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German Pages 216 [217] Year 2022
Walther Müller-Jentsch Adorno und Andere
Kulturen der Gesellschaft | Band 59
Walther Müller-Jentsch (Prof. em. Dr.) , geb. 1935, studierte Soziologie bei Adorno und Habermas in Frankfurt sowie bei Popper und Miliband an der London School of Economics. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung (1969-1981), lehrte Soziologie an den Universitäten Paderborn (1982-1992) und Bochum (1992-2001) und als Gastprofessor an der University of Warwick (1990). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Industrie-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie sowie Kunstsoziologie.
Walther Müller-Jentsch
Adorno und Andere Soziologische Exkurse zu Kunst und Literatur
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Inhalt
Vorwort ............................................................................ 7
Einleitung 1.
Die Künste und die Soziologie................................................. 11
Erster Teil Spotlight auf Adorno und sein Œuvre 2.
Negativität und Versöhnung. Versuch, Adornos Kunstsoziologie zu verstehen .............................. 31
3.
Eine bemerkenswerte Übereinstimmung: Max Weber und Adorno über gesellschaftliche und ästhetische Rationalität ......................... 59
4.
Adornos ambivalente Heine-Rezeption....................................... 69
5.
Rancune oder Adorno teilt aus ............................................... 77
Zweiter Teil Über die Notwendigkeit und die Macht der Kunst 6.
Herbert Marcuse und Ernst Fischer über die Notwendigkeit der Kunst ....... 97
7.
Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff – eine Melange aus Weber und Marx ...107
8.
»Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie. Der George-Kreis aus der Sicht Bourdieus ................................... 113
Dritter Teil Kunst als Profession und Kritik 9.
Le Tour des artistes. Warum Künstler sich zu Gruppen zusammenschließen ...................... 143
10.
Der Künstler als Kippfigur – Artisten in der postmodernen Arbeitswelt? .... 149
11.
Kunstkritik als literarische Gattung. Entstehung, Entfaltung und Krise ..... 155
Anhang Nachweise ........................................................................ 191 Siglenverzeichnis ................................................................ 193 Literaturverzeichnis.............................................................. 195
Vorwort
Die hier versammelten Arbeiten entstanden zu unterschiedlichen Anlässen in den letzten beiden Jahrzehnten, darunter einige bisher unveröffentlichte. Sie befassen sich mit einer Thematik, die erst in meinen letzten aktiven Jahren als Hochschullehrer allmählich Besitz von mir ergriff. Durch die Organisationssoziologie, die – neben der Mitbestimmung – Bestandteil meiner Lehrund Forschungsdomäne an der Ruhr-Universität Bochum war, fand ich zu ihr (oder sie zu mir). Reizte mich doch zunächst das Erstaunen darüber, dass im Bereich der Kunst, diesem so sehr von individueller Produktion und Rezeption bestimmten Terrain, eine Vielzahl von Organisationen zu ihrer Erzeugung, Distribution und Rezeption operierten, weitgehend ohne deren Autonomie in Frage zu stellen, ja sie zu wahren. Mit ihrer Erforschung – »Das Kunstsystem und seine Organisationen«, war meine erste Veröffentlichung zu dieser Thematik – drang ich neugierig in das eigentliche Arkanum der Kunst vor, welches mir der frühe Lehrer, Theodor W. Adorno, spät erschloss. Als ehemaliger Frankfurter Student saß ich voller Respekt und Wissbegier in den Vorlesungen und Seminaren von Adorno und Habermas. Eigentlich wollte ich Germanistik studieren, aber die Soziologie konnte mit attraktiveren Dozenten aufwarten. In ihren Kollegs, so schien es mir, wurden die »Geheimnisse der Welt« entschleiert. Wie soll ich meine Freude beschreiben, als mir, Anfang 1969 nach absolviertem Diplomstudium, der damalige geschäftsführende Direktor des Instituts für Sozialforschung, Ludwig von Friedeburg, die unerwartete Chance eröffnete, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Institut einzutreten? Adorno, in seinem letzten Lebensjahr, streckte mir noch seine schlaffe Begrüßungshand entgegen – für mich gleichsam ein Initiationsritus. Aber fortan war ich in Friedeburgs Forschungsbereich »Betrieb und Gewerkschaft« tätig. Unter der Leitung meines geschätzten und bald befreundeten Kollegen Joachim Bergmann untersuchten wir (Otto Jacobi und ich) mit einer ersten größeren Studie die »Gewerkschaften in der Bundesrepublik«. Das
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prägte zunächst meine nachfolgende Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Paderborn und Bochum, vertieft durch eine ehrenvolle Gastprofessur an der University of Warwick in England. Ich wurde gewissermaßen zu einem Experten der Industrial Relations, der Industrie-, Organisationsund Gewerkschaftssoziologie. Auf diesem Standbein konnte ich zwar so manche erfreuliche Ernte einfahren, die mich aber ungesättigt ließ. Angespornt durch die Organisationssoziologie, wie erwähnt, strebte mein Spielbein zur Kunstsoziologie und trat in die zeitweilig verwischten Spuren des verworfenen Germanistikstudiums und in die von Adorno vorgezeichneten Pfade. So dass es mich, geteilt zwischen zwei Welten – zwischen »Basis« und »Überbau«, wenn man’s metaphorisch will – bis heute, immer noch neugierig, umhertreibt. Mit den nachstehenden Beiträgen lege ich eine Sammlung von Arbeiten vor, die sich schwerpunktmäßig im ersten Teil mit Adornos kunst- und literatursoziologischem Werk auseinandersetzen (und nicht nur damit). Die folgenden Beiträge sind anderen Autoren und Themen gewidmet. Ohne einen systematischen Anspruch zu erheben, stellen sie kaleidoskopisch Ausschnitte aus dem facettenreichen Profil der Soziologie der Künste dar, Stücke in des Verfassers Manier. Im kursorischen Überblick umreißt das einleitende Kapitel die derzeit wichtigsten theoretischen Zugänge zur Kunstsoziologie. Düsseldorf im März 2022 Walther Müller-Jentsch
Einleitung
1. Die Künste und die Soziologie »KUNST gibt es nicht, es gibt nur Künste« Werner Hofmann
Eine Soziologie der Kunst, oder besser: der Künste, hat ihre raison d’être darin, dass Kunstwerke im gesellschaftlichen Kontext entstandene, nichttriviale Phänomene sind, in der Sprache von Emile Durkheim: faits sociaux. Explizit übernimmt Adorno diesen Terminus, wenn er vom »Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social« (GS 7: 16)1 spricht. Auch ihre Schöpfer, die Künstler, sind in gesellschaftliche Beziehungen verflochtene Individuen; vollends die Rezipienten von Kunst, das Publikum und die Kritiker, sind Teil des gesellschaftlichen Ganzen.
Objektbereich: Künstler, Kunstwerk, Publikum Die klassischen Zweige der Kunstsoziologie fokussierten auf (Bildende) Kunst, Literatur und Musik, sowie – eher randständig – auf Architektur. Erwartungsgemäß enthält das »Handbuch Spezielle Soziologien« (Kneer/Schroer 2010) die Kapitel »Kunstsoziologie«, »Literatursoziologie« und »Musiksoziologie« sowie »Architektursoziologie«. Als weitere, teils neue Kunstformen wären Tanz und Pantomime sowie Film und Foto, Installation, Happening und Performance zu nennen, denen eigene Kapitel zustünden. Zu relativieren wäre zudem die gattungsspezifische Betrachtung durch das aktuelle Phänomen der Vernetzung bzw. »Verfransung« (Adorno) der Künste, die mit der Auflösung der festumrissenen Gestalt die traditionellen Gattungsdefinitionen in Frage stellen (Rebentisch 2018: 119ff.). 1
Adornos »Gesammelte Schriften« (GS) werden mit Siglen zitiert, s. Siglenverzeichnis im Anhang.
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Eine Vielzahl von Organisationen und Institutionen stehen im unmittelbaren und mittelbaren Dienst der Kunst, sie ermöglichen ihre Existenz und ihre Autonomie. Sie lassen sich nach den Sphären von Produktion, Distribution und Rezeption von Kunstwerken sowie der Sozialisation von Künstlern gruppieren. Die nachstehende Übersicht veranschaulicht die Topografie des Kunstsystems mit der axialen Trias von Künstler – Kunstwerk – Publikum und seinen wichtigsten Komponenten. Übersicht: Das Kunstsystem und seine wichtigsten Komponenten K u n s t m a r k t / K u n s t k r i t i k Künstler
Kunstwerk
Sozialisation/ Ausbildung:
organisierte/kollektive Kunstproduktion:
Akademien Kunst-/Musik-/ Theater-Hochschule »Creative Writing«
Orchester/Philharmonie Theater/Oper/Ballett Film-/TV-Produktion
Publikum Distribution/ Vermittlung:
Rezeption:
Verlage Galerien Museen Bibliotheken
Kunstvereine Lesegesellschaften Salons Literaturhäuser
Literarische Gesellschaften K ü n s t l e r g r u p p e n / K ü n s t l e r v e r b ä n d e (Quelle: Müller-Jentsch 2012: 27)
Gleichsam gerahmt wird diese Trias vom Kunstmarkt einerseits und der Kunstkritik andererseits.2 Beide vermitteln zwischen Künstler und Publikum: die Kritik, indem sie das Publikum mit Kunstwerken vertraut macht; der Markt, indem er die Kunstwerke über verschiedene Distributionsagenturen (Galerien, Verlage) an das Publikum verteilt. Eine zweite Rahmung bilden die Künstlergruppen und Künstlerverbände. In ihnen organisieren sich Künstler nicht nur im Hinblick auf ihre Produktionsinteressen, sondern auch im Hinblick auf ihre Reproduktions- und Verwertungsinteressen.
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Mit Kunstmarkt ist zugleich der Literaturmarkt, mit Kunstkritik auch die Literaturkritik gemeint.
1. Die Künste und die Soziologie
Gegenstände: Adorno/Silbermann-Kontroverse Welche sind aber die bevorzugten Gegenstände der Kunstsoziologie? Alphons Silbermann, einer der frühen bundesdeutschen Kunstsoziologen, nennt in einem Aufriss der »empirischen Kunstsoziologie« (1973) drei Teilprozesse: die Erforschung des Künstlers, die soziologische Erkenntnis des Kunstwerkes und die Erforschung des Kunstpublikums (1973: 21f.). Allein zum ersten Komplex listet er detailliert auf, welche Aspekte zu erforschen seien: Beschreibung und Analyse der sozialen Stellung und Beziehungen des Künstlers (soziale Herkunft; ethnischer, ökonomischer und erzieherischer Hintergrund), ihr Lebensstil und Wohnort, ihre sozialen Kontakte, Arbeitsgewohnheiten und Freizeitaktivitäten. Beim Gegenstand Kunstwerk kommt es ihm keineswegs auf Aussagen über dessen Inhalt und Struktur an, sondern allein auf dessen Erleben beim Rezipienten. In einem früheren Lexikonartikel schreibt er: Die Kunstsoziologie macht das Kunsterlebnis »als soziale Tatsache zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Forschungen« (1967a: 167). Beim Publikum verweist er auf verschiedenartige Publikumsgruppen und deren Beweggründe und Verhaltensmuster beim Kunstkonsum. Wenn er als Gegenstand der Kunstsoziologie die Trias von »Künstler–Kunsterlebnis–Publikum« (1958: 163) bestimmt, ist es jedoch das Kunsterlebnis, dem er darin den zentralen Stellenwert zuweist. Silbermanns strikte Absage, den Gehalt von Kunstwerken mit dem soziologischen Instrumentarium zu erschließen, bildete den Ausgangspunkt einer heftigen Kontroverse zwischen ihm und Theodor W. Adorno, die 1967 in der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« (GS 10.1; Silbermann 1967b) ausgetragen wurde. In seinen Thesen zur Kunstsoziologie definiert Adorno bündig: »Kunstsoziologie umfasst, dem Wortsinn nach, alle Aspekte im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Unmöglich, sie auf irgendeinen, etwa auf die gesellschaftliche Wirkung von Kunstwerken einzuschränken« (GS 10.1: 367). Fälschlicherweise unterstellt er Silbermann, dass diesem zufolge die Kunstsoziologie sich ausschließlich mit dem »Kunsterlebnis« beschäftigen soll (GS 10.1: 368). Wer die Kunstsoziologie auf die Erhebung von Wirkungen beschränken will, kritisiert Adorno, verstehe die Kunstwerke als bloße Stimuli für subjektive Reflexe (GS 10.1: 370). Obwohl Adorno in seinen Thesen zur Kunstsoziologie als Gegenstände »alle Aspekte im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft« (GS 10.1: 367) bestimmte, fokussiert auch er nur auf einen: »der den Kunstwerken immanente soziale Gehalt« (ebd.: 371). Als Beispiel führt er Beethovens Verhältnis zur »bürgerlichen Autonomie, Freiheit, Subjektivität« an, das sich »bis in seine kompo-
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sitorische Verfahrensweise hinein« bestimmen ließe (ebd.). In welcher Weise Adorno die »Beziehungen zwischen der Kunst und der Gesellschaft« (ebd.) und »wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert« (ebd.: 374), zu bestimmen versucht, wird im nachfolgenden Beitrag (Kapitel 2) ausführlich dargelegt.
Unterschätzte Populärkultur: Cultural Studies Die Kritische Theorie unterscheidet zwischen authentischer Kunst und Massenkultur; letztere wurde später als »Kulturindustrie« ausgeflaggt (GS 10.1: 337). In der »Dialektik der Aufklärung« (GS 3) haben Horkheimer und Adorno den Produkten der Kulturindustrie (dazu rechnen sie Film, Fernsehen, Jazz, Unterhaltungsmusik, populäre Literatur etc.) den Charakter von Waren zugeschrieben, die eigens für die massenhafte Verbreitung auf den jeweiligen Märkten geschaffen wurden. Ihre gesellschaftliche Funktion sahen die Autoren in der Sicherung und Legitimation von Herrschaft durch soziale Kontrolle und Integration der manipulierten Konsumenten. Gegen eine undifferenzierte Einschätzung und pauschale Subsumtion der populären Kultur unter die pejorative Kategorie der Kulturindustrie haben schon Adorno-Schüler, wie der Filmproduzent Alexander Kluge (Winter 2019: 1117) und der Medientheoretiker Dieter Prokop (2003), Einspruch erhoben. Prokop verweist auf objektive Qualitäten und Freiheitsdimensionen in der populären Kultur (2003: 17f.). Niklas Luhmann spricht von einer »arroganten Ablehnung« des »Vergnügens am automatischen Wiedererkennen des schon Bekannten« (Luhmann 1995: 228). Douglas Kellner, der amerikanische Herausgeber der Schriften Herbert Marcuses, führt gegen die »pessimistische Denunziation« der »popular culture« die »subversiven, oppositionellen und utopischen Momente« (Kellner 1982: 512) ins Feld. Diese aufzudecken, haben sich vornehmlich die Cultural Studies zum Ziel gesetzt. Eine Pionierrolle nimmt dabei die sogenannte »Birmingham School« ein, die seit 1963 amC entre for C ontemporary C ultural Studies forscht, zunächst unter der Leitung von Richard Hoggart, der 1957 die bahnbrechende Studie »The Uses of Literacy. Aspects of Working Class Life« vorlegte.3 Ab 1968 übernahm Stuart Hall die Leitung. Unter Bezugnahme auf 3
Hoggart analysiert in dem Buch den Übergang der genuinen britischen Arbeiterkultur zu der amerikanisch geprägten Unterhaltungskultur (Dörner/Vogt 2013: 174).
1. Die Künste und die Soziologie
Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie, die als umkämpfte gesellschaftliche Ideologie zwischen dominanten und subalternen Gruppen verstanden wird, spürt sie die widerständigen Potentiale von Subkulturen auf. Nach Stuart Hall stand die Populärkultur immer in »einem konfliktbeladenen und kämpferischen Verhältnis zur dominanten Kultur« (Winter 2019: 1121). Subversive und emanzipatorische Elemente finden sich nicht nur in den Werken der »Hochkultur«, sondern auch in Filmen oder Fernsehserien (ebd.: 1116). Wie für Hall besteht auch für John Fiske, einen der prominentesten Autoren der Cultural Studies (Rauter-Nestler 2017: 904), die soziale Wirklichkeit aus dem »power-bloc« und den »people«. Während »der Machtblock kontinuierlich nach Kontrolle strebt, sich räumlich und in Körper der Beherrschten ausbreitet […], sind die Leute ebenso beständig damit beschäftigt, auszuweichen« (Niekisch 2004: 248), indem sie »die Möglichkeit zu widerständigen Aneignungspraktiken« (Rauter-Nestler 2017: 903) nutzen. Die Kritiker der Populärkultur seien mit dem Verdikt »bloßer Eskapismus« schnell bei der Hand, bedächten dabei nicht, dass die Flucht vor etwas, auch eine »Flucht hin zu einer präferierten Alternative« (Fiske 2002: 123) sein kann. In »besonders radikaler Weise« (Dörner/Vogt 2013: 206) betont er die Freiräume der Konsumenten beim Umgang mit kulturellen Produkten jeglicher Art; die Konsumenten der Massenkultur seien keine »Systemidioten des Kapitalismus« (Fiske 1999: 260). Sie eigneten sich ihre Kulturobjekte »eigensinnig und kreativ auf ihre Bedürfnisse hin« an (Dörner/Vogt 2013: 208). Fiskes Studien haben allerdings auch Kritik von Kollegen hervorgerufen. So missbilligt Douglas Kellner dessen »Fetischismus des Widerstands« (zit.n. ebd.: 189).
Kunst als Medium gesellschaftlicher Ungleichheit: Bourdieus Feldtheorie Einen innovativen Zugang zur Soziologie der Künste hat Pierre Bourdieu mit seiner Feldtheorie gewiesen, die eine neue Schule der Kultur und Kunstsoziologie begründete. Ihm zufolge hat sich die moderne Gesellschaft in unterschiedliche soziale Felder (Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Kultur etc.) ausdifferenziert. Analog dazu nennt Niklas Luhmann sie Funktionssysteme, Max Weber Wertsphären. Bei Bourdieu handelt es sich um relativ autonome, von besonderen Regeln durchwirkte Handlungssphären vergesellschafteter Menschen mit spezifischen Qualifikationen, Praktiken und Strategien.
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Institutionalisierung von Autonomie ist das Konstitutionsprinzip eines Feldes. Jedes Feld verfügt über eine Hierarchie von (Macht-)Positionen. »Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw. […] den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt« (Bourdieu 1993b: 108; Hervorh. i. O.). Das Feld der kulturellen Produktion ist wiederum in Subfelder ausdifferenziert, z.B. das der Kunst, der Wissenschaften, der Philosophie etc. Dem Feld der Kunst attributiert Bourdieu als Funktion die Konstituierung von gesellschaftlicher Ungleichheit (Distinktion) und die der Aufrechterhaltung bzw. Legitimierung von Klassenherrschaft. Herrschaft heißt hier primär »Benennungsmacht« oder »autorisierter Standpunkt« einer Gruppe oder Klasse in symbolischen Ordnungen. Klassen bilden Akteure mit vergleichbarer Kapitalausstattung, die sich durch einen gleichen, von anderen Klassen abgehobenen Habitus und Lebensstil auszeichnen. Mit einer großen und ideenreichen empirischen Untersuchung (»Die feinen Unterschiede«, 1982) hat Bourdieu dies an den Unterschieden des Kulturkonsums der französischen Gesellschaftsklassen dokumentiert. Es ist eher der Umgang mit Kunst, die Präsentation und Rezeption von Kunstwerken, die im Zentrum der Bourdieuschen Theorie stehen. Anknüpfend an Erwin Panofskys ikonologische Analysen (Panofsky 1955/1975) argumentiert Bourdieu in seiner »Soziologie der symbolischen Formen« (1974), dass jedes Kunstwerk Bedeutungen unterschiedlichen Niveaus enthält, die zu entschlüsseln dem Betrachter (Leser, Hörer) ein entsprechendes Bildungsniveau abverlangt. »Die Lesbarkeit eines Kunstwerks hängt für ein bestimmtes Individuum von der Distanz zwischen dem Emissionsniveau (verstanden als Grad der immanenten Komplexität und Verfeinerung des vom Werk erforderten Codes) und dem Rezeptionsniveau ab (das sich daran bemisst, inwieweit das Individuum den sozialen Code beherrscht, der dem von Werk erforderten Code mehr oder weniger angemessen sein kann)« (Bourdieu 1974: 176f.). Die ästhetische Kompetenz, stilistische Eigentümlichkeiten von Kunstwerken zu erfassen und sie einer Schule oder Epoche zuzuordnen, wird in der Regel während der Sozialisation durch musischen Unterricht, Museums- und Konzertbesuche, Lektüre etc. erworben. Derart inkorporierte, klassenspezifische
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Erfahrungen nennt Bourdieu »kulturelles Kapital«, dessen ungleiche Verteilung und Akkumulation Distinktionsgewinne verschaffen (s. Kapitel 7). Spricht Bourdieu von »symbolischem Kapital«, meint er den Ruf, das Prestige, die Berühmtheit, die jemand aufgrund der erworbenen Menge und Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalsorten (d.h. ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) genießt. Es ist die »wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien« (Bourdieu 1985: 11). Die Klasse, die genügend kulturelles und symbolisches Kapital akkumuliert hat, übt im Feld der künstlerischen Produktion Konsekrationsmacht aus, das heißt sie bestimmt über den legitimen Geschmack, über legitime Kunst; zugleich dokumentiert sie damit ihren »Sinn für Distinktion« gegenüber der bildungsbeflissenen Mittelschicht, dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschicht. Die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstfeldes und die in diesem Prozess von den interessierten Akteuren eingesetzten Strategien hat Bourdieu in seiner Publikation »Die Regeln der Kunst« (1999) am Beispiel Frankreichs detailliert beschrieben. Entscheidende Anstöße zur »Konstitution des literarischen Feldes als einer gesonderten Welt mit je eigenen Gesetzen« (ebd.: 84) gingen Mitte des 19. Jahrhunderts von Charles Baudelaire und Gustave Flaubert aus. Die sich danach etablierende künstlerisch-intellektuelle Bohème konnte im Kampf um die Benennungsmacht der Bourgeoisie die Dominanz über das künstlerische Feld tendenziell entwinden, weil sie sich von den Institutionen der strukturellen Herrschaft des Bürgertums über die Künstler – durch Akademie, Markt und Salon – unabhängig machte. Sie konnte die Autonomie des literarischen und künstlerischen Feldes erringen, indem sie ein eigenes Milieu gegenseitiger Unterstützung schuf, das es ihr erlaubte, sich vom ökonomischen Erfolg und von den Normen bürgerlicher Lebensführung freizumachen, um ausschließlich der Kunst zu dienen. Mit anderen Worten: ihre nicht-kommerzielle Strategie zielte auf die Abschaffung des Bourgeois als Kunden. Fortan spaltete sich das künstlerische Feld in Avantgarde-Kunst (I’art pour I’art) und nachfrageorientierte Massenkunst mit jeweils unterschiedlichen Vermittlungsinstitutionen (Galerien, Verlage; Kunst- und Literaturkritik). Ein vergleichbares Beispiel in Deutschland verkörpert der George-Kreis (s. Kapitel 8).
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Kunst als kollektives Handeln: Howard S. Beckers »Art Worlds« Einen anderen, aber ebenfalls innovativen Zugang zur Kunst eröffnete der amerikanische Soziologe Howard S. Becker (1982/2008). Wie Bourdieu stellt er überkommene Vorstellungen von Kunst infrage, namentlich die vom individuellen Schöpfer. Vielmehr konzipiert er das System der Kunst als eine eigenständige Welt (art world) kollektiven Handelns, genauer als »Kunstwelten«. Sein 1982 veröffentlichtes Werk »Art Worlds« gilt als Standardwerk der neueren Kunstsoziologie. Es enthält keine Aussagen darüber, was Kunst ist, sondern Beschreibungen von netzförmigen Strukturen, in denen Menschen kooperativ ein Projekt verfolgen, m. a. W. ein Kunstwerk herstellen. Nicht genug damit: als Kunstwerk definiert er »a work being made and appreciated« (Becker 2008: 4; Hervorh. i. O.). Es bedarf neben der Produktion auch eines Publikums. Ohne dieses, und sei es auch nur ein kleines, bleibt ein Kunstwerk inexistent. Es sind immer die bereits – gestützt durch Konventionen – anerkannten Kunstwerke, die »the starting point« (ebd.: 37) seiner Studien über Kunstwelten bilden. Der Künstler ist zwar essentieller Bestandteil des Netzwerkes, aber er macht das Kunstwerk nicht allein. Viele verschiedene Tätigkeiten müssen ausgeführt werden, »um ein beliebiges Kunstwerk zu dem zu machen, als das es letztendlich erscheint« (Becker 1997: 24). Besonders in den darstellenden Künsten (Oper, Theater, Konzert, Film) ist dies evident. Der Abspann eines Films dient Becker als eingängiges Beispiel für die Vielzahl der Menschen, die zu seiner Herstellung beigetragen haben: in seinem Fall sind es neben den Schauspielern rund sechzig weitere Personen (Becker 2008: 7ff.). Becker unterscheidet zwischen künstlerischen (core personnel) und unterstützenden (support personnel) Tätigkeiten. »So arbeitet der Künstler im Zentrum eines großen Netzwerks von kooperierenden Personen, deren Arbeit für das Endprodukt wesentlich ist. Sobald er auf andere angewiesen ist, besteht eine kooperative Verbindung« (Becker 1997: 26). Die ein Netzwerk von Aktivitäten bildende Kunstwelt kann sehr verschiedenartige Dimensionen umfassen. Sie kann lokal begrenzt, wie etwa die einer kleinen Experimentierbühne, oder weltweit vernetzt sein, wie der moderne Kunstbetrieb. Aber auch der »einsame« Liedkomponist oder Lyriker hat die »Zutaten« von Tätigkeiten anderer zur Voraussetzung und Realisierung seines Produkts. Becker wird nicht müde, sie aufzuzählen: »Poets depend on printers and publishers as painters do on distributors and use shared traditions for the background
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against which their work make sense and for the raw materials with which they work« (Becker 2008: 14). Die kollektive, arbeitsteilige Aktivität zur Erzeugung eines Kunstwerks erfolgt mit Ressourcen und nach Konventionen. Die benötigten materiellen und personellen Ressourcen variieren außerordentlich; an den Extremen von Oper einerseits und Poesie andererseits lässt sich ihre Spannweite ablesen (Becker 2008: 69). Kunstwerke werden nicht voraussetzungslos geschaffen, sondern im Kontext von tradierten Verfahren, Gebräuchen, Verständnissen, kurz Konventionen, mit und nach denen das künstlerische Material organisiert wird (»standardized means of doing things« (ebd.: 56)), und die das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum regeln. Dies gilt auch dann, wenn gegen sie opponiert wird. Gehört doch das Durchbrechen von Konventionen zur raison d’être von Avantgarden. Wie Becker hervorhebt, müssen im »battle of recognition« starke Argumente aufgeboten werden, um »any substantially new practice« durchzusetzen (ebd.: 135). Eine wichtige Rolle spielen in diesem Anerkennungskampf Kunstexperten (»aestheticians«), deren Qualitätsurteile des Anerkennens, Ausgrenzens und Bewertens darüber entscheiden, ob etwas als Kunstwerk gilt oder nicht (ebd.: 136).
Kunst als Träger zugeschriebener Bedeutung: Arthur C. Dantos Kunstwelttheorie Der Begriff »Art world« ist keine originäre Prägung von Becker, sondern geht auf den amerikanischen Philosophen und Kunstkritiker Arthur C. Danto zurück (1964/1994), nahm aber bei Becker eine andere Bedeutung an. Danto hatte nach seinem »Erweckungserlebnis« beim Anblick von Warhols »Brillo Boxes« in einer New Yorker Galerie erklärt, dass die Entscheidung, ob und warum ein Objekt ein Kunstwerk ist, von einen »institutionalisierten Diskurs von Gründen« abhängig sei. Die Teilnehmer, die diesen Diskurs bestreiten, bilden die Kunstwelt. »Meine Kunstwelttheorie« schrieb Danto im Rückblick, »setzt einen losen Verbund von Personen voraus, die theoretisch und historisch ausreichend gebildet sind, um ›Kunstkritik durch Schlussfolgerung‹ (Michael Bauxandall) zu betreiben« (1996: 57; Klammer i.O.). Dieser Verbund macht ein Alltagsobjekt zur Kunst mit einer Theorie, die seiner bloßen Gegenständlichkeit eine Bedeutung hinzufügen. Mit einem »Über-etwas sein« (aboutness) wird es als »Bedeutungsträger« in der Kunstwelt aufgenommen. Am Beispiel des berühmten »Urinals« von Duchamp konstatiert Danto: »Die
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Interpretation ist praktisch der Hebel, mit dem man einen Gegenstand aus der wirklichen Welt in die Kunstwelt versetzt, wo er ein neues und häufig unerwartetes Gesicht erhält« (Danto 1993: 51f.). Man könnte darin eine Analogie zum »labelling approach«4 sehen, dessen Begründer Becker ist, der jedoch »Art world«, wie wir gesehen haben, anders, nämlich als arbeitsteiliges Produzentenkollektiv und nicht als ein Ensemble informierter Kunstkritiker definiert. Aus einem »kreativen Missverständnis« (Danto 1996: 53) von Dantos Aufsatz hat dann George Dickie (1974) die »Institutionelle Theorie der Kunst« begründet, der zufolge eine »Ermächtigungselite« (statt des Diskurses der Gründe) einem Objekt den Kunststatus zuweist.
Kunst als autonomes Teilsystem: Luhmanns funktionale Differenzierungstheorie Nicht als Kunstsoziologe, sondern als Gesellschaftstheoretiker wollte Niklas Luhmann verstanden werden (Luhmann 2008: 401). In seiner Theoriearchitektur der funktionalen Differenzierung nimmt die Kunst – ebenso wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung und Religion – den Status eines gesellschaftlichen Teilsystems ein, das für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion übernimmt (Krause 1996: 128). Folglich müsse nach ihm das Kunstsystem mit den gleichen Instrumentarien beschrieben werden, wie die erwähnten primären Teilsysteme (Luhmann 2008: 429). Für die europäische Kunstgeschichte erfolgte der Prozess der Autonomisierung der Kunst zu einem funktionalen Teilsystem in zwei Entwicklungsschüben: den ersten datiert Luhmann auf die italienische Renaissance im 14. Jahrhundert, den zweiten auf die Entstehung des Kunstmarktes Ende des 17. Jahrhunderts (Luhmann 2008: 320ff.). Durch sie löste sich die Kunstproduktion von ihren bis dato traditionalen kirchlichen und später höfischen »Anlehnungskontexten« (Luhmann 1995: 256). Zuvor hatte die Kunst den Männern der Kirche (Päpsten, Kardinälen, Bischöfen) und des Hofes (Königen, Fürsten, Edelleuten) als Medium klerikaler und feudaler Repräsentation nach innen wie nach außen gedient (Warnke 1996; Conti 1998). Malerei, Musik und Literatur wurden aus ihren sakralen und höfischen Kontexten in dem Maße freigesetzt, wie an die Stelle der kirchlichen und feudalen Auftraggeber der 4
Labelling approach ist ein in der Kriminalsoziologie entwickelter Ansatz, demzufolge devianten Personen das Etikett (label) »kriminell« zugewiesen werden.
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anonyme Markt und das städtische Bürgertum als kunstinteressiertes Publikum traten. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung der Kunst, »mindestens seit der Romantik« (Luhmann 2008: 298), wurde philosophisch registriert und reflektiert durch die Entstehung einer ihr eigens gewidmeten Disziplin, der Ästhetik, durch Alexander Gottlieb Baumgartens »Aesthetica« (1750) und Immanuel Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790). Man muss Luhmanns systemtheoretischer Architektur nicht in allen Details folgen, um seinem Design des Kunstsystems einige Erkenntnisse auch jenseits des hochabstrakten, teils tautologischen Luhmann-Sounds abzugewinnen. Dazu gehören: ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium mit einem binären Zentralcode, die Autopoeisis und Selbstreferentialität sowie eine gesonderte Funktion für die Gesellschaft. Ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist nach Parsons und Luhmann ein Vermittler von Austausch- bzw. Kommunikationsbeziehungen; paradigmatisch steht dafür das Geld im Wirtschaftssystem. Neben Geld nennt Parsons Macht und Einfluss. Luhmann erweitert den Katalog entsprechend der Mehrzahl der gesellschaftlichen Subsysteme. Das für das Kunstsystem symbolisch generalisierte Medium ist weniger eindeutig als das für andere Subsysteme. Als solches hat Luhmann schon früh (1974 in dem Vortrag »Ist Kunst codierbar?«) die Schönheit der Kunstwerke hervorgehoben: »Um kommunikabel zu sein, muss das Kunstwerk schön sein« (Luhmann 2008: 14ff.). Dass auch das Hässliche in Kunstobjekten dargestellt wird, macht den Begriff der Schönheit doppelsinnig: »als Gegensatz zum Hässlichen und als Gesamturteil über das Verhältnis von schön und hässlich […] auf der Ebene der Einheit des Kunstwerks« (Luhmann 1995: 309). Die Codierung mit schön/hässlich hat er später mit »stimmig/unstimmig« ergänzt (ebd.: 317). Der Literaturwissenschaftler Gerhard Plumpe versucht, das Ganze verständlicher zu machen, indem er als symbolisch generalisiertes Medium das »Werk« und als binären Code »interessant/uninteressant« vorschlägt (Plumpe 1993: 297). Dazu passt auch Luhmanns Aussage, dass es durch das Kunstwerk zur Kommunikation im Kunstsystem kommt: »Wenn man das Werk sieht, sieht man die Entscheidungen oder Beobachtungen, die es produziert haben. Und man versteht etwas von dem, was gewollt war. Auch das nenne ich Kommunikation« (zit.n. Müller/Nassehi 2017: 639). »Der Künstler handelt, der Betrachter erlebt«, heißt es erläuternd in einem Luhmann-Glossar (Baraldi u.a. 1997: 104). Dahingestellt sei, wie evident die Schlussfolgerung ist, wenn man sich einen durchschnittlichen Museumsbesucher mit seinen Gedanken vor einem ausgestellten Werk vorstellt – oder den Rezipienten eines musika-
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lischen oder literarischen Werks. Realitätsnäher klingt hingegen die Aussage: »Das Kunstsystem konzediert dem wahrnehmenden Bewusstsein sein je eigenes Abenteuer im Beobachten der Kunstwerke« (Luhmann 1995: 227). Autopoiesis und Selbstreferentialität sind zwei weitere Schlüsselbegriffe. Sie beschreiben die operative Geschlossenheit eines Systems, das sich durch eigene (vorgängige) Elemente oder Prozesse reproduziert. So produziert das Kunstsystem »die eigenen Produkte auf Grund der bereits vorliegenden Produkte, und sei es auf Grund einer ständig mitlaufenden Redescription der Vorgängerkunst« (Luhmann 2008: 436). Evident ist die Selbstreferenz der Kunst. Schon André Malraux hat darauf hingewiesen, dass nicht Naturformen, sondern Kunstformen den Künstler erwecken: »Künstler bilden sich […] aus der Auseinandersetzung mit fremder, gereifter Form, nicht aus ihrer noch ungeformten Welt, sondern aus dem Kampf gegen eine Form, die andere schon dem Leben auferlegt haben« (Malraux 1958: 64). Den Zugang zur Erklärung der Funktion des Kunstsystems bahnen Julian Müller und Armin Nassehi mit der Frage »Was ist das gesellschaftliche Problem, für das Kunst eine Lösung darstellt?« (Müller/Nassehi 2017: 643). Ihnen zufolge lautet Luhmanns Antwort darauf: »Beobachtung der Welt mit Hilfe von Kunstwerken« (ebd.: 644). Das Ergebnis ist die Doppelung von realer und fiktionaler Welt. Niels Werber, der Herausgeber von Luhmanns Schriften zu Kunst und Literatur, bestimmt die Funktion mit »Ordnung trotz Kontingenz« (Werber 2008: 448), wobei mit Kontingenz auf die reale, mit Ordnung auf die fiktionale Welt Bezug genommen wird. Dass unter den Interpreten bei der Funktionsbestimmung des Kunstsystems alles andere als Eindeutigkeit herrscht, zeigt schließlich Gerhard Plumpes Funktionshypothese: »Unterhaltung durch interessante Werke« (Plumpe 1993: 304).
Arnold Hausers Sozialgeschichte und Soziologie der Kunst Eine Sonderstellung in der Kunstsoziologie nimmt der gebürtige Ungar Arnold Hauser ein. Als Vertreter einer »geschichtsphilosophisch-dialektisch als auch historisch-empirisch verfahrenden Sozialgeschichte der Kunst und Kunstsoziologie« (Scharfschwerdt 1979: 200), bleibt er mit seinen Beschreibungen und Analysen einer unorthodoxen marxistischen Gesell-
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schaftstheorie5 in der Tradition von Georg Lukács6 verpflichtet. Von seinem dialektischen Denken zeugt die von ihm aufgestellte »Regel«, »dass sich von der Kunst kaum etwas behaupten lässt, wovon nicht auch das Gegenteil behauptet werden könnte« (Hauser 1983: 574).7 Kunst gilt ihm als »Paradigma dialektischer Gebilde«: »Sie bildet einerseits ein Gefüge, das im Sinne des l’art pour l’art pure Form ist«. Sie stellt »aber zugleich ein mit konkretem Inhalt erfülltes Engagement, eine auf das individuelle und gesellschaftliche Leben bezogene Lehre, Botschaft und Forderung dar« (ebd.: 444; Hervorh. i. O.). Letztlich zeichnet sich Hausers »schwer präzisierbare kunstsoziologische Konzeption« (Scharfschwerdst 1979: 265) durch einen eklektizistischen Charakter aus, bei dem historisches, marxistisches, soziologisches und empirisch-sozialgeschichtliches Denken zusammenfließen. Hauser ist ein versierter Kenner der verschiedenen Künste, auch der neueren, und befasst sich mit einem stupenden Wissen »mit sämtlichen Facetten des Kunstschaffens […], d.h. sowohl den Produktionsbedingungen von Kunst, der gesellschaftlichen Stellung der KünstlerInnen, den Mechanismen des Kunstmarktes als auch den Werken und ihrer formalen Beschaffenheit« (Scherke 2017: 236). Seiner zweibändigen »Sozialgeschichte der Kunst« (engl. Erstausgabe 1951) folgten die theoretisch angelegten Schriften »Philosophie der Kunstgeschichte« (1958),8 »Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst« (1964)9 und als letzte theoretische Zusammenfassung seiner Methode die »Soziologie der Kunst« (1974). Als »ein Mann von großer Belesenheit« (Gombrich 1988: 163) breitet er mit einer »schier unermesslichen Fülle von historischem Detailmaterial […] die gesamte geschichtlich-menschheitliche Entwicklung der Kunst bis zur Gegenwart aus« (Scharfschwerdt 1979: 209), die er in zwei Hauptentwicklungsphasen einteilt. Die erste reicht von den frühen Anfängen der steinzeitlichen 5 6
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Zu seinem Verständnis des historischen Materialismus s. Hauser (1983: XV, 200-232). In einem Rundfunkgespräch von 1969 bezeichnete er sich gegenüber Lukács als »Ihr bescheidener Freund und Schüler und werde kaum je vergessen, was ich Ihnen verdanke« (Hauser 1978: 15). Ähnliches behauptet Karl Markus Michel von Adornos »Ästhetischer Theorie«, deren Kategorien janusköpfig »sich bald in guter, bald in böser Gestalt zeigen« (Michel 1980: 64). Ein Nachdruck erschien 1970 mit dem adäquateren Titel »Methoden moderner Kunstbetrachtung«. Die Neuausgabe von 1973 trägt den Titel »Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur«.
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Höhlenmalerei bis zum späten Mittelalter. In dieser Epoche, einschließlich der griechisch-klassischen Antike, sieht er die Kunst in allen Gesellschaften »in den mehr oder weniger einheitlich strukturierten kultisch-religiösen oder religiös-geistigen Kosmos der jeweiligen Gesellschaften eingelassen« (ebd.: 210). Der Beginn der bürgerlichen Gesellschaft markiert den Anfang einer neuen Epoche, die den »Verlust der Welt als Einheit und Ganzes« bedeutet. Damit erinnert er an Georg Lukács’ »Theorie des Romans«, in dem dieser gleichfalls am Anfang der Zivilisation eine »homogene Welt« heraufbeschwor, die von einer Welt der »transzendentalen Obdachlosigkeit« abgelöst wurde, der bürgerlichen Welt des Romans, für die »die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist« (Lukács 1920/1963: 35, 53). In der entzauberten und entfremdeten Welt gewinnt die Kunst eine »Legitimierung soziokultureller Sinnproduktion«, sie wird »die alleinige, noch ganzheitlich sinnstiftende Tätigkeit des Lebens« in »einer von Gott und den Göttern verlassenen Welt« (Scharfschwerdt 1979: 212). Das Erlebnis von Entfremdung, Entpersönlichung und Entseelung in der Welt des bürgerlichen Kapitalismus wird dem Künstler zum »Rohmaterial, nicht Formelement«. Sein Werk bringt den Protest dagegen zum Ausdruck, dient als »Mittel der Flucht aus dieser Welt« (Hauser 1979: 110). Die zur gleichen Zeit in großer Zahl entstehenden Werke, die »unmittelbare Manifestationen der Entfremdung« (ebd.) darstellen, schließt Hauser nicht aus. Eine zentrale Kategorie seiner Kunstsoziologie ist der Stil, dessen Wandel Hauser als »fundamentales kunstgeschichtliches Ereignis« (Hauser 1983: 436) bezeichnet. Ihm zufolge prägen die gesellschaftlichen Verhältnisse den in den jeweiligen Epochen vorherrschenden Stil, determinieren ihn aber nicht. Historische Gebilde »wie Tradition, Konvention, technisches Entwicklungsniveau, zulässige künstlerische Effekte, geltende Geschmacksregeln, aktuelle Themen usw. [setzen] objektive, rationale, überpersönliche Ziele und Grenzen und erzeugen in Verbindung mit den jeweiligen psychischen Mechanismen das, was man unter einem ›Stil‹ versteht« (Hauser 1970: 232). Der Stil kann nicht direkter Ausdruck der Gesellschaft sein, er kann »immer nur der Ausdruck einer Schicht, einer Gruppe einer Interessengemeinschaft sein und wird so viele gleichzeitige Stiltendenzen aufweisen, als die betreffende Gesellschaft kulturtragende Schichten aufweist« (ebd.: 297). Einen umfangreichen Teil seiner »Soziologie der Kunst« widmet Hauser dem Thema »Differenzierung der Kunst nach Bildungsschichten« (Hau-
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ser 1974: Fünfter Teil), das die Bourdieuschen Ausführungen zur Hierarchie der Kunst konsumierenden Klassen gewissermaßen präludiert. Wie Bourdieu kommt auch Hauser zu einer – keineswegs identischen – Dreiteilung der ästhetischen Gesamtkultur: 1. die hohe, strenge, zugeständnislose Kunst, deren Trägerin die Bildungselite ist, 2. die Volkskunst und 3. die volkstümliche, zur bloßen Entspannung dienende Kunst. Die Volkskunst geht aus dem »dichterischen, musikalischen und bildnerischen Schaffen naiver, hauptsächlich bäuerlicher, nicht-städtisch industrieller Arbeiter« hervor, die »an den ihnen entsprechenden künstlerischen Leistungen nicht nur als rezeptive, sondern immer auch als produktive Subjekte teilhaben« (ebd.: 584). Dagegen ist die volkstümliche Kunst auf die »Bedürfnisse eines halbgebildeten, oft verbildeten, vornehmlich städtischen, zur Vermassung neigenden Publikums« (ebd.) abgestellt. Für ihn zählt indessen, »dass es nur eine Kunst gibt«, die »hohe Kunst«, »deren Kriterien unabdingbar sind und deren Verwässerung zur Unkunst führt« (Hauser 1983: 588; Hervorh. i. O.). Gleichwohl zeigt er sich, darin weniger elitär als Adorno, aufgeschlossen für die tatsächliche Kunstentwicklung mit einer Erweiterung des Kunstbegriffs, die »beispielsweise die ›Pop-Musik‹ (Beatles), die ›Pop-Malerei‹ (Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Robert Rauschenberg) und Happening« (Lebus 1990) einschließt. Über den Film als »epochemachende neue […] wesentlich originäre künstlerische Form« (Hauser 1983: 672), formuliert er kluge Einsichten in dessen spezifische Wesensmerkmale,10 die Adornos Verdikt, mit dem er ihn umstandslos der Kulturindustrie zuschlug, als unbesonnen und unkundig erscheinen lässt. Für Hauser stellt der Film eine zwiegespaltene Kunstform dar, die sich einerseits »Schritt für Schritt zur Kunst der Massen« entwickelte, andererseits zu einer »künstlerisch ambitionierten […] Ausdrucksweise der Gebildeten und künstlerisch Erfahrenen« (Hauser 1970: 398). Die Rezeption des Hauserschen Werks stieß auf gespaltene Aufnahme. Seine schärfsten Kritiker, namentlich Alphons Silbermann (1976: 3f.) und Ernst Gombrich (1988: 154-167), lehnten – als der Popperschen Wissenschaftslehre verpflichtete Autoren – Hausers dialektische Methode ab und machten sie für Widersprüche und Ungereimtheiten in seiner Sozialgeschichte der Kunst verantwortlich. Theoretiker der Frankfurter Schule 10
Dem Film widmet er das abschließende Kapitel seiner »Sozialgeschichte« (1990: 9931030) und lange Abschnitte in seinen methodisch angelegten Werken (Hauser 1970: 395-404; Hauser 1983: 661-675).
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würdigten hingegen seine »Gesamtdarstellung großen Stils«, die »die Fülle des künstlerischen Details durch eine konsistente und durchgearbeitete Vorstellung vom gesellschaftlichen Prozess« erhelle (Institut für Sozialforschung 1956: 94).
Zu den Beiträgen Die Theorieansätze Bourdieus, Beckers und Luhmanns können als exemplarisch dominante Ansätze im derzeitigen Kanon der kunstsoziologischen Theorien gelten. So aufschlussreich sie auch sind – sie bleiben die Frage nach dem Gehalt von Kunstwerken und ihren Funktionen in der und für die Gesellschaft schuldig (Luhmanns Funktionsbestimmung bleibt in ihrer Abstraktheit unbefriedigend). Für Adorno wie auch für Hauser bestimmt die Frage nach dem spezifischen Gehalt die Kernthematik der Kunstsoziologie. Sie ist auch zentraler Gegenstand des ersten Teils dieses Sammelbandes. Nicht nur in dem umfangreichen Versuch, Adornos Kunstsoziologie zu verstehen, sondern auch im Vergleich seines Kunstverständnisses mit dem von Max Weber, der am Rationalitätsbegriff durchgeführt wird, und in seiner ambivalenten Heine-Rezeption geht es letztlich um inhaltliche Fragen der künstlerischen Produktion in der Moderne. Gleichsam als Satyrspiel zu verstehen ist das diesen Teil abschließende Impromptu über Adornos Rancune im Umgang mit seinen (befreundeten) Kollegen. Im zweiten Teil steht der Aufsatz über Herbert Marcuses und Ernst Fischers Kunsttheorie ebenfalls unter der Frage nach deren inhaltlichem Verständnis von Kunstwerken, während die Beiträge über Bourdieu zwei seiner analytischen Termini (Kapital und verkehrte Ökonomie) zur Entschlüsselung der Prozesse und Strategien im künstlerischen Feld aufgreifen. Diese dienen der Beschreibung und Analyse des George-Kreises als dem Beispiel für eine der wirkungsvollsten und einflussreichsten Gruppenbildungen von Schriftstellern unter einer charismatischen Führung. Im dritten Teil führt das Thema der Gruppenbildung unter Künstlern die nachfolgende kürzere Arbeit (Tour des Artistes) in launiger Manier fort. Das Stück über den Künstler als Kippfigur rückt mit kritischem Blick die Charakteristika der künstlerischen Profession in den Fokus und wertet den Versuch, diese auf gegenwärtige Arbeitsstrukturen zu übertragen, als fragwürdige Analogie. Der abschließende Essay arbeitet die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstkritik als literarische Gattung heraus. Singulär im Vergleich zu anderen Fel-
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dern der Bourdieuschen Architektur ist sie nicht nur Referenz- und Reflexionsmedium des künstlerischen Feldes, sondern zugleich eine seiner konstitutiven Komponenten; für andere Felder erfüllen diese Funktion die jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen. Nicht zu leugnen ist, dass das innere Band der zu unterschiedlichen Anlässen und Gelegenheiten entstandenen Beiträge diese nur lose zusammenhält. Ihr Gemeinsames ergibt sich aus dem facettenreichen Profil der Soziologie der Künste, sie verstehen sich daher als Exkurse über einige zentrale Themen und Begriffe der Kunst- und Literatursoziologie. Einen systematischen Aufriss des Kunstsystem hat der Verfasser mit einer früheren Publikation, »Die Kunst in der Gesellschaft« (2. Auflage, Wiesbaden 2012), vorgelegt.
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Erster Teil Spotlight auf Adorno und sein Œuvre
2. Negativität und Versöhnung. Versuch, Adornos Kunstsoziologie zu verstehen »Die Vernunft trägt immer Trauer« Ramón Gómez de la Serna
Vorbemerkung. Wer immer über ein Thema oder einen Aspekt aus dem Œuvre Adornos zu schreiben sich entschließt, sieht sich mit einer Aporie konfrontiert: Inhalt und Form der Darstellung sind bei Adorno in einer Weise durcheinander vermittelt, die sich den Usancen diskursiver Abhandlung verweigern. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen einem Paraphrasieren in verba magistri und einer dem Adornoschen Denken aversen Darstellungsweise zu entscheiden, ist die Option für letztere nur mit einer prekären Übersetzung durchzuführen: Aus parataktisch formulierten und konfigurativ komponierten, »musikalisch durchgehörten«1 Texten sind die kunstsoziologischen Aussagen in ein diskursiv-systematisches Elaborat zu überführen. Da Adornos Kunstsoziologie eng mit seinen philosophischen Überlegungen zur Ästhetik verquickt ist, bleibt es zudem eine riskante Operation, sie aus seiner philosophischen Ästhetik herauszupräparieren, was mit den gebotenen Skrupeln im Folgenden gleichwohl unternommen wird.
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Vgl. dazu Wellmer (1985: 137) und genereller Mittelmeier (2013), der Adornos Eigenarten in Stil und Darstellung ein ganzes Buch widmete.
