen diese Verantwortung nicht als Pflicht begreifen sondern als freiwilliges Engagement aus unterschiedlichen persönlichen Motivationen heraus, trifft auch heute noch zu. Gegenstrategien im Sinne einer grenzüberschreitenden, transnationalen Verantwortungsethik und entsprechende Verträge sind nicht in Sicht. Auch mit den transnationalen steuerpolitischen Instrumenten geht es nur zögerlich voran (vgl. in der Übersicht: Pätzold/Tolkmitt 2018).
Die Enteignung der Nutzer*innen Mit der Digitalisierung ist ein neues – nun parasoziales – Kräftefeld der Macht entstanden. »Im 21. Jahrhundert [steht] das Überwachungskapital der Gesamtheit unserer Gesellschaft gegenüber, bis hinab zur und zum letzten Einzelnen. Der Wettbewerb um Überwachungserträge zielt auf unsere Körper, unsere Kinder, unsere Zuhause, unsere Städte und fordert so in einer gewaltigen Schlacht um Macht und Profit die menschliche Autonomie und demokratische Souveränität heraus. Wir dürfen uns den Überwachungskapitalismus nicht als etwas irgendwo da draußen, in den Fabriken und Büros einer vergangenen Ära vorstellen. Vielmehr sind seine Ziele wie seine Auswirkungen hier – seine Ziele wie seine Folgen sind wir« (Zuboff 2019). Denn nun werden auch die Lebensbereiche und Lebenstätigkeiten außerhalb des Marktes in marktfähige Waren verwandelt. Menschliche Erfahrungen und mensch-
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liches Verhalten gehen in Daten ein, die nicht nur der aktuellen Konzeption von marktfähigen Produkten und Dienstleistungen dienen, sondern auch zukunftsfähige Marktoptionen aus der Masse dieser Internetdaten extrahieren können. Nach der hier wirkenden kapitalistischen Logik entwickelt sich nun eine völlig zunehmende »Intensität des Wettbewerbs um Vorhersageprodukte. […] Wir sehen uns in der Falle einer ungewollten Fusion persönlicher Bedürfnisse und ökonomischer Enteignung. […] Es genügt nicht länger, den Informationsfluss über uns zu automatisieren, das Ziel besteht nun darin, uns zu automatisieren« (ebd.). Günter Voß (2020) nennt diesen Entzug von Eigenverantwortung »Life-grabbing«. Damit ist gemeint, dass die in digitalen Nutzungszusammenhängen aufscheinenden Lebensäußerungen technologisch extrahiert und in Warenform übertragen werden. Nicht nur das sozial gerichtete Verhalten sondern die Gesamtheit der erkennbaren habituellen Äußerungen werden aufgenommen. Voß sieht die Nutzer*innen digitaler Technologien in diesem Sinne als »arbeitende Nutzer«, als Lieferanten ihrer Lebensdaten, wobei der Begriff ›ausliefern‹ die Sache eher trifft. Wenn man sich die neue, für die Nutzer*innen letztlich unüberschaubare Welt der Social Media anschaut, aber auch die Flut der abgerufenen Informationen, dann kann man sich vielleicht vorstellen, wie mit neuen Technologien der Extraktion und Vernetzung Figurationen des alltäglichen Lebens und biografisch-soziale Prognosen ermittelt werden können, die für die Vermarktung, ja Steuerung menschlichen Verhaltens einsetzbar sind. Hier ist eine neue Figur von Arbeit entstanden, eine Arbeitskraft, der sich die arbeitenden Nutzer*innen meist gar nicht so richtig bewusst sind, die aber vom Aspekt der kapitalistischen Wertschöpfung her gesehen, verwertbare Arbeit ist, die den Besitzenden dieser Arbeitskraft enteignet wird. Die digitale Transformation hat eine neue Form des Kapitalismus gebracht, jedoch keinen grundsätzlich anderen Kapitalismus. Er hat sich aber intensiviert. Die kapitalistische Logik von Privateigentum, Markt und Profit hat sich nicht verändert. Die Dialektik der Angewiesenheit gilt im Grunde weiter, im Machtverhältnis ist sie aber aus den Fugen geraten. Die für Verantwortung konstitutive Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit ist aufgehoben. Eine sozial entbettete Machtkonstellation wirkt. Der Verlust der Autonomie und die Verwandlung von gegenseitiger Angewiesenheit in einseitige Abhängigkeit sind die Folge. Bisher hat sich noch keine sozial-digitale Idee so ausgebildet, dass sie entsprechende soziale Bewegungen aufladen kann. Auch hier geht es, wie im klassischen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, um Enteignung und Rückgewinnung des Eigenen. Voß spricht vom »Kampf gegen eine überbordende Dominanz der abstraktökonomischen Logik in Gesellschaft und Alltag« und plädiert für eine Verweigerungshaltung bei den Nutzer*innen (ebd.: 18). Ob sich diese individuellen Gegenkräfte zu Milieus verdichten und verstetigen können, bleibt ungewiss. Mehr Erfolg an Widerständigkeit ist zu erwarten, wenn sich regionale Initiativen wie zum Beispiel Projekte der Gemeinwesenökonomie jenseits des kommerziellen Internets di-
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gital vernetzen und damit eigene Verantwortungsstrukturen aufbauen. Ziel dieser digitalen Milieubildung ist es, das Internet zu einem gemeineigenen Gut (Commons; s.o.). zu machen, um so in einen gemeinwohlorientierten Kontrast zu den profitorientierten ›digitalen Monopolisten‹ wie z.B. Google, Facebook oder Amazon treten zu können. Denn deren digitale Ökonomisierung hat die Vision des Internets als Medium eines »modernen weltoffenen Lebens mit dezentralen wirtschaftlichen Strukturen« zerstört, eines Mediums, das von einer gemeinwohlorientierten OpenSource-Philosophie getragen sein sollte (Lange/Santarius 2018: 116ff.). Das bedeutet Netzneutralität, d.h. alle Nutzer*innen haben gleichen Zugang. »Das Internet ›gehört‹ niemandem und gedeiht am besten, wenn keine einzelnen privaten Interessen dominieren« (ebd.: 162). Open Source kann die Gemeinwohlorientierung fördern und vielfältige – gerade auch technologische – Subsistenzarbeit ermöglichen. »Commons, Open Source und kooperative Plattformen widersprechen sich nicht, sondern gehen Hand in Hand. Denn wie bei den Commons tragen auch zu Open Source Anwendungen viele Menschen bei, und viele profitieren davon. Denn solche Technologien sind perfekt geeignet, um in einem Internet als Commons auf kooperativen Plattformen zur gemeinschaftlichen Anwendung zu kommen« (ebd.: 166). Mit dem Aufbau von Funknetzen zu einem autonomen Mesh-Netz, das sich von den Nutzer*innen her aufgebaut und solidarisch betrieben wird, kann das Internet pluralisiert und Wissen zum offenen und öffentlich verantworteten Gemeingut werden. Durch lokale Vernetzungstreffen kann die Milieubildung gleichsam sozial ›geerdet‹ werden. Dies ist möglich, da es sich um kleine regionale Netzwerke mit eigenen Regeln handelt. Es sind Funknetze, in denen mehrere Geräte zu einem Netz verbunden sind. Diese Verbindungen sind direkt, sodass es zu einer peer-to-peerKommunikation unter den nun gleichgestellten Nutzer*innen, die gleichzeitig Betreiber*innen sind, kommen kann. Im Berliner Projekt ›Freifunk‹ heißt es dazu: »Wer über das nötige Know-how verfügt, so die Idee, ist nicht nur fähig, sich seinen Router selbst zu installieren, sondern auch selbstbestimmt und unabhängig von den großen Kommunikationsdienstleistern zu agieren. Freifunk versucht so, Menschen für Kommunikations- und Informationsfreiheit zu sensibilisieren, zur kritischen Reflexion über netzpolitische und netzökonomisches Zusammenhänge anzuregen und damit zur Emanzipation von den vorhandenen ökonomischen Strukturen beizutragen« (Rettschlag 2016: 41).
›Remaskulinisierung‹ zwischen Dominanzversprechen und transpatriarchaler Illusion Als wir Nachhaltigkeit aus dem Gegensatz zwischen Externalisierung und Sorge heraus bestimmt haben, wurden die geschlechtstypischen Konnotationen deutlich, die sich mit beiden Begriffen verbinden: Externalisierung in der Tendenz als eher
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
männlich konnotiert, Sorge mit weiblicher Konnotation. Frauen wird damit eher Zukunftsverantwortung zugetraut, Männer sehen sich in die Nähe der Verantwortungsdiffusion der gar Verantwortungslosigkeit gerückt. Diese Konnotationen sind auch dort, wo man glaubte, die Geschlechterfrage sozialstaatlich reguliert zu haben, wieder aufgebrochen. Die Leipziger Autoritätsstudie (vgl. Decker u.a. 2022) berichtet von einer steigenden Attraktivität aggressiver Männlichkeitsbilder und antifeministischer Strömungen. Gleichzeitig hat sich mit der Globalisierung die Machtthematik hegemonialer Männlichkeit, die lokal befriedet schien, wegen ihrer sozialen Entbettung neu gestellt. Aber auch in der binnengesellschaftlichen Sphäre halten sich, trotz aller Gleichstellungserfolge, männliche Dominanzstrukturen weiter. Erwerbsarbeits-Rolle und männliche Identität gehen in unserer Arbeitsgesellschaft immer noch weitgehend ineinander über. Zwar geben sich die betrieblichen Arbeitsorganisationen geschlechtsneutral, verlangen aber vor allem von den Männern, dass sie in der Arbeit aufgehen und Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbst lösen. Die Produktionsstruktur ist auf Konkurrenz, Wachstum und Beschleunigung gepolt, es darf kein Leer- und Stillstand eintreten. Die Arbeitsorganisation und Arbeitskultur spiegeln diese Prinzipien. Man spricht von »gendered orgnisations«, in denen männliche Prinzipien der Kommunikation, Durchsetzung und Kontrolle vorherrschen, denen sich auch Frauen unterordnen. Unter diesen weiter herrschenden Bedingungen ist Männlichkeit zwar flexibler geworden; aber in den beiden repräsentativen Replikationsstudien, der deutschen von 2009 (vgl. Volz/ Zulehner) und der österreichischen von 2012 (vgl. BMASK 2014) zeigte sich, dass die Einstellungen der Männer im Mehrheitsbereich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Österreich relativ resistent geblieben sind. Der Mehrheitstypus des pragmatischen bis suchenden Mannes überwiegt deutlich. Der moderne Mann ist der modularisierte Mann, der sich in unterschiedlichen Lebensbereichen sozial und im Geschlechterverhältnis entgegenkommend, oder eben anpassend bis strategisch verhält, sich aber auch seiner männlichen Identität bis hin zur Maskulinität weiter versichert und sie in selbstgesuchten Zonen und Nischen immer wieder ›aufzuladen‹ versucht. Mit den im Zuge der Globalisierung aufkommenden »Transpatriarchien«, die ihre Schatten bis in die sozialstaatlich verfassten Gesellschaften werfen, hat die Geschlechterfrage gerade für den Nachhaltigkeits- und Verantwortungsdiskurs eine neue Dimension erreicht. Der Begriff Transpatriarchie wurde von Jeff Hearn (2009) eingeführt. Er soll das transnationale Managertum bezeichnen, dessen meist männliche Vertreter international mobil und dominant sind. Die mit der Globalisierung sich verselbstständigenden multinationalen Konzerne haben ein lokal entbettetes Gender-Regime aufgebaut, das von Rasse und Nationalität abgehoben durch einen männlichen Code zusammengehalten wird. Trotz der Skepsis, dass diese neuen hegemonialen Männlichkeitsmuster zu Leitbildern des alltäglichen
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Mann-Seins werden könnten, finden wir entsprechende Vermittlungskulturen. Die transpatriarchale Strukturierung ist ein Phänomen, das dem sozial gebundenen Alltag gleichzeitig entrückt und trotzdem in ihn vermittelt ist. Während eines Vortrages im November 2003 in der Technischen Universität Dresden legte der renommierte australische Männerforscher Robert (inzwischen Raewyn) Connell ein Bild auf, auf dem drei Manager eines internationalen Finanzkonzerns zu sehen waren. Der eine war asiatischer, der zweite afrikanischer und der dritte europäischer Abstammung. Das Gruppenbild sollte symbolisieren, dass transnationale Korporationen eben dieses lokal entbettete Gender-Regime aufbauen, das jenseits von Rasse und Nationalität durch einen männlichen Code zusammengehalten wird. Der neue Männerbund der Global Player hat die Kultur der internationalen Beziehungen in Wirtschaft und Politik okkupiert. Wichtig ist dabei wieder der zentrale Aspekt der sozialen Entbettung, der diese Prozesse kennzeichnet: Globalisierte Männlichkeit kann sich so den ›local pressures‹ entziehen. Das Prinzip der Externalisierung findet hier seinen augenfälligsten Ausdruck. Das Auseinanderklaffen von männlich konnotiertem ökonomischen System und lebensweltlicher Dekonstruktion männlicher Dominanz hat in der globalisierten Welt der Zweiten Moderne eine neue Qualität erhalten. Es verweist auf ein gesellschaftliches Magnetfeld, in dem sich zwar ein bisher nie gekannter Pluralismus der Geschlechterbeziehungen streut, dessen Grundkräfte aber nicht mehr aus der bisherigen Geschlechterperspektive fassbar sind. Denn männliche Macht scheint sich zunehmend in Sphären zu verlagern, die sich den sozialen Beziehungen entziehen und damit ihre Legitimation nicht mehr begründen müssen: in die Sphären sozial entbetteter Technologie und Ökonomie. Verkörpert wird diese hegemoniale Männlichkeit durch entsprechende Leitfiguren in den weltweit operierenden transnationalen Konzernen, Technologie- und Finanzzentren. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass es sich hier mehrheitlich um Männer handelt, die dort führende Positionen einnehmen, sondern dass das Prinzip der Externalisierung, das in unserer Kultur als Ausdruck männlichen Denkens und Handelns gilt, weiter und wieder neu als Leitprinzip einer transnationalen Erfolgskultur wirksam wird. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich durchaus auch eine politische Spaltung ab: Während in den sozial gebundenen, national- und sozialstaatlich strukturierten Politikbereichen weiter nach der Vereinbarkeit von Politik, Ökonomie und Sozialem gesucht wird, agieren die global ausgerichteten transnationalen Konzerne sozial ungebunden nach hegemonialen Prinzipien des Marktzwangs und des Durchsetzungserfolgs der Machbarkeit. Obwohl Gewalt ausgeübt wird, versteckt sie sich hinter dem Legitimationsmodell der »marketplace manhood«, der ökonomischrational kalkulierenden und regulierenden Männlichkeit (Connell 1995). Hegemoniale Männlichkeit geht in der Ideologie des ökonomischen, sozial entbetteten Sachzwangs auf. Dennoch wirken diese männlich-hegemonialen Formierungen im Globalen in ihrer Symbolkraft auf die Alltagswelt der Männer zurück. Glo-
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
balisierte Männlichkeitskulturen – zum Beispiel die maskulinen Erfolgskulturen in den transnationalen Konzernen des Profifußballs oder der Formel-1 – haben inzwischen enorme Rückstrahlkraft auf den Männeralltag bekommen, sodass man durchaus von einer Komplizenschaft von Männern sprechen kann, die zwar nie den Status der Bewunderten erreichen können, dies aber keinesfalls problematisieren. Vor Jahren noch hatte man den Formel-1-Rennen das ökologisch zwangsläufige Ende prophezeit. Inzwischen hat sich die Anzahl der internationalen Rennstrecken vervielfacht und an den Wochenende strömen tausende von Männern zum Nürburg-Ring und zu anderen Ringen, um ihre im Alltag verwehrte oder verpönte Maskulinität zeigen und demonstrieren zu können. Transnationale Wirtschaftsprozesse und Machtkonzentrationen entwickeln sich vor allem digitalisiert in virtuellen Räumen. Diese virtuelle »Technomaskulinität« (vgl. Bell 2013) überformt traditionale männliche Machtstrukturen, lässt sie überholt erscheinen, auch wenn sie weiter wirken. Zwar finden wir in den transnationalen Führungsstrukturen auch neue kommunikative Kernkompetenzen (Erzeugung von ›commitment‹), die von traditionalen patriarchalen Führungsstilen abweichen, damit ist aber wohl keine Abkehr von männlichen Dominanzstrukturen verbunden (vgl. Lengersdorf 2016: 77). Entscheidend für die Herausbildung von Transpatriarchien scheint uns ihre soziale Entbettung und das damit verbundene Ungehemmte der Externalisierung zu sein. Mit der sozialen Entbettung transnationaler männlicher Machtstrukturen wird auch die Frage nach der Verantwortung virulent. Denn im globalen Eigenleben des Geldkapitals hat sich eine strukturelle ökonomische Verantwortungslosigkeit entwickelt. Es wurde oben schon auf Studien verwiesen, die zeigen dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen regionaler Bindung und sozialer Verantwortung und zwischen globaler Entbettung und sozialer Verantwortungslosigkeit gibt. Der Konflikt zwischen Grenzenlosigkeit und Begrenzung lässt sich nicht nur über den Wachstumsdiskurs thematisieren. Der neue Kapitalismus, der auch der digitale genannt wird, weil seine Ökonomie auf historische Entwicklungen und soziale Bindungen keine Rücksicht nimmt, sondern ständig externalisiert und Innehalten denunziert, hat die Externalisierung erst recht zum allgemeinen Strukturprinzip gemacht. Im Genderdiskurs wird dementsprechend zuweilen die Prognose kolportiert, die Männer würden in Zukunft die sozial entbettete globalisierte Sphäre, die Frauen die sozial gebundenen Terrains dominieren. Ralf Dahrendorf (1997) hat schon in den 1990er-Jahren die sozialen Folgen der Globalisierung dahingehend thematisiert, dass er das 21. Jahrhundert als ein autoritäres prognostizierte. Autoritäre Charaktere zeichnen sich durch die Leugnung der Komplexität und Pluralität von Gesellschaft und durch die Kultivierung und Demonstration von Überlegenheitsgefühlen bei Unterwerfung und Abwertung anderer aus. Die Nähe zu maskulinen Dominanzmustern ist deutlich. Die rechtspopulistisch-regressiven Strömun-
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gen der Gegenwart zeigen solche Züge. Dass sich vor allem nun die sozial Unterlegenen gegen die demokratisch-sozialstaatlichen Institutionen auflehnen, populistischen Verächtlichmachungen folgen, hat verschiedene Gründe. So hat die Globalisierung die nationalen Sozialstaaten geschwächt, viele Menschen fühlen sich nun sozial abhängig und wenden ihre Angst gegen den Sozialstaat und seine institutionellen Repräsentationen, die in ihren Augen für diese Abhängigkeit verantwortlich sind. Die Suche nach Stärke und Eindeutigkeit lässt maskulin-autoritäre Einstellungen und damit Tendenzen der politischen Remaskulinisierung wieder aufleben. Auch bislang verdeckte Gegenströmungen zur scheinbar erreichten Geschlechterdemokratie werden hochgespült. Zwar gibt es inzwischen Frauen in den höchsten politischen Ämtern, aber es wird von ihnen erwartet, dass sie sich in die männliche Logik der Politik einfügen. Mit der ›Eingrenzung‹ der Flüchtlingsfrage in den späten 2010er Jahren und der damit verbundenen zunehmenden Schließung der nationalen Gesellschaften ist auch in Europa wieder eine Tendenz der Sorgeabwehr in der Politik und in der öffentlichen Diskussion zu beobachten. Verstärkt wird dies durch eine sicherheitspolitische Schließung des gesellschaftlichen Diskurses seit Beginn der globalen Thematisierung der Terrorismusgefahr und dem UkraineKrieg. Der internationale Terrorismus tritt maskulin-aggressiv auf und provoziert einen maskulin-aggressiven Sicherheitsdiskurs als Gegendiskurs. Für die nächsten Jahre ist unseres Erachtens ein weltweiter Prozess absehbar, in dem sich hegemonial-aggressive Männlichkeiten immer wieder formieren. Auf der einen Seite wird in den sozialstaatlichen Gesellschaften des Westens das politische und kulturelle Streben nach Geschlechterdemokratie und Gleichstellung weiter forciert werden, gleichzeitig aber üben internationale Krisen und Kriege einen Druck der Remaskulinisierung aus, der die sozialstaatlichen Sphären zu diffundieren droht. Die Welt teilt sich in eine männlich-pazifizierte und eine maskulin-aggressive Hemisphäre. Einerseits ist Männlichkeit dekonstruieret, andererseits bricht sie in gesellschaftlichen Krisenzeiten als Maskulinität stärker auf, als wir befürchten konnten. Sie ist eben keine Restgröße der früheren patriarchalischen Gesellschaft, es handelt sich auch nicht um eine Retraditionalisierung von Männlichkeit. Auch der Verweis auf die postmoderne ›Sowohl-als-auch-Gesellschaft‹ greift zu kurz. Zu sehr wirken die globalen Entgrenzungen in die sozialstaatlichen Schutzzonen hinein. Zudem tragen die weltweiten Vermittlungskulturen der Profisport-, Werbe- und Kommunikationsindustrie die neuen maskulinen Bilder als Aufforderungen in die Lebenswelten. Was sich in den bisherigen Argumentationen immer wieder angedeutet hat, tritt hier deutlich hervor: die Geschlechterfrage – vor allem die zukünftige Entwicklung von Männlichkeit – ist in den Mittelpunkt der Nachhaltigkeitsfrage gerückt. ›Demaskulinisierung‹ ist deshalb ein soziales und pädagogisches Zukunftsprojekt, das auch in unseren sozialstaatlichen Gesellschaften trotz rechtlicher Gleichstellungsregelungen weiter dringlich ist. Der Begriff ›Maskulinität‹ bezeichnet in diesem Zusammenhang eine nach Dominanz strebende und
Teil III: Entgrenzung und Entbettung – Verantwortung für die Zukunft des Menschen
darin aggressive Männlichkeit. Solange ökonomische Externalisierung und diese Maskulinität so miteinander verschränkt sind, muss man befürchten, dass sozialstaatliche Regelungen immer wieder unterlaufen werden. ›Demaskulinisierung‹ ist deshalb auch ein antikapitalistisches Projekt. Soziale Verantwortung war in der Sozialgeschichte männlich konnotiert. Während die Frauen an das Innen der Familie und des Haushalts gebunden sein sollten, war die Verantwortung für die Familie nach außen dem Mann und Vater zugedacht. Das verlängerte sich in die gesellschaftliche und politische Sphäre. Diese männliche Verantwortung ist immer wieder durch Kriege und männliches Machtstreben korrumpiert worden. Angesichts der gegenwärtigen Tendenzen der Remaskulinisierung muss die männliche Verantwortungsfrage nach innen gedreht werden, d.h. Männer sollten Verantwortung für sich selbst übernehmen. Eine solche reflexive Männlichkeit ist nicht zuletzt eine Bildungsaufgabe für die Zukunft.
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Auch eine Pädagogik der Verantwortung kann in der Sphäre der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit und in der Sphäre der Verletzlichkeit entwickelt werden. Es ist zum einen die Spannung zwischen Selbstbestimmung und Vergemeinschaftung, mit dem Bildungsziel der Mündigkeit, in dem Verantwortung freigesetzt ist und das die pädagogischen Institutionen herausfordert. Zum anderen die Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen, aber auch im Verhältnis des Menschen zur Natur, die besondere pädagogische Beziehungen und darin entsprechende Verantwortungsformen braucht. Es sind Spannungsverhältnisse, die konflikthaltig sind, sodass die Anerkennung und Austragung von Konflikten ein Kernbereich der Pädagogik der Verantwortung ist.
Zur Geschichte des Verantwortungsbegriffs in der Pädagogik Für die Pädagogik ist die Modernisierung des Verantwortungsbegriffs entscheidend. »Der Verantwortungsbegriff steigt im 20. Jahrhundert zu einer ethischen Schlüsselkategorie auf […]. Er wird zu einem der Grundwerte unserer Sprache und ersetzt den eher engen und starren Begriff der Pflicht […]. Die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Systeme […] erfordert einen offenen ethischen Leitbegriff« (Banzhaf 2017: 150). Verantwortung ist darin auch zu einer sozial interaktiven und gesellschaftlichen Relation geworden, in der die im modernen System der Arbeitsteilung komplexer gewordene gegenseitige Abhängigkeit der Menschen in multiple Verbindlichkeiten gewendet ist. Soziale Verantwortung galt von nun an als Kitt für die Bildung von Gemeinschaft und Gemeinwohl. »Im Unterschied zum klassischen Pflichtbegriff bezieht sich die Verantwortung eines Akteurs nicht nur auf die Einhaltung einer Norm oder Regel, sondern auch auf die Berücksichtigung der Folgen, die sich aus der Umsetzung einer Norm oder Regel ergeben […]. Es ist deshalb verkürzt, Verantwortung allein als Verpflichtung zu definieren, da das Einstehen für Handlungsfolgen über die Einhaltung ethischer oder rechtlicher Pflichten hinausgehen kann. Während Pflichten einen relativ klar bestimmten Bereich normativer Handlungsanforderungen eingrenzen, können Verantwort-
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Verantwortung – Soziologische und pädagogische Perspektiven
lichkeiten auf nicht eindeutig festgelegten Handlungserwartungen beruhen, die den Bereich des ethisch und rechtlich Obligatorischen erweitern […]. Damit gerät der Begriff der Verantwortung von vornherein in ein Spannungsverhältnis von regelkonformen Verhalten und freiwilliger Selbstbindung« (Heidbrink 2017: 5). Dass die Erlangung von Selbstverantwortung als Selbstbestimmung als dialektischer Prozess verstanden werden muss, hat schon Eberhard Grisebach in »Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung« (1924) betont. Verantwortung basiere auf Gegenseitigkeit und auch Gegensatz und damit Konflikt, sie kann nicht nur aus dem Selbst entstehen. Mit dieser dialektischen Perspektive setzte er sich von der damals herrschenden normativen Pädagogik ab, die die Verantwortung des Pädagogen in der beanspruchten gesellschaftlichen Autonomie der Pädagogik begründet sah. Dieser Autonomieanspruch wird später von Klaus Mollenhauer (1968) unter Ideologieverdacht gestellt. Verantwortung könne nicht als Leitziel (vor)gesetzt werden, sondern müsse erziehungspraktisch in diskursiven Aushandlungsprozessen eingeübt werden. Das macht Verantwortung zur Schlüsselkategorie der demokratischen Schulreform. Carl Mennicke war wohl derjenige, der Verantwortung als einen solchen pädagogischen Strukturbegriff erkannt hat. Der Begriff der Verantwortung zieht sich durch sein gesamtes Werk. »Die menschliche Natur kann sich nur ganz entfalten, wenn sie getragen und geführt wird durch die Kraft der Verantwortlichkeit, die den Teil im Zusammenhang mit der verwirklichten Einheit des Ganzen, d.h. mit dem Reich der Freiheit sieht. Wo dieser Zusammenhang auch nur im geringsten aufgegeben wird, ist das Vorherrschen von menschlicher Willkür und damit Verwahrlosung und Unterdrückung ja sogar Ausrottung und Vernichtung von vielleicht wertvollen, natürlichen Qualitäten und Gegebenheiten unvermeidlich […]. Wo jedoch Verantwortungsbewußtsein in dem hier beschriebenen synthetischen Sinn des Wortes gefördert wird, geschieht das Einfügen in die gegebene Ordnung keinesfalls mehr bedingungslos. Die Kraft der Verantwortung, die hier gemeint ist, trägt die Tendenz zu einer höheren Bildung des Gemeinschaftslebens in sich. Hier ist also immer ein Element der Selbstständigkeit im Spiel, das dafür sorgt, daß der Mensch auch von den gegebenen Umständen Abstand nehmen und nach einer Mitarbeit an einer verbesserten Gestaltung des Gegenwärtigen streben kann. Doch kann hier auf der anderen Seite nie von einer abstrakten revolutionären Haltung die Rede sein. Denn synthetische Gemeinschaft als Fassung weiß, daß die höhere (freiere) Form der Gemeinschaft nur durch höher entwickelte Verantwortungskräfte durchgeführt werden kann« (Mennicke 1937/2001: 186f.). In dieser Argumentation sind alle Elemente enthalten, die Mennickes Paradigma der sozialen Verantwortung ausmachen. Zum einen ein transzendentales, ethisches Verständnis von Verantwortung, dem Hans Jonas »Prinzip der Verantwortung« (1975) später am ehesten entgegenkommt: Verantwortung gegenüber der Natur des Menschen und darin seiner Existenz und Würde als Kern menschlicher Identität
Teil IV: Pädagogik der Verantwortung
und damit allen Menschen zugehörig. Des Weiteren: Verantwortung als relationale Größe, die immer im gesamten Zusammenhang des Sozialen gedacht werden muss, nur so zur Gemeinschaftsbildung führen kann. Verantwortung ist bei ihm schließlich ein Struktur- und Ordnungsbegriff, mit dem soziale und pädagogische Entwicklungen initiiert und bewertet werden können. Darin schließlich ist Verantwortung Agens einer sozialen Gestaltung, die über die gegebenen sozialen Verhältnisse hinausgeht. Verantwortlichkeit wird in diesem Kosmos zu einer lebensbestimmenden Haltung. Unter dem Begriff »sozialistische Lebensgestaltung« versteht er in diesem Zusammenhang eine Haltung der Verantwortlichkeit, die sich auf sich selbst, das familiäre Umfeld, die weitere Gruppenzugehörigkeit und die Arbeitswelt bezieht. Er erweitert das auf gesellschaftsnahe genossenschaftliche Zusammenhänge, in denen die personale Verantwortlichkeit in der Gegenseitigkeit zu einer personal übergeordneten Struktur werden kann. In dieser Gegenseitigkeit erkennen die Beteiligten den Gestaltungscharakter ihrer Beziehungen auch in einer immer noch kapitalistischen Gesellschaft. Mennicke bezeichnet das als »Vergegenwärtigung« der sozialistischen Perspektive in der eigenen Lebenspraxis (s. o,). Sie gilt ihm als Voraussetzung dafür, dass die Motivation zur Beteiligung am Aufbau einer neuen Gesellschaft in das eigene Lebensgefühl eingeht. Das Konzept der Vergegenwärtigung der Verantwortung für die Zukunft ist heute gerade für die Jugendpädagogik wichtig. Der pädagogische Verantwortungsdiskurs erhielt in den 1980er Jahren mit dem Begriff der advokatorischen Ethik einen weiteren Akzent. »Im vormundschaftlichen, advokatorischen Handeln handeln wir, die wir Personen sind, anstelle anderer Menschen, die den Zustand, eine Person zu sein das heißt sich selbstbewusst und verantwortlich verhalten zu können, noch nicht oder nicht mehr besitzen. Pädagogisch ist solch advokatorisches Handeln dann, wenn es um die Herstellung von Personalität bzw. Mündigkeit geht; caritativ, wenn keinerlei Chancen mehr bestehen, dass die hilfebedürftigen Menschen jemals den Zustand der Personalität erreichen werden« (Brumlik 1992: 164f.). Hier ist die Dimension der Gegenseitigkeit aufgrund der gedachten Schwere der Beeinträchtigung einer besonders adressierten Klientel zurückgestellt. In den 1990er Jahren ist die Verantwortungskategorie der Parteilichkeit zu einer Maxime pädagogischen Handelns aufgestiegen. Sie hat ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung und war von der Frauenbewegung mit neuer Zielrichtung aufgenommen worden. Sie wendet sich gegen die defizitären Zuschreibungen und Abhängigkeitsverhältnisse, unter denen Frauen und Mädchen leiden. Parteilichkeit als kritische Praxis bedeutet, ein Konfliktfeld aufzuschließen, das gesellschaftlich stillgestellt ist, weil es gesellschaftlich übergangen wurde und deshalb kein öffentlicher Raum dafür da war. Dieser Raum ist durch die autonomen Mädchen- und Frauenprojekte Schritt für Schritt aufgebaut und in einzelne Praxisfelder hineingetragen worden.
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Seit den 1970er Jahren ist der pädagogische Verantwortungsdiskurs im Zeichen der Öffnung und Demokratisierung der Schulen in Deutschland neu belebt worden. Eine wichtige Rolle hat dabei die Just-Community Bewegung gespielt, die die Schule hin zum Ort des auch sozialen Lernens und der sozialen Verantwortung erweitern will (s.u.). Auch die Öffnung der Schulen in die Gemeinden hinein mit eigenen sozialen Projekten haben diesen Trend begünstigt. Wieder wird Verantwortung zur Drehscheibe der Schulreform. Die Schüler*innen werden als Bürger*innen sichtbar, die Schule als bürgergesellschaftlicher Ort. Deutlich geworden ist in dieser neueren Entwicklung auch, dass Verantwortung – ähnlich wie damals bei Mennicke – als pädagogische Grundnorm erkannt wird, von der aus sich auch andere pädagogische Werte formulieren lassen. Mit dem 11. Jugendbericht (BMSFJ 2002) ist der Begriff der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in den pädagogischen Verantwortungsdiskurs gekommen. Der darin enthaltene Konflikt zwischen tradierter elterlicher Verantwortung und diesem öffentlichen Anspruch führte zu einer Klärung dahingehend, dass es sich nicht um einen staatlichen Erziehungsanspruch handelt, sondern um die Verantwortung des Sozialstaats für eine Infrastruktur, die elterliches Erziehungsverhalten fördern kann. Wir haben beschrieben, wie mit der Skandalisierung der Klimakrise und der Naturzerstörung seit den 2010er Jahren der Verantwortungsdiskurs ein globales Ausmaß erreicht hat. Die Verantwortung für die Zukunft der menschlichen Existenz im Einklang mit der Natur ist in den Mittelpunkt internationaler Verständigung gerückt und damit auch der Konflikt zwischen ökonomischem Wachstumshype und der Sorge um die Erhaltung der Grundlagen des Menschseins in der Zukunft. Die Grundtatsache der menschlichen Verletzlichkeit geht nun auch in die Pädagogik des Kindes- und Jugendalters ein. Die politischen Prinzipien dieses globalen Diskurses sind auch zu verantwortungspädagogischen Prinzipien geworden. Das Aufbrechen des im Nachhaltigkeitsproblem schwelenden Konflikts zwischen Externalisierung und Sorge setzt auch den schulpolitischen Konflikt zwischen ökonomisch verwertbarer und mündigkeitsorientierter Bildung immer wieder frei.
Das Vier Kreise Modell Die Pädagogik der Verantwortung lässt sich in einem Vier-Kreise-Modell darstellen. Im äußeren Kreis der Ethik und Transzendenz ist das Prinzip der Menschenwürde und der Menschenrechte aufgehoben, das von der Kindheit an gilt. Weiter das Prinzip der sozialen Freiheit, in dem die Pädagogik in ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft gesetzt ist. Der zweite Kreis nach innen ist der gesellschaftliche Kreis, in dem die öffentliche Verantwortung der Pädagogik als Erziehung zu Gerechtigkeit und demokratischen Mündigkeit thematisiert wird. Den dritten Kreis nach innen bezeichnen wir als den Kreis der verantwortlichen Interaktio-
Teil IV: Pädagogik der Verantwortung
nen, also der gegenseitigen Verantwortlichkeit, in dem Verantwortung als dialogische Kategorie und darin als Struktur der pädagogischen Handlungsfelder begriffen wird. Der innere vierte Kreis schließlich ist der Kreis der Selbstverantwortung und Selbstsorge. Im äußeren Kreis der Ethik gilt, dass Verantwortung einen moralischen Bezug braucht. Für den Pädagogen Mennicke hat das ethische Bewusstsein die zentrale Bedeutung in seinem Konzept von Gemeinschaft und Verantwortung. »Das eigentlich Kennzeichnende des menschlichen Wesens liegt im ethischen Bewußtsein. D.h. in der Einsicht, daß der Mensch in seinem Verhalten nicht absolut abhängig ist von seinen Trieben und Affekten, sondern daß er in der Lage ist, diese zugunsten der höheren ethischen Berufung, die in seinem Wesen verborgen liegt, zu beherrschen und zu sublimieren. Und diese höhere Berufung besteht darin, daß dieser ›eigene Wert‹ […] und die Achtung davor alle Verhältnisse der Menschen zueinander bestimmen […]. Die Achtung vor dem eigenen Wert der menschlichen Persönlichkeit schließt ein, daß der Mensch erst durch die Gemeinschaft sein ethisches Wesen gänzlich entwickeln kann, aber daß diese Gemeinschaft erst dann eine wirkliche menschliche Gemeinschaft ist, wenn ihr organisatorischer Grundsatz die Freiheit ist« (Mennicke 1937/2001: 68). Das kommt Hans Jonas’ »Prinzip Verantwortung« nahe, der mit dem Gebot der Erhaltung der menschlichen Existenz und Würde ein ontologisches Axiom aufgestellt hat. Das ethische Dispositiv ist also im MenschSein, in der Menschenwürde angelegt. Aber es reicht nicht aus, um Gesellschaft verantwortlich zu gestalten. Dazu bedarf es auch und damit verbunden der Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Ethische und sozialstrukturelle Faktoren müssen zusammenwirken, um das Prinzip Verantwortung als soziales Gestaltungsprinzip zur Wirkung bringen zu können. Bei Mennicke geschieht dies in der Zusammenschau von materialistischem und idealistischem Denken. Dem können wir auch heute noch folgen, indem wir Freiheit und Menschenwürde in der Synthese der sozialen Freiheit – in der Spannung von individueller Freiheit und Bindung an das Gemeinwohl – als ethischen Verantwortungskreis der Pädagogik begreifen. Diese ›Metaverantwortung‹ sucht ihren sozialen Anker im Prinzip der Gerechtigkeit, das sowohl Norm als auch Struktur pädagogischen Handelns sein soll. Damit sind wir schon im gesellschaftlichen Kreis. In ihm erscheint die Gesellschaft als Verantwortungsgesellschaft. Darin legitimiert der Staat seine öffentliche Verantwortung. Diese besteht vor allem darin, Infrastruktur in den Bereichen der Erziehung und Bildung und der sozialen Hilfen bereitzustellen und für soziale, ökologische und Geschlechter-Gerechtigkeit politisch einzustehen. Die öffentliche Verantwortung der Bildung und Sorge ist in die Verfassung des demokratischen Sozialstaat eingeschrieben und findet sich in den Bildungs- und Erziehungszielen der verschiedenen Schulformen wieder. Dabei gilt Verantwortung selbst als zentrales Bildungsziel. Der gesellschaftliche Kreis der ist durch den Konflikt zwischen ökonomischer Verwertung und Mündigkeit bestimmt. In diesem Spannungsfeld bewegt
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ich auch der pädagogische Verantwortungsdiskurs. Verantwortung entwickelt sich vor dem Hintergrund der Anerkennung und Austragung von Konflikten. Dies führt uns in den dritten Kreis, den inneren Kreis der pädagogischen Interaktionen. Dieser ist wieder durch die interaktive Spannung von individueller Freiheit und Gemeinschaft gekennzeichnet. Es ist der Kreis der dialogischen Verantwortung, welche die sozialen Beziehungen und Aktivitäten und damit auch die pädagogischen Prozesse strukturiert: Verantwortung als Antwort auf den Anspruch der anderen und ihre Verletzlichkeit. Pädagogisches Handeln im Pädagogischen Bezug und in der Gruppe geschieht hier im Zeichen von Empathie und Respekt. Erst in Gruppenprozessen kann sich gemeinsame Verantwortung in der Erfahrung des Aufeinander-angewiesen-Seins entwickeln. Den innersten Kreis des Modells bildet schließlich die Selbstverantwortung als Selbstsorge. Damit ist nicht die Selbstverantwortung gemeint, die die neoliberale Ökonomie den Menschen zumutet, indem sie die Risiken der kapitalistischen Arbeits- und Marktorganisation selbst tragen lässt, ihren psychosozialen Problemen gegenüber aber gleichgültig bleibt. Es geht vielmehr um das Prinzip der Selbstsorge, des Zugangs zu sich selbst, wie es von Michel Foucault (1989) entwickelt wurde. Verantwortung als Sorge um sich selbst ist demnach Voraussetzung für die Sorge und darin die Verantwortung für andere. Deshalb spielt in diesem Konzept auch die Gemeinschaft eine wichtige Rolle. In der Erziehung zur Gemeinschaft ist auch die Aufforderung zur Selbstsorge enthalten.
Verantwortung als Generationenfrage In den 1920er Jahren war das traditionale hierarchische Verantwortungsverhältnis der älteren gegenüber der jungen Generation aufgebrochen. In seiner erstmals 1926 erschienen Schrift »Das Problem der Generationen« (1965) postulierte der Soziologe Karl Mannheim, dass die Freisetzung der Jugend aus den traditionellen Milieus, wie sie auch Mennicke beobachtet hatte, die junge Generation zur gleichsam generationsformierenden Kraft werden ließ. Danach ist die Jugend nicht mehr in dem traditionellen Generationenmilieu gefangen, sondern tritt jeweils neu in die bestehende Kultur ein und kann sich deshalb oft gleichgültig bis abwehrend gegenüber den überkommenen Traditionen verhalten. Das wurde und wird der Jugend immer wieder als besondere Verantwortungslosigkeit zugelastet. Sie ist aber in dieser Generationenperspektive – wie Mannheim in einer späteren Schrift (1952) weiter ausführt – grundsätzlich zum Neuen bereit: Wie dieses Neue allerdings ausfällt, ob es nun in sozial aktiver oder sozial abweichender Gestalt auftritt, hängt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab; vor allem vom jeweiligen Verhältnis der gesellschaftlich herrschenden Kräfte zum sozialen Wandel und sozialen Konflikt und der Bereitschaft, das Neue und damit Konflikthafte in der Jugend anzuerken-
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nen. Das historisch Neue, die Zeitdimension – nicht die inhaltlichen Ausformungen – macht also den Generationstypus Jugend aus. Die Jugend wird so – aktiv oder passiv – zum Kristallisationspunkt des Zeitverständnisses. In den periodischen Jugendprotesten der letzten hundert Jahre ist immer auch ein besonderes, weil spontanes und darin entwicklungsbedingtes Aufbegehren gegen den gesellschaftliche Status Quo aufgebrochen. Man kann dies in der Wirkung durchaus als ›ungewollte‹ Verantwortung für die Gesellschaft deuten. Schon die erste Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts wollte sich der Abhängigkeit von der autoritären Gesellschaft entziehen und nicht nur ihre Freiheit, sondern auch den gesellschaftlichen Wandel über die soziale Idee einer selbstbestimmten Jugend erreichen. Aber schon in den 1920er Jahren wurde über eine verantwortungslose ›amerikanisierte‹ Konsumjugend geklagt. Viele Jahre später aber waren es die Jugendproteste der 1960er und 1970er Jahre, die auch antikapitalistisch durchwirkt waren und die heute als Initialzündung demokratischer Modernisierung gewertet werden. Gerade unter dem Modernisierungsdruck der damaligen Zeit und dem offensichtlich gewordenen Mangel an entsprechendem Humankapital wurde der industriekapitalistischen Gesellschaft ihre Angewiesenheit auf die Jugend vor Augen geführt. Diese wiederum verkörperte sich in ihren Protesten als neue soziale Idee, die die Gesellschaft aufnehmen musste, auch wenn sie sich in den gegebenen Machtverhältnissen dagegen sperrte. Die soziale Idee Jugend sickerte als Prinzip der Enthierarchisierung und Mitbestimmung in die gesellschaftlichen Institutionen ein. In diesem Zusammenspiel zwischen adoleszentem Eigensinn und Dringlichkeit der Reform wird die junge Generation als ›nicht erkannte Generation der Verantwortung‹ deutlich. Seit den 1990er Jahren wurde eher von der Risikogruppe Jugend als von der jungen Generation als Potenzial der Zukunftsentwicklung der Gesellschaft gesprochen. Wieder geisterte das Bild von der ›verantwortungslosen Jugend‹ durch die Medien. Und inzwischen scheint der neue Kapitalismus die Jugend vereinnahmt zu haben. In den letzten Jahren wird von einer neuen Generation der 16- bis 25-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesprochen, die den Spagat zwischen dem Aufgehen in der Arbeit und dem Sich-Entfalten in Familie, Freizeit und Konsum zukunftsoptimistisch bringen will. Sie möchten mit ihrem relativ hohen Bildungsstand einen guten, sinnvollen Beruf erreichen, aber nicht in einen Karrierestress geraten, sondern genug Zeit und Energie für Freizeit und Familie haben. Eigenes Wohlbefinden steht an erster Stelle. Sie haben sich an die neuen Formen der Arbeitsorganisation gewöhnt, an die befristeten Projektverträge und Zeiten prekärer Beschäftigung und warten geduldig aber durchsetzungsorientiert auf ihre Chance, sich in der Berufswelt einen Platz zu erobern. Von da aus gesehen stellt diese ›Generation Y‹ den Sozialisationstyp des neuen Kapitalismus dar. Da ist nur ein Haken dabei: Die jungen Leute sollen im ›flow‹ einer Arbeitsorganisation aufgehen, deren Risiken sie oft selbst tragen müssen. Wie sie die Balance zum Privaten hin
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finden, bleibt ihnen weiter selbst überlassen. Also doch wieder ökonomische Verfügbarkeit, nun aber in vermeintlicher Eigenregie als ›Eigenverantwortung‹. Diese Einstellung bekommen nun auch schon die Schulen zu spüren. Schüler*innen dieses neuen Sozialisationstyps lernen – glaubt man der neueren Jugendforschung – nur noch ›egotaktisch‹: Sie sehen die Schule als pädagogische Dienstleistungsanstalt und huldigen einem Kosten-Nutzen-Denken. Im Vordergrund steht ein Bewältigungsmuster, in das sowohl junge Männer als auch junge Frauen hineinwachsen. Es ist ein Typ der Externalisierung, des flexiblen ›Sich-Durchsetzens‹, auf den hin vor allem Teile der Gymnasialjugend sich bewegen. Dieser Jugendtypus neuer Selbstständigkeit, der vor allem durch den souveränen Zugang zur digitalen Welt gekennzeichnet wird, dennoch aber eine starke Bindung an die Familie sucht, wird wohl die Jugend auch auf mittlere Sicht (›Generation Z‹) prägen. Wird sie – um mit Mennicke zu sprechen – in der Gleichgültigkeit des Kapitalismus gegenüber den sozialen Problemen aufgehen? Gleichzeitig ist aber die soziale Idee Jugend als widerständiger Generationsdruck bei vielen jungen Leuten auch heute noch und wieder gesellschaftlich aufgebrochen – in den sozialen Bewegungen, aber inzwischen auch im Alltag der Schülerdemonstrationen zur Klima- und Nachhaltigkeitsfrage. Jugendliche entdecken und spüren auf einmal, dass die Zukunft ihre Zukunft ist und auch in ihrer Verantwortung liegt. Vielleicht zeichnet sich hier eine Umpolung der Generationenfrage als Verantwortungsfrage ab?
Gruppe und Verantwortung In der Gruppe sah schon Carl Mennicke die zentrale Sozialform des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Von da aus eröffnen sich drei Bezüge, welche die gemeinschaftliche Substanz der sozialen Gruppe ausmachen: das Zusammenleben, die gegenseitige Verantwortung und die Bildung des moralischen Bewusstseins. Sie sind gleichsam in einer Art Wirkungskette in dieser Triade miteinander verbunden. Verantwortung strukturiert das Zusammenleben und ist damit der Grundstein für die Entwicklung moralischen Bewusstseins, Zusammenleben ist für Mennicke ein Mitleben. Daraus erwächst für ihn Verantwortung in der Gegenseitigkeit und darin die moralische Gruppennorm der Freiheit des Einzelnen in der Spannung zur Gemeinschaft als Grundtatsache von Gerechtigkeit. Mennicke hat hier einen genuin pädagogischen Zugang zu Verantwortung geschaffen. Natürlich ist man sich heute der Bedeutung der Gruppe im pädagogischen Feld wesentlich intensiver und differenzierter bewusst als in der damaligen Pädagogik. Die sozialpsychologische Kleingruppenforschung, die Cliquenforschung im Interventionsbereich des abweichenden Verhaltens, die Modelle des Peer Learning in der Schule und nicht zuletzt die therapeutische Praxis, in der die Gruppe als sozialer Spiegel für den Erfolg der Einzeltherapie gilt, haben das Wissen um die pädagogischen Möglich-
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keiten, mit Gruppen zu arbeiten, wesentlich erweitert (vgl. Simon/Wendt 2019). In die Analyse der gegenseitigen Beziehungen in der Perspektive von Empathie und Respekt wird immer die intervenierende Variable Verantwortung ›injiziert‹, das heißt gefragt, was Übernahme von Verantwortung bei den Jugendlichen bewirken könnte. In der Dynamik des verantwortungsvollen Zusammenlebens soll sich das Gerechtigkeitsempfinden der Gruppenmitglieder entwickeln. Natürlich ging Mennicke von einer Idealvorstellung von Gruppe aus. Deshalb ist es notwendig, die Bedingungen zu konkretisieren, unter denen die pädagogische Gruppenbildung funktionieren kann. So muss sich eine Balance zwischen Individualität und Kollektivität – als gruppendynamischer Ausdruck der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit – entwickeln können, damit der demokratische Charakter der Gruppe aufrechterhalten werden kann. Die Gruppe soll ja ein Ort sozialer Freiheit in der Spannung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit sein. Die Gleichaltrigengruppe als zentrale Sozialisationsinstanz im Kindes- und vor allem im Jugendalter ist aus psychoanalytischer, soziologischer und pädagogischer Gesamtsicht ein alterstypisches Medium der Regulation, in dem Triebdynamik kanalisiert, soziale Differenzierung entwickelt, Rollen erprobt und Übergangssituationen bewältigt werden. In ihr symbolisiert sich die Ablösung von der Herkunftsfamilie (das Nicht-Mehr) und der unstrukturierte und deshalb diffuse Übergang in das spätere Erwachsenenalter (das von sich weg geschobene Noch-Nicht) gleichermaßen. In den Gleichaltrigengruppen (Peers) wird aber nicht nur Jugend ausgelebt, sondern auch, damit verbunden, Geschlechtsidentität (weiter-)entwickelt und inszeniert. Hier sind die Jungen stärker präsent als die Mädchen. Gleichaltrigenbeziehungen in der Jugendkultur bilden ein eigenes soziales Feld der Ablösung von der Familie und der Distanz zur Erwachsengesellschaft. Sie sind emotional besetzt und gesucht, weil sie neue Bindungsbedürfnisse jenseits der Eltern befriedigen können. Die Unwirklichkeit der Pubertät und Adoleszenz kann in der Gruppe sozial gelebt werden. Alles, was die Gruppe aus sich heraus gibt – Gegenseitigkeit, Anerkennung, Erregung, Aktivität – geschieht in der Gruppe; sie genügt sich selbst und ihr ist es egal, was in der gesellschaftlichen Umwelt über sie gedacht wird oder wie man sie bewertet. Deshalb ist das Erleben der Gruppenzugehörigkeit für Jugendliche so wichtig: das gegenüber Familie und Gesellschaft isolierte unwirkliche Ich öffnet und bezieht sich in der Intimität des Wir der Gruppe und kann sich so sozial regulieren. Die Gleichaltrigengruppe ist aber auch der Kontext, in dem man vieles tut, was man als Einzelne nicht tun würde. Deshalb ist es so wichtig, dass die Gruppe demokratisch strukturiert wird, dass sich individuelle und kollektive Elemente die Balance halten. Denn wenn dieses Wir-Gefühl der Gruppe nicht in sich pluralistisch ist, wenn es keine demokratische Dynamik in der Gruppe gibt, weil die meisten Mitglieder ein hilfloses Selbst mitbringen, das meist in Abhängigkeit aufgeht, dann entsteht eine autoritär strukturierte G bruppe. Solche
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Gruppen, die keine Personalität und Individualität zulassen, brauchen antisoziale Aktivitäten, um Gruppenidentität herzustellen. In beiden inneren Strukturmerkmalen der Gleichaltrigengruppe, in der Fähigkeit zur Selbstregulation und in der Pluralität (Wahrung individueller Freiheit bei gemeinschaftlicher Bindung), liegen die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, wenn Verantwortung und Verantwortlichkeit zum pädagogischen Mittel und Ziel werden sollen. Die Jugendpädagogik ist oft zu sehr an der jugendkulturellen Dynamik der Gruppe orientiert, als dass sie die Chance nutzt, gerade in dieser Entwicklungsphase mit der Kategorie Verantwortung zu operieren. Dabei geht es vor allem um die Erfahrung sozialer Verantwortung in entsprechenden Projekten. Das in der Gruppendynamik angelegte Moment der Gegenseitigkeit kann – vor allem auch im Geschlechterverhältnis – pädagogisch freigesetzt werden. Vor allem in der Migrationsarbeit kann das Prinzip dialogische Verantwortung zum Zuge kommen. Die Integrität und die Rechte des jeweils anderen können an sich selbst deutlich gemacht werden. Die Gruppe ist ein »Ort intensivierter Wechselwirkung« (Simon 2019: 41). Damit ist die soziometrische Beziehungsstruktur wie die Rollenstruktur der Gruppe gemeint, die Gegenseitigkeit und damit Verantwortungsübernahme verlangen. Verantwortung kann so zur gemeinsamen Norm werden. Verantwortung und Verantwortlichkeit entwickeln sich sowohl nach innen wie nach außen. Nach innen sind die Gruppenmitglieder verantwortlich, sowohl für die Selbsterhaltung der Gruppe als auch – damit verbunden – für die Gruppenprojekte, in denen sich unterschiedliche Rollen und darin Verantwortlichkeiten arbeitsteilig ausbilden. Nach außen tritt die Gruppe in den kommunalen Raum ein und kann sich dort verantwortungsbewusst in entsprechenden bürgerschaftlichen Projekten oder aber verantwortungslos als delinquente Clique präsentieren. Entscheidend für die Herausbildung von Verantwortungsbewusstsein über die Gruppe sind die Konflikterfahrungen, die gruppendynamisch gemacht werden können. Wir werden an späterer Stelle näher auf die Bedeutung von Konfliktfähigkeit für die Entwicklung von Verantwortung eingehen. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Gruppe für die Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle ihrer Mitglieder. Sie ist gleichsam der soziale Spiegel, in dem sich die Jugendlichen ob ihres sozialen Status und darin ihrer Verantwortlichkeiten vergewissern können.