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Adornos Ästhetik Für kaum einen Philosophen hat die Kunst einen so zentralen Stellenwert wie für Adorno; sein erstes Buch – Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (GS 2)2 – wie sein letztes – Ästhetische Theorie (GS 7) – sind der ästhetischen Philosophie gewidmet. Die Musik verstand er als exemplarisch für die Kunst überhaupt (Wiggershaus 1987b: 101); allen Kunstwerken schrieb er »Musikähnlichkeit« (GS 7: 124) zu. Schon rein quantitativ beziehen sich seine kunstphilosophischen Arbeiten überwiegend auf die Musik, freilich mit dem Anspruch, dass deren Aussagen pars pro toto gelten. In Adornos Ästhetik verquicken sich unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Rüdiger Bubner spricht von einer »Aufhebung von Theorie in Ästhetik« (Bubner 1980: 110). Andreas Pradler sieht in ihr eine komplexe »Symbiose ästhetischer, gesellschafts- und erkenntniskritischer Momente« (Pradler 2003: 11). In Hegelscher Tradition begreift Adorno »Kunst als eine Gestalt von Erkenntnis« (GS 11: 264). Während Hegel jedoch die Kunst dem begrifflichen Denken unterordnet, weist Adorno ihr eine »den Begriff übersteigende Erkenntnisweise« (ebd.) zu, die Erkenntnis einer »den selbstgewissen philosophischen Begriffen entgangenen Wirklichkeit« (Bubner 1980: 112), die den Verblendungszusammenhang aufreißt. Mit den Worten Schellings, welche die Dialektik der Aufklärung zustimmend zitiert: »wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen« (GS 3: 36). Freilich erkenne Kunst nicht dadurch die Wirklichkeit, »dass sie sie, photographisch oder ›perspektivisch‹, abbildet, sondern dadurch, dass sie vermöge ihrer autonomen Konstitution ausspricht, was von der empirischen Wissenschaft verschleiert wird« (GS 11: 264). Sie ist der Versuch, auf die Erfahrung des unverfügbaren »Individuellen und Nichtidentischen3 […] aufmerksam zu machen« (Figal 1992: 336). Als eine »Ästhetik der Negativität« etikettiert Hans Robert Jauß die Ästhetische Theorie, die die (moderne) Kunst als bestimmte Negation sowohl ihres historischen Ursprungs als auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit begreift (Jauß 1991: 45f.). Mit der historisch errungenen Autonomie betrachte Adorno
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Für die Gesammelten Schriften (GS) werden Siglen verwendet; s. dazu Siglenverzeichnis im Anhang. »Adornos ›Nichtidentisches‹ ist eine logische Metapher, deren Faszination auf lauter nichtanalysierten Assoziationen beruht« (Schnädelbach 1983: 70). In einem weiten Sinn meint es »das Seiende«, in einem engeren »das von den Begriffen Unterdrückte, Missachtete, Weggeworfene« (GS 6: 21). Zu Letzterem vgl. Wesche (2011: 319f.).
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die Kunst als von ihren kultischen und religiösen Ursprüngen und herrschaftlichen Dienstleistungen befreite (bestimmte Negation ihres Ursprungs); und mit ihrem radikalen Anderssein bekunde sie ihren Gegensatz zur empirischen Welt (bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft).4 Gleichwohl beharrt Adorno darauf, dass die vom Formgesetz autonomer Kunstwerke geforderte »ästhetische Synthesis des Zerstreuten« einen »Schein der Versöhnung« erzeugt (Wellmer 1983: 145), anders gesagt: die »Suggestion von Sinn inmitten des Sinnlosen« (GS 7: 231). Im Schatten von Auschwitz müsse Kunst zugleich das Bewusstsein der absoluten Negativität wie der Versöhnung als utopische Hoffnung aufrechterhalten; in paradoxer Zuspitzung: »Durch unversöhnliche Absage an den Schein der Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten« (GS 7: 55).
Textgrundlage und Darstellungsform Adornos Ästhetische Theorie ist nicht die einzige, wenngleich die wichtigste Quelle für diese Abhandlung. Weitere einschlägige Arbeiten zur Kunstsoziologie sind zudem: Noten zur Literatur (GS 11), Thesen zur Kunstsoziologie (GS 10.1), Einleitung in die Musiksoziologie (GS 14), Ideen zur Musiksoziologie (GS 16) sowie die Vorlesungen zur Ästhetik (1958/59) (Adorno 2009). Die posthum erschienene Ästhetik ist ein unabgeschlossenes Werk. Ihr mangelt ein letzter Arbeitsgang, der laut »Editorischem Nachwort« (GS 7: 537) vorwiegend in die Organisation des Textes eingegriffen, die verworfene frühe Einleitung ersetzt sowie zahlreiche Umstellungen und Kürzungen herbeigeführt hätte. Gleichwohl stellt der Torso eine Summa der ästhetischen Überlegungen und Einsichten Adornos dar. Günter Figal sieht in ihr sein Hauptwerk und philosophisches Vermächtnis.5 Konsequenter als in seinen anderen Schriften setze Adorno hier »seine Leitbegriffe als eine Vielzahl von Zentren ein, um die sich seine Reflexionen bilden«, und die in der Konstellation zueinander ein Ganzes ergäben (Figal 1992: 136). Weniger aus seinem fragmentarischen Charakter als aus der idiosynkratischen Darstellungsform resultieren die nicht unerheblichen Schwierigkeiten der Rezeption des Werkes. Das liegt am wenigsten an Adornos Abneigung gegen Definitionen; »Definitionen sind rationale Tabus« (GS 7: 24), heißt es 4 5
Zu einer anderen Lesart der »ästhetischen Negativität« Adornos s. Menke (1991: 19ff.). Ähnlich schon Rüdiger Bubner (1980: 109) und Gerhard Kaiser (1974: 109).
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schon früh in der Ästhetik. Eher ist es die »rhizomartige Struktur« (Sonderegger 2011: 417) des Textes, der formal weder durch Kapitel noch Paragraphen, sondern allein durch Spatien gegliedert ist. Inhaltlich gibt es keinen Grundbegriff, keine Reihenfolge oder Hierarchie der Probleme. Das von Gunzelin Schmid Noerr als »grandioser Irrgarten« (1990: 141) apostrophierte Werk verdankt seinen Darstellungsmodus dem Freunde Walter Benjamin. Er hatte Adorno schon früh auf das enge Verhältnis von Inhalt und Gestaltung hingewiesen, und von ihm übernahm Adorno die parataktische und konfigurative Anordnung des Textes (Mittelmeier 2013). Eine stufenweise Argumentation vom Allgemeinen zum Besonderen oder umgekehrt und die »unabdingbare Folge des Erst-Nachher« (GS 7: 541) schien Adorno als der Sache inadäquat. Das Buch müsse »gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken« (GS 7: 541). Albrecht Wellmer empfiehlt eine »›stereoskopische‹ Lektüre« (1983: 173). In den Minima Moralia postuliert Adorno: »In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen« (GS 4: 78). Dem Verständnis des Buches stehen nicht zuletzt Adornos dialektische Denkbewegungen entgegen, die fast alle Kategorien janusköpfig erscheinen lassen, »genauer: sich bald in guter, bald in böser Gestalt zeigen« (Michel 1980: 64). Und nicht allein der Dialektik ist es zuzuschreiben, wenn Adorno sich nicht selten selbst widerspricht.
Adornos Kanon Den Objektbereich Kunst steckt Adorno mit den Gattungen Musik, Literatur, Malerei ab, und zwar in dieser Reihenfolge. Film und Kino schlägt er – mit ganz wenigen Ausnahmen (Seel 2004: 77f.) – der Trivialkultur zu. Zudem lässt er nur die großen und authentischen Werke gelten,6 so dass seine analytischen Explikationen um eine begrenzte Zahl von Autoren und Werken höchster Dignität kreisen. Hierin gründet der Vorwurf eines elitären Kunstverständnisses. Für die Musik ist die Palette noch relativ breit. Primordialen Status hat die Schönberg-Schule (neben dem Meister: Berg, Webern, Krenek), selbstver6
»In einer Situation, in der keine Stilsprache mehr das Mittlere erhöht, […] haben wohl überhaupt nur Werke des obersten Formniveaus noch Anspruch auf Dasein« (GS 10.1: 299).
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ständlich sind auch Bach, Mozart, Brahms und – immer wieder – Beethoven, daneben Schubert, Schumann, Wagner und Mahler sowie Boulez und Stockhausen bevorzugte Sujets für seine musiktheoretischen Analysen und musikalischen Werkinterpretationen. Höchstes Lob erweist er dem Komponisten Kurt Weill für seine Oper »Mahagonny«7 und die – von ihm als »Parergon« klassifizierte – »Dreigroschenoper«, während er die späteren Werke des »Broadwaykomponisten« ablehnt (Rosteck 2022: 184). Zu seinem Kanon der literarischen Moderne gehören neben dem von ihm überaus geschätzten Quartett: Proust, Kafka, Joyce und Beckett nur wenig andere, etwa Thomas Mann, die Franzosen Flaubert und Baudelaire, die Dramatiker Wedekind, Ibsen und Strindberg, die Ästhetizisten Stefan George und Rudolf Borchardt sowie die Lyriker Trakl und Celan. Brecht nähert er sich nur mit spitzen Fingern;8 schließlich hat Adorno die engagierte Kunst aus dem Bereich seiner Ästhetik ausgeschlossen (Bürger 1983: 129). Den Klassikern Goethe, Eichendorff und Hölderlin zollt er mit luziden Werkanalysen Tribut. In der Malerei, für die Adorno sich nur begrenzt zuständig fühlt (GS 11: 677), ist es Picasso, den er, nicht selten im gleichen Atemzug mit Schönberg, trotz seiner neoklassizistischen Phase, zum Inbegriff des modernen Künstlers modelliert (GS 20.2: 524). Positive Erwähnung finden neben ihm die Maler des Impressionismus, die Bauhaus-Künstler Klee und Kandinsky, die Surrealisten Max Ernst und André Masson, der Konstruktivist Mondrian, ferner Vertreter der neueren gegenstandslosen Kunst (wie Nay, Winter, Schumacher, Schultze). Die gegenständlich malenden Zeitgenossen werden ignoriert. Der Name Beckmann taucht allein für einen chaplinesken Clown aus dem Friedrichstädter Theater auf.
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In einer Frankfurter Opernkritik von 1930 schreibt er: »[…] außer den konträr entgegengesetzten Opern der Schönberg-Schule wüsste ich kein Werk, das dem Begriff der Avantgarde strenger und besser angemessen wäre als gerade Mahagonny« (GS 19: 193). Allein in Verbindung mit Kurt Weill, als Librettist der Oper »Mahagonny«, billigt er ihm Avantgarde-Status zu (GS 19: 193).
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Das Kunstwerk als Monade Einen sinnvollen Einstieg in die kunstsoziologische Debatte finden wir über das Verständnis vom Kunstwerk. Adorno hat einen emphatischen Begriff vom Kunstwerk, dem er einen geschlossenen Werkcharakter zuschreibt. Alles was mit dem Kunstwerk geschieht, unterliegt seinem Formgesetz: »Jedes Kunstwerk heute müsste vollends durchgebildet sein, keinen toten Fleck, keine heteronom empfangene Form enthalten« (GS 10.1: 299). In seine ästhetische Einheit zieht Adorno neben der Produktion auch noch die Rezeption des Kunstwerks hinein (Bürger 1983: 71f.). Im scheinbaren Widerspruch steht dazu, dass Adorno »mit großer Einfühlsamkeit die Prozesse moderner Werkauflösung beschrieben hat« (Bubner 1980: 127). Gehört doch die Zerstörung des »organischen Werkbegriffs der idealistischen Ästhetik« (Bürger 1983: 130), der Verzicht auf die Einheit und Durchgestaltung des Werks zu den Grundzügen der Avantgarde.9 Das Kunstwerk ist für Adorno ein Artefakt, eine menschliche Hervorbringung, in der Tradition der Leibnizschen »Monadologie« (1714/1998) eine für sich seiende und in sich abgeschlossene Entität: Es ist »Kraftzentrum und Ding in eins. Kunstwerke sind gegeneinander verschlossen, blind, und stellen doch in ihrer Verschlossenheit vor, was draußen ist. […] Als Moment eines übergreifenden Zusammenhangs des Geistes einer Epoche, verflochten mit Geschichte und Gesellschaft, reichen die Kunstwerke über ihr Monadisches hinaus, ohne dass sie Fenster hätten. Die Interpretation des Kunstwerks als eines in sich stillgestellten, kristallisierten, immanenten Prozesses nähert sich dem Begriff der Monade« (GS 7: 268). Das Kraftzentrum verweist auf die Synthesis des Mannigfaltigen durch rationale Konstruktion, das Ding auf die Gegenständlichkeit der Kunstwerke und als Ergebnis der Bewegung der Rationalität (Figal 1977: 66). Eine vergleichbare Definition liefert der Philosoph und Leibniz-Experte Hans Heinz Holz: »Jedes Kunstwerk ist eine Monade«, »ein Spiegel der ganzen Welt«. Das macht das Kunstwerk nicht nur zu einem metaphysischen Gegenstand, sondern zum »einzigen sinnlichen metaphysischen Gegenstand« (Holz 1996: 89). Der Begriff der Monade nimmt innerhalb der Adornoschen Ästhetik eine zentrale konzeptionelle Stellung ein. Sie steht im Spannungsfeld von Singula9
Eine Auflösung des Widerspruchs bietet Wolfgang Welsch (1993) mit seiner Interpretation von Adornos »impliziter Ästhetik des Erhabenen« an (s. dazu weiter unten).
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rität und Allgemeinheit: sie »entspricht als verschlossene Einheit der Inkommensurabilität gegenüber begrifflicher Identifikation« und »repräsentiert in ihrer Verschlossenheit die Welt, d. h, sie muss als immanente Totalität vorgestellt werden, die trotzdem nur in absoluter Individuation zu denken ist« (Pradler 2003: 12). Unter allen Objekten der Welt ist das Kunstwerk als rationale Konstruktion einzigartig. Nicht ein identifizierender Begriff, sondern der individuelle Name, der singuläre Titel oder eine analoge Bezeichnung hebt jedes Kunstwerk aus seiner Werkgruppe hervor, macht es zu einem unverwechselbar Da-Seienden. Eine Klaviersonate Franz Schuberts tritt mit der Bezeichnung Klaviersonate a-moll, D. 845, ein Prosatext Franz Kafkas mit dem Titel In der Strafkolonie, ein Bild Wassily Kandinskys mit dem Namen Composition IV, 1911 als exklusive Entität in die Welt der Kunstwerke, ohne sich dem ubiquitären Identitätszwang zu unterwerfen. »Je mehr Kunst als Objekt des Subjekts durchgebildet und dessen bloßen Intentionen entäußert wird, desto artikulierter spricht sie nach dem Modell einer nicht begrifflichen, nicht dingfest signifikativen Sprache« (GS 7: 105). Nach Günter Figal lautet die Kernthese in Adornos Ästhetischer Theorie: Kunst ist eine Form der naturbeherrschenden Vernunft. Kunstwerke kommen nur dadurch zustande, dass in ihnen individuelles »Material, die Klänge, die Farben, das Holz, das Metall, die Worte also, zu einer Einheit zusammengestellt werden« (Figal 1992: 332). Sie sind, mit anderen Worten, die »von einem souveränen Subjekt dem Material aufgeprägte Form« (Adorno 2009: 108), das Ergebnis einer rationalen Konstruktion, die »kein ungeformtes Fleckchen übrig lässt« (GS 7: 263; s. auch GS 10.1: 299). Im Kunstwerk ist »Rationalität das einheitsstiftende, organisierende Moment, nicht ohne Relation zu der draußen waltenden« (GS 7: 87). Adorno übernimmt expressiv verbis den Max Weberschen Gesellschaftsbegriff der fortschreitenden Rationalität, die unmittelbar gleichzusetzen sei mit der gesellschaftlichen Beherrschung außer- und innermenschlicher Natur (GS 14: 130). Ebenso sieht er Gemeinsamkeiten zwischen den Objektbereichen Gesellschaft und Kunst. In der bewussten Verfügung über ihre Mittel »konvergieren materielle Produktion und künstlerische« (GS 7: 58). Der innerästhetische Fortschritt ist mit dem »Fortschritt der außerästhetischen Produktivkräfte verschwistert« (GS 7: 56). In der Dialektik der Aufklärung hat er mit Horkheimer die Rationalität im gesellschaftlichen Kontext als instrumentelle Vernunft kritisiert, im künstlerischen Prozess schreibt er ihr, freilich
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als »Rationalität in Gestalt ihrer Andersheit« (Adorno 2009: 22)10 , positive Effekte zu. Eine Rekonstruktion der Differenzen zwischen beiden Sphären ergibt: (1) Die Rationalität im gesellschaftlichen Bereich folgt der Logik der ZweckMittel-Rationalität, wobei es immer um Verfügung über und Beherrschbarkeit von Natur geht; die künstlerische Rationalität ist hingegen eine mit der Natur versöhnte, »ungeschmälerte und darum nicht länger gewalttätige Rationalität« (GS 7: 381), die auf ein autonomes, zweckfreies Produkt zielt, das die gesellschaftliche Rationalität kritisiert: »Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne sich ihr zu entziehen« (GS 7: 87). (2) In der »subjektlos organisierten Gesellschaft« wird der Fortschritt der Rationalität behindert durch die Fesselung der Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse, während das »vom Subjekt organisierte Kunstwerk« die ästhetische Produktivkraft rational zu entfesseln vermag (GS 7: 56).11 Der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte spiegelt sich in den technischen Prozessen in der Kunst. So erscheint die fortschreitende Rationalisierung in der Musik »als sublimierte Manifestation der der Arbeitsprozesse, die seit der Manufakturperiode wachsend stets sich durchgesetzt hat. Die Werke der einzelnen Komponisten, wie streng sie auch um technische Lösungen sich bemühen, atmen den Geist der Gesellschaft ihrer Epoche« (GS 20.1: 313) oder, anders gesagt: »Die Konfiguration der Elemente des Kunstwerks zu dessen Ganzen gehorcht immanent Gesetzen, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind« (GS 7: 350). Neben den beiden genannten Differenzen unterscheidet die Radikalisierung der künstlerischen Rationalität sie von nichtkünstlerischer (entfremdeter) Rationalität. Sie realisiert »radikal neue Gestaltungsmöglichkeiten« (Figal 1998: 29). Bei einem radikal durchorganisierten Kunstwerk »verliert die organisierende Rationalität gleichsam die Kontrolle über das Resultat; das ganz und gar Neue […] ist inkommensurabel« (ebd.: 30). Darin begründet ist der von Adorno so häufig beschworene, dem rationalen Wirken des Geistes zuzuschreibende »Rätselcharakter« aller Kunstwerke, die diesen Namen verdienen (GS 7: 182ff., 192). Am Ende anwachsender Durchgestaltung steht das Aleatorische: »das ästhetische Subjekt dispensiert
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Im Hinblick auf Schönbergs Kompositionstechnik spricht er auch von »guter Rationalität« (GS 18: 382). Adorno übernimmt das Marxsche Begriffspaar Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, verwendet es aber in einer inkonsistenten Weise, mal metaphorisch, mal in enger Anlehnung an den Marxschen Gebrauch (Bürger 1980: 172f.).
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sich von der Last der Formung des im gegenüber Zufälligen, die es länger zu tragen verzweifelt« (GS 7: 329). Konstrukteur der ästhetischen Monade ist der Künstler, ihre Bauelemente sind das vielfältige (mimetische) Material. Gelingen kann die Konstruktion nur, wenn sie sich den zugrundeliegenden sinnlichen Impulsen (des Subjekts wie des Materials) mimetisch anschmiegt. »Konstruktion will rationale Ordnung im Material herstellen, aber mit dem geheimen Einverständnis darüber, dass die Bedingungen solcher Möglichkeit, wenn nicht die Prinzipien der Konstruktion selber, im Material präformiert seien« (GS 16: 641). In den Werken »exemplarischer Künstler der Epoche wie Schönberg, Klee, Picasso«, findet er »das expressiv mimetische Moment und das konstruktive […] in gleicher Intensität«, wobei beide zugleich Ausdruck (die Negativität des Leidens) und Konstruktion (der Versuch, dem Leiden an der Entfremdung standzuhalten) sind (GS 7: 381). Immer wieder betont Adorno das Ineinander von mimetischen und konstruktiven Impulsen, deren harmonisches Zusammenspiel Kunstwerke erst gelingen lassen. Ja, Adorno zögert nicht, das spezifische Zusammenwirken von Rationalität und Mimesis12 im synthetisierenden Prozess des Kunstwerks als ein »Modell möglicher Praxis, in der etwas wie ein Gesamtsubjekt sich konstituiert« (GS 7: 359), zu bezeichnen.
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Erstmalige Erwähnung findet das Konzept der Mimesis in der Dialektik der Aufklärung (GS 3: 27, 34ff.), das in der Ästhetischen Theorie zum konstitutiven Moment der Kunst erhoben wird. In Anlehnung an Roger Caillois ist sie als eine »anthropologische Kategorie adaptiven Verhaltens« (Schmid Noerr: 148) zu verstehen. Horkheimer und Adorno bedeutet sie das »Eingedenken der Natur im Subjekt« (GS 3: 58). Adorno versteht »Mimesis […] in der Kunst [als] das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt. In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden«, das »seinem Telos« nur dort genügt, wo es sich den »mimetischen Impulsen« des Materials anschmiegt (GS 7: 180). Mimesis ist nach Wellmer »der Name für die sinnlich rezeptiven, expressiven und kommunikativ sich anschmiegenden Verhaltensweisen des Lebendigen. […] Kunst ist vergeistigte, d.h. durch Rationalität verwandelte und objektivierte Mimesis. Kunst und Philosophie bezeichnen somit die beiden Sphären des Geistes, in denen dieser durch die Verschränkung des rationalen mit einem mimetischen Moment die Kruste der Verdinglichung durchbricht« (Wellmer 1983: 141). »Mimetisch nennen Benjamin und Adorno«, Habermas zufolge, »die sehnsüchtigen Klagen einer unterdrückten und verstümmelten Natur, die ihrer eigenen Stimme beraubt ist, sich aber in der Sprache der avantgardistischen Kunst zu Wort meldet« (Habermas 1998: 210).
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Der Materialbegriff Mit der Bestimmung des Kunstwerks als Monade schloss Adorno bewusst an die rationalistische Metaphysik an. Hatte er noch in anderen Zusammenhängen, etwa in den Minima Moralia, den Monadenbegriff eher negativ mit gesellschaftlicher Vereinzelung und Partikularinteressen konnotiert (GS 4: 167f.), findet er in der Ästhetischen Theorie eine positive Aufwertung. Demnach repräsentiert das Kunstwerk als Monade, in sich abgeschlossen und ohne dass es von außen in seiner Einheit determiniert werde, die ganze außerästhetische Wirklichkeit, die in Adornos Verständnis vornehmlich die Gesellschaft ist. Den Schlüssel für das Rätsel, wie die Gesellschaft in die Monade kommt, liefert uns Adornos Materialbegriff. Er ist »der Ort, wo Kunstwerk und Gesellschaft zusammentreffen« (Bürger 1980: 175), die »Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft« (Karger 1998: 97). Das Material ist das, »womit die Künstler schalten« (GS 7: 222), also Worte, Farben, Klänge, »bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art« (ebd.), wie Farb- und Tonrelationen; selbst die Dissonanzen, ursprünglich »Medien des subjektiven Ausdrucks«, verwandeln sich in Material (GS 12: 85). In Bürgers Worten repräsentiert das Material den »historisch erreichten Stand künstlerischer Techniken« (1980: 170). Zusammengefasst: im künstlerischen Material und dem Stand seiner technischen Bearbeitung sind geschichtliche Erfahrungen sedimentiert und durch sie fließt »Gesellschaftliches in die Werke ein« (Kager 1998: 98). Adorno schreibt dem Material selbst Intentionen zu, weshalb sich die Künstler seiner auch nicht beliebig bemächtigen könnten. »Einzig wer das geschichtlich Fällige und das unwiederbringlich Veraltete im Material selbst zu unterscheiden vermag, wird materialgerecht produzieren.« (GS 10.1: 299) »Nicht anders als im Vollzug technischer Gesetzmäßigkeiten ist darüber zu urteilen, ob ein Kunstwerk sinnvoll sei oder nicht« (ebd.: 300). Adornos Subjekt-Objekt-Dialektik des Materials resümiert Reinhart Kager wie folgt: »›Objektiv‹ ist das Material nicht nur als Objektivation künstlerischer, geistiger Arbeit, sondern auch als Produkt der jeweils herrschenden gesellschaftlich-geschichtlichen Umstände. Vermittelt wiederum durch das in der Gesellschaft seiner Zeit verankerte Bewusstsein des künstlerischen Subjekts wird nämlich Geschichte abgelagert im Material, das solcherart – ohne dass dies vom Künstler bewusst intendiert sein muss – trotz seiner eigengesetzli-
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chen Selbstbewegung gewissermaßen subkutan die Spuren der jeweils herrschenden Gesellschaft birgt« (Kager 1998: 98). Andererseits zeigt Adorno am Beispiel des Expressionismus auf, dass bei der Organisation des Materials (hier: Farben und Formen) dieses von »bloß konventionellen Bindungen gewissermaßen gereinigt« wird (Adorno 2009: 103). Adornos Materialbegriff stammt aus der Musik der Schönberg-Schule. Ihr verdankt er sein umstrittenes Theorem vom unilinearen Fortschritt des musikalischen Materials, gemessen an rationaler Durchorganisation und manifestiert in der »Verbrauchtheit und dem Neuwerden von Klängen, Techniken und Formen« (Hindrichs 2011: 54). Die Forderungen, die das Material an den Komponisten stelle, rühren daher, »dass das ›Material‹ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewusstsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbstvergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze« (GS 12: 39). Wie sich der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus erinnert, hat Adorno später eingeräumt, dass er »gegenüber der Selbstbewegung des Materials« die Wechselwirkung mit dem »kompositorischen Bewusstsein« zu wenig akzentuiert habe (Dahlhaus 1991: 127). Komposition ohne die kreative Spontaneität des Subjekts ist schlechthin nicht denkbar (Hindrichs 2011: 52ff.).13
Das künstlerische Subjekt Kant zufolge ist schöne Kunst nur als Produkt des Genies möglich (1957: 406). Demgegenüber verlegt Adorno das Genie ins Kunstwerk, dem er Subjektcharakter verleiht: »Kunstwerke folgen ihrem Formgesetz« (GS 7: 269). In der Konzeption des Künstlers als genialen Schöpfer sieht Adorno eine Herabsetzung des Kunstwerks (Bürger 1983: 135). Er reduziert das künstlerische Subjekt auf eine Art »Hebammenfunktion« (Michel 1980: 53), es ist ihm weniger Kreator als Exekutor der künstlerischen Produktion, bloßes »Vollzugsorgan« (GS 7: 249), das eine immanente Gesetzlichkeit realisiert, die das künstlerische Material ihm gebietet, ein »verlängertes Werkzeug« des »Übergangs von der 13
In seinen Werkanalysen vertritt Adorno keineswegs apodiktisch den unilinearen Materialfortschritt, etwa wenn er Mahlers Rückbezug auf tonale Sprache, Einbeziehung von Banalitäten und Verwendung »anachronistischer Momente« zustimmend kommentiert (GS 16: 327f. u. 339).
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Potentialität zur Aktualität« (ebd.). In variierenden Wendungen spielt Adorno den »subjektiven Anteil am Kunstwerk« als »ein Stück Objektivität« herunter (GS 7: 68; s. auch 71). Das Kunstwerk erfordert Arbeitsteilung, wobei »das je eingreifende einzelmenschliche Subjekt […] kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales [ist], dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren« (GS 7: 250). Der Künstler als bloßer »Funktionär« (GS 7: 92), dessen Tathandlung im minimalen Tun besteht, »zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber sieht und das selbst bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung, die ebenso potentiell in dem Material steckt« (GS 7: 249). Der Mythos vom künstlerischen Schöpfertum ist ihm suspekt. In den Paralipomena zur Ästhetischen Theorie heißt es »Der Künstler vollbringt den minimalen Übergang, nicht die maximale creatio ex nihilo. Das Differential des Neuen ist der Ort der Produktivität. Durch das unendlich Kleine des Entscheidenden erweist der Einzelkünstler sich als Exekutor einer kollektiven Objektivität des Geistes, der gegenüber sein Anteil verschwindet« (GS 7: 402f.). Wenige Sätze später fügt er dem die Aussage hinzu: »In der Tastatur jeden Klaviers steckt die ganze Appassionata, der Komponist muss sie nur herausholen, und dazu freilich bedarf es Beethovens« (GS 7: 403). In anderen Schriften Adornos finden sich Aussagen, kaum weniger apodiktisch, die den Anteil des künstlerischen Subjekts indessen hoch ansetzen. In der Einleitung in die Musiksoziologie bezeichnet er beispielsweise die »Spontaneität« des Künstlers als eine Produktivkraft, die Widerstand »gegen die Unterwerfung unter den Markt« (GS 14: 425) leisten kann. In dem Vortrag Das Altern der Neuen Musik von 1954 heißt es: »alle ästhetische Objektivität ist durch die Kraft des Subjekts vermittelt, die eine Sache ganz zu sich selbst bringt« (GS 14: 165). Und in seinem Kranichsteiner Vortrag Vers uns musique informelle von 1961 finden sich Formulierungen, die dem Künstler höchste Anerkennung zollen: Zum Werden eines musikalischen Kunstwerks bedürfe es »des subjektiven Eingriffs oder vielmehr des konstitutiven Anteils des Subjekts an ihrer Organisation […]. Denn das Subjekt ist das einzige Moment von Nichtmechanischem, von Leben, das in die Kunstwerke hineinragt« (GS 16: 527). Vollends in seinem nachgelassenen Beethoven-Konvolut verschwindet das künstlerische Subjekt nicht mehr im Kunstwerk (GS 7: 92), vielmehr findet es in Beethoven seine Apotheose: »Der Wille, die Energie, welche bei Beethoven die Form in Bewegung setzt, das ist immer das Ganze, der Hegelsche Weltgeist« (Adorno 1993: 31). – »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie: sie ist aber zugleich wahrer als diese, d.h. es steckt in ihr die Überzeugung, dass die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen nicht genug, ja dass sie
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falsch ist« (ebd: 36). An Beethoven arbeitet Adorno sich nicht nur als dem kompositorischen Genie ab, sondern als dem untrüglichen Seismographen einer kritischen Entwicklungsphase der bürgerlichen Gesellschaft (Hinrichsen 2011: 86).
Die Vermittlung von Kunst und Gesellschaft In seinen Thesen zur Kunstsoziologie, die des Kölner Soziologen Alphons Silbermanns Ansichten zur Kunstsoziologie attackieren, definiert Adorno scheinbar arglos: »Kunstsoziologie umfasst, dem Wortsinn nach, alle Aspekte im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft« (GS 10.1: 367). Er schließt dem jedoch sogleich den Zweifel an, ob die meisten der von seinem Kontrahenten hervorgehobenen Aspekte (z.B. die gesellschaftlichen Wirkungen von Kunstwerken, gemessen an den Reaktionsweisen befragter Personen) es überhaupt wert seien, untersucht zu werden.14 Im Zentrum der Kunstsoziologie Adornos stehen allein die Kunstwerke und ihr gesellschaftlicher Gehalt. Der von ihm mehrfach beschworene »Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social« (GS 7: 16) dient hier als Ausgangspunkt, die Musik- und Kunstsoziologie Adornos danach zu befragen, erstens, in welchem Verhältnis Kunstwerke zur Gesellschaft stehen, und zweitens, wie sich die Gesellschaft in den Kunstwerken objektiviert. Die bereits auf den ersten Seiten der Ästhetischen Theorie auftauchende Formel vom Doppelcharakter, auf die Adorno später mehrmals rekurriert (das Begriffsregister vermerkt allein ein Dutzend Belegstellen), stellt die Kunst in einen historisch gesellschaftlichen Zusammenhang und macht sie zugleich zum Thema kunstsoziologischer Analyse: »Der Doppelcharakter der Kunst als eines von der empirischen Realität und damit dem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang sich Absondernden, das doch zugleich in die empirische Realität und die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge hineinfällt, kommt unmittelbar an den ästhetischen Phänomenen zutage. Diese sind beides, ästhetisch und faits sociaux. Sie bedürfen einer gedoppelten Betrachtung, die so wenig unvermittelt in eins zu setzen ist, wie ästhetische Autonomie und Kunst als Gesellschaftliches« (GS 7: 374f.).
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Siehe zur Kontroverse mit Silbermann auch Adorno (1994a).
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Folgen wir der »gedoppelten Betrachtung«, beginnend mit der Autonomie. Historisch verdankt sich die Autonomie der Kunst einem komplexen geschichtlichen Prozess seit dem späten 18. Jahrhundert.15 Mit der Koevolution von kapitalistischer Erwerbsgesellschaft und bürgerlicher Öffentlichkeit konnte die Kunst sich von den traditionellen politischen und religiösen Abhängigkeiten des Adels und Klerus emanzipieren und eine »Geltungssphäre sui generis« (Wellmer 2005: 246) etablieren. Die Freisetzung der »Hofkünstler« (Warnke 1996) zu selbständigen Produzenten in der Marktgesellschaft führte indes zu neuer Abhängigkeit von den Bedürfnissen des Marktes, auch wenn sie der Kunst – wie Luhmann (1995: 266) hervorhebt – mehr Freiheit gewährte als die Abhängigkeit von führenden Adelshäusern und kirchlichen Mäzenen. Der moderne Künstler wird in der Distribution seiner Kunst von einer Reihe von kommerziellen Vermittlungsinstitutionen (Galerien, Verlage etc.) abhängig. Im späteren 19. Jahrhundert bildeten sich zwei Felder künstlerischer Produktion heraus, die Bourdieu (1999: 198ff.) einmal als Feld der eingeschränkten Produktion, sprich der Avantgarde-Kunst, und ein andermal als Feld der Massenproduktion bezeichnet; letzteres flaggt Adorno als Kulturindustrie aus. Es sind die Avantgarde-Künstler, die die Idee der künstlerischen Autonomie verteidigen, auch um den Preis wirtschaftlicher Erfolglosigkeit. Sie behaupten die Autonomie der Kunst in einer »Gegenposition zur Gesellschaft« (GS 7: 335). Indem die Kunst »sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ›gesellschaftlich nützlich‹ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein […]. Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles nur für anderes« (GS 7: 335). Allein ihrem eigenen Formgesetz gehorchend, stellt sich die Kunst gegen die durch Tausch und Profit verunstaltete gesellschaftliche Wirklichkeit. Aus ihrer Autonomie folgt, dass Kunstwerke funktionslos sind: »Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren lässt, ist es ihre Funktionslosigkeit« (GS 7: 336f.). Nicht ihre manifeste Stellungnahme, sondern
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Vgl. dazu die historische Skizze von Müller-Jentsch (2012: 30-34).
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»ihre immanente Bewegung gegen die Gesellschaft« (ebd.) bestimmt ihren sozialen Gehalt. Musik »erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält« (GS 18: 731). Das grundlegende Verständnis, mit der die Kunst in ihrer Autonomie als »gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft« (GS 7: 19) begriffen wird, hat die Ablehnung von Tendenz und Engagement in der Kunst zur Konsequenz. »Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen« (G 11: 413). Selbst gegenüber Picassos Bild Guernica und Schönbergs Komposition Der Überlebende von Warschau äußert sich Adorno ambivalent. Einerseits bezweifelt er, ob die Kunst, die »eine gewisse Vergeistlichung alles Stofflichen« voraussetzt, »wirklich so auf das Grauen reagieren« kann (Adorno 2001: 7). Andererseits bescheinigt er beiden Werken, dass sie als einzige Kunstwerke der Epoche dem äußersten Entsetzen ins Auge zu sehen vermochten und doch ästhetisch verbindlich gerieten (GS 18: 445). Selbstredend gilt Adornos Autonomiebegriff nur für gelungene Kunstwerke. Gleichwohl unterliegen auch sie dem Zwang, zur Ware zu werden. Adorno berichtet vom todkranken Beethoven, »der einen Roman von Walter Scott mit dem Ruf ›Der Kerl schreibt ja für Geld‹ von sich schleudert, und gleichzeitig noch in der Verwertung der letzten Quartette, der äußersten Absage an den Markt, als überaus erfahrener und hartnäckiger Geschäftsmann sich zeigt« (GS 3: 161) – für Adorno das »großartigste Beispiel der Einheit der Gegensätze Markt und Autonomie in der bürgerlichen Kunst« (ebd.). Bereits in seinen frühen Veröffentlichungen dechiffriert Adorno Kunstwerke als Ware. Er tut dies freilich in einer differenzierten Weise, indem er den Warencharakter aufschlüsselt nach Kunstwerken, die sich »umstandslos dem Marktgesetz unterwerfen« und solchen, die ihm widerstreben (GS 18: 734). Entsprechend polarisiert er zwischen authentischer Kunst und kulturindustriellen Machwerken, wobei er die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse an dem einen, deren Affirmation am anderen Pol verortet. In seinem frühen Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens (1938) beschreibt er, wie insbesondere im Bereich der Massenkultur der Warenfetischismus überhandnimmt und der Tauschwert sich gegen den Gebrauchswert der Kulturgüter durchsetzt. »Je unerbittlicher das Prinzip des
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Tauschwerts die Menschen um die Gebrauchswerte bringt, um so dichter vermummt sich der Tauschwert selbst als Gegenstand des Genusses« (GS 14: 25). Freilich konzediert er auch: »Selbst die Autonomie der großen Musik, durch welche sie dem Diktat des Marktes am nachdrücklichsten opponiert, hätte anders als über den Markt schwerlich sich ausgebildet« (GS 14: 424). Als Ware ist die Kunst »fait social«. Adorno benutzt hier einen Begriff Durkheims, der damit einen gesellschaftlich erzeugten Tatbestand bezeichnet, der sein Substrat nicht im Individuum hat, sondern eine Realität sui generis darstellt (Durkheim 1961: 106ff.). Als »Artefakte« sind Kunstwerke »Produkte gesellschaftlicher Arbeit des Geistes« (GS 7: 335), also faits sociaux. Auch ihre Materialien verdanken sich, ebenso wie ihr Stoffgehalt, gesellschaftlicher Herkunft. Den unwiderstehlichen Zwang zum Neuen (GS 7: 37) teilt die Kunst mit der kapitalistischen Warenproduktion. Als »geistesgeschichtliche Trivialität« dünkt Adorno, dass »die Entwicklung der künstlerischen Verfahrensweisen, wie sie meist unter dem Begriff des Stils zusammengefasst wird, der gesellschaftlichen korrespondiert« (GS 7: 15). »Im Stand der jeweiligen Technik reicht die Gesellschaft in die Werke hinein. Zwischen den Techniken der materiellen und der künstlerischen Produktion herrschen weit engere Affinitäten, als die wissenschaftliche Arbeitsteilung zur Kenntnis nimmt« (GS 14: 427). Diese Affinität oder Korrespondenz wird von Adorno indessen unterschiedlich dargestellt. Zum einen bescheinigt er den Kunstwerken, dass »ihr autonomes Reich mit der auswendigen Welt nicht mehr gemein hat als entlehnte Elemente, die in einen gänzlich veränderten Zusammenhang treten« (GS 7: 15). Zum anderen vollziehe sich in den Kunstwerken ein Prozess der »gleichen Sinnes mit dem gesellschaftlichen Prozess zu denken [ist], in dem die Kunstwerke eingespannt sind«, und gehorche »die Konfiguration ihrer Elemente zu einem Ganzen […] immanenten Gesetzen, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind« (GS 7: 350). Am Begriff der Rationalität wurde dies bereits oben ausgeführt. Anders als sein Institutskollege Leo Löwenthal, der den gesellschaftlichen Verhältnissen in den stofflichen und inhaltlichen Momenten und in den Charakteren der fiktiven Personen der literarischen Werke nachspürt (Löwenthal 1971), schlägt sich für Adorno Gesellschaftliches in der gestalteten Form und nicht im Inhalt nieder: »der Schlüssel jeglichen Gehaltes von Kunst liegt in ihrer Technik«, heißt es im Versuch über Wagner (GS 13: 119). Es bleibt für ihn eine zentrale Aufgabe der Kunstsoziologie, herauszufinden, »wie Gesellschaft
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in den Kunstwerken sich objektiviert« (GS 10.1: 374), »wie das Ganze einer Gesellschaft, als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint« (GS 11: 51), wie es Erkenntnisse über die »ungelösten Antagonismen« der Realität vermittelt. Als Chiffre ist Kunst »ebenso Kritik wie Bild ihres gesellschaftlichen Substrats« (Werckmeister 1971: 18). Einer engagierten Kunst à la Sartres littérature engagée, die ihren Stoff etwa im Protest gegen gesellschaftliches Unrecht findet, erteilt Adorno eine Absage. »Unter den Vermittlungen von Kunst und Gesellschaft ist die stoffliche, die Behandlung offen oder verhüllt gesellschaftlicher Gegenstände die oberflächlichste und trügerischste« (GS 7: 341). Aufschluss darüber, in welcher Weise »gesellschaftliche Strukturmomente, Positionen, Ideologien und was immer in den Kunstwerken selbst sich durchsetzen« (GS 10.1: 374), liefert die Struktur von Kunstwerken, in der sich »gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse« abdrücken (GS 7: 344). Was die Werke an Gesellschaftlichem vorstellen, kann nicht mit soziologischen Begriffen von außen erschlossen werden, sondern muss immanent geschöpft werden aus der genauen Anschauung der künstlerischen Gebilde (GS 11: 51). Das verlangt »freilich ein Wissen wie vom Inneren der Kunstwerke so auch von der Gesellschaft draußen. Aber verbindlich ist dieses Wissen nur, wenn es in dem rein der Sache sich Überlassen sich wiederentdeckt« (ebd.). Ungelöste Antagonismen der Realität kehren in den Kunstwerken wieder als »die immanenten Probleme ihrer Form« (GS 7: 16). Aus Kunstwerken dechiffrierbar ist die antagonistische Gesellschaft, wenn »die zentralen Kategorien der künstlerischen Produktion […] in gesellschaftliche« (GS 14: 411) übersetzt werden. Geschichte ist den Kunstwerken immanent, ihr Wahrheitsgehalt »bis ins Innerste geschichtlich« bestimmt (GS 7: 285). Als »Materialisation fortgeschrittensten Bewusstseins, welche die produktive Kritik des je gegebenen ästhetischen und außerästhetischen Zustands einschließt, ist der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke bewusstlose Geschichtsschreibung« (GS 7: 285f.) »unter dem Gesichtspunkt des Opfers« (Adorno 2009: 80), »Gedächtnis des akkumulierten Leidens« (GS 7: 387). »Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente« (GS 12: 47). Das in den Kunstwerken vermutete Medium der »unbewussten Geschichtsschreibung ihrer Epoche« (GS 7: 272) lässt Adorno durch vielfältige Verweise auf die gesellschaftliche Realität sprechen. So konstatiert er eine innere Übereinstimmung der »Zerlegung der Arbeitsprozesse seit der Manufakturperiode« mit der »motivisch-thematischen Arbeit seit Bach«, wie jene ein »zugleich aufspaltendes und synthetisierendes
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Verfahren« (GS 14: 427). So auch, wenn er bei Becketts Stücken die Existenz von Konzentrationslagern evoziert (GS 6: 373; GS 11: 290) und dessen Romane, ohne dass sie direkt davon zu reden, »das geschichtliche Grauen unserer eigenen Epoche« viel genauer ausdrücken, »als wenn Herr Zuckmayer Stücke über den Atomkrieg oder die SS schreibt« (Adorno 1994b: 137). In Kafkas Sprache entdeckt er den Monopolkapitalismus und die verwaltete Welt mit ihrem totalen gesellschaftlichen Bann wieder (GS 7: 342), der die Menschen nicht mehr von sich aus handeln, sondern zum »bloßen Organisationsprinzip somatischer Impulse« (GS 10.1: 262) regredieren lässt. Auch »das Dunkle, Schockierende, Verfremdete, in vielem Abstoßende der ästhetischen Formen von heute« sieht er im Zusammenhang mit »der permanenten Drohung der Katastrophe, unter der wir alle leben« (Adorno 2009: 65). Feiner gesponnen liebt er es in der musiksoziologischen Sparte. Die Dissonanzen sind ihm »Charaktere des objektiven Protests« (GS 12: 85) und gemahnen an »unterdrückte Subjektivität, Leiden an der Unfreiheit, die Wahrheit über das herrschende Unwesen auszusprechen« (GS 10.1: 295). Wo immer »das dissonante Moment sich durchsetzte und gleichwohl im Äquilibrium des Ganzen sich löste«, bedeute es »innere Geschichtsschreibung der Negativität sowohl wie vorwegnehmendes Bild von Versöhnung« (ebd.), »Schmerz und Glück in eins« (Adorno 2009: 67). In der Musik Beethovens, des »musikalischen Prototypen des revolutionären Bürgertums« (GS 14: 411), spürt er dessen »Verhältnis zu bürgerlicher Autonomie, Freiheit, Subjektivität, bis in seine kompositorische Verfahrensweise hinein« nach (GS 10.1: 371). In ihm wird das »Wesen der Gesellschaft, die aus ihm als dem Statthalter des Gesamtsubjekts spricht, zum Wesen der Musik« (GS 14: 411). Zuweilen überdehnt Adorno die Korrespondenzthese zu Analogiebildungen zwischen künstlerischer Technik und sozialer Lebenswelt, so hebt Guido Kreis für den Bereich der musikalischen Produktion kritisch hervor: »Die Atomisierung der musikalischen Ereignisse im Werk Schönberg ist wie die Atomisierung der Subjekte in der modernen Gesellschaft« (GS 12: 101f.). Der Wiederholungszwang der Leitmotivik im Werk Wagners und der Verzicht auf motivisch-thematische Arbeit sind wie die Resignation des Bürgertums vor der übermächtigen Gewalt des gesellschaftlichen Ganzen (GS 14: 245)« (Kreis 2011: 83; Hervorh. Kreis). Bei Richard Strauss kann er den Gedanken »an den Spätliberalismus mit seinem musealen Verhältnis zu den sogenannten Kulturgütern« (GS 20.1: 313) nicht unterdrücken. Derartige Analogien setzen sich, so Kreis, dem Vorwurf aus, »die autonome Musik missbräuchlich zum Zweck der sozialen Kritik zu funktionalisieren« (Kreis 2011: 83).
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Adorno würde sich gegen diesen Vorwurf verwahren und seine Korrespondenzthese verteidigen, wie sie in der nachstehend zitierten längeren Passage aus den Dissonanzen aufschlussreich zum Ausdruck kommt: »Musik insgesamt kann nicht getrennt werden vom jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte. […] Vielmehr ist der Kernbegriff, der die neuere Musikgeschichte in Bewegung brachte, der von Rationalität, unmittelbar eins mit der gesellschaftlichen Beherrschung außer- und innermenschlicher Natur. Darum reproduziert die scheinbar geschlossene Geschichte der Musik in sich selbst Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Bewegung. Wer in Beethoven nicht die bürgerliche Emanzipation und die Anstrengung zur Synthesis des individuierten Zustands vernimmt; nicht in Mendelssohn die entsagende Reprivatisierung des zuvor siegreichen allgemeinen bürgerlichen Subjekts; nicht in Wagner die Gewalt des Imperialismus und das Katastrophengefühl einer Klasse, die nicht anderes mehr vor sich sieht als das endliche Verhängnis der Expansion – wer all das nicht spürt, verkennt nicht nur als hartgesottener Spezialist die Wirklichkeit, in die Musik verflochten ist und auf die sie reagiert, sondern auch ihre eigene Implikation; macht sich taub gegen ihren Sinn und bringt sie auf jenes Spiel tönend bewegter Formen herunter, als welches eine Ästhetik sie beschlagnahmte, der es bereits vor ihrem eigenen Wahrheitsgehalt bangte.« (GS 14: 130f.) In seinen Werkanalysen indessen lockert Adorno seine Insistenz auf der vorrangigen Formanalyse bei der Interpretation. Relativ unbekümmert um seine Richtlinie dechiffriert er in ihnen, zuweilen auch primär, inhaltliche Motive. Exemplarisch dazu kann seine teils euphorische »Mahagonny«-Interpretation herangezogen werden. Welche Bedeutung er ihr beimisst, zeigen seine mehrfachen Interpretationen, (GS 17: 114-122; GS 19: 192-195 und 276f.). Als »erste surrealistische Oper« (GS 17: 119) würde sie, wie kein Werk außer den »ihr konträr entgegengesetzten Opern der Schönberg-Schule«, dem Begriff der Avantgarde genügen. Das sei »sowohl an den gegenständlichen Motiven der Handlung als in der Formkonstruktion des Ganzen einsichtig« (GS 19: 193; Hervorh. WMJ). Detailliert auf ihre Inhalte eingehend, dechiffriert er sie als »Entzauberung der kapitalistischen Ordnung«, bei der »Wild-West als das dem Kapitalismus immanente Märchen« evident sei (GS 17: 115). Kein Zweifel bestehe, dass »hier Gericht ergeht über die Anarchie wenn schon nicht der Warenproduktion, so doch der Konsumtion« (GS 19: 276). Zur Musik erkennt er Parallelen zu der von Gustav Mahler und erwähnt, dass der Dirigent Zemlinsky sie
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»endlich aus dem Missverständnis [des Songpublikums] von Elan, Jazz und teuflischer Unterhaltungsmusik gelöst« habe (GS 19: 277). Einen gewichtigen Einwand gegen die »Dechiffrierung von Sozialgehalten aus hermetischer, perfekter Form« der Kunst erhebt O. K. Werckmeister (1971: 31); er registriert einen »Widerspruch zwischen der geschlossenen formalen Ordnung und einer latenten kritischen Bedeutung« eines Kunstwerks, das für Adorno »das Grundverhältnis des Gehalts von Kunst« ausmacht (ebd.). Den Wahrheitsgehalt von Kunstwerken verknüpft er dialektisch mit der Idee der Versöhnung (Wellmer 1983: 145). Er kann einmal die ästhetische Stimmigkeit (a), ein andermal die unverfälschte Wiedergabe der Wirklichkeit (b) bedeuten. Das Kunstwerk ist, als bestimmte Negation einer unversöhnten Welt, wahr, wenn sie diese als zerrissene und antagonistische zur Erscheinung bringt (Wahrheit b), aber dies im Lichte der Versöhnung, durch gewaltlose ästhetische Synthesis des Zerstreuten, tut (Wahrheit a). Diese Versöhnung ist indessen nur Schein, weil es sie in der realen Welt (noch) nicht gibt. »Indem Kunstwerke da sind, postulieren sie das Dasein eines nicht Daseienden und geraten dadurch in Konflikt mit dessen realem Nichtvorhandensein« (GS 7: 93). Dass die Kunst »der Suggestion von Sinn inmitten des Sinnlosen nicht zu entrinnen vermag« (GS 7: 231), bedeutet für Wellmer zugleich ein Mal ihrer Unwahrheit. »Um der Hoffnung auf Versöhnung willen aber muss die Kunst auch diese Schuld noch auf sich nehmen: dies meint ›Rettung des Scheins‹ für Adorno« (Wellmer 1983: 147). Versöhnung schließt – implizit oder explizit – Gesellschaftskritik ein; denn »Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung« (GS 7: 26); paradoxer formuliert: sie hat »das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen« (GS 7: 251). Mit der vorweggenommenen (scheinhaften) Versöhnung (je nach Kontext: von Allgemeinem und Besonderem, von Individuum und Gesellschaft, von Geist und Natur, von Rationalität und Mimesis) transportieren Kunstwerke ein Glücksversprechen, das sie brechen, weil es im Modus des Scheins erfolgt; sie täuschen vor, »Versöhnung wäre schon« (GS 7: 203). Kunstwerke sind als »kontrafaktische Statthalter der Idee des richtigen Lebens« (Kreis 2011: 84) eine »promesse du bonheur« (Stendhal) auf eine mögliche Zukunft. »Ihrer bloßen Form nach verspricht sie [die Kunst], was nicht ist, meldet objektiv und wie immer auch gebrochen den Anspruch an, dass es, weil es erscheint, auch möglich sein muss« (GS 7: 128). Jedes Kunstwerk beschließe in sich, auch und gerade in der Negativität, »die Idee der ganzen Erfüllung der
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Utopie« (Adorno 2009: 192). Entscheidendes Kriterium für ein bedeutendes Kunstwerk sei, ob es die Widersprüchlichkeit zwischen der Unversöhnlichkeit in der Realität und der Versöhnung, die im Begriff der Utopie gedacht wird, auszutragen vermag (ebd.: 169). Die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Kunst in einer emanzipierten Gesellschaft beantwortet Adorno ambivalent. Einerseits heißt es in marxistischer Tradition: »Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende« (GS 7: 55), beziehungsweise : »Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben« (GS 12: 14); andererseits schließt die Ästhetische Theorie mit der Spekulation: »Möglich, dass einer befriedeten Gesellschaft die vergangene Kunst wieder zufällt, die heute zum ideologischen Komplement der unbefriedeten geworden ist; dass dann aber die neu entstehende zu Ruhe und Ordnung, zu affirmativer Abbildlichkeit und Harmonie zurückkehrte, wäre das Opfer ihrer Freiheit« (GS 7: 386).