Dialogische Verantwortung Verantwortung als dialogisches Konstrukt nimmt die Gegenseitigkeit der Verantwortungsübernahme in den Blick. Solcherart dialogische Verantwortung meint »Antwort auf den Anspruch des Anderen« (vgl. Witte 2017). Diesen gilt es unter mehreren Bedingungen aufzuschließen, damit die Adressat*innen auch in der Lage sind, die-
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sen Anspruch zu thematisieren. Das muss auf beiden Seiten geschehen. Von den Pädagog*innen wird in diesem Sinne verlangt, dass sie sich nicht nur am äußeren Verhalten der Kinder und Jugendlichen orientieren, sondern auch die Botschaften und Hilferufe erkennen, die hinter dem Verhalten liegen. Der Begriff der reflexiven Verantwortung ist hier angebracht. Für die Kinder und Jugendlichen wiederum muss die Chance bestehen bzw. muss ermöglicht werden, dass sie ihre Bedürfnisse und Interessen auch selbstständig ausdrücken können. So können im aggressiven Verhalten von Kinder und Jugendlichen Versuche des Auf sich Aufmerksam Machens, der Suche nach Anerkennung und Selbstwirksamkeit liegen, die beantwortet werden wollen. Donald Winnicott (1988) hat solche scheinbar paradoxen Konstellationen aufgeschlossen. Das verlangt Projekte, in denen die Jugendlichen Selbstwirksamkeit und Anerkennung erfahren können, eine Stärkung des Selbst, aus der heraus sie selbstständig ihre Interessen formulieren können. Respekt ist die zentrale Kategorie der Gegenseitigkeit und die Grundlage dialogischer Verantwortung. Richard Sennett (2002) betont in diesem Zusammenhang, dass sich Respekt aus der Angewiesenheit auf andere ableitet. Wer behauptet – so Sennett –, dass er oder sie andere nicht braucht, ist für ihn respektlos, weil damit andere nicht ernst genommen werden. Dieser Respekt in der strukturellen Angewiesenheit auf andere geht so weit, dass man das Andere in den Anderen anerkennt und darin gezwungen ist, seine eigenen starren Welt- und Selbstbilder und Vorurteile zu revidieren. Die Tragweite von Sennetts Respektbegriff kann man ermessen, wenn er sich den Kritiker*innen am Sozialstaat entgegenstellt. Denn allzu schnell werden Sozialhilfeempfänger*innen respektlos als Parasiten gebrandmarkt, als dass man versucht, sich in ihre Lage zu versetzen und sie als Betroffene sozialer Ungleichheit zu erkennen. Dann werden wir vielleicht auch merken, dass wir genauso auf sie angewiesen sind, weil sie uns diese Ungleichheit vor Augen führen. Angewiesenheit ist für Sennett ein soziales Gut.
Empathie und Respekt Dialogische Verantwortung verlangt Empathie als Voraussetzung für Respekt. In der Empathie-Forschung wird zwischen affektiver und kognitiver Empathie unterschieden. Affektive Empathie, die emotionale Resonanz auf die Befindlichkeit und das Schicksal anderer, kann leicht kippen, wenn plötzlich Enttäuschung mitschwingt. Ein Beispiel dafür waren in Deutschland im Jahr 2015 die überschwänglichen Willkommensbekundungen gegenüber den syrischen Flüchtlingen. Eine sonst sozial fragile bürgerliche Mittelschicht konnte sich wieder gesellschaftlich in Szene setzen, von denen deutlich abgrenzen, die – vor allem in der Unterschicht – als ausländerfeindlich galten. Später kühlte das ab, schlug bei manchen sogar in kultureller Abneigung um. Das Beispiel zeigt, dass Empathie einen hohen Selbstbezug
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hat, dass man sie für das eigene Selbstgefühl braucht und damit seine Befindlichkeit auf die Lage der anderen projiziert. »Empathie kann zum Selbstzweck werden, unabhängig von der Moralität der Handlungen« (ebd.: 203). Deshalb braucht es einen inneren Kontrollmechanismus, der einen vor der affektiven Tücke der Empathie bewahrt. Dies ist im Begriff der reflexiven Empathie ausgedrückt, der vor allem darauf verweist, dass emphatische Gefühle reguliert sein sollten. Darauf zielt auch der Begriff des Mitgefühls, in dem affektive Empathie und bewusst aufgebauter Respekt ineinander übergehen. Darin wird der Projektcharakter von Empathie und mithin seine pädagogische Komplexität sichtbar. Wenn man Jugendlichen Videosequenzen von Umweltkatastrophen oder Armutsszenarien zeigt, dann erzeugt man meist situative affektive Empathie aber gleichzeitig auch Abwehr und Abspaltung. Denn es ist eine emphatische Regung, die einen selbst im Gleichklang der Grup erhöht, gleichzeitig aber Bedrohung und Abwehr erzeugt, weil man sich entweder hilflos gegenüber diesem Ungeheuerlichen fühlt, dieses aus seinem Möglichkeitsraum verbannt oder rationalisierend abspaltet. Solcher Abspaltungszwang, der in der affektiven Empathie steckt, kann nur außer Kraft gesetzt werden, wenn es möglich ist, in die Spur der reflexiven Empathie zu wechseln. Man sollte der Empathie auch nicht von vornherein moralische Qualität zuschreiben. Empathie ist nur dann moralisch gut, wenn sie im Kontext einer moralischen, also z.B. fürsorglichen Haltung und Handlung steht. Sie erweitert die Wahrnehmung und fordert zum Bezug zu unserer Welt im Verhältnis zur Welt der anderen auf. Solche Stellungnahme kann sich dann vor allem in der Gruppe formieren, in ihr kann man sich der sozialen Wirksamkeit seines Empathie-Empfindens versichern. Empathie-Lernen ist gruppendynamisches Lernen. In der Gruppe kann sich die Balance zwischen affektiver und reflexiver Empathie als Balance von Nähe und Distanz entwickeln. Es ist die Nähe der Gruppe, die die Nähe zu sorgenvollen Thematiken trägt. Es ist aber auch die diskursiv-reflexive Kraft der Gruppe, die an die Distanz als Wirklichkeit erinnert. Gerade die Jugendpädagogik kann solche empathischen Gruppenprozesse organisieren. Empathie und Respekt gehören zusammen. Empathie steht für die Betroffenheit angesichts der Gefährdung anderer Menschen und der Bedrohung der Natur, Respekt für die Anerkennung deren gleicher Rechte und Lebenschancen. Die Jugendarbeit ist ein Ort, an dem das Verhältnis von Empathie und Respekt zum Wesen der alltäglichen Arbeit gehört, die darin enthaltene Nähe-Distanz-Problematik zieht sich durch das professionelle Handeln. Deshalb ist für sie auch die Unterscheidung zwischen affektiver und reflexiver Empathie so wichtig. Pädagog*innen können von ihrem Auftrag her nicht die Kumpels der Jugendlichen sein, die Familienhelferin nicht das Familienmitglied. Das kann immer wieder zu Konflikten führen. Affektive emphatische Gefühle, seien es Zuneigung oder Abneigung, kommen aber in jeder professionellen Beziehung auf. Deshalb ist es notwendig, den Bereich der
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reflexiven Empathie zu stärken. Denn die professionelle Beziehung ist keine intime Beziehung, sondern eine vertragliche Beziehung. Dies auch zum Nutzen der Jugendlichen, die letztlich doch eine überschaubare und verlässliche Beziehung brauchen. Respekt sehen wir als Erweiterung von Empathie. Richard Sennett stellt die Frage, wie und ob angesichts der sozialen Ungleichheitsverhältnisse Respekt zwischen den Menschen möglich ist. Er sieht letztlich Respekt vor den anderen, insbesondere vor denen, »die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben« (2002: 17f.), als das Regulationsmedium der Gegenseitigkeit, welches in den Diskursen zur sozialen Ungleichheit häufig übersehen werde. Dieser Begriff von Respekt findet sich auch bei Martha Nussbaum (1999) wieder, und zwar als Achtung vor der Eigenheit der Anderen, Achtung vor ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Integrität und Achtung vor ihrer Verletzlichkeit. Respekt wird hier zu einem Begriff, der über Empathie und Toleranz hinausweist. Es geht nicht mehr darum, die anderen zu dulden, ihnen etwas zu gestatten, sondern sie in ihrer Würde und Eigenheit anzuerkennen und diese Anerkennung in das eigene Selbst (sebst)kritisch zu integrieren. Diese Gegenseitigkeit erfordert einen entsprechenden Blick auf den Anderen, nicht nur als Anerkennung seiner Eigenart und Integrität, sondern vor allem auch als Anerkennung seines Anderseins und darin seiner besonderen Fähigkeiten und Rechte. Daraus erwächst dialogische Verantwortung. Im Scheitern erweist sich die Fähigkeit zur Empathie. Die Sozialpädagogik gilt in unserer Gesellschaft als Disziplin, die es vor allem mit gescheiterten Menschen zu tun hat. Dies wird meist als Makel angesehen. Wir nehmen diesen Makel im Geiste der reflexiven Modernisierung als Ausgangspunkt eines neuen Denkens, dass der sozialen Nachhaltigkeitsperspektive zugutekommen soll. So ist »Scheitern« eine Zuschreibung, die zwar nicht direkt zum fachlich-diagnostischen Repertoire der Pädagogik gehört, aber doch in seiner alltagstheoretischen Form überall dort mitschwingt, wo es um nicht erreichte Ziele, Abbrüche von intendierten Handlungsprozessen und biografischen Verläufen geht. In der Pädagogik hat Scheitern ein Doppelgesicht: Zum einen bezieht es sich auf die Kinder und Jugendlichen selbst, zum anderen auf die pädagogische Beziehung, wenn Hilfesysteme und Klient*innen ›aneinander scheitern‹. Dieses ›aneinander‹ verweist darauf, das Scheitern nicht als einseitiger Vorgang, der den Jugendlichen angelastet wird, zu betrachten ist, sondern als interaktiver und darin konflikthaltiger Prozess. Scheitern an der Norm einer Normalbiografie und/oder an den Rollen- und Verhaltenserwartungen des Bildungs- und Hilfesystems ist deshalb vor allem unter dem Aspekt zu betrachten, dass es eben nicht nur auf Integrationsprobleme bei den Jugendlichen, sondern genauso auf Integrations- und Selektionsprobleme seitens des gesellschaftlichen Werteund Chancensystems der herrschenden Normalität und der daran ausgerichteten pädagogischen Institutionen verweist.
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Pädagogische Verantwortung und Geschlecht – Männliche Verantwortung in der Erziehung Im ›Sorgestreit‹ in den 1920er Jahren beanspruchten die sozial engagierten Frauen der damaligen Frauenbewegung die frühkindliche Erziehungsarbeit und die Soziale Arbeit als der Frau ›wesensgemäße‹ Aufgaben (vgl. Böhnisch 2022). Gegen diese weibliche Definition der Sozialen Arbeit wehrte sich die ›männliche‹ Sozialpädagogik, wie sie sich in der Nachfolge der (überwiegend männlichen) Jugendbewegung im Umkreis der Universitätspädagogik entwickelt hatte, indem sie ihr die Figur des ›männlichen Sozialbeamten‹ entgegen hielt. Dessen sozialadministrative Leitungstätigkeit sowie die gruppen- und gemeinschaftsbezogene Führungspädagogik wurden nun ebenfalls geschlechtstypisch legitimiert. Herman Nohl setzte den männlichen Berufstypus in Kontrast zum »ausgesprochen femininen Typus mit seiner Weichheit« und schrieb ihm einen pädagogischen Ethos der Ritterlichkeit zu, die dem Manne allein »aus seinem Geschlechtscharakter aufwächst« (Nohl 1927: 15f.). Er übertrug damit das herrschende System der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung auf die Wohlfahrtspflege und ihre sozialpädagogischen Arbeitsfelder. Gleichzeitig lieferte er eine Legitimation für die inzwischen auffällige Dominanz der Männer in den damaligen Leitungspositionen der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Im Jahre 1928 betrug der Frauenanteil an den rund tausend Leitungsstellen in deutschen Jugendämtern ca. drei Prozent. Dem Mann definierte Nohl eine besondere geistige Haltung zu, die sich auszeichne durch die gleichsam kulturgenetisch tradierte Fähigkeit des Schutzes der Gemeinschaft und der aktiven Verantwortung für das Ganze des sozialen Geschehens. Es war eine Definition von männlicher Verantwortung, die sich auf das institutionelle und organisatorische ›Außen‹ von Fürsorge und Erziehung bezog, während der Frau das ›Innen‹ zugedacht wurde. Dass der Kindergartenberuf vor allem von Frauen ausgeübt wird, wird von vielen bis heute als selbstverständlich angesehen. Als Gründe dafür (vgl. Rohrmann 2009) werden angeführt: Die Kindergärtnerinnenrolle liege der Mutterrolle am nächsten, frühkindliche Erziehung obliege den Frauen, sie eigneten sich dafür besser. Kindergärtnerin ist in unserer Gesellschaft ein typischer Frauenberuf. Männer scheuen diesen Beruf, weil er nicht angesehen ist und keine Karriere verspricht. Frauen komme der Beruf im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegen. Frauen hätten eine natürliche Bestimmung für diesen Beruf: Frauen hätten einfach mehr Gefühl und Geduld als Männer. Sie könnten besser mit kleinen Kindern umgehen, schon die Stimme sei zärtlicher. Sie seien auch fleißiger und tüchtiger. Schließlich: Die Kinder erleben ja die Mutter in der Hauptrolle, wenn sie den Alltag und die Erziehung strukturiert. Dennoch ist »Mehr Männer in die Kitas« in den letzten Jahren zu einer medienwirksamen Parole geworden. »Welche Männer denn?«, schallt es ihr entgegen. Feministinnen warnen vor einer Verfestigung des Geschlechterdualismus in der frühkindlichen Pädagogik. Erzieherinnen,
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die ich in Fortbildungsveranstaltungen zum Thema »Jungen« kennenlerne, sind verunsichert. Warum braucht man denn unbedingt Männer? Frauen können doch auch Jungen erziehen. Sie kämen ja gerade deswegen in die Fortbildung, weil sie mehr über Jungen wissen und ihre pädagogischen Fähigkeiten entsprechend erweitern wollten. Und wenn ein Mann als Erzieher kommt, dann bleibt er doch nicht lange, strebt nach einem Leiterposten. Dem wird entgegengehalten, für Jungen biete eine Erzieherin wenig für den Aufbau einer männlichen Geschlechtsidentität. Eventuell wird sie als Frau neben der Mutter und in dieser Rolle für die eigene Geschlechtsidentität nicht als bedeutsam angesehen (vgl. Blank-Matthieu 2012: 101). Unter dem Titel »Macht das Geschlecht einen Unterschied?« untersuchte die Dresdner Tandemstudie (Brandes u.a. 2013) sowohl das professionelle Verhalten weiblicher und männlicher Fachkräfte im Vergleich, als auch die Frage, ob und wie Fachkräfte als geschlechtliche Rollenvorbilder wirken. Dabei zeigten sich kaum Unterschiede in der fachlich erzieherischen Kompetenz und der Qualität der emotionalen und sorgenden Zuwendungen zwischen den befragten und medial beobachteten Erziehern und Erzieherinnen Lediglich in ihren bevorzugten Aktivitäten waren die Männer etwas mehr auf Bewegung, Raum und Risiko, die Frauen stärker auf beziehungsorientierte Kommunikation bezogen. Was die geschlechtliche Vorbildrolle anbelangt, so konnte lediglich erhoben werden, dass die Befragten dies nicht explizit thematisierten, dass man aber Indizien dafür fand, dass die Geschlechterdynamik »unterschwellig« wirkt. Bei Erziehern und Grundschullehrern wird immer wieder Folgendes beobachtet: »Eine Strategie von Männern, die in gegengeschlechtlichen Berufen arbeiten, ist der Versuch, Kongruenz zwischen Beruf und Geschlechtszugehörigkeit herzustellen. Dies geschieht durch Uminterpretation der weiblich konnotierten Komponenten des Berufs in Männlichkeit symbolisierende Verhaltensweisen. […] Eine weitere Strategie von Männern, die in vorrangig von Frauen ausgeübten Berufen tätig sind, ist die Besetzung der wenigen Führungspositionen, die dort vorhanden sind« (Baar 2010: 77f.). Zentral bleibt die Frage, wie die Geschlechtertypisierung. die den Erzieher nur als ›Ergänzung‹ im Verhältnis zu den Erzieherinnen erscheinen lässt, überwunden werden kann. Denn wenn der Männer-in-die Kitas-Diskurs eher die Vergeschlechtlichung der Erziehungstätigkeit befördere, so doch vor allem auch deshalb, weil die männlichen Erzieher eben oft allein unter den Erzieherinnen sind. Deshalb käme es darauf an »auch die Weiblichkeitskonstruktionen zu hinterfragen, die historisch und auch auf individueller Ebene mit den Institutionen der Kinderbetreuung verbunden sind« (Rohrmann 2014: 83). Dann bestünde die Chance, die männlichen Erzieher aus ihrer Befangenheit zu lösen, um für sich für sich die gleiche Verantwortung für das ›innere‹ Erziehungs- und Hilfegeschehen wie die Frauen erkennen zu können.
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Verantwortung und Konflikt Die basale sozialisatorische Bedeutung des Konflikts hat Micha Brumlik (1991: 255) in einem Stufenmodell der Entwicklung des Konfliktbewusstseins zu systematisieren versucht. Er lehnt sich dabei an Robert Selmans Stufenmodell der Perspektivübernahme an, in dem gezeigt wird, über welche Altersstufen hinweg sich die Fähigkeit entwickelt, gegenseitige Standpunkte erkennen und anerkennen zu können. Diese basale Fähigkeit gilt als Voraussetzung für die Entwicklung von Konfliktfähigkeit. Danach beginnen Jugendliche auf der Stufe ihrer Entwicklung »zu erkennen, daß es nicht nur die eigene, die entgegengesetzte und die Perspektive eines neutralen Dritten gibt, sondern das zudem übergreifende gesellschaftliche Interessen oder Belange zu berücksichtigen sind. Dies hat für den Konfliktfall u.a. die Folge, daß die objektive Kompromissbereitschaft übergeordneter sozialer Regeln und Normen anerkannt wird und deren Vorgaben für die Lösung von Konflikten maßgeblich sind« (ebd.: S. 252). Das Konfliktmodell der Austragung gegenläufiger Interessen vor dem Hintergrund einer übergreifenden Integrationsperspektive kann also im Verlauf des Sozialisationsprozesses so weit gelernt werden, dass es zum »gesuchten Medium« des personalen, sozial gerichteten Entwicklungsprozesses werden kann. Voraussetzung ist dabei die Fähigkeit zur »selbstreflexiven Perspektivübernahme«, in der die Kinder (nach Selman im Alter von acht bis zehn Jahren) lernen, sich in die Lager anderer hinzuversetzen und zu wissen, dass sich die anderen auch in ihre Lage hineinversetzen können. Es werden dabei »Gefühle wie Achtung und Respekt vor Anderen ausgebildet. Ohne die Fähigkeit zur selbstreflexiven Perspektivenübernahme ist demnach weder Selbstachtung noch interpersonale Anerkennung möglich. […] Respektvolle Toleranz für die Lebensformen anderer, setzt nicht nur die Fähigkeit zur wechselseitigen Perspektivenübernahme, sondern zudem das Vermögen voraus, das Miteinander oder Nebeneinander konfligierende Lebensformen von Individuen unter dem Gesichtspunkt eines allgemeinen sozialen Interesses wahrzunehmen« (ebd.: 254). Soll diese postkonventionelle Perspektive des Konfliktbewusstseins sich auch aus dem interpersonalen Bereich heraus gesellschaftlich entfalten können, braucht es eine fördernde gesellschaftliche Umwelt, eine entsprechende Konfliktkultur, die schließlich auch im Sozialisationsregime verankert sein muss. Angesichts dieser Ubiquität des Konflikts gehört es zur sozialen Grundkompetenz von Kindern und Jugendlichen, dass sie Konfliktaustragung beherrschen und vor allem lernen, Aggressionen, Frustrationen und Ohnmachtserfahrungen (mit anderen zusammen) in die Interaktionsbahn des sozialen Konflikts zu bringen. Soziale Konflikte setzen die Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit frei. Die Menschen machen über sie auf sich aufmerksam und erfahren gleichzeitig die Angewiesenheit auf die anderen, die dieses erst ermöglicht. Der Konflikt als Interaktion zwingt zu Begründungen der gegensätzlichen Interessen und Po-
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sitionen, zum Verstehen des anderen. Verantwortungsstrukturen werden sichtbar. Damit hat der soziale Konflikt nicht nur eine gesellschaftliche, sondern genauso eine Alltagsfunktion: indem er einen immer wieder dazu bringt, seinen Standort in sozialen Kontexten zu bestimmen, indem er Normen, die oft schon in Ritualen versackt sind, neu beleben und füllen und Selbstreflexivität erzeugen kann. Der Respekt vor der jeweiligen persönlichen Integrität des Anderen ist dabei die Grundlage der Integrationskraft des sozialen Konflikts auch im Alltag der Schule. Wo Konflikte nicht thematisiert werden, kann Verantwortungslosigkeit entstehen.
Beteiligung und Verantwortung Konflikt und Konfliktfähigkeit sind zentrale Medien der Partizipation. Gerade über soziale Konflikte nehmen die Menschen wahr, dass sie sozial angesprochen und damit ›beteiligt‹ sind. Partizipation ist in diesem Sinne als Dimension der Vermittlung von politisch-sozialen und lebensweltlichen Prozessen zu begreifen. Sie ist nicht nur ein zentraler Modus politischer und sozialer Integration, sondern dient vor allem auch der Stärkung der Identifikation mit dem Gemeinwesen, dem die Individuen zu gehören. In diesem Sinne gilt Partizipation auch als Akt der Selbstbestimmung in der Gemeinschaft (vgl. Gerhard 2007). Hier tritt wieder die Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit und mithin Verantwortung hervor. »Die empfundene Intensität der Verantwortung hängt von der Beteiligung der Person ab, also davon, wie weit sie sich an der Wirkung […] als beteiligt wahrnimmt« (Al Sahity/ Schor-Tschudnowskaja 2011: 152). Der bürgergesellschaftliche Diskurs hat mit der republikanisch geformten Figur des Bürgers einen Partizipationsstatus eingeführt, der die Beteiligungs- und Integrationsverluste, die im Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft als Ausgrenzung entstehen, auffangen soll. Den Haken, der mit dieser Zuschreibung verbunden ist, spüren vor allem sozial Benachteiligte. Man gibt dem einzelnen Bürger*innen zwar mehr Rechte, erfüllt ihm seinen freiheitlichen Anspruch, erreicht aber nur diejenigen, die über entsprechende Ressourcen der partizipativen Umsetzung verfügen. Gleichzeitig bleibt der gesellschaftliche Kontext im Unklaren, indem sie diese Rechte entfalten sollen. Die Gefahr, dass sie die Richtung ökonomisch-technologischer Strömung geraten, bleibt nichtthematisiert. Mit denen zu arbeiten, die diese Ressourcen nicht haben, wird sozialtechnologisch so umgegangen, dass der Anschluss an den bürgerlichen Kontext gewahrt bleibt. Sie bewegen sich im Wirkungskreis der Bürgergesellschaft und haben damit Teil an der bürgergesellschaftlichen Sozialform, indem sie den surplusfähigen Bürger*innen ermöglichen, soziale Verantwortung zu zeigen, ohne ihren Individualismus zugunsten einer kollektiven Orientierung aufgeben zu müssen. Damit entwickelt sich zwangsläufig eine asymmetrische und in der Herrschaftsstruktur patrimonialer Vergesellschaftung. Im Mittel-
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segment der ›gleichen und freien Bürger*innen‹ legitimiert man sich untereinander demokratisch, das Verhältnis zu den sozialen Rändern aber gestaltet sich patrimonial. Den sozialen Randgruppen wird ihre schlechtere Stellung und Deklassierung nicht mehr sozialstrukturell erklärt, sondern sie werden mit einem Set von Ressourcen ausgestattet, die ihnen das Auskommen ermöglichen, ihnen das Gefühl der Teilhabe an den Bürgerrechten vermitteln sollen. Wir haben diese Kritik im Abschnitt zur Verantwortungsgesellschaft ausführlich formuliert. Deshalb braucht eine Erziehung zur Beteiligung Projekte in Schule und Jugendarbeit, die in den Alltag aller Jugendlichen hineinreichen (s. u.).
Verantwortung in Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit am Beispiel der Schule1 In der Reformpädagogik der 1920er Jahre wurde davon ausgegangen, dass der Verantwortungsdiskurs ein zentraler Hebel für eine demokratische Schulreform ist. So verstandene Verantwortung fordert die Balance zwischen Autonomie und Angewiesenheit, persönlicher Selbstbestimmung und Gemeinschaft heraus. Diese Balance ist vor allem über die Anerkennung und Austragung von innerschulischen Konflikten zu erreichen. Indem Konflikte in ihrer sozialintegrativen Wirkung gesehen werden, weil in und mit ihnen Autonomie und Angewiesenheit aufeinander bezogen werden können, liegen auch hier Konflikt und Verantwortung eng zusammen. Um diese Argumentationslinie herum werden im Folgenden unterschiedliche Dimensionen des schulischen Kosmos aufgeschlossen und bezüglich ihres ›Verantwortungsgehalts‹ gewichtet.
Verantwortung lernen »Verantwortung kann als der grundlegende Bezugsrahmen für alle Werte verstanden werden. Die Fähigkeit zur Verantwortung ist in jedem Menschen als Potenzial angelegt, die Entwicklung dieses Potenzials ist jedoch abhängig von den Erfahrungen welche die heranwachsende Person in ihrer kulturellen und sozialen Umwelt macht« (Liegle 2010: 10). Dieses Lernen von Verantwortung findet bei Kindern und
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Schule wird hier als allgemeine Institution thematisiert und es wird deshalb auf Schulformen nur dort eingegangen, wo sie eine spezifische Verbindung zu sozialen Prozessen aufweisen. Wenn wir von der Verantwortungsschule sprechen, dann meinen wir nicht die institutionellen Regeln und Verfahren der Verantwortungsübernahme und -delegation, sondern Verantwortung als Strukturprinzip der Schule, als Struktur der Lernprozesse und ihrer Evaluation, der Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen, der Klassengemeinschaft und der Beziehungen der Schule und der Schüler*innen in den kommunaler Raum.
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Jugendlichen vor allem in der demokratisierten Schule statt. Es ist ein Verantwortungslernen, das sich vor allem in Gruppen und Projekten entwickelt, die im Folgenden in ihrer Vielfalt dargestellt werden. Aber schon im vorschulischen Bereich der Familie und später in den informellen Bildungsbezügen der Gleichaltrigenkultur wird Verantwortung gelernt. Verantwortung ist im Menschen als sozialem Wesen und darin in seiner Angewiesenheit auf andere angelegt. Er muss sich immer wieder in Beziehung zu anderen setzen können und darin Einfühlungsvermögen als Voraussetzung zur Verantwortung entwickeln (vgl. Altmeyer/Thomae 2005). Entwicklungsbiologische und neuronale Befunde sprechen dafür, »dass eine Reihe von Verhaltensdispositionen, die als Vorläufer Fähigkeiten zur Verantwortung gelten können in, in der biologischen und kulturellen Evolution des Menschen angelegt sind demzufolge kann Verantwortlichkeit gelernt werden« (Liegle 2010: 10). Dieses Lernen geschieht auf unterschiedliche Weise. Zum einen als »implizites Lernen«, also auf unbewusste Lernprozesse, die sich in Beziehungen entwickeln und in den früheren kindlichen Bindungserfahrungen ihren Anfang nehmen. Zum zweiten als »indirektes Lernen«, das durch pädagogische Anregung gefördert wird und schließlich als »intentionales Lernen«, also als bewusstes und strategisches Lernen. Sind es in der Kindheit besonders die Vorbilder, deren verantwortliches Handeln interessiert und Rollen förmlich nachgeahmt wird, so ist es im Jugendalter vor allem der Gleichaltrigengruppe, die Verantwortlichkeit generieren kann. Die Angewiesenheit auf andere formt sich in der Gleichaltrigenkultur aus, vieles was die Jugendlichen in der Gruppe tun würden sie als Einzelne nicht machen. Dieser »Gruppenzwang« wirkt sich dahingehend produktiv aus, dass das eigene Handeln immer in Bezug zu anderen gesetzt werden muss und damit die interaktive Voraussetzung für Verantwortung in Rollenübernahmen in pädagogischen Gruppenprojekten gegeben ist.
Schülerrolle und Schülersein Die Schülerrolle bindet die Jugendlichen an die Schule, versucht, ihr Leben in der Schule nach der schulischen Logik zu strukturieren und die sinnlich-emotionale Persönlichkeit und den außerschulischen Alltag außen vor zu halten. In ihr ist (Mit-)Verantwortung nur insoweit enthalten, als die Schüler*innen den innerschulischen Prozesse des Unterrichts und der sozialen Anpassung an die Schule – gleichsam als Koproduzent*innen – mittragen müssen, Mit der Bindung an die Schülerrolle wird der alltägliche außerschulische Lebenszusammenhang, wie er aber in die Schule hineinwirkt, nicht begreifbar. Dass die Schule jeden Morgen verlangt, dass unterschiedliche Schüler/innen schulfähig – wach, gefrühstückt, motiviert – antreten und dass sie sich nicht oder wenig darum kümmern, was nach der Schule mit den in der Schule erzwungenen, weil von der Schülerrolle ausgegrenzten Gefühlsstaus und Emotionsaufschüben passiert, entspringt der Logik des funk-
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tionalen Schülerrollenverständnisses. Das interaktionistische Rollenverständnis vermittelt uns dagegen eher einen Zugang zu dem Schule und Alltag durchziehenden Schülersein, zur Befindlichkeit von Schüler/in (und Lehrer/in) und der davon beeinflussten psychosozialen Thematik des Pädagogischen Bezugs: Die SchülerInnen nehmen eher die Interaktionsperspektive ein, Lehrer und Lehrerinnen wiederum sind oft zwischen Interaktions- und Funktionsbezug hin- und hergerissen. Es kommt bei ihnen also mehr auf die Ausbalancierung beider Perspektiven an. So können wir anhand der Spannung von Interaktions- und Funktionsaspekt der Schülerrolle zeigen, dass Schulversagen in der Rollenwahrnehmung von den Lehrern zwangsläufig anders entschlüsselt wird als von den Schülern. Aus Schülersicht stellt sich Schulversagen als Problem der identifikatorischen Bewältigung der Schülerrolle, gerade weil sie wenig Platz für Empathie und Distanz und damit für die unmittelbare personale Aneignung zulässt. Für den funktional eingestellten Lehrer ist es eher ein Motivations- und Begabungsproblem: Die Frage, was dem Schüler fehlt, damit er die Schülerrolle übernehmen und ausfüllen kann, welche Defizite er also hat, steht hier im Vordergrund. Die Schülerrolle reduziert Verantwortung auf Pflicht und verordnete und darin begrenzte Zuständigkeit. Das Gefühl des Angewiesenseins auf die Anderen wird zurückgedrängt, bleibt verdeckt. In der uralten Posse um das ›Abschreiben‹ vom Banknachbarn, den ›Unterschleif‹, bricht es immer wieder hervor. Die Schülerrolle verlangt Konkurrenz, generiert Schadenfreude statt Empathie. Der Funktionsaspekt drängt den Beziehungsaspekt zurück, Schüler*innen haben wenig Chancen auf persönliche Kompetenzen aufmerksam zu machen, die außerhalb der Schülerrolle liegen, für Verantwortungsübernahme aber wichtig sind. Diese werden erst sichtbar, wenn das Schülersein in den Fokus des schulischen Anerkennungsregimes gelangen kann. Der Diskurs ›Schule ohne Noten‹ kann hier als Beispiel gelten. Noten werden hier als »Fehlanreize« bezeichnet. »Das bedeutet, dass schulische Bewertungen Verhaltensweisen belohnen, die der Funktion von Schule widersprechen. Statt ganzheitlich und selbstwirksam zu lernen, nehmen die Kinder schnell die Kriterien in den Blick, die bewertet werden. Sie geben sich in Fächern ohne Noten weniger Mühe, investieren kaum Zeit in freiwillige Projekte und lösen Aufgaben so, dass sie dafür Punkte bekommen« (Nölte/Wampfler 2021: 9). Das Modell ›Schule ohne Noten‹ basiert auf der Kritik von Wolfgang Klafki (1974), nach der Bewertungen auf Prozesse bezogen werden müssen, Rückmeldungen ganzheitlich erfolgen sollen und sich eine Leistungskultur der Kooperation und nicht der Konkurrenz entwickeln kann. Es wird eine Prozessform ›dialogischen Lernens‹ angestrebt, in der die Schüler*innen ihre Zugänge und Stellungnahmen zu den Lehr- und Lerninhalten von den Lehrenden aufgenommen und gemeinsam integriert werden. Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten werden freigesetzt, der Notenkäfig, den die Schülerrolle geschlossen hat, ist aufgebrochen.
Teil IV: Pädagogik der Verantwortung
Die Peergroup als Medium der Verantwortung Schon Carl Weiß ist in seiner klassischen Abhandlung zur »Soziologie und Sozialpsychologie der Schulklasse« (1955) der Frage nachgegangen, ob denn die Schulklasse als Gruppe zu sehen ist: »Die ›Schulklasse‹ ist ihrer Entstehung nach weder ein gewachsenes Sozialgebilde wie die Familie, noch ist sie ein ›Wahlverband‹ wie die Spielgruppe […]. Soziologisch wäre […] der Ausgangspunkt einer Schulklasse zu charakterisieren als ein räumlich abgegrenztes, auf ein Drittes hin ausgerichtetes Zwangsaggregat« (Weiß 1955: 19). Wir-Gefühl stellt sich nach unserem Alltagsverständnis nur in bestimmten Situationen her: So z.B., wenn es um Konkurrenz und Abgrenzung zu anderen Schulklassen, vielleicht gemeinsamen Widerstand gegen die LehrerInnen, geht oder wenn später einmal ein Klassentreffen stattfindet. Man könnte sagen: Immer dann, wenn die Schulklasse in »Peer-Situationen« gebracht wird oder wenn später die Schulerinnerung zur Jugendnostalgie und dann zur PeerErinnerung wird, bekommt auch die Schulklasse in der subjektiven Wahrnehmung einen Peer-Charakter. Hier zeigt sich aber doch eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der Einschätzung des Gruppencharakters der Schulklasse. Diese ambivalente Haltung begegnet uns auch in der Gruppensoziologie: Einerseits definiert man die Schulklasse als ›soziale Organisation‹. »Gleichzeitig wird aber nicht ausgeschlossen, dass aus dieser Schulklasse eine soziale Gruppe werden kann, weil insbesondere die Raum- und Zeitbedingungen der Schulklasse als fördernde Faktoren angesehen werden: Das regelmäßige und langfristige Beisammensein der Schüler […] begünstige nicht nur die Kontaktaufnahme untereinander, sondern würde sie nahezu zwangsläufig herbeiführen […] Diesen interaktionsfördernden Faktoren von Raum und Zeit steht aber andererseits das spezielle, der Schulklasse vorgegebene Unterrichtsziel entgegen« (Herlyn 1994: 229). Auch Helmut Fend sieht in Bezugnahme auf eigene Schuluntersuchungen die Schulklasse als »ambivalentes Interaktionsfeld« mit der Tendenz, »dass bei Gleichaltrigen in Schulklassen starke normative Gegenkräfte zur Internalisierung des offiziellen kulturellen Wertsystems entstehen« (Fend 1988: 161). Diese informelle Peer-Dynamik richtig einschätzen zu können, ist eine der wichtigsten Alltagskünste des Lehrerberufs: Einerseits darf man ihr nicht gleich aufsitzen und jede Peer-Regung als Störung abqualifizieren, andererseits muss der Punkt erkannt werden, wo die Balance zwischen schulischem Fluss und jugendkultureller Gegenströmung gefährdet ist, wo die Schulklasse für die LehrerInnen leicht in den Strudel und den Sog von Desorganisation und Destabilisierung kommen kann. Deshalb ist es notwendig, dass der Lehrer/die Lehrerin in der Schule und dem Unterricht Raum schafft, damit diese Balance sich einspielen kann und nicht allein nur auf das Kontrollverhalten der Lehrer*innen fixiert und damit eher unterdrückt und zu Lasten des Unterrichts nicht ausagierbar ist. Denn die informelle Peer-Struktur in der Schule ist nicht so einfach als Störung abzutun, sondern sie
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ist in vielem funktional für den Ablauf des Schulvormittags, gewissermaßen der jugendkulturelle Sozialkitt des Schulunterrichts. Nicht nur das Stillsitzen, die Konzentration auf den Stoff und die damit verbundenen schulischen Verkehrsformen, die Zeitdisziplin und der erzwungene Bedürfnisaufschub stellen eine psychosoziale Herausforderung dar, die von den Schülern selbst bewältigt werden muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass diese informelle Struktur nicht nur eine emotionale Stütze für die SchülerInnen ist, sondern dass von ihr auch enormer Konformitätsdruck oder gar Zwang ausgehen kann (Herlyn 1994: 241f.). Während in der Schulklasse die Peer-Strukturen informell, oft verdeckt und situativ wirken, geht das offene jugendkulturelle Peer-Leben außerhalb der Schule ab. In der außerschulischen Peergroup finden sich meist viele SchülerInnen der Schulklasse wieder, aber es können durchaus auch klassenfremde Gleichaltrige dabei sein. Die außerschulische Peergroup steht in einem spezifischen Verhältnis zur Schule, hat – nach Hornstein (1990) – sowohl eine kompensatorische als auch eine schützende Funktion. In der Kompensationsfunktion wirkt die Peergroup entlastend und selbstwertfördernd. Auch hat das Peer-Verhalten in der Schule sozial ausbalancierende Wirkungen. »In solchen informellen Gruppen sind Anpassungsmechanismen wirksam, durch die Schüler ihre persönlichen Interessen verwirklichen, auch in der Weise, dass sie Belastungen und Probleme des Schulalltags aufzuarbeiten versuchen« (Haselbeck 2007: 32). Die unterrichtliche Nutzung der Gruppenbezüge reicht aber nicht an die Chancen heran, die man mit den Peergroups in der Perspektive Verantwortung für eine soziale und demokratische Reform der Schule eröffnen kann. Erst die Gruppe – so wurde in den Grundlagen hergeleitet – kann die Sensibilität für das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein und die Notwendigkeit der Verteilung entsprechender Verantwortlichkeiten erzeugen. Statt Konkurrenz kann sich Kooperation und gegenseitige Hilfe entwickeln. Die Schüler*innen können sich zu den anderen so in Beziehung setzen, dass sie in die Lage kommen, ihre Leistungen im Rahmen eines Projekts gegenseitig offen zu bewerten. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Projektunterricht bestätigen das. Projekt- und Fachunterricht sind einander verschieden »Der Fachunterricht folgt der Wissenschaftsorientierung und damit dem systematischen und vereinheitlichenden Lernen, der Projektunterricht der Lebensweltund Problemorientierung […] und damit der Individualität und Aktualität« (Ehmer/ Lenzen 2002: 43). Die Projektmethode verlangt Gruppenarbeit und profitiert von den sozialen Energien der Gruppe. Die Rollen und Zuständigkeiten innerhalb des Projekts führen zu einer Struktur der Verantwortlichkeiten, mit denen individueller Selbstwert und Anerkennung genauso erreicht werden wie integrative Effekte. Die Projekte leben also von der produktiven Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Im Gegensatz zum Fachunterricht werden nicht die standardisierten Leistungen in ihren Resultaten bewertet, sondern das Einbringen in Projekte und die damit verbundene Kompetenz Projektentwicklung. An der Bewertung sind
Teil IV: Pädagogik der Verantwortung
die Schüler*innen genauso beteiligt wie die Pädagog*innen. Im Projektunterricht können Fähigkeiten freigesetzt werden, die im Fachunterricht nicht berücksichtigt oder übergangen werden.
Die Schüler*innen als Bürger*innen »Schulen sind Lerngemeinschaften und weniger eine Polis. Schulen haben ihr eigenes Leben, aber sie sind nicht des Lebens selbst; sie haben nicht wie dieses den gleichen Ernstcharakter. Und sind nicht den gleichen Macht- und Spannungsverhältnissen ausgesetzt, wie sie in den politisch gesellschaftlichen Handlungsbereichen bestehen. Deshalb können Schulen auch keine Polis sein, aber sie sollten anstreben, demokratisch ausgerichtete Lerngemeinschaften in Richtung des Ideals der Polis zu sein« (Aurin 1999: 175f.). Dennoch geht die Schulentwicklungsforschung seit einiger Zeit davon aus, dass eine Demokratisierung der Schule vor allem erst einmal um der Schule willen angestrebt werden müsse. Partizipation wird in der modernen Schule vor allem dazu gebraucht, dass die Akteure vor Ort – Lehrerinnen, Schülerinnen, Eltern – mehr Eigenverantwortung übernehmen und damit die Steuerung schulischer Prozesse verbessern helfen. Auch herrscht darüber Konsens, dass Partizipation die Integration in und die Identifikation mit der Schule fördert. Das alles unterscheidet die Frage der Partizipation in der Schule nicht von der inzwischen geläufigen Erkenntnis der Funktionalität von Partizipation in modernen Industriebetrieben. Schwieriger wird es, wenn es um die Schule als Raum der Interessenartikulation und Mitbestimmung geht. Bezieht sich die Mitbestimmung nun auf die Schülerrolle oder auf die Anerkennung der Schülerinnen und Schüler als Bürgerinnen und Bürger? Auch die Frage, wie weit die Schule sich ins Gemeinwesen hinein mit Projekten öffnen kann, in denen die Schüler*innen als Bürger*innen auftreten können, ist in den schulpolitischen Diskussionen immer noch kontrovers. Wie sieht es nun mit dem Demokratiepotenzial der Schule aus? Mit der durch den technologischen Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft induzierten tendenziellen Entkoppelung von Bildungs- und Berufssystem bleibt zwar die Auslesefunktion der Schule bestehen, ihre Qualifikations- und Allokationsfunktion ist aber längst nicht mehr selbstverständlich und durchgängig gegeben. Gero Lenhardt (1994) unterscheidet zwischen der sozialintegrativen und der systemintegrativen Bedeutung der Schule. Die systemintegrative Stabilität der Schule besteht auf ihre Staatlichkeit, der damit verbundenen Durchsetzungsfunktion staatliche Autorität, ihrer öffentlichen Neutralität (über den partikularen Interessen stehen) und ihre daraus abgeleiteten bürokratische Struktur. Gerade ihr Bürokratismus, der als Hintergrundstruktur verdeckt wirkt und deshalb in der flexiblen Alltagskommunikation der erzieherischen Verhältnisse oft nicht als solche erkennbar ist, bindet das System Schule besonders eng an seine Umweltgrenzen und seine Selbstreferenz Realität und erhöht seine Selektivität. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass oft eine große
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Kluft besteht zwischen dem, wie die Lehrer*innen alltäglich Schule und die Beziehung zu ihren Schüler*innen gestalten möchten, und dem, was Schule letztendlich zulässt und in der Bilanz jeweils zugelassen hat. Die systemische Angst um ihre Grenzziehung und damit Bestandserhaltung demonstriert die Schule nahezu alltäglich wenn es darum geht, schulfremde Aktivitäten aus dem Schulbereich herauszuhalten. Je weniger aber die Schule soziale Probleme der Schüler*innen nicht mehr vor ihrer Tür halten kann – die immer wiederkehrenden Diskussionen um Schule und Gewalt oder um die Zulassung politischer Parteilichkeit in der Schule machen dieses systemische Dilemma deutlich. Dies äußert sich nicht zuletzt in Irritationen bei den Lehrern und Lehrerinnen, die sich entweder nicht sicher sind, inwieweit sich die Schule öffnen kann, oder die im Gegenteil die Schule noch geschlossener sehen wollen. Manche Lehrer*innen wollen dann nur noch Schule machen und nichts anderes. Nun wurde oben argumentiert, dass die Schule eben nicht nur Funktions- sondern vor allem auch Sozialraum ist, in dem die Kinder und Jugendlichen über den engeren Unterricht hinaus Aneignungs- und Ausdrucksformen entwickeln und darüber eine lebensweltliche Identifikation mit der Schule suchen. Im Gegensatz zu Erwachsenen, die sich vor allem über Rollen und Positionen verstehen, orientieren sich Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und Verortung vor allem auch über die Zugehörigkeit zu räumen. Sie erfahren im räumlichen Aneignungsverhalten direkt und unmittelbar, welche sozialen Gestaltungsmöglichkeiten ihnen offen stehen oder verweigert werden. Deshalb müssen Schulen kinder- und jugendkulturell sensibel sein, müssen Erlebnis-, Handlungs- und Projekträume anbieten können, in denen sozialräumliche Aneignungsprozesse möglich und in der Balance zum kognitiven Lernen des Unterrichts anerkannt sind. Wenn dies nicht gelingt werden viele, vor allem leistungsschwächere Schüler, keine Bindung an die Schule entwickeln, und mangelnde Schulbindung ist oft auch der Grund für antisoziales Verhalten von Schülern und Schülerinnen in der Schule. Somit kann eine misslungene Balance Ursache dafür sein, dass Schüler*innen auffälliges Verhalten einsetzen, um auf sich aufmerksam zu machen, um dadurch Selbstwert und Anerkennung – im Sinne von Aufmerksamkeit-Erregung – zu erlangen. Damit lernen sie in einem versteckten sozialen Curriculum ein antisoziales Durchsetzungsverhalten, das sich als Komponente politische Sozialisation so auswirken kann, dass sie aktuell und später bei der Orientierung dort suchen, wo Stärke auf Kosten anderer propagiert wird. Meist sind es eher die Jungen, die in diesen Auffälligkeitszirkel geraten. Die Schule wirkt also verdeckt politisch, auch wenn sie es nicht wahrhaben will. Sie hat es täglich mit sozialen Konflikten zu tun, die in ihr aufbrechen und ist schlecht gerüstet, mit diesen umzugehen. Wenn man das Politische in seinem Kern als Möglichkeitsraum der Anerkennung und Austragung von Konflikten begreift, dann müsste der Schule daran gelegen sein, Räume zu öffnen und Verfahren zu schaffen, in denen Konflikte auch ausgetragen und einer demokratischen Integrationsperspektive zugeführt werden
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können. Dass dies auch dem Unterricht zugutekommt – zum Beispiel in der Förderung innerschulischer kooperative Lernformen –, soll hier nicht weiter vertieft werden. Wichtig an solchen Konfliktmodellen ist vor allem auch ihre sozialisierende Funktion. D.h. sie erzeugen nicht nur Integrationseffekte im Sinne von Identifikation mit der Schule und Ansätze sinnstiftender Schulkultur, sondern lassen auch den Schüler*innen bewusst werden, dass sie hier soziale Kompetenzen erwerben können. In diesem Zusammenhang können wir ruhig auf die 1970er und 1980er Jahre zurück blicken, in denen Modelle einer »gerechten Schule« mit gemeinschaftlichen Kommunikationsformen und Verfahren entwickelt wurden, in denen die Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen ihre unterschiedlichen Interessen bezüglich des innerschulischen Alltags kontrovers und öffentlich machen konnten und nicht mehr der Regelung, hierarchische Anordnung überlassen waren. Dabei zeigte sich, dass gegenüber traditionellen Regelverfahren ein neues soziales Element ins Spiel kam, welches Interaktionen und integrative Bezüge schaffte, die ohne die Aufschließung des Problems im gemeinsam durch gestandenen Konfliktprozess nicht entstanden wären (vgl. Oser 1990). Oser verweist in diesem Zusammenhang auf die empirisch belegbare typische Differenz – manchmal sogar Gegenläufigkeit – zwischen moralischen Einstellungen und moralischem Handeln der Konflikt kann eine Verbindung von Einstellung und Handeln zu provozieren, dass sich das Individuum in seiner Persönlichkeit aktiviert, aber nicht überfordert fühlt. Denn es gehörte zur Grundregel des demokratischen Konflikts, dass die gegenseitige persönliche Integrität gewahrt werden muss. Die praktische Bilanz des Diskurses zur demokratischen Schule fällt heute bescheiden aus. Vom Anspruch, die Schule über eine zweite – demokratische – Kultur zu öffnen konnte wenig realisiert werden. So blieb es dabei, dass die Konzepte der demokratischen Schule Wichtiges, aber nur Begrenztes zum neuen Diskussion zur Reform der Schule beigetragen haben. Lediglich im Rahmen der Diskussionen um die Gewalt in den Schulen wurden Bezüge zum demokratischen Schuldiskurs – in nun in der schulischen instrumentalisierter Form – bei der Entwicklung von Konzepten und Verfahren zur Gewaltprävention und Krisenintervention hergestellt. Die Schule und ihre Reformen waren damals eine der strategischen Orte im Experimentier- und Modellraum eines sich weiter modernisierenden Sozialstaates. Heute zeigt sich, dass auch die Bildungsinstitutionen und damit die Schulen in den Sog der Entgrenzung des Sozialstaates geraten sind und längst in einem ökonomischen Wettbewerb stehen, in dem sie durch Zielvereinbarungen und Lernmodule gesteuert werden. Fast alle Studien verweisen darauf, dass ein gehobener Bildungsabschluss zwar die prinzipielle Anwartschaft in eine gehobene Einkommenssphäre aber nicht die Garantie für ihre Erreichbarkeit darstellt. So wächst der ökonomische Verwertungsdruck auf die Schule. Es wird sogar von einem »Verdrängungswettbewerb« gesprochen, dem die Politische Bildung gegenüber den technisch, ökonomisch und beruflich verwertbaren Wissensbereichen ausgesetzt sei (vgl. Gökbudak/
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Hedtke 2017). Der Grundkonflikt zwischen Verwertungs- und Bildungsorientierung scheint wieder durch. Bürgerschaftliches Engagement und Service Learning sind die derzeitigen Modelle, von denen sich die neuere Schulentwicklung eine partizipative Öffnung verspricht. Hier können auch soziale Nachhaltigkeitsprojekte in Richtung Gestaltungskompetenz und Verantwortungsübernahme initiiert werden. Dazu braucht man aber eine Schulstruktur, in der Räume und Zeiten vorhanden sind, projektorientiert zu arbeiten. Also werden die Möglichkeiten dieses partizipativen Lernens vor allem an der Ganztagsschule diskutiert. Solche Konzepte gehen von einem erweiterten Bildungsbegriff aus, in dem Bildung ›mehr als Schule‹ ist und der die traditionalen curricularen Verfahren der Schule weit übergreift. »Wenn also Bildung nicht nur kognitives Wissen, sondern auch soziales Lernen – Kommunikations-, Kooperationsund Teamfähigkeit, Empathie und soziales Verantwortungsbewusstsein […] sowie Partizipations- und Mitbestimmungsfähigkeit als mündige Bürgerinnen und Bürger umfasst«, dann kann Schule zum »Ort des Erlernens von Gemeinsinn« werden (Hartnuß u.a. 2013: 126ff.).