Naturschönes und Erhabenes Adorno hat für das Verständnis der modernen Kunst die Kategorien des Naturschönen und des Erhabenen rehabilitiert, nicht ohne signifikante Uminterpretationen gegenüber ihren traditionellen Kontexten. Das Naturschöne, dem in der Philosophie der Ästhetik zuletzt Schelling gerecht geworden war, während Hegel es als glattes Gegenteil des Kunstschönen verkannte, ist für Adorno konstitutiv für das Kunstschöne (Sonderegger 2011: 415). Ihm zufolge ahmt Kunst nicht Natur, sondern das Naturschöne nach (GS 7: 111). Damit meint Adorno nicht die Nachahmung von Wirklichem; »schön ist an der Natur, was als mehr erscheint, denn was es buchstäblich an Ort und Stelle ist« (ebd.). Nachgeahmt wird die Idee des Naturschönen, nicht ihre Erscheinungen, »das Naturschöne an sich« (GS 7: 113). Kunst will einlösen, »was die Natur verspricht« (GS 7: 103; Hervorh. WMJ). Erinnert sei hier an die zentrale Formel des »Eingedenkens der Natur im Subjekt« (GS 3: 58) aus der Dialektik der Aufklärung, mit der Horkheimer und Adorno die im abendländischen Rationalisierungsprozess von Subjekt und Gesellschaft vollzogene »Verleugnung der Natur im Menschen« (GS 3: 72) widerrufen möchten.16
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Vgl. dazu die fundierte Untersuchung von Gunzelin Schmid Noerr (1990).
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Albrecht Wellmer fasst den spekulativen Gehalt, den Adorno dem Naturschönen zuschreibt, zusammen: »Im Naturschönen sieht Adorno die Chiffre einer noch-nicht-seienden, einer versöhnten Natur; einer Natur also, die über die Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand hinausgewachsen wäre, diese Spaltung als versöhnte in sich aufgehoben hätte […]. Das Kunstwerk, als Nachahmung des Naturschönen, wird so zum Bild einer beredten, aus ihrer Stummheit befreiten, einer erlösten Natur, ebenso wie zum Bild einer versöhnten Menschheit« (Wellmer 1983: 144). Wenn das Naturschöne noch verschwistert ist mit dem Versöhnungsgedanken, dann enthält die Kategorie des Erhabenen das Potential, die Idee der Versöhnung zu unterminieren oder sie in einer radikalen Weise zu transformieren, wie Wolfgang Welsch (1999) in einer instruktiven Analyse über Adornos Ästhetik herausgearbeitet hat. Demnach hat die Einführung der Kategorie des Erhabenen für Adornos ästhetische Konzeption weitreichende Konsequenzen: sie gerät in einen impliziten Gegensatz zu dessen Leitkategorie der Versöhnung und drängte Adorno offenbar zu einem Umbau seiner Konzeption. Der Begriff des Erhabenen, den Kant noch allein der Charakterisierung des Gefühls gegenüber der übermächtigen äußeren Natur vorbehalten hatte und der erst nach ihm zu einem zweiten Grundbegriff der Ästhetik reüssierte,17 wird von Adorno – entgegen der Konvention – in eine Kategorie der Erfahrung des »Selbstbewusstseins des Menschen von seiner Naturhaftigkeit« (GS 7: 295) umgedeutet, und auf die Kunst als Idee der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen (GS 7: 285) und der »Rettung des Vielen im Einem« (GS 7: 284) übertragen. Damit sprengt Adorno den »Horizont der Versöhnung« (Welsch 1999: 128). Denn Versöhnung heißt auf der Ebene des Kunstwerks die schlüssige Synthese von mimetischen und konstruktiven Momenten zu einer vollendeten Werkeinheit. Aber als solche ist sie auch ein Dokument der Herrschaft, weil sie das divergente Material mit »herrschaftlichem Gestus« (Welsch 1999: 149) zur intakten Einheit zusammenzwingt. Im Verlauf seiner
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Kategorial zwar schon bei Edmund Burke (1757/1989). In der modernen Kunst hat, folgt man Martin Seel, etwa in Beethovens Musik, Caspar David Friedrichs Malerei und Baudelaires Lyrik eine Ersetzung des Schönen durch das Erhabene bereits weitgehend stattgefunden (Seel 1987: 33).
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Reflexionen arbeitet sich Adorno an diesem Widerspruch ab, mit dem Ergebnis einer umformulierten Versöhnungsidee, die als »Versöhnung des Unversöhnbaren« (Welsch 1999: 137) ihre paradoxe Aussage findet. Mit der Demontage des Anspruchs auf Versöhnung könne die Kunst sich nur durch die »Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen« (GS 7: 283), zum Dissonanten der Kunstwerke retten. Das führt Adorno zum Eingeständnis, »dass es keine vollkommenen Werke gibt. Existierten sie, so wäre tatsächlich die Versöhnung inmitten des Unversöhnten möglich« (ebd.), während doch ihre »konstitutive Unversöhnlichkeit auch ihnen selbst Versöhnung abschneidet« (GS 7: 283f.). Das Erhabene gebietet der autonomen Kunst das »Ungeschlichtete der Widersprüche« (GS 7: 294), das Zerschneiden von Synthesen (GS 7: 209) und die »ungemilderte Negativität« (GS 7: 296). »Moderne«, heißt es mit Blick auf Baudelaire, »ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete«, das »kein Harmloses mehr duldet« (GS 7: 39). Treue hält die Kunst den Menschen »allein durch Inhumanität gegen sie« (GS 7: 293). Der gleiche Geist spricht aus einem jüngeren Ausspruch Anselm Kiefers: »Kunst braucht Zynismus, weil unsere Welt so konstruiert ist, dass man nur zynisch sein kann« (Kiefer 2011: 116). Das Resümee, das Welsch aus der gegen den Strich gelesenen Ästhetischen Theorie zieht, lautet: Adorno spricht vornehmlich vom Schönen, denkt aber ganz im Duktus des Erhabenen; er kann sein Motiv der Versöhnung mit Natur nur festhalten, indem er die Denkform Versöhnung aufgibt und das Kunstwerk »seiner ganzen Konstitution nach im Sinn des Erhabenen fasst« (Welsch 1999: 136f.). Wellmer verteidigt gegen Welsch Adornos versöhnungsphilosophische Konstruktion der Kunst, innerhalb derer das Erhabene seinen Platz habe. Mit der »Transplantation« des Erhabenen (GS 7: 293) in die Kunsttheorie unterscheide Adorno drei verschiedene Momente: • •
»Unter energetischen Gesichtspunkten erscheint das Kunsterhabene als schockierend, ergreifend, erschütternd, überwältigend. […] Strukturell betrachtet ist das Kunsterhabene die Negation ungebrochener ästhetischer Synthesis, das heißt der bruchlosen Durchdringung von Sinnlichem und Geistigem im Sinne des idealistischen Schönheitsbegriffs. Negation der schönen Form also, des Maßes, der Balance, der widerspruchslosen Einheit, der Harmonie, letztlich: des schönen Scheins. […]
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•
Unter entwicklungslogischen Gesichtspunkten schließlich bezeichnet das Eindringen des Erhabenen in die Kunst […] ein Anwachsen der Spannung zwischen geistigen und geistfernen, zwischen konstruktiven und mimetischen, zwischen reflexiven und ›elementarischen‹ Zügen in der modernen Kunst.« (Wellmer 1993: 185ff.)
Für Adorno bleibe die Kategorie des Schönen leitend, da die »Realisierung des Kunsterhabenen an die Bedingung ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt, das Erhabene bedeutet eine Modifikation, eine Intensivierung des Schönen, nicht dessen reale Negation« (Wellmer 1993: 193). Wenn das Erhabene, wie exemplarisch bei Beckett, als ästhetische »Konstruktion des Sinnlosen« (GS 11: 283) rehabilitiert werde, dann sei es auch »der Ort des Standhaltens gegenüber der Macht der Negativität« (Wellmer 1993: 193). Durch die »gelingende ästhetische Artikulation des Sinnlosen und Grauenvollen verwandelt das Entsetzen sich in ästhetische Lust« (ebd.: 195), was Adorno schließlich dahingehend konzediert, dass das »Glück an den Kunstwerken« das von ihnen vermittelte »Gefühl des Standhaltens« sei (GS 7: 30 u. 66).
Kritischer Epilog Adornos Ästhetik und Kunstsoziologie sind ein hochkomplexes und widerspruchvolles Gedankengebäude. Philosophen, Soziologen und Kunstwissenschaftler haben ihm eine breite Rezeption beschieden. Deren kritische Einsprüche können hier unmöglich referiert werden. Sechs Kritikpunkte seien herausgegriffen: (1) Fluchtpunkt von Adornos Kunst- und Musiktheorie ist die ästhetische Moderne mit ihrer »Überbietungslogik, die sich an den errungenen ›Materialfortschritten‹ in den einzelnen Genres orientierte« (Lehmann 2012: 12). Adornos unilinearen Entwicklungsgedanken, festgemacht am Fortschritt des künstlerischen Materials, stellten Musiktheoretiker schon früh in Frage (Hindrichs 2011: 56f.). Auf einen »Pluralismus von Wegen zur Neuen Musik, von musikalischen Ansätzen, Schulen oder Traditionen innerhalb des Feldes der Neuen Musik«, verweist Wellmer (2005: 260). Spätestens seit dem Ende der klassischen Avantgarde ist die fortschrittstheoretische Betrachtung obsolet; an ihre Stelle ist die Perspektive der »Verfügung über verschiedene Materialstände« (Bürger 2001: 25) getreten. Die (Post-)Moderne »ist reicher, vielfältiger, widersprüchlicher als Adorno sie […] darstellt«; sie kennt keine
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»Tabuisierung von Tonalität, Gegenständlichkeit und traditionellen literarischen Formen« (Bürger 2001: 28), sondern einen Pluralismus von Techniken, Materialerweiterungen und Verfahren der Kunst. (2) Eine ästhetische Blickverengung Adornos lässt sich für alle von ihm behandelten Kunstgattungen – Musik, Literatur, Malerei – nachweisen. Blinde Flecken im musikalischen Bereich konstatiert Wellmer (1993; 2005). Aufgrund seiner Fixierung auf die deutsch-österreichische Musiktradition habe Adorno mit anderen Traditionslinien zur Neuen Musik, für die Debussy, Varèse, Bartók, Strawinsky und Ives stehen, nichts anfangen können (ebd.: 202). Defizite im literarischen Feld haben insbesondere Peter Bürger und Jan Philipp Reemtsma moniert, Bürger den Ausschluss der engagierten Literatur (1983), Reemtsma den selektiven Blick auf die Romanliteratur (2005). Reemtsmas Vorwurf lautet, dass der unterstellte Erzählerstandort im bürgerlich-realistischen Romans durch das Ignorieren von literarhistorisch bedeutsamen Romanautoren (z.B. Jean Paul, Diderot, Sterne, Melville) zurecht stilisiert werde; Bürgers, dass aus theorierelevanten Gründen zwei der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, Brecht und Sartre, ästhetisch exkludiert würden. In der bildenden Kunst hat Adorno die gegenständliche Malerei, nach Kubismus und Abstraktion, ignoriert; sie galt ihm, ähnlich wie der Neoklassizismus in der Musik, als Regression auf ein überwundenes technisches Niveau künstlerischer Formgebung. (3) Eine andere Blickverengung, die Adornos Konzentration auf die Werkästhetik zu schulden ist, schneidet die Dimension der ästhetischen Erfahrung mit dem Werk ab. Für die Frage, welche Reaktionen Kunstwerke im Bewusstsein der Rezipienten auslösen und wie deren Wahrnehmung und Interpretation das Phänomen Kunstwerk verändern, hat Adorno sich nicht interessiert. An Kant (Kritik der Urteilskraft) und Dewey (Kunst als Erfahrung) anknüpfend, haben Rezeptionsästhetiker (exemplarisch: Hans Robert Jauß 1991) nicht nur die historisch wechselnde Wirkung des Kunstwerks beim Publikum zum Untersuchungsgegenstand gemacht, sondern auch das rehabilitiert, was Adorno als Banausie schmäht: den Kunstgenuss. (4) Dem Kunstpublikum selbst schenkt Adorno nur geringe Aufmerksamkeit; sein diesbezüglich bürgerlich-elitärer Gestus ist notorisch. Er manifestiert sich nicht nur in seinem auf Werke höchsten Anspruchs begrenzten Kunstverständnis, das alles Heitere und Leichte (von der Operette bis zum Jazz) in den Orkus der Kulturindustrie verdammt, sondern auch in seiner Rolle als vormundschaftlicher Advokat der erniedrigten Massen, der die Interessen des Publikums gegen das Publikum vertritt (GS 8: 144). »Kunst achtet
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die Massen, indem sie ihnen entgegentritt als dem, was sie sein könnten, anstatt ihnen in ihrer entwürdigten Gestalt sich anzupassen.« (GS 7: 356) »Dem Rezipierenden gibt sie [die Kunst] das Seine in ihrem Reichtum und ihrer Artikulation, nicht durch die Anpassung an seine präformierte Bescheidenheit« (GS 16: 640). Gefragt, ob das (Fernseh-)Publikum wollen kann, lautet seine Antwort: »Dazu müsste es gebracht werden, durch sich selbst und gegen sich selbst zugleich«, langfristig durch Erziehung (GS 20.1: 346). (5) Der Gedanke der Versöhnung von Geist und Natur, essenziell für Adornos ästhetisches Denken, ist nach Habermas’ Urteil eine »überschwengliche Idee« (1984: 177). Als eine dem Bilderverbot unterliegende Metapher für die Antizipation des richtigen Lebens schließe die »universale Versöhnung« eine Humanisierung der Natur, ja die »Resurrektion der Natur« (ebd.) ein – letztlich eine messianische Hoffnung, die Adorno mit Benjamin und Bloch geteilt habe. (6) Die Populärkultur, unter ihnen Film und Jazz, haben Adorno und Horkheimer mit dem pejorativen Begriff der Kulturindustrie ausgeflaggt. Ihre Ansicht, dass sie ausschließlich als manipulatives Beherrschungsinstrument dient, haben Autoren der Cultural Studies mit Verweis auf ihr übersehenes widerständiges Potential als undialektisch und elitär zurückgewiesen.
Statt einer Zusammenfassung Adornos Texte zur Kunstsoziologie sperren sich gegen eine Zusammenfassung. Erinnert sei an die Charakterisierung von Adornos Sprache und Stil in der Vorbemerkung. Hinzu kommt, dass philosophische Überlegungen zur Ästhetik und soziologische Äußerungen über die Kunst derart miteinander verschlungen sind, dass sie nur durch willkürliche Schnitte zu trennen wären. Statt einer herkömmlichen Zusammenfassung seien hier abschließend die wichtigsten Kerngedanken zusammengestellt: 1. Kunst (Musik, Literatur, Bildende Kunst) nimmt im Werk Adornos einen zentralen Stellenwert ein, wobei die Musik als exemplarisch für die Kunst überhaupt steht. Allen Kunstwerken schrieb er »Musikähnlichkeit« zu. 2. In Hegelscher Tradition versteht Adorno die Kunst als eine Gestalt von Erkenntnis der Wirklichkeit, die von den empirischen Wissenschaften verfehlt und verschleiert wird.
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3. Historisch errang die Kunst ihre Autonomie von ihren kultischen und religiösen Ursprüngen und herrschaftlichen Dienstleistungen (bestimmte Negation ihres Ursprungs). 4. Mit ihrem radikalen Anderssein bekundet sie ihren Gegensatz zur empirischen Welt (bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft). 5. Das Kunstwerk ist das Ergebnis einer rationalen Konstruktion, die individuelles (mimetisches) Material, das heißt Klänge, Worte, Farben, Holz, Metall etc., aber auch Verfahrensweisen, Farb- und Tonrelationen, zu einer Einheit stimmig zusammenfügt. 6. Die »Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft« (Karger 1998: 97) bildet das historisch geprägte Material. Durch dieses fließt Gesellschaftliches in das Kunstwerk ein. Zentrale Aufgabe der Kunstsoziologie ist es, herauszufinden, »wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert« (GS 10.1: 374). 7. Als Gegenwelt zur bestehenden Gesellschaft bringt Kunst die Kritik an dieser weniger durch ihre Thematik und ihren Inhalt als durch ihre Form und Struktur zum Ausdruck. Nicht engagierte Kunst, sondern l’art pour l’art ist das adäquatere Formprinzip, um den Protest gegen eine auf Tausch und Kommerz basierende Gesellschaft auszudrücken. Kunstwerke sind gewissermaßen Anti-Waren. 8. Die vom Formgesetz autonomer Kunstwerke geforderte »ästhetische Synthesis des Zerstreuten« erzeugt einen »Schein der Versöhnung« (Wellmer 1983: 145), eine »Suggestion von Sinn inmitten des Sinnlosen« (GS 7: 231). Sie machen unverfügbar Individuelles erfahrbar und enthalten ein Glücksversprechen im Modus des Scheins. 9. Der Künstler steht unter dem Gebot des materialgerechten Produzierens im Sinne eines Fortschritts des künstlerischen Materials. Dessen derzeit höchste Stufen manifestieren sich in der Zwölftonmusik Schönbergs, in der Literatur in Samuel Becketts Werk und in der Bildenden Kunst in Picassos Abstraktionen. 10. Unter Kulturindustrie sind kulturelle Artefakte mit Warencharakter (Massenkultur) zu verstehen, die im Gegensatz zur autonomen Kunst (Avantgarde-Kunst) die bestehende Gesellschaft affirmiert.
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3. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung: Max Weber und Adorno über gesellschaftliche und ästhetische Rationalität
Wissenschaftstheoretisch lebten Max Weber und Theodor W. Adorno – diese beiden Gelehrten mit einem Œuvre von einschüchternder Vielseitigkeit, das Generationen von Exegeten beschäftigte und weiterhin beschäftigt – »auf getrenntesten Bergen« (Hölderlin), um von dort ihrem Metier, der Erklärung und Deutung gesellschaftlich relevanter Phänomene, nachzugehen. In groben Stichworten: Hier der positivistische Erfahrungswissenschaftler mit einem universalhistorischen Wissen einer werturteilsfreien Forschung verpflichtet und den Kapitalismus als die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« (Weber 1963: 4) voraussetzend, dem überdies imperialistische Anwandlungen und chauvinistische Töne nicht fremd waren. Dort der dialektisch geschulte Sozialphilosoph, der die gegebenen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderung analysierte und unversöhnlich die spätkapitalistische Gesellschaft und ihre Kultur kritisierte, welche Auschwitz möglich gemacht hatten – der sich aber dennoch nach der Rückkehr aus der Emigration in öffentlichen Reden und Radiovorträgen und mit dem Eros demokratischer Pädagogik der re-education der Deutschen widmete (Heins 2011). Und doch stellt sich bei genauerer Betrachtung ein diffizileres Bild ein. So findet Adornos fortgesetzte Auseinandersetzung mit Weber ihren Niederschlag in einer bemerkenswerten inhaltlichen Nähe. Vor allem an einem, für beide gleichermaßen zentralen Gegenstand kommt dies zum Tragen: In der Behandlung und Bewertung des Phänomens der Rationalität nämlich besteht eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen beiden Sozialwissenschaftlern. Und mehr noch: In ihrer Suche nach Zuflucht vor den Zumutungen rationalisierter Lebensweisen in einer verwalteten Welt gelangten sie ans gleiche
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Ziel – galten beiden doch die Kunst und die Erotik als die Sphären, von denen innerweltliche Erlösung zu erhoffen war.
Max Webers janusköpfige Rationalität In Max Webers Werk besitzt der Begriff der Rationalität, genauer: der okzidentalen Rationalität, Schlüsselcharakter. Wenngleich das nicht unbedingt einhergeht mit begrifflicher Schärfe: Wie der Mitherausgeber des »Max-WeberHandbuches«, Hans-Peter Müller, konstatiert, habe Weber trotz seines genuinen Interesses an diesem Phänomen keine konsistente Theorie über die drei »R« – Rationalität, Rationalisierung, Rationalismus – entwickelt (Müller 2014: 108). Und dennoch hat, wie Herbert Marcuse in einem fulminanten Vortrag auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 ausführte, Weber der Aufdeckung der »offenen und verdeckten, progressiven und repressiven Manifestationen« der okzidentalen Rationalität seine wissenschaftliche Forschung gewidmet (Marcuse 1965: 161). Marcuses Formulierung deutet dabei an, dass für Weber die Rationalität ein vielgestaltiges Phänomen ist. So unterscheidet er zwischen formaler und materialer Rationalität, zwischen Zweck- und Wertrationalität. Zwar mache die im sozialen Handeln und in den gesellschaftlichen Ordnungen dominierende »Erfolgsorientierung« die formale beziehungsweise Zweckrationalität zur überlegenen Rationalitätsform, aber die weiterhin in gesellschaftlichen Prozessen wirksame »Eigenwertorientierung« bringe auch die materiale beziehungsweise Wertrationalität zur Geltung. In der Religionssoziologie heißt es: Man kann »das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ›rationalisieren‹« (Weber 1963: 62). Ja, Weber merkt an, dass das »Sichhingeben an die Berufsarbeit« (ebd.) »vom Standpunkt der rein eudämonistischen Eigeninteressen« (ebd.) aus als irrational zu bezeichnen sei. Rational ist die ihr geschuldete Lebensführung lediglich insoweit zu nennen, als sie ihren Zweck möglichst kalkuliert verfolgt. Den Prozess der Durchsetzung von Rationalität bezeichnet Weber als Rationalisierung, den er mit zunehmender Berechenbarkeit und Entzauberung gleichsetzt. Der wissenschaftlich-technische Rationalismus ermöglicht, Dinge und Prozesse durch Berechnung zu beherrschen. In diesem Sinne spricht er von rationaler Herrschaft und rationalem Recht, von rationalem Betrieb und rationalem Geldwesen, aber auch von rationaler Lebensführung, kurz:
3. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung
von der Rationalisierung aller Lebensbereiche, die zusammenschießen in der schicksalsvollen Gesellschaftsformation der Moderne, dem Kapitalismus. Das mächtigste Instrument der Rationalisierung erkennt Weber in der Bürokratie. Sie ist die allen anderen Formen der Verwaltung technisch überlegene »Maschine«, in der Politik wie in der Wirtschaft. Doch ihre Effizienz macht sie zum Moloch: Nicht zuletzt an der Bürokratie nimmt Weber die dunkle Seite der Rationalität wahr. Zwar hatte er auch schon an anderen Phänomenen das Umkippen einer vereinseitigten Rationalität in Irrationalität konstatiert, so etwa an der Kapitalrechnung (zur Berechnung der Rentabilität) als dem »Höchstmaß von formaler Rationalität«, deren Kehrseite eine »spezifische materiale Irrationalität der Wirtschaftsordnung« sei, weil sie »nur bei Unterwerfung der Arbeiter unter die Herrschaft von Unternehmern möglich ist« (Weber 1964: 102). Aber mit der Ausbreitung der bürokratischen Verwaltung, sei es in der modernen Staatsanstalt oder im kapitalistischen Unternehmen, entsteht ein Sog ihrer »Unentrinnbarkeit« und »Unzerbrechlichkeit«, letztlich – in der vielzitierten Weberschen Formulierung – die Tendenz zur Verselbständigung eines administrativen Instruments zum Gehäuse der Hörigkeit (ebd.: 1060). Webers Fazit lautet: Im Gegensatz zum Puritaner, der Berufsmensch sein wollte, müssen wir es sein. Dem modernen »Berufsfachmenschen« lässt der Käfig des Alltagslebens rationaler Lebensführung nur zwei Fluchtwege offen: die Kunst und die Erotik, für Weber die »intensivsten Erlebnisarten des Daseins« (Weber 1963: 563). Allein sie könnten die »innerweltliche […] Erlösung vom Rationalen« (ebd.: 560) gewähren. Über die erlösende Kraft der Kunst führte Weber lange Gespräche mit dem jungen Georg Lukács in den letzten Vorkriegsjahren. Und für eine von ihm geplante Soziologie der Kunst schuf er gewissermaßen als ersten Baustein eine Arbeit über die »rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik«, nach Adornos Urteil der »bislang umfassendste und anspruchsvollste Entwurf einer Musiksoziologie« (GS 16: 13). Weber stellte darin die Geschichte der Musik in den Zusammenhang des abendländischen Rationalisierungsprozesses: Beurteilten viele Künstler den Rationalismus als »Hemmung ihrer Schöpferkraft«, erregte dessen Entdeckung in der Musik Weber geradezu, wie Marianne Weber in ihrem »Lebensbild« über ihren Mann schreibt (Marianne Weber 1989: 349). In der Tat kann es auf den ersten Blick paradox anmuten, dass die Musik, mit ihrer emotionalen Intensität eine innerweltliche Erlösungsmacht, selbst Teil des universalen Rationalisierungsprozesses sein soll. Aber nur aufgrund der Rationalisierung, das heißt der menschlichen Verfü-
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gung über das Tonmaterial, war die Entwicklung zur großen Musik möglich – ein Fortschrittsgedanke, den nach Weber auch Adorno nachdrücklich vertrat. Gleichwohl wäre eine Gleichsetzung der Rationalität ästhetischer Gestaltung mit der pragmatischen und kognitiven Rationalität in den anderen Lebenssphären und Wertordnungen verfehlt; denn schließlich schreibt Weber der ästhetischen und erotischen Sphäre einen »von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakter« (Weber 1963: 554) zu. Aber »gerade wegen ihrer vermeintlichen ›Irrationalität‹« habe Weber die Fragestellung gereizt, »wie weit auch im Bereich der ›Kultur‹ dieser [Rationalisierungs-]Prozess nachzuweisen sei«, befindet der Max Weber-Biograph Dirk Kaesler (2017: 157). Allerdings habe Weber in der Musikstudie einen Rationalitätsbegriff mit »offenkundig abweichendem Rationalitätsverständnis« eingeführt. »Bei oberflächlicher Lektüre« – so Kaesler weiter – »könnte es erscheinen, als ob Max Weber in dieser Skizze seiner Musiksoziologie allein der These von der Rationalisierung folgt. Bei genauerer Kenntnis seiner Lebensumstände nach 1911 könne der kundige Leser jedoch erkennen, dass gerade in diesem Text der Zusammenhang von Freiheit und Rationalität bzw. deren Spannung zueinander das eigentliche Thema des späten Max Weber geworden sei. Wie schon bei seiner Auseinandersetzung mit dem ebenso spannungsreichen Verhältnis zwischen Religion und individueller Freiheit, so spürt Weber auch in seiner Auseinandersetzung mit den rationalen Grundlagen der Musik vor allem der Frage nach den Grenzen der Rationalität nach. Es sind die Spannungen zwischen Ratio und Emotion, die sich in seinen Ausführungen über Akkordharmonik und Melodik, zwischen musikalischer Theorie und musikantischer Praxis niederschlagen« (ebd.: 159). Als Medium der innerweltlichen Erlösung vom Alltag trat die Kunst in Konkurrenz mit den rationalen Religionen, deren Askese-Ideal den Kunstgenuss verdammt – manifestiert am augenfälligsten im Calvinistischen Bildersturm. Jede Hingabe an rein künstlerische Werte wurde, so Weber, als »widergöttlich […] perhorresziert« und erscheine der religiösen Askese als »bedenkliche Verletzung der rationalen Systematisierung der Lebensführung« (Weber 1964: 469). Kunst könne den »zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus« (Weber 1963: 555) lösen und dem »ästhetisch erregten Rezipierenden« (ebd.: 556) eine Surrogatform des religiösen Erlebens bieten. In seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« fragt Weber lockend, ob die Kunst nicht ein »Reich diabolischer Herrlichkeit« (Weber 1994b: 14) sei. Damit spielte
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er auf die Lukácssche Theorie vom Luziferischen der Kunst an, von der Marianne Weber zu berichten weiß: »Lukács galt die Herrlichkeit innerweltlicher Kultur, vor allem der ästhetischen als das Widergöttliche, die ›luciferische‹ Konkurrenz gegen Gottes Wirksamkeit. […] Letztes Ziel ist Erlösung von der Welt. Nicht wie für George und seinen Kreis: Erfüllung in ihr« (Marianne Weber 1989: 474). All das fügt sich in den »Gegenweltbedarf«, den Georg Simmel um die Jahrhundertwende unter Intellektuellen verbreitet sah (Lichtblau 2011: 156). Simmel begriff die Kunst als eine Gegenwelt zur Gesellschaft, als »einen Kosmos, in dem der Mensch die Erlösung von seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit erwartet«, da »zunehmende gesellschaftliche Differenzierung und Arbeitsteilung« die subjektive Persönlichkeit »immer einseitiger und fragmentarischer« werden lasse und die Subjekte darüber drohten, den »Weg zu sich selbst zu verlieren« (Duk-Yung 2002: 595).
Adorno: Mimesis inmitten der Rationalität Adorno (und generell die Kritische Theorie) hat von Max Weber, teilweise vermittelt durch die Schriften von Lukács, Vieles übernommen. Der Begriff der »instrumentellen Vernunft« ist nahezu deckungsgleich mit dem der Weberschen »Zweckrationalität«. Und Webers vielzitiertes »stahlhartes Gehäuse« fand seine Reinkarnation in Adornos Terminus der »total verwalteten Welt«. Ähnlich wie Weber sieht Adorno die Kunst als Antidot gegen die Hermetik der verwalteten Welt. Theoretisch raffinierter als jener, unterfüttert er sie mit seinem Konzept der Mimesis. Mimesis ist ein von Adorno häufig verwandter Begriff, der erstmals in der Dialektik der Aufklärung auftaucht. In Anlehnung an den französischen Soziologen Roger Caillois ist sie als eine anthropologische Kategorie adaptiven Verhaltens zu verstehen. Für Horkheimer und Adorno bedeutet sie das »Eingedenken der Natur im Subjekt«, wie sie mit der folgenden Formulierung in der »Dialektik der Aufklarung« plastisch zum Ausdruck bringen: »sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen, den Hang sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur«, eine »Weichheit gegen die Dinge« (GS 3: 260). Ihre Konklusion lautet: Die »Härte« von Arbeit und instrumenteller Vernunft hätte die mimetischen Impulse verdrängt, allein in der Kunst konnten sie sich noch behaupten. In seiner Theoretisierung der Kunstproduktion schließt Adorno an Webers Rationalitätsbegriff an und übernimmt dessen Theorem der fortschrei-
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tenden Rationalisierung »im europäisch-amerikanischen Gesellschafts- und Wirtschaftsleben« (Weber 1968: 525). Kunstwerke sind für Adorno das Ergebnis rationaler Konstruktion, die – wie er in seiner posthum veröffentlichten Ästhetischen Theorie formuliert – »kein ungeformtes Fleckchen übrig lässt« und deren Gestaltung in allem Gestalteten keine Spur der Gewalt hinterlässt. Kunstwerke kommen nur dadurch zustande, dass in ihnen individuelles, mimetisches »Material« zu einer Einheit stimmig zusammengefügt wird. Dass Kunst, »ein Mimetisches, inmitten von Rationalität möglich ist und ihrer Mittel sich bedient, reagiert auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten« (GS 7: 86). Adorno geht noch weiter, wenn er in der bewussten Verfügung über ihre Mittel eine Konvergenz von materieller und künstlerischer Produktion konstatiert, eine Verschwisterung der innerästhetischen Entwicklung mit dem Fortschritt der außerästhetischen Produktivkräfte zu erkennen glaubt. In der »Dialektik der Aufklärung« hat er mit Horkheimer diese Rationalität im gesellschaftlichen Kontext als »instrumentelle Vernunft« kritisiert, im künstlerischen Prozess schreibt er ihr dagegen positive Effekte zu. Des Rätsels Lösung: Wie schon bei Weber müssen wir auch bei Adorno zwischen der Anwendung des Rationalitätsbegriffs auf die gesellschaftliche und auf die ästhetische Sphäre differenzieren. Im gesellschaftlichen Bereich erschöpft sich Rationalität in der Zweck-Mittel-Logik der Naturbeherrschung; die künstlerische Rationalität läuft hingegen auf eine mit der Natur versöhnte Rationalität hinaus, die auf ein autonomes, zweckfreies Produkt zielt, das die gesellschaftliche Rationalität kritisiert: »Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen« (GS 7: 87). In der »subjektlos organisierten Gesellschaft« wird der Fortschritt der Rationalität behindert durch die Fesselung der Produktivkräfte durch die Produktionsverhältnisse, während das »vom Subjekt organisierte Kunstwerk« die ästhetische Produktivkraft rational zu entfesseln vermag. Hartmut Scheible spricht in diesem Zusammenhang von einer »guten Rationalität«, die auch eine »gute Naturbeherrschung« impliziere (Scheible 1989: 56). Eine weitere Differenz zur herrschaftlich-instrumentellen Rationalität besteht in der Radikalisierung der künstlerischen Rationalität. Sie realisiert, wie der Philosoph und intime Kenner der Kritischen Theorie, Günter Figal, hervorhebt, »radikal neue Gestaltungsmöglichkeiten«. Bei einem radikal durchorganisierten Kunstwerk, so Figal, »verliert die organisierende Rationalität gleichsam die Kontrolle über das Resultat; das ganz und gar Neue […] ist inkommensurabel« (Figal 1998: 30). Hierin gründet der von Adorno jedem authentischen Kunstwerk zugeschriebene »Rätselcha-
3. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung
rakter«. Sah er doch die Gestalt aller künstlerischen Utopie darin: »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.« (GS 16, S. 540). Anders als Max Weber vermag Adorno so aus einer rein ästhetischen Perspektive das Phänomen der Rationalisierung in der Kunst zu erklären. Authentische Kunstwerke zeichnen sich Adorno zufolge einerseits durch die »der Kunst immanente Dialektik von Rationalität und Mimesis«, andererseits durch eine »fortschreitende Materialbeherrschung« aus. Mit Letzterem hat Adorno eine seiner umstrittensten Thesen zur Kunst formuliert. Als Material ist der historisch erreichte Stand künstlerischer Techniken zu verstehen; in ihm sind geschichtliche Erfahrungen sedimentiert, und nur der Künstler handelt materialgerecht, der »das geschichtlich Fällige und das unwiederbringlich Veraltete im Material selbst zu unterscheiden vermag« (GS 10.1: 299): »Nicht anders als im Vollzug technischer Gesetzmäßigkeiten ist darüber zu urteilen, ob ein Kunstwerk sinnvoll sei oder nicht« (ebd., S. 300). Der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte spiegelt sich für Adorno in den technischen Prozessen in der Kunst. So erscheint ihm die fortschreitende Rationalisierung in der Musik als sublimierte Manifestation der Arbeitsprozesse, die sich seit der Manufakturperiode durchgesetzt haben. Immanent gehorcht die »Konfiguration der Elemente des Kunstwerks zu dessen Ganzem […] Gesetzen, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind« (GS 7: 350). Die Eigengesetzlichkeit des Materials versetzt den Künstler in eine »Hebammenfunktion« (Michel 1980: 53), die Vorstellung vom Künstler als genialem Schöpfer wertet Adorno als eine Herabsetzung des Kunstwerks. Da Kunstwerke ihrem Formgesetz folgen, dünkt ihm der Künstler nicht als Kreator, sondern als Exekutor der künstlerischen Produktion; er ist bloßes »Vollzugsorgan«, das eine immanente Gesetzlichkeit realisiert, die das künstlerische Material ihm gebietet. Er ist gleichsam »verlängertes Werkzeug« des »Übergangs von der Potentialität zur Aktualität« (GS 7: 249). Doch gleichzeitig bildet das Kunstwerk die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen es sich verdankt, nicht nur ab, sondern nimmt eine kritische Haltung zu ihnen ein, indem es sich auf die Seite der beherrschten Natur schlägt. In der »Ästhetischen Theorie« schreibt er: »Kunst hat inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie als das Andere, vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene« (GS 7: 461). Jenseits der technischkonstruktiven Aspekte, die der Rationalitätsbegriff transportiert, betrachtet Adorno das Kunstwerk, ähnlich wie Weber, im Lichte der Erlösung und gesell-
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schaftlichen Utopie. Der zentrale Gedanke ist für ihn dabei die Versöhnung mit der Natur, auf die auch Albrecht Wellmer verweist: »Das Kunstwerk, als Nachahmung des Naturschönen, wird so zum Bild einer beredten, aus ihrer Stummheit befreiten, einer erlösten Natur, ebenso wie zum Bild einer versöhnten Menschheit.« (Wellmer 1983: 144) Das Kunstwerk setzt die »verdrängte Natur« in ihr Recht. Mit Stendhal sieht Adorno im authentischen Kunstwerk eine Promesse du bonheur. Zur wahren ästhetischen Erfahrung, heißt es in einer seiner frühen Ästhetik-Vorlesungen, gehöre die Selbstvergessenheit, das Aufgehen im Kunstwerk. Die Identifikation des rezipierenden Subjekts mit dem Kunstwerk sei die, dass es das Kunstwerk nicht sich, sondern dass es sich dem Kunstwerk gleichmache. Darin bestehe ästhetische Sublimierung. Diese »Entäußerung« sei das Gegenteil des »spießbürgerlichen Verlangens, dass das Kunstwerk ihm etwas gebe« (GS 7: 33). Den »Kunstgenuss« erklärt Adorno für banausisch, vielmehr bestehe das Glück, das Kunstwerke vermitteln, im »Überwältigtwerden«, in »Augenblicken, in denen das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung« (Adorno 2009: 197). Das »sinnliche Glück« bewahre die Kunst auch in den ästhetischen Formen von heute, in den Dissonanzen, die »Schmerz und Glück in eins« (ebd.: 67) seien. Die »dissonierendsten Akkorde« können so gesetzt werden, dass sie ein »Moment des sinnlich Lockenden, des Glückvollen haben« (ebd.).
Erlösungsmedien: Kunst und Eros Mit kritischer Verve und theoretischer Finesse durchbrechen die beiden Analytiker Adorno und Weber den hermetischen Kordon der instrumentellen Rationalität, den der Kapitalismus und die verwaltete Welt um die Lebenswelt schnüren – in der andersartigen und »guten«, ästhetisch-expressiv gewendeten Rationalität der Kunst sehen sie eine Erlösung aus den »kalten Skeletthänden rationaler Ordnung« (Weber) und eine gesellschaftliche Utopie der »Versöhnung mit der Natur« und dem »Nichtidentischen« (Adorno). Was für Weber die Befreiung aus den rationalen Fesseln des Berufsalltags ist, bedeutet für Adorno die glückvolle Selbstvergessenheit durchs Eingedenken der Natur im Subjekt. Doch ist es nicht allein die Kunst, die glückvolle Selbstvergessenheit verspricht. Sowohl für Weber als auch für Adorno gibt es nämlich noch ein zweites Erlösungsmedium, das – mit einer ähnlich befreiend-utopischen Gewalt –
3. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung
die Fesseln der instrumentellen Rationalität zu sprengen vermag: die Erotik. Ja, mehr noch als in der Kunst findet Weber in der Erotik eine Quelle außeralltäglicher, ekstatischer Zustände. In der berühmten Zwischenbetrachtung seiner religionssoziologischen Aufsätze steigert er sich geradezu zum Hymnus auf die körperliche Liebe, die den Liebenden in überwältigender »Einswerdung« der »Stumpfheit des Alltags« entrinnen lässt (Weber 1963: 560f.).1 Und auch für Adorno sind Erotik, Liebe und Sexualität zentrale Topoi, die er den gesellschaftlichen Antagonismen entgegensetzt. Schroff stellt er die Liebe in ihrer unverstümmelten Gestalt als selbstvergessene der nurmehr so genannten Liebe als Tausch- und Besitzverhältnis gegenüber. Liebe, die »im weitesten Sinn die einzig vorstellbare Form des Göttlichen zwischen Ich und Du« sei (GS 11: 621), könne die Gesellschaft nicht dulden, weshalb sie sie dem Reich ihrer Zwecke unterwerfe (GS 11: 210). Liebe könne nur als Resistenz gegen das Bestehende noch Liebe sein (GS 8: 38). Die »Spontaneität, an der Liebe ihre Idee hat« (GS 11: 212), ist das Siegel ihres mimetischen Vollzugs; in der geschlechtlichen Vereinigung entdeckt er die »Idee des Glücks« (GS 4: 246). Der revidierten Psychoanalyse liest er dagegen die Leviten, weil sie Liebe als Tauschverhältnis begreife und Formen, die mit dem Realitätsprinzip unvereinbar seien, als pathogen denunziere (GS 8: 39).2 Zweifelsohne mag in diesen Überlegungen zugleich ein gutes Maß an Sehnsucht am Werk sein. Doch taugen sie deshalb nicht weniger als Beleg dafür, worin Weber und Adorno übereinstimmten: dass auch in der rationalisierten, nur vermeintlich total verwalteten Welt die Suche nach Enklaven der Wiederverzauberung und der Mimesis kein Ende findet. Und dass sie nicht aufhört, ihren Subjekten wenigstens Momente innerweltlicher Erlösung in Aussicht zu stellen.
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Man kann darin eine Eloge auf die leidenschaftlichen Liebesbeziehungen lesen, die Weber in seinen letzten Lebensjahren zur Pianistin Mina Tobler und zu Else von Richthofen (verheiratete Jaffé) pflegte (vgl. den Bericht von Webers Biografen Joachim Radkau 2005: 795ff.). Auch über Adornos private Liebesverhältnisse gäbe es einiges Aufschlussreiches zu berichten (vgl. etwa die Affäre mit Arlette, s. Hartwig 2012), aber da sie weitgehend im Einklang stehen mit seinem offenen Eintreten für ein unreglementiertes Glück und seiner hedonistischen Utopie, besteht zum eigenen Verhaltensanspruch eine geringere Fallhöhe als bei dem im Kaiserreich sozialisierten Bürgersohn aus protestantischem Hause.
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4. Adornos ambivalente Heine-Rezeption
Als Adorno in den frühen Nachkriegsjahren der Bundesrepublik Deutschland sich mit Heinrich Heine beschäftigte, war dessen »ästhetischer Status in der deutschen literarischen Tradition keineswegs gesichert« (Hohendahl 2011: 192). Dass damals noch sein Name »ein Ärgernis« (Adorno 1958: 144) war, lässt sich einer offiziellen Würdigung zu seinem 100. Todestag am 17. Februar 1956 entnehmen. In einem Bulletin des Presse- und Informationsamtes verlautbarte die Bundesregierung: »Dieser Mann hat so vieles geschrieben, was man, von welchem Standpunkt auch immer, unmöglich billigen kann, dass es in der Tat Schwierigkeiten bereitet, vor den Augen der uns gerade jetzt ironisch aufmerksam betrachtenden Welt das allzu Abscheuliche taktvoll zu übersehen und das Großartige und Schöne um so lauter zu loben« (zitiert nach Kleinknecht 1976: 151).1 Zwei kürzere Arbeiten hat Adorno in jenen Jahren über Heinrich Heine geschrieben: die bekanntere, »Die Wunde Heine«,2 ein Rundfunkvortrag zu Heines 100. Todestag aus dem Jahr 1956 wurde in dem Band »Noten zur Literatur I« (1958) aufgenommen; die ältere, »Toward a Reappraisal of Heine«, ursprünglich ein Vortrag an der University of California in Los Angeles im Dezember 1948, liegt nur in Englisch vor und wurde erst 1986 posthum in den »Gesammelten Schriften« (Band 20.2: 441-452) veröffentlicht. Adornos Heine-Rezeption erfolgte im Schatten von Karl Kraus’ harschem Verdikt über Heinrich Heine. In beiden seiner Aufsätze über Heine bezieht Adorno sich jedenfalls explizit auf den Wiener Sprachkritiker, implizit auf
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Chef des Bundespresseamtes war damals Felix von Eckart mit einer einschlägigen Nazivergangenheit im Filmgeschäft. Der Titel ist für die gesamte (spätere) Wirkungsgeschichte »längst zur geflügelten Signatur geworden« (Goltschnigg 2000: 22).
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dessen Schrift »Heine und die Folgen«. Böse gesagt, erweist er sich hier, im Hinblick auf Kraus, als eine autoritätsgebundene Person.3 Karl Kraus, der einen jahrzehntelangen Kampf gegen den journalistischen Feuilletonismus der Wiener Tagespresse, namentlich der »Neuen Freien Presse«, führte, kreidet Heine in einer Schrift, die er 1910 als Broschüre im Münchner Albert Langen Verlag publizierte, die Urheberschaft des modernen Journalismus an. »Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat« (Kraus 1960: 189), formuliert er apodiktisch und bezichtigt Heine, »der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert« zu haben, dass »heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können« (ebd.: 193). Seine Lyrik sei nur »skandierter Journalismus, der den Leser über seine Stimmungen auf dem Laufenden hält« (ebd.: 202). Und weiter heißt es: »Heine war nur der Draufgänger der Sprache; nie hat er die Augen vor ihr niedergeschlagen« (ebd.: 212). Irritierend an Kraus’ Schrift, die als ein Pamphlet daherkommt, sind zudem die Invektiven gegen das »Romanische« und die französische Sprache – sie gebe sich »jedem Filou hin« (ebd.: 189). Dass sie zudem nicht frei von antisemitischen Untertönen ist, belegt Paul Peters (1997: 119ff.) mit zahlreichen Wendungen, nicht ohne Verweis auf den »jüdischen Selbsthass«, dem auch Kraus trotz vehementen Leugnens erlegen sei.4 Wie Dietmar Goltschnigg mit unzähligen Zitaten aus Kraus’ gesamtem Schrifttum belegt, projiziert er sein eigenes Judentum auf den geistesverwandten Rivalen, um seine zeitlebens forcierte Assimilation zu vollenden; er praktizierte »seine totale Assimilation, das heißt seine radikale ›Entjudung‹ […] durch seine polemische Publizistik, die eines ihrer meisstgehassten Feindbilder in Heinrich Heine fand« (2000: 39). Wie anders dagegen urteilt Friedrich Nietzsche in »Ecce Homo« über Heine: »Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag […]. – Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten 3 4
Zu den bekannteren Arbeiten Adornos gehört die in der amerikanischen Emigration erschienene Publikation »The Authoritarian Personality« (1950). In seinem Buch »Der jüdische Selbsthaß« (1930) charakterisierte Theodor Lessing »den Wiener Juden Karl Kraus als ›das leuchtendste Beispiel‹ dieses sozialpsychologischen Problems« (Goltschnigg 2000: 38).
4. Adornos ambivalente Heine-Rezeption
Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, was bloße Deutsche mit ihr gemacht haben« (Nietzsche 1987: 1088f.). In der »Götzen-Dämmerung« stellt er ihn gar als »mitzählenden Geist« (ebd.: 986) neben Goethe, Hegel und Schopenhauer. Das versetzte den unerbittlichen Sprachkritiker Kraus in arge Verlegenheit, aus der er sich mit der Aussage entwindet, dass die Identifikation mit Heine auf Nietzsches »Kleinheitswahn« (Kraus 1960: 211) und seinem »Hass gegen Deutschland […], der jeden Bundesgenossen annimmt«, zurückzuführen sei. Dass diese nicht zu den einzigen Missdeutungen von Kraus zählt, zeigt sein nachstehender, Heines Schriften herabwürdigender Vergleich: »Wenn nach Iphigeniens Bitte um ein holdes Wort des Abschieds der König ›Lebt wohl‹ sagt, so ist es, als ob zum erstenmal in der Welt Abschied genommen würde, und solches ›Lebt wohl‹ wiegt das Buch der Lieder auf und hundert Seiten von Heines Prosa« (Kraus 1960: 213). Auch ließe sich die Kraussche Methode, seine Gegner durch deren wörtliche Zitierung selbst bloßzustellen, heute unschwer gegen ihn selbst anwenden, etwa mit den beiden folgenden Zitaten: »Gewiss hätte Heine sich um Deutschland verdienter gemacht, wenn er ein unfehlbares Mittel gegen Schweißfüße erfunden hätte« (zitiert nach Goldschnigg 2000: 142). »Was da in Wien geistig herumkrabbelt, davon lasse ich mir wirklich nicht die Ferse jucken. Es sind Läuse im deutschen Blätterwald oder, wenn’s hoch geht, Wanzen aus Heines Matratzengruft« (ebd.: 152). Die beiden Heine-Essays Adornos differieren in einigen nicht unwichtigen Aspekten. Nach Beurteilung von Ulrich Plass (2007: 122) bietet Adorno in der ersten Abhandlung eine wesentlich vorsichtigere und ausgewogenere Einschätzung Heines (»a much more cautious and balanced understanding«) als in der zweiten. Zurückzuführen sind die Unterschiede auf das ungleiche Publikum, an die die ursprünglichen Vorträge adressiert waren, und auf die andersartigen politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen sie entstanden (Goetschel 2019: 97, 104f.). Der ältere Text, bisher weitgehend ignoriert, richtete sich an ein amerikanisches Publikum und entstand in einer Zeit, als Adorno seine erste Publikation im Nachkriegsdeutschland, »Philo-
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sophie der neuen Musik«, vorbereitete. Die darin eine zentrale Rolle einnehmende Dissonanz estimierte Adorno wiederum an Heines »dissonanter Ästhetik« (Goetschel 2019: 89, Anm. 23). Dabei ging Adorno sogar so weit, Heines als den »first modern German poet« (GS 20.2: 448) zu bezeichnen, der auf den Konflikt nicht nur mit der äußeren Welt, sondern in ihm selbst hinzuweisen und von ihm Zeugnis zu geben versuchte, »through every nuance of his form« (ebd.). Der spätere Text hingegen richtete sich an ein deutsches Publikum, das seinen Frieden mit Heine noch nicht gemacht hatte,5 und wirft auf Heines Modernität ein zwiespältigeres Licht. Am Rande sei vermerkt, dass sich in beiden Texten die Aussage findet, dass in der Nazizeit Heines Loreley-Gedicht mit dem Vermerk »Dichter unbekannt« in Schulbüchern und Anthologien abgedruckt worden sei. Für diese weitverbreitete Legende fand sich bisher jedoch keine Quelle (Kortländer 2006: 60; Oesterhelt 2011). Zwar gab es durchaus anonyme Publikationen des Gedichtes, aber wohl keine mit diesem Vermerk. Eine plausible Erklärung dafür liefert der Literaturwissenschaftler Hartmut Steinecke: Da das Gedicht zu sehr bekannt war, hätte man sich mit einer solchen Kennzeichnung lächerlich gemacht (Steinecke 2008: 192). Zu des Lesers großer Verwunderung muss er gleich zu Beginn des deutschen Textes eine Verbeugung Adornos vor Autoritäten – wörtlich: vor den »geistig Verantwortlichen« – zur Kenntnis nehmen. Bei ihnen sei Heine um 1900 »in Verruf« geraten (Adorno 1958: 144). Gemeint sind ihm zufolge neben dem George-Kreis6 namentlich Karl Kraus. Sei auch das Urteil des ersteren einem kulturellen Nationalismus zuzuschreiben, lasse sich jedoch das Kraussche Verdikt »nicht auslöschen« (ebd.). Seitdem sei »die Aura Heines peinlich, schuldhaft, als blutete sie« (ebd.: 145). Schuldhaft (!): In der Folge des erfolgreichen »Buchs der Lieder« sei »die Lyrik in die Sprache von Zeitung und Kommerz« (ebd.: 144) herabgezogen worden. Damit stimmt nun Adorno in puncto Lyrik voll dem Krausschen Verdikt zu. Dieses lasse sich nur umgehen, wenn man »sich auf den Prosaschriftsteller beschränkt«, dessen Rang »in die Augen springt« und einen »unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt« (ebd.: 145). »Die Wunde jedoch ist Heines Lyrik« (ebd.: 146), die er an den Markt verraten habe und die mit der Massenproduktion flirte, wie es in dem englischen Text heißt (GS 20.2: 450). »Ware und Tausch bemächtigten sich in Heine des Lauts, der zuvor sein Wesen hatte an der Negation des 5 6
Erinnert sei an die eingangs zitierte Verlautbarung des Bundespresseamtes. Bei Adorno: »Georgeschule«.
4. Adornos ambivalente Heine-Rezeption
Treibens« (Adorno 1958: 147). Immerhin hält ihm Adorno zugute, dass er »das eigene Ungenügen«, die »Unzulänglichkeit seines Worts« benutzt, um auf den eigenen »Bruch« (ebd.: 150) zu verweisen. Mit der Zweiteilung des Heineschen Werkes in Lyrik und kritische Prosa folgt Adorno einer Tradition der Germanisten der Weimarer Republik, freilich mit umgekehrter Wertschätzung. Bei diesen fand, laut Goetschel, Heine »welcome inclusion in the German literary canon only as poet of pleasingly soothing lyric poetry«, während »his prose and political lyrics […] were excluded« Goetschel 2019: 17). Für die im Titel des englischsprachigen Textes angekündigte »Neubewertung« (Reappraisal) sprechen Goetschel zufolge die an Heines Dichtung gerühmte Modernität, die sich in dessen dissonanter Ästhetik ausdrücke, welcher auch Adorno Beifall zollte, sowie die literatursoziologischen Anmerkungen im Kontext der frühen Industrialisierung, der Urbanisierung und der »commodity culture« im sich entfaltenden Kapitalismus. Andererseits bleibt auch dieser Text mit dem Vorwurf der Inauthentizität der Sprache dem »von Kraus geerbten Mechanismus der Abgrenzung« (Peters 1997: 148) verhaftet. Goltschniggs Versuch, Adorno gegen diesen Vorwurf zu verteidigen, beruht auf der Hervorhebung von Adornos positiven Aussagen über Heines Werk, die es in der Gedenkrede freilich auch gibt (Goltschnigg 2000: 88f.) Wesentlich positiver liest Willi Goetschel den Text aus dem amerikanischen Exil, vornehmlich wegen der darin von Adorno anerkannten Bedeutung Heines für die Kritische Theorie (Goetschel 2019: 35, 97-104). Was die literatursoziologischen Anmerkungen betrifft, verortet Adorno Heine einerseits in der Tradition der deutschen romantischen Poesie, andererseits im Kontext der frühen Industrialisierung, der Urbanisierung und der »commodity culture« im sich entfaltenden Kapitalismus, konstatiert dabei jedoch eine Inkompatibilität »between the industrial era with romanticism« (GS 20.2: 444). Als »first German poet« habe er sich voll und ganz dem Problem gestellt, »how is lyrical poetry possible at all in the sober, cold, desillusioned world of early industrialism« (ebd.: 443). Das Aufkommen von Fabriken und Eisenbahnen habe ein Bild von Deutschland zerstört, wie es noch im Bühnenbild der »Meistersinger« glorifiziert worden sei. Den Widerspruch zwischen romantischem Lied und industrialisierter Welt erfasste Heine unverblümt in einem seiner Aphorismen: »Die höchste Blüte des deutschen Geistes: Philosophie und Lied – Die Zeit ist vorbei, es gehörte dazu die idyllische Ruhe, Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung – der Gedanke ist nicht mehr uneigennützig, in seine
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abstrakte Welt stürzt die rohe Tatsache – der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemütserschüttrung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlendampf verscheucht die Sangesvögel und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht.« (Heine 1993: 336) Wie Baudelaire, dessen »Fleur du Mal« eine vergleichbare Popularität wie Heines »Buch der Lieder« erreichte, rage Heine in die Moderne des neunzehnten Jahrhunderts hinein (Adorno 1958: 147) und teilte mit ihm eine Reihe von Motiven (die Glorifizierung der Lüge, das Phänomen der Masse, den Phantom-Doppelgänger). Aber während Baudelaire, der jüngere, der Moderne selbst, dem unaufhaltsam Zerstörenden und Auflösenden »heroisch Traum und Bild« abzwingt, ja »den Verlust aller Bilder selbst ins Bild« (ebd.) transfiguriert, habe Heine »williger […] sich dem Strom überlassen« (ebd.) und seine »dichterische Technik der Reproduktion, die dem industriellen Zeitalter entsprach, auf die überkommenen romantischen Archetypen angewandt, nicht aber Archetypen der Moderne getroffen« (ebd.: 147f.). Im älteren englischen Text behauptet er hingegen das Gegenteil; »His verses preserve an almost archaic freshness in as much as they summon authentically and for the first time archetypes of the modern world« (GS 20.2: 451). Kann man Adorno ein solch widersprüchliches Urteil einfach durchgehen lassen, ohne leise Zweifel an anderen Aussagen aufkommen zu lassen? Zum Beispiel an der über Heines »assimilatorische« Sprache, dem »glatten sprachlichen Gefüge« (Adorno 1958: 149). Seine von »der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache« (ebd.: 148). Adorno stellt eine Verbindung her zwischen Heines Judentum und seiner unauthentischen lyrischen Sprache. Mit dem Hinweis, dass Heines Mutter »des Deutschen nicht ganz mächtig war« (ebd.:149), lässt er durchblicken, dass der familiäre sprachliche Hintergrund ihn daran hinderte, ganz in der deutschen Sprache heimisch zu werden. Die Annahme eines »natürlichen« Zugangs zur deutschen Dichtersprache hat Peter Uwe Hohendahl als unhaltbar zurückgewiesen. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war die deutsche Hochsprache »ein fast künstliches Gebilde, eine Sprache, die nicht zu Hause gesprochen, sondern in öffentlichen Zusammenhängen benutzt wurde« (Hohendahl 2011: 198). Erst durch schulische Ausbildung musste Heine wie auch Hölderlin und Eichendorff ihren Gebrauch erlernen. »Sie alle beginnen mit dem lokalen Dialekt und dem regionalen Idiom, die sich deutlich von der Literatursprache unterscheiden« (ebd.).
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In einem bleibt Adorno sich indessen treu: in der Anerkennung von Heines eminenter Bedeutung für die Musik. »The history of the German Kunstlied is unthinkable without Heine« (GS 20.2: 141), heißt es kategorisch im englischen Text. Schuberts Vertonungen zählen für ihn zu den kühnsten und avanciertesten der späten Romantik (ebd.). Und Adorno wäre nicht der Dialektiker, der seinem Ruf vorauseilt, schlösse er seinen Essay nicht unerwartet mit einem ergreifenden Gedicht – »Mein Herz, mein Herz, ist traurig« – aus jenem zuvor inkriminierten »Buch der Lieder«. Die darin zum Ausdruck kommende Heimatlosigkeit Heines sei heute die Heimatlosigkeit aller geworden. Daher werde sich die Wunde Heines erst schließen in einer Welt »der real befreiten Menschheit«, das heißt »in einer Gesellschaft, welche die Versöhnung vollbrachte« (Adorno 1958: 152). Wie anders dagegen rezipierte Adornos jüngerer confrère, Jürgen Habermas, Heine! Ihm zufolge habe Kraus »zu Unrecht […] die Spannung zwischen Journalismus und Poesie« (Habermas 2013: 191) bei Heine beklagt. Was Heines Dichtung auszeichne, sei »die Verbindung des polemischen Bewusstseins eines politischen Schriftstellers mit dem Wahrheitspathos des empfindsamen Lyrikers, der sich zum unbestechlichen Seismographen der eigenen Regungen macht« (ebd.). Als »erster großer Zeitschriftsteller« (ebd.), der sich bewusst war, in einer »neuen Zeit« zu leben, habe er einerseits literarische Gattungen innovativ umgeformt, die in Briefen, Reisebildern, Salonberichten und Geständnissen ihren Niederschlag fanden, und andererseits lyrische Formen mit Parteinahmen zu Zeitgedichten aufgeladen (ebd.). Die Differenzen zwischen Adornos und Habermas’ Rezeption sind sicherlich auch dem zeitlichen Abstand geschuldet. Adornos Essay entstand in einer Zeit, als Heines literaturgeschichtlicher Status noch umstritten war, während Habermas es mit einem bereits kanonisierten Heine zu tun hat. Erstaunlich ist jedoch, dass Adornos Urteil eher einem traditionellen ästhetischen Kontext verpflichtet bleibt, während Habermas das Neue und schöpferisch Originelle in Heines Dichtung zu entdecken vermag und der »außerordentlichen ästhetischen Vielfalt des Heineschen Œuvre« (Höhn 2004: VIII) gerecht wird. Darin stimmt Habermas mit der avancierten Heine-Forschung überein. Der Germanist Peter Stein beispielsweise sieht in Heine einen »Beiträger der ›Urgeschichte der Moderne‹«, in der »von Anfang an Revolutionierung der ästhetischen Mittel (Technik) und politische Parteilichkeit (Tendenz)« ein spannungsvolles Verhältnis eingingen (Stein 1994: 186, zitiert nach Höhn 2004: 5). Dieser Einschätzung folgt auch eine profunde Untersuchung des im kanadischen Toronto lehrenden Philosophen und Germanisten Willi Goetschel. In
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seinem aktuellen Buch »Heine and Critical Theory« von 2019 argumentiert er, Heines literarisches Projekt »presents a critical exploration of the interplay between prose and poetry, content and form«, deren Fäden er kunstvoll wie ein Webmeister zusammenführe, mit dem Ergebnis: »to give the issues of morals, politics, culture, aesthetics and their intertwined relation provocative expression« (Goetschel 2019: 17f.): Das Besondere des Buches ist jedoch der luzide geführte Nachweis von Heines »seminal role in the formation of Critical Theory« (ebd.: 1). Goetschel postuliert in einer akribisch belegten These folgende Genealogie: Über den prägenden Einfluss auf Sprache, Stil und Denken seiner »aufmerksamsten Leser« – Marx, Nietzsche und Freud –, den »Säulenheiligen« der Kritischen Theorie, wurde Heine »completely incorporated as an inseparable but also indistinguishable part of the project« (ebd.: 87) der Kritischen Theorie. Dieser Zusammenhang wird zwar in Adornos Heine-Lektüre nicht direkt geleugnet, aber durch ihre Ambivalenz zur Unschärfe verzerrt – in bildlicher Analogie: verwischt wie eine Fotoabmalung Gerhard Richters.
5. Rancune oder Adorno teilt aus War Adornos »schöne Zunge« (Günter Grass) auch eine falsche, die seine Freunde und Kollegen schmähte und verunglimpfte?
Das Boshafte, französisch Rancune, war Adorno nicht fremd, obwohl er meist andere dessen bezichtigte. In seinen 20 Bände umfassenden »Gesammelten Schriften« findet man jenes französische Wort allein in 99 Fundstellen. Seine Rancune äußert er meist versteckt gegen vermeintliche Freunde, vorwiegend in seiner Korrespondenz mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. In diesem Briefwechsel1 stößt man auf manche befremdende Stelle über den menschlichen und wissenschaftlichen Umgangsstil, mit dem Adorno sich über seinen Mentor Siegfried Kracauer und seine engeren Institutskollegen wie Herbert Marcuse, Erich Fromm, Leo Löwenthal ausließ und sie beim mächtigen Institutsdirektor Max Horkheimer regelrecht »anschwärzte«. Aber auch andere, mit denen er kollegialen und freundschaftlichen Umgang pflegte, hatte er »auf dem Kieker«. In keiner Weise soll Adornos säkulares Œuvre geschmälert werden, wenn im Folgenden am Beispiel von einigen Betroffenen protokolliert wird, was als eine der dunklen Seiten dieses »letzten Genies« (Claussen 2003) zu bezeichnen wäre. Sie zur Kenntnis zu nehmen, heißt: der hagiographischen Versuchung zu widerstehen, dem Genie die hässlichen Seiten zu amputieren. Sie gehören zu ihm wie die Intrige, der Freundesverrat, die »schlechten Tischmanieren«2 oder die Blähungen, welche Thomas Mann noch für bemerkenswert genug hielt, um sie seinem Tagebuch anzuvertrauen. 1 2
Aus dem Briefwechsel wird mit Siglen zitiert; s. Siglenverzeichnis im Anhang. Von diesen berichtete der Chef des Grandhotels Waldhaus in Sils Maria, in dem Adorno mit seiner Frau häufig zu Gast war. S. Süddeutsche Zeitung vom 31. Dezember 2020/1. Januar 2021, S. 42.
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1.
Siegfried Kracauer – »sollte man entmündigen«
Siegfried Kracauer (1889-1966) war in der Weimarer Republik ein bedeutender Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung«, der neben seinem Architekturstudium philosophische Vorlesungen u.a. bei Georg Simmel, gehört hatte und dadurch für Philosophie und Soziologie aufgeschlossen wurde; als Autor erfolgreicher fiktionaler (»Ginster«, »George«), soziologischer (»Die Angestellten«, »Das Ornament der Masse«) und kinomatographischer Werke (»Von Caligari zu Hitler«, »Theorie des Films«) hat er ein bedeutendes Œuvre hinterlassen. Kracauer wurde während Adornos Schülerzeit dessen 14 Jahre älterer Freund und Mentor. Über Jahre hinweg lasen sie an Samstagnachmittagen gemeinsam Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Nach Adornos Selbstzeugnis war diese Erfahrung für ihn prägend: »Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern« (GS 11: 388). Anfänglich hatte diese Beziehung auch eine homoerotische Seite. Im Brief vom 5. April 1923 (mit Briefkopf »Frankfurter Zeitung«), dem ersten im gemeinsamen Briefwechsel, klagt Kracauer »meinem lieben Teddie«: »Ich fühlte in diesen beiden Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu Dir, dass es mir jetzt so vorkommt, als könnte ich allein gar nicht bestehen«. Und weiter: »ich weiß nicht, ob man so lieben darf«; gar als »Sünde, brennende Sünde« (A/K: 9f.) findet er ihr Verhältnis. Seinem ebenfalls bedeutend jüngerem Freund Leo Löwenthal gestand er im Brief vom 12. April 1924: »Weißt Du, ich glaube, dass ich eine unnatürliche Leidenschaft für diesen Menschen empfinde, die ich mir nur so erklären kann, dass ich eben geistig doch homosexuell bin. Könnte ich sonst so an ihn denken und so unter ihm leiden wie ein Liebender an der Geliebten?« (K/L: 54) In dem autobiographischen Roman »Georg« schildert Kracauer die Liebe des Ich-Erzählers zu einem Jüngling, in dessen Zügen unschwer der junge Adorno erkennbar ist. Im Spätsommer 1925 unternahmen Kracauer und Adorno eine gemeinsame Reise in die Dolomiten und nach Neapel, bei der es wohl zu ähnlichen intimen homoerotischen Szenen kam wie die in dem Roman geschilderten. Zwei markante Auseinandersetzungen aus ihrem späteren Leben seien hier herausgegriffen.
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1. Während der Emigration veröffentlichte der vielseitige Kracauer 1937, unter äußerster materieller Not, ein Buch über Jacques Offenbach, das bei seinen engeren Freunden (Adorno, Benjamin, Bloch) auf heftigste Kritik stieß. Der Musiktheoretiker Adorno kritisiert die Studie nicht nur in der Korrespondenz mit dem befreundeten Autor, sondern lässt sich über sie auch im Briefwechsel mit Horkheimer und Benjamin aus. Zudem rezensierte er sie in der »Zeitschrift für Sozialforschung«. In einem umfangreichen Brief an Kracauer, der in der vorliegenden Druckfassung acht Seiten umfasst, formuliert Adorno seine scharfe Kritik. Zwar konzediert er, dass das Buch »in einer Periode der akuten Not entstanden ist« (A/K: 352), aber das Buch sei keine »bloße Brotarbeit«, sondern trete mit Anspruch auf (ebd.: 353). Nicht nur wirft er ihm beckmesserisch zahlreiche musiktechnische Fehler vor, findet auch die Musik »in der allgemeinsten Weise charakterisiert und oft in einer Trivialität, die erschrecken macht« (ebd.). Als konformistisch und mit »Altherrenhumor« wertet er die Beschreibung der erotischen Sphäre; »es ist, als wolltest Du Dich schadlos halten für alle Banalitäten, die Du seit 20 Jahren zu sagen Dich nicht mehr getrautest« (ebd.: 358). Gegen Ende der langen Philippika versichert er ihm: »Ich greife Dich an, um Dich gegen Dich zu verteidigen, gegen eine Resignation, für die Du zu schade bist, und um an Deinen eigentlichen Ehrgeiz zu appellieren, an dem meiner sich geschult hat« (ebd.: 359). In der weniger scharf formulierten Rezension spießt er den verfehlten Anspruch einer »Gesellschaftsbiographie« auf, indem er die Studie in die Nähe einer »individualisierenden Roman-Biographik« (Adorno 1937: 698) rückt, und gibt Hinweise, »wie man etwa eine gesellschaftliche Analyse der Offenbachschen Musik ansetzen könnte« (ebd.). Die Kritik, die er Kracauer übermittelt und die er öffentlich äußert, ist das eine, das andere sind die bösartigen Kommentare, die er Benjamin und Horkheimer zukommen lässt. Noch vor dem Brief an Kracauer schrieb er am 4. Mai 1937 an Benjamin und lamentiert über die »unverschämte und dämliche Vorrede«, in der das Buch als »Gesellschaftsbiographie« avisiert werde (A/B: 241). Wenn Kracauer »wirklich mit diesem Buch sich identifiziert, hat er sich aus der Zahl der irgend ernst zu Nehmenden definitiv gestrichen, und ich überlege sehr ernstlich, ob ich nicht die Beziehungen zu ihm abzubrechen habe« (ebd.). Die von ihm zur Sprache gebrachte gemeinsame Aktion mit Benjamin und Bloch wird nicht näher beschrieben. Dachte er an die bereits am 12. Oktober 1936 in einem Brief an Horkheimer erhobene Forderung: »man müsste
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ihn ›entmündigen‹«? Die Antwort Horkheimers lässt darauf schließen: »Dass Kracauer verrückt ist, tut mir aufrichtig leid« (A/H I: 247). 2. Den Anlass zu der zweiten persönlichen Auseinandersetzung ergab Adornos Essay »Der wunderliche Realist«, ein Rundfunkvortrag von 1964 anlässlich des 75. Geburtstages von Kracauer. Darüber kam es zu einem denkwürdigen Disput zwischen beiden. Nach 1960 war es zu einer »Renaissance der Freundschaft zwischen Kracauer und Adorno« gekommen (Später 2016: 558). Adorno hatte sich für die Veröffentlichung von Kracauers früherem und aktuellem Werk erfolgreich bei Siegfried Unseld verwendet, das auch nach und nach bei Suhrkamp erschien. Aus Dankbarkeit versah Kracauer seinen Essayband »Das Ornament der Masse« (den Titel hatte Adorno vorgeschlagen) mit der Widmung: »Für Theodor W. Adorno«. Doch die Freundschaft stand, wie Kracauers Biograph, Jörg Später, schreibt, »auf einem unsicheren Grund« (ebd.). Dass Adorno Kracauers Lebenswerk sehr kritisch sah, verbarg er nach dem Wiederaufleben des Kontakts zunächst; an Ernst Bloch schrieb er schon 1962: Mit Friedel könne er »über die ernsten Dinge kaum mehr reden, nicht nur weil er einen Panzer hat, als ob Narzissmus Jung-Siegfried wäre, sondern auch weil er im Gedanken an das Lindenblatt, mein eigenes Zeug a priori so sehr lobt, dass ich mich schon gar nicht mehr getrauen kann, etwas über das seine zu sagen. Aber dies natürlich strikt nur unter uns beiden« (zit.n. Claussen 2003: 407). Nachdem Adorno seinen Rundfunkvortrag in der Kulturzeitschrift »Neue Deutsche Hefte« (September/Oktober 1964) veröffentlicht hatte, schickte er einen Sonderdruck an Kracauer mit der handschriftlichen Widmung: »Meinem lieben Friedel als verspätete Gabe zu einem verschwiegenen Datum von seinem Teddie« (A/K: 671). Kracauer reagierte darauf mit zwei Briefen. Im ersten vom 15. Oktober 1964, geschrieben nach einer offensichtlich noch flüchtigen Lektüre, bedankte er sich und stellte eine Antwort mit Richtigstellungen in Aussicht; im zweiten vom 3. November korrigiert er etliche Einzelheiten und weist entscheiden die ihm unterstellte »Strategie der Anpassung« zurück. Eingepackt mit viel Verständnis für die Lage der Emigranten, die unter dem Zwang, »sich einzugliedern« standen, hatte Adorno eine Wende Kracauers von seiner früheren »sozialkritischen Phase« zu einer der Anpassung thematisiert. Noch vor seiner Berliner Zeit, also vor der faschistischen Machtübernahme, habe Kracauer quasi mit »einem Entschluss […], die Leidensfähigkeit sich verboten«, und »gelobt hätte, glücklich zu sein« (GS 11: 402). Wenn
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seine Anpassung auch immer etwas von List hatte, sei sie doch erfolgreich gewesen, zumal in den USA, wo er »überraschend reüssierte« (GS 11: 403). Diesen, in den für Adorno eigenen feinsinnigen Sprachgirlanden verpackten Vorwurf wies Kracauer in seinem zweiten Brief entschieden zurück. Pikant an Adornos Insinuation, Kracauers Erfolg sei seiner konformistischen Anpassung zu verdanken, ist, dass er im ersten Antwortbrief vom 28. Oktober 1964 die große Resonanz seiner Vortragsankündigung in Wien (»der berühmte Redoutensaal […] war so überfüllt, dass man dreihundert Leute wegschicken musste« (A/K: 674)) mit dem Hinweis versah, »dass man gerade, wenn man so unerbittlich jeder Wirkung ausweicht wie ich, dadurch eine gewisse Wirkung erlangt, dass viele Menschen offenbar dadurch Vertrauen zu einem gewinnen, dass sie ganz sicher sein können, dass man ihnen weder etwas aufschwätzen noch sich selber verkaufen will« (ebd.) – worauf er sich, selbstredend, »nichts einbilde« (ebd.). Ganz der Dialektiker: konsequenter Nichtanpassung bleibt der Erfolg nicht versagt! Dass Adornos seine kritischen Anmerkungen mit überlegtem Kalkül, gleichsam subkutan applizierte, entlarvt sein Hinweis, den er Horkheimer mit der Zusendung der Druckfassung der »kleinen Arbeit« zukommen ließ; »Jedenfalls bist Du der einzige, der sie verstehen kann. Sie ist recht hintersinnig, bezieht sich in dem, was über K. negativ gesagt ist, indirekt, positiv auf uns, Dich und mich« (A/H IV: 730f.; Hervorh. WMJ). Nach Kracauers Tod (1966) schreibt Adornos einen Nachruf, in dem die intellektuellen Leistungen Kracauers überschwängliches Lob finden; die verhaltene Kritik geht darin nahezu unter. So vermerkt er, dass in dem »großen Werk über die Theorie des Films« der Gesichtspunkt der »Gedankenkontrolle und ideologischen Beherrschung […] merkwürdig zurücktritt« (GS 20.1: 195), und dass der »Übergang zu Deskriptionen und zum Erzählenden in vielen seiner späteren wissenschaftlichen Arbeiten« (ebd.: 196) nicht zufällig war. An Horkheimer schreibt er: »nun er tot ist, tritt doch, was ich ihm verdankte, gegenüber den späteren – schon früh eintretenden – Greueln sehr in den Vordergrund« (A/H IV: 782). Und als er Horkheimer seine frühere briefliche Kritik am »Offenbach«-Buch geschickt hatte, antwortete dieser, dass Adorno heute wohl »persönlich um einiges freundlicher« schreiben würde, »denn trotz allem Konformismus gehörte Kracauer schließlich nicht zu unseren Feinden« (A/H IV: 819).
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Erich Fromm – »eine wirkliche Bedrohung der Linie der Zeitschrift«
Erich Fromm (1900-1980) wurde nach einem Studium der Rechtswissenschaften und Soziologie (mit Promotion bei Alfred Weber) und einer Ausbildung zum Psychoanalytiker ab 1930 Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Instituts für Sozialforschung und nahm mit grundlegenden Arbeiten eine maßgebliche Rolle für die frühe Entwicklung des Forschungsprogramms des Instituts ein. In Aufsätzen in der »Zeitschrift für Sozialforschung« und für die Kollektivarbeit des Instituts, »Autorität und Familie«, führte er das Konzept des »autoritären Charakters« ein, als Synonym für den »sado-masochistischen Charakter«. Schon früh lehnte Adorno gegenüber Horkheimer und mit Bezugnahme auf Wilhelm Reich die »Übertragung der individuellen Psychologie auf die Sozialtheorie« durch Fromm ab (A/H I: 42). An Walter Benjamin berichtete er am 2. Juli 1937 über eine äußerst angenehme Institutsatmosphäre. Aber: »Eine wirkliche Schwierigkeit für uns (Max und mich zumal) bildet bloß der Frommsche Revisionismus mit seiner Neigung zur Faktionsbildung« (A/ B: 259). Gegen Fromms Aufsatz »Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie« (1935) in der »Zeitschrift für Sozialforschung« fuhr er scharfe Geschütze auf (A/H I: 129f.). Er kanzelte Fromms Beitrag als »sentimental und falsch« ab, denunzierte ihn als »eine Mischung aus Sozialdemokratie und Anarchismus«. Überhaupt mangele es ihm an »dialektischem Begriff« (ebd.). Und nachdem er ihm »das läppische Argument vom ›Mangel an Güte‹« (ebd.) nicht durchgehen lassen wollte, hielt er ihm vor, dass er es sich mit dem Begriff der Autorität viel zu leicht mache, »ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten Lenin zu lesen« (ebd.). Unverblümt lässt er Horkheimer wissen, »dass ich in dieser Arbeit eine wirkliche Bedrohung der Linie der Zeitschrift sehe« (A/H I: 130). Adorno und Lenin! Nur erstaunt kann man heute zur Kenntnis nehmen, solches aus Adornos Feder zu lesen.
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3.
Leo Löwenthal – »man wird ihn nicht los«
Leo Löwenthal (1900-1993) war in seiner Jugend- und Studienzeit mit Fromm, Adorno und mit dem wesentlich älteren Kracauer befreundet. Sein Studium begann er in Frankfurt mit Jurisprudenz, das er gleich wieder aufgab. Stattdessen hörte er in Gießen und Heidelberg Vorlesungen in Philosophie, Germanistik, Altphilologie und Mathematik – »eigentlich alles, außer Medizin« (Löwenthal 1980: 50). Wie bei Fromm »mischten sich bei ihm »Judentum, Sozialismus und Psychoanalyse« (Wiggershaus 1987a: 82). Nach seiner Promotion 1923, mit dem Thema »Die Sozialphilosophie Franz von Baaders«, wurde er 1926 Stipendiat des Instituts für Sozialforschung, 1930 dessen festangestellter Mitarbeiter und leitete von 1932 bis 1941 die Redaktion der »Zeitschrift für Sozialforschung«. In dieser Funktion und in seinem Bemühen – wie zu gleicher Zeit Adorno – sich beim Frankfurter Philosophie-Ordinarius Hans Cornelius zu habilitieren, wurde er von Adorno als ein lästiger Konkurrent wahrgenommen. Zunächst zur Habilitationsgeschichte. Da Cornelius offenbar nur einen habilitieren wollte, schrieb Adorno empört an Kracauer, dass Löwenthals »Wolfsnatur eben wieder ganz obenauf ist« (A/K: 137). »Die Helvetiusarbeit, die er Dir wegschnappte, will er nun benutzen, die Habilitation mir wegzuschnappen« (ebd.). Er habe sich auch schon bei Horkheimer entsprechend »eingeschleimt« (Später 2016: 240). Wie Horkheimer verhielt sich auch Kracauer in dieser Frage neutral. Verbittert warf ihm Adorno diese Haltung in seinem Brief vom 20. Mai 1927 vor: »Diese Neutralität besteht sachlich zunächst insofern zu Unrecht, als sie ohne Hemmung der Raubgier den Weg frei gibt; sie muss ferner nach außen hin, etwa Horkheimer gegenüber, als strikte Stellungnahme gegen mich wirken, da jeder die Enge unserer Beziehung kennt« (A/K: 147). Adornos Bitte, auf Horkheimer zu seinen Gunsten einzuwirken, blieb ohne Erfolg. Nicht genug damit, hatte er das Gefühl, dass Kracauer »mit hämischer Skepsis« zuschaut und »das ganze Theater herum Dir einigen Zuschauerspaß macht, den Du Dir nicht nehmen lassen willst« (A/K: 148). Übrigens scheiterten beide Habilitationen. Beim zweiten Versuch konnte sich Adorno mit der Kierkegaard-Schrift bei Paul Tillich habilitieren, dem er später auch noch wenig Freundliches nachrief. Von längerer Dauer gestaltete sich Adornos Querelle mit Löwenthal über dessen Rolle im Institut. Im November 1934 schrieb er aus Oxford an Horkheimer einen langen Brief, in den er sich um eine offizielle Aufnahme ins Institut bemühte. Offensichtlich wurde ihm keine direkte Zusage im Hinblick auf
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die finanzielle Entlohnung gemacht, da man ihn in einer »einigermaßen gesicherten Lage« glaubte und »jeden verfügbaren Betrag« für »die mittellosen Freunde« verwenden wollte. Doch sicherte ihm Horkheimer zu: »wenn Sie nur erst einmal da wären, sich selbstverständlich auch die finanzielle Lage klären ließe« (Horkheimer an Adorno 16.11.1934; A/H I: 29). In seiner Antwort dankte ihm Adorno, beklagte sich aber über die Widerstände anderer Mitarbeiter: »Ich will nur hinzufügen, dass ich wohl weiß, dass die Widerstände nicht bei Ihnen liegen, sondern bei Ihrem Freund [Friedrich Pollock – WMJ], der psychologisch zum Geheimhalten neigt, und bei Löwenthal, der diese Neigung sozusagen machtpolitisch gegen mich einsetzt« (A/H I: 38). In den folgenden Jahren fand Adorno immer wieder Anlässe, um Löwenthals Arbeiten in einer Weise zu kritisieren, die selbst Horkheimer als zu hart empfand (A/H I: 335). So monierte er an einer Buchbesprechung Löwenthals, dass er »die übernommenen Kategorien des dialektischen Materialismus in einer Weise [handhabt], die der roten Tinte des Lehrers nicht ganz unähnlich sieht« und fürchtet »oftmals, dass die Bündigkeit der Löwenthalschen Befunde bloß eine Funktion der mangelnden Beziehung zum Gegenstande ist« (ebd.: 325). In einem anderen Brief sprach er von »der Geste des Generaladministrators« (A/H II: 255). Gegenüber Benjamin beklagte er, dass im Rahmen der Zeitschrift »immer noch Löwenthal maßgeblich fungiert« (A/B: 111) und dass »Gefolgsleute wie Löwenthal und einstweilen Marcuse […] eine wirkliche Gefahr sind. Wie schwer es aber ist, sich gerade solcher zu erwehren, die einen imitieren, weiß ich […] nur zu gut« (A/B 236). Sein Horkheimer unterbreiteter Vorschlag Löwenthal »zu einer Art Lehre nach Paris [zu Benjamin – WMJ] zu schicken«, fand indessen keine Zustimmung (A/B: 275). Nach 1945 schlug die Aversion in direkte Ablehnung und pure Gehässigkeit um. Am 3. Mai 1953 mutmaßte Adorno gegenüber Horkheimer, dass Löwenthal »seine Stellung verloren habe« und schlägt vor, ihn bei der HackerFoundation unterzubringen; denn: »Dass Sie ebenso wenig wie ich ihn nach Frankfurt möchten, weiß ich. Er würde nur die Situation in jeder Hinsicht unerträglich komplizieren« (A/H IV: 187). In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre führte die von Löwenthal erhobene Forderung nach einer Pensionszusage, die er auf einen lebenslangen Vertrag seit 1926 mit dem Institut und seiner 25-jährigen Tätigkeit für das Institut und bei den verschiedenen dem Institut angeschlossenen Gesellschaften zurückführte (A/H IV: 461; L/K: 201), zum Bruch mit Horkheimer, Pollock und Adorno. Löwenthal berichtete seinem Freund Kracauer im Brief vom 13. Dezember 1963 über »das trauma-
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tischste Ereignis meines ganzen Lebens« und das Kesseltreiben gegen ihn (L/ K: 246). Über Adornos Verhalten schrieb er; »ich empfinde wenig Respekt über Teddies sogenannte Solidarität, die ihn dazu bewogen hat, sämtliche Beziehungen zu mir abzubrechen, und solche Absurditäten zeitigten wie das totale Verschweigen meines Namens und meines Werkes in Kreisen des Instituts« (ebd.). In einem Brief zu Adornos 60. Geburtstag schreibt er: »Wir waren mehr als vierzig Jahre eng befreundet. Es macht mich unendlich traurig, dass es Dir leicht fiel, die grauenhaften Dinge, die sich zwischen Max und mir abspielten, so einseitig auf Dich einwirken zu lassen, dass Du in Pontresina mein Gesicht vergessen hattest. Es wäre, so scheint mir, menschlicher gewesen, mit mir zu reden« (zit.n. L/K: 248). Auch wenn sich nach 1965 die Spannungen etwas lösten (L/K: 249), befreiten sie Adorno nicht von seiner tief sitzenden Antipathie. Als Löwenthal Adorno einen Frankfurt-Besuch für die Zeit vom 19. bis 27. Juni 1966 ankündigte, antwortet ihm Adorno nach 14 Tagen: »Die Zeit, die Du für Deinen FrankfurtBesuch vorschlägst, […] ist nicht sehr günstig, da ich gerade in diesen Tagen nach Berlin muss, um den Schlussvortrag (»Die Kunst und die Künste«) eines Zyklus der Akademie der Künste zu halten […]. Leider wird es darum auch nicht möglich sein, im Institut einen Vortrag zu arrangieren, zumal der Vortragsplan für das Semester längst feststeht« (A/H IV: 775). Dass Adorno anlässlich seines Vortrags nicht ganze acht Tage in Berlin verbringen musste und dass ein Vortrag Löwenthals nicht mit guten Gründen hätte eingeschoben werden können, war so evident, dass Löwenthal dies nur als Affront aufnehmen konnte. Das Soziologische Seminar der Gießener Universität lud ihn während seines Deutschlandbesuchs am 15. Juli zu einem Vortrag ein. Am 6. Februar 1966 schrieb Adorno an Horkheimer: »Max, man wird den Löwenthal nicht los« (AH IV: 764). Ihn trieb offenbar eine Anzeige des Luchterhand-Verlags um, der in seiner Reihe »Soziologische Essays« die von Löwenthal im Rahmen der amerikanischen Institutsarbeiten entstandene Studie »Prophets of Deceit« (dt. »Agitation und Ohnmacht. Auf den Spuren Hitlers im Vorkriegsamerika«) mit Bezug zum Institut ankündigen wollte. Die amerikanische Ausgabe (1949, zusammen mit Norbert Guterman) war – wie die »Authoritarian Personality« – in der von Horkheimer herausgegebenen Buchreihe »Studies in Prejudice« mit einem Vorwort Horkheimers erschienen. In einem Schreiben an den Verlagslektor erklärte Adorno, dass er »weder an dem Buch mitgearbeitet noch die Vorbemerkung verfasst« habe und verlangte »ebenso herzlich wie dringend, meinen Namen im Zusammen-
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hang mit der Angelegenheit nicht zu nennen« (A/H IV: 765). Pikanterweise hatte Adorno Horkheimer den Entwurf für dessen Vorwort geliefert (A/H III: 537-540).3 Zudem stellte er Horkheimer anheim, ob er es für richtig hielt, dass das Institut genannt werde und gibt zu bedenken: »Dafür spricht natürlich der allgemeine credit, dagegen, dass wir kein Interesse daran haben, die Beziehung von Löwenthal zum Institut hervorzuheben, während offenbar seine gesamte Strategie eben darauf abzielt« (A/H IV: 764; Hervorh. i. O.). Als die deutsche Neuausgabe der »Dialektik der Aufklärung« (1969) anstand, wollte Adorno Löwenthal sogar aus dem Vorwort eliminieren. Er schrieb an Horkheimer: »Im alten Vorwort […] wird Leo Löwenthal genannt. Ich sehe um so weniger Anlass, mit dem Namen des von Dir zu Recht als Vorkriegsschurken bezeichneten Leo unser Buch weiter zu verunzieren, als er ja tatsächlich nicht im geringsten produktiven Anteil daran genommen hat« (A/H IV: 838f.). Dieses Ansinnen grenzte schon an grenzenloser Unverfrorenheit, lautete doch die von Adorno zur Löschung vorgeschlagene Stelle in der »Dialektik der Aufklärung« wie folgt: »Die ersten drei Thesen [der ›Elemente des Antisemitismus‹ – WMJ] schrieben wir zusammen mit Leo Löwenthal, mit dem wir seit den ersten Frankfurter Jahren an vielen wissenschaftlichen Fragen gemeinsam arbeiten« (GS 3: 17). Dass ein Bekannter Löwenthals ob des offensichtlichen Betreibens Adornos, den Beitrag Löwenthals zu den Arbeiten des Instituts zu eskamotieren, mit dem Vorwurf der »stalinistischen Geschichtsschreibung« bedachte (L/K: 248), wiegt schwer, erscheint aber nicht allzu weit hergeholt. Zwanzig Jahre nach Adornos Tod wurde Leo Löwenthal der Theodor W. Adorno-Preis verliehen.
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Es wäre einer wissenschaftlichen Recherche wert, aufzudecken, in welchem Ausmaß den Schriften Horkheimers Entwürfe von Adorno zugrunde liegen. Der Briefwechsel zeigt, dass Horkheimer sich nicht selten des gefälligen »Ghostwriters« bedient hat.
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Herbert Marcuse – »ein verhinderter Faschist«
Herbert Marcuse (1898-1979) war als ursprünglicher Heidegger-Schüler und zugleich einer der ersten Interpreten der 1932 Im Rahmen der Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA) erstmals veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Karl Marx ab 1933 in der Genfer Dependance zum Institut gestoßen, wo er etwa ein Jahr lang tätig war (A/H I: 30), bevor er in die USA emigrierte und dort bis Anfang der 1940er Jahre als Mitarbeiter des Instituts tätig war. Noch vor Adorno war er der zuständige Philosoph für den Rezensionsteil der Zeitschrift und als möglicher Mitarbeiter Horkheimers für das geplante »Dialektik«-Buch vorgesehen. Beides zehrte ungemein an Adornos Selbstwertgefühl, nach Stefan Breuers Diagnose: »[Er] musste nun erleben, dass Marcuse in eben die Rollen rückte, die er, Adorno, für sich selbst vorgesehen hatte« (Breuer 2016: 174). Marcuses frühe Texte in der »Zeitschrift für Sozialforschung« fanden generell die Zustimmung von Horkheimer und den übrigen Mitarbeitern, bis auf Adorno, der »fortwährend ätzende Kritik anzumelden hatte« (Breuer 2016: 174). Zu Marcuses Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur, den Horkheimer im Vorwort zum 6. Jahrgang der Zeitschrift besonders herausgestellt hatte, äußerte er in einem Brief vom 25. April 1937 an Benjamin: »Ich finde ihn sehr mäßig, abgeleitete, von Max übernommene Dinge, mit Weimarer Bildungsstoff aufgefüllt, die Arbeit eines bekehrten, wenn auch sehr eifrigen Oberlehrers.« – »Besonders über Kunst heilloses Zeug […]. Man hat bei diesen Jungens das Gefühl, dass sie, seit sie sich in der Prima über ihren deutschen Oberlehrer ärgerten, keine ästhetischen Erfahrungen mehr gemacht haben« (A/B: 236). Vor sich sah er allerdings noch eine schwierige Aufgabe: »Es wird für mich nicht ganz leicht sein, Max meine Ansicht zu sagen, ohne dass ich […] unter die Meckerer und Kritikaster rangieren werde. Trotzdem werde ich schwer umhin können. Gefolgsleute wie Löwenthal und einstweilen leider auch Marcuse sind eine wirkliche Gefahr« (ebd.). Gegenüber Horkheimer formulierte er seine Kritik hingegen wesentlich moderater im Ton, obwohl er auch hier das Monitum, »das reicht wirklich bloß für die Oberprima«, nicht unterdrücken konnte (A/H I: 355). Demütigend war für Adorno die Erfahrung, dass, nachdem Marcuse und er Aufsätze über Husserls Phänomenologie zur Veröffentlichung eingereicht hatten, sein Beitrag abgelehnt, aber der von Marcuse (»Zum Begriff des Wesens«, 1936) gedruckt wurde. Betreten schrieb er an Horkheimer am 28. Oktober 1937 aus Oxford, dass er nicht
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recht einsehen kann, warum sein Artikel, der gegenüber dem von Marcuse »doch einen wesentlichen Fortschritt« darstelle, »unter den Tisch fallen soll, während jener erschien« (A/H I: 456). Schon zwei Jahre früher hatte er im Brief vom 13. Mai 1935 an Horkheimer geschrieben: »es wird Sie nicht wundernehmen, wenn es mich traurig macht, dass Sie philosophisch unmittelbar mit einem Mann arbeiten, den ich schließlich für einen durch Judentum verhinderten Faszisten halte; denn weder konnte er sich über Herrn Heidegger Illusionen machen, dem er laut dem Vorwort des Hegelbuches alles zu verdanken hat, noch etwa über seinen Verleger, Herrn Klostermann aus dem Tatkreis« (A/H I: 65). Anders als in diesem Urteil hatte Adorno in einer Rezension der Arbeit in einem der ersten Hefte der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ (1. Jg., 1932, Heft 3, S. 409f.) eine entscheidende Abweichung des Verfassers von Heideggers »publiker Lehrmeinung« registriert. Marcuse gehörte zwar zum engeren Schülerkreis Heideggers und bewunderte dessen »Konkrete Philosophie« und dessen Aussage zur Geschichtlichkeit als der Grundbestimmtheit des Daseins, kritisierte aber dessen Individualismus und mangelnde materiale Konstitution der Geschichte. Seine geplante Habilitationsschrift über »Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit« lehnte Heidegger ab; sie erschien außerhalb des akademischen Verfahrens (Breuer 2016: 163ff.). Da Adornos Eingliederung ins Institut offenbar finanzielle Engpässe erschwerten, riet er Horkheimer, was er schon Pollock gesagt hatte: »wenn ich an Ihrer Stelle wäre und sie an meiner, ich nicht gezögert hätte, wen immer hinauszuwerfen, um Ihrer mich zu vergewissern« (A/H I: 64f.). Denn, so hieß es wenige Sätze zuvor: »da Sie, Herr Horkheimer, nach wie vor der einzige Mensch sind, mit dem ich mich in solcher Breite einig weiß, dass ich in voller Gemeinschaft mit ihm arbeiten könnte, und da ich unser beider Arbeitskraft so einschätze, dass ich glaube, dass eine solche Gemeinschaft nicht bloß privat sondern für die Theorie in einem außerordentlichen Sinne fruchtbar werden könne, so hielte ich es nach wie vor für dringend notwendig, dass wir wieder dauernd zusammen kämen« (A/H I: 64). Im Januar 1936 spricht er schon »von unserer großen Arbeit«, zu deren Vorarbeiten aus der »Menge Publikationen zu dialektischer Logik und Prinzipienfragen des Historischen Materialismus […] präzise Exzerpte für uns beide«
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(A/H I: 104; Hervorh. i. O.) herzustellen werden, »vielleicht durch Benjamin« oder durch »Marcuse am ehesten« (ebd.). Als die Rückkehr der Emigranten nach Deutschland anstand, regte sich erneut Adornos Konkurrenzsyndrom: Er fände es, ließ es Horkheimer wissen, »unter normalen Umständen […] schön, wenn Herbert uns in Frankfurt helfen könnte. So, wie die Dinge im Augenblick stehen, würde es mich traurig machen, wenn er nach Frankfurt käme, ehe ich zurück bin. Auch nach außen hin würde das so missverstanden, als ob er mich irgendwie ersetzen sollte« (A/IV: 198). Säuerlich reagierte er, als er erfuhr, dass Marcuse von einem Lektor des Suhrkamp Verlags gebeten worden war, zu Benjamins »Kritik der Gewalt« ein Nachwort zu schreiben, »ohne dass ich auch nur das geringste davon wusste, nachdem ich schließlich den Nachlass Benjamins, und dadurch den gesamten Komplex auch der Einzelpublikationen seiner Sachen […] betreue« (A/H IV: 731f.). Während der Studentenbewegung kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Marcuse und dem Institut. Seine Parteinahme für die rebellierenden Studenten brachte ihn in offenen Konflikt mit dem Institut. Dessen Leitern warf er falsches Verhalten im Umgang mit den Studenten vor, besonders kritisierte er den von ihnen veranlassten Polizeieinsatz gegen die Institutsbesetzer (Kraushaar 1998: 601). Adorno schrieb am 28. Mai 1969 an Horkheimer: »Max, der Brief von Herbert, den ich Dir beilege, ist ungeheuerlich. […] Und was soll die existentielle Geste, nun habe er sich ein Urteil gebildet. […] Du weißt, dass ich schon alles getan habe, um einen Bruch zwischen ihm und uns zu vermeiden, aber ich sehe nachgerade nicht mehr, wie er vermieden werden kann« (A/H IV: 850; Hervorh. i. O.). Marcuse schrieb im Juni 1969 an Adorno, dass das Institut nicht mehr »unser altes Institut« sei und konstatierte »tiefste Divergenz zwischen uns« in der Beurteilung der außerparlamentarischen Opposition (Horkheimer 1996: 732, 734). Zu einer geplanten Aussprache zwischen beiden kam es durch Adornos plötzlichen Tod nicht mehr.
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Hilda Weiss – »müsste man verstecken«
Unter den hier ausgewählten Personen ist die Beziehung zwischen Hilda Weiss (1900-1981), einer zeitweiligen Mitarbeiterin des Instituts für Sozialforschung,und Adorno die mit der weitesten persönlichen Distanz. Gleichwohl war sie ihm keine Unbekannte. Sie kam 1924 als Doktorandin Carl Grünbergs ans Institut, das sie nach der Promotion 1926 wieder verließ (Titel ihrer Dissertation »Abbe und Ford. Pläne für die Errichtung sozialer Betriebe«). Von 1930 bis 1933 wurde sie als Forschungsassistentin am Institut für Sozialforschung beschäftigt. Sie schrieb einen Beitrag für die Instituts-Studie »Autorität und Familie« und war verantwortliche Mitarbeiterin an Erich Fromms Arbeiter/Angestellten-Enquete. Im April 1933 siedelte sie nach Paris über und war bis zum 31.12.1935 (zu diesem Datum gekündigt) in der Pariser Zweigstelle des Instituts tätig (Garz 2006: 107). Adorno traf sie bei einem Besuch 1936 dort an und berichtete Horkheimer davon: »Ich traf im [Pariser] Büro Hilde Weiss, institutspolitisch gesehen, müsste man sie verstecken« (A/H I: 184). Wenig später hatte Adorno sie dann auf seine Liste unerwünschter Rezensenten der Instituts-Zeitschrift gesetzt, die er in einem Brief an Horkheimer mit einem guten Dutzend anderer Namen (unter ihnen Salomon-Delatour und Paul Tillich) zusammengestellt hatte (A/H I: 262). Nach der Emigration in die USA ging sie auf mühsame Suche nach einem akademischen Job. Von den fünf Jahren verbrachte sie vier Jahre in den Südstaaten an Black Colleges zumeist als Instructor für Fremdsprachen (Deutsch und Französisch) und Soziologie. 1945 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Von 1945 bis 1970 (Pensionierung) lehrte sie Soziologie am Brooklyn College in New York. Die ersten 17 Jahre als Instructor, ab 1963 als assistant professor. Als sie während eines sabbaticals sich 1963 um einen Lehrauftrag bemühte, schrieb sie am 6. Oktober 1963 an Pollock: »[ich möchte] Sie und Horkheimer fragen, ob ich vielleicht für das Jahr an meine alma mater zurückgehen und am Institut und an der Universität Seminare halten könnte« (Garz 2006: 122). Pollock reichte den Brief an den geschäftsführenden Direktor Adorno weiter, der an Horkheimer schrieb: »Diese Weiss, die wir noch aus den Zeiten des Instituts kennen, ist eine grauslige, zudringliche Person. Ich möchte ihre Bitte abschlagen, trotz unserem Dozentenmangel, aber sie ist ärger als den Studenten zugemutet
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werden kann. Bitte sage mir, ob Du einverstanden bist, wenn ich ihr einen freundlich-unfreundlichen Brief schreibe« (A/H IV: 719). Erst fünf Monate später, am 3. März 1964, beschied Adorno sie mit einer Absage: »Einmal haben wir bereits Kurse in diesen Fächern […] Anderseits aber steht uns im Budget nichts für solche Gastprofessuren zur Verfügung, im Institut ist alles restlos verplant«. Die verspätete Antwort entschuldigte er mit einem »offensichtlichen Versehen« (Garz 2006: 123).
6. Et alii Es gab noch einige andere Zeitgenossen, die mit Adorno bekannt oder befreundet waren und die er mit abfälligen Attributen bedachte. Zu ihnen zählen Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Karl Mannheim und Marie Jahoda. Unverhohlenes Missvergnügen bereitete Adorno Benjamins freundschaftliche Beziehung und intellektuelle Affinität mit Bertolt Brecht, dessen engagierte Literatur er nicht akzeptierte. Im Hinblick auf Benjamin sah er darin »eine allgemeine magnetische Ablenkung seiner [Benjamins – WMJ] Arbeiten durch diesen ›Wilden‹« (A/H I: 110) und – wie er gegenüber Kracauer beklagte –, dass Benjamin »einer ganz sonderbaren Faszination durch Brechts dumpfe Natur erliegt« (A/K: 259). »Unter Brechts Einfluss treibt Benjamin nur dumme Dinge«, überlieferte Peter von Haselberg (1977: 14) einen Ausspruch Adornos aus dem Jahr 1932. In der Auseinandersetzung über Benjamins Kunstwerk-Aufsatz ließ er Horkheimer brieflich wissen, dass darin der »schlechteste Brecht« stecke, wenn Benjamin »auf das Proletariat wie auf einen blinden Weltgeist vertraut« (A/H I: 131), und weiter: »Er hat wirklich etwas von einem wahnsinnig gewordenen Wandervogel und die Emanzipation von Brecht ist ihm längst nicht gelungen« (A/H I: 132). Später gab er zu Protokoll, dass ihm Benjamins Äußerung »aufs bestimmteste gegenwärtig« sei, er habe mit dem Kunstwerk-Aufsatz Brecht »an Radikalität übertrumpfen wollen« (GS 20.1: 186).4 In seinem Essay über Beckett notierte Adorno: »Der Simplificateur des Schreckens weigert sich, anders als Brecht, der Simplifikation« (GS 11: 289). Und Brechts »Theatralik vollkommener Schlichtheit« versah Adorno 4
Rolf Tiedemanns Wiedergabe von Adornos Erklärung ihm gegenüber enthält noch den Nebensatz: »um Brecht, vor dem er sich fürchtete, an Radikalismus zu überbieten« (Tiedemann 1973: 112). Die mit Benjamin befreundete Asja Lacis hielt dem entgegen: »Die Behauptung Tiedemanns ist lächerlich« (zit.n. Wizisla 2004: 42).