Autorität und Verantwortung – Die Lehrerrolle Nach Giesecke hat sich die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung schon ausgangs des 20. Jahrhunderts erheblich verändert: »Sie ist nicht mehr einfach […] durch Hingabe an den Erzieher zu beschreiben, die sich insbesondere im Gehorsam ihm gegenüber ausdrückt« (Giesecke 1997: 261). Das öffentliche pädagogische Handeln könne nur noch auf einer begrenzten Autorität beruhen. Die Schüler*innen unterwürfen sich nur noch zu dem Zweck des Unterrichts den Lehrer*innen. Aufgegeben wird damit auch eine generell vorhandene Asymmetrie der Beziehung. Eine Dominanz der Lehrer*innen bestehe nur für den Unterricht; im Übrigen bleibe die Gleichrangigkeit zwischen Lehrern und Schülern aber grundsätzlich erhalten. Der Lehrer sei auch nicht von vornherein moralisch der bessere Mensch, der die Schüler*innen auf den richtigen Weg zu bringen habe. Eine radikale Veränderung der Rollen von Lehrer*innen und SchülerInnen konstatiert auch Manuela du BoisReymond Ende der 1990er Jahre (1998): Das Verhältnis zu den Lehrer*innen sei durch die bürokratische Massenschule vergleichgültigt. Aus einem hierarchischmoralischen sei ein sachlich-geschäftliches Verhältnis zwischen Schüler*innen und LehrerInnen geworden. Moderne LehrerInnen würden nicht mehr von einem Berufsethos geleitet. Schüler*innen und Lehrer*innen würden heute nicht mehr von einem gesellschaftlich festgelegten Bildungskanon zusammengehalten, sondern seien eine Zweckgemeinschaft auf Zeit. Durch Massenschule und Massenprofessionalisierung sei das personale Verhältnis zwischen LehrerInnen und Schüler*innenzerbrochen. Mit einer ähnlichen Stoßrichtung konstatiert Walter Hornstein (1999), dass die Lehrenden die Ausübung der Generationendifferenz
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verweigerten und sich gegenüber den Schüler*innen in einer Weise verhielten, als ob Angehörige einer Generation miteinander interagieren. Was bei Giesecke als Emanzipationsgewinn aufgefasst wird, werten du Bois-Reymond (1998) und Hornstein (1999) kulturpessimistisch als Verlust einer besonderen Qualität des Miteinanders von Schüler*innen und Lehrer. Gleichzeitig wurde aber – angesichts grassierender Ausgrenzungsdynamiken in Schulen – wieder eine verbindlichere Lehrer-Schüler-Beziehung (Pädagogischer Bezug) eingefordert. In den vom Berliner Institut für Lehrerfort- und Weiterbildung (BIL) herausgegebenen Unterrichtsmaterialien (1994: 244f.) heißt es dazu dass es für manche Schüler*innen durchaus ein Verlust ist, wenn sie die LehrerInnen nicht erreichen können. »Wenn Lehrer ihre Aufmerksamkeit auf das konzentrieren, was ihre Schüler nicht können, was sie noch nicht können, […] wenn immer vorwiegend die Lücke Gegenstand der Wahrnehmung und Auseinandersetzung wird, dann zerstört dies die Fähigkeit junger Menschen, sich selbst kennen zu lernen und anzunehmen«. Rudolf Tippelt (2013) schlägt in diesem Zusammenhang vor, das Konstrukt des Pädagogischen Bezugs so zu modernisieren dass beide Seiten in der Lehrer*innen-Schüler*innenBeziehung, nämlich Nähe und Distanz, Bindung und Abwehr thematisiert werden können. Inzwischen – so Klaus Hurrelmann (2018) – wünschen sich viele der heutigen Jugendlichen, wie sie als Generation Y/Z beschrieben werden, in ihrer Schulorientierung nicht nur neue didaktische Modelle, sondern auch neue LehrerInnen, die ihre soziokulturelle Selbständigkeit anerkennen und dennoch für sie da sind. Viele fühlten sich den LehrerInnen in Manchem überlegen, gleichwohl sie ihre Erfahrung und ihre Zugewandtheit schätzten. Das ist die emotionale Basis für eine dialogische Verantwortung. Lehrer und Lehrerinnen, die in dialogischer Verantwortung arbeiten wollen, müssen aber eine entsprechende Selbstverantwortung entwickeln können. »Eine selbstverantwortliche Lehrkraft weiß, dass sie den Verhältnissen in ihrem beruflichen Umfeld, der Schule, nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Und sie ist über dieses Wissen hinaus in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, d.h., sie versucht nicht, Verantwortlichkeiten in ihrem beruflichen Alltag an andere abzugeben, sondern übernimmt selbst Verantwortung. […] Nur wenn Lehrerinnen und Lehrer offen und selbstkritisch mit sich umgehen, lässt sich ein Konflikt zwischen professionellem Rollenbild und personalem Selbstbild bewältigen. D.h. auch, dass sie ihre Handlungsentscheidungen in konkreten Interaktionssituationen auch im Nachhinein vor sich selbst als Person verantworten können« (Maulbetsch 2010: 126f.). Neue Herausforderungen für das Verantwortungsverhältnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen entstehen mit den in der Schule eingesetzten KI-Programmen. Vor allem jene Programme stehen hier im Mittelpunkt, die von einem Chat Roboter (hier vor allem Chat GPT) ausgehen. Es sind Chat-Programme, die ähnlich wie wir Menschen reagieren und die nicht nur Fragen beantworten können, sondern auch Texte selbst verfassen, Vorträge schreiben und komplexe
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Aufgaben lösen können. Wer dahinter steht, ist für die Nutzer*innen nicht sichtund greifbar; wir haben es zwangsläufig mit einer ›Verantwortungslücke‹ zu tun. Die traditionelle Verantwortungsbrücke zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen scheint gebrochen zu sein. Sowohl die Eigenleistung der Schüler*innen als auch die Lehr- und Vermittlungsleistungen der Lehrer*innen müssen nun neu geortet werden können, damit eine neue Verantwortungsbrücke definiert werden kann. Das Problem besteht vor allem darin dass wir es hier mit einem autonomen System zu tun haben, dass nicht einfach korrigiert werden kann. Eine Regulierung des KI Systems ist aber notwendig, damit es nicht die Kontrolle übernimmt und damit den Schüler*innen ihre Gestaltungsfreiheit raubt. Deshalb braucht es ethische Standards, um die Autonomie von Schüler*innen zu fundieren. Denn die Gefahr, dass die Systeme automatisch danach drängen, selbst autonom zu werden und vom Menschen nicht mehr beherrschbar zu sein, wird in der Diskussion immer wieder beschworen. Da KI nicht nur als Suchmaschine im herkömmlichen Sinne funktioniert, sondern eine persönliche Beziehung suggeriert; vermittelt es ein Erlebnis, das den Nutzer*innen Autonomie und Eigenmacht vortäuscht. Die andere Seite der Medaille zeigt die Vorteile solcher Programme. Sie können Lern-Apps entwickeln, die auf die einzelne Schüler*innen abgestimmt, personalisiert sind und Feed back Mechanismen einrichten, die den Prozesscharakter schulischen Lernens freisetzen. Gerade hier kann der Befürchtung; KI beeinträchtige die persönliche Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen beeinträchtigen, das Gegenteil entgegengehalten werde: Das Schülersein und das Lehrersein können in den Vordergrund treten, beider Autonomie kann Raum gewinnen.
Mündigkeit und Verantwortung – Das Just Community Modell Mündigkeit als Prozess der Selbstbefreiung aus selbst- und fremdverschuldeter Unmündigkeit ist der Imperativ der Aufklärung. Mit ›selbstverschuldet‹ ist der fehlende Mut zum Widerspruch, mit ›fremdverschuldet‹ sind die Verhältnisse gemeint. Als emanzipatorischer Prozess setzt Mündigkeit Konfliktfähigkeit voraus. Seit Klaus Mollenhauer (1968) diesen Zusammenhang expliziert hat, versteht die kritische Erziehungswissenschaft Mündigkeit nicht nur als individuelle Befähigung, sondern immer in Relation zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, zu denen die Individuen in Spannung stehen. In diese Spannung ist Verantwortung für sich selbst und darin für andere in der Gemeinschaft, als Ausdruck sozialer Freiheit, eingebunden. Verantwortung ist ein Ausdruck von Mündigkeit. Gerade heute sind die Barrieren zur Erlangung von Müdigkeit eher größer geworden. Unter der Prämisse des globalen Standortwettbewerbs nimmt die Erziehung zur Selbstdisziplinierung, zur Verinnerlichung von Leistungszwängen und unreflektiert übernommenen gesellschaftlichen Normen der Selbstvermarktung und Optimierung des flexiblen Menschen immer konkretere Formen an. Es gilt also, die
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Verhältnisse, die solche Unmündigkeit schaffen, zu thematisieren. Deswegen ist es problematisch, Mündigkeit alleine in der pädagogischen Beziehung ausbilden zu wollen. Adorno hat in einem Talk zu Mündigkeit bewusst darauf verzichtet, den Begriff ›Erziehen‹ im Zusammenhang mit Mündigkeit zu gebrauchen. Er sprach lieber von zur Mündigkeit ›bewegen‹, statt von ›Erziehen‹ (Adorno 1970: 146). Dass das Erziehen zur Mündigkeit sowieso ein ambivalentes Unterfangen ist, zeigt das darauf gemünzte Paradox: »den so zu Erziehenden zu etwas aufzufordern, was er noch nicht kann und ihn als jemand zu achten, der er noch nicht ist, sondern allererst vermittels Selbsttätigkeit wird« (Benner 1987: 71). Wir wollen diese Zusammenhänge von Mündigkeit und Verantwortung am Beispiel der Schule vertiefen. Dann wird deutlich werden, dass die Lehrer*innen-Schüler*innen Beziehung nicht ausreicht, um Mündigkeit zu entwickeln, sondern dass es genauso mündige, d.h. in ihren pädagogischen Befugnissen und organisatorischen Arbeitsbedingungen autonome Lehrer*innen braucht, wenn es innerschulisch um die ›Bewegung‹ zur Mündigkeit gehen soll. Ebenso müssen die Schulverhältnisse thematisiert werden, d.h. die Chancen der Demokratisierung der Schule, der Anerkennung der Schüler*innen als Bürger*innen und der projektgetragenen Öffnung der Schule in den kommunalen Raum. Ein herausragendes Konzept der Erziehung bzw. des ›Bewegens‹ zur Mündigkeit ist das der Just Community. Moralische Urteilsfähigkeit, Gemeinsinn, Übernahme von Verantwortung, Empathie und Fürsorge sind die Kernziele dieses Modells, die darin ablaufenden Prozesse sind Aushandlungsprozesse. Die jeweilige Verantwortung, die sich darin entwickelt, ist eine dialogische Verantwortung. Im Modell der Just Community können sich sowohl die Schülerrolle wie auch die Lehrerrolle sozial öffnen und kann die Elternbeteiligung zum integralen Bestandteil des schulischen Prozesses werden. Eigenverantwortung der Schüler*innen entsteht hier in der Spannung zwischen Selbstverwirklichung und Rollenübernahme. Damit ist das Grundmodell der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit empirisch eingelöst. Die Bildung von Verantwortung bei Schüler*innen und Lehrer*innen verläuft über vier Strukturelemente. Im Mittelpunkt steht die periodische Gemeinschaftsversammlung, in der Schüler*innen und Lehrer*innen versuchen, anstehende schulische Probleme und Konflikte in einem gemeinsamen Diskurs zu bringen. Vorbild ist das Modell der idealen Diskursgemeinschaft (nach Habermas), in der es um die Argumentation und Begründung in Stellungnahmen und von Urteilen geht. Dabei wird nicht nach unmittelbaren Lösungen gesucht, sondern im Mittelpunkt steht der Aspekt der Entwicklung moralischer Urteile. Im Aufforderungscharakter des Diskurses können sich Schüler- und Lehrerrollen hin zum Schüler- und Lehrersein öffnen, die Persönlichkeiten treten hervor. »Das Thema wird von der Vorbereitungsgruppe vorgetragen. Es lautet diesmal Diebstahl in der Schule. Die leitenden Schüler zeigen sich betrübt darüber, dass im-
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mer wieder kleinere und größere Diebstähle vorkommen. Einige Schülerinnen und Schüler beschreiben, wie es ihnen ergangen ist, als man ihnen einen teuren Kugelschreiber, eine Jacke, ein Portmonee usw. geklaut hatte. Nach einigen Wortmeldungen wird der Vorschlag gemacht, dass man einen gemeinsamen Vorrat anlegst soll, aus dem den bestohlenen Kindern geholfen werden könne. Dieser Vorschlag erregt die Gemüter. Sobald der Vorschlag angenommen würde, müsse jeder etwas geben, auch wenn es nur ein Pfennig wäre. Nach der Gruppendiskussion wird heftig und kontrovers für und gegen den Vorschlag geredet. Es gibt Schüler, die die Gemeinschaftsidee betonen. Wir gehören doch zusammen und wir sollten einander helfen. […] Andere wiederum bringen vor, dass man auf diese Weise Diebstahl nur unterstützen würde, weil jeder kommen und einen Diebstahl melden könnte. Die Schüler werden immer aufmerksamer und wacher, Lehrer und Lehrerinnen nehmen an der Debatte teil, auch ihre Meinung ist keineswegs einhellig […] Es kommt zur Abstimmung, das Ergebnis wird weiter diskutiert und Diskussionen in kleineren Gruppen fortgeführt. 120 Schüler und 30 Lehrer nehmen äußerst diszipliniert, aber gespannt und motiviert an der Diskussion teil. Plötzlich auf dem Höhepunkt, macht ein Schüler den Vorschlag, dass man zwar für Opfer von Diebstählen sammeln sollte, aber nicht einen Fonds anlegen müsse, sondern von Fall zu Fall entscheiden könne, ob der Betroffene tatsächlich Hilfe brauche. Das würde dem einzelnen mehr Freiheit geben, mit zu entscheiden ob es sich um einen echten oder um einen unechten Fall handelt. Dieser Vorschlag wirkt sehr befreiend« und löst ein allgemeines Gefühl der Verantwortung qua Mitbestimmung aus (Oser/Althoff 1997: 236f.). Verantwortung entsteht im Konfliktdiskurs. Dieser ist beim Just Community Modell durch moralische Dilemmata strukturiert. »Ein Dilemma entsteht dann, wenn sich in einem Entscheidungskonflikt zwei Werte gegenüberstehen, die man nicht preisgeben möchte, von denen aber eine unweigerlich verletzt werden muss, wenn man sich zu einer Entscheidung durchringen will […]. Der erzieherische Wert der Beschäftigung mit verschiedenartigen Dilemmata im Kontext der Unterrichtsfächer besteht darin, dass Schülerinnen und Schüler argumentieren lernen, dass sie die moralisch relevanten Seiten der Fächer kennen lernen und dass sie Anregung zur Entwicklung einer höheren Stufe des moralischen Urteils erhalten. […] Das Ziel der Dilemmata-Diskussion bestand nicht darin, eine schlaue Lösung zu finden, sondern die besten, gerechtesten, fürsorglichen und wahrhaftigen Argumente für einen Lösungsvorschlag zu generieren« (ebd.: 250). Verantwortung entwickelt sich weiter im Spannungsfeld von Gruppenbezug, Rollenübernahme und Selbstwirksamkeit. Die Zugehörigkeit zur Gruppe und die Angst vor dem Ausschluss bestimmen untergründig den gruppendynamischen Prozess der gemeinsamen Diskussionsveranstaltungen. Die Jugendlichen stehen unter dem produktiven Zwang, die anderen einmal von deren Interessen her wahrzunehmen und sich dabei selbst in Beziehung setzen zu müssen. Verstärkt und in gewissem Sinne institutionalisiert wird dies durch den Prozess der Rol-
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lenübernahme, zuerst ungeplant in der Diskussion und dann in den späteren Arbeitsgruppen und -projekten. »Die Aufforderung zur Orientierung am Anderen darf dem einzelnen nicht die Luft zum Atmen nehmen – die Freiheit, auch einmal einfach den eigenen Bedürfnissen zu folgen (solange sie andere nicht daran hindern, ihre Bedürfnisse zu realisieren). Das erhoffte Gleichgewicht ist immer fragil, das gemeinsame Netz muss immer wieder neu geknüpft werden. Und doch ist gerade das gemeinsame Projekt ›Unsere Schule‹ und insbesondere die gemeinsame Versammlung – sofern es gelingt, sie als inhaltlich wichtig zu erfahren – dann der Nährboden für die Genese und die Transformation dieses zerbrechlichen Gleichgewichts« (ebd.: 144f.). In diesem Gruppengefühl entsteht auch Selbstwirksamkeit, das Gefühl, Lage zunehmend gewachsen zu sein und darin auch Verantwortung übernehmen zu können. »Denn mit jeder vorgenommenen Veränderung steigert sich die empfundene Zuversicht, dass gemeinsame Anstrengungen zu einem gewollten Ergebnis führen. Das System wird als veränderbar erfahren, und es wird die Überzeugung herausgebildet, es gebe durchaus die Möglichkeit, einen ungerechten Zustand zu verändern, ein Problem der Gemeinschaft zu lösen und eine an äußere Autoritäten gebundene, bislang immer wieder realisierte unsinnige Verhaltensgewohnheit aufzulösen« (ebd.: 245).
Service Learning Im Service Learning (SL) verbindet sich fachlicher Unterricht mit außerschulischem ökologischen und sozialen Engagement. Das Wissen zum Beispiel, das im Naturkunde- oder Chemie-Unterricht erworben wird, kann in verschiedenen Umweltprojekten angewandt und praktisch umgesetzt werden. Das gilt für fast alle Fächer. Was im Sozialkundeunterricht über soziale Ungleichheit gelernt wird, kann durch Engagement der Schüler*innen in der örtlichen Obdachlosenarbeit oder der Arbeit mir benachteiligten Kindern. sozial plastisch werden. Die jeweilige Gruppe übernimmt dann auch die Verantwortung für das außerschulische Projekt. Dieses Lernen im Verbund zwischen Unterricht und außerschulischem Projekt erhält seine besondere Qualität dadurch, dass ein neues Übergreifen der Lernorte entstanden ist, indem formelles und informelles, kognitives und soziales Lernen ineinander übergehen. Wie beim innerschulischen Just Community Modell spielen Rollenübernahme und Entwicklung von Selbstwirksamkeit vor dem normativen Horizont des Gemeinwohls und der Fürsorge für Mensch und Natur zusammen. Zum Service Learning gehört auch, dass die Schüler*innen in schulischen Projekten Produkte oder Dienstleistungen entwickeln, die auf den kommunalen Markt gebracht oder sozial dem Gemeinwesen zugutekommen können. »Die Service-Learning-Projekte reagieren auf einen echten Bedarf. […] Die Projekte sind Teil des Unterrichts und werden gezielt mit Inhalten der Bildungspläne in unterschiedlichen Fächern verknüpft. […] Die Projekte führen die Schüler aus der Schule hinaus in die
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Gemeinde an neue Lernorte. Sie erhalten dort die Möglichkeit, in der Schule erlerntes Wissen in direkten Kontexten mit anderen Partnern anzuwenden. Die Schüler sind an der Planung und Durchführung des Projekts maßgeblich beteiligt. […] Im Rahmen von Schule und Unterricht erhalten die Schüler regelmäßig Gelegenheit zu einer bewussten Reflexion ihrer Erfahrungen und Wahrnehmungen im Projekt« (Sliwka 2013: 154). Die Organisation des Lernens wandelt sich von der Wissensvermittlung hin zur bürgerschaftlichen Diskurskompetenz. Soll dieses Ziel erreicht werden, muss die Schule allerdings erkennen und akzeptieren, dass sie auf die erweiterte Integration bürgerschaftlicher Inhalte angewiesen ist. Bürgerschaftliches Engagement wird so zum Bildungsfaktor, Schüler*innen können sich faktisch als verantwortliche Bürger*innen verstehen und dies öffentlich demonstrieren. SL ist mehr als nur die Anwendung von unterrechtlichem Wissen in Alltagsprojekten. Es ist Lernen von Verantwortung. Die Schüler*innen sind verantwortlich für die außerschulischen sozialen und ökologischen Projekte, in denen sie verschiedene Rollen übernehmen. Die Projekte sind Gemeinwohlprojekte und die Projektrollen werden zu Bürgerrollen. Das verlangt nicht nur eine Öffnung der Schule in die Gemeinde hinein, sondern vor allem auch die Bereitschaft der Schule, »eine veränderte Kultur der Leistungsentwicklung und-Bewertung einzuführen« (ebd.: 20). SL kann sich auf alle Fächer beziehen. Wenn im Sozialkundeunterricht Themen wie soziale Ungleichheit oder Migration behandelt werden, dann können die Schülerinnen im kommunalen Umfeld zum Beispiel an Tafelprojekten mitwirken, oder auch Migrantenkindern Deutschunterricht geben. »Für die Lehrer bahnt sich ein Paradigmenwechsel immer deutlicher: Die Lehrer müssen […] in Zukunft mehr supervisorisch tätig sein, indem sie das Ziel zeigen, den Weg aber den Schildern überlassen. Dazu gehört Vertrauen. Der Lehrer muss Vertrauen in die Kräfte der Schüler entwickeln, ohne sie dabei allein zu lassen. Ebenso müssen die Schüler den Lehrern einen Vertrauensvorschuss geben, indem sie bereit sind, auch ungewohnte neue Projekte durchzuführen« (ebd.: 23). Die Schüler*innen wiederum kehren in die Schule anders zurück als sie vorher in die außerschulischen Projektarbeit gegangen sind. Sie haben ihren eigenen Lernort gefunden und sind von lernenden zu Expert*innen geworden. Damit diese Struktur des SL nachhaltig wird, werden außerschulische Partnerschaften und entsprechende Vernetzungen empfohlen.
Arbeitsplatz Schule Als wir zu Anfang der 1990er Jahre in unserer Hochschultätigkeit Studierenden aus der DDR begegneten, war für uns aus Westdeutschland kommend neu, dass sie das Studium ›als Arbeit‹ begriffen und eine entsprechend diszipliniertes Studienverständnis an den Tag legten. Zwar passten sich die meisten bald oder mit der Zeit dem offenen Studium und der darin verlangten Selbstregulierung an. Dennoch gewinnt die Idee, Studium und Schule auch in einer pluralistischen Gesellschaft als
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Arbeitsplatz unter dem Aspekt der Verantwortung zu betrachten, auch heute noch ihren theoretischen und praktischen Reiz. Zumal dann, wenn die Demokratisierung der Schule ansteht und die Schüler*innen als Bürger*innen gelten und frühere Modelle der Humanisierung der Arbeitswelt durchaus in die gegenwärtige Diskussion eingebracht werden können. Denn in diesen Modellen ging es nicht nur um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sondern genauso um den Zusammenhang zwischen den Rechten der Arbeitenden und ihrer Verantwortung für den Betrieb und die Sinnhaftigkeit dessen, was dort produziert wird. Humanisierungs- und Mitbestimmungsperspektive gehen hier ineinander über. Solange schulische Demokratisierung und Mitbestimmung stocken, müssen die Schüler*innen selbst Strategien entwickeln, mit der Schule ›umzugehen‹, biografisch durchzukommen, eben Schule zu bewältigen. Das offiziell weiter hoch gehaltene Bildungsethos bleibt dabei meist auf der Strecke. Angesichts der Tendenz, dass die Jugendzeit nicht nur Entwicklungszeit, sondern schon auch soziale Bewältigungszeit ist, in die der Ernstcharakter des späteren Lebens längst hinein spielt, muss die Schule den Jugendlichen auch entsprechend sozial sensibel begegnen können. Als erstes muss sie die Jugendlichen als Akteure akzeptieren, die erst durch ihr Handeln Beteiligung oder Nichtbeteiligung herstellen. Darin sind sie Kinder einer Gesellschaft, in der Politik entgrenzt ist und vorgeformte Beteiligungsmodelle wie z.B. Schülerparlamente nicht mehr so einfach funktionieren: »Sowohl die funktionalen wie auch die räumlichen Entgrenzungsprozesse verändern das, was heute in der Gesellschaft als politisch gilt und funktioniert. Die Prozesse verdeutlichen dabei, dass es sich bei der Politik nicht um einen festgefügten Gegenstand handelt, an welchen man sich interessieren kann. Zum Teil verändert man durch die Art der Beteiligung die Grenzen des Politischen selbst« (Jugend 2002: 49). Für die Schule als Ort politischer Sozialisation ergibt sich deshalb erst recht die Aufforderung, den Monolith Unterricht produktiv aufzubrechen. So wie sich in das Jugendalter der Ernstfall des Lebens vielfältig eingeschlichen hat, muss die Schule diesem Ernstcharakter Rechnung tragen und die Jugendlichen als junge Bürger anerkennen: es geht nicht mehr um ein Moratorium, in dem Jugendliche separiert von arbeitsgesellschaftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, Gesellschaft erfahren, sondern um soziale Teilhabe im Sinne von Bürgerrechten. Mit dem Begriff der Protected Autonomy wird heute der Jugendstatus gekennzeichnet. Von daher ist es sinnvoll, vom »Arbeitsplatz Schule«, zu sprechen und in diesem Kontext Überlegungen zur »Humanisierung der Schule« (Schirp 1993) anzustellen. Hier wird bewusst versucht, die Schulreformdiskussion an die Diskussion um die »Humanisierung der Arbeitswelt« anzubinden. Damit will man das Prinzip der institutionalisierten Gegenseitigkeit und Vertraglichkeit einbringen, in das auch Beteiligungsrechte eingebunden sind. Ein zugleich humaner wie entwicklungsfördernder Arbeitsplatz Schule kann für die Verfechter dieses Konzepts aber wiederum nur dort entstehen, wo sich die Definition von Produktivität
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nicht nur auf unterrechtliche Leistungen, sondern auch auf soziale Kompetenzen bezieht, wo Selbstwert nicht nur über Leistungskonkurrenz, sondern sozial multipel vermittelt werden kann und wo Raum für fachlich-kognitive sowie emotionale Auseinandersetzungen und soziale Konflikte gleichermaßen gegeben ist. Natürlich ist die Schule in ihrer institutionellen und biografischen Stellung kein Arbeitsplatz wie der Erwerbsarbeitsplatz. Sie steht strukturell – auch wenn sie sich noch so sehr räumlich und sozial öffnet – immer in Spannung zu Jugendkultur, und auch die schulischen Konflikte lassen diese Spannung immer wieder aufbrechen. Ein neues institutionelles Verständnis vom Arbeitsplatz Schule und von den Schüler*innen als Bürger*innen erkennt aber die soziokulturelle Selbstständigkeit von Jugendlichen trotz ihres ökonomischen und auch schulisch-institutionellen Abhängigkeitsstatus an und schafft somit die Voraussetzung dafür, dass Schüler*innen sich als verantwortliche Bürger*innen verstehen können, sodass sie nicht mehr zwanghaft die schulische und außerschulische Sphäre auseinanderhalten müssen. Dort, wo Schulen weitgehend demokratisiert sind, lässt sich eine Struktur ähnlich der Humanisierung der Arbeitswelt – von der Beteiligung an der Arbeitsorganisation und Produktionsgestaltung bis hin zur betrieblichen Interessenvertretung – erkennen. So geht es auch bei der Humanisierung der Schule um die Gestaltung von Räumen, um ein sozial verträgliches bis solidarisches Schulklima, um die Beteiligung an der Schulentwicklung und der Leitbild-Gestaltung, um die Mitwirkung bei der Unterrichtsgestaltung, die Etablierung einer gemeinsamen Notengebung, in die die Schüler*innen maßgeblich einbezogen sind, um die Entwicklung einer Feed-Back-Kultur in der Kommunikation zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen und der Schüler*innen untereinander und schließlich um die Schüler*innenVertretung. Unschwer lässt sich die Struktur einer dialogischen Verantwortung erkennen. Wenn wir die Arbeitsplatzperspektive einnehmen, dann müssen wir natürlich auch die Lehrer* innen mit einbeziehen. Heinz Schirp (1993) sieht hier eine Parallelität zwischen der Perspektive von Schüler*innen und der von Lehrer*innen. Er geht von der These aus, »daß der Arbeitsplatz von Lehrerinnen letztlich dadurch lebenswert und berufszufriedenstellend gestaltet werden kann, daß er sich stärker als bisher an den Lernbedingungen der Schülerinnen orientiert. Irritierend mag eine solche These dann sein, wenn man unter Rückgriff auf die Professionalisierungsdebatte der vergangenen Jahre […] unter Professionalisierung allein die berufsspezifischen Qualifikationen versteht, die sich auf das Fachstudium, das Erlernen und die Aneignung wissenschaftlicher Verfahren und Inhalte beziehen. Verständlicher wird die These allerdings, wenn man sich klarmacht, daß es auch eine klientenorientierte Professionalität geben muss und gibt und daß eine solche eigentlich auf den Lehrerberuf ganz besonders zutrifft. Ein solches Grundverständnis, daß die Lernbedingungen der Schülerinnen in den Mittelpunkt der Profession stellt, wird in der
Teil IV: Pädagogik der Verantwortung
fast schon programmatischen Aussage deutlich: wir unterrichten keine Fächer, wir unterrichten Schülerinnen« (Schirp 1993: 168f.). Dazu bedarf es aber bei den Lehrer*innen – beginnend mit der Lehrerbildung – einer Umorientierung von der professionell begrenzten Lehrerrolle in das Lehrersein und die Wahrnehmung der Schule als Milieu gemeinsamer Erfahrungen. Dann wird – so Schirp – die Schule »auch für die Lehrerinnen zu einem Lernort pädagogischer Gestaltung, zu einem Erfahrungsort, an dem Kooperation zur Gestaltung von Schul- und Unterrichtsarbeit gelernt wird und zu einem Diskussionsort, an dem Verständigung über Normenwerte und Konventionen mit dem Ziel eines gemeinsamen Schulethos stattfindet« (ebd.: 168). Im gemeinsam erarbeiteten Schulethos, also in der »Summe aller gemeinsam geteilten Werte, pädagogischen Konzepte und des daraus entstehende schulischen Engagements« (ebd.: 174) kann sich der Verantwortungskern einer Schule bilden.