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anlässlich des Gedichts »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration« mit dem Kommentar: »Was seine Klassiker noch als Idiotie des Landlebens denunzierten, das verstümmelte Bewusstsein Darbender und Unterdrückter, wird ihm wie einem Existentialontologen zum alten Wahren. Sein gesamtes oeuvre ist eine Sisyphusanstrengung, seinen hochgezüchteten und differenzierten Geschmack mit den tölpelhaft heteronomen Anforderungen irgend auszugleichen, die er desperat sich zumutete« (GS 11: 422). Mit Ernst Bloch verband Adorno so etwas wie Hassliebe. Bereits in der Zeit vor der Emigration machte er sich lustig über dessen »maßlosen Stolz« auf sein Werk »Erbschaft der Zeit« (A/B: 115) und konstatierte im ersten Jahr ihrer beider Übersiedlung nach USA bei ihm den »Umschlag der Volksfrontkorruption in betriebsame Dummheit« (A/H IV: 372). Nachdem Adorno 1949 (Bloch weilte noch in der DDR) dem Herausgeber der Kulturzeitschrift »Merkur«, Paeschke, versichert hatte, dass er mit »seinem früheren Freund Ernst Bloch […] seit vielen Jahren, aus sachlichen Motiven, völlig entzweit« wäre (A/H III: 438), berichtete er 1960 Horkheimer von einem Zusammentreffen mit ihm auf einem Suhrkamp-Verlagsabend und schloss mit dem Urteil; »man hat tant bien que mal allerlei Positionen mit ihm gemeinsam. Aber damit allein ist es ja nicht getan. Die richtigsten Einsichten nutzen nichts, wenn sie schwadroniert werden und nicht gedacht« (A/H IV: 620f.). Nach einem Vortrag im Januar 1965 an der Frankfurter Universität, den Adorno eingeführt hatte, schilderte er ihn in einem Schreiben an Kracauer als »Schallplatte seiner selbst« (A/ K: 689). Der wegen seiner jüdischen Abstimmung 1933 von der Frankfurter Universität entlassene Karl Mannheim emigrierte nach England. Dort traf er auch mit Adorno zusammen, doch im Gegensatz zu diesem, der nur den Status eines graduate student innehatte, erhielt Mannheim als ehemaliger deutscher Professor eine Dozentur an der London School of Economics. Mannheims Wissenssoziologie diente Horkheimer und Adorno gewissermaßen als Kontrastfolie zu ihrer Ideologiekritik (Dubiel 1975: 223). Seine Publikation »Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus« (1935) dünkte Adorno ein »Schmarren: nichts als ein Versuch die entscheidenden gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus dem Monopolkapitalismus entspringen, unter Aussparung der marxistischen Kategorien, vor allem der der Klasse zu erklären« (A/H I: 68). In übler Weise hält er ihm vor: »da er schon kein Faszist sein kann, wurstelt er mit liberalen Begriffen weiter« (ebd.) Von
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ihm gelte »als etwas sehr Elementares: er ist einfach dumm« (A/H I: 264). Kurz darauf reagierte er auf das ihm zugesandte Manuskript mit Adornos Kritik – zu Adornos Verwunderung – »überraschend anständig, zumindest klug« (A/H I: 284) – sieh an: der dumme Anständige mit kluger Reaktion! Beschließen will ich diesen horriblen Reigen weder mit Ernst Cassirer, dem »konformistischen Trottel« (A/H I: 25), noch mit Hans-Georg Gadamer, einem Menschen »mit einem geistigen Buckel« (A/H III: 398), noch mit Paul Tillich, der »im Grunde zu den Heideggers« gehört, aber sich »durch uns erwischt« fühlt und nach einem Loch sucht, »in das er schlüpfen kann« (A/H IV: 165), sondern mit einer weiteren Wissenschaftlerin: Marie Jahoda. Ihr gestand der die Rezensentenliste der Zeitschrift argwöhnisch durchforstende Adorno (A/H IV: 262) immerhin zu, »Besprechungen über Arbeitslosen-Fragen schreiben [zu] lassen, von denen sie ja wohl materialiter immerhin mehr versteht als der unselige Sternheim; […] ansonsten aber sie nicht zu eng an uns [zu] binden, schon damit die positivistische Belastung unserer Gruppe nicht noch mehr anwächst« (A/H I: 476).
Coda Dass die Institutsmitarbeiter, vornehmlich Pollock und Löwenthal, ihrerseits Adorno wenig Sympathie entgegengebrachten, belegen die von Martin Mittelmeier aus dem Nachlass Horkheimers zitierten Auslassungen Pollocks und Löwenthals über ihn: Pollock berichtet Horkheimer über einen vermeintlichen Nervenzusammenbruch Adornos, den dieser wegen der Verzögerung seiner Umsiedlung an die Westküste erlitten hatte und kommentiert dies wie folgt: »Ich halte ihn seit gestern fuer einen skrupellosen Erpresser, der uns nach allen Regeln der Kunst ausbeuten wird, solange er der Meinung ist, dass wir ihn brauchen und keine Haendel mit ihm wollen. Seine Druckmittel sind allerdings nicht Verschwoerungen mit anderen, sondern Drohungen mit seinem eigenen Untergang, an dem wir schuld sind, weil wir ihm nicht die notwendigen Existenzbedingungen geben. Solidaritaetsbekundungen sind bei ihm billig, aber von wirklicher Solidaritaet ist auch nicht die Spur. Marcuse ist ungleich unbegabter, aber er ist eine Lichtgestalt in Bezug auf Loyalität, verglichen mit T.« (Zit. n. Mittelmeier 2021: 62)
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Wiederum Pollock: »Hassen tut ihn niemand außer Löwenthal aber er wird wegen seiner ungeheuren Unaufrichtigkeit, Eitelkeit und Wichtigmacherei verachtet. Das beweist an sich wenig. Aber leider muss ich mich auch zu denen zählen, die ihn in den letzten zwei Monaten gruendlicher kennen und verabscheuen gelernt haben.« (Ebd.: 63) Löwenthal, der mit Adorno um die Gunst Horkheimers konkurrierte, beklagte sich bei Horkheimer über Adorno wie folgt: »Ich komme einfach innerlich nicht darüber hinweg, dass dieser Mensch, dessen Struktur so durchsichtig verderbt ist, wegen seiner von einem mir unbekannten Gott ihm verliehenen Gaben eine Stelle bei uns und bei Ihnen einnimmt, an der ich nur mich sehen möchte.« (Ebd.: 63 f.)
Zweiter Teil Über die Notwendigkeit und die Macht der Kunst
6. Herbert Marcuse und Ernst Fischer über die Notwendigkeit der Kunst
Adornos Sicht auf die Kunst wird von neomarxistischen Theoretikern wie Herbert Marcuse (1898-1979) und Ernst Fischer (1899-1972) geteilt, wenn auch mit charakteristischen Abweichungen und weniger puristisch in Bezug auf die engagierte Kunst. Ihr Kanon ist nicht elitär eingeschränkt, wie der von Adorno, der im Grunde nur Kunstwerke höchsten Ranges gelten ließ und beispielsweise die (engagierte) Literatur Bertolt Brechts und Jean-Paul Sartres aus seinem Kanon ausschloss. Marcuse hat seit seiner Dissertation über den deutschen Künstlerroman (eingereicht 1922; erstmals veröffentlicht 1978), ausgehend von der klassisch-idealistischen Ästhetik (Kant, Hegel, Herder, Schiller), über das Verhältnis von Kunst und Leben, Kultur und Gesellschaft Zeit seines Lebens reflektiert. In seinen Schriften nimmt das Theorem vom »Doppelcharakter der Kunst« beziehungsweise ihrer »Zwiespältigkeit« einen zentralen Stellenwert ein. Franz Koppe spricht von einer »dialektischen Kunstauffassung« Marcuses (1992: 258). Ihr zufolge vergegenwärtigt Kunst die antagonistische Klassengesellschaft und überschreitet sie zugleich. Darin erkennt Marcuse ihr subversives Potential. Durch Kunst wird die Lebenswirklichkeit »durchsichtig als Situation und Traum der Menschheit« (Marcuse 1973: 108; Hervorh. WMJ). Ihre Transzendenz resultiert aus dem »schönen Schein«, der – nach einem Wort von Ernst Bloch – einen »Vor-Schein« auf die versöhnte Gesellschaft wirft. Zugleich manifestiert sich, unter anderer Perspektive, der Doppelcharakter der Kunst als Affirmation und Kritik der bestehenden Gesellschaft. Formal begreift Marcuse Kunst »als eine Art von Sprachcode für Prozesse, die in der Gesellschaft ablaufen, als einen Code, der mit Hilfe der kritischen Analyse zu dechiffrieren ist« (Jay 1973: 213).
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»Jedes authentische Werk der Literatur, Kunst. Musik und Philosophie spricht eine Metasprache, die andere Tatsachen und Bedingungen übermittelt als jene, die der am Verhalten orientierten Sprache zugänglich sind – darin besteht ihre irreduzible, unübersetzbare Substanz« (Marcuse 1965a: 255). Zu keiner Zeit verstand Marcuse den Entzifferungsprozess als mechanische Reduktion des ästhetischen Geschehens auf außerästhetische Tatsachen und Verhältnisse (Schweppenhäuser 2000: 18), wie dies etwa in der orthodox-marxistischen »Widerspiegelungstheorie« unterstellt wird. Seine Arbeiten zur Kunst lassen sich am Leitfaden von vier Werkphasen vergegenwärtigen: 1. die Phase der germanistischen Dissertation, 2. die Phase, in der er die These vom Doppelcharakter der Kunst theoretisch fundiert, 3. die Phase der kulturrevolutionären Sechzigerjahre, in der er Impulse der Neuen Linken von einer »Aufhebung der Kunst« aufnimmt, und 4. die Phase seines Spätwerks mit der Altersgewissheit von der fortbestehenden Spannung zwischen Kunst und Wirklichkeit. (1) In der an Hegels Ästhetik orientierten und durch Lukács’ Schriften »Die Seele und die Formen« (1911) und »Theorie des Romans« (1920/1965) beeinflussten Dissertation Der deutsche Künstlerroman greift Marcuse ein für ihn verbindlich bleibendes Thema auf: »Kunst als geschichtliche Produktivkraft, die ästhetische Dimension der Befreiung des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen« (Schmidt 1992: 12). Marcuse holt weit aus, er will an literarhistorischen Problemen »ein Stück Menschheitsgeschichte« (Marcuse 1978: 333) sichtbar machen. So skizziert er im Einklang mit Lukács’ »Theorie des Romans« eine historische Entsprungenheit der großen Epik in der Blütezeit der Antike, als eine »Einheit von Individuum und Gesamtheit, Subjektivität und Objektivität, Wesen und Lebensform, Sein und Sollen« (ebd.: 9) vorherrschte. Der moderne Roman hingegen setzt eine, wie Marcuse mit Hegel konstatiert, »bereits zur Prosa gewordene Wirklichkeit«, das bürgerliche Zeitalter, voraus, für das die Totalität des Lebens »nicht mehr so sinnfällig gegeben ist«, sondern »Ziel einer Sehnsucht, eines Strebens« (Marcuse 1978: 9f.). Die fortschreitende Differenzierung des Volkes in Stände und Klassen, »die Zersetzung und Zerreißung einheitlicher Lebensformen« zeitigt eine »Sonderung des Künstlers von seiner Umwelt« (ebd.: 332). Erst wenn »die Einheit von Kunst und Leben zerrissen ist«, in der »entgötterten Welt« (ebd.: 12), der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács 1965: 35), wird der Künstlerroman möglich. Unter den vielfältigen Lebensformen der bürgerlichen Gesell-
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schaft wird der Künstler zum »Repräsentanten eigener Lebensform« (Marcuse 1978: 10). Diese findet in den Lebensformen der Umwelt keine Erfüllung, »sein Wesen und seine Sehnsucht geht in ihnen nicht auf, und einsam steht er der Wirklichkeit gegenüber« (ebd.: 16). Inhalt seiner Lebensform ist es, »die Zerrissenheit zu neuer Einheit« zu binden, »die Gegensätze von Geist und Sinnlichkeit, Kunst und Leben, Künstlertum und Umwelt« (ebd.) wieder zusammenzuführen. Beginnend mit der literarischen Periode des »Sturm und Drang« bis zu Thomas Mann verfolgt Marcuse in deren Werken die Rolle des Künstlers, wobei er zwei große Typen unterscheidet: den realistisch-objektiven und den romantischen Künstlerroman (Marcuse 1978: 17). Der romantische Künstlerroman, von Goethes »Werther« bis zu Murgers »Bohème«-Roman, ist durchwirkt von dem »ungeheuren Missverhältnis von Subjektivität und Außenwelt, Kunst und Leben« (ebd.: 86). In ihm löst der Künstler den Zwiespalt durch die »Entwertung der Wirklichkeit« und die »Erhebung der Kunst zum bestimmenden Zentrum des Seins« (ebd.: 88f.). Hingegen nimmt der Held im »großen epischen Gegenpol« (ebd.: 231), dem realistischen Künstlerroman, so in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, »in weiser Entsagung und Selbstbegrenzung« (ebd.: 70) Abschied vom subjektivistischen Künstlertum, wie es noch im Ur-Meister, der »Theatralischen Sendung«, gefeiert worden war. Vergleichbar sieht Marcuse in Gottfried Kellers »Grünem Heinrich« (2. Fassung) den »Eintritt in die Bürgerlichkeit« am Ende seines Weges (ebd.: 230). In den Novellen von Thomas Mann erkennt er den Höhepunkt des romantischen Künstlertums, weil er die Spannung zwischen Kunst und Leben gestaltet, aber schließlich auch überwindet. Dabei changiert Marcuses Darstellung des Künstlertums zwischen fiktionalem und realem Künstler. Dem fiktiven Künstler, beispielhaft Tonio Kröger, der durch sein Künstlertum der Bürgerlichkeit opponiert, hält die reale Person Thomas Mann sein »der Kunst gewidmetes Leben« als eine Tätigkeit entgegen, »die mit denselben Rechten und Pflichten« verbunden ist, wie »jede andere menschlich-bürgerliche Tätigkeit« (Marcuse 1978: 324). Der Figur des Gustav Aschenbach aus dem »Tod in Venedig« unterlegt Mann eine Entwicklung »vom romantisch-subjektivistischen, unbürgerlichen zum objektiven, bürgerlichen Künstler« als »Meister ›in bürgerlichem Ehrenstande‹« (ebd.: 325f.). Gleichwohl bleibt er in der Novelle dem »zerstörerischen Ausbruch der dionysischen Kräfte« ausgesetzt, die »Ruhm und Ehrenstand« zur »Posse« machen (ebd.: 327). Zieht man noch den später in der Emigration geschriebenen Roman »Doktor Faustus« heran, dann dürfte Marcuses These von der gelungenen Aufhebung der Span-
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nung zwischen Kunst und Leben nur bedingt für die Gestalten des Mannschen Œuvres gelten, eher schon für Manns eigenes Künstlertum. Aber selbst sein »Bekenntnis zum Bürgertum« will Reinhart Baumgart (1989: 18) nur als »Mimikry« gelten lassen. Generell befindet der das gesamte Werk von Thomas Mann überblickende Literaturkritiker Baumgart, dass das Mannsche Werk einem »Programm der Entsagung« (ebd.: 281), dem »ungelebten Leben«, zu verdanken sei. (2) Marcuses ertragreichste Phase seiner Beschäftigung mit der Kunst setzt mit der Veröffentlichung seines Aufsatzes Über den affirmativen Charakter der Kultur von 1937 ein, worin er das Theorem vom Doppelcharakter der Kunst entwickelt, und er setzt sie in seinem Werk Eros und Kultur von 1955 (amerik. Originalausgabe) mit der Analyse einer »nicht-repressiven Kultur« fort. Obwohl im Titel seiner ersten großen kunsttheoretischen Abhandlung in der »Zeitschrift für Sozialforschung« – Über den affirmativen Charakter der Kultur – nur von Affirmation die Rede ist, bestimmt er darin die ambivalenten Funktionen der Kunst – die affirmative und die kritische – in der bürgerlichen Gesellschaft. Affirmativ sei die Kunst, weil sie das Elend der gesellschaftlichen Verhältnisse, »die Glücklosigkeit des Bestehenden« (Marcuse 1965a: 86) kompensiere: […] die Einstreuung des kulturellen Glücks in das Unglück, die Beseelung der Sinnlichkeit mildert die Armseligkeit und Krankhaftigkeit solchen Lebens zu einer ›gesunden‹ Arbeitsfähigkeit« (ebd.: 90). Eine falsche Versöhnung erfolge durch die Abspaltung eines autonomen Bereichs von der Gesellschaft; denn nur im Medium der Schönheit dürfen die Menschen am Glück teilhaben. »Die Schönheit der Kunst ist – anders als die Wahrheit der Theorie – verträglich mit der schlechten Gegenwart; in ihr kann sie Glück gewähren« (ebd.: 86). Gleichwohl bleibt für Marcuse die Kunst (im Gegensatz zur Kulturindustrie) in ihrem Gehalt kritisch und subversiv – als Ahnung eines glücklichen Zustandes (»promesse du bonheur« nach Stendhal). Doch bleibt die Versöhnung »illusionär, falsch und fiktiv«, sie verbleibt »in der Dimension der Kunst, in Wirklichkeit setzen sich Furcht und Versagen unvermindert fort« (Marcuse 1969: 70). Nicht ihr Inhalt ist an der Kunst affirmativ, sondern ihre von der Realität abgespaltene Form. In Eros und Kultur widmet Marcuse ein ganzes Kapitel (Marcuse 1957: 168190) der »Ästhetischen Dimension«, die sich »um den Preis, in der Realität wirkungslos zu sein, ihre Freiheit vom Realitätsprinzip bewahrt [hat]« (1957: 168). Als Ausgangspunkt übernimmt er Kants Bestimmungen des Ästhetischen: »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz« (1957: 173), und von Friedrich Schiller den Gedanken des Spiels aus dessen
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Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. Mit ihnen begründete Schiller anhand der Spielmetapher eine eigene Sphäre für die Kunst, in der sinnliche und intellektuelle Momente harmonisch sich vereinen. Das Spiel steht für ihn im Kontrast zur Arbeit, die unter dem Signum der Notwendigkeit der Bedürfnisbefriedigung stehe. Wie Rüdiger Safranski schreibt, handelt es sich bei dieser Schrift um eine Fundierung und Lokalisierung des Ästhetischen im gesellschaftlichen Zusammenhang und stellt als solches das »Gründungsdokument einer Theorie der Moderne« dar (Safranski 2004: 409). Das Bild, das Schiller von der modernen Gesellschaft entwirft, ist eine durch Arbeitsteilung und Spezialisierung geprägte; den ungeheuren Fortschritten auf den Gebieten der Technik, Wissenschaft und des Gewerbes, wodurch sie reicher und komplexer geworden sei, stehe gleichzeitig die Verarmung des einzelnen in der Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte gegenüber. »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er antreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er nur zum Abdruck seines Geschäfts« (Schiller 2004: 584). Erlösung aus dieser Welt der zweckrationalen Strukturen und fragmentarischen individuellen Existenzen bietet Schiller zufolge das zweckfreie Spiel: »um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (ebd.: 618). Gegenstand des Spiels ist das Schöne; in ihm versöhnen sich Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Freiheit. Kunst und Spiel verbindet das Selbstzweckhafte, also das, was die Autonomie der Kunst ausmacht. Marcuse hat diesen Gedanken aufgegriffen und, mit psychoanalytischen Kategorien, das Spiel in seiner Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip, »jenseits von Bedürfnis und äußerem Zwang«, als Wahrzeichen einer nicht-repressiven Kultur identifiziert, die indessen nur möglich sei »bei höchster Reife der Kultur und Zivilisation, wenn alle Grundbedürfnisse mit einem Minimum an körperlicher und geistiger Energie, in einem Minimum an Zeit befriedigt werden können« (Marcuse 1957: 189). (3) In seinen letzten Lebensjahren befasste sich Marcuse, neben seinen gesellschaftskritischen Analysen, gipfelnd in dem späten Hauptwerk One-Dimensional Man (1964), erneut mit der Kunst. Davon zeugen zwei kurz aufeinanderfolgende Publikationen, in denen er sich mit dem Verhältnis von Kunst und Revolution auseinandersetzt: Versuch über die Befreiung (1969)
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und Konterrevolution und Revolte (1973). In der Zeit zwischen ihrem Erscheinen vollzieht Marcuse eine markante Wende seiner Sicht auf die Kunst. Auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, unter der Erfahrung der weltweiten Revolte der Studenten, des Aufruhrs der schwarzen Ghettobewohner in den USA und der internationalen Befreiungsbewegungen in Vietnam, Kuba und China bringt er im ersten Essay diese Phänomene des Aufruhrs als »Große Weigerung« gegen »die ausbeuterische Gewalt des korporativen Kapitalismus« (Marcuse 1969: 9) auf einen Nenner. In der späteren Publikation, verfasst »bereits in der Flaute der Protestbewegung« (Habermas 1984: 260), revidiert er jedoch diese Position (s. unten). Doch zunächst teilte er mit der kulturrevolutionären Bewegung der Neuen Linken der Sechzigerjahre zeitweise die Überzeugung, dass die aktionsorientierten Formen der Kunst (living art, Happenings, Guerillatheater etc.) zum Bestandteil einer revolutionären Praxis werden können, auch als »Vorboten nahender gesellschaftlicher Umwälzungen« (Schweppenhäuser 2000: 22). Er verweist auf »die historische Möglichkeit von Bedingungen […], unter denen das Ästhetische zur gesellschaftlichen Produktivkraft werden und als solche zum ›Ende der Kunst‹ durch ihre Verwirklichung führen könnte« (Marcuse 1969: 71). Neben dem Ende der Kunst, spricht er auch vom »Ende der Utopie« und begründet diese These mit den erreichen Stand der Produktivkräfte: »Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da« (Marcuse 1968: 72). (4) Wenige Jahre später verwarf er die Vorstellungen vom Ende der Kunst in der Schrift Konterrevolution und Revolte (1973) als fehlgeleitet, weil die Spannung zwischen Kunst und Wirklichkeit niemals beseitigt würde (ebd.: 127). Selbst »die Spannung zwischen Kunst und Revolution« scheint ihm wenige Seiten später »unüberwindlich« (ebd.: 135) Sie kann »in der Praxis die Wirklichkeit nicht verändern, und sie kann sich auch nicht den tatsächlichen Erfordernissen der Revolution unterwerfen, ohne sich selbst zu verleugnen« (ebd.: 135f.). Aber sie wird ihre Inspiration und ihre spezifische Form aus der revolutionären Bewegung gewinnen, denn »die Revolution bildet die Substanz der Kunst« (ebd.: 136). »In diesem Sinne ist jedes authentische Kunstwerk Anklage, Rebellion, Hoffnung. Es steht gegen die Wirklichkeit, die es doch repräsentiert« (Marcuse 1977: 8f.). In einem seiner letzten Essays, Die Permanenz der Kunst (1977), wendet er sich – wie im Untertitel Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik hervorgehoben – gegen das orthodox-marxistische Kunstverständnis, dass Kunstwerke die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Klassen im Zusammenhang be-
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stehender Produktionsverhältnisse gestalteten. Sein Biograph Douglas Kellner bezeichnet die Arbeit als das »letzte Testament seiner Vision der Befreiung« (last testament to his vision of liberation). Sie setze seine Verteidigung der bürgerlichen Hochkultur und seine Reflexionen über das emanzipatorische Potential der »ästhetischen Form« fort (Kellner 1984: 353). Der Essay bleibt an der Literatur orientiert, weil sich der Verfasser nicht für qualifiziert hält, um »über Malerei, Skulptur und Musik zu sprechen« (Marcuse 1977: 9). Gleichwohl erhebt er den Anspruch, dass das am Beispiel der Literatur Gesagte auch für die anderen Künste gilt. Zwar betont Marcuse, dass er »auf dem Boden der Marxschen Theorie« stehe, insofern er die Kunst im Zusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse sehe und ihr »einen politischen Stellenwert, ein politisches Potential zuerkennt« (Marcuse 1977: 7), aber im Gegensatz zur marxistischen Orthodoxie sieht er »das politische Potential der Kunst in ihr selbst, als Qualität der ästhetischen Form, die den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber weitgehend autonom ist. Die Kunst protestiert gegen diese Verhältnisse, indem sie sie transzendiert« (ebd.; Hervorh. i. O.). Sie breche mit dem herrschenden Bewusstsein und revolutioniere die Erfahrung. Sie akzeptiere nicht die Normen und Regeln des Realitätsprinzips. »Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung des Realitätsmonopols […]. Die im Kunstwerk verwandelte Sprache, Bilder und Töne konstituieren eine Welt, in der Mensch und Natur gegen das bestehende Realitätsprinzip rebellieren« (ebd.: 18). »Der Widerspruch zum Bestehenden ist dem Kunstwerk immanent« (ebd.: 20) und »ihre Autonomie enthält den kategorischen Imperativ: es muss anders werden« (ebd.: 23). Zudem verteidigt er gegen die Orthodoxie vehement Innerlichkeit und Individualismus (ebd.: 45f.). Der nur wenig systematisch strukturierte Text umkreist in immer neuen Annäherungen die Bestimmung und Funktion der »ästhetischen Form«, die »über die Qualität des Kunstwerks, über seine Wahrheit entscheidet« (Marcuse 1977: 48). Darunter versteht Marcuse »die verwandelnde Mimesis, die aus einem Stoff (Inhalt, Teil der Realität) durch Gestaltung des Materials (Wort, Farbe, Ton etc.) eine in sich geschlossene Totalität (Roman, Drama, Gedicht etc.) macht: das Werk. Es sind vornehmlich die ästhetischen Qualitäten: das Schöne, das in Gemeinschaft mit anderen Qualitäten (innere Logik) die Gestaltung des Materials leiten und das Werk als (relativ) autonom der bestehenden Realität verfremdend entgegenstellen« (ebd.: 17; Hervorh. i. O.).
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Der ästhetischen Kategorie des Schönen widmet Marcuse den abschließenden Teil seines Essays. Sie sei »als zentrale Kategorie ›bürgerlicher‹ Ästhetik« (Marcuse 1977: 69) von der marxistischen Ästhetik zu Unrecht verworfen worden. Er erkennt in ihr eine »befreiende Kraft«, eine »erotische Qualität« und den »Repräsentanten des Lustprinzips« (ebd.: 70). Sie steht »gegen die unaufhörliche Dynamik, die Unruhe, das Hineingerissen-sein in all das, was zu tun ist, um weiterleben zu können. Sein Anblick will das Bleiben, die Gelassenheit im Genuss. In den authentischen Werken gibt es einen Augenblick des Stillstellens, der Erfüllung, der Ruhe, der den Schrecken bricht, die Angst bannt« (ebd.: 70f.). Marcuses Beteuerung, dass alle großen Kunstwerke subversiv und oppositionell seien, stellt Douglass Kellner in Frage. Er kritisiert Marcuses mangelnde historische Differenzierung. In seinem Eifer, die subversiven Momente authentischer Kunst, von Shakespeare bis Beckett, herauszustellen, bescheinige er allen Kunstwerken qua ästhetischer Form per se eine emanzipatorische Funktion (Kellner 1984: 358). Darin sieht Kellner eine Tendenz zur Ontologisierung der Kunst; ihr stellt er Adornos Historisierung gegenüber, die scharf – manche meinen: elitär – zwischen Werken der Avantgarde und der Kulturindustrie unterscheidet. Außerdem falle Marcuse in seinen späteren Arbeiten zur Kunst hinter seinem frühen Aufsatz von 1937 zurück, mit dem er eine dialektische Analyse der affirmativen und kritischen Momente vorgelegt habe (ebd.: 360). Im Rückblick zeige sich bei Marcuse »a tendency to swing his analysis between two poles of positing art als affirmative or negative, subversive or stabilizing« – wo doch die Dialektik zwischen beiden erst »the very nature of art« ausmache (ebd.). * Auf Hegel zurück geht der Topos vom »Ende der Kunst« (Geulen 2002). Diesem zufolge sei ihre Funktion der geschichtlich-kulturellen Orientierung durch umfassende Weltdeutung in der Moderne historisch abgegolten: »ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein« (Hegel 1955: 110). Ihre Leitfunktion sei auf die Philosophie übergegangen. Nach marxistischer Lesart findet die Kunst ihr Ende erst in der klassenlosen Gesellschaft. Diese bedarf der Kunst nicht mehr als kritisches Gegenüber der Gesellschaft. Sie wird im wirklichen Leben (im Hegelschen Sinne) aufgehoben durch Verwirklichung ihres Traums.
6. Herbert Marcuse und Ernst Fischer über die Notwendigkeit der Kunst
Die Folgerungen, die aus dieser These für die klassenlose Gesellschaft zu ziehen sei, haben neomarxistisch orientierte Theoretiker in unterschiedlicher Weise gezogen. Lucien Goldmann wähnt, dass es dann »wahrscheinlich keine von dem Leben getrennte Kunst mehr geben [wird], weil das Leben selbst einen Stil, eine Form haben wird, in denen sie ihren adäquaten Ausdruck finden kann« (Goldmann 1966: 24). Auch für Theodor W. Adorno wird die Kunst dann überflüssig: »Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende« (GS 7: 55), beziehungsweise: »Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben« (GS 12: 14). Ernst Fischer und Herbert Marcuse gehören zu den Neomarxisten, die der Kunst ein Weiterleben auch in der klassenlosen Gesellschaft prophezeien. Nur dystopisch ist Marcuse ein »Ende der Kunst« vorstellbar, »wenn die Menschen nicht mehr imstande sind zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich, Gegenwärtig und Zukünftig zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation« (Marcuse 1973: 140). Der Austromarxist Ernst Fischer, der nach seinem Eintritt in die Kommunistische Partei Österreichs die Zeit des Nationalsozialismus im Prager und Moskauer Exil verbracht hatte, brach nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Prag 1968 mit dem »Panzerkommunismus«, was 1969 zu seinem Ausschluss aus der KPÖ führte. In den 1950er Jahren hatte er eine anregende Publikation mit dem Titel Von der Notwendigkeit der Kunst vorgelegt. Er war der Überzeugung, dass die Kunst »unentbehrlich war, ist und bleiben wird«, auch in der »höchstentwickelten Gesellschaft« (Fischer 1959: 5). Er unterscheidet zwischen der »ursprünglichen, elementaren Funktion« und der Funktion in einer »differenzierten Gesellschaft der Klassen und Klassenkämpfe« (ebd.: 9). Offenkundig dünkt ihn die Kunst als »jeweils zeitbedingt«, indem sie »die Wirklichkeit darstellt, wie sie den Auffassungen und Forderungen, Bedürfnissen und Hoffnungen einer gesellschaftlichen Formation entspricht, dass sie aber zugleich über diese Begrenztheit hinausgeht, im geschichtlichen Augenblick zugleich ein Moment der Menschheit, ihrer fortschreitenden Entwicklung gestaltet« (ebd.: 10). Es wäre ihm zufolge eine grobe Vereinfachung, »irgendein Kunstwerk nur als ›Widerspiegelung‹ einer gesellschaftlichen Situation verstehen zu wollen« (Fischer 1968: 61). Schließlich sei der Künstler nicht passiver Empfänger »einer auf ihn einwirkenden Umwelt« (ebd.); er gestaltet eine neue Wirklichkeit. »Das Kunstwerk ist eine Wirklichkeit sui generis« (ebd.: 62). Dies stehe im Wi-
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derspruch zur Widerspiegelungstheorie als Dogma des Sozialistischen Realismus, der sich als »ästhetischer Verschönerungsverein« geriere (ebd.: 64). Fischer erkennt in der Kunst den Willen zum »Überschreiten der Aktualität als die Verneinung des Etablierten und die Ahnung einer freieren und reineren Existenz« (ebd.: 67). Kunst und Literatur erscheinen ihm als »das Unversöhnliche«, als »Widerstand des Menschen gegen einen Schwund in Ordnungen und Systemen« (ebd.). Etwas holzschnittartig skizziert Fischer drei kollektive Perioden der menschlichen Entwicklung. In der ersten war Kunst ein großes Hilfsmittel gegen die unverstandene Natur, eng verbunden mit Magie und Religion. In der zweiten Periode der Arbeitsteilung und Klassenspaltung wurde Kunst zum Hilfsmittel der Aufklärung über die mannigfaltigen gesellschaftlichen Konflikte. Die dritte Periode, die der klassenlosen Gesellschaft, wird »einer Kunst Raum geben, deren wesentliche Funktion weder Magie noch gesellschaftliche Aufklärung sein wird« (Fischer 1959: 192). Mit der optimistischen Prophetie: »Die Kunst kann nur sterben, wenn die Menschheit stirbt« (ebd.: 197), schließt das Buch. Weil nach Marcuse auch die freie Gesellschaft das »Reich der Notwendigkeit« nicht aufheben, sondern nur auf ein Minimum reduzieren könne, »bleiben die Künste Ausdrucksformen ganz und gar eigener Art, Ausdruckformen einer Schönheit und Wahrheit, die die Wirklichkeit so nicht kennt« (Schweppenhäuser 2000: 31). Daher kann die Kunst ihre Existenzberechtigung niemals verlieren. Im Gegensatz zu Adorno, der das Wesen der Kunst gesellschaftstheoretisch verortet und sich ihr Ende vorstellen kann, verstehen Marcuse und Fischer die Kunst als eine anthropologisch bedingte Konstante. Gleichwohl sehen alle drei Autoren erkenntnistheoretisch in ihr eine Art Komplement zur Wissenschaft mit eigenem Wahrheitsgehalt und spezifischen Erkenntnissen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten hingegen erscheint sie ihnen als ein autonomes, vorwiegend sinnlich konstituiertes Formgebilde, das zur instrumentell-funktionalen Wissenschaft einen Gegenpol bildet.
7. Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff – eine Melange aus Weber und Marx
Pierre Bourdieu, ohne Frage einer der originellsten Gesellschaftstheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat die Soziologie um einige nachhaltige Begriffe bereichert: Habitus, Distinktion, sozialer Raum, Feld der Macht, symbolisches Kapital. Wenn auch über deren Definitionen, Bedeutungshöfe und Theorieanschlüsse unter Sozialwissenschaftlern munter gestritten wird, bezweifelt niemand ihre analytische Produktivität. Neben dem Habitus ist es insbesondere der Kapitalbegriff, der in der soziologischen Analyse und Lehre reüssierte. Mit der vierfachen Auffächerung des singulären Marxschen Kapitalbegriffs in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital setzte Bourdieu eine Familie von Kapitalien ins Leben, die das terminologische Repertoire der Sozialwissenschaften innovativ erweiterte (Bourdieu 1983: 183ff.). Dem folgten später eine weitere Vielzahl von Kapitalsorten (s. weiter unten). Noch eng an die Marxsche Bestimmung angelehnt, definiert er: »Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder verinnerlichter, inkorporierter Form« (Definition 1) (Bourdieu 1983: 183). Eine andere Definition von ihm erinnert indessen eher an Max Weber: »Kapital – in seiner objektivierten Form als materielles Eigentum wie in seiner inkorporierten Form zum Beispiel als kulturelles Kapital […] – stellt Verfügungsmacht im Rahmen eines sozialen Feldes dar« (Definition 2) (Bourdieu 1985: 10). Es ist die Verquickung von Marxens Kapital- und Webers Machtbegriff, die Bourdieus erweiterten Kapitalbegriff so attraktiv, aber teilweise auch schillernd macht. Überprüfen wir zunächst die Definition 1 am kulturellen Kapital, das Bourdieu in drei Unterformen ausdifferenziert: inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes. Inkorporiertes kulturelles Kapitel ist körpergebunden, beruht auf eigenem Studium, erfordert Unterrichts- und Lernzeit, die investiert werden muss.
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Man kann diese zeitraubende Investition in Bildung durchaus als akkumulierte Eigenarbeit begreifen: »Wer am Erwerb von Bildung arbeitet, arbeitet an sich selbst, er ›bildet sich‹« (Bourdieu 1983: 186). Obwohl absolvierte Sprachkurse und philosophische Kollegs, Galerien- und Opernbesuche nicht ohne weiteres dem Marxschen Arbeitsbegriff – Stoffwechsel mit der Natur – zu subsumieren sind, ist es dennoch plausibel und nachvollziehbar, sie in einem allgemeineren Sinn als verausgabte Arbeit zu begreifen. Anders verhält es sich mit dem objektivierten kulturellen Kapital, das zum Beispiel in Form von Kunstschätzen, Autographen, Bibliotheken etc. übertragbare und mit ökonomischem Kapital erwerbbare Objekte verkörpert, die zwar aus Arbeit hervorgegangen sind, aber deren Marktwert – man denke nur an das Gemälde eines Cézannes oder Picassos – sich heute allenfalls noch in kleinsten Bruchteilen auf akkumulierte Arbeit zurückführen lässt. (Apropos: für seltene, nicht-reproduzierbare Produkte hielt Marx seine Arbeitswertlehre ohnehin für untauglich.) Weitere Schwierigkeiten ergeben sich mit dem institutionalisierten kulturellen Kapital. Die institutionelle Anerkennung durch schulische oder akademische Titel honoriert entweder das inkorporierte kulturelle Kapital oder, im Falle von Ehrentiteln, anderen »Verdiensten« um die Kultur, das Gemeinwesen, die Zukunft der Wale etc. Es ist eine Form der symbolischen Anerkennung des Besitzers von kulturellem oder mäzenatisch für kulturelle Zwecke eingesetztem ökonomischen Kapital, aber als Produkt akkumulierter Arbeit sind dabei allenfalls die Laudationes anzusehen. Zum sozialen Kapital schließlich. Handelt es sich nicht um ererbtes soziales Kapital durch Herkunft, muss zu seiner Bildung natürlich Zeit aufgewandt werden, die wiederum als Eigenarbeit klassifizierbar ist, aber wenn dazu die Zeit für Gespräche im Kaffeehaus, für Small Talks auf Vernissagen und für gemeinsame Saunabesuche gehören, franst der Arbeitsbegriff doch arg aus. Vollends gilt dies für das symbolische Kapital, von Bourdieu als Reflexionsoder Anerkennungsform der anderen Kapitalsorten definiert, das seinen Bezug zur Arbeit gänzlich verloren hat. Eine andere Eigenart des Bourdieuschen Konzepts ist die (eingeschränkte) Konvertierbarkeit des Kapitals. Das heißt: es gibt übertragbare und kaufbare Objekte, die aus Arbeit hervorgegangen sind, wenngleich sie nur noch entfernt als akkumulierte Arbeit begriffen werden können. Sie sind gleichwohl als objektiviertes kulturelles Kapital übertragbar und können durch ökonomisches Kapital angeeignet werden. Hingegen ist inkorporiertes kulturelles Kapital nicht übertragbar, gleichwohl bedarf es zu dessen Bildung des ökonomischen Kapitals; schließlich kosten die langen Ausbildungszeiten und ex-
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zellenten Ausbildungsstätten einen Haufen Geld. Übertragen werden kann es freilich als symbolisches Kapital (Prestige etc.), ohne dass der ursprüngliche Besitzer ein Jota davon verliert, etwa wenn der arrivierte Schriftsteller einen schriftstellernden Novizen positiv rezensiert. Definition 2 führt uns zur Bourdieuschen Variante soziologischer Differenzierungstheorien, zu seiner Feldtheorie. Soziales Feld (z.B. Wirtschaft, Administration, Bildung, Kunst, Religion) bezeichnet eine relativ autonome, von besonderen Regeln durchwirkte Handlungssphäre vergesellschafteter Menschen mit spezifischen – zum Habitus verdichteten – Qualifikationen und Praktiken. Jedes Feld verfügt über eine Hierarchie von (Macht-)Positionen. An vielen Stellen seines Werkes setzt Bourdieu Kapital mit Macht bzw. Machtressource gleich. »Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw. […] den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt« (Bourdieu 1993b: 108). Andernorts spricht er von »den verschiedenen Sorten von Macht oder (sic!) Kapital, die innerhalb der einzelnen Felder jeweils in Kurs sind« (Bourdieu 1985: 10). Findet Luhmann für jedes Teilsystem einen eigenen binären Code und (meist) auch ein spezifisches Kommunikationsmedium, dann Bourdieu für jedes soziale Feld eine andere Kapitalsorte. Für das kulturelle Feld zum Beispiel hat er für dessen Unterfelder – literarisches, künstlerisches, intellektuelles, philosophisches etc. Feld – auch die entsprechenden Kapitalspezifikationen, meist eher beiläufig, eingeführt. Sie sind Machtressourcen in ihrem jeweiligen Feld: universitäres (akademisches, wissenschaftliches) Kapital im universitären (akademischen, wissenschaftlichen) Feld etc. In allen Feldern geht es um die Anhäufung von Kapital, geht es darum, (herrschende) Positionen zu erringen und damit Konsekrationsmacht zu erlangen und zu verteidigen, woraus dann die interne Hierarchie des jeweiligen Feldes resultiert. Der Aufbau der Felder und Kapitalien ist analog: Soziale Unterfelder bilden jeweils ein separates Feld, das Gesamt der Felder bildet den sozialen Raum. Ohne uns daran zu stören, dass Flächiges (Felder!) sich zu Räumlichem auftürmt, stellen wir uns mit Bourdieu den sozialen Raum vertikal gegliedert vor. In diesem Raum hat ökonomisches und politisches Kapital die Vorherrschaft vor kulturellem Kapital. Die Position eines Feldes ergibt sich
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aus der Bedeutung für die Gesellschaft und der von seinen Angehörigen durch den Einsatz von Machtressourcen errungenen und behaupteten Stellung im gesellschaftlichen Machtgefüge. Für dieses hat Bourdieu auch den Terminus »Feld der Macht« eingeführt, das als übergreifendes Feld die hierarchische Positionierung der Klassen nach Volumen und Zusammensetzung ihres Kapitals in der Gesellschaft registriert. Neben den genannten vier Grundformen des Kapitals findet sich in späteren Arbeiten eine nahezu inflationäre Verwendung des Kapitalbegriffs. Das Spektrum umfasst: religiöses, juristisches, staatliches, bürokratisches, politisches, militärisches, physisches, informationelles, linguistisches, schulisches, universitäres Kapital (Bourdieu 1988; 1998). Die meisten dieser Kapitalsorten werden nicht näher definiert, sondern eher beiläufig, zum Teil als Unterarten des kulturellen und symbolischen Kapitals, eingeführt. Ausnahmen sind einmal das juristische, ein andermal das staatliche Kapital. Juristisches Kapital ist eine »objektivierte und kodifizierte Form des symbolischen Kapitals (des Staates)« (Bourdieu 1988: 109). Für das staatliche Kapital führt Bourdieu gar den Begriff des »Metakapitals« ein: »Der Staat ist das Ergebnis eines Prozesses der Konzentration verschiedener Kapitalsorten, Kapital der physischen Gewalt bzw. der Mittel zur Ausübung dieser Gewalt (Armee, Polizei), ökonomisches Kapital, kulturelles oder, besser, informationelles Kapital, symbolisches Kapital, eine Konzentration, die an sich schon den Staat zum Besitzer einer Art Metakapital macht, das ihm Macht über die anderen Kapitalsorten und ihre Besitzer verleiht« (ebd.: 100f). Das »spezifische staatliche Kapital« erlaubt die »Ausübung von Macht über die verschiedenen Felder« (ebd.: 101). Nebenbei bemerkt, nähert sich Bourdieu mit dieser Definition einem organisationellen Machtbegriff an, wie ihn beispielsweise Michael Mann (1990: 22f.) verwendet, der indessen mit vier Quellen/Grundformen der Macht auskommt: ideologische, ökonomische, militärische, politische Macht. Bourdieus erweiterte Kapitaltheorie erlaubt es nicht mehr, die vielen Kapitalformen auf Arbeit zurückzuführen. Wir haben es im Grunde mit einer Verschmelzung und gleichzeitigen Ausdifferenzierung von Marxens singulärem Kapital- und Webers amorphen Machtbegriff zu tun. Dafür sprechen auch Zusammenziehungen wie »universitäres Machtkapital« und der synonyme Gebrauch von Kapitalakkumulation und Machtakkumulation (Bourdieu 1988: 160). Bourdieu kombiniert beide Begriffe und fächert sie dann auf. Als
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»soziologisch amorph« wird Macht von Max Weber charakterisiert, da sie auf »allen denkbaren Qualitäten eines Menschen und allen denkbaren Konstellationen« beruhen kann (Weber 1964: 38). Bourdieu verleiht dem soziologisch Amorphen Namen, er zerlegt das Phänomen Macht in einer Spektralanalyse zu Kapitalsorten. Durch die Gleichsetzung mit dem Kapitalbegriff gewinnt er der Macht neue Dimensionen ab. Weitaus elastischer als der Machtbegriff, impliziert der des Kapitals die Möglichkeit der Akkumulation und Übertragbarkeit. Kapital lässt sich quantifizieren, es besteht aus (materiellen oder immateriellen) Gütern oder Produkten, aus Titeln oder Rechten, aus Kompetenzen oder Fähigkeiten, die vererbt oder erworben werden können, sich verteilen lassen und um die soziale Kämpfe geführt werden. Alle die Eigenschaften, die Marx am ökonomischen Kapital aufgezeigt hat (und noch einige mehr), überträgt Bourdieu auf seine übrigen Kapitalsorten, ohne dabei die Essenz des Weberschen Machtbegriffs aufzugeben. Dadurch erweitert er das soziologische Instrumentarium: das amorphe und ubiquitäre Phänomen der Macht kann so in prozessualen, feldspezifischen Analysen dingfest und transparent gemacht werden.
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8. »Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie. Der George-Kreis aus der Sicht Bourdieus
Zu den Paradoxien des Dichters Stefan George (1868-1933) gehört, dass er zu Lebzeiten eine außerordentliche Ausstrahlungskraft in der geistigen Welt des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik besaß, bei »einer ziemlich vollständigen Verweigerung des Autors gegenüber allen geläufigen Formen medialer Präsenz« (Raulff 2012: 17). Der Germanist Ernst Osterkamp vermerkte, dass Georges mit seinen »Versuchen einer Wiedereinsetzung der Kunst als einer metapolitischen Heilslehre im Sinne einer Ästhetik des Widerstands gegen die Moderne«, in der Gestalt des charismatischen Dichters »große Teile der bürgerlichen Intelligenz allein durch die Kraft seiner Poesie in den Bann seiner antimodernen Erneuerungssehnsucht zu ziehen und damit zugleich in ein Führer-Gefolgschaftsverhältnis zu zwingen vermochte« (Osterkamp 2010: 12). In einem Gedenkartikel zu Georges 60. Geburtstag schrieb Ludwig Marcuse 1928 in der »Kölnischen Zeitung«: Es gebe in der Literatur der Gegenwart »keinen zweiten Fall von Anonymität bei Weltberühmtheit, der sich hiermit vergleichen ließe« (zit.n. Raulff 2012: 17). Auch der Kreis, den er um sich gebildet hatte, zeichnete sich durch strenge Exklusivität aus, die schon in ihrer Eigenbezeichnung – als »Geheimes Deutschland« (Kraus 2010) – zum Ausdruck kam, und die er noch nach Georges Tod im schweizerischen Minusio als, wenn auch zersplitterter »Kreis ohne Meister« (Raulff 2012) relativ lange im Nachkriegs-Europa pflegte.1 Das literarische Phänomen des George1
Ein Beispiel dafür ist die Stiftung Castrum Peregrini in Amsterdam, die von 1951 bis 2007 die gleichnamige Zeitschrift mit fünf Ausgaben pro Jahr und in nummerierter Auflage im eigenen Verlag herausgab; ein anderes die von Robert Boehringer gegründete Stefan George-Stiftung, die anlässlich Georges 100. Geburtstages schroff einen Fragebogen des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft mit dem Hinweis zurückwies,
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Kreises und seiner erfolgreichen Strategie lässt sich mit der von Pierre Bourdieu theoretisch elaborierten Feldtheorie und seiner Kategorie der »verkehrten Ökonomie« plausibel aufschließen. Die Parallelen zu der von ihm in seinem meisterhaften Werk, »Die Regeln der Kunst« (1999), analysierten Pariser Avantgarde und Bohème des ausgehenden 20. Jahrhunderts sind augenfällig. In der Pariser Avantgarde um Gustave Flaubert und C harles Baudelaire erkannte Bourdieu eine exemplarische Gruppierung, die für die Genese des literarischen Feldes mit der Durchsetzung einer autonomen Kunst eine konstitutive Rolle spielte. Diese Kunst gehorchte einer anderen als der hergebrachten ökonomischen Logik: einer nicht akkumulierenden, sondern verausgabenden – eben »verkehrten« – Ökonomie. In dem »spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt«, einer »wahren Provokation jeder Form von Ökonomismus« (Bourdieu 2011: 345), heißt die vieldeutige Maxime: »wer verliert, gewinnt« (ebd.: 347). Im Folgenden wird die Bourdieusche Konzeption skizziert und anschließend als Erklärungsmodell für das Wirken des George-Kreises im literarischen Feld seiner Zeit genutzt, wobei die Analyse des George-Kreises nicht auf ein exemplum praeclarum beschränkt bleibt, sondern eine wesentlich breitere Darstellung erfährt.
Literarisches Feld Bourdieus Feldtheorie ist eine Theorie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Handlungsbereiche, die als soziale Felder bezeichnet werden. Darunter sind Netze oder Konfigurationen von objektiven Relationen zwischen Positionen zu verstehen, die durch den Zugang oder den Besitz von Macht bzw. Kapital definiert werden (Bourdieu/Wacquant 2006: 127). Soziale Felder konstituieren sich durch Verselbstständigung und institutionalisierte Autonomie als »eigenständige Universen« mit jeweils verschiedenartigen Logiken. Die Gesamtheit der sozialen Felder (z.B. Wirtschaft, Administration, Bildung, Kunst, Religion) bilden den vertikal gegliederten sozialen Raum der Gesell-
dass sie allein der Dichtung Stefan Georges verpflichtet sei, und der habe sich »zeitlebens von solchen Verzeichnissen und Fragebogen ferngehalten« (Raulff 2012: 511).
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schaft.2 Es gibt eine externe Hierarchie der Felder und eine interne Hierarchie jeden Feldes. Die Position eines Feldes in der externen Hierarchie ergibt sich aus seiner Bedeutung für die Gesellschaft und der von seinen Angehörigen durch den Einsatz von Machtressourcen errungenen und behaupteten Stellung im gesellschaftlichen Machtgefüge. Für dieses hat Bourdieu auch den Terminus »Feld der Macht« (1998: 48-52) eingeführt, das als übergreifendes Feld die hierarchische Positionierung der Klassen nach Volumen und Zusammensetzung ihres Kapitals in der Gesellschaft registriert.3 Die entscheidenden Machtressourcen sind ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital (vgl. vorstehenden Beitrag). Kapital definiert er als »Instrument zur Aneignung von Chancen« (1993a: 119), mit denen spezifische Positionen erreicht und Bedeutungen und Wertungen durchgesetzt werden können. Der Begriff des »literarischen Feldes« ist in Bourdieus Verständnis eines der Felder der kulturellen Produktionen (neben Malerei, Musik, Film, Wissenschaft etc.). Es bezeichnet eine relativ autonome, von besonderen Regeln durchwirkte Handlungssphäre vergesellschafteter Menschen mit spezifischen – zum Habitus verdichteten – Qualifikationen und Praktiken, die am Produkt Literatur beteiligt sind, also Autoren, Kritiker, Verleger. Für die Analyse des literarischen Feldes ist der Begriff des symbolischen Kapitals von eminenter Bedeutung. Als Reflexionsform der drei anderen Kapitalsorten bezeichnet es den Ruf, das Prestige, die Berühmtheit, die jemand aufgrund der erworbenen Menge und Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalsorten genießt. Es ist die »wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien« (Bourdieu 1985: 11). Während die Verteilung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital unter Personen, Gruppen und Klassen in der Regel Gegenstand realer Kämpfe ist, resultiert die Verteilung symbolischen Kapitals aus symbolischen Kämpfen um die Bewertung von Leistungen insbesondere zwischen Klassenfraktionen innerhalb eines Feldes oder verschiedener Felder. Die Klasse, die genügend symbolisches Kapital akkumuliert hat, übt im Feld der künstlerischen Produktion Konsekrationsmacht aus, das heißt sie bestimmt über den legitimen Geschmack, über legitime Kunst.
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Abgesehen von der vertikalen Gliederung liegt die Analogie zu Max Webers Wertsphären und Luhmanns gesellschaftlichen Teilsystemen nahe. Zu Parallelen und Unterschieden s. Kneer 2004; Bourdieu/Wacquant 2006: 134f. Als »Metafeld« ist es »ein zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern querliegender Bereich« (Schumacher 2011: 137).