Schule und Konflikt »Die juristische Regelung verbietet die Diskussion konfliktueller Situationen: oft ist es, als ob sich Bürokratie und Schulrecht miteinander verschwägern würden, um Reformen zu verhindern. […] Schulleiter und Lehrer müssen eine Haltung haben, die mit aller Kraft dieses [Diskurs-] Modell in seinen Krisen trägt: Eine solche Haltung bezeichnen wir als pädagogische Diskurshaltung. In ihr kommt die Bereitschaft zum Ausdruck, sich auf den Prozess der Konfliktregelung einzulassen, dass dem Schüler oder dem erwachsenen Anderen stets ›unterstellt‹ wird, dass er ebenfalls seine Vernunft gebrauchen kann und bei der Offenlegung der Geltungsansprüche je eine Balancierung der Dimensionen Gerechtigkeit, Fürsorge und Wahrhaftigkeit vornehmen kann« (Oser 1990, S. 113). Als der Moralpädagoge Fritz Oser diese Schulkritik schrieb, wurde auch in Deutschland das demokratische Modell der Gerechten Schule in der reformpädagogischen Tradition z.B. der Summerhill-Schulen und ihrer Verfassung der Selbstbestimmung der Schüler*innen in Lehrplan und Schulorganisation diskutiert. Inzwischen hat sich in den Schulen Einiges in Richtung innerer Konfliktkultur der Schulen getan. Dennoch bleibt weiter ungeklärt, welchen Konfliktstatus die Schüler*innen in dem hierarchisch-administrativen System Schule haben. Solange Schüler*innen nicht als Bürger*innen anerkannt sind, werden sie auch nicht als Konfliktpartei anerkannt. Der Konflikt legt die Verantwortungsstruktur der Schule frei. Wo Konflikte verdeckt sind, bleibt auch das herrschende Verantwortungsmacht im Dunkel. Der Konflikt hingegen zwingt zu Begründungen der gegensätzlichen Interessen und Positionen, zum Vergleich und mithin zum zumindest ansatzweisen Verstehen des anderen und damit zu Verantwortlichkeit. Damit hat der soziale Konflikt nicht nur
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eine gesellschaftliche, sondern genauso eine Alltagsfunktion: indem er einen immer wieder dazu bringt, seinen Standort in sozialen Kontexten zu bestimmen, indem er Normen, die oft schon in Ritualen versackt sind, neu beleben und füllen und Selbstreflexivität erzeugen kann. Der Respekt vor der jeweiligen persönlichen Integrität des Anderen – so würde ich es formulieren – ist die Grundlage der Integrationskraft des sozialen Konflikts im Alltag. Aus der Peer-group-Forschung erfahren wir, dass der Streit »durchaus zur Freundschaft gehört und nicht nur ein disruptives Element« darstellt. Schon Kinder vertreten »auf einer höheren Stufe des Beziehungsverständnisses die Auffassung, dass die Überwindung eines Streits eine enge Beziehung stärken kann« (Krappmann 1991: 369). In der neueren pädagogischen Diskussion gehört ›Erziehung zur Konfliktfähigkeit‹ zum Ensemble der zu erwerbenden Kompetenzen. Dass die integrative Seite der Schule durch Konflikthandeln aktiviert und lebensweltlicher Sinn in die Schule gebracht werden kann, zeigen Modelle, die das Gemeinsame an und in der Schule über die Inszenierung und Institutionalisierung des sozialen Konflikts und die Anerkennung und Etablierung einer entsprechenden innerschulischen Konfliktkultur aufmachen. Wichtig an solchen Konfliktmodellen ist ihre sozialisierende Funktion. D.h. sie sollen nicht nur soziale Integrationseffekte im Sinne von Identifikationen mit der Schule und Ansätze sinnstiftender Schulkultur erzeugen, sondern vor allem auch die Schüler*innen bewusst werden lassen, dass sie hier eine soziale Kompetenz der Verantwortungsübernahme über die Schule hinaus erwerben können. Problematisch wird es, wenn Konflikte nicht thematisiert und ausgetragen werden können. Statt Empathie und Respekt treten nun aggressive Abspaltungen als Abwertung und Ausgrenzung auf den Plan. Mobbing ist ein Beispiel dafür. Der Prozess des Mobbing oder Bullying folgt Gesetzmäßigkeiten, die aus der Zusammenschau von bewältigungs- und gruppendynamischer Perspektive aufschließbar sind. Ausgangspunkt sind in der Regel nicht thematisierte Konflikte in Schule und Betrieb, die zu einer negativen Schulklima führen, Unsicherheit und Hilflosigkeit erzeugen, nicht ausgesprochen werden können und deshalb abgespalten, auf schwächere projiziert werden müssen. In solchen prekären Konstellationen grassiert Verunsicherung und Hilflosigkeit bei den Einzelnen. Die Suche nach Gruppenzusammenhang und Gruppenhalt wächst. Diese sind aber nicht kommunikativ erreichbar, weil eben der diffuse Konflikt nicht thematisierbar ist. So bildet sich die Gruppe meist um einen negativen Kern aktionsmotivierter und bewegungsaktiver Mitschüler*innen, welche den Druck des Unbehagens der Gruppe transportieren können. Sie fokussieren das Unbehagen auf einen Sündenbock, einen Mitschüler oder eine Mitschülerin, der/die meist auch schon vorher als irgendwie »eigenartig« galt und auf den/die jetzt erst recht die eigenen Gefühle abgespalten und projiziert werden können. Das Opfer scheint nicht mehr als Freund oder Kollege erkennbar, es geht um die eigene Hilflosigkeit, zu deren Träger das Opfer wird. Gruppendynamische Aufschaukelungsprozesse verstärken den Sog und die Dramatik des Gesche-
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hens es entsteht eine Wellenbewegung der Verantwortungslosigkeit. Einzelne, die allein nicht mitmachen würden, werden in den Sog der Gruppe als Mitmacher und Mitläufer gezogen, weil sie auf die Gruppe und den Gruppenhalt in der prekären Situation angewiesen sind. Mitmachen vermittelt Anerkennung. Man ist im Gruppenstrom. Das Opfer kommt in einen Etikettierungszwang und damit selbst in eine Zone der Unsicherheit. Es verhält sich entsprechend unsicher und die Gruppe fühlt sich in ihrem Mobbingverhalten gegenüber dem Opfer bestätigt. In dieser Dynamik kann die Gruppe kein Unrechtsbewusstsein entwickeln, so entsteht gruppendynamisch Verantwortungslosigkeit.
Das Verhältnis von Familie und Schule als ›Verantwortungspartnerschaft‹ Generell treffen mit Familie und Schule strukturell zwei unterschiedliche Welten aufeinander: Die Familie als intime Einheit persönlicher Beziehungen und die Schule als überpersönliche Organisation mit gesellschaftlich geregelten Ansprüchen und Leistungen. Dennoch sind sie »untrennbar« miteinander verbunden, weil sie die beiden »zentralen Lebensbereiche« für Kinder sind (Busse/Helsper 2004: 439). Vor allem aus der rollentheoretischen Perspektive ist der pädagogische Zugang zum Kind in diesen Welten verschieden: Die Schule orientiert sich in ihrem Leistungsbezug und gemäß ihrer Auslesefunktion an der Schülerrolle, die nur einen Ausschnitt der Persönlichkeit darstellt, die Familie dagegen an der Gesamtpersönlichkeit des Kindes und Jugendlichen, dem Schülersein (s.o.). Aus systemtheoretischer Sicht wiederum sind Schule und Familie in ihrem System-Umwelt-Verhältnis deutlich selbstreferentiell strukturiert. Von daher überwiegt die Tendenz, sich eher gegeneinander abzuschotten. Strukturelle Verbindungen bestehen aber dort, wo die traditionell mittelschicht-codierte Schule sich bezüglich der sozialen Reproduktion der Schülerrolle auf die bildungsorientierte Mittelschichtfamilie verlassen kann. Damit sind allerdings Exklusionstendenzen gegenüber sozial belasteten Familien mit geringem Sozialstatus vorprogrammiert. Das Kernproblem sah schon der psychoanalytisch orientierte Pädagoge Siegfried Bernfeld vor nun fast hundert Jahren darin, dass die Schule zwar von ihrer institutionellen Verfassung her eine gesellschaftliche Institution ist, in der man allgemeine, familienübergreifende, also universale Kenntnisse und Fähigkeiten erwirbt, dass in ihr aber eine – institutionell weitgehend verdeckte – soziale und normativ-pädagogische Struktur familienähnlich wirke. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis stelle sich somit faktisch als elternähnliches, hierarchisches Generationenverhältnis dar und für die über das schulische Leistungs- und Konkurrenzsystem entstehenden Ängste gäbe es keine entsprechenden institutionellen Entlastungsmechanismen der Beratung und Stützung, so dass die Schüler*innen zwangsläufig in quasifamiliale Versagensängste und Schulkomplexe regredierten, die von der Schule wiederum pädagogisch ausgenutzt und damit weiter verschärft würden. Von dieser tiefenstrukturellen
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Verstrickung von Familie und Schule bleibt auch bis heute die Lehrerrolle nicht unberührt. Intimwelt Familie und Vertragswelt Schule können sich dort verstricken, wo Schulprobleme zu Familienkonflikten führen und umgekehrt, wenn sich familiale Konfliktmuster in der Schule durchsetzen: Wenn also Lehrer*innen von Schüler*nnen »enttäuscht« (ein Beziehungswort) von deren Leistungen sind, anstatt ihnen nachvollziehbare Bewertungen offenzulegen. Viele Familienkonflikte sind eigentlich Schulkonflikte; weil sie aber in der Schule nicht ausgetragen werden können, landen sie in den Familien und erfahren dort eine andere Rahmung: Schuldgefühle, Enttäuschungen, diffuse Versagensängste bei Eltern und Kindern. Problematisch ist deshalb das Argument, in der Familie lerne man doch, wie Konflikte geschlichtet, auf andere eingegangen, Verantwortung für andere übernommen werden kann. Nicht umsonst spreche man von der Aushandlungsfamilie. Das Private habe sich demokratisiert und das könne sich doch in die Gesellschaft hinein verlängern. In dieser Argumentation steckt die These, dass die Familie der Mikrokosmos der Gesellschaft sei, eine These, die alle, die in der Sozialisationsforschung bewandert sind, stutzig macht. Hat die Familie nicht eine signifikant andere Qualität als die Gesellschaft? Ist sie doch eine meist blutsverwandte Intimgruppe, in der entsprechend emotionale Beziehungen vorherrschen, im Gegensatz zum rationalen Rollen- und Institutionensystem der Gesellschaft, das auch unabhängig von den konkreten Personen weiter existiert. Als Institution ist die Schule an der Rationalität der arbeitsteiligen Gesellschaft orientiert, ihre Lehr- und Lernpläne sind entsprechend personenunabhängig gestaltet, ihre Selektionsfunktion gesellschaftlich abstrakt begründet. Schüler*innen und Lehrer*innen werden nur ausschnittweise in ihren Rollen gesehen, das Persönliche muss unter den Bänken bleiben. Konflikte – Schulschwierigkeiten und Schulversagen – sind entsprechend institutionell durch Verfahren geregelt, die die Schülerrolle betreffen, die Persönlichkeit, das Schülersein aber außer Acht lassen. Gleichzeitig aber steht die Schule, was die Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen und ihrer Entwicklung anbelangt, im Zwischenfeld von personenzentrierter Familie und rollenzentrierter Gesellschaft. Das heißt, die Schüler*innen bringen ihre biografischen Entwicklungs- und Bewältigungsprobleme in die Schule, die sie aber von ihrer institutionellen Struktur her nicht aufnehmen und integrieren kann. Diese Verstrickung der Schule in den sozialen Alltag der Schüler*innen herein hat sich heute erweitert und kompliziert. Da die Schule von ihrer institutionellen Logik her die psychosozialen Probleme des Schüler-seins nicht aufschließen kann, gleichzeitig aber unter dem alltäglichen Druck dieser psychosozialen Probleme steht, bedient sie sich – natürlich nicht thematisiert und den Lehrern nicht bewusst – der Familie. Anders ausgedrückt: da auf Grund der besonderen Entwicklungskonstellation und -dynamik des Jugendalters ein Spannungsverhältnis von Familie und Schule besteht, das sich in der Person des Jugendlichen ausdrückt, gerät die Schule in den strukturellen Zwang, die nicht
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rational-organisatorisch integrierbaren persönlichen Probleme und ihre Folgen in der Schule der familialen Sphäre zu überlassen, bzw. sich ihrer Muster zu bedienen. Familiale Konflikte werden aber kaum rational ausgetragen, sondern in intimer Betroffenheit bewältigt. In der Intimgruppe Familie überwiegen die tiefenstrukturierten Bewältigungsmodi von Übertragung, Abspaltung und Schuldübernahme genauso wie Beziehungs- und Verlassens Ängste, Bindungsenttäuschungen und Versagenstraumata. Damit hantiert nun auch die Schule und es ist kein Wunder, dass heute noch – oder wieder, oder sogar mehr – ausgeprägt rationale Leistungsorientierung und unbewältigte Infantilität in der Schule Hand in Hand gehen. Deshalb muss das Feld, in dem Kinder und Jugendliche Gesellschaft lernen, ein gesellschaftliches sein. Die Familie begleitet die Entwicklung; aber es gilt immer noch, dass Kinder und Jugendliche soziale Kompetenzen und Tugenden nicht einfach aus ihren Familien ›abgreifen‹ können, sondern dass es darauf ankommt, wie sie selbst ihre Familien bewältigen und wie sie sich von ihnen – in eigenbestimmter Überwindung von Scham und Schuld – ablösen können. Nicht umsonst wissen wir aus der Sozialisationsforschung viel mehr über das, was Familien bei Kindern zerstören können und darüber, wie Jugendliche ihre eigene Identität finden müssen, als dass wir bestimmen könnten, was eine Familie an Sozialkompetenzen direkt vermittelt. Das, was Eltern wollen, ist oft gegenläufig zu dem, was die Jugendlichen möchten und vieles von dem, was später der Familie zugeschrieben wird, ist aus dem Konflikt mit der Familie entstanden. Die Reibung an den Eltern macht genauso die Entwicklung aus, wie die Übernahme eines familialen Habitus. Aber auch dieser formiert sich in der Regel erst in der Ablösung, im biografischen Rekurs des nun selbstständigen Individuums auf seine Familie. Das Gesellschaftliche am Menschen wird nicht in der Familie, sondern in der Auseinandersetzung mit der Familie im Kontext des Übergangs in die abstrakte Kultur der gesellschaftlichen Arbeit hergestellt. Lehrer und Lehrerinnen sind – zumindest in den unteren Klassen – ein wichtiges Binde- und Vermittlungsglied zwischen Familie und Schule. Dies kann man geschlechtsspezifisch aufschließen. Kinder sind im Kindergarten und in der Grundschule vorwiegend von weiblichen Bezugspersonen umgeben, während der männliche Anteil an Erziehern mit zunehmendem Alter der Jugendlichen steigt, so dass in Hauptschulen, Gymnasien und Berufsschulen nicht nur männliche Erzieher den größeren quantitativen Anteil haben, sondern auch in der Schulorganisation und den damit verbundenen Positionen relativ dominant sind. Dass dies mit der Funktion der Schule als Medium des sukzessiven Übergangs von der Familie in die Gesellschaft zusammenhängt, hat schon der Soziologe Talcott Parsons (1968) erkannt und aufgeklärt: Solange der Übergang von der Familie zur Schule, also von primären, emotionalen zu sekundären, funktional-rationalen Sozialmustern nicht abgeschlossen ist, wirkt die Familie in die Schule hinein. Deshalb ist die Lehrerrolle in dieser Zeit immer noch funktional an die Familie rückgebunden. Die familiale Er-
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ziehungsrolle in der emotionalen Entwicklungsspannung von Bindung und Ablösung wird hauptsächlich von der Mutter verkörpert. Da sich der Übergang von Familie zur Schule erst im Verlauf der Grundschule (und nicht einfach beim formalen Schulübertritt) vollzieht, findet hier gleichsam eine Vermischung von Mutterund Lehrerrolle statt. Aus diesen Gründen seien Grundschullehrerpositionen überwiegend mit Frauen besetzt. Die Lehrerrolle sei »durch eine Kombination von Ähnlichkeiten und Unterschieden gegenüber den Elternfiguren« (Parsons 1968, S. 176f.) charakterisiert. Es handelt sich also hier nicht nur um eine bloße Übertragung der Mutterrolle auf die Schule, sondern um einen komplexen sekundären Identifikationsprozess, in dem sich das Kind von eben dieser familialen Mutterrolle ablösen kann. Die Dominanz der Mutter im frühkindlichen Aufbau von Objektbeziehungen bleibt auch in der kindlichen Phase der Grundschule erhalten, für das Kind ist insoweit Kontinuität gewahrt. Gleichzeitig erfährt das Kind aber auch die Lehrer*innen in ihrer Distanz und merkt, dass sie weniger an seiner persönlichen Empfindlichkeit, sondern mehr an seinem Schulverhalten in seiner Rolle als Schüler*in interessiert sind. Und da die Lehrer*innen in den nächsten Klassen meist wechseln, wird das Kind daran gewöhnt, dass es sich bei den Lehrer*innen um eine Rolle handelt, die austauschbar ist und die sich nicht über die persönliche Beziehung definiert. Hier liegt schon ein prekäres Balanceproblem im Verhältnis von Familie und Schule und es liegt an den Erzieher*innen, wie sie es schaffen, auch in Konfliktsituationen im institutionellen Rollenverhalten zu verbleiben und nicht – für die Schüler*innen oft willkürlich – in quasi familiale Beziehungs- und Zumutungsmuster zurückfallen. Aber auch umgekehrt entstehen für die Kinder Bewältigungsprobleme, wenn Schulprobleme in der Familie unter der Hand zu Familienproblemen werden. Da kann es dann durchaus zu Aufschaukelungsprozessen von Versagensängsten und Schuldkomplexen im Wechselspiel zwischen Familie und Schule kommen. Mit der historisch gewordenen Trennung und gleichzeitigen Spannung von Öffentlichkeit und Privatheit, von der die Familie typisch betroffen ist, ist sie gleichsam in eine Bewältigungsfalle geraten. Die Familie sieht sich einer öffentlichen Erwartungshaltung hinsichtlich Stabilität und Zusammenhalt ausgesetzt. Den damit verbundenen Erwartungsdruck muss die Familie privat umsetzen und aushalten, da es kaum öffentliche Räume gibt, um familiale Krisen öffentlich rückbinden zu können. Während sich die Funktions- und Interaktionswirklichkeit der Familien grundlegend verändert hat, ist das gesellschaftliche Familienbild und das Familienverständnis im Großen und Ganzen traditional gleich geblieben. Stereotype Suggestivbilder wie das der »heilen Familie« und »in einer Familie können bestimmte Dinge (wie z.B. Gewalt) nicht passieren« haben sich so festgesetzt und tradiert, dass sie den Menschen weiterhin als quasi naturgegeben und erstrebenswert erscheinen. Dies kann dazu führen, dass die Familienmitglieder sich umso mehr an diese Stereotype klammern, je stärker die Funktionsfähigkeit ihrer Familie bedroht, der Familienalltag entleert und/oder der Familienzusammenhalt gefährdet ist. In diesem
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Zwang, die Familie hochzuhalten und beispielsweise um jeden Preis eine ›gute Mutter‹ oder ein ›funktionierender Vater‹ zu sein – besteht die allgegenwärtige Tendenz der strukturellen Überforderung der modernen Familie. Das »Angstsyndrom des Scheiterns« an der Schule ist durch alle sozialen Schichten hindurch verbreitet. Es entsteht dann, wenn nicht erreichte Schulleistungen gekoppelt sind mit nicht erfüllten Elternerwartungen. Dies führt zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Wohlbefindens von Jugendlichen, was Selbstwertverunsicherungen und gesundheitsriskante Reaktionsweisen nach sich ziehen kann (ebd.). »Der über Jahre gestiegene Erwartungsdruck der sozialen Umwelt, ein hochwertiges Abschlusszertifikat zu erwerben, hat dazu geführt, dass Eltern versuchen, ›das bestmögliche Bildungsangebot für ihre Kinder herauszuholen‹. Kinder und Jugendliche spüren zwar die Bemühungen, jedoch nehmen sie auch die hohen Erwartungen wahr und vor allem den Druck, der dahinter steht. Nicht selten werden […] Vorstellungen, Bedürfnisse und Lebensplanungen der Eltern in die Kinder projiziert und die Eltern erwarten, dass ihre Kinder die Schullaufbahn erfolgreich durchlaufen […]. Soll der soziale Status der Herkunftsfamilie gewahrt bleiben, muss der Jugendliche häufig sogar einen formal höheren Abschluss erreichen als die Eltern selbst« (Seiffge-Krenke 2008: 7f.). Deshalb ist es wichtig, dass die Kooperation von Eltern und Lehrer*innendie Etablierung von Erziehungs- und Bildungspartnerschaften so schwierig. Vor allem Unterschichteltern und Eltern mit Migrationshintergrund delegieren meist die Bildungsverantwortung, an die Schule. Hier bedarf es einer Elternarbeit, die auf Anerkennung und Vermittlung von Selbstwirksamkeit basiert (vgl. Stange u.a. 2012). Wenn aber die Erziehungspartnerschaft eine Verantwortungspartnerschaft werden soll, muss tiefer angesetzt werden. Hier kommt das Konzept der dialogischen Verantwortung ins Spiel. Eltern müssen die Möglichkeit haben, ihren Zugang zu und ihre Erfahrungen mit ihren Kindern und Jugendlichen in den familial-schulischen Dialog einzubringen, Lehrer*innen die Chance haben, auf vergleichbarer Erfahrungsebene den Kindern und Jugendlichen begegnen zu können. Das aber verlangt eine unterrichtliche Projektstruktur. Denn nicht in den Projektresultaten, sondern in den Projektprozessen treten die allseitigen Kompetenzen der Schüler*innen hervor. Den Lehrer*innen eröffnet sich so der Zugang zum Schülersein, mit dem ja auch die Eltern konfrontiert und vertraut sind.
Die Öffnung der Schule Mit der Öffnung der Schule hat der schulische Verantwortungsdiskurs eine neue Dimension erhalten. Da die Regelschule in ihrem Kern eine staatlich-bürokratische Institution bleiben wird, die Lehren und Lernen organisiert, wird sie die sozialen und jugendkulturellen Herausforderungen systemisch nie hinreichend ausbalancieren können. ›Öffnung der Schule‹ wurde in der Regel von der Schule her und dar-
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in systemrestriktiv gedacht. Mit der Entgrenzung der Arbeitsgesellschaft hin zur offenen Bürgergesellschaft muss diese Perspektive revidiert, die Idee der Öffnung der Schule in einem nun sozialräumlich übergreifenden Bezugsrahmen reformuliert werden. Die Schule ist in diesem Sinne nicht nur selbst Sozialraum, sie wird zum Lernort in einer Lernregion mit pluralen Gelegenheitsstrukturen des Lernens. Die Öffnung der Schule und die damit verbundenen Projekte können autonome, den Schüler*innen zugehörige Verantwortlichkeiten freisetzen. Seit den 1980er Jahren gibt es eine kontroverse Diskussion zwischen Ablehnung und Befürwortung einer kommunalen und regionalen Öffnung der Schule. Die kritische Position ist dabei die: »es bestehe eine grundsätzliche Differenz der Schule zur gesellschaftlichen Realität, auf die sie die Kinder nur in der Distanz vorbereiten könne. […] Die eigentümliche Leistungsfähigkeit der Schule liege gerade darin, entlastet von den Zwängen unmittelbare Produktionsaufgaben systematisches und planvolles Lernen auf ein ferneres Ziel hin zu ermöglichen […] In der Forderung nach einer stärkeren Öffnung der Schule zur Alltagswelt der Kinder und Jugendlichen sieht diese Position einen Reflex auf die verminderte Wirkung außerschulischer Sozialisationsinstanzen, die Schule werde damit zunehmend zentrales Medium sozialer Prozesse. Damit jedoch werde das Bildungswesen in die Rolle eines allgemeinen Reservemechanismus zur Lösung vielfältiger gesellschaftlicher Probleme gedrängt, was dieses jedoch weit überfordern dürfte« (Reinhardt 1992: 42f.). Das Argument der Distanz ist dabei zentral. Die Schule habe sich natürlich auf den Alltag zu beziehen, muss dabei aber eine Grenzvermischung vermeiden. Schulisches Lernen kann durch außerschulische Erfahrungen angereichert werden, aber »die Öffnung der Schulen zur Erfahrung des außerschulischen Lebens müsse durch die Verarbeitung von Erfahrung in der Schule geschehen« (ebd.). Schließlich wird auch argumentiert, dass der außerschulische Erfahrungsgehalt in einer nivellierten Konsumgesellschaft kaum jene tieferliegende Aneignungsmöglichkeiten enthält, die die Befürworter*innen voraussetzen. Besonders in sozialen Brennpunkten brauche es doch die Distanz der Schule, die den Kindern und Jugendlichen eine Perspektive auf eine bessere Welt ermögliche. Die Befürworter*innen einer Öffnung der Schule halten dem entgegen, dass sich in der Schule Gesellschaft spiegele und deshalb der Bezug zur Gesellschaft ein wirklicher und nicht ein schulisch verfremdender sein müsse. Zudem seien Erziehungsprozesse in der Schule von anderen Lebensbereichen, sei es die Arbeit, nicht zu trennen. Vor allem die Bildungschancen unterprivilegierter Gruppen können durch das Hineinreichen der Schule in den Alltag verbessert werden. Vor allem den radikalen Positionen »ist gemeinsam, dass Schule einen unmittelbaren Beitrag zum Überleben leistet, dass Lernen zumindest in wesentlichen Teilen mit ›Leben‹ identisch ist […]. Damit enthält diese radikale Schulkritik auch einen Ansatz der Entschulung. Es wird grundsätzlich infrage gestellt, ob wir überhaupt eine Schule brauchen, eine eigenständige Institution für Bildung und Erziehung außerhalb des
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Lebens« (Reinhardt 1992: 37). Die gemäßigteren, reformistischen Positionen hingegen plädieren dafür, dass sich Lerninhalte weniger zentral, sondern mehr an der räumlichen Umwelt der Schule orientieren. Schule soll ein Lernort unter anderen sein. Das bedeutet aber auch, dass die Schule den unterschiedlichen Status der Verantwortung, den Schüler*innen im außerschulischen Bereichen erworben haben, in Schulprojekten integrieren kann. Eine besondere Öffnung der Schule haben die Schüler*innen selbst außerhalb der Schule und auch gegen die Schule entwickelt. Beispiel sind hier die freitäglichen Schülerstreiks (›fridays for future‹) als Protest gegen eine zögerliche bis verfehlte Klimapolitik. Subjektiv gespürte Bürger*innenVerantwortung steht gegen Schulpflicht. Nachhaltigkeit wird nicht als gängiges Programm, sondern in ihrer dialektischen Struktur als Konflikt sichtbar. Auch hier zeigt sich wieder, wie der gesellschaftliche Grundkonflikt zwischen Ökonomie und Sozialem als abgeleiteter Konflikt zwischen verwertungs- und persönlichkeitsbezogener Bildung die Schule durchzieht und dabei das ökonomische Wissen das soziale Wissen zu verdrängen droht.