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Bourdieu klassifiziert die Schriftsteller und Künstler, die er der Sammelkategorie der Intellektuellen4 zuordnet, als »beherrschte Fraktion der herrschenden Klasse« (Bourdieu 1992: 160), dominiert von den Inhabern der ökonomischen und politischen Macht. Was nichts anderes heißt, als dass das intellektuelle (auch: kulturelle, literarische, künstlerische) Feld im sozialen Raum dem ökonomischen und politischen Feld nachgeordnet ist. Symbolische Kämpfe der Schriftsteller gegen die Bourgeoisie (als herrschende Fraktion der herrschenden Klasse) sind Kämpfe um die Position des literarischen Feldes im Machtgefüge der Gesellschaft (»Feld der Macht«). Dabei geht es um Fragen der Unabhängigkeit der Literatur vom Markt und um den Zugriff der Schriftsteller auf kulturelle Institutionen wie Theater und (Zugang zu) Akademien. In den einzelnen Feldern wiederum werden Gruppen- und Fraktionskämpfe um Macht und Einfluss nach feldspezifischen »Spielregeln« und Strategien ausgetragen. Selbstverständlich hat auch »das literarische Feld seine Herrschenden und seine Beherrschten, seine Konservatoren und seine Avantgarden, seine subversiven Kämpfe und seine Reproduktionsmechanismen« (Bourdieu 1992: 155). In den symbolischen Kämpfen geht es einmal um die Definition der Zulassungsvoraussetzungen zum Feld, ein andermal um die Bewahrung oder Veränderung von Positionen im Feld. Typisch für den agonalen Charakter des literarischen (künstlerischen etc.) Feldes sind die symbolischen Kämpfe der Avantgarden, zum Beispiel legitime Kultur gegen populäre, abstrakte Künstler gegen realistische, Autorenfilmer gegen »Papas Kino«. Macht im literarischen Feld manifestiert sich etwa darin: »zu publizieren oder die Publikation zu verweigern« (ebd.: 156); auch darin, dass ein anerkannter Autor sein Kapital durch lobende Rezension auf einen unbekannten Autor übertragen kann. Schließlich können Akteure ihre Macht bzw. ihr Kapital von einem Feld auf ein anderes Feld übertragen. Derartige Konvertierungsstrategien haben, je nach Art des Kapitals, freilich ihre Grenzen, sind indessen alltägliche Praxis. So kann beispielsweise das wirtschaftlich
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Den Intellektuellen definiert Bourdieu als »bi-dimensionales Wesen«: er muss als Kulturproduzent zum einen »einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze akzeptieren; zum anderen muss er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinne stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Fähigkeit einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat« (Bourdieu 1991: 42).
8. »Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie
starke Unternehmen mit ökonomischem Kapital, etwa als Sponsor, Einfluss auf das kulturelle Feld (Ausstellungswesen, Theateraufführungen) nehmen; und der Nobelpreisträger für Literatur kann als Wahlkämpfer für eine Partei sein im literarischen Feld erworbenes kulturelles Kapital im politischen Feld zur Geltung bringen. Unter der Fragestellung wie feldspezifische Macht aufgebaut, eingesetzt, erhalten, transformiert und konvertiert wird, hat Bourdieu (1999) die Ausdifferenzierung (Autonomisierung) des literarischen Feldes im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts detailliert analysiert und dabei drei Phasen unterschieden: erstens die heroische Phase der Distanzierung der »autonomen« Literatur (mit Flaubert und Baudelaire als »Gesetzgeber«)5 von der herrschenden bürgerlichen Kultur; zweitens die Phase des koexistierenden Dualismus von autonomem literarischen Feld der Bohème und der bürgerlichen Kultur des Massenpublikums; drittens die Phase der Eroberung einflussreicher Institutionen des etablierten Kulturbetriebs (Akademien, Theater, Verlage) durch die Bohème. Bourdieu argumentiert, dass in diesen Machtkämpfen der Bourgeoisie die Dominanz über das kulturelle Feld tendenziell entwunden werden konnte – nicht zuletzt deshalb, weil sich die Bohème von den beiden Institutionen der strukturellen Herrschaft des Bürgertums über die Künstler – Markt und Salon – unabhängig machte. Sie errang die Autonomie des literarischen und künstlerischen Feldes, indem sie ein eigenes Milieu gegenseitiger Unterstützung schuf, welches ihr erlaubte, sich vom ökonomischen Erfolg (Auflagenzahlen etc.) und von den Normen bürgerlicher Lebensführung freizumachen, um ausschließlich der Kunst zu dienen. Sie konnte über den Bourgeois nur triumphieren, indem sie ihn als Kunden abschaffte. Denn: »Heteronomie entsteht […] mit der Nachfrage« (Bourdieu 1997: 40). Nach Bourdieus Verständnis handelt es sich hierbei um eine Strategie im Machtkampf der Klassen und Klassenfraktionen. Strategien versteht er weder als regelhaft determinierte noch als rational kalkulierte, sondern als den »gekonnten praktischen Umgang mit der immanenten Logik eines Spiels« (Bourdieu 1992: 81ff.); sie entspringen dem »sozialen Sinn« für das Spiel und die Einsätze innerhalb eines Feldes. Die »Gesellschaft der Künstler«, schreibt Bourdieu, »ist jedoch nicht nur das Labor, in dem jene ganz besondere Lebensweise entwickelt wird« (Bour5
»Flaubert hat, […] mit anderen, zumal Baudelaire, erheblich zur Konstitution des literarischen Feldes als einer gesonderten Welt mit je eigenen Gesetzen beigetragen.« (Bourdieu 1999: 83f.)
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dieu 1999: 99), sie wird auch zu ihrem eigenen Markt: Die Produzenten haben zunächst nur »ihre eigenen Konkurrenten als Kunden« (ebd.: 135); und die Leserschaft der vielen kleinen, nur kurzfristig existierenden Zeitschriften setzt sich »vor allem aus den Mitarbeitern und deren Freunden zusammen« (ebd.: 136). Aber immerhin erzeugt ihr konsequentes Vorgehen Aufmerksamkeit und Anerkennung außerhalb ihres Kreises – bei den nicht-avantgardistischen Kunstrichtungen und der bürgerlichen Publizistik.
Verkehrte Ökonomie Dies bringt Bourdieu zu einer bemerkenswerten Einsicht: Im literarischen Feld herrscht eine »verkehrte Ökonomie«, das heißt symbolische Gewinne entstehen durch ökonomische Verluste. »Wer verliert, gewinnt.« (Bourdieu 1999: 345). Dafür stehen insbesondere Baudelaire und Flaubert, die die Unabhängigkeit des Künstlers über alles stellten. Weil er eine zu weite Verbreitung seines Buches befürchtete, schlug Baudelaire die ihm von einem Verleger angebotenen günstigen finanziellen Bedingungen und besseren Vertriebswege für die Veröffentlichung seiner »Fleurs du Mal« aus und wählte stattdessen einen kleineren Verleger, der sich für die avantgardistische Dichtung einsetzte (ebd.: 113). Aus Flauberts Korrespondenz zitiert Bourdieu eindrucksvolle Belege seiner Verachtung gegenüber den für Geld schreibenden Literaten und seiner Geringschätzung des Publikums. So verkündete er stolz in einem Brief: »Wir sind Luxusarbeiter und keiner ist reich genug, uns zu bezahlen« (ebd.: 135). Und bekennt in einem anderen, er würde »eher Aufseher in einem Internat werden, als vier Zeilen für Geld zu schreiben« (ebd.: 139). Öffentliche Ehrungen lehnte er mit dem Ausspruch »Ehren entehren« ab; und einem Kollegen warf er vor: »Haben Sie es nötig zum Publikum zu sprechen? Es ist unserer Vertraulichkeiten nicht würdig« (ebd.: 130f.). Der unmittelbare Erfolg hat für sie grundsätzlich etwas Suspektes (Bourdieu 1999: 238). Das Werk erscheint als »symbolische Opfergabe […], das keinen Preis hat«, als »eine Art Gabe, die sich die kostbarste Gegengabe, die ›Anerkennung‹, nur zu sichern vermag, wenn sie sich so sieht und erlebt, als gebe es für sie keine Gegenleistung«. Ihre Grundlage ist die »Askese im Diesseits« als »Voraussetzung des Heils im Jenseits«. Aber die künftige Gegengabe wird nur kaschiert durch ein »eingeschobenes Zeitintervall« (ebd.); dies »verschleiert den Profit, der den uneigennützigsten, interessenlosesten Investitionen verheißen ist« (ebd.: 239).
8. »Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie
Denn bei der Marktverweigerung handelt es sich, genau besehen, um eine »Zeitverschiebung zwischen Angebot und Nachfrage« (Bourdieu 1999: 135). Früher oder später werden symbolische Gewinne in ökonomische umtauschbar. Künstler müssen warten können, bis die Avantgarde auch von anderen als ihren eigenen Anhängern wahrgenommen und rezipiert wird; denn sie schreiben für ein Publikum, das sich zu ihren Werken erst noch »hochentwickeln« muss. Bourdieu spricht von langen, zukunftsorientierten (und damit risikoreichen) Produktionszyklen (ebd.: 229). In der Zwischenzeit bedarf es freilich, um sich vom Zwang des Gelderwerbs zu emanzipieren, des ererbten ökonomischen Kapitals und/oder der Einschränkung von Ansprüchen. Auf Flaubert traf beides zu: er erfreute sich seiner Pension und enthielt sich »einiger Annehmlichkeiten« (ebd.: 139) – und vermehrte so sein symbolisches Kapital. Ohne der Theoriearchitektur Bourdieus in ihren Verästelungen zu folgen, wollen wir in den nachfolgenden Abschnitten einige seiner Zentralbegriffe für die Darstellung und Analyse der literarischen Gruppierung des GeorgeKreises nutzen. Als wichtig erscheinen dabei vor allem seine Einsichten in Struktur und Dynamik des literarischen Feldes als Austragungsort symbolischer Kämpfe um Definitions- und Legitimationsmacht zwischen Gruppen und Individuen mit ihren spezifischen Machtressourcen und Strategien, seine Erklärungen zum Wandel feldinterner Koalitions- und Hierarchiebildungen sowie seine Hinweise auf die kapitalbasierten Interaktionen zwischen literarischem und anderen Feldern insbesondere im Kampf um die Autonomie der Literatur.
Zwei George-Kreise Die in der Literaturgeschichte geläufige Bezeichnung »George-Kreis«6 steht für eine der langlebigsten literarischen Gruppierungen, die sich sowohl durch eine charismatische Führergestalt wie durch einen hochgradig exklusiven Charakter mit gleichzeitig epochaler Ausstrahlung auf ihre kulturelle und wissenschaftliche Umwelt auszeichnete. Die Bezeichnung hat freilich nur heuristischen Wert, da es mehrere George-Kreise gegeben hat. Zumindest 6
Die Bezeichnung Kreis »wird summarisch, ohne spezifische soziologische Füllung auf Gruppen von Personen angewendet, die bestimmte Ähnlichkeiten oder Affinitäten aufweisen« (Kolk 1998: 115).
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zwei Kreise sind zu unterscheiden: erstens der lockere, gleichwohl exklusive Zusammenschluss gleichrangiger Autoren um die »Blätter für die Kunst« in den 1890er Jahren und zweitens der »ideelle Bund«, ein innerer Kreis des charismatischen Meisters und seiner ihn adorierenden Jünger, nach der Jahrhundertwende. Folgen wir dem Strategie-Verständnis Bourdieus, dann können wir den frühen Kreis als vornehmlich im Dienste des Aufbaus von Konsekrationsmacht im literarischen Feld begreifen, während der spätere Kreis das akkumulierte soziale und symbolische Kapital in den Kampf um Einfluss und Dominanz in den benachbarten Feldern von Kultur, Wissenschaft und Politik investierte.
a) »Blätter«-Kreis Der frühe Kreis gruppierte sich um die exklusive Zeitschrift »Blätter für die Kunst«. Die 1892 gegründete (in insgesamt 12 lockeren Folgen mit jeweils fünf Heften à 32 Seiten im Privatdruck erscheinende und 1919 eingestellte) Zeitschrift mit einer bewusst bescheidenen Aufmachung, die sie bis zum Schluss beibehielt, lud zur Mitarbeit nur »ganz intime gefährten und gefährtinnen« ein (Klein an Hofmannsthal; G/H: 21)7 und verstand sich als »bollwerk gegen den ansturm wilder horden« (Landmann 1965: 30). Als ihr Herausgeber fungierte Georges Schulfreund Carl August Klein. Das erste Heft mit einer Auflage von 100 Exemplaren verkündete auf dem Titelblatt: »Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis« (Kluncker 1974: 21), eine Mitteilung übrigens, die kontrafaktisch bis zur letzten Folge beibehalten wurde (ebd.: 63). Sie lag allerdings nur in drei ausgewählten Buchhandlungen, in Berlin, Wien und Paris, aus, den Erscheinungsorten der ersten Privatdrucke von Georges Gedichtbänden (ebd.:
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Für den Briefwechsel werden folgende Siglen verwendet: B/H: Briefwechsel Rudolf Borchardt – Hugo von Hofmannsthal. Hg. Gerhard Schuster. München 1994; G/G: Stefan George – Friedrich Gundolf Briefwechsel. Hg. Robert Boehringer und Georg Peter Landmann. München 1962; G/H: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2. erg. Aufl. München 1953; G/W: Stefan George – Friedrich Wolters Briefwechsel 1904-1930. Hg. M. Philipp. Amsterdam 1998; W/G: Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf. 2 Bde. Hg. Karlhans Kluncker. 2. Aufl. Amsterdam 1976.
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20). Der Vorrede zum ersten Heft zufolge war eines ihrer Ziele, »zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben« (George DB: 2166). Die Beiträger waren ihr erster Leserkreis, jeder Leser ihr potentieller Autor. Die Kosten des Drucks verteilten die Autoren unter sich. Ganz im Geiste des l’art pour l’art Baudelaires, Verlaines und Mallarmés, deren Kunstverständnis den bilingual aufgewachsenen George stark beeinflusst hat,8 stand die Zeitschrift im Dienst »einer kunst für die kunst«; und abhold aller »weltverbesserungen und allbeglückungsträumen« (George DB: 2165; Landmann 1965: 15), befeindete sie die sogenannte naturalistische Literatur ebenso wie andere literarische Gegenwartsströmungen.9 Sie setzte bewusst auf junge Autoren, literarische Novizen, die sie – als »unbefleckt« von Kämpfen und Karrieregeplänkel im literarischen Feld – an die »Blätter« binden wollte.10 Ihr Leitbild ist der »geistige« Künstler als Antipode zum Literaten, welcher die Masse bedient (Kolk 1998: 104). Die »heiligkeit« der Kunst erfordere den Verzicht auf ökonomisches Kalkül und den »bund mit beliebigen schreibmenschen« (G/H: 150). Wegen des gesellschaftlichen Verkehrs mit »geistniedrigen wesen« wird Wolfskehl ermahnt: »hier soll es »keine verträglichkeit geben« (zit.n. Kolk 1998; 99).11 »Die Ethik des wahren Künstlers«, folgert Kolk, »verbietet ihm marktgängige Produktionsformen, die sich um öffentliche Anerkennung und kontinuierliche Präsenz in Publikationsorganen bemühen« (ebd.). Die Parallele zu Baudelaires und Flauberts distanzierter Einstellung zu Markt und Publikum ist offensichtlich. Georges Idiosynkrasie gegenüber dem Kommerziellen teilte offenbar auch sein Zeitgenosse Arnold Schönberg, der Gedichte und Zyklen von George vertont hatte und mit ihm den Anspruch am »autonomen Kunstwerk« vertrat. Er erfand nach mehreren Skandalen öffentlicher Aufführungen seiner Werke, das »Privat-Konzert«, wodurch er sich von der Öffentlichkeit unabhängig machte und hierzu ei-
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Bereits als Einundzwanzigjähriger fand George während seines mehrmonatigen ParisAufenthalts Kontakt zu Verlaine und Zugang zu Mallarmés wöchentlichem Konversationskreis; Baudelaires »Les fleurs du mal« wurde von ihm übersetzt. Zu den befeindeten Autoren zählten Hauptmann, Bahr, Dehmel, Borchardt, Schröder. »Zu den verpönten Gattungen gehörten die Erzählung, das soziale Drama und der Roman« (Lepenies 1985: 316). »48 % der Blätter-Autoren sind bei ihrer ersten Veröffentlichung in der Zeitschrift unter 25 Jahre alt.« (Kolk 1998: 67 Fn.) Der Anlass war: Wolfskehl hatte sich mit Liliencron und Dehmel getroffen (Kolk 1998: 99).
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gens einen »Verein für musikalische Privataufführungen« gründete (Steinert 1993: 71ff.). Der sich um die Zeitschrift gruppierende Kreis bestand vor 1900 aus einer »Gruppe gleichaltriger Dichter und Künstler, die zum großen Teil unabhängig voneinander […] ohne feste persönliche Bindung an George, doch nach dem Vorbild seiner Dichtung und Ästhetik, sich vor allem durch ein neues Stilideal verbunden fühlten« (Winkler 1972: 56) und im intim feierlichen Kreise seinen Lesungen lauschten – »Poesie als zelebriertes Sakrament« (Braungart 1997: 18). Sie bildete eine lockere literarische Gemeinschaft, mehr Netzwerk als Gruppe, in der freilich George als zentrale Instanz fungierte, der die eingehenden Beiträge bewertete, auch selbstherrlich in sie hinein redigierte, und neue Autoren rekrutierte, die durch persönliche Kontakte an die Zeitschrift gebunden wurden. Die halbinformelle Zeitschrift rangierte »zwischen Privatbrief und Publikation« mit dem »Charakter eines gruppenintern zirkulierenden Manifestes« (Kolk 1998: 49); ihre durchschnittliche Auflage lag bei 300 Exemplaren (Kluncker 1974: 62).12 Die Reihenfolge der Beiträge bestimmte jeweils George. Eröffnet wurden die einzelnen Hefte in der Regel mit George, gefolgt von Hugo von Hofmannsthal, Paul Gérardy und Karl Wolfskehl; den Abschluss vor den Novizen bildeten meist Übertragungen von George (vgl. das ausführliche Inhaltsverzeichnis in Kluncker 1974: 190-279). Die Mitarbeiter traten noch wenig miteinander in Kontakt, standen aber in Verbindung und Bekanntschaft mit George. In dem sechs Jahre jüngeren Hofmannsthal sah George sein Alter ego.13 Doch während dieser sich der besitzergreifenden Vereinnahmung schließlich entzog (und dafür den späteren Unmut des Kreises erntete), entwickelte sich zwischen George und Wolfskehl ein besonders inniges Verhältnis. Ein engerer Kreis – die »Kosmische Runde« – bildete sich mit George, Ludwig Klages, Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und anderen in München als Diskussionszirkel in Privatwohnungen mit dem gastlichen Mittelpunkt des Hauses von Wolfskehl. George nahm an den Treffen der Kosmiker teil, wenn immer er in München war. Die auf symmetrischer Kommunikation und sozialer Gleichrangigkeit der Teilnehmer basierende Kosmische Runde zerbrach am Streit zwischen George und Klages über die Qualität der »Blätter« und Fragen über die Rolle von Kunst und Künstlern. 12 13
Ein Abonnentenverzeichnis von 1903 führt 151 Adressaten auf (Kluncker 1974: 62). »o mein zwillingsbruder«, heißt es emphatisch in einem frühen Brief Georges an Hofmannsthal (G/H: 13).
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Ein anderes enges Beziehungsnetz knüpfte George in Berlin, wo er jährlich mehrere Monate verbrachte und begehrter Gast in den Salons der Jahrhundertwende war.14 Wiederholte Lesungen vor einem ausgewählten Kreis (mit einem Kontingent für Damen15 ) im Hause des Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius und seines Verlegers Georg Bondi führten ihn mit Intellektuellen der Berliner Universität (unter ihnen Max Dessoir, Kurt Breysig und Georg Simmel) zusammen. Häufig verkehrte George auch im Haus der Simmels. Mit Nietzsche als dem »gemeinsamen Ahn« waren George und Simmel in »Freundschaft und gegenseitiger Befruchtung« (Landmann 1984: 147f.) verbunden. »Wie Nietzsche für das ›individuelle Gesetz‹ den theoretischen Anstoß gab, so gab George Simmel von der menschlichen Seite her […] dessen anschauliche Bestätigung« (ebd.: 150). Es waren die befreundeten Geisteswissenschaftler, die in ihren Vorlesungen und mit Veröffentlichungen über George die Vermittlung zur kulturellen Öffentlichkeit herstellten. Im Kolleg des Kunstphilosophen Dessoir trug George mehrmals seine Gedichte vor (Breuer 1995: 169). Simmel, der »vom Katheder herab Rodin und George« als die »grössten Künstler des Jahrhunderts« bezeichnete (Gundolf in G/G: 180), schrieb drei Aufsätze über ihn.16 Im ersten, einer »kunstphilosophischen Betrachtung«, verglich er George mit dem späten Goethe (Simmel 1992: 290). Die Aufzählung seiner bisher erschienenen Gedichtzyklen verband er mit dem Hinweis auf die exklusive Publikationsstrategie: »Alle sind nur in ganz wenigen Exemplaren gedruckt und im Buchhandel kaum erhältlich. Die von George und seinen Anhängern seit einigen Jahren herausgegebene Zeitschrift ›Blätter für die Kunst‹ ist zwar auch nur für einen geladenen Leserkreis gedruckt, doch sind einzelne Hefte hier und da käuflich« (ebd.: 287).
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Darin unterscheidet sich George und sein Kreis übrigens von der Pariser Bohème, die die bürgerlichen Salons strikt mied. Simmel, der zu einem Vorleseabend bei Lepsius ein »Fräulein Kantorowicz« einführen möchte, bedauerte in einem Brief an George, dass ihm der Gastgeber mitgeteilt habe, »die Zahl der zugelassenen Damen« sei schon erreicht; gleichwohl erhielt er die Erlaubnis, einen weiteren Herrn – es handelte sich um Rilke – einzuführen (vgl. Simmel 2005: 269f.). »Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung« (Die Zukunft, 1898); »Stefan George« (Die Neue Rundschau, 1901); »Der Siebente Ring« (Münchner Neueste Nachrichten, 1909).
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Der ostentative Gestus der Exklusivität und die elitäre Distanzierung von »jenen abgeschmackten befleckenden (sogenannten modernen) zeitschriften« (Klein in einem Brief an Hofmannsthal; G/H: 21) sind die strategisch gewählten Mittel, die Distinktion nach außen und Verbundenheit nach innen erzeugen. Der Briefwechsel Georges (und seines Beauftragten Klein) mit Hofmannsthal legt das strategische Kalkül offen: George strebt die Verdopplung des symbolischen Kapitals an. Der Wiener Dichter, als ebenbürtiges und bereits berühmtes Talent umworben, soll von den »halb-dichtern« und »reimköchen« getrennt und als eine der »beiden hauptstützen« in den »streng exclusiven charakter der sache« (Klein; G/H: 21) eingebunden werden, nicht ohne seine Veröffentlichungen in anderen Publikationsorganen zu missbilligen.17 Hofmannsthals Wunsch, ihn »als gelegentlichen Mitarbeiter« und »neutralen Bestandteil des wohlwollenden Publicums« (ebd.: 69) anzusehen, replizierte Klein mit den harschen Worten: »es ist durch den charakter der gründung keinem mitarbeiter verstattet nur insofern es ihm angenehm dünkt mitzuwirken« (ebd: 69). Nachdem Hofmannsthal die erbetene »unzweifelhafte stellungnahme« (ebd.: 70) nicht geliefert hat, avisierte Klein dem nun bereits als »früheren Mitarbeiter« adressierten einige Monate später eine »parteilose notiz« (ebd.: 70) in den »Blättern« über den Verzicht auf seine Mitarbeit. Doch dazu kam es nicht. Trotz seiner Vorhaltungen18 ließ George Hofmannsthals gelegentliche Mitarbeit zu; er blieb ständig bemüht, von Hofmannsthal nur irgend etwas zur Veröffentlichung zu erhalten.19 Zu einer der zahlreichen Irritationen Hofmannsthals führte der Versuch, ihn zu instrumentalisieren. Von Klein gebeten, »in einem anderen öffentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen«, antwortete Hofmannsthal befremdet: »Wozu? warum dann nicht gleich meine Sachen wo anders unter Fremden abdrucken lassen? dann habe ich offenbar das ganze Wesen der Gründung falsch verstanden?« (Ebd.: 17
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George an Hofmannsthal: »Sie besonders möchte ich noch darum bitten sich recht rege zu beteiligen und Ihre kräfte nicht den ganz wertlosen veröffentlichungen zu leihen« (G/H: 81). Etwa derart: »… ersuche ich um das eine keinen von den berufs-schreibern in Ihre beratung zu ziehen besonders keinen von den schwachsinnigen Berliner halb-dichtern« (G/H: 111). Noch krasser der Tadel Kleins: »wir konnten es keinem mitglied unseres kreises verwehren in den bezahlenden grossen tageblättern zu ihrem lebensunterhalt zu schreiben, wol aber in so niedrigen konglomeraten wie Moderner Musenalmanach und tiefer stehenden sich zu verewigen« (ebd.: 71). Gegenüber Gundolf macht Wolfskehl geltend: »Neben George aber gibt es Hofmannsthal und das andere bis zum Lechter- und Laienliebling Rilke n’existe pas« (W/G:II: 239).
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52f.) Mit dialektischer Finesse antwortete Klein: »mein vorschlag sagt durchaus nichts gegen die prinzipien der Blätter die hauptsächlich kunstwerke die zu bedeutend sind um auf den grossen markt gebracht zu werden in sich vereinen«, aber: »wenn über etwas nicht gesprochen wird so sieht es (selbst für intelligentere autoren) aus als ob es nicht wert wäre behandelt zu werden« (ebd: 54f.; Hervorh. i. O.). Als sich das Scheitern der Fusion beider Geister für das gemeinsame Projekt abzeichnete, hielt George seinem »Zwillingsbruder« schließlich resigniert vor: »Ich war des festen glaubens dass wir – Sie und ich – durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben können. dass es dazu nicht kam mach ich Sie allein verantwortlich. […] mich schmerzte es Sie mit soundsovielen belanglosen menschen in der gleichen schlachtreihe zu sehen« (ebd.: 150f.). Wie Hofmannsthals Zurückweichen vor Georges Vereinnahmung psychologisch auch immer zu deuten ist (vgl. dazu Breuer 1995: 128ff.), beider Vorstellungen über das Auftreten auf dem literarischen Markt waren jedenfalls divergierende. Hofmannsthal wollte seine Verbindungen zu den im Kreis wenig geschätzten Dichterkollegen (unter ihnen Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder) nicht aufgeben und seine anderen Publikationsmöglichkeiten nicht aufs Spiel setzen, kurz: »seine abweichenden Strategien im literarischen Feld nicht denen der ›Blätter‹-Gruppe unterordnen« (Kolk 1998: 83). »Im Zerfall der Freundschaft Georges mit Hofmannsthal« – so Adorno in der ihm eigenen dialektischen Diktion – »setzt der Markt sich durch, in dessen Negation ihre Lyrik entspringt; die sich gegen die Erniedrigung durch Konkurrenz wehren, verlieren sich als Konkurrenten« (GS 10.1: 220). Die von Walter Benjamin in einer Rezension als »Priesterschaft der Dichtung, die in den ›Blättern für die Kunst‹ gehütet wurde« (Benjamin 1966b: 480), typisierte Exklusivität der »Blätter« diente ohne Zweifel dem strategischen Interesse, die künstlerischen Ambitionen unter Umgehung des Marktes im literarischen Feld durchzusetzen, schloss dies nicht aus, sich um Rezensionen in anderen, vornehmlich in ausländischen Zeitschriften zu bemühen. Die zunehmende Resonanz der »Blätter« und der Lesungen Georges in der professionellen Literaturkritik ab Mitte der 1890er Jahre verdankte sich der Strategie, Exklusives bekannt zu machen, ohne dessen Zugänglichkeit zu erleichtern, um das Verlangen danach zu steigern. Der Kreis, der die Verlage mied, sah sich bald von Verlegern umworben. Es war Georg Bondi, der vor dem ebenfalls interessierten Mitbewerber Diederichs den Zuschlag erhielt (Bondi
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1965: 9). Selbstverlag und öffentlicher Verlag operierten ab 1898 parallel nebeneinander. Gegenüber Hofmannsthal erklärte George seinen Sinneswandel damit, er habe einen Teil seiner Privatdrucke »in verlag gegeben damit man sich nicht mehr über meine ›unerhältlichkeit‹ beklagt« (G/H: 49). Die von Bondi herausgebrachten »Auslesen« und Wiederauflagen aus der »Blätter«-Produktion wurden einheitlich gekennzeichnet mit einer (von Georges Freund Melchior Lechter entworfenen) Verlagsvignette, die mit dem Namen »Blätter für die Kunst« auf den Selbstverlag verwies. Die Verklammerung beider Verlage erwies sich als eine geschickte Vermarktungsstrategie, da durch sie die »Blätter«-Publikationen immer bekannter wurden (Mettler 1979: 19). Erfolg jedenfalls blieb dem als »Mann des exklusiven Privatdrucks« (Osterkamp 2005: 227) mit 100 bis 300 Exemplaren seiner Publikationen begonnenen Dichter in dem von ihm verachteten Literaturbetrieb nicht versagt: Von den erstmals ab 1899 auf dem öffentlichen Buchmarkt erschienenen Gedichtbänden wurden – wie ein Jahr nach Georges Tod sein Verleger Bondi schrieb – keiner mit weniger als 10.000 Exemplare gedruckt (ebd.).20 Wenn am Ende seines Lebens die anfängliche »Marktverweigerung« in eine »Überproduktion« auf dem Lyrikmarkt umgeschlagen war, ist dies als ein durchschlagender Erfolg jener von Bourdieu skizzierten »verkehrten Ökonomie« zu werten. Ernten konnten Autor und Verleger ihn mit der Unterstützung eines »Interpretationskartells« (Blasberg 2000: 122) prominenter Kulturwissenschaftler (Breysig, Simmel, Gundolf, Kommerell), die die Rezeption von Georges Werk im intellektuellen Feld zu forcieren verstanden.
b) Ideeller Bund George hatte ursprünglich einen Kreis von Gefährten gesucht, die sich von seinem Maß und seiner Forderung angesprochen und zu ihm hingezogen fühlen. Nachdem Hofmannsthal, Klages und andere Gleichaltrige sich von ihm abgewandt hatten und seine unermüdlichen Reisen durch die Länder Europas, »um gleichwertig vorbildliche Gefährten um sich zu scharen« (Wink20
Anzumerken ist hier, dass George nie von seiner schriftstellerischen Arbeit lebte. Er lehnte es geradezu ab, aus seinem künstlerischem Schaffen finanzielle Vorteile zu ziehen. Eine Rente aus dem elterlichen Betrieb und später auch Zuwendungen aus seinem größer werdendem Kreis ließen ihn ein von materiellen Dingen unabhängiges – im übrigen selbstgenügsames – Leben führen. Über ein Bankkonto, das ihm Bondi während der Inflationszeit angeraten hatte, verfügte er nur für kurze Zeit (Bondi 1965: 15).
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ler 1972: 63), mehr Enttäuschungen als Erfolge gezeitigt hatten, trat nach der Jahrhundertwende jene Wendung ein, die George gegenüber Hofmannsthal (in dem oben zitierten Brief) wie folgt charakterisierte: »Heute ist dies alles leichter zu vergessen da unsre bestrebungen doch zu einem guten ende geführt wurden und eine jugend hinter uns kommt voll vertrauen selbstzucht und glühendem schönheitswunsch« (G/H: 151). Die Zäsur manifestierte sich nicht nur in einer Erneuerung der Mitarbeiter der »Blätter«; von den Beiträgern der neunziger Jahre blieb allein Wolfskehl der Zeitschrift verbunden. Ihr Fokus ist nicht mehr primär die »neue Kunst«, sondern das »neue Leben«. Der Beitritt neuer und jüngerer Freunde führte zu einer – von George gewollten und gelenkten – Umschichtung des Kreises. Die relativ soziale Gleichrangigkeit der Teilnehmer trat hinter Gruppenformen zurück mit »explizit propagierten Hierarchien« (Kolk 1998: 87). In der nach Rangordnungen organisierten Gefolgschaft bestimmte »der Wert des Einzelnen sich aus seiner Nähe zum Meister« (Schonauer 2000: 92). Die neuen Jünger wurden nach Prüfung ihrer Würdigkeit berufen und erwählt. George hielt »scharfe Auslese. Nur Jünglinge einer bestimmten Gestalt duften sich ihm nähern, […] blond durften, gebildet sollten, formbar mussten sie sein« (Fried 2008: 137), »Sonnensöhne« nannte Guldolf sie (zit.n. Fried 2008: 137). Der »Staat«, wie George den neuen Kreis zu bezeichnen pflegte, war reiner Männerbund.21 Waren einzelne Frauen noch zum Kreis der »Blätter« zugelassen, die (wie Gertrud Kantorowicz) darin publizieren durften (wenn auch unter männlichem Pseudonym), galten sie nunmehr als »bündezerstörerisch«. Eine Ausnahme bildete die junge Philosophin Edith Landmann, Ehefrau des mit George befreundeten Julius Landmann und »Georges weiblicher Eckermann« (Raulff 2012: 140), die mitschrieb, was der Meister »bei Tisch und langen Spaziergängen« (ebd.) von sich gab. Wie sein Biograph Robert Boehringer konstatierte, hat George »das Zölibat nicht förmlich gefordert – so etwas tat er nie – aber die Freunde wussten, dass er die Frau nicht 21
Der Zahl der Mitglieder nach hat der George-Kreis den Rahmen einer Kleingruppe nie überschritten. Für die vierzig Jahre seines Bestehens hat Hans Norbert Fügen insgesamt 85 Kreisangehörige gezählt. »Gleichzeitig gehörten dem Kreis […] ungefähr 20 bis 40 Menschen an. In den ersten Jahren hielt sich die Zahl der durch regelmäßige Interaktion und Gruppensympathie Verbundenen zwischen 20 und 25 und erreichte zwischen 1910 und 1912 das Maximum (etwa 38). Später pendelte sich die Zahl bei ungefähr dreißig ein.« (Fügen 1974: 341) Kluncker hat unter den insgesamt 53 Beiträgern der »Blätter« ungefähr 30 Kreis-Zugehörige ausgemacht (1974: 30).
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in seinem Staate haben wollte und die Bindung der Familie als Hindernis empfand« (Boehringer 1967: 126f.). In der »Platonischen Akademie« konnten »Frauen, als Verkörperung der Verführung, […] da nur stören« (Breuer 1995: 46f.). In einer akribischen Analyse von Georges Lyrik, besonders die des letzten Bandes »Das Neue Reich« hat Ernst Osterkamp Georges »Exorzierung von Weiblichkeit« herausgearbeitet; in dessen »männlich verfassten Neuen Reich des Geistes« habe die Frau keinen Ort mehr (Osterkamp 2010: 248 u. 257). Georges einzig bekannte (frühe) Liebe zu einer Frau war die zu der Jüdin Ida Coblenz, die für ihn zur Enttäuschung wurde; Johannes Fried vermutet darin die Erklärung für Georges »eigentümliches, bald suchendes, bald abweisendes Verhältnis zu allem ›Jüdischen‹« (Fried 2008: 147). Gleichwohl waren Juden in allen lokalen Gruppen, besonders in Heidelberg und Berlin, vertreten; vor dem Ersten Weltkrieg dominierten jüdische Mitglieder in Georges Staat (ebd.: 143). Indes hatten sie »ihr Judentum gleichsam zu verstecken, zu vergessen, zugunsten eines georgeanischen Deutschtums abzustreifen (ebd.: 149). Gegenüber Edith Landmann äußerte George kurz vor seinem Tod, im September 1933: »wenn ich an das denke, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorsteht, so ist mir die Judensach im Besonderen nicht so wichtig« (Karlauf 2007: 604f.). Als erster, auf den das Wort »Jünger« voll zutrifft, ist Friedrich Gundolf zu nennen. Der neunzehnjährige, hochbegabte Jüngling, Sohn des Darmstädter Mathematikprofessors Gundelfinger, wurde nach der Aufnahme seines Studiums in München von Wolfskehl zu George geführt. Von dessen männlicher Schönheit beeindruckt, machte George ihn (nach seiner Umbenennung in Gundolf) »zu seinem Vertrauten, der ihn auf Reisen begleitet, und einen Teil der Korrespondenz erledigt und gelegentlich auch andere, wichtigere Missionen des Dichters übernehmen darf« (Schonauer 2000: 92). Das MeisterJünger-Verhältnis zwischen George und Gundolf bildete gleichsam den Nukleus des neuen Kreises um George.22 Zur »Phänomenologie des Jüngers«
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Die Anreden in seinen Briefen an George, von denen kaum einer ohne die Versicherung der Ehrfurcht und Treue zum Meister auskommt, lauten: »Teuerster Meister«, »Liebster Meister«, auch »Mein teurer grosser goldner Meister« (s. G/G). Während Friedrich Wolters seine ersten Briefe noch mit »Hoher Meister« eröffnet, beschränkt er sich später grundsätzlich auf die schmucklosere, wenn auch kaum minder devote Anrede »Meister« (s. G/W). Im Schriftverkehr der Jünger untereinander wird häufig die Abkürzung »d. M.« (für: der Meister) benutzt.
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schreibt Rainer Kolk (1998: 233ff.): Das zukünftige Mitglied der Gruppe unterwirft sich nicht den Maximen und internen Normen, sondern assimiliert sich ihnen, indem sie ihm – nach einem veritablen Konversionserlebnis – zu intrinsischen Motiven für eine grundlegend reorganisierte Lebensform werden. Charakteristisch für diesen ist »ein systematisierter Lebensstil, der sich ostentativ gegen Hedonismus und Subjektivismus sperrt« (Kolk 1998: 242), in affektkontrollierter Selbstbeherrschung die Bereitschaft zur unbedingten Leistung, zum Aushalten, zum Standhalten erzeugt und – nun vollends im soldatischen Vokabular – den Dienst, die Zucht, die Selbsthingabe und das Opfer feiert.23 Die Begegnung mit Max (»Maximin«) Kronberger, einem vierzehnjährigen Jüngling, in München wurde für George zum zentralen Erlebnis. Zweifellos homoerotisch grundiert, war diese Begegnung, der Aussage eines nahestehenden Zeitgenossen (Robert Boehringer) zufolge, »Mitte und Erfüllung von Georges Leben«, vergleichbar der von Dante mit Beatrice (Schonauer 2000: 116). Der plötzliche Tod des Jünglings (1904) nach nur zweijähriger Bekanntschaft erschütterte George und stürzte ihn in eine tiefe Melancholie, aus der er die Apotheose Maximins als Stifter eines neuen Gemeinschaftsgeistes verkündete. Die Bände »Maximin. Ein Gedenkbuch« und »Der siebente Ring« (beide 1907) enthalten die Botschaften und Lehren, die den George-Kreis von nun an »als ideellen Bund und als hieratische Lebensgemeinschaft« (Winkler 1972: 64) erscheinen lassen. Verstand Gundolf den Kreis als »Refugium« einer neuen Bildungselite, die im »geistigen Dienst« auf die Welt einwirkt, dann begriff Wolters ihn als »Keimzelle« einer großen nationalen Bewegung (Groppe 2001). George fühlte sich als Erzieher, Bildner und Lehrmeister einer neuen Jugend, als »Führer des geheimen und besseren Deutschland« (Schonauer 2000: 130). Seine Didaktik war die des Vorbilds. Gemeinschaftsstiftend wurde das wechselweise Vorlesen und Vortragen in intimer Runde mit quasi »liturgischem Charakter« (Mattenklott 1970: 182). Der Kreis verstand sich als eine »Inkarnation des georgischen Worts« (Braungart 2005: 16). Auch die »Blätter« veränderten ihren Charakter: Ab der achten Folge (1909) erschienen erstmals anonyme Beiträge, später blieben alle Beiträge, auch die Georges, ohne
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In den Worten Gundolfs: »Wo sie die Notwendigkeit erkennen da löschen sie gern ihr Ich aus und freuen sich brennstoff zu sein für die höhere flamme.« – »Sie sollen wissen dass sie nur stoff und mittel sind und sollen wieder opfern lernen.« (Gundolf 1909; hier in: Landmann 1965: 80f.)
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Verfasserangabe. Der Kreis trat nun als geschlossene Gruppe auf und machte den Komplex Meister-Jünger zum beherrschenden Thema (Kluncker 1974: 43). »Alles ist auf das eine Ziel gerichtet, die im Sinne der platonischen Akademie erzogene Elite, die ›sohnschaft der erlosten‹, auserwählt mit ihm, das geistige Reich, den neuen Staat zu bauen.« (Schonauer 2000: 135) Die entsprechenden Lehrtexte für das neue Gruppenverständnis und die Adoration des Meisters verfassten Gundolf (»Gefolgschaft und Jüngertum«, 1909) und Friedrich Wolters (»Herrschaft und Dienst«, 1909). Max Weber, der mit George um 1910 in Heidelberg persönlichen Kontakt hatte, ihn als Dichter hoch schätzte und dessen Charisma erkannte, zeigte mit Simmel wenig Verständnis dafür, »dass er ›Prophet‹ werden möchte« (Weber 1994a: 366); bedenklich fand er insbesondere sein Heraustreten aus dem »ästhetischen Kloster«, um, »nach dem Vorbild so mancher anderer Asketen, die Welt, die er zuvor geflohen hat, zu erneuern und zu beherrschen« (ebd.: 561).24 Mit der Reorganisation zum emotional vergemeinschafteten Bund einer »primär künstlerisch charismatischen Jüngerschaft« (Weber 1964: 181) wurden die Beziehungen zu alten Freunden (namentlich Lepsius und Simmel) abgebrochen. Simmels Versuch, die Kunst soziologisch begrifflich zu fassen, wurde nun als Sakrileg empfunden (Weiller 1994: 76). Neue Anhänger und Bündnispartner erwuchsen dem Kreis aus jüngeren Gelehrten vornehmlich der Kulturwissenschaften. Auffallend ist die große Zahl jüngerer Universitätsprofessoren, die Georges Nähe suchte. Gestützt auf dieses neue Potential konnte der Kreis das Terrain der symbolischen Kämpfe auf die kulturellen und wissenschaftlichen Felder ausdehnen. Edith Weiller spricht von einer eigenen wissenschaftlichen Schule, die das künstlerische Erneuerungsbestreben aufnahm und in vielen Publikationen verbreitete (ebd.: 72). Nachdem das Signet der »Blätter« als exklusives Markenzeichen eingeführt war, nutzte man es offensiv als Label für alle Buchpublikationen des Kreises: für die »Jahrbücher für geistige Bewegung« (Selbstverlag), die »Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst« (Bondi Verlag, Berlin), die »Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst« (Hirt Verlag, Breslau).
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Obwohl die Differenzen zwischen Max Weber und dem George-Kreis unübersehbar waren, schätzten sich beide. Gundolf an George (21.11.1910): »Von allen Professoren scheinen mir die beiden Webers am meisten einen Schauer des tieferen Lebens verspürt zu haben, nicht nur wie Simmel als Wissen, sondern als Willen.« (G/G: 213)
8. »Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie
Mit dem neuen Organ, dem »Jahrbuch für geistige Bewegung« (1910 bis 1912), legten Gundolf und Wolters als offizielle Herausgeber und George als spiritus rector im Hintergrund, ein »Kompendium der Kulturkritik« vor, das die Ansichten des Kreises über Bereiche außerhalb der Kunst darlegte. Adressaten der insgesamt drei Jahrbücher waren neben dem exklusiven eigenen Kreis – dem sie zur »Selbstverständigung über wissenschaftliche Ziele, Verfahren und Darstellungsprinzipien« (Kolk 1998: 305) dienten – vornehmlich die kulturelle und wissenschaftliche Öffentlichkeit. Die Polemik richtete sich gegen die etablierte (Geistes-)Wissenschaft und hatte zur Referenz die Kunst. Unter dem bezeichnenden Titel »Richtlinien« setzte Wolters im ersten Jahrbuch der »Ordnenden Kraft« der analytisch-logischen Wissenschaften die »Schaffende Kraft« des schöpferischen Gestaltens entgegen und attackierte Rationalismus, System und Logik zugunsten von Leben, Schöpfung und Schau (vgl. Wolters in: Landmann 1965). Gundolf verfertigte ein »Bild Georges«, das ihn als einen »finder und führer« feiert, dessen »gläubig umbildende gewalt« von der »formung eines verses bis zu der einer neuen jugend« reicht (Gundolf 1980: 137); der Dienst und Hingabe fordern kann, weil nur »das rückhaltlose opfer des eigenen wesens an die höhere wesenheit frei [macht]« (ebd.: 148). Als Gundolf sich mit einer Frau, Elisabeth Salomon, liierte, brach George die Beziehung zu ihm ab. »So eine kann ich nicht zur Schwiegertochter haben«, soll George zu dritten gesagt haben. Gundolf zerbrach daran, »weil er ohne Elisabeth Salomon nicht leben wollte, ohne George nicht leben konnte, George ihn aber zwang, zu wählen« (Boehlich 1963). Trotz der beachtlichen Resonanz, die George und sein Kreis fand, hielten selbst die Freunde mit ihrer Kritik nicht zurück. Georg Simmel, seine Frau und Sabine Lepsius quittierten das elitäre, antiliberale und antifeministische Gedankengut mit Irritation und »Entsetzen« (vgl. G/G: 229f.). Auch die Webers werteten die Auslassungen im Jahrbuch als »Bannstrahl gegen die ganze moderne Kultur« (Marianne Weber 1989: 469). Brüskierend empfanden sie insbesondere die programmatische Kampfansage der Herausgeber an »die ›moderne frau‹, die stückhafte, die fortschrittliche, die gottlos gewordene frau« und die Warnung vor einer »feminisierung von ganzen völkern« mit der Gefahr des »erlöschen aller tüchtigen kräftigen instinkte gegenüber den unkriegerischen, weiblichen, zersetzenden« (Jahrbuch 3: VI). Die von George so genannten »Geistbücher« der Reihen enthielten zahlreiche Publikationen, die mit Darstellungen großer künstlerischer und historischer Persönlichkeiten (Goethe, Shakespeare, Caesar, Friedrich II,
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Napoleon, Nietzsche, Winckelmann, George) die Grundzüge einer »neuen Wissenschaft« explizierten, die der unanschaulichen, methodisch-systematischen Analyse das »lebendige Miterleben«, die Gestaltung und Darstellung gegenüberstellten. Sie wollten ihre Leser »in eine vorbegriffliche ›Anschauung‹ ihrer Gegenstände« mitreißen (Norton 2005: 64). Diese Bücher aus dem George-Kreis richteten sich auch gegen die äußeren Formen der Wissenschaft; »fast pedantisch« vermieden sie alles, was an die traditionelle Wissenschaft erinnerte: die wenigsten wiesen »Fußnoten, eine Bibliographie oder auch nur ein Verzeichnis auf« (ebd. 64f.). Wie Ernst Troeltsch kritisch erklärte, waren es »im Grunde ›revolutionäre Bücher gegen die Revolution‹, sie richteten sich gegen die demokratische und sozialistische Aufklärung, gegen die rationale Selbstherrlichkeit der das Dasein hemmungslos organisierenden Vernunft und das dabei vorausgesetzte Dogma der Gleichheit und Verständigkeit der Menschen« (zit.n. Norton 2005: 65f.). Programmatisch bezog Erich von Kahler in seiner Schrift »Der Beruf der Wissenschaft« (1920) Position gegen Max Webers Vortrag »Wissenschaft als Beruf« (Weiller 1994: 131ff.).
Publikationsstrategien Bei der Publikationsstrategie des Kreises fällt sogleich die strenge Exklusionsund Distinktionsstrategie auf. Georges Vorhaben, sich mit den »Blättern für die Kunst« ein eigenes exklusives Publikationsorgan zu schaffen, führt sein Biograph Thomas Karlauf auf ein persönliches Motiv Georges zurück: auf dessen Enttäuschung über die erfahrene wiederholte Ablehnung der Veröffentlichung seiner frühen Gedichte durch unbekannte Redakteure des etablierten Literaturbetriebs (2007: 99). Zumindest anfangs hielt der Keis um die »Blätter« Distanz zu allen Vermittlungsagenturen und Vertriebsapparaten des literarischen Feldes – unter Inkaufnahme mühseligster Praktiken der privaten Distribution. Die Beiträger zu ihren Publikationen waren deren erste Leserschaft. George mied Presse und Öffentlichkeit, legte aber Wert darauf, die kunstverständige Elite zu erreichen. Nach der Umstrukturierung des Kreises wurde in den »Blättern« 1904 verlautbart: »der kleine kreis ist zu einer geistigen und künstlerischen gesellschaft erweitert«, aber der Gedanke einer »verbreitung der kunst in die massen« liege ihr dennoch fern, »zumal ihr einfluss auf das werdende dichtergeschlecht unverkennbar« sei (George DB: 2208). Einerseits lehnte der Kreis jede am Publikum orientierte Veröffentli-
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chungspraxis strikt ab, andererseits feierten Gundolf, Wolfskehl, Wolters und andere in öffentlichen Journalen und Zeitschriften George als den »einsamen Neuerer« und »Klassiker der Gegenwart«, vergleichbar mit Goethe, Hölderlin und Platen (Kolk 1998: 286). Die hundert Exemplare der ersten Privatdrucke der »Blätter für die Kunst« wurden nur an persönliche Bekannte weitergeben«. Als schließlich George sein bisher in Privatdrucken eher verschlossenes Werk für Verlagsausgaben zugänglich machte, tat die »Zeitverschiebung zwischen Angebot und Nachfrage« (Bourdieu 1999: 135) ihre Wirkung. Mit einer ausgeklügelten Distinktionsstrategie wurde die Neugier der Öffentlichkeit noch gesteigert. Seine Publikationen erschienen mit einem auf dem Titelblatt aufgedruckten Signet mit der von einem Strahlenkranz umgebenen Swastika, um die rund die Aufschrift »Blätter für die Kunst« gelegt war. So erhielten die öffentlichen Ausgaben das »Blätter«-Signet als exklusives Markenzeichen, die sie »als Derivationsform der kostbaren privaten erscheinen« ließen und »dadurch auch in der öffentlichen Fassung noch die Aura des Exklusiven« bewahrten (Mettler 1979: 40).25 Kein Werk aus dem Kreis konnte ohne die ausdrückliche Genehmigung Georges mit diesem Zeichen veröffentlicht werden (Fügen 1972: 51). Gert Mattenklott führt dies zu dem Vergleich, dass George das »Warenzeichen der Blätter für die Kunst« verliehen habe, »wie die Winzergenossenschaft das Weinsiegel«, das die »Verbürgung der Echtheit und Reinheit des ausgezeichneten Produkts« bedeutete (Mattenklott 1970: 219). Das von Melchior Lechter entworfene Zentralsymbol erfuhr durch das aufkommende Hakenkreuz der Nationalsozialisten quasi eine politische Enteignung, gegen die sich der Verlag Bondi mit einer eingerückten Mitteilung wie folgt distanzierte: »Als dieses uralte (indische) Zeichen im Oktober 1918 ›Hakenkreuz‹ benannt wurde und seinen heutigen Sinn bekam, konnte der Kreis der Blätter für die Kunst sein seit vielen Jahren eingeführtes Signum nicht abschaffen. Wer die unter diesem Zeichen veröffentlichten Bücher auch nur flüchtig kennt, dürfte wissen, dass sie mit Politik nichts zu tun haben« (zit.n. Osterkamp 2002: 29).
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In der Vorrede zur 2. Auflage von »Hymnen – Pilgerfahrten – Algabal« (1899) heißt es beispielsweise, dass sie »fast ganz in der form worin man sie früher liebgewann« erscheint, weil »heute da […] bei uns vielerorten ein neues schönheitsverlangen erwacht« der Verfasser glaubt, »den wachsenden wünschen nachgeben und auf den schutz seiner abgeschlossenheit verzichten zu dürfen« (George DB: 118).