Die Schule als Milieu Der Öffnung der Schule nach außen muss die Öffnung der Schule nach innen entsprechen. Dazu muss die hierarchische Organisationsstruktur soweit aufgelöst werden, dass statt Hierarchie Gegenseitigkeit entstehen und trotzdem Verbindlichkeit gewahrt werden kann. Verantwortung ist dann nicht nur an Rollen gebunden, sondern auch in eine sozialemotionale Gegenseitigkeitsstruktur eingebettet, an der sich dann alle beteiligt fühlen können. Für diesen Kontext bietet sich der Begriff des Milieus an. »Milieu bezeichnet gemeinhin die besondere soziale Umwelt, in deren Mitte […] Menschen leben, wohnen und tätig sind […]. Hier finden sie ihresgleichen, andere Menschen, mit deren Art sie zusammenpassen. Verbindend ist das Gewohnte […] bzw. eine gemeinsame grundlegende Haltung […] die sich im Zusammenleben nach und nach entwickelt hat« (Vester 2001: 168). So kann Identifikation mit der Schule, wenn sie zum Milieu wird, entstehen. Die Schule ist ja nicht nur Funktions-, sondern vor allem auch Sozialraum, in dem die Kinder und Jugendlichen über den engeren Unterricht hinaus Aneignungsund Ausdrucksformen entwickeln und darüber eine lebensweltliche Identifikation mit der Schule suchen können. Sie erfahren im räumlichen Aneignungsverhalten direkt und unmittelbar, welche sozialen Gestaltungsmöglichkeiten ihnen offen stehen oder verweigert werden. Deshalb müssen Schulen kinder- und jugendkulturell sensibel sein, müssen Erlebnis-, Handlungs- und Projekträume anbieten können, in denen sozialräumliche Aneignungsprozesse möglich und in der Balance zum kognitiven Lernen des Unterrichts anerkannt sind. Die Entwicklung einer Perspektive offener Milieubildung in der Schule setzt voraus, dass wir die milieubildenden Faktoren, die in der Schule enthalten sind, heraus-
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arbeiten und von da aus alternative milieubildende Strategien entwickeln. Indem die Schule immer mehr zum alltäglichen Treffpunkt für Kinder und Jugendliche geworden ist, erkennen wir sie als Sozialraum. Dabei wird deutlich, dass in diesem sozialräumlichen Arrangement Schule gruppendynamische Prozesse ablaufen, in denen sich soziale Formen des Zusammenlebens ausbilden. Sozialräumlichkeit, PeerStruktur und der gruppenbildende Projektunterricht sind die drei Variablen, von denen aus wir eine Pädagogik der Milieubildung in der Schule entwickeln können. Eine weitere Vorstellung von den Möglichkeiten der Milieubildung erhalten wir über die neueren Konzepte der Schulöffnung, durch die sich die Schule zu einem offenen Milieu entwickelt, und nicht in sich geschlossen bleibt. Wenn es der Schule gelingt, trotz ihrer der Jugendkultur gegenläufigen Organisationsstrukturen das Interaktionsgeschehen des Schulalltags in Bezug zu dieser Jugendkultur und ihren Gesellungsformen zu setzen, ist sie auch auf dem Weg, sich sozialräumlich und darin zum Milieu zu erweitern. Denn jugendkulturelle Gesellungsformen sind immer sozialräumlich vermittelt und brauchen räumliche Ausdrucks- und Abgrenzungsmöglichkeiten. Die Schule kann sich damit über ihre sozialräumliche Erweiterung jene Welt des Alltagslernens hereinholen, die sonst – trotz aller Didaktik – für sie ausgeschlossen ist, jenseits der kognitiven Lernstrukturen des Unterrichts liegt. Die Ganztagsschule kann diese milieuhafte Erweiterung bewirken. Gerade für die mittlere Jugendphase wird hervorgehoben, dass mit der Ganztagsform die Schule als Gesellungsort an Bedeutung gewonnen hat. Die außerschulische Dynamik der Peers, die in ihrem Hineinwirken in die Schulklasse außer Kontrolle geraten können, scheint gemindert, Peer-Netzwerke und Freundschaften wirken nun prosozial in den Schulalltag hinein, gegenseitige Unterstützungsleistungen und Verantwortlichkeiten können sich nun schulintern entwickeln. Das oben vorgestellte Konzept der Just Community ist ein Konzept der Milieubildung. Es verdichtet Gegenseitigkeit und darin gegenseitige Verantwortung. Voraussetzung ist die kollektive Entwicklung einer Gruppenmoral, aus der sich der Gemeinsinn, Empathie, Respekt und Urteil speisen. Es soll ein offenes Milieu sein, in dem sich die innere und äußere Öffnung der Schule aufeinander beziehen lassen, die Schüler*innen sich nach innen als Schulbürger*innen, nach außen als Bürger*innen in der Gemeinde darstellen und verhalten können. Das setzt eine Form der verantwortlichen Beteiligung voraus, die mehr als formal ist, die also Partizipation an der Entscheidungsmacht beansprucht und damit Rechte für Schüler*innen und Lehrer*innen gleichermaßen beinhaltet. Statt hierarchischer Unterordnung gilt nun ein (Schul-)Gesellschaftsvertrag, abweichendes Verhalten muss in diesem Milieukontext nicht zum Ausschluss der betroffenen Schüler*innen führen, sondern kann in den schuldemokratischen Diskurs hereingenommen, als Konflikt anerkannt und als widerständige Stellungnahme zur Schule verstanden und verhandelt werden.
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Verantwortung als Delegitimierung des Schulischen So lautet der Kernsatz einer Studie von Nele Kuhlmann, die sich mit den Auswirkungen der Einführung von Verantwortung auf die Struktur und Organisation der Schule befasst. »Bündelt man die dargestellten Diskurse, zeigt sich, dass im beginnenden 20. Jahrhundert zwar ein mit dem (allgemeinpädagogischen) Verantwortungsbegriff legitimierter Wandel der Schul- und Unterrichtssteuerung hin zu einer stärkeren Selbstregulierung der Schüler*innen eingeleitet wurde; dieser Wandel jedoch auf starke Vorbehalte bei Lehrer*innen stieß und auch bei den Schüler*innen aus vielerlei Gründen nur begrenzt verfangen konnte. In den 1960er und 1970er Jahren arbeitete man sich sowohl erziehungsphilosophisch als auch schulpolitisch am ›Scheitern der Verantwortung‹ ab. In beiden historischen Phasen konnte gezeigt werden, dass der Verantwortungsbegriff als Delegitimierung bestehender Autoritätsverhältnisse fungierte und damit als produktiver Faktor des Wandels von pädagogischen Anerkennungsordnungen und damit gesellschaftlich legitimierten Anerkennungs- und Partizipationsverhältnissen gelesen werden kann« (Kuhlmann 2020: 135). Wenn wir uns – wie beschrieben – die heutige Öffnung der Schulen anschauen und die Tendenz, Schüler*innen als Bürger*innen zu begreifen, dann hat die Delegitimierung einen wesentlich weiteren Charakter. Auch der Projektunterricht und die Modelle einer Schule ohne Noten verschieben einen erheblichen Teil der Verantwortung auf die Ebene der Schüler*innen. Im Just Community Modell ist die gemeinsame Verantwortung von Lehrer*innen und Schüler*innen besonders ausgeprägt. Wird zudem Schule als Arbeitsplatz verstanden, dann greifen auch Prinzipien betrieblicher Mitbestimmung in der Schule, sowohl was die Mitbestimmung der Schulorganisation als auch der Unterrichtsgestaltung betrifft. Deutlich wird bei dieser These der Delegitimierung, dass Verantwortung eine transversale Kategorie der Schulreform ist. Die Ermöglichung von Schülersein und Lehrersein legt die Grundlage für die Autonomie der Schüler*innen, aus der heraus sich Prozesse der schulischen Mitverantwortung entwickeln können.
Öffentliche (sozialstaatliche) Verantwortung Verantwortung auf der personalen und interaktiven Ebene braucht den Rahmen gesellschaftlicher Verantwortung. Der 11. Kinder- und Jugendbericht (BMFSJ 2011) hat in diesem Sinne die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zum Thema gemacht. Darin kam vor allem auch zum Ausdruck, dass die private (familiale) Verantwortung angesichts des Funktionswandels der modernen Familie und angesichts mancher überforderter Familien brüchig geworden und eine sozialstaatliche Verantwortung zwingend
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ist. Damit ist auch die Alleinverantwortlichkeit des elterlichen Verantwortungsmodells in Frage gestellt. Der Jugendbericht spricht deshalb zu Recht davon, dass die »öffentliche Verantwortung heute vielmehr konstitutiv eingebunden ist in die private Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen« (ebd.: 59). Weiter heißt es: » Die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sind so zu gestalten, dass Eltern und junge Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können« (ebd.). Das ist ein Verantwortungsbegriff, der Verantwortung nicht institutionell setzt, sondern gesellschaftlich einwebt und dabei die Dimension der erweiterten Handlungsfähigkeit der Individuen als Verantwortungsfähigkeit hervortreten lässt. »Wenn die Kommission den Begriff der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen als Leitbegriff dem Elften Kinder- und Jugendbericht voranstellt, so fordert sie damit ein neues Verständnis der Aufgaben, die Eltern und Kinder, die Staat und Gesellschaft heute wahrzunehmen haben. Von Kindern und Jugendlichen wird heute eine größere Selbstständigkeit erwartet. Die Kommission vertritt die Meinung, dass vor diesem Hintergrund Kinder und Jugendliche zu mehr Selbstständigkeit befähigt und in die Lage versetzt werden müssen, für sich selbst und ihr soziales Umfeld auch mehr Verantwortung zu übernehmen. Nach Meinung der Kommission schmälert das die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, ihre Rechte und Pflichten nach Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG), jedoch keinesfalls. Diese private Verantwortung besteht weiterhin und sie wächst sogar angesichts der veränderten Lebensbedingungen. Zu dieser privaten Verantwortung tritt jedoch eine veränderte öffentliche Verantwortung. Hierbei handelt es sich nicht um die frühere, häufig übertriebene Vorstellung von einer Verstaatlichung der Erziehung oder von der Zurückdrängung der Familie durch den Staat durch angeblich fürsorgliche Eingriffe. Solchen Begriffen liegt ein überholtes Bild von den Staatsaufgaben zu Grunde, dass angesichts der heutigen komplexen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen völlig unzutreffend ist. Denn die familiären Lebenswelten sind inzwischen mehrdimensional in die öffentliche Sphäre eingebettet und der Staat muss im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz entsprechend positive Lebensbedingungen für die Familien gewährleisten. Öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen heißt unter diesen Voraussetzungen: Die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sollten so gestaltet werden, »dass Eltern und junge Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können« (ebd.: 58). Es geht um den gesellschaftlichen Auftrag der Schaffung positiver Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche im Sinne einer rechtlich abgesicherten, erwartbaren, bedarfsgerechten und qualifizierten Infrastruktur an entsprechenden Diensten, Angeboten und Hilfen. In diesem Zusammenhang trägt die Jugendhilfe die Mitverantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen heute, sie übernimmt verstärkt planerische und jugendpolitische Aufgaben (ebd.: 61). Entscheidend ist ein Perspektivwechsel, der die bisherige Beschränkung der Debatten und Bemühungen auf die
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Reform des Sozialversicherungssystems aufgibt. In den Vordergrund rückt nun »die stärkere politische Gestaltung und Absicherung der sozialen Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche, verbunden mit einem Ausbau sozialer Dienstleistungen und Hilfen zur Stärkung eigener Ressourcen, wie sie beispielsweise in der Förderung und Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements zum Ausdruck kommen kann« (ebd.: 60). Die Frage ist nun, wie öffentliche Verantwortung in eine solche Infrastruktur eingehen soll. D.h., es müssen sich Gegenseitigkeitsstrukturen bilden können, denn Gegenseitigkeit generiert ja Verantwortung. Hier kann das Netzwerkkonzept eingesetzt werden. Netzwerke verlangen Reziprozität und entsprechende Beziehungen des gegenseitigen Vertrauens. Es sind vor allem bewegliche Netzwerke (moving networks), die sich jeweils neu und anders flechten und in denen sich das geforderte bürgergesellschaftliche Engagement formieren kann. Bei diesen bewegten Netzwerken geht es nicht um die institutionelle Vervielfachung, sondern um die kommunikative Erschließung von und die Verständigung über Voraussetzungen, die in einer Region vorhanden sein müssen, wenn soziale Ziele erreicht werden sollen. Deshalb ist der zivilgesellschaftliche Zielhorizont ein anderer als der institutionelle. Denn hier geht es nicht primär um institutionell-organisatorische Optimierung, sondern um die Perspektive sozialer Gerechtigkeit. »Da soziale Netzwerke ebenso wie ökonomisches Kapital oder politische Macht die Entwicklungsbedingungen, Lebenschancen und Handlungsspielräume der Gesellschaftsmitglieder tiefgreifend beeinflussen, entstehen Gerechtigkeitsfragen« (Rieger 2019: 208). In dieser Perspektive sollen vor allem Gruppen partizipieren und Netzwerkunterstützung erfahren können, die in mittelschichtsdominierten Netzwerken eher ausgegrenzt sind. Deren Förderung legitimiert sich aus der Erkenntnis, dass entsprechende soziale Aktivitäten nicht vorausgesetzt werden können, sondern erst im Netzwerkprozess angeregt und geformt werden.
Verletzlichkeit und pädagogische Verantwortung – Vulnerabilität bei Kindern und Jugendlichen Vor rund hundert Jahren hat der Wiener Individualpsychologe Alfred Adler die Verletzlichkeit von Kindern zum zentralen pädagogischen Thema gemacht. »Bedenkt man, daß eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihm nahestehenden Menschen gar nicht bestehen könnte, faßt man die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge, die lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muß man annehmen, daß am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht. […] Jedes Kind ist dadurch, daß es in die Umgebung von Erwachsenen gesetzt ist, verleitet, sich als
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klein und schwach zu betrachten, sich als unzulänglich, minderwertig einzuschätzen. In dieser Stimmung ist es nicht imstande, sich zuzutrauen, den Aufgaben, die ihm gestellt werden, so glatt und fehlerlos zu genügen, wie man es ihm zumutet. Schon an dieser Stelle setzen meist Erziehungsfehler ein. Dadurch, daß man vom Kind zu viel verlangt, rückt man ihm das Gefühl seiner Nichtigkeit schärfer vor die Seele« (Adler 1929: 52f.). Kinder sind direkter und wehrloser als andere Altersgruppen der manifesten Gewalt innerhalb und außerhalb der Familie ausgesetzt. Insofern hört auch die heutige Moderne »die Kinder weinen« (vgl. de Mause 1977). Manifeste Gewalt gegen Kinder ist aber kein bloßes Relikt der Kindheitsgeschichte, sondern ist im besonderen Dilemma der modernen Arbeitsteilung angelegt: Emotionale und körperliche Macht über Kinder wird für manche zum Selbstwertbezug in einer Gesellschaft, die den Menschen zur Selbstverwirklichung antreibt, ihn aber immer weniger außerfamiliale Möglichkeiten der Selbstwertschöpfung einräumt. Deshalb sind »Erwachsene […] gegenüber Kindern zur Macht verführt. Seit je ist in der pädagogischen Tradition die Gefahr diskutiert worden, dass die Erwachsenen […] ihre Position und ihren Vorsprung an Alter, an Erfahrung, an Wissen ausnützen, um die Erfahrungen und Selbstständigkeiten der Kinder zu unterdrücken« (Thiersch 1986: 124). Diese scheinbar sozialanthropologische Konstante ist in unserer Gesellschaft zum Tabu des Archaischen und Privaten geworden, nur zögernd wird sie seit Ende des 20. Jahrhunderts als dunkle Seite der Moderne erkannt. Schließlich ist Kindheit in der modernen Industriegesellschaft von einem pädagogisch folgenreichen Spannungsverhältnis begleitet. Häufiger als offiziell zugegeben haben Kinder bei uns den Widerspruch zwischen gesellschaftlich hochgehaltener Kinderfreundlichkeit und alltäglich neu entstehender, aber nicht eingestandener und daher tabuisierter Kinderfeindlichkeit auszuhalten. Diese strukturelle Kinderfeindlichkeit steckt in der Art und Weise, wie die Wohnumwelten in den modernen Städten eingeengt und funktionalisiert, viele Familien überfordert sind. Das »Modell der Kindheit als sozialer Raum von Schutz und Vorbereitung« stimmt nicht mehr mit der Realität überein« (Joos 2001: 232). In der neueren Kindheitsforschung wird in der Verletzlichkeitsthematik von der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit, ja Abhängigkeit ausgegangen. »Ausgangspunkt ist […] die basale Angewiesenheit, mit der lebensgeschichtlich konstitutiv eine Asymmetrie zwischen den Generationen, zwischen Erwachsenen und den neugeborenen und heranwachsenden Kindern verbunden ist. Wie lange diese Asymmetrie währt, wie sie im Detail zu verstehen ist und was aus ihr folgt, wird wiederum kulturell unterschiedlich interpretiert und gestaltet. Ebenso unterscheiden sich die Praktiken der Fürsorge und kulturellen Berücksichtigung der kindlichen Angewiesenheit« (King 2015: 25). Das Kind kann sich auch in primären Beziehungen von denen, die es verletzen oder verletzen könnten, nicht einfach abwenden, um sich individuell von ihnen lösen und relative Autonomie erlangen
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zu können. »Das Kind, das sein eigenes Werden und Tun zur Geltung bringt, bewegt sich unausweichlich in dieser Spannung von Angewiesenheit und Eigensinn. Und diese Relation von Angewiesenheit und Eigensinn verändert sich in ihrer Form und Balance im Verlauf des Heranwachsens von der Geburt bis zur Adoleszenz« (King 2015: 27f.). Es wird in diesem Zusammenhang von einer Dialektik von Autonomie und Abhängigkeit gesprochen (vgl. Andresen 2015). Kinder sind einer tückischen Gewalt der Erziehungspersonen unterworfen, denn dieselben Personen, die zum Schutz des Kindes angehalten sind, erhalten gerade in dieser Schutzfunktion Macht über das Kind. Um diese Ambivalenz pädagogisch ausbalancieren zu können, brauchen nicht nur die Kinder rechtlichen Schutz, sondern auch die Erziehungspersonen müssen in ihrer Erziehungsmacht begrenzt werden. Dazu taugen nicht nur die rechtlichen Regelungen zum Kindeswohl. Vielmehr sollte Kindererziehung – bei bleibendem Primat der Eltern – in geteilte Verantwortung gelegt werden. Hier sind vor allem die Kinderkrippen und Kindertagesstätten gemeint. »Vergiftete Kindheit« heißt der damalige Bestseller der US amerikanischen Psychotherapeutin Susan Forward (1993). »Ob die Schläge der Eltern ihre Kinder vergiftet haben, ob sie zu oft allein gelassen werden, sexuell missbraucht oder wie ein Dummkopf behandelt worden sind, ständig beschützt oder mit Schuldgefühl überfrachtet – fast alle Opfer leiden an gleichen Symptomen: an Beeinträchtigung der Selbstachtung, die zu selbstzerstörerischem Verhalten wird. Auf die eine oder andere Weise fühlen sich alle wertlos und halten sich nicht für liebenswert. Das hängt damit zusammen, dass die Kinder giftiger Eltern sich selbst die Schuld für die Misshandlungen geben, die sie erdulden mussten. Es ist für ein wertloses, abhängiges Kind leichter, sich an der Wut des Vaters schuldig zu fühlen, statt die schreckliche Tatsache zu akzeptieren dass man ihm nicht vertrauen konnte« (ebd.: 18f.). So entsteht bei sexuell missbrauchten Kindern der selbstdestruktive Zwang zur Abspaltung nach innen. Aus der Perspektive des Familiensystems ist die Erkenntnis, dass diese Eltern unfähig sind, Elternverantwortung herzustellen, ein ernstzunehmender Anlass für eine intensive Hilfeleistung. Dass Eltern nicht in der Lage sind, Eltern zu sein, hängt mit der jeweiligen Lebensgeschichte von Mann und Frau zusammen: Es sind oft Eltern, die eine Ehe eingegangen sind, weil sie sich von ihr und den Kindern die Zuneigung und Anerkennung versprachen, die sie von ihren Eltern nicht erhalten haben und die nun auch nicht in der Lage sind, diese ihren Kindern weiterzugeben, sondern von denen sie sich die Einlösung ihrer Wünsche erhoffen. Es sind bedürftige Eltern und in dieser Bedürftigkeit vor allem Männer, die dann aufgrund ihrer familialen Machtposition die Nähe zur Tochter missbräuchlich für eigene Bedürfnisse auszunutzen. Die Lebenszeit, in der Jugendliche besonders verletzungsoffen sind, ist die der Pubertät. »Die Zeit bis zum Ausbruch der Pubertät, die so genannte Latenzphase, gibt die Chance zur Festigung der in den ersten Lebensjahren gebildeten Struktu-
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ren, aber die Pubertät, mit der die zweite, die Adoleszenzphase anfängt, bringt alles wieder durcheinander. Der Triebdurchbruch der Pubertät lockert die vorher in der Familie gebildeten psychischen Strukturen auf und schafft damit die Voraussetzungen für eine nicht mehr auf den familiären Rahmen bezogene Umstrukturierung der Persönlichkeit« (Erdheim 1988: 193). Der entscheidende Unterschied zwischen Pubertät und frühkindlicher Entwicklungszeit besteht darin, dass die sexuellen Reifungsprozesse in der Adoleszenz nun nicht mehr – wie in der frühkindlichen Reifezeit – strikt innerhalb des familiären Kontextes ablaufen, sondern diesen überschreiten. Die damit verbundene Ablösung von der Familie, das selbstständige Hinaustreten in die soziale Welt – ein Prozess, den wir jugendpädagogisch als zentral für die Herausbildung des Selbst und der Persönlichkeit ansehen – macht die Pubertät zum »Entwicklungsmoment der Persönlichkeit« (Bernfeld 1925: 131) im Spannungsverhältnis zwischen Familie und Kultur. Dieses Spannungsverhältnis wird von Erdheim als »Dilemma der Adoleszenz« bezeichnet. Denn Familie und Kultur sind durch ganz unterschiedliche, in ihren Charakteristika widersprüchliche Strukturelemente gekennzeichnet: »Die Familie zentriert sich um Intimitätsstrukturen herum; die Beziehungsformen sind in erster Linie Verinnerlichungs- und Identifikationsprozesse. Kultur hingegen strukturiert sich um das Phänomen der Arbeit« (ebd.). Familie und Kultur stellen also einen unauflösbaren Antagonismus dar. Beide sind notwendige Formen menschlichen Zusammenlebens, aber sie können nicht – da sie verschiedenen Grundprinzipien gehorchen – ineinander überführt und nicht voneinander abgeleitet werden. Die kulturelle Aufladung des Jugendalters beruht auf der Brisanz dieses antagonistischen Spannungsverhältnisses zwischen Familie und Kultur, in dem Jugendliche hin- und hergerissen sind. Dass sich aus dieser Spannung heraus eine besondere jugendkulturelle Schubkraft entwickeln kann, ist – wenn wir der Erdheimischen These weiter folgen – auf das besondere Wirken narzisstischer Stimmungen in der Pubertät zurückzuführen. Dieses verletzungsoffene Narzissmus-Phänomen bei Jugendlichen darf nicht als Störung betrachtet, sondern muss in seiner Funktionalität für den sozialen Ablösungs-, Orientierungs- und mithin Identitätsfindungsprozess der Jugendlichen gesehen werden: »Der pubertäre Triebschub […] erschüttert diese Ich-Funktionen und damit auch die etablierten Wahrnehmungsformen der Realität [diese Wirklichkeit war bis zur Pubertät vor allem durch das Realitätsprinzip der Familie bestimmt – d. A.]. Auf dieser Erschütterung des familialen Realitätsprinzips gründet das kulturell Fragile der Adoleszenz. Das Auftreten der Menstruation bei Mädchen sowie die Unbeherrschbarkeit des Phallus beim Knaben verändern das Selbstbild des Körpers und [erhöhen] ihre Verletzlichkeit im Bezug zur Umwelt. Die Verselbstständigung innerer und äußerer Objekte ist eine befremdende Erfahrung, und der in der Pubertät neu aufblühende Narzissmus bekommt die kompensierende Funktion, die auseinander fallende Welt zusammenzuhalten« (Erdheim 1988: 198).
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Wie diese Prozesse in ihrer biografischen Neuartigkeit, ihrer Zerrissenheit, ihren Entfremdungsgefühlen, ihren Verwechslungen von innerer und äußerlicher Wirklichkeit und den damit verbundenen Projektionen ablaufen, kann man seit dem klassischen Werk von Peter Blos »Adoleszenz« (1974) bis heute in gleichsam anthropologischer Konstanz – mit freilich historisch wechselnden soziokulturellen Ausdrucksformen – beobachten (vgl. King 2004). Sie bringen die Jugendlichen dazu, dass sie, da sie während der Ablösung und der damit verbundenen sozialen Erweiterung ihres Lebensraums dauernd mit sich selbst beschäftigt sein müssen, nur das Persönliche, die Einzigartigkeit ihrer Wahrnehmung der Welt sehen. Der Narzissmus zwingt das Individuum, »die Dinge subjektiv und neu zu sehen […] Treibender Motor dieser Entwicklung sind die narzisstischen Größenund Allmachtsphantasien der Jugendlichen, welche die Herausforderung an die Erwachsenen auf die Spitze treiben« (Erdheim 1988: 198). Hier treffen sich das Jugendbild der Generationentheorie Karl Mannheims und das der Psychoanalyse. Dem historischen Neu-Eintreten in die gesellschaftliche Kultur, das die Generationentheorie mit der Jugend verbindet, entspricht die These von der subjektiven neuen Sichtweise der Jugend auf die Welt vor dem Hintergrund der pubertären Triebentwicklung. Generationentheorie und Psychoanalyse der Jugend liefern uns die Begründung dafür, dass die Jugendphase nicht nur in der Persönlichkeitsentwicklung, sondern vor allem auch in dem »Individuum-Welt-Verhältnis« eine kritische und verletzliche ist. Die Art, wie mit diesem kritischen Potenzial umgegangen wird, hängt auch davon ab, wie diese kritische Phase gesellschaftlich interpretiert wird, also von den jeweiligen herrschenden gesellschaftlichen Jugendbildern, in denen die Bewältigungskonstellation Jugend auch in die Pädagogik vermittelt wird. Die pädagogische Praxis wiederum muss darauf ausgerichtet sein, dass Jugendliche Orientierungsmuster und Räume brauchen, um Bewältigungskompetenzen selbst zu lernen. In der Familie sollte eine Balance zwischen jugendlicher Selbstverantwortung und Elternverantwortung angestrebt werden. In den pädagogischen Institutionen – vor allem in Schule und Jugendarbeit – gilt die Aufforderung zur Verantwortung im ›Pädagogischen Bezug‹.