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Zur Distinktion trugen des Weiteren die »hauseigene« Orthographie (Kleinschreibung, fehlende Interpunktion bis auf den hochgestellten Punkt) und die der Handschrift des Meister angepassten Drucktypen (»StefanGeorge-Schrift«) bei sowie das gemeinsame Ausstattungsmuster der Einzelveröffentlichungen unter Verwendung seltener (kostbarer oder bewusst schlichter) Materialien.26 All dies »arbeitete der Illusion vor, die Leser hielten ein vollkommen markt- und technikfernes Produkt in Händen« (Blasberg 2000: 132). Die inszenierte Exklusivität wurde »geradezu zum Medium der Breitenwirkung« (Osterkamp 2005: 248). Mit dieser halbprivaten Publikationsstrategie konnte sich des GeorgeKreises im literarischen Feld erfolgreich positionieren. Indem er seine Produktion zunächst von der Nachfrage auf dem literarischen Markt löste, brachte er den Markt jedoch nur zum Schein zum Verschwinden: es fand vielmehr nur eine Zeitverschiebung zwischen Angebot und Nachfrage statt. Insofern erwies sich der Kreis als ein »Kartell lyrischer Autoren«, die eine »Vertriebs- und Werbegemeinschaft« bildeten (Mattenklott 1970: 219).
Positionskämpfe Wie in anderen Feldern existiert auch im literarischen Feld eine interne Hierarchie von Positionen, um die Kämpfe ausgetragen werden. So hatte sich der George-Kreis mit seiner programmatischen Ausrichtung auf ein neues Kunstideal gegen zeitgenössische Literaturströmungen in Position gebracht. Die »Blätter« polemisierten gleichermaßen gegen die Vertreter »klassizistischer, neuromantischer und naturalistischer Literaturkonzepte« (Kolk 1998: 125), und die »Jahrbücher« priesen George als »den wichtigste(n) mann des gegenwärtigen Deutschland« (Gundolf 1980: 123). Die Einflussnahme des Kreises auf das literarische Feld war erheblich, aber eine eindeutige Dominanz konnte er nicht erzielen. Sie wäre möglich gewesen, wenn Hofmannsthal sich nicht der »heilsamen Diktatur« mit George über das deutsche Schrifttum verweigert hätte, zumal mit ihm, dank seiner dramatischen Begabung, die Beschränkung des Kreises auf Lyrik hätte überschritten werden können.27
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Während der Zusammenarbeit mit Melchior Lechter gestaltete dieser Georges Gedichtbände zu »kostbaren Bild-Ornament-Schrift-Artefakten« (Blasberg 2000: 131), während die »Blätter für die Kunst« ihre schlichte Ausstattung und Schrifttype aus Kontinuitätsgründen unverändert beibehielten. Borchardt hat später (1930) dem Jüngling Hofmannsthal das Verdienst zugewiesen, durch »den Entschluss eines Knaben zu seelischem Widerstand«, den »machthungri-
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Bereits 1902 haderte George mit Hofmannsthal, der sich über die Beiträge der anderen Autoren in den »Blättern« despektierlich geäußert hatte, unter Verweis auf zwei Kreise, dem seinigen und dem Hofmannsthalschen (G/H: 158ff.). Trotz aller Differenzen schätzten George und Hofmannsthal sich gegenseitig immer als ebenbürtige Dichter. Umso schmerzhafter war es für George, dass Hofmannsthal mit Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder einen – wenn auch weniger gleichgestimmten28 – literarischen Gegenpol bildete. »Wer von George abgestoßen oder von ihm nicht angenommen wurde, suchte früher oder später Zuflucht bei Hofmannsthal« (Breuer 1995: 128). Mit den Zeitschriften »Pan« (1895-1900) und »Die Insel« (1899-1902) waren den »Blättern« Konkurrenzorgane erwachsen. Als Mitherausgeber der »Insel« gewann Schröder Hofmannsthal und Borchardt als renommierte Mitarbeiter. In dieser Zeitschrift rezensierte Schröder 1900 den vom George-Kreis herausgegebenen Band »Deutsche Dichtung« mit heftigen Attacken gegen den Kreis. Das vom Inselverlag vertriebene und von Schröder, Borchardt und Hofmannsthal verfasste Jahrbuch »Hesperus« (1909) feuerte ebenfalls volle Breitseiten gegen die Georgianer; so etwa Borchardt mit seiner langen Besprechung von Georges Gedichtband »Der siebente Ring« (Borchardt 1957: 258-294), die vom George-Kreis als Frontalangriff aufgenommen wurde. Schließlich druckten die »Süddeutschen Monatshefte« Schröders vernichtende Kritik eines »Blätter«-Auswahlbandes (1909) und Borchardts schäumende, vor sexuellen Anspielungen nicht haltmachende Polemik »Intermezzo« (1910) (Borchardt 1957: 435-468), die selbst Max Weber wegen ihrer »objektiven Unanständigkeit« empörte (Weber 1994a: 697f.). Die Polemiken bestritten Schröder und Borchardt; Hofmannsthal hielt sich zurück; zwar kritisierte er gegenüber Borchardt Georges »schroff egocentrisches Verhalten« (B/H: 126), hegte aber, wie Borchardt nach seinem Tod schrieb, eine »fast rasende Abneigung […], als Haupt eines KonkurrenzKonventikels« (Borchardt 1957: 145) gegen George ausgespielt zu werden. Nichtsdestoweniger feierten ihn die beiden als »Begründer einer neuen Klassik« und stellten ihn der »historisch« gewordenen Gestalt Georges (ebd.: 292) gegenüber: »Die Zukunft ist in Hofmannsthal« (ebd.: 285). Gegen diese Infragestellung von Georges literarischer Zentralposition machten die
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gen keltischen Gewaltmenschen« George gehindert zu haben, »die deutsche Poesie des Jahrhunderts zu prägen, das heißt zu ersticken« (Borchardt 1957: 143f.). Zum Bedauern Borchardts ohne »Georges festes Commando über seine wie immer klägliche Truppe« (B/H: 113; Hervorh. i. O.).
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»Jahrbücher« mobil. So verweis Gundolf höhnisch auf »den heutigen Hofmannsthal der dialekt-komödien und operetten-texte«, den Borchardt »der deutschen jugend als meister und vorbild zu preisen« wohl nicht mehr frivol genug sei (Gundolf 1910, hier 1980: 139). Entgegen der Erwartung, dass konkurrierende Richtungen im literarischen Feld umso eher in die Defensive zu drängen sind, wenn der innovative Impetus der Newcomer den Nerv des Zeitgeistes trifft und den gesellschaftlichen Wandel kritisch reflektiert, reüssierte der George-Kreis gerade »im stärksten Kontrast zur Epoche« (Borchardt über George; s. Borchardt 1980: 88). Mit dem Anspruch des Kreises auf die geistige Führerschaft verfügte er über ein beträchtliches Organisationskapital. In einem Brief an Schröder klagt Borchardt neidvoll, dass »ausser George in Deutschland keiner, auch wir nicht, die Kraft besitzt, festen Nucleus zu bilden« (zit.n. Kolk 1998: 309). Während die Georgianer in »fast alle wesentlichen Organe«, »in Verlag nach Verlag« (ebd.) eindringen,29 finden die von Georges Antipoden immer neu erwogenen Publikationsprojekte aufgrund der internen Spannungen zwischen den dreien keine oder nur eine kurzfristige Realisierung (Breuer 1995: 156f.).
Einflussnahme auf andere Felder Dem Bourdieuschen Konzepts der Kapitalkonversion zufolge hat der GeorgeKreis spätestens mit seiner Wende zur Kulturkritik ab der 5. Folge der »Blätter« (1901) und vollends mit den »Jahrbüchern« sein im literarischen Feld erworbenes symbolisches Kapital in den Feldern der Wissenschaft und Politik erfolgreich einzusetzen verstanden. George hatte die Wortführer der »Jahrbücher« als »Staatsstützen« bezeichnet, »durch deren wissenschaftliches Werk er sich die Podien der wichtigen Universitäten zu erobern suchte, um auch so die Bildung der Jugend entscheidend zu beeinflussen« (Winkler 1972: 70). Die publizistischen Strategien der Selbstpräsentation und Selbstbehauptung gegen die Polemiken der Gegner im literarischen Feld fanden auch im wissenschaftlichen Feld ihre Anwendung. Das Eigene lobend, rezensierten Kreis-Angehörige eifrig historische und philologische Bücher anderer Kreis-Angehöriger (vgl. Kolk 1998: 416ff.). Jedenfalls gelang es, die akademische Welt zunehmend in Georges Bann zu ziehen. Gottfried 29
Borchardt beklagt, dass die Georgianer die Organe der öffentlichen Kritik »von Königsberg bis Zürich, sie mir allen Mitteln an sich zu reißen trachten« (Borchard 1957: 442).
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Benn schien es »eines der rätselhaftesten Phänomene«, dass die Geisteswissenschaften ihm geradezu »verfielen […], sie fielen ihm zu« (Benn 1989: 104). Schon früh rezipierten Vertreter kulturwissenschaftlicher Disziplinen aufmerksam die Lyrik Georges. »Durch das Erlebnis der Dichtung Georges näherten Gundolf, Kantorowicz und Kommerell die Wissenschaftssprache der Poesie an« (Baumann 2000: 67; Hervorh. i. O.). Im Gegensatz zu seinem Bruder Max, den der George-Kreis wissenschaftlich »allenfalls als Studienobjekt für Sekten« (Kruse 2005: 263) interessierte, zeigte sich Alfred Weber für die Kulturkritik der Georgianer empfänglicher. Deren Muster tauchten in seiner Kultursoziologie »als heuristische Prinzipien wieder auf« (ebd.: 269). Obwohl Max Weber und George sich gegenseitig als Person schätzten und in Heidelberg, wo beide »als die geistigen Titanen ihrer Zeit« galten (ebd.: 262), persönlichen Kontakt hatten, blieben sie in ihrem Denken Antipoden.30 Während der 1920er Jahre erhöhte sich die Präsenz des Kreises in der kulturellen Öffentlichkeit erheblich. Doch vergeblich suchte der preußische Kultusminister, die »Geistige Bewegung« für das kulturelle Leben des Staates zu gewinnen (Winkler 1972: 88). Und wenn George gegenüber dem Werben der Jugendbewegung auf Distanz ging, steigerte dies nur noch seinen Ruf als Erzieher und Führer der Jugend, die ihm mit idealistischer Begeisterung und Ehrfurcht huldigte. Auch hier bewährte sich die dosierte Mischung aus Exklusivität und öffentlichem Wirken. Mit Unbehagen vermerkte Max Scheler, dass die »Geisteshaltung« des Kreises sich »auf allen möglichen Gebieten des Lebens, der Philosophie und auf dem Boden der Wissenschaften ausgewirkt hat« (Scheler 1960: 156f.) und »dass hier die Selbständigkeit der positiven Fachwissenschaften und ihrer Methodik prinzipiell in Frage gestellt wird; ja dass diese durch eine ganz personal gebundene gnostische Metaphysik der ›Ideenschau‹ geradezu verdrängt werden sollen« (ebd.: 157). Der Einfluss des George-Kreises auf die Kulturwissenschaften und die kulturell interessierte Öffentlichkeit war phänomenal. Rainer Kolk datiert die Phase der größten öffentlichen Resonanz zwischen 1918 und 1933 (Kolk 1998: 542). In diese fiel auch die Verleihung des ersten Frankfurter Goethe-Preises 1927,31 die George auf dem Höhepunkt der öffentlichen Anerkennung zeigte.
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Der Ökonom unter den George-Schülern, Edgar Salin, brachte es auf den Punkt: »Jeder [hatte] im andern die vollkommene Verkörperung der ihm fremdesten Wesensart erkannt« (zit.n. Kruse 2005: 263). Er wurde George in absentia verliehen, »ohne dass er mit einem Wort dafür gedankt hätte« (Schonauer 1960: 161).
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Nachwirkung Der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff hat in seiner Publikation »Kreis ohne Meister« die verästelten Nachwirkungen der Netzwerke Georges verfolgt. Er konstatierte einen »längst segmentierten Kreis«, der nach 1933 »in Fraktionen von Emigranten, Anpassern und Resistenten« zerfiel (Raulff 2012: 94). George selbst hatte zum NS-Staat keine eindeutige Haltung eingenommen. Das Politische war ihm verhasst, wenn es seinen »Staat« okkupierte (ebd.: 64). Als ihm wenige Monate nach Hitlers Machtübernahme der nationalsozialistische Erziehungsminister Rust das Angebot eines Ehrenpostens mit Ehrensold in der Preußischen Akademie der Künste unterbreiten ließ, lehnte er ab; mit Offerten von Ehrenämtern und Ehrenrenten war er nicht einzufangen (ebd.: 54); er fügte allerdings hinzu: »die ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung leugne ich durchaus nicht« (Karlauf 2007: 622). Diesen Satz zitierte der Minister nach Georges Tod in einem Beileidstelegramm an dessen Schwester. Seinen Kritikern lieferte er Argumente für Georges positive Haltung zur neuen Ordnung. In einer Rede vor Studenten im Frühjahr 1933 zählte der ihm befreundete Bonner Germanist Ernst Bertram den Dichter, der das Hakenkreuz »zum Sinnbild seiner Handlungen wählte … zu den Ahnen des Heute und Morgen« (zit.n. Karlauf 2007: 623). Aus Georges letztem Gedichtband »Das Neue Reich« (1928) las der Germanist Ernst Osterkamp (2010) das neue Reich von 1933 heraus. Ihm zufolge verwechselte die Mehrzahl aus dem Kreis »Georges Neues mit Hitlers ›Drittem Reich‹« (Osterkamp 2002: 8). Den Gegnern des Nazireichs wiederum diente Georges Ablehnung des Ehrenpostens zu seiner Verteidigung. Wie auch immer, nicht lange nach Georges Tod begann die »postume Austreibung Georges aus Deutschland« (Raulff 2012: 87) durch die schreibenden Parteigänger des neuen Regimes. Für die nationalsozialistische Kulturpolitik blieb George wegen seiner Homosexualität und seiner vielen jüdischen Freunde verdächtig. Der »Ahnherr« wurde als »Judenfreund« und sein Kreis als »jüdisch durchsetzt« angeprangert (ebd.: 87ff.). In der Nachkriegszeit kam es noch einmal zu einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte, die die Diskussion über die Reformpädagogik prägte und bis in die höchste Politik hineinreichte. Sein Nachleben endete laut Raulff um 1968. »Was danach kam, war Germanistik, Rezeptionsgeschichte, Bindestrichsoziologie. […] Von da an ruhte auch Stefan George im Frieden der Seminare und Archive« (Raulff 2012: 28). Zu seinem 100. Geburtstag konstatierte Adorno in einem Rundfunkvortrag, dass »das Werk nicht nur aus dem öffentlichen Bewusstsein, sondern
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aus dem literarischen im weitesten Sine verdrängt [ist]« (GS 11: 523). »Auf die Gewalt, mit der er den Zeitgenossen sein Bild eingraben wollte, antwortete eine nicht geringere des Vergessens: als triebe der mythische Willes seines Werkes, zu überleben, mythisch zu dessen eigenem Untergang« (ebd.: 524). Adorno sah das künstlerisch Fragwürdige und Ideologische »in gewissem Sinne entsühnt« durch die Tat Stauffenbergs, der den Tyrannenmord wagte, bei dem ihm Georges Gedicht »Der Täter« gegenwärtig gewesen sein mochte.
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Dritter Teil Kunst als Profession und Kritik
9. Le Tour des artistes. Warum Künstler sich zu Gruppen zusammenschließen
Den Freunden des Radsports ist es ein vertrautes Bild: Eine Hundertschar von radelnden Konkurrenten geht auf gemeinsame Fahrt und bewegt die Pedale im großen Feld, bis plötzlich ein, zwei, drei und mehr Ausreißer sich mit kräftigem Pedalschritt vom Feld lösen und eine ganze Weile als »Fluchtgruppe« an die Spitze setzen. Dort verteidigen sie den herausgefahrenen Vorsprung durch solidarisches Verhalten; im schnellen Turnus wechseln sie sich gegenseitig in der kräftezehrenden Führung ab, verringern für die Nachfolgenden den Widerstand des Windes, bis diese wiederum, dem rollierenden Prinzip folgend, die Führung übernehmen. Kurz vorm Ziel zerfällt dann die verschworene Kleingruppe wieder in erbitterte Konkurrenten, die im finalen Sprint individuelle Vorteile zu ergattern suchen. So ungefähr machen Künstler das auch, zuweilen unter verwandten Begriffen: Als Vortrupp, Avantgarde oder Sezession suchen sie Distanz zum akademischen Feld und etablierten Kunstbetrieb, setzen sie sich vom großen Tross der Epigonen und Traditionalisten ab. Nicht selten legen sie mit provokativem Aplomb in Manifesten ihre künstlerischen Ziele nieder. So fahren sie Abstand durch Distinktion heraus. Wiederkehrende Inhalte derartiger Dokumente sind, trivial gefasst, Abkehr und Erneuerung – Abkehr vom Hergebrachten und Epigonalen, Erneuerung aus welchem Geist auch immer, sei es dem der Präraffaeliten, der Versöhnung von Kunst und Leben, des zukünftigen Menschengeschlechts oder dem der Befreiung vom Ego- und Logozentrismus. Wir haben keinen Grund am Ernst und Neuerungswillen der Künstler-Proklamationen zu zweifeln, selbst wenn weder der Futurist Marinetti buchstäblich zum Maschinengewehr griff noch Pierre Boulez eigenhändig die Lunte an die Opernhäuser legte. Ernst zu
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nehmen ist immerhin die zum Ausdruck gebrachte kompromisslose Attitüde, der »absolute Non-Konformismus« (wie es im 1. Manifest des Surrealismus heißt), welche der künstlerischen Innovation den Weg bahnen und den Bürger düpieren. Bislang waren es vornehmlich die manifesten Ziele von Künstlergruppierungen, die das Hauptinteresse der Kunstwissenschaft auf sich zogen. Sie gehören zu den Quellen des Deutungspools, aus dem Kritiker und Kunsthistoriker ihre Formeln zur Auslegung eines neuen Stils gewinnen, und bieten ihnen die Chiffren für den erneuerten Formwillen aufbrechender Avantgarden. Uns interessieren hier jedoch die latenten Funktionen künstlerischer Gruppenbildung. Diese sind professionspolitischer Art (und bringen uns zurück zum Radsport). Beginnen wir mit einer Trivialität: Künstler und Künstlerinnen gehören den »freien Berufen« an, in angelsächsischer Terminologie: den Professionen. In der Sprache der Soziologie ist die Profession eine Steigerungsform des Berufs. Sie basiert auf verwissenschaftlichter Tätigkeit in autonomer Praxis und sozial orientierter Aufgabenerfüllung; sie zeichnet sich des Weiteren durch eine besonders qualifizierte Ausbildung (z.B. auf Akademien und Hochschulen) und einen hohen gesellschaftlichen Status aus. Dank ihrer Ausbildung gelten die Angehörigen einer Profession als kompetent und gesellschaftlich unersetzbar. Meist haben die jeweiligen Professionen eigene Standesorganisationen, die über einen Ehrenkodex und eine gruppenautonome Disziplinargewalt verfügen sowie eine Eigenkontrolle des Berufszugangs durch Prüfungsund Approbationsordnungen etc. ausüben. Exklusionsmechanismen dieser Art bezeichnete Max Weber als »soziale Schließung«; denn durch sie eignet sich eine Profession Erwerbschancen als exklusives Eigentum an. Nun lassen sich Künstler und Künstlerinnen nach der Mehrzahl der aufgeführten Merkmale auch einer Profession zurechnen, mit der entscheidenden Differenz, dass sie nicht jenen Schutz genießen, dessen sich andere professionelle Berufsgruppen (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten etwa) durch ihre Standesorganisationen erfreuen können. Dieser Mangel ist auch ein Grund der prekären wirtschaftlichen Situation der meisten Künstler. Selbst wenn Künstler die Kunstproduktion als Hauptberuf und nicht als Gelegenheitsproduktion betreiben, bleibt es fraglich, ob dies Grundlage für eine längerfristig gesicherte Erwerbstätigkeit sein kann. Schon René König hat in einem Essay (»Vom Beruf des Künstlers«, 1965) auf die proletaroiden Existenzen unter den Künstlern hingewiesen, die sich durch den »Gegensatz zwischen Selbständigkeit einerseits und einer außerordentlich knappen wirtschaftlichen Basis an-
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dererseits« auszeichnen. Die Misere des freien Künstlers, die prototypisch in Spitzwegs Gemälde vom »Armen Poeten« (1839) ihren Ausdruck gefunden hat, spiegeln uns die Erhebungen der Künstlersozialkasse zurück: ihnen zufolge verfügten bildende Künstler 2004 über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 11.000 Euro. Öffentliche Kunstförderung und Mäzenatentum tragen diesem Sachverhalt seit langem Rechnung; und die gegenwärtige Diskussion über die Finanzierung und Zukunft der Künstlersozialkasse ruft ihn ins Gedächtnis. Professionalisierungsprozesse von Künstlern verlaufen recht unterschiedlich. Während bildende Künstler und Komponisten ihre Professionalität in der Regel an Akademien und Konservatorien erwerben, gibt es für Schriftsteller keine anerkannten Ausbildungsgänge, sieht man einmal ab von den vereinzelten Instituten und akademischen Kursen, in denen kreatives Schreiben gelehrt wird. Die Profession des Schriftstellers ist, wie selbst die mancher bildender Künstler, weitgehend eine autodidaktische. Künstlerberufe sind jedenfalls keine geschützten Berufe. Diese offenkundig professionspolitische Lücke wird, dies unsere These, durch Künstlergruppen geschlossen; sie werden dem modernen Künstler zum Substitut für die fehlende professionelle Vereinigung. Weder der PEN-Club noch die Akademien, Schriftstellerverbände und dergleichen Vereinigungen haben die den professionellen Organisationen vergleichbare Schutzfunktion mit ihren für die Mitglieder positiven wirtschaftlichen und standespolitischen Effekten. Bis ins 18. Jahrhundert hatte der Künstler unter dem Patronat von Kirche, Hof und städtischem Patriziat gestanden; sein Werk diente vorwiegend sakralen und repräsentativen Aufgaben. Nachdem der Hof als Mittelpunkt von Kunst und Kultur seine Bedeutung verloren hatte, kam im 18. Jahrhundert die Entwicklung der höfischen Kunst zum Stillstand. Es kündete sich ein Wandel in den Funktionen der Kunst an – weg vom »Monumentalen, FeierlichRepräsentativen und Pathetischen« zum »bürgerlichen Subjektivismus« (wie Arnold Hauser in seiner »Sozialgeschichte der Kunst und Literatur« feststellte). Politisch kulminierte die Ablösung der höfisch-aristokratischen durch die bürgerliche Kultur in der Französischen Revolution. Mit dem Autonomwerden der Kunst im 19. Jahrhundert verlor der Künstler nicht nur seine soziale Einbettung als »Hofkünstler« und »Hoflieferant« (Martin Warnke), sondern zugleich den verbindlichen Geschmackskanon, den er mit seinem adeligen und patrizischen Publikum geteilt hatte. Die Abkoppelung von den Repräsentationsfunktionen der Kunst beinhaltete für die Produktion des Künstlers zwar eine Befreiung von jedem verbindlichen Kanon vorgegebener Gestal-
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tungsnormen und -schemata, zeitigte aber auch eine hochgradige Verunsicherung über seinen Platz in der Gesellschaft. Nicht mehr gebunden an den ästhetischen Auftrag, ein idealisiertes Abbild der Welt zu liefern, wird die Kunst und mit ihr der Künstler »ortlos«. Der Markt mit einem anonymen Publikum auf der einen, die kreative Subjektivität auf der anderen Seite sind fortan die Koordinaten der künstlerischen Existenz mit ihrem Zwang zur professionalisierten Erwerbstätigkeit als »freier Künstler«. Der Düsseldorfer Kunstsoziologe Hans Peter Thurn hat das Gesamtspektrum der Tätigkeiten des modernen Künstlers »als zweigeteilte Profession aus ›innerer Berufung‹ und ›äußerem Beruf‹« charakterisiert. Professionalität bezieht sich nicht nur auf die künstlerische Kreativität, sondern auch auf die der öffentlichen Präsentation, die sich unter anderem in Ritualen der Selbstdarstellung manifestiert. Da der Künstler auf dem Gebiet der werkvermittelnden Kontaktaufnahme mit der Umwelt häufig Dilettant ist, bedarf er der vermittelnden Professionen. Als autonomer Literaturund Kunstproduzent kann er sein Publikum in der Regel nur über Agenten des Kunst- und Buchmarkts erreichen. Wollen wir erneut die Analogie zum Radsport bemühen, dann liegt der Vergleich mit einer »Mannschaftsgruppe« nahe, in der die Agenten als »Wasserträger« und »Tempomacher« fungieren, deren Aufgabe es ist, den Kapitän nach vorne zu bringen. Zurückgeworfen auf das eigene Beurteilungsvermögen und verpflichtet zur »Originalität« und zum »Neuen«, entwickeln Künstler eigene Ästhetiken. In der bürgerlichen Marktgesellschaft öffnet sich eine Schere zwischen autochthoner Künstlerästhetik und dem Geschmack der übrigen Gesellschaft. Auf sich selbst gestellt, werden Künstler zu ihren eigenen »Geschmacksrichtern« und ihre Subjektivität zum ausschließlichen Maßstab der Kunstproduktion. Dies ist die Konstellation, die Gruppenbildung begünstigt. Der Verlust von Außenhalt durch Tradition, Patron, Markt und selbst Kunstakademien führt Niklas Luhmann zufolge Gleichgesinnte zusammen, um »fehlenden Außenhalt durch Selbstbestätigung in der Gruppe zu ersetzen«. Bemerkenswert ist die Vielfalt der Gruppen. Wir finden Künstlerorden (Nazarener, George-Kreis) und Künstlerkolonien (Barbizon, Worpswede), Sezessionen, programmatisch-revolutionäre Gruppierungen (surrealistische Bewegung), Werkstätten kollegialer Kritik (Gruppe 47), Zweckbünde und Lebensgemeinschaften (Bloomsbury-Kreis). Ihre Eigenbezeichnungen sind noch vielfältiger: Gruppe, Kreis, Bund, Club, Verband, Bewegung, Gemeinschaft, Bruderschaft, Assoziation, Akademie, Sezession. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie – darin anders als bürgerliche Vereine – nicht
9. Le Tour des artistes
jeden Gleichgesinnten aufnehmen. Distinktion verlangt Exklusivität. Nur kleine Gruppen können jene geballte Homogenität erreichen, mit der sie durch spektakuläre Aktionen die Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit überschreiten, wenngleich ihnen zunächst nur die Aufmerksamkeit ihrer eigenen Konkurrenten im künstlerischen Feld sicher ist. Ein extremes Beispiel für derartige Exklusivität stellt die private Publikationsstrategie (mit Kleinstauflagen von 100 bis 300 Exemplaren) des George-Kreises dar, die den Erfolg unter gezielter Umgehung des Marktes suchte. Hier trifft Bourdieus Wort von der »verkehrten ökonomischen Welt« zu, dem zufolge Künstler symbolische Gewinne durch (kurzfristige) ökonomische Verluste erzielen.1 Erst zeitverschoben folgt die Nachfrage dem Angebot. Neben der Exklusivität ist das juvenile Alter der Gruppengründer und -mitglieder ein bemerkenswertes Datum. Sie befinden sich in der Übergangsphase von einer ersten – sei’s autodidaktisch, sei’s extern erworbenen – Qualifizierung in eine noch unbekannte Berufspraxis als Erwerbsquelle. Da die Künstler innerhalb eines dichten Konkurrenzfeldes agieren, erleichtert der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten die Passage zur Voll-Professionalität aus zwei Gründen: erstens wird die Binnenkonkurrenz aufgehoben, zweitens verschafft die kollektive Anstrengung, der gemeinsame Auftritt, einen Vorteil gegenüber den weitgehend auf individueller Basis operierenden Außenkonkurrenten. Der Erfolg der Gruppen läutet den Beginn ihrer Auflösung ein. Noch bevor aus Sezessionisten Akademiedirektoren und aus verkannten Autoren Großschriftsteller werden, brechen die internen Konkurrenzen auf. Nicht mehr die kollektive Präsenz, sondern die individuellen Verkäufe und Auflagen bestimmen fortan die Gruppendynamik. Wenn die Gruppe zerfällt, hat sie in der Regel ihr Ziel erreicht – das manifeste (die artistische Dominanz im literarischen/künstlerischen Feld) wie das latente (den ökonomischen Erfolg). Neben Sigmund Freud, der hinter dem manifesten Trauminhalt den latenten Traumgedanken suchte, interessieren sich insbesondere Soziologen für manifeste und latente Funktionen; Robert Mertons Aufsatz über »Manifeste und latente Funktionen« (1949) war hier wegweisend. Die funktionale Gesellschaftsanalyse lenkte den Blick der Soziologen auf Handlungszusammenhänge, deren intendierten Ziele als realistisch nicht erreichbar erschie1
»Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig).« Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Frankfurt a.M. 1999, S. 136.
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nen, aber dennoch einen bedeutsamen Stellenwert im gesellschaftlichen Verkehr haben. Prominentes Beispiel dafür ist der Regentanz der Hopi-Indianer, weil er, unabhängig vom Erreichen des manifesten Ziels, den Regen, in latenter Funktion die sozialen Bindungen durch die gemeinsamen Tanzrituale festigt. So ließe sich auch der Katholizismus historisch als eine Bewegung verstehen, die in Verfolgung ihrer manifesten religiösen Ziele nicht nur Heilige, sondern – als nicht intendierte (latente) Folgeerscheinung – auch die Ketzer hervorbringt, die es ohne sie nicht gäbe. Im Falle der Gruppenbildung von Künstlern sind die manifesten Funktionen conditio sine qua non der latenten Funktionen. Nur wenn das proklamierte neue ästhetische Projekt (das manifeste Gruppenziel) sich durchsetzt, stellt sich auch der langfristige ökonomische Erfolg (die latente Funktion) für die Gruppenmitglieder ein. Man könnte darin fast schon eine höhere Gerechtigkeit am Werk sehen: Kunst lässt sich nicht zu einem bloßen Vehikel professioneller Ziele instrumentalisieren. Und darin unterscheidet sie sich wiederum vom Radsport.
10. Der Künstler als Kippfigur – Artisten in der postmodernen Arbeitswelt?
Zumal als Bohemien stellte der Künstler einst den Gegenpol zum Bourgeois dar und galt als erklärter Gegner einer auf den »hündischen Kommerz« (Friedrich Engels) ausgerichteten Welt. Dem Dadaisten Richard Huelsenbeck galt der Bürger als Erzfeind aller Geistigkeit und »Türhüter aller Jämmerlichkeit«. Mit ihrem prekären Status und antibourgeoisen Habitus bezogen die Künstler eine Ausnahmestellung in der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft. Gleichwohl projizierte der in den »kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen« (Max Weber) eingebundene Berufsmensch das Künstlerleben als ein attraktives Modell der Lebensführung. Mehr Phantasiebild als authentisch gelebte Alternative zur saturierten Bürgerexistenz, erschien ihm die künstlerische Lebensgestaltung als eine Utopie autonomen Lebens. Erstaunlicherweise wird neuerdings der vormalig – je nach Sichtweise – »anrüchige Scharlatan« (Thomas Mann) oder Protagonist für das Schöne, Gute, Wahre zum Vorbild des flexiblen und kreativen Erwerbstätigen ausgerufen. Als einer der ersten hat diese These der französische Soziologe PierreMichel Menger in dem schmalen Band »Kunst und Brot« formuliert: »In Gestalt des fantasievollen, mobilen, hierarchiefeindlichen, sich selbst motivierenden Arbeiters, der sich in einem ungewissen Wirtschaftskontext bewegt und stärker den Risiken der interindividuellen Konkurrenz und den neuen Unsicherheiten der beruflichen Karriereplanung ausgesetzt ist, ähnelt der Künstler in der gegenwärtig vorherrschenden Vorstellung eher einem möglichen Idealbild des Arbeitnehmers der Zukunft.« (Menger 2006: 10) Seit jeher war der Künstler eine Kunstfigur. Bleibt er dies auch in der Mengerschen Deutung – nur eben mit anderen Vorzeichen?
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Vor mehr als einem Dreivierteljahrhundert haben die Kunstwissenschaftler Ernst Kris und Otto Kurz in ihrer wegweisenden Schrift über die »Legende vom Künstler« (1934/1995) mit einer beeindruckenden Fülle historischer Quellen die Ingredienzien des Künstlermythos ausgebreitet. Befeuert wurde das Künstlerbild durch Alltags-Projektionen, die das Modell einer aufregenden, kreativen, unentfremdeten Existenz aufrichteten, deren wahres Leben und Schaffen hinter den Fiktionen einer heroisierenden Biographik verschwand. Von einem »Verdichtungsbegriff« und dem »Sediment einer Dauerkommunikation« über den Künstler spricht Niklas Luhmann (1995: 87f.). An dieses »Kondensat des Kommunikationssystems Kunst« würden Erwartungen geknüpft, die mit dem real life des Künstlers indes wenig gemein haben. Gleichsam als Fortschreibung der Analyse von Kris und Kurz hat Stefan Borchardt (2007) aus dem Blickwinkel einer Apologetik und Mystifizierung des Künstlers seine Untersuchung »Heldendarsteller« geschrieben. Am Beispiel Gustave Courbets und Edouard Manets deckt sie akribisch die Selbst- und FremdStilisierung des modernen Künstlers zum Heroenbild auf. Schon in der Vormoderne, als der Künstler noch nicht als ein »Sonderwesen« galt, diente die künstlerische Tätigkeit als ein Vorbild für andere Berufe. Martin Warnke verweist darauf, dass aus dem Künstlerberuf und dem künstlerischen Handeln »gewisse Lebenslehren« gezogen wurden (2010: 105-121). Zu den nachahmenswerten Merkmalen gehörten Fleiß und Übung (nulla dies sine linea) im flexiblen Wechsel der Tätigkeiten. Auch Max Weber zieht den Künstler heran, um dessen »innere Hingabe an die Aufgabe« mit dem des Wissenschaftlers zu vergleichen; beide dienten rein der Sache: »Wir kennen keinen großen Künstler, der je etwas anderes getan hätte als seiner Sache und nur ihr zu dienen«, konstatiert er in seinem berühmten Vortrag »Wissenschaft als Beruf« (Weber 1994b: 7f.). Diese Aussagen beziehen sich noch nüchtern auf Ernsthaftigkeit und Sachbezogenheit künstlerischen Handelns, rücken den Künstler und seine Arbeit nicht in jene »utopische Perspektive« der idealisierenden Biographik und narzisstischer Selbstauskünfte großer Künstlerpersönlichkeiten der Moderne, die den Künstler zum Genie, Propheten und Schöpfer stilisierte, der fern unserer Alltagswelt sein Werk verrichtet. Als einem Gegner stumpfer Erwerbstätigkeit und Opponenten des Utilitarismus wurde ihm eine Sonderstellung zugebilligt, die ihn zu einer Projektionsfigur der modernen Gesellschaft machte. Gleichsam stellvertretend wurde ihm die Freiheit gewährt, seine jeweilige Individualität und Originalität auszuleben, um das zu verkörpern, was die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder aufgrund ihrer
10. Der Künstler als Kippfigur
Abhängigkeit im Erwerbsleben entbehren muss: individuelle Autonomie, unentfremdete Arbeit, Selbstverwirklichung. Mit dem Ende des emphatischen Kunstbegriffs in der Postmoderne setzte indessen eine Verabschiedung der idealisierten Figur des Künstlers ein. Das hat freilich Künstler wie Markus Lüpertz oder Jonathan Meese nicht davon abhalten können, weiterhin Geniekult und auserwähltes Artistentum als ihr Mantra zu verkünden. Die neuere sozialwissenschaftliche Literatur über die postfordistische Arbeitswelt macht den Künstler nun zum Prototypen des flexiblen Arbeitnehmers. Der »Heldendarsteller« von einst reüssierte zum »Helden der (post-)modernen Arbeitswelt«. Sein Typus steht nicht mehr vornehmlich für ein freies, unentfremdetes, selbstbestimmtes Leben, sondern für ein Muster-Beispiel des flexiblen und kreativen Arbeitnehmers. Diese überraschende Volte in der Beurteilung der Künstlerexistenz verdankt sich einer aparten Variante jüngerer Kapitalismuskritik, die Luc Boltanski und Ève Chiapello als »neuen Geist des Kapitalismus« ausgeflaggt haben. Ihre Botschaft lautet: Anders als die traditionell marxistische Sozialkritik, deren Ansatzpunkte soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Verelendung waren, habe eine aus dem Milieu der Bohème entsprungene »Künstlerkritik« die Entfremdung, Abhängigkeit und unterdrückte Authentizität ins Zentrum der Kritik gestellt und die Künstlerexistenz als das Gegenmodell von entfremdeter und bürokratisch verwalteter Lebensform erklärt. Boltanski und Chiapello schließen aus der Analyse einer umfangreichen Managementliteratur zum Thema »Führungspersonal« auf substanzielle Veränderungen im Management, das aus der Künstlerkritik die Konsequenz gezogen habe, den Bedürfnissen nach Authentizität und Freiheit nachzukommen und »Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität« (Boltanski/Chiapello 2003: 143) zu Erfolgsgarantien der Arbeitswelt erklärt hätte. Die dieser Analyse sich anschließende sozialwissenschaftliche Literatur deutet relativ umstandslos die postfordistische Arbeitswelt als eine Art Mimesis der künstlerischen Tätigkeit. Was sie für die reale Arbeitsverfassung ausgibt, stützt sich vorwiegend auf eine interpretative und präskriptive Literatur, und welche künstlerische Profession zum jeweiligen Vergleich herangezogen wird, bleibt weitgehend offen. Schon Menger ließ uns zunächst im Unklaren, wen er aus der bunten Vielfalt künstlerischer Berufe eigentlich meint. Erst seine spätere Spezifizierung von dreierlei Arten der Künstlerbeschäftigung – darstellende Künstler
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(Schauspieler, Opernsänger, Orchestermusiker), in zeitlich begrenzten Projekten arbeitende Künstler (Kuratoren, Ausstellungsmacher) und freischaffende Künstler (Schriftsteller, Maler) – lässt den Schluss zu, dass ihm der darstellende Künstler, genauer: der Schauspieler, als Prototyp für seine These dient. Es ist keine überraschende Erkenntnis, dass Kreativität und Innovation als essenzielle Merkmale der künstlerischen Produktion auch in bestimmten Bereichen der Wirtschaft gefordert werden. Eine auf Joseph Schumpeter zurückgehende Wirtschaftstheorie stellt die »schöpferische Zerstörung« durch »innovative Unternehmer« ins Zentrum dynamischer Wirtschaftsentwicklung. Und schließlich hat man einen ganzen Wirtschaftsbereich mit knapp einer Million Erwerbstätigen als »Kultur- und Kreativwirtschaft« klassifiziert (Enquete-Kommission 2007). Doch sollte der »kleine Unterschied« nicht übersehen werden: Während in der Kulturwirtschaft eine enge Bindung der Kreativität an das Verwertbare und Marktgängige besteht, wird unter Künstlern eine offenkundige Marktorientierung ihrer Produktion eher als Makel empfunden. Pierre Bourdieu spricht von langen, zukunftsorientierten und risikoreichen Produktionszyklen im künstlerischen Bereich (1999: 229). Freilich gilt dies nur noch mit Einschränkungen für den spekulativen Kunstmarkt und seine zeitgenössischen Lieferanten à la Damien Hirst und Jeff Koons. Als Weiteres stellt sich die Frage, welche Gruppen werden verglichen? Sozialwissenschaftler verfügen über hinreichende Informationen aus Fallstudien, systematischen Beobachtungen, repräsentativen Umfragen und komparativen Analysen, mit denen sie den Arbeitstag eines Autowerkers, einer Callcenter-Mitarbeiterin oder eines Bankangestellten detailliert rekonstruieren können. Das professionelle Spektrum der Künstler indessen ist viel zu breit, um jenseits der Kreativität deren Tätigkeiten viel Gemeinsames abzugewinnen. Nehmen wir den selbständigen Künstler – sei’s als Maler, Schriftsteller oder Komponist –, dann ist dessen Profession zwar als eine prekäre zu bezeichnen, bei der Formen flexibler Produktion vorherrschen und die Grenzen zwischen Arbeit und Leben fließend sind. Aber sie ist eine selbstgewählte und hierarchiefreie Tätigkeit – im Gegensatz etwa zu Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in Callcentern oder Projektmitarbeitern in der Computerindustrie, denen eine extreme Flexibilität abverlangt wird, wie sie Richard Sennet (1998) in seiner materialreichen Studie über den »flexiblen Menschen« uns abschreckend anschaulich vor Augen geführt hat. Eine jüngere Untersu-
10. Der Künstler als Kippfigur
chung (Loacker 2010) über eine freie Theatergruppe, die eine Managementforscherin drei Monate lang beobachtete und befragte, kommt zu dem Schluss, dass sich die Schauspieler keineswegs den ökonomischen Imperativen beugen, sich nicht als »unternehmerisches Selbst« und »culturepreneur« verstehen und auch nicht gewillt sind, »als Projektionsfläche für die Heroisierung unsicherer und prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse benutzt zu werden« (ebd.: 413). Als Schlussfolgerung drängt sich auf: der Künstler taugt nicht als »postfordistisches Subjektideal« der schönen neuen Arbeitswelt. Zweifellos treffen die Merkmale von Kreativität und Flexibilität, von relativer Selbständigkeit und projektförmiger Arbeit auf eine Gruppe von Erwerbstätigen in der Kulturwirtschaft zu, etwa für Eventmanager, Art Consultants, Literaturagenten, Sponsoren Scouts etc. Deren Tätigkeitsprofil dürfte daher dem des Künstlers am nächsten kommen, aber weiterhin mit der entscheidenden Differenz, dass der Künstler seinem Metier unabhängig und selbstbestimmt nachgeht. Andererseits sprechen nicht wenige Anzeichen für eine Anverwandlung des selbständigen Künstlers an den mittelständischen Unternehmer in der Privatwirtschaft. Empfiehlt doch eine mittlerweile breit gestreute Beratungsliteratur (exemplarisch Weinhold 2005) dem Künstler die Mutation zum »unternehmerischen Selbst« mit Business Plan, Corporate Identity und Marketingstrategien, der die Publikumsbedürfnisse nach Events und Entertainment zu bedienen weiß. In der Celebrity-Kultur verliert Andy Warhols Slogan »Good business is the best art« seine Anrüchigkeit, ja, er wird zum affirmativen »Mission Statement« künstlerischer Ich-AGs. Mengers These von der Vorbild-Funktion des Künstlers wäre somit von den Füßen auf den Kopf zu stellen: die kommerzialisierte Kultur der Postmoderne formt sich den Künstler nach ihrem Bilde. Der Artist, den Adorno einst mit der Aureole eines »Statthalters des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts« (GS 11: 126) umgab, auf dem Weg zum Agenten der Kulturindustrie? Coda. Ein illuminierendes Beispiel für die Selbstvermarktung von Kunst, die gleichwohl im Dienste der Autonomie von Kunst steht, lieferte uns Christo als Unternehmer. Grundsätzlich finanzierte er seine aufwendigen Projekte selbst – nicht durch Sponsoring und Firmenwerbung, sondern mit Hilfe seiner eigenen, auf dem Kunstmarkt angebotenen künstlerischen Produkte (Zeichnungen, Fotografien etc.). Der Künstler Christo wurde zum Unternehmer, ohne dabei die Kunst auf den finanziellen Erfolg auszurichten; allein die Ermöglichung seines Projekts blieb das Ziel.
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11. Kunstkritik als literarische Gattung. Entstehung, Entfaltung und Krise
Die Kunstkritik ist so alt wie die Kunst1 – als literarische Gattung entstand sie jedoch erst im 18. Jahrhundert mit dem öffentlichen Ausstellungswesen in Frankreich. Ältere Publikationen, etwa Giorgio Vasaris »Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten« (1550; 1568), enthielten schon zahlreiche ästhetische Urteile über Werke italienischer Renaissancekünstler. Aber bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war eine bewertende Rezeption von Kunstwerken allein in Aufzeichnungen über Künstlerviten und innerhalb kunsttheoretischer Traktate zu finden (Venturi 1972: 147). Erst die Kritiken der Ausstellungen des Pariser Salons von Étienne La Font de SaintYenne (Salon von 1746) und Denis Diderot (Salons von 1759 bis 1781) gelten als die Gründungsdokumente der Kunstkritik als einer literarischen Gattung.2 Bis dahin hatten die Künstler erfolgreich das Monopol verteidigt, allein über Werke der bildenden Kunst sachverständig urteilen zu können und jenen kein Urteil zugestanden, die selbst nicht in der Lage waren, Kunstwerke herzustellen. Albert Dresdner, der bereits 1915 ein (danach mehrfach wieder aufgelegtes) Standardwerk über die Entstehung der Kunstkritik vorlegt hat, definierte Kunstkritik als »diejenige selbständige literarische Gattung, welche die Untersuchung, Wertung und Beeinflussung der zeitgenössischen Kunst zum Gegenstand hat« (Dresdner 1915/1968: 9). Zugleich wies er darauf hin, dass der Kunstkritiker kein Kunsthistoriker sei. Beide haben zwar »denselben Stoff: das künstlerische Schaffen«. Aber der Kunsthistoriker befasse sich »mit dem
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Lionello Venturi datiert ihre frühesten Zeugnisse auf die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. (1972: 45). Von Gattung spricht Dresdner (1968); andere Autoren (z.B. Kluge 2009) bevorzugen Genre.
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Gewordenen«, der Kunstkritiker »mit dem Werdenden« (ebd.: 8); seine Objekte seien jeweils Werke der zeitgenössischen Kunst. Damit begründete Dresdner ein widerspruchvolles Verhältnis des Kunstkritikers zur Kunsttheorie, das er wie folgt skizziert (ebd.: 9f.): Die Kunsttheorie geht deduktiv vor, sie erklärt die Kunst systematisch durch ein zusammenhängendes System, während der Kritiker seine Tätigkeit auf die Betrachtung und Untersuchung des Einzelnen richtet. »Er will seine Ideen vom Objekt empfangen, nicht sie darauf übertragen« (ebd.: 11). Die Kunstgeschichte ist für die Kunstkritik unentbehrlich. Kein Kunstkritiker kann sein Metier ohne fundierte Kenntnis der Kunstgeschichte ausüben; er muss sich aber auch von ihr emanzipieren, indem er sich dem Neuen, noch nicht Kanonisierten zuwendet und sich seiner Subjektivität bewusst bleibt. Anders als der Kunsthistoriker, der sich als Gelehrter an ein wissenschaftliches Publikum, das heißt an seine Kollegen und Studenten, wendet, vermittelt der Kunstkritiker zwischen Künstler und Publikum. Als Experte übersetzt er Inhalte, Intentionen und ästhetische Kontexte von »sprachlosen« Kunstwerken in eine für das Laienpublikum zugängliche Normalsprache und verwandelt tendenziell den Leser in einen Betrachter. Kunstkritik steht im Spannungsfeld von Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Die je spezifischen Diskurse in diesen Feldern unterscheiden Stefan Germer und Hubertus Kohle nach ihrem Verhältnis zum Kunstwerk: »Die Kunsttheorie konstituiert ihren Gegenstand als einen exemplarischen, d.h. außerhalb der Zeit stehenden, Kunstgeschichte konstituiert ihn als einen vergangenen, Kunstkritik endlich konstituiert ihn als einen gegenwärtigen, d.h. unabhängig von seinem Entstehungsdatum für uns verfügbaren« (Germer/Kohle 1991: 295; Hervorh. i. O.). Wenn sich der Kunstkritiker dabei einer literarischen Visualisierungsstrategie, der Ekphrasis, bedient, bringt das die Kunstkritik in die paradoxe Situation, dass sie die »Unmittelbarkeit des ästhetischen Erlebens in Formen der Vergegenwärtigung umschreiben, d.h. literarisch vermitteln« muss (ebd.; Hervorh. i. O.), womit die Verschränkung von visueller Wahrnehmung und verbaler Explikation zu ihrem Markenzeichen wird (Vogt 2010: 332). Der Kunstkritiker bringt Kunst sprachlich zur Erscheinung und bewertet sie nach subjektivem Empfinden (Geschmack und Gefühl), aber mit ausgewiesenen Kriterien, die sich, wie vermittelt auch immer, aus der Kunsttheorie und Kunstgeschichte herleiten lassen. Seit Diderot gelten diese drei Elemente als für die Kunstkritik konstitutive (Metzler Lexikon 2000: 289).
11. Kunstkritik als literarische Gattung
Der Publizist und Kunstkritiker Klaus Honnef bezeichnet Kunstkritiker als eine »Mischung aus Kennern, Schiedsrichtern und Propheten«, die ihre »Urteile über Kunstwerke in einem nicht erklärten Auftrag der kunstinteressierten Öffentlichkeit« fällen (Honnef 2008: 4). Ihre Kunstkritik artikuliert sich in vielfältigen Formen: in Besprechungen aktueller Ausstellungen, in wissenschaftlich fundierten Katalogtexten oder in kunstkritischen Abhandlungen in Fachzeitschriften und Büchern. Kunstkritiker üben keinen geschützten Beruf aus, sie können der Redaktion einer periodisch erscheinenden Kunstzeitschrift, einer Tageszeitung, eines Fernseh-Kulturprogramms oder eines Rundfunksenders angehören, als freie Journalisten arbeiten, als Museumsleiter, Kuratoren oder Hochschullehrer gelegentlich Artikel zum aktuellen Kunstgeschehen schreiben (Tietenberg 2005).
Funktionen der Kunstkritik Sobald eine Gesellschaft die Kunst als funktionales Teilsystem ausdifferenziert (Luhmann 1995), gehört die Kommunikation über die Kunst zu dessen Essentials. Als basales Medium dieser Kommunikation fungiert die Kunstkritik. Sie steht im Dienste der Selbstbeobachtung der Kunst, ist ihr erweitertes »Reflexionsmedium« (Benjamin 1973: 60). Niklas Luhmann versteht die Kunstkritik als ein konstitutives Element des Kunstsystems: »dass über Kunst geredet und geschrieben wird, trägt wesentlich zur Stabilisierung und Destabilisierung ihrer Autopoiesis bei« (Luhmann 1995: 91); und wie das Beispiel der historischen Avantgarde zeigt, kann sie auch die »Formsuche auf der Ebene der Kunstwerke selbst« beeinflussen (ebd.). Als ein Organ der Öffentlichkeit vermittelt Kunstkritik zwischen den Produzenten und Rezipienten von Kunstwerken. Sie ist eine zentrale Schaltstelle, quasi die Einlasskontrolle zum Kunstbetrieb. In ihrer Frühzeit sah sie ihre Aufgabe noch darin, »den Künstler zu belehren und ihn durch gute Ratschläge in den Stand zu setzen, begangene Fehler zu vermeiden und seine Sache künftig besser zu machen« (Dresdner 168: 162). Sie begriff sich gewissermaßen als »weitere Arbeit am Kunstwerk selbst« (Luhmann 1995: 458) – ein Gedanke, der in der romantischen Kunstkritik zentrale Bedeutung erlangte. In seiner Schrift über den »Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« argumentiert Walter Benjamin rezeptionsästhetisch: »für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung« (Benjamin 1973: 63).