Verantwortung im ›Pädagogischen Bezug‹ In der Verwirrnis und Verletzlichkeit der Pubertät bekommen die pädagogischen Beziehungen eine besondere Bedeutung. Im Konstrukt des Pädagogischen Bezugs ist dies ausgedrückt. Damit ist das »leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen und zwar um seiner selbst willen« gemeint (Nohl 1948: 134). »Im Bildungserlebnis des jungen Menschen ist wesensmäßig […] die Erfahrung von einem Wachstum und einer Formung durch den anderen enthalten. […]
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Die pädagogische Wirkung geht nicht aus von einem System von geltenden Werten, sondern immer nur von […] einem wirklichen Menschen […], wie sie auch auf einen wirklichen Menschen gerichtet ist« (Nohl 1933: 21). Dieses Verhältnis hat seinen »Eigenwert und ist immer ein gegenseitiges« (ebd.: 23). Es enthält einen pädagogischen Aufforderungscharakter, der sich an Jugendliche wie auch an Erwachsene richtet. In ihm ist pädagogische Verantwortung strukturell eingelassen. Und das gilt für alle Erziehungsverhältnisse (vgl. Niemeyer 2018: 1117). Erziehung wurde und wird in diesem Selbstverständnis als besonderes interpersonales Verhältnis gesehen, das aus den gesellschaftlichen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen herausgehalten werden kann. Allerdings: »Die Tatsache, dass Erziehungsprozesse bis hin zu dem im Begriff des ›Pädagogischen Bezugs‹ von Nohl theoretisch vergegenwärtigtem Grundverhältnis gesellschaftlich vermittelt sind, wurde überhaupt nicht zum Gegenstand der Reflexion. Vielmehr wurde Erziehung in einem vorgesellschaftlichen, herrschaftsfreien unpolitischen Raum angesiedelt« (Mollenhauer 1968: 24). Diese Verengung auf ein Binnenverhältnis wurde schon in den 1920er Jahren kritisiert. »Gleichwohl setzte sich dieses Konzept im Selbstverständnis der pädagogischen Berufe weitgehend durch. Das lag nicht nur daran, dass es Antworten gab auf eine verbreitete Unsicherheit, die durch die reformpädagogische Bewegung ausgelöst worden war bzw. in ihr zum Ausdruck kam. Vielmehr bot es den pädagogischen Berufen und ihren Standesorganisationen auch ein Selbstbild an, dass man je nach Bewertung als Berufsethos oder als Berufsideologie bezeichnen könnte. Nohl wirkte für diese Berufe jedenfalls als Sinnlieferant« (Giesecke 1997: 231). Das darf aber keine gesellschaftliche Absonderung der Pädagogik bedeuten. Erzieherische Verantwortung – die ja im Pädagogischen Bezug aufgehoben ist – muss jeweils historisch neu begründet werden: »Es wird kaum zu leugnen sein, daß mit der Erziehungstätigkeit immer eine im Hinblick auf die gefaßte Aufgabe besondere Art von Verantwortung korrespondiert; und ebenso, daß sich auf diese Weise im Bewußtsein des Erziehers ein dem Erziehungsprozeß zugehöriger Zusammenhang von Wertungen und Erfahrungen etabliert, der als spezifisch pädagogisch erscheint. Diese im Bewußtsein des Erziehers vor sich gehende Absonderung des Pädagogischen ist aber ein irrationaler Prozeß, der gerade durch das Fehlen von Rationalität und Kritik zustande kommt. Das Bewußtsein, das sich und seine Position für rein pädagogisch hält, wird getäuscht, da es die Tatsache, selbst gesellschaftlich vermittelt zu sein, nicht reflektieren kann.« (Mollenhauer 1968: 58). Neben dem äußeren, sozialen Kontext des Pädagogischen Bezugs, wie er in dieser kritischen Begriffsgeschichte diskutiert wurde, muss er auch als innerpsychischer Vorgang aufgeschlossen werden. Nohl hatte damals noch nicht das psychoanalytische Rüstzeug dazu, obwohl in der damaligen Pädagogik immer wieder auf ›seelische‹, also innerpsychische Vorgänge verwiesen wurde, ohne sie erklären zu können, Zentral sind hier Übertragung und Gegenübertragung, also intrapsychische
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Vorgänge, die den Pädagogischen Bezug unterlaufen können. Seine systematische fachliche Integration hat dieses psychoanalytische Konzept aber erst in der jüngsten Geschichte der Pädagogik erfahren. In der pädagogischen Rezeptionsgeschichte wird wurde die Qualität des Pädagogischen Bezugs in der Dialektik von Bindung und Bildung hervorgehoben. Andererseits aber wurde auch davor gewarnt, dass die für die pädagogische Beziehung wichtige Balance zwischen Distanz und Nähe gefährdet sein kann. Schließlich stand immer auch die Gefahr des Machtmissbrauchs im Raum (vgl. Niemeyer 2018). Es kommt also darauf an, die äußeren und inneren Bedingungen in den Mittelpunkt zu stellen, unter denen sich pädagogische Beziehungen entwickeln und gestalten. Da es keine herrschaftsfreie pädagogische Beziehung gibt – auch in der offenen Jugendarbeit entsteht Macht z.B. dadurch, dass Jugendliche auf das Jugendhaus angewiesen sind – und Bindung und Verantwortung immer wieder in der Aufforderungsdynamik des Pädagogischen Bezugs freigesetzt werden, geht es um die Demokratisierung der Strukturen, in denen Erziehung stattfindet. In dieser Perspektive der Ermöglichung von Teilhabe und Anerkennung lässt sich auch die Frage diskutieren, wie Jugendliche als Bürger*innen in den Bereichen der öffentlichen Erziehung auftreten können. Dazu aber müssen sich die pädagogischen Institutionen endlich als Sozialisationsorte unter anderen in der Gesellschaft begreifen können, denn den Bürgerstatus erlangen die Jugendlichen nicht im Raum der Erziehung, sondern in ihren gesellschaftlichen Bezügen, die durch die Entgrenzung des Jugendalters bestimmender geworden sind. Dennoch bleibt das Modell des Pädagogischen Bezugs für die Pädagogik der Verantwortung auch heute noch interessant. Denn die Entwicklungsgesetzlichkeit des Jugendalters besteht auf ja weiter darin, dass Jugendliche über ihre Jugend hinaus einen noch nicht bekannten Erwachsenenstatus anstreben und dazu ihre eigenständige Jugendkultur aber auch für sie relevante (›andere‹) Erwachsene als Identifikationsbezüge gleichermaßen brauchen. Dabei – so die Annahme – suchen die Jugendlichen nicht so sehr den jeweiligen konkreten Erwachsenen, sondern das Erwachsenen-Sein in der jeweils erwachsenen pädagogischen Bezugsperson. Dies bekommt man in der offenen Jugendarbeit bestätigt. Dabei ist auffällig, dass dieses Erwachsenen-Sein von den Jugendlichen selbst nicht planvoll, sondern situativ und wechselnd – meist ohne weitergehende Bindungsabsicht – gesucht wird. Die pädagogische Interaktion im Sinne des Pädagogischen Bezugs ist damit auch von Seiten der Erziehenden nicht nur funktional ausgerichtet, sondern vor allem auch personale Teilhabe (als Erwachsene) an der Entwicklungsthematik Jugend. Pädagogische Interaktionen sind eben – bewusst oder unbewusst – durch eine besondere Gegenseitigkeit gekennzeichnet, welche aus der wechselseitigen Teilhabe an der Entwicklungsthematik resultiert. Nohls Konzept des Pädagogischen Bezugs war – wie damals selbstverständlich – auf erziehende Männer und auf zu erziehende Jungen ausgerichtet. Dass
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sich in dieser Beziehung männliche Geschlechtsidentität entwickelt, hat er aber nicht thematisiert. Dabei stehen gerade hier das Pädagoge-Sein und das MannSein in einem besonderen Spannungsverhältnis. Die Verantwortung des Pädagogen bezieht sich deshalb auch darauf, welches Männlichkeitsbild er dem Jungen vorlebt.
Verantwortung und Vertrauen Voraussetzung für eine emotionale Tiefe des Pädagogischen Bezugs ist eine Atmosphäre des Vertrauens. ›Vertrauen‹ (vgl. Wagenblass 2004) ist eine Kategorie individueller psychosozialer Sicherheit in der Angewiesenheit auf ein gemeinsam erfahrenes und geteiltes positives Sozialklima. Bude u.a. (2010) haben soziales Vertrauen als Sozialkapital eingestuft, das in Gemeinschaftsbildung und Organisationsreformen investiert werden kann. Soziales Vertrauen braucht es besonders beim Übergang in neue Lebensbereiche, Vertrauen fördert die Anerkennung von Reformen und erhöht damit die Integrationskraft sozialer Konflikte, die unweigerlich im Verlauf von Übergangsprozessen entstehen. Eine ›Kultur des Vertrauens‹ kann ein positives Übergangsklima schaffen, indem es anregt, bisher übergangene oder nicht genutzte soziale Potenziale freizusetzen und zu mobilisieren. Weiter wird betont, dass soziales Vertrauen Grundlage für gegenseitige Anerkennung und Toleranz ist, wenn es darum geht, die anfangs fremden sozialen Aufforderungen in Übergangsprozessen anzunehmen. Schließlich wird hervorgehoben, dass Vertrauen die sozialen Bindungen in neuen Gemeinschaftsmodellen wecken und Kooperation und Solidarität fördern kann (ebd.: 46). Soziales Vertrauen ist mit der Bereitschaft verbunden, soziale Risiken einzugehen. Wenn Niklas Luhmann (1995) argumentiert, dass Vertrauen Komplexität reduziert, dann erhöht das die Chance eines gemeinsamen Verstehens, der Verständigung auf eine gemeinsame Substanz, der Bereitschaft zur Beteiligung und kann das Gefühl der Mitverantwortung erzeugen. Soziales Vertrauen entwickelt sich in der konkreten »Wechselseitigkeit der Erfahrung« (Giddens 1995: 121). Gerade in Projekten kann diese Wechselseitigkeit organisiert werden, können Schüler*innen ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen austauschen, Konflikte thematisieren. In den Gruppenzusammenhängen können sich die individuellen Erfahrungen sozial spiegeln und vergewissern. Jungen erfahren in der Gegenseitigkeit des Vertrauens, dass Sorgearbeit keine geschlechtskonträre Zumutung, sondern ›richtige Arbeit‹ und darin ein anerkanntes soziales Gut ist, Mädchen werden im gegenseitigen Austausch sich ihrer eigenen Interessen unabhängig von der Familie gewahr und entwickeln darin ›Selbstvertrauen‹. (Auch die in Projekten der Erwerbsarbeit und in bürgergesellschaftlichen Aktivitäten gemachten innovativen Erfahrungen lassen sich experimentell aufeinander beziehen und es kann sich in der Wechselseitigkeit dieser Erfahrungen Gemeinsamkeit und gegenseitige Verantwortung konkretisieren). So kann sich eine
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Dialektik der Erweiterung entwickeln, die vor allem den Transformationsprozess hin zur demokratischen Schule in Bewegung hält, auch wenn der Institution Schule nur bedingt Vertrauen entgegengebracht wird.
Gegenseitige Integration als Verantwortungsprinzip Migrant*innen sind ob ihres prekären kulturellen und sozialen Status besonders verletzbar, In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich ist deshalb die Verantwortungsfrage so heikel wie im Bereich der Migration. Die Verlegenheit, ja Gleichgültigkeit und manchmal Verantwortungslosigkeit in der ›einheimischen‹ Bevölkerung gegenüber den psychischen und sozialen Bedingungen und sozialpolitischen Sicherheiten des Lebens in der Migration oder im Asyl ist immer noch offensichtlich. Gesellschaftliche und individuelle Verantwortungsabwehr gehen hier ineinander über, zumal die Migrationsfrage große wahlpolitische Bedeutung hat. Ein dialogisches Verantwortungsverhältnis, in dem die Ansprüche der Migrant*innen und Asylsuchenden als Rechte zum Tragen kommen, hat sich nicht eingestellt. Zwar haben sich Zonen der Toleranz entwickelt, diese reichen aber nicht aus, um ein sozial ausgeglichenes Verantwortungsverhältnis zu etablieren, da sie die darunter liegenden Strukturen von Macht und sozialer Ungleichheit verdecken. In dem inzwischen klassischen Satz zur Arbeitsmigration der 1960er Jahre – ›wir haben Arbeitskräfte geholt und Menschen sind gekommen‹ – spiegelt sich die Grundfigur einer gespaltenen Verantwortung in der Migrationsfrage bis heute wider: die Verwertungsinteressen das Kapitals auf der einen und die Würde und die sozialen Rechte des Menschen auf der anderen Seite. Einem funktionalen Verständnis von Zuständigkeit für die Arbeitsleistung der Migrant*innen steht bis heute die Gleichgültigkeit bis Verantwortungslosigkeit bezüglich ihrer außerbetrieblichen Lebensverhältnisse entgegen. An den gegenwärtigen Migrationsbewegungen, die seit den 2000er Jahren weltweit sprungartig angewachsen sind, wird immer noch deutlich, dass in den bisherigen sozialstaatlichen wie den bürgergesellschaftlichen Diskursen vor allem das Modell von der »Bürgergesellschaft der Einheimischen« und die damit verbundene Verantwortungsabwehr gegenüber Migrant*innen vorherrscht. Das ist beileibe kein deutsches Problem. Wenn man bürgerliche Verlegenheit und Verantwortungsabwehr in der Migrationsfrage exemplarisch studieren will, sollte man das Buch von T. C. Boyle »America« (1995), das in den USA spielt, lesen. Immer wieder begegnen sich in dem Roman der mexikanische Einwanderer, der um seine Existenz und um Zugehörigkeit kämpft, und der aufgeklärte amerikanische Mittelschichtbürger, der sich intellektuell dagegen sträubt, ein Rassist zu sein, sich aber mit jeder Begegnung mit dem Migranten immer mehr in seinem privaten Rückzugsraum, seiner privaten Sicherheit und Harmonie bedroht sieht, die er als Kraftquelle seiner vielfach gelobten kulturellen Aktivitäten braucht. Die
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Grenze der Abschottung wird so in die privaten Lebensverhältnisse verschoben. Die interkulturelle Realität wird als Bedrohung der einheimischen privaten Harmonie und Sicherheit wahrgenommen. Gleichzeitig durchzieht den Roman auch die Verlegenheit dieses Bürgers aus der Mittelschicht, der die Ansprüche des anderen spürt, sie aber dann doch innerlich abspaltet und damit abwertet. Wenn wir wieder auf die deutsche Situation zurückkommen, erleben wir ein scheinbares Paradox. Verantwortung und Sorge müssten eigentlich ineinander aufgehen, in der Migrationsfrage aber können sie sich gegenseitig abstoßen. Auf der einen Seite wächst die Tendenz, dass sich Einheimische gegenüber Migrant*innen in Verantwortungsabwehr abschotten, gleichzeitig aber auch Sorge entwickeln. Zwar nicht um die Migrant*innen, sondern um sich selbst und die eigenen Familien. Hier können männliche und weibliche Fremdenfeindlichkeit miteinander verschmelzen. Männlicher Rassismus erwächst dann aus der Angst, die die Bilder von der überlegenen Maskulinität ausländischer Männer erzeugen sowie aus der Konkurrenzangst auf dem Arbeitsmarkt. Das aktiviert die nationalistische männliche Dividende »deutscher Mann«. Weibliche Ausländerangst entwickelt sich hingegen aus der Sorge um die Familie, eine Sorge, die sich rassistisch umpolen kann, wenn die eigene Familie sozial bedroht und dadurch in ihren inneren Beziehungen belastet ist, während der Zusammenhalt von Familienclans ausländischer Herkunft zu wachsen scheint. Solche Ängste werden nicht zuletzt durch eine öffentliche Migrationsdiskussion geschürt, die die Thematik der Familienzusammenführung losgelöst von allen sozialpolitischen Bezügen lediglich als Problem der »Vielen, die kommen werden« in den Vordergrund stellt. Der Begriff der Integration wird immer noch vorwiegend über Defizitzuschreibungen formuliert und nicht über soziale Möglichkeits- und Chancenstrukturen. ›Integration‹ ist zu einem Begriff geworden, der nicht mehr zur Diskussion über die soziale Chancenverteilung auffordert. Integration steht hier nicht für das Öffnen von sozialen und politischen Gestaltungsräumen, sondern sie bezeichnet ein Bündel von problematischen Bildungs- und Verhaltensdefiziten, die die ›Ausländer‹ nicht selten als vormoderne und einschichtige Menschen beschreiben. Verantwortungsübernahme würde aber hier heißen, die legitimen humanen und sozialen Ansprüche der Migrant*innen zu respektieren, das heißt mit den eigenen Ansprüchen an Arbeit und Leben gleichzusetzen. »In diesem Sinne ist Integration ein Thema für alle Menschen einer Gesellschaft, nicht nur für eine spezifische Gruppe« (Pries 2015: 28). Aus dieser Erkenntnis heraus kann die Migrationsdiskussion als sozialpolitischer Verantwortungsdiskurs geführt werden. Das erfordert aber sozialinfrastrukturelle Projekte, Netzwerke, in denen gemeinsam anstehende soziale Probleme thematisiert und bewältigt werden können.
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Parteilichkeit Parteilichkeit hat sich – in emanzipatorischer Perspektive – zur pädagogischen Handlungskategorie entwickelt (vgl. Bitzan/Winter 2022). Sie leitet sich aus der strukturellen Gewalt sozialer Ungleichheit und der daraus entstehenden Verletzlichkeit ab. Schon Carl Mennicke, sah in den 1920er Jahren in der Parteilichkeit eine Haltung, die signalisiert, dass man den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren psychosozialen Folgen gegenüber als Pädagog*in nicht neutral bleiben könne. Mennicke hat damals ein vielschichtiges Argumentationstableau aufgemacht, das uns auch heute Anregungen dafür geben kann, wie wir in einer sich professionell und rational verstehenden Berufswelt Parteilichkeit thematisieren können. Denn am Abhängigkeitsstatus der Betroffenen hat sich ja in der Grundstruktur nichts geändert. Soziale Parteilichkeit hat ihre Wurzeln im Klassenkampf-Dispositiv der Arbeiterbewegung und wurde von den Frauenbewegungen mit neuer Zielrichtung aufgenommen. So wendet sich die moderne feministisch inspirierte Sozialpädagogik seit den 1990er Jahren gegen die defizitären Zuschreibungen, wie sie auf Frauen und Mädchen angewendet werden. Vielmehr gehe es darum, Abhängigkeitsstrukturen, in denen die Frauen stehen, und darin enthaltene Verletzungen zu benennen. Feministische Parteilichkeit entzündet sich deshalb immer wieder an der Selbstverständlichkeit patriarchaler Macht- und Gewaltstrukturen. Der strukturellen Resistenz von Gewalt gegen Frauen werden der Anspruch und das Recht auf Schutz, Gegenwehr und Überwindung von Opfererfahrungen entgegengesetzt. Parteilichkeit ist hier gleichsam zum Symbol einer Gegenwelt geworden. In ihr manifestiert sich eine Haltung, Mädchen und Frauen Raum zu jener Selbstentwicklung zu geben, die ihnen in ganz unterschiedlichen Formen von Entwertung, Nichtachtung und Missdeutung ihrer Erfahrungen verweigert wird. Parteilichkeit kann in diesem Zusammenhang auch als gesellschaftlicher Tabubruch wirken. Das gelang im Falle der gesellschaftlichen Enttabuisierung sexueller Gewalt. Die Thematik sexueller Gewalt war hermetisch in den Privatbereich der persönlichen Beziehungen und in der Familie eingeschlossen. Das öffentliche parteiliche Eintreten zum Schutz der Opfer hat dazu geführt, dass die gesellschaftliche Wand dieses Tabus durchbrochen werden konnte. Diese Parteilichkeit hat vor allem auch dazu beigetragen, eine neue Norm im Geschlechterverhältnis durchzusetzen. Carl Mennicke wiederum hat versucht, pädagogische Parteilichkeit allgemein in der Spannung zwischen fachlichem und politischem Anspruch zu definieren. Für ihn muss in der Sozialpädagogik das Verständnis dafür entwickelt sein, »daß alle fürsorgerische Arbeit, wenn sie sich als sinnvoll begreifen will, sich im Zusammenhang mit der gesamten gesellschaftlichen Gestaltungsarbeit sehen muß. […] Da die Fürsorgearbeit zum großen Teil Arbeit an der proletarischen Bevölkerung ist, und da es in der Lage der proletarischen Bevölkerung begründet ist, daß sie bestimmten gesellschaftlichen Gestaltungstendenzen zuneigt, wird, wo es sich nicht um ausge-
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sprochen konfessionell bestimmte Bezirke handelt, eine entsprechende politische Einseitigkeit des Fürsorgers besonders leicht eine wirkliche Hilfe für seine Arbeit bedeuten. […] Und es wäre vollkommen töricht, diese Dinge kaschieren zu wollen zugunsten eines Prinzips der Neutralität, dem die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit an keiner Stelle entspricht« (Mennicke 1930: 319f.). Im feministischen Parteilichkeitsanspruch in der Pädagogik ist der Übergang von der politischen zur fachlich begründeten Parteilichkeit fließend. Schwierig wird es, wenn – nur fachlich begründet – von der »Vertretung der Interessen der Betrofffenen« die Rede ist. Hier geht es nicht um Parteilichkeit, sondern um anwaltliches Handeln, in dem die Interessen der Betroffenen fachlich, aus dem professionellen Fallverstehen heraus, vertreten werden. Parteilichkeit bedeutet aber nicht nur Anwaltschaft, sondern auch die Ermutigung und Befähigung der Adressat*innen, Widerspruch zu üben. Ley/Ziegler bezeichnen das als »capability for voice« (2012: 269). Das setzt natürlich die Demokratisierung pädagogischer Organisationen voraus. Erst dann werde es möglich, dass die Betroffenen Selbstwirksamkeit erfahren und spüren können, dass sich auch im Widerspruch soziale Anerkennung entwickeln kann.
Nachhaltigkeit als pädagogische Verantwortung Die Verletzlichkeit des Menschen in seinem existenziellen Verhältnis zur Natur ist zum Kernthema der Nachhaltigkeit geworden. Der Nachhaltigkeitsdiskurs der letzten Jahre hat den Verantwortungsbegriff in seinem Konfliktgehalt neu belebt. Denn es ist deutlich geworden, dass man die Verantwortung für ökosoziale Nachhaltigkeit nicht bloß als Programm, sondern als Konflikt zwischen ökonomischer Externalisierung und menschlich-existenzieller Sorge begreifen muss (s. o.). Dieser Konflikt spielt sich aber nicht allein in der globalisierten Welt ab, sondern setzt sich in der Gesellschaft und damit auch in den pädagogischen Institutionen fort. Auch sie unterliegen dem ökonomischen Externalisierungszwang und Beschleunigungsdruck, obwohl gerade ihre personenbezogene Arbeit Entschleunigung und Umwege braucht. Deshalb ist es nicht von der Hand zu weisen, dass man Prinzipien der globalen Verantwortung für die Existenzsicherung des Menschen und der Natur auch in den inneren gesellschaftlichen Bereichen thematisieren und anerkennen muss. Wenn ökonomische Externalisierung zu Verantwortungslosigkeit führen kann, dann braucht Verantwortung vor allem Innehalten. Gerade die Pädagogik braucht Zeit und Umwege, wenn sie auf die Einzelnen und ihre biografischen Besonderheiten eingehen, offene Gruppenprozesse und fördernde Beziehungen ermöglichen, übergangene Fähigkeiten aufschließen soll. Gleichzeitig steht sie immer wieder unter Zeitdruck, wenn institutionelle Vorgaben verkürzt, pädagogische Verfahren unter dem Diktum der Effizienz zeitlich rationalisiert werden. Es kommt damit un-
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weigerlich zu Konflikten zwischen pädagogisch notwendiger und organisatorisch gesetzter Zeit. Und das führt wiederum zu Problemen gespaltener Verantwortung bei den Lehrkräften. Viele Schulen in Deutschland haben inzwischen Nachhaltigkeit als Bildungsauftrag im Sinne der UN-Agenda 2030 in ihre Curricula aufgenommen. Von praktischer Umwelterziehung im direkten Schulumfeld – Recycling, Mülltrennung, Energie- und Wasserverbrauch, Schulgärten – bis hin zu Projekteinheiten zu Klimawandel, globaler Gerechtigkeit und demografischer Dramatik können sie auf eine breite Palette vorweisen. Dies ist aber nur die äußere Seite des Wissens um Nachhaltigkeit. Die innere Seite, der Konflikt zwischen Externalisierung und Sorge, der sich eben auch im Konflikt zwischen ökonomischer Verwertung von Wissen und mündigkeitsorientierter Bildung spiegelt, bleibt meist außen vor. Denn das führt ja in die Frage, wie weit die Schule politisch sein darf. Wenn man in diese innere Seite systematisch vordringt, wird erst der politische Kern der Thematik ›Schule und Nachhaltigkeit‹ sichtbar. Die Schule wirkt verdeckt politisch, auch wenn sie es nicht wahrhaben will. Sie hat es täglich mit sozialen Konflikten zu tun, die in ihr aufbrechen und ist schlecht gerüstet, mit diesen umzugehen. Wenn man das Politische in seinem Kern als Möglichkeitsraum der Anerkennung und Austragung von Konflikten begreift, dann müsste der Schule daran gelegen sein, Räume zu öffnen und Verfahren zu schaffen, in denen Konflikte auch ausgetragen, thematisiert und einer demokratischen Integrationsperspektive zugeführt werden können.). Für die Schule als Ort politischer Sozialisation ergibt sich deshalb erst recht die Aufforderung, den Monolith Unterricht produktiv aufzubrechen. So wie sich in das Jugendalter der Ernstfall des Lebens vielfältig eingeschlichen hat, muss die Schule diesem Ernstcharakter Rechnung tragen und die Jugendlichen als junge Bürger*innen (s.o.) anerkennen. Es geht nun nicht mehr um ein Moratorium, in dem Jugendliche separiert von arbeitsgesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Verpflichtungen, Gesellschaft erfahren, sondern um soziale Teilhabe im Sinne von Bürgerrechten. Ein neues institutionelles Verständnis vom ›Arbeitsplatz Schule‹ und von den Schüler*innen als Bürger*innen erkennt die soziokulturelle Selbstständigkeit von Jugendlichen trotz ihres ökonomischen und auch schulischen Abhängigkeitsstatus an und schafft somit die Voraussetzung dafür, dass Schüler*innen sich als verantwortliche Bürger*innen verstehen können, sodass sie nicht mehr zwanghaft die schulische und außerschulische Sphäre auseinanderhalten müssen. Gerade an der Nachhaltigkeitsthematik kann man zeigen, dass Verantwortlichkeit einer kritischen Haltung bedarf, um die Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit in sich aufnehmen zu können. Verantwortlichkeit wird so zur reflexiven Kategorie. Drei Haltungen sind es, die den globalen Nachhaltigkeitsdiskurs bestimmen und sich auf pädagogische Prozesse übertragen lassen: Innehalten, Respekt und Reframing. Innehalten bringt die eigene Autonomie und darin Souverä-
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nität zur Geltung. Respekt öffnet den Blick für Alternativen im Spektrum sozialer Angewiesenheit. Alle drei sind Grundlagen dialogischer Verantwortung, in der man die anderen in sich zum Zuge kommen lässt. Im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs zielt Respekt vor allem darauf ab, die von der Klimakrise bedrohten Menschen nicht als Opfer, sondern als Akteure zu sehen und zu achten. In der Schule ist mit Respekt die Aufforderung verbunden, Kinder und Jugendliche als verantwortungsbewusste Akteure und nicht als gehorsame Zöglinge zu betrachten. Darin sind wir schon beim Reframing. Global bedeutet dieses Umrahmen z. B., dass wir Innhalten und Entschleunigung eben nicht als Wachstumsbarriere, sondern als Fortschritt betrachten. Das gilt auch für pädagogische Prozesse, die Umwege brauchen. Zudem öffnet es den Blick für all die übergangenen Fähigkeiten, die in Kindern und Jugendlichen stecken, die im Erziehungsbetrieb als auffällig und lernresistent etikettiert sind.
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