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Kunstkritik wird durch die im 18. Jahrhundert entstehende Öffentlichkeit von Kunstausstellungen geradezu gefordert; adressiert ist sie an die Besucher der Salons. Das bürgerliche Massenpublikum bringt keine literarischen Kenntnisse mit und ist daher auf rein visuelles Verständnis angewiesen, weshalb die »Wirkung auf den Betrachter« zum zentralen Kriterium der Kunstkritik wird (Germer/Kohle 1991: 290, 297). Sie lehnt den akademischen Regelkanon ab und vertraut stattdessen der visuellen Wahrnehmung des gebildeten Laien und dem natürlichen Gefühl (sentiment) für das Schöne, eine durch innere Empfindung geleitete Kunstbeurteilung (Vogt 2010: 20ff.), und trägt dadurch zur verfeinerten Geschmacksbildung und Sehschulung des Laienpublikums bei. Das Publikum ästhetisch zu bilden, war insbesondere ein Ziel der frühen deutschen Kunstkritik (ebd.: 327). Für den Kunstmarkt übernimmt die Kunstkritik eine unverzichtbare Orientierungsfunktion, sie wird zum Komplement des Kunstmarktes. Mit der Ausweitung des Kunsthandels entstand Bedarf für Expertisen (Luhmann 1995: 135), die nicht nur ihre Provenienz nachwiesen, sondern auch qualitative Bewertungen der Kunstwerke enthielten, an denen sich Sammler orientieren konnten. Die »Kommentarbedürftigkeit«, die Arnold Gehlen (1960: 162ff.) für die moderne Kunst reklamierte, gilt mehr oder weniger für alle Kunst. Inwieweit die Kunstkritik Einfluss auf Praxis und Entwicklung der Kunst nimmt, etwa neue Stilrichtungen befördert oder behindert, ist nur fallweise zu entscheiden. Aus der Kunstgeschichte sind Beispiele für hemmende wie für förderliche Beeinflussungen bekannt. So regte sich gegen die Impressionisten (insbesondere gegen Edouard Manet) noch erheblicher Widerstand seitens der Kunstkritik, während die Avantgardisten der klassischen Moderne vielfältige Förderung durch einflussreiche Autoren und Periodika fanden.
Gesellschaftliche Voraussetzungen Gebunden war die Entstehung einer professionellen Kunstkritik an fünf entscheidende gesellschaftliche Voraussetzungen: 1. die Institutionalisierung der Kunst im Rahmen von Akademie- und Museumsgründungen; 2. die Entstehung eines Kunstmarktes, verbunden mit der Institutionalisierung des Ausstellungswesen und einem Netz von Galerien;
11. Kunstkritik als literarische Gattung
3. die Existenz einer Gruppe von professionellen Kritikern mit einem profunden Kunstverständnis und einem (oft unexplizierten) Wertekanon; 4. die Gründung von Publikationsorganen, in denen die Kritiken veröffentlich werden konnten; 5. ein Publikum, das sich für die zeitgenössische Kunst und deren Bewertung interessierte.
1.
Institutionalisierung von Kunst
Die Institutionalisierung der Kunst verdankt sich einer Konstellation von Interessen zweier gesellschaftlicher Gruppen: den Professionsinteressen der bildenden Künstler und den Interessen regierender Adelsgeschlechter an Machtentfaltung durch Repräsentation. Ihren organisationalen Niederschlag fand sie in Akademien und Museen. Während des gesamten Mittelalters blieb die Kunst in das Handwerkswesen eingebettet. Die Künstler hatten bis weit in die Renaissance den Status von Handwerkern inne, die strengen Zunftregeln unterworfen waren und deren Fertigkeiten den für handwerkliche Berufe üblichen Artes mechanicae zugeordnet wurden. Wesentlich für die Entstehung eines autonomen Kunstsystems war die »große Emanzipationsbewegung der Kunst und der Künstlerschaft« mit dem Ziel einer »Ablösung der Kunst vom Handwerk« (Dresdner 1968: 55). Es waren in der Regel zunftunabhängige »Hofkünstler« (Warnke 1996), die bei ihren fürstlichen Herren nicht nur ein offenes Ohr für die Gründung von Akademien, sondern auch deren aktive Unterstützung fanden. Wenn dadurch die Kunst in den Rang der Artes liberales erhoben und die Akademie zur »obersten Autorität in Fragen der Kunst« (Pevsner 1986: 62) gekürt wurde, bedeutete das einen entscheidenden Schritt zur gesellschaftlichen Institutionalisierung der bildenden Kunst. Die frühesten Akademien wurden in Florenz (Accademia del Disegno, 1562) und Rom (Accademia di San Luca, 1593) gegründet. Nach ihrem Muster wurde 1648 in Paris die Académie Royale de Peinture et de Sculpture ins Leben gerufen, die sich in ihren Statuten explizit auf die Florentiner Akademie bezog. Zwar verdankten die Kunstakademien ihre Entstehung der Initiative bildender Künstler, die für ihre Profession den Zunftzwang abschaffen wollten und vielfach ihren privilegierten Status als Hofkünstler nutzten, um sich nicht nur vom Handwerk zu emanzipieren, sondern diesem schließlich auch das Unterrichtsmonopol zu entwinden. Aber es bedurfte der höfischen Organisationshilfe, um die Akademien gegen den Widerstand der Malergilden zu
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gründen. Die adeligen Herrscherhäuser sahen »die Förderung der Künste als eine Pflicht für jeden Fürsten, der zu wirklichem Ruhm gelangen will« (Pomian 1998: 59). Kunstkennerschaft galt als eine Herrschertugend und wurde zum Bestandteil des fürstlichen Habitus (Spenlé 2008: 78). Ihre Kunstsammlungen dienten den adeligen Herrschern zur »Veranschaulichung jenes verfeinerten Geschmacks«, der sie »als Angehörige der führenden Elite auszeichnete« (ebd.: 81), und in den Akademien sahen sie willkommene Instrumente, mit denen sie die Künstler an den Herrscher binden und kontrollieren konnten. In Florenz war es Großherzog Cosimo I. de’ Medici, der auf Vorschlag Giorgio Vasaris 1562 die Akademie ins Leben rief und sich gemeinsam mit Michelangelo zu ihren offiziellen Leitern (capi) machte. Ein nachfolgendes Dekret von 1571 sprach die Maler und Bildhauer von ihrer Verpflichtung frei, Mitglied in den vormals zuständigen Gilden zu sein (Spenlé 2008: 63). In Rom hatte Papst Gregor XIII. in einem päpstlichen Schreiben (Breve) von 1577 die Gründung einer Kunstakademie angekündigt, die den erzieherischen, sozialen, beruflichen und brüderlichen Bedürfnissen der Maler, Bildhauer und Architekten Roms dienen sollte. Eindeutig im Vordergrund standen die moralisch-erzieherischen Aspekte. Gegründet wurde sie aber erst 1593 durch den Kardinal Federigo Borromeo und den Maler Federico Zuccari und nach dem Schutzpatron der Maler als Accademia di San Luca benannt (Spenlé 2008: 68ff.). Ihr erster Präsident wurde Zuccari. Im zentralisierten Frankreich ging die Initiative zur Gründung der Académie Royale de Peinture et de Sculpture von Hofkünstlern aus; der prominenteste unter ihnen war Charles Le Brun. Sie suchten die königliche Unterstützung, um eine »von Zunftzwängen freie Kunstausübung« und »jungen Künstlern eine gründliche Ausbildung« als »Alternative zur Lehre bei einem Meister« zu ermöglichen (Bettag 2009: 249). Mit der Hilfe eines von dem einflussreichen Staatsrat Martin de Charmois formulierten Gesuchs unterbreiteten sie im Palais Royal dem König und seinen Ratsherren entsprechende Forderungen. Sie fanden offene Ohren, so dass schon wenige Tage später, am 1. Februar 1648, die offizielle Gründungsversammlung erfolgen konnte. Zum Leiter (Directeur) der Akademie wurde Martin de Charmois, zum Protecteur Frankreichs Staatskanzler Pierre Séguier bestellt (Valerius 2010: 19). Ihren Sitz hatte sie ab 1655 im Louvre. Unter dem Protektorat von Jean-Baptiste Colbert, dem französischen Staatsminister im Dienste Ludwigs XIV., erlebte die Akademie ihre Blütezeit (ebd.: 27ff.). Die von ihm überarbeitete Satzung der Kunstakademie wurde Ende 1663 als königliches Dekret verabschiedet. Sie sah eine Gleichstellung mit der Aca-
11. Kunstkritik als literarische Gattung
démie Française vor und implizierte die Erhöhung der Anzahl der Mitglieder von dreißig auf vierzig, einen erhöhten Zuschuss für den Unterhalt und die Vergrößerung der Akademie sowie für die Pensionen der Professoren und die Preise an die Schüler, deren beste Arbeiten die Residenz in Versailles schmücken sollten (Valerius 2010: 28f.). Eine »engere formale Anbindung an König und Staat« (Bettag 2009: 259) ergab sich dadurch, dass bisherige Wahlämter, wie die der Rektoren, unter königliche Kontrolle gestellt wurden; ihre Besetzung bedurfte der Zustimmung des Hofes. Überdies wurden die Aufgaben der Professoren präzisiert und die Aufnahmeregeln verschärft. Colbert gelang auch die Wiederbelebung der monatlichen Versammlungen der Akademiemitglieder, der sogenannten Conférences, auf denen über Kunstfragen, meist am Beispiel konkreter Kunstwerke aus der königlichen Sammlung, diskutiert wurde.3 Colbert und der in leitenden Funktionen amtierende Le Brun nutzten die Conférences, um Prinzipien und Regeln für die bildende Kunst aufzustellen. Die als »Grande Restauration« von dem Gründungsmitglied und Sekretär der Akademie, Henri Testelin, bezeichnete Reform Colberts (Bettag 2009: 248) hatte zweifellos zum Ziel, die Kunstakademie für staatliche Repräsentationszwecke und zur Stützung der gloire des Königs zu nutzen. Wie der Historiker der Kunstakademien, Nikolaus Pevsner, folgert, habe Colbert für seine absolutistische Wissenschafts- und Kunstpolitik eine vom König geförderte Institution so reformiert, dass sie hernach »von der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit des Malers und Bildhauers weniger übrigließ, als dieser unter der Herrschaft der Gilden besessen hatte« (Pevsner 1986: 97). Colberts Plan habe »nicht auf Lockerheit, sondern auf Festigkeit, nicht auf Toleranz, sondern auf Diktatur beruht. Daraus entstand seine Akademie« (ebd: 114). Aus dieser Aussage ziehen manche Interpreten den Schluss, die Befreiung der Kunst vom Handwerk habe als Kehrseite ihre Unterordnung unter den absolutistischen Ordnungswillen gehabt. Aber das Bestreben, Italien die Vormachtstellung auf dem Gebiet der Bildenden Künste zu entwinden und Frankreich zum Orientierungspunkt ganz Europas zu machen (Bettag 2009: 246), lag auch im Interesse der französischen Künstler. Inwieweit Colbert die Akademie als »kulturpolitisches Instrument und Machtstütze« (Kluge 2009: 65) vereinnahmen konnte, ist indessen umstritten. Neuere und umfassende-
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Ihre Niederschriften gelten heute als die wichtigste Quelle zur französischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts.
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re Quellenauswertungen4 (Bettag 2009; Castor 2009) widerlegen die vorurteilsvollen Bewertungen Dredners und Pevsners. Aus den Quellen ließen sich aus der »engeren formalen Anbindung an Staat und König« keine »massiven inhaltlichen Eingriffe von staatlicher Seite auf den Akademiebetrieb« nachweisen (Bettag 2009: 258f.); die Praxis spiegele vielmehr eine »relative Liberalität« wider (ebd: 242). Die wechselseitige Interessenkonstellation hat Alexandra Bettag wie folgt resümiert: »Insgesamt gesehen profitierten wohl beide Seiten von den mit der Akademiereform verbundenen Neuerungen. Mit Hilfe der Künstler der Akademie konnte Frankreich eine künstlerische Vorrangstellung in Europa erreichen, den Künstlern boten sich zahlreiche Aufträge, die Möglichkeit sozialen Aufstiegs und die Sicherung ihrer Position.« (Ebd.: 260) Die französische Akademie war beispielgebend für die zunftfreie Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses und die Pflege kunsttheoretischer Erörterungen; erst in ihrem Kreis »wurde der Terminus ›Beaux-Arts‹ allgemein geläufig« (Venturi 1972: 131). Sie war vielfach auch Vorbild für die in den Residenzstädten des politisch zersplitterten Deutschlands gegründeten fürstlichen Kunstakademien. Die Akademiegründungen 1696 in Berlin und 1705 in Wien waren sozusagen »Unternehmen des Hofes«. In Berlin errichtete Kurfürst Friedrich III. (der spätere Friedrich I. von Preußen) im Rahmen eines größeren kulturellen Programms die Preußische Akademie der Künste (»Kurfürstliche Academie der Mahler-, Bildhauer- und Architectur-Kunst«) nach dem Modell der Akademien von Rom und Paris, als »eine Gemeinschaft oder Versammlung von Malern und Bildhauern, von denen einige lehren und die anderen lernen und ihre Ausbildung erhalten«, wie es im Memorandum des ersten Direktors hieß (nach Plevsner 1986: 123). Die Wiener Akademie wandelte Joseph I. aus einer privaten Akademie im Hause seines Hofmalers Peter Strudel von Strudeldorff (von diesem 1692 gegründet) 1705 in eine öffentliche Institution um, die freilich erst durch die Reorganisation des 1726 als Direktor der »K.k. Hofakademie der Maler, Bildhauer und Baukunst« berufenen Hofmalers Jacob 4
Mittlerweile liegt die vollständige Edition der Conférences mit sechs Bänden vor, die den Zeitraum von 1648 bis 1792 umfassen: »Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Scuplture« (Paris 2007ff.). Tome I: Les Conférences au temps d’Henry Testelin 1648-1681 (2007), Tome II: Les Conférences au temps de Guillet de Saint Georges 16821699 (2009), Tome III: Les Conférences au temps de Jules Hardouin-Mansart 16991711 (2009), Tome IV (2 vols.): Les Conférences entre 1712 et 1746 (2010), Tome V: Les Conférences au temps de Charles-Antoine Coypel 1747-1752 (2012), Tome VI: Les Conférences entre 1752-1792 (2015).
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van Schuppen auf das »Niveau der besten Institute Europas« (Pevsner 1986: 125) gehoben wurde. Mit Unterstützung der regierenden Häuser wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen anderen europäischen Hauptstädten Kunstakademien gegründet, die sich in Aufbau, Satzungen und Lehrprogrammen stark an die Pariser Académie Royal orientierten. Resümierend lassen sich die Leistungen und Auswirkungen der Akademien auf die Entwicklung des Kunstsystems und der Profession des Künstlers wie folgt charakterisieren: Akademien stehen am Übergang vom Hofkünstler zum modernen Künstler. Unter der Protektion regierender Häuser gegründet, dienten sie freien Vereinigungen von bildenden Künstlern als ein Vehikel der Emanzipation der Kunst vom Handwerk. Sie boten Künstlern eine offizielle Stellung mit Privilegien. Mit dem Anspruch, die »Kunst als Wissenschaft« zu betreiben, und mit ambitionierten Ausbildungsprogrammen (Zeichnen als fundamentale Grundlage, systematisches Studium klassischer Skulpturen, neoklassische Kunsttheorie etc.) erhöhten sie Prestige und sozialen Status des Künstlers bis zur Nobilitierung. Angesichts ihres gesellschaftlichen Aufstiegs, ihrer materiellen Sicherheit und des erlangten Monopols der Künstlerausbildung störte es die »freien Künstler« nicht weiter, dass die Akademien auch die Repräsentationsbedürfnisse von Hof und Adel befriedigten und merkantilistischen Wirtschaftsinteressen zu Diensten waren (beispielsweise durch die künstlerische Veredelung von Stoffen und Porzellan oder die Angliederung von Gobelin-Manufakturen und Kunstgewerbeschulen). Neben den Akademien trugen die Museumsgründungen des 18. Jahrhunderts entscheidend zur Institutionalisierung der bildenden Kunst bei. Die Kunstmuseen der Neuzeit gingen aus den Sammlungen wertvoller Gegenstände hervor, die in Schatz- und Wunderkammern an europäischen Fürstenhöfen des 16. Jahrhunderts aufbewahrt wurden (Pomian 1998; Sheehan 2002). Zunächst nur zum Privatvergnügen und zur Repräsentation gedacht, wurden – nachdem man die Kunst von anderen Kuriositäten getrennt hatte – fürstliche und königliche Galerien und Kabinette im 18. Jahrhundert allmählich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Sammlungen gingen später in Staatsbesitz über, als Schenkung oder – wie beim Übergang der bedeutenden Sammlung des französischen Königshauses – durch revolutionäre Expropriation, und fanden ihren finalen Standort im öffentlichen Museum. Im Unterschied zu den Privatsammlungen zeichnet sich dieses durch seine Permanenz aus und überlebt seine Gründer (Pomian 1998: 67). Es macht die Kunst jenseits des Produzenten und Sammlers für ein breiteres Publikum sichtbar.
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Für den modernen Künstler sind Museen unverzichtbare Archive seiner Profession, in denen er die Werke seiner Vorgänger studieren kann. In Museen treten Kunstwerke »in vorher ungeahnte Zusammenhänge, beziehen sich primär auf andere Kunstwerke« und institutionalisieren damit »den Mechanismus der Selbstreferenz: Kunst bezieht sich auf Kunst« (Schmidt 1989: 272; Hervorh. i. O.). Die Institutionalisierung der Kunst ist eng verwoben mit der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. So lässt sich an der Geschichte des Kunstmuseums als gesellschaftlicher Struktureffekt der allmähliche Übergang von einer repräsentativen zu einer öffentlichen Institution studieren. In höfisch-absolutistischen Gesellschaften waren Museen wie auch Akademien reine Prestigeinstrumente, mit denen Könige und Fürsten dem in ihrer »Herrschaftsapparatur eingebauten Repräsentationszwang« (Elias 1983: 111) gegenüber konkurrierenden Häusern nachzukommen suchten und »vor dem Volk« ihre Herrschaft repräsentierten. Jürgen Habermas prägte hierfür den Begriff der »repräsentativen Öffentlichkeit« (Habermas 1962: 17ff.). Mit dem Zugang für das bürgerliche Publikum wird das Museum (wie auch die Akademieausstellung – gleichsam ein »Museum auf Zeit«) zu einer Institution der evolvierenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Wenn Habermas aufzeigt, dass die literarische der politischen Öffentlichkeit vorausging (ebd.: 42f.), dann gilt dies auch für den öffentlichen Diskurs über die bildende Kunst. Zumindest in Deutschland entwickelte sich ein Typus von »Öffentlichkeit in unpolitischer Gestalt« (ebd.: 42). Der Austausch von Privatpersonen über Literatur und Kunst in Kaffeehäusern, Lesegesellschaften und Kunstvereinen wurde »zum Übungsfeld« des späteren »politischen Räsonnements« der Bürger (ebd.).
2.
Kunstmarkt und Ausstellungswesen
Zur vollen Institutionalisierung der bildenden Kunst gehört die über den Markt vermittelte Zirkulation und Distribution von Kunstwerken. Historisch gesehen, waren es wiederum die Repräsentationszwänge der höfischen Stände, die die entscheidende Geburtshilfe dafür leisteten. Die im 17. Jahrhundert in den europäischen Ländern entstehenden Kunstmärkte wurden, mit Ausnahme der Niederlande, von der Nachfrage her zunächst von Adel und Klerus dominiert. Italien. Im Rom des 17. Jahrhunderts entwickelte sich der Kunstmarkt erst allmählich; das Kunstpatronat blieb zunächst vorherrschend. Angesehene
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Maler arbeiteten für wohlhabende Auftraggeber aus Klerus und Adel. Francis Haskell konstatiert: »die Freiheit, für unbekannte Bewunderer zu malen, war den Künstlern eher unangenehm, und Ausstellungen betrachtete man für gewöhnlich als letzte Zuflucht eines potentiell Arbeitslosen« (Haskell 1996: 21). Die Accademia di S. Luca untersagte ihren Mitgliedern unter Androhung des Ausschlusses, sich am freien Verkauf von Kunst zu beteiligen (ebd.: 177). Allein junge und unbekannte Künstler, vornehmlich Neuankömmlinge, traten in direkten Kontakt mit Händlern. So verkaufte Caravaggio nach seiner Ankunft in Rom (1592) einige seiner Frühwerke an einen französischen Händler (ebd.: 176). Francis Haskell führt den allmählichen Aufstieg der Kunsthändler in Rom auf den Umstand zurück, dass zum einen Rom als kosmopolitisches Zentrum der europäischen Kunst viele ausländische Besucher anzog und zum anderen eine wachsende Zahl von Bildern italienischer Maler in andere europäische Länder exportiert wurden. Für die nur kurzzeitig in Rom verweilenden Kunstinteressenten war es einfacher, sich an einen Händler zu wenden statt mit einem unzuverlässigen Maler zu verhandeln (Haskell 1996: 178). Die professionellen Händler waren zur Mehrheit genuesischer Abstammung, aber auch Flamen fanden sich unter ihren prominenteren Vertretern. Neben den professionellen Händlern gab es Nebenerwerbs- und kunstliebende Amateurhändler. Frankreich. Der französische Kunstmarkt entstand im 18. Jahrhundert in Paris, auf das sich ohnehin das gesellschaftliche Leben Frankreichs konzentrierte. Während Kunstauktionen eine längere Geschichte haben, traten in dieser Zeitperiode erstmals Kunsthändler auf. Ihre Existenz verdankten sie der Tatsache, dass die ab Mitte des 17. Jahrhunderts unter französischen Adeligen sich verbreitende »Mode des Kunstsammelns« gegen Ende des Jahrhunderts auch bürgerliche Schichten erreichte (Spenlé 2008: 109). »Der Pariser Kunstmarkt erlaubte allerdings in der ersten Jahrhunderthälfte noch keine klare Differenzierung zwischen Künstlern und Kunsthändlern.« (Kernbauer 2011: 110) Die frühen Kunsthändler waren zum einen Meister der LukasAkademie, die als Maler-Händler über das Monopol im Kunsthandel verfügten und das Vorrecht besaßen, Auktionen durchzuführen. Zum anderen verkauften die sog. Marchands-Merciers neben allen möglichen Luxuswaren und modischen Ausstattungen, auch Bilder an Sammler. Aus dieser »angesehensten und reichsten Händlerschicht« (Spenlé 2008: 137) entstand der professionelle Kunsthändler, der sich bald den Ruf des Connaisseur erwarb und die höchsten gesellschaftlichen Schichten belieferte. Diese Kunsthändler boten
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Kunstwerke nicht nur in ihren Läden an, sondern auch auf Messen, die zu wichtigen Umschlagplätzen für Gemälde wurden (ebd.: 112f.). Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Paris ein veritabler Kunstmarkt. Aus den früheren Nachlassversteigerungen entstanden öffentliche Auktionen mit sorgfältig gestalteten Katalogen. Die publizierten Kataloge trugen »wesentlich zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen der Händler- und der Sammlerwelt bei« (Spenlé 2008: 131). Die Professionalisierung des Kunsthandels machte Paris »in der Mitte des 18, Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Marktplätze für Gemälde« (ebd.: 282), den ausländische Fürsten- und Königshäuser für ihre Akquisitionspolitik nutzten. So erwarben die sächsischen Fürsten August II. und August III. durch ihre Inspektoren und Kunstagenten zahlreiche Gemälde für den Dresdner Hof auf dem Pariser Kunstmarkt.5 Auch die russische Zarin Katharina II. wurde zu einem der bedeutendsten Käufer im Pariser Bilderhandel (ebd.: 179). Niederlande. Ein Kunstmarkt, der breite Bevölkerungsschichten erfasste, entstand erstmals im 17. Jahrhundert während des »Goldenen Zeitalters« der Niederlande (North 2001). Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hatte sich in den Niederlanden der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft wesentlich früher vollzogen. Ein Hauptgrund dafür war, dass in der Frühen Neuzeit der niederländische Adel »eine ziemlich unbedeutende Rolle« spielte; im 16. Jahrhundert gab es noch zwölf adelige Familien (ebd.: 42). Das Grundeigentum, das Kirche wie Adel besaßen, war von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem verbreiteten Landbesitz der freien Bauern. In den Städten bildete sich ein gehobenes Bürgertum heraus, das sich aus Regenten (einer kleinen Elite, die die wichtigsten politischen Ämter in den Städten, Provinzen und der Republik besetzten), wohlhabenden Kaufleuten und reichen Händlern, Handwerksmeistern und städtischen Amtsträgern zusammensetze. Die wirtschaftliche Blüte und der relative Wohlstand breiter Mittelschichten, die mit Gemälden ihr Repräsentationsbedürfnis zu stillen suchten, verhalf dem Kunstmarkt zum Durchbruch. Der Kunstmarkt manifestierte sich in verschiedenen Segmenten (vgl. zu Folgendem North 2001: 83ff.). Es gab den Verkauf direkt aus dem Atelier sowie Verkaufsausstellungen der Lucas-Gilden und der neu entstandenen Malerbrüderschaften. Daneben organisierten die Gilden Auktionen (Nachlassund Umzugsauktionen); auch Lotterien, zu denen Bilder eingeliefert wurden 5
Allein August III. ließ zwischen 1742 und 1756 schätzungsweise 150 Gemälde in Paris kaufen (Spenlé 2008: 179).
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und deren Erlöse karitativen Zwecken zugutekamen, nutzen die Maler für ihren Absatz. Schließlich entstand ein Netz von Kunsthändlern, das Trödler, Nebenerwerbshändler (wie Schankwirte, Friseure etc.) und professionelle Händler umfasste. Auch der bargeldlose Tauschhandel, den Maler nutzten, um mit ihren Gemälden Waren und Dienstleistungen zu bezahlen, kann als eine Komponente des Kunstmarktes angesehen werden. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Rom und Paris, wo die angesehenen Künstler den sich herausbildenden Kunsthandel ablehnten, haben niederländische Künstler wie Rembrandt den anonymen Kunstmarkt als eine materielle Grundlage für künstlerische Freiheit begrüßt. Bedeutete er doch das Ende des Patronagesystems, das heißt die Abhängigkeit des Künstlers von seinen Gönnern und Auftraggebern (Alpers 1989: 198ff.). Deutschland. Der deutsche Markt für Gemälde und Skulpturen konnte sich erst nach 1850 entfalten (Schmitz 2001: 354), was sicherlich auch mit der geographischen und politischen Zersplitterung des Landes zusammenhing. Allerdings war bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Kupferstichmarkt entstanden, »der insbesondere in deutschen Städten mit eigenen Druckerpressen wie Augsburg und Nürnberg« sowie in Leipzig florierte und eine »internationale Bedeutung« erlangte (Vogt 2010: 160). Den Kunstkritiker sans phrase rief jedoch erst das öffentliche Ausstellungswesen auf den Plan. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kamen öffentliche Verkaufsausstellungen in Mode.6 Ihre Impulsgeber waren die Akademien. Die Ausstellungen wurden zur bevorzugten Plattform für die Präsentation neuer Werke und bewirkten folgenreiche Veränderungen des Kunstsystems. Im Gegensatz zu den Verkaufsausstellungen der Malerzünfte, die man auch schon lange vor dem 18. Jahrhundert, vornehmlich anlässlich kirchlicher Festtage wie Fronleichnam, veranstaltete, ist mit der modernen, institutionalisierten Form die regelmäßige, öffentliche, mehrtägige und von einer maßgeblichen Instanz (meist Akademie) getragene Ausstellung gemeint. Wegweisend waren namentlich die auf eine königliche Anordnung von 1737 zurückgehenden öffentlichen Ausstellungen im Salon Carré des Louvre (nach dem Ort der Ausstellung auch ›Pariser Salon‹ genannt), die – ab 1751 durch eine Jury zusammengestellt – im ein- bzw. zweijährigen Turnus bis ins 19. Jahrhundert mit einer Dauer zwischen drei bis sechs Wochen stattfanden. 6
Öffentliche Ausstellungen fanden in Paris erstmals ab 1667, in Rom ab 1734, in Wien ab 1751, in Dresden ab 1764 und in England ab 1768 statt. Ihre Veranstalter waren in der Regel Akademien.
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Die öffentlichen Ausstellungen wurden zur Existenzgrundlage der bildenden Künstler, die der Kunstmarkt zu »freien Künstlern« gemacht hatte, befreit von zünftigen, höfischen und staatlichen Zwängen und Vorschriften. Nunmehr schufen sie ihre Produkte, damit sie ausgestellt werden. Der moderne Künstler wurde zum »Ausstellungskünstler« (Bätschmann 1997) und vertraute nolens volens seine Werke fortan dem Kunsthandel an. Aus den zunächst im fürstlichen Auftrag handelnden Kunstagenten wurden Kunsthändler. Aus diesen wiederum differenzierten sich in der klassischen Moderne die Galeristen mit einem engeren Kontakt zu einzelnen Künstlern aus. Galerien werden auch als »Gatekeepers« des Kunstmarktes bezeichnet (Bystryn 1978), da sie an der Pforte stehen, durch die zeitgenössische Kunst in die Sphäre öffentlicher Aufmerksamkeit eingelassen wird. Galeristen bedienen den primären Markt, das heißt sie handeln mit Kunstwerken, die erstmals zum Verkauf stehen und direkt aus den Ateliers der von ihnen vertretenen Künstler kommen, während Kunsthändler und Aktionshäuser auf dem sekundären Markt Kunstwerke anbieten, deren Provenienz auf den vormaligen Besitz von Sammlern, Erben etc. zurückgeht und die zum wiederholten Verkauf gelangen. Das Geschäft der Galeristen ist das riskantere, da sie häufig Werke von noch unbekannten Künstlern ausstellen und verkaufen. Daher haben sie einen bedeutenden Anteil an der Durchsetzung von zeitgenössischen Künstlern.
3.
Die Profession der Kunstkritiker
Prekärer noch als die Profession des Künstlers (Müller-Jentsch 2012: 85ff.) ist der soziale Status des Kunstkritikers. Als kompetente Beurteiler von zeitgenössischer Kunst üben Kunstkritiker für interessierte Laien eine Profession aus, die keine direkten Ausbildungsberufe und keine den bürgerlichen Professionen wie Rechtsanwälten, Architekten oder Ärzten vergleichbaren Standesorganisationen kennt. Als Laien gegenüber dem Künstler sind Kunstkritiker in ihrem Genre meist Autodidakten, die sich selbst professionalisieren. Pointiert formuliert, sind sie als zum Urteil berufene Experten aufgerufen, »in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen« (Kant 1957: 281). Die frühesten Vertreter der Kunstkritik waren Schriftsteller, Essayisten und Publizisten, die als Kunstliebhaber und -kenner, mit geschultem Blick und intuitivem Sentiment, für ein Laienpublikum öffentlich zur Schau gestellte Kunstwerke beschrieben, erklärten und beurteilten. Auf sie bezieht sich Niklas Luhmanns Charakterisierung der Kunstkritiker als eine »Reflexions-
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elite – weder adelig noch reich, aber kompetent und mit hohen Erwartungen an sich selbst ausgestattet« (Luhmann 1995: 465). Erst spätere Generationen von Kunstkritikern weisen sich in der Regel durch ein kunst- oder kulturwissenschaftliches Studium aus, das sie zuweilen durch eine journalistische Ausbildung ergänzen.7 Die »ersten Zentren einer systematischen Reflexion über Wert und Charakter der künstlerischen Tätigkeit« waren die Akademien selbst (Demand 2012: 70). Auf monatlichen internen Sitzungen (Conférences) besprachen beispielsweise die Mitglieder der französischen Académie Royale »Vorzüge und ›Fehler‹ bedeutender Gemälde nach hierfür eigens festgelegten Richtlinien der Rubriken« (Vogt 2010: 20f.), wobei mit Rubriken Komposition, Zeichnung und Farbe gemeint waren. Festgelegt wurde zudem eine strenge Hierarchie der Malereigattungen mit der Historienmalerei als ihrem vornehmsten Genre. Die in den Vorlesungen erarbeiteten Kriterien zur Beurteilung von Kunstwerken – »Erfindung, Proportion, Farbe, Ausdruck und Komposition« – sind »noch heute als Bewertungskriterien und -maßstab verbindlich« (Penck 2002: 170). Nach der 1663 erfolgten Reorganisation der Akademie durch Colbert wurden zu ihren Diskussionen auch Ehrenmitglieder (conseillers honoraires) aus der Académie Française hinzugezogen. Der Architekt und Kunsttheoretiker André Félibien war eines der ersten Ehrenmitglieder, beauftragt mit der Niederschrift der Diskussionen. Seine Herausgabe der Sitzungsprotokolle 1669 machte öffentlich, was der akademieinternen Verständigung gedient hatte. Da die Publikation ohne Autorisierung der Akademiemitglieder erfolgt war, riefen die Etablierten den Außenseiter zur Ordnung. Als Protegé Colberts ließ sich dieser aber nicht einschüchtern. Hatte Félibien den Sammelband schon an »alle Liebhaber der Künste« adressiert, erklärte er später noch zur Empörung der Akademiemitglieder, dass Künstler grundsätzlich keineswegs mehr von Kunst verstünden als Laien (Demand 2012: 75). Nach dieser Infragestellung der akademischen Autorität koexistierten »von nun an zwei Kritikertypen: der subjektiv argumentierende Laie und der objektiv argumentierende Kenner« (Vogt 2010: 21; Hervorh. i. O.). Als Grundsatz moderner Kunstkritik formulierte der Schriftsteller Etienne La Font de Saint-Yennes (1688-1771) in seiner Kritik des Salons von 1746: »Ein Gemälde, das man ausstellt, ist wie ein Buch, das durch den Druck öffentlich gemacht, ein Theaterstück, das auf der Bühne aufgeführt wird: je7
Siehe Übersicht im Anhang.
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dermann hat das Recht, darüber zu urteilen.« (La Font des Saint-Yennes 1747; zit.n. Demand 2012: 66) Mit dem von ihm als »Jedermann« Apostrophierten meinte er »den unvoreingenommenen, aufgeschlossenen Beobachter, der, ohne mit dem Pinsel umgehen zu können, nach einem natürlichen Geschmack und ohne die sklavische Beachtung der Regeln urteilt« (ebd.). Seine Betrachtungen empfanden die Angehörigen der Kunstakademie als Anmaßungen eines Literaten, der den Künstlern auch noch Ratschläge erteilen wollte (Spenlé 2008: 222). Obwohl er sich nach der kritischen Rezeption gegen eine Fortsetzung seiner Kunstkritik ausgesprochen hatte, erschien von ihm 1754 eine weitere umfangreiche Salonkritik mit dem Titel »Sentiments sur quelques ouvrages de peinture, sculpture et gravure«, die stärker subjektiv und selektiv als seine erste Salonkritik ausgerichtet war (Kluge 2009: 302). Der Schriftsteller, Philosoph und Enzyklopädist Denis Diderot, der sich übrigens auch als Vermittler im Verkauf von Gemäldesammlungen an die russische Zarin Katharina II. betätigte (Spenlé 2008: 179), gilt als der bekannteste unter den frühesten Kunstkritikern. Mit seinen Salonkritiken leistete er Pionierarbeit. »Er hat die Bildbeschreibung […] zur kunstkritischen Methode erhoben« (Honnef 1999: 19). Seine insgesamt neun Berichte (Diderot 1984) über die im zweijährigen Turnus stattfindenden Verkaufsausstellungen (Salons) zwischen 1759 und 17818 fanden allerdings nur eine selektive Verbreitung unter Eliten. Veröffentlicht wurden sie in der »Correspondance littéraire, philosophique et critique«, einer handschriftlich verfassten und alle zwei Wochen einem »geschlossenen Privatpublikum« (Dresdner 1968: 224) brieflich zugestellten Zeitschrift seines Freundes Friedrich Melchior Grimm. Seine Kritiken übertrugen unsichtbare Gemälde aus einer Sphäre der Imagination in eine andere. Keiner seiner damaligen Leser hat die Bilder gesehen – die Correspondance enthielt keine Abbildungen – noch musste er sie gesehen haben, »weil der Text sie transportieren sollte. Diderots kritische Bildbeschreibungen sind deshalb so dicht und freizügig zugleich, weil sie einer doppelten Verschiebung entspringen: So wie Gemälde eine abwesende Natur präsent machen, ebenso vergegenwärtigen Kritiken abwesende Gemälde. Diese zweifache Verschiebung eröffnet den Freiraum eines Schreibens, das ferne Bilder zur Sprache bringt, indem es die Sprache bildmächtig macht« (Bexte 2005: 312).
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Berichte über die Salons von 1759, 1761, 1763, 1765, 1767, 1769, 1771, 1775, 1781.
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Zum Teil wurden die Kritiken als »Gespräche vor Gemälden« in Szene gesetzt, als fingierte Zwiegespräche mit seinem ›Freund Grimm‹, »in denen Grimm, ganz im Sinne der antiken Dialogtradition, als fragender und streitender Widerpart von Diderot ins Spiel gebracht wird, um Argumente wiederholen, verstärken oder wenden zu können« (Grave/Söntgen 2012: 77). Diderots Kritiken stehen zum Akademismus in einem zwiespältigen Verhältnis; einerseits griffen sie die altehrwürdige Hierarchie der Gattungen an und stellten der Historienmalerei die Genre- und Porträtmalerei an die Seite, andererseits hielten sie an den wesentlichen Grundsätzen des Akademismus fest. Nach Alfred Dresdner habe Diderot sich von der »durch den Akademismus vollzogenen Vermengung von bildender Kunst und Literatur nicht zu befreien vermocht« (Dresdner 1968: 203); fand das Kunstwerk für ihn doch erst in der philosophischen, literarischen oder historischen Idee, die es verkörperte, seine wahre Bedeutung.9 Häufig betonte er, allein über das »Ideelle« traue er sich ein Urteil zu, während er das »Technische« dem Künstler überlassen müsse (Bassenge 1984: XXXVII). Diderots Kritiken waren nach Lionello Venturis Urteil im journalistischen Stil abgefasst, da »er theoretisch und praktisch kaum gerüstet war, sich über Kunst zu äußern […]. Er verließ sich voll und ganz auf sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen« (Venturi 1972: 151) und urteilte nach Augenblickseindrücken und literarischem Interesse für die dargestellten Sujets. Mit den jährlichen oder zweijährlichen Kunstausstellungen wurden auch die Salonkritiken zur Regel; jeder Salon fand in Dutzenden von Kritiken in Periodika oder selbständigen Broschüren und Büchern seine Resonanz. Die Beschreibung und Einschätzung der ausgestellten Bilder wurde zum »Tagesgeschäft der Journalisten« (Drost 2007: 190), aber auch viele bekannte Schriftsteller gaben ihre Urteile ab. Da die Berichterstattung über die Salons besser als die Literaturkritik bezahlt wurde, haben »beinahe alle Literaten der Zeit – Gustave Flaubert ausgenommen – […] Kunstbesprechungen verfasst« (Westerwelle 2011: 833). Zu den bekannteren französischen Schriftstellern, die sich im Jahrhundert nach den erstem Salonberichten von La Font de Saint-Yenne und Denis Diderot ebenfalls als Kunstkritiker äußerten, zählten Théophile Gautier,
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Die Maler »glauben, man brauche nur Gestalten anzuordnen. Sie wissen nicht, dass der erste, der wichtigste Punkt darin besteht, eine große Idee zu finden, dass man spazierengehen, nachdenken, die Pinsel liegen lassen und ruhen muss, bis die große Idee gefunden ist« (»Salon von 1759«, in: Diderot 1984 I: 351).
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Charles Baudelaire, Stendhal, Alfred de Musset, Alexandre Dumas père, Guy de Maupassant, Emile Zola (Drost 2007: 191). Heinrich Heine schrieb unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris über den Salon 1831 einen längeren Bericht für das »Morgenblatt für gebildete Stände« (Heine 1992: 7-49). Auch in anderen Ländern widmeten sich im 18. und 19. Jahrhundert Schriftsteller verstärkt den bildenden Künsten und der Kunstkritik. In Deutschland waren dies vornehmlich Johann Joachim Winckelmann, Gotthold Ephraim Lessing, Wilhelm Heinse und Friedrich Schlegel, in England John Ruskin und William Morris. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Ausdifferenzierung. Es gab Kunstkritiker, die sich ganz auf die Berichterstattung des europäischen Kunstgeschehens konzentrierten (Drost 2007: 190). Durch deren Augenmerk, das sie »auf die Entwicklung der Kunst, der Gattungen sowie auf die Bildung der Schulen richteten, kündigte sich die am Ende des Jahrhunderts entstehende wissenschaftliche Kunstgeschichtsschreibung an« (ebd.). Daneben machten die Journalisten die Kunstkritik zu ihrem Metier. Fast hundert Journalisten haben in den 1850er Jahren über die Salons berichtet und ihre Artikel am Jahresende in Buchform zusammengefasst (ebd.: 191). Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass sich aus diesen beiden Gruppen die eigentliche Profession der Kunstkritiker herausmendelte, die als erfahrene Journalisten und versierte Kunstkenner sich auf die regelmäßige Berichterstattung in Fachzeitschriften und seriösen Tages- und Wochenblättern über zeitgenössische Kunst spezialisierten. Sowohl in der Romantik und dem Klassizismus wie auch im Zeitalter der Avantgarden erlebte die Profession der Kunstkritiker zweifellos eine Hochzeit, an die heute nur mit Wehmut gedacht wird. Mehr denn je ist sie heute in die Kritik geraten; ihre Vertreter werden nur noch als Randfiguren des Kunstbetriebs wahrgenommen (Rauterberg 2012: 140). Aussagen über soziale Lage und Berufsethik von Kunstkritikern beruhen meist auf Vermutungen und Explorationen; Umfragen, gar repräsentative, sind eine Rarität. Wir können nur auf eine amerikanische aus dem Jahr 2002 Bezug nehmen (Szántó 2002). Deren Sample umfasste 169 von 230 angeschriebenen Kunstkritikern, die als hochgebildete, weiße Stadtbewohner mit akademischen Abschlüssen, mehrheitlich in der Alterskohorte der späten Vierzigerjahre, ausgewiesen werden. Die Mehrheit von ihnen verdiente nur die Hälfte ihres Einkommens mit kunstkritischen Artikeln, die andere Hälfte mit Artikeln zu verwandten Themen oder anderen Aktivitäten im Kunstsystem. So werden Kuratoren- und Beratertätigkeit für Museen und Galerien ebenso wie das Verfassen von Katalogtexten nur von Minderheiten abgelehnt.
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In Hinblick auf ihr Publikum wollen sie die Leser nicht bloß informieren, sondern auch erziehen10 und zwischen Künstlern und Lesern eine Brücke schlagen. Künstlern Ratschläge zu erteilen, wie in der Frühzeit der Kunstkritik gang und gäbe, lehnen sie jedoch in großer Mehrheit ab. Zwei Drittel gaben zu Protokoll, dass sie es vorziehen, positive Kritiken zu schreiben und negative Urteile scheuen. Eine auf den Kulturraum des Kantons Zürich begrenzte Umfrage unter 30 Kunstkritikern bzw. -berichterstattern (Saxer 1997) ergab eine noch größere Scheu vor negativen Urteilen und einen »weitgehenden Verzicht dieser Kunstjournalisten […], eigene kunstkritische Normen zu artikulieren, die möglicherweise im Widerspruch zu den von den Künstlern entwickelten stehen« (ebd.: 258). Als »Anwälte der Kunst« halten sich Kunstkritiker »nicht an die klassischen Berufsstandards des unabhängigen Journalisten«, resümiert Hanno Rauterberg (2012: 149), der nicht zuletzt deshalb die Gründung einer »Akademie für Kunstkritik« vorschlägt, um den Geist der Kritik zum Professionalisierungsmerkmal zu machen (s. Abschnitt »Krise der Kunstkritik« weiter unten).
4.
Publikationsmedien
Als Publikationsorgane dienten und dienen den Kunstkritikern zuvörderst periodisch erscheinende (Fach-)Zeitschriften. Die im kurzfristigeren Turnus erscheinenden Zeitungen kommen mit der Veröffentlichung feuilletonistischer Kunstkritik vornehmlich ihrer tagesaktuellen Informationspflicht nach; freilich veröffentlichen die seriösen überregionalen Zeitungen gleichfalls fundierte analytische Beiträge. Obwohl Kunstkritikern auch andere Publikationsformen (Broschüren, Ausstellungskataloge, Kunstbriefe) zur Verfügung stehen, hat doch über nahezu drei Jahrhunderte das Periodikum seine Position als wichtigstes Kommunikationsmittel zwischen Kunstkritiker und Publikum behaupten können. In Frankreich pflegte der monatlich mit rund 2000 Exemplaren (Kluge 2009: 277) erscheinende »Mercure de France«11 schon vor der Zeit von La Fonts »Refléxions« (1746) Berichte über die Salon-Ausstellungen zu veröffentlichten,
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So stimmten 91 % dem Statement zu: »I feel it is my job to educate the public about visual art and why it matters.« (Szántó 2002: 28) Unter diesem Namen erschien das Periodikum ab 1724; sein Vorläufer war der »Mercure galant« (1672-1724).
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die indessen eher einen informativen und die Werke beschreibenden Charakter hatten (Kluge 2009: 97). Mit einer 1735 an die Académie Royale gerichteten Aufforderung trug er dazu bei, dass sie ab 1737 wieder regelmäßige öffentliche Ausstellungen veranstaltete und den Salon zur ständigen Einrichtung des französischen Kulturlebens machte (Dresdner 1968: 123). Der »Mercure de France« versorgte seine Leser »mit allen Informationen rund um das Kunstleben in Paris sowie ausschnitthaft auch in der Provinz« und hatte damit »im Bereich der Kunst eine Monopolstellung innerhalb der französischen Presse um die Mitte des 18. Jh.s inne« (Kluge 2009: 278). Ein Periodikum besonderer Art, das vorwiegend die höfischen Stände bediente, war die von dem in Paris lebenden deutschen Schriftsteller und Diplomaten Friedrich Melchior Grimm ab 1753 herausgegebene »Correspondance littéraire, philosophique et critique«. Sie erschien als handschriftlich vervielfältigtes Manuskript im vierzehntäglichen Turnus und wurde auf diplomatischem Weg, also unkontrolliert an der Zensur vorbei, an die abonnierenden Standespersonen und europäischen Höfe geliefert. Zu ihren Lesern gehörten neben fast allen deutschen Fürsten, die Zarin Katharina die Große, Friedrich der Große, Gustav III. von Schweden, Stanislaw II. und weitere. Goethe erhielt eine Abschrift vom Weimarer Hof. In dieser Korrespondenz erschienen erstmals Diderots Salon-Kritiken.12 In Deutschland nahm die Kunstkritik in Periodika der Aufklärung ihren Anfang (Vogt 2010). Zu den frühesten zählten die von Johann Christoph Gottsched im Buchdruck- und Buchhandelszentrum Leipzig gegründeten Gelehrten- und Rezensionszeitschriften (»Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste«, 1747-1750; »Das Neueste aus der anmuthigen13 Gelehrsamkeit«, 1751-1762; »Sammlung einiger ausgesuchter Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig«, 1754-1756). In ihnen dominierte zwar die Literatur, aber auch die bildenden Künste wurden in Form von Rezensionen kunsttheoretischer Schriften und Übersetzungen von Vorträgen aus der Pariser Académie Royale des Inscriptions et Belles Lettres thematisiert; nur in Ausnahmefällen bezogen sich die Beiträge direkt auf Kunstwerke (Vogt 2010: 40). Gottsched wollte mit dem »asymmetrischen
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Gedruckt veröffentlicht wurden sie erstmals 1812/13 in der 16-bändigen Pariser Ausgabe der »Correspondance littéraire, philosophique, critique addressée à un Souverain d’Allemagne par Grimm et Diderot.« Die »anmuthigen Wissenschaften« und »freyen Künste« waren Synonyme für die »schönen Künste«.
11. Kunstkritik als literarische Gattung
Kulturtransfer« durch die Übernahme des französischen Kunstdiskurses in seinen Zeitschriften zur Geschmacksbildung des Publikums beitragen und die deutsche Kunsttheorie und Kunstkritik fördern (ebd: 56). Neben Leipzig wurde Augsburg, als frühes Zentrum des Kunstgewerbehandels und der Kupferstichproduktion, zum wichtigsten Publikationszentrum der ersten deutschen Kunstzeitungen und –zeitschriften. Die von der »Kayserlich-Franciscischen Academie freyer Künste« in Augsburg in zwei Jahrgängen von 1755 bis 1756 wöchentlich herausgegebene »Reisendund correspondierende Pallas« war die erste deutsche Kunstzeitung, »die sich ausschließlich mit Kunst befasst(e)« (Schmidt 1989: 267). In ihr wie in ihren Nachfolgeblättern – »Kunstzeitung der Kayserlichen Akademie zu Augsburg« (1770) beziehungsweise »Augsburgische Kunstzeitung« (1771) – findet die Kunstbesprechung indessen noch keine bewertende, sondern eine beschreibend-inventarisierende Form mit Werklisten privater Sammlungen und Verkaufslisten von Kupferstichen (Vogt 2010: 78ff.). Ein drittes Zentrum früher deutscher Kunstkritik in Periodika war die Reichs- und Messestadt Frankfurt. Die »Franckfurterische gelehrte Zeitungen« (1737-1771) hatte »Artikel zur bildenden Kunst selten und in geringem Umfang publiziert« (Vogt 2010: 126). In ihrem Folgeprojekt, die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« (1772-1790) publizierte Johann Heinrich Merck, der die Gesamtleitung übernommen hatte, in den ersten beiden Jahren zahlreiche Kupferstichbesprechungen von Goethe, Herder und Merck. Im Vergleich mit den Augsburger Kupferstichankündigungen lösten sie sich »vom reinen Werbezweck« und wiesen »erste Anzeichen einer eigenständigen Kupferstichkritik auf« (Vogt 2010: 128). Da vorwiegend Werke aus der französischen und englischen Kupferstichproduktion rezensiert wurden, erleichterte die Marktdistanz die Überwindung der lobenden Kunstbesprechung, wie sie »in den lokalpatriotischen Augsburger Periodika noch üblich« (ebd.) war. Die deutschen Kritiker hatten nicht mit Reaktionen französischer und englischer Künstler zu rechnen. In den 1790er Jahren entstand als neuer Typus der Fachzeitschrift »das reine Kunstperiodikum« (z.B. »Magazin der bildenden Künste«, 1791) (Vogt 2010: 330). In diesen ist die Kunstbesprechung geprägt durch die visuelle Wahrnehmung durch Abbildungen mit der »Konzentration auf den Akt der Betrachtung« (ebd.). Zudem bot die aufkommende Informationstagespresse, vornehmlich deren seriöse Abkömmlinge den an der Kunstsphäre interessierten Journalisten ein dauerhaftes Betätigungsfeld für ihr Metier.
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Neben den Periodika bedienten sich die frühen Kunstkritiker häufig der Broschürenform. Bis Ende des 18. Jahrhundert erschienen »an die 200 Salonbroschüren«, nicht wenige davon als satirisch-feuilletonistische Pamphlete, die sich über die Werke der Akademiker lustig machten (Dresdner 1968: 153ff.).
5.
Publikum
Das frühe Kunstpublikum können wir uns zunächst nicht anders als einen Resonanzboden der höfischen Repräsentationsbedürfnisse vorstellen. In »zeremonieller Zurschaustellung« (Sheehan 2002: 39) ihrer Sammlungen, den »Insignien ihrer Überlegenheit« (Pomian 1998: 61), erkoren Könige und Fürsten die Hofgesellschaft als erstes kunstinteressiertes Publikum. Der in Düsseldorf residierende Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz (reg. 1690-1716) ließ als einer der ersten für seine Gemäldesammlung ein eigenes Galeriegebäude errichten, zu dem weniger ein breites Publikum als fürstliche Gäste und ausgewiesene Kunstkenner Zutritt hatten. Zu deren Information und als Stütze für die galanten Gespräche bei gemeinsamen Besichtigungen diente der gedruckte Katalog der Sammlung (Spenlé 2008: 106ff.). Der erste Katalog einer deutschen Sammlung war der 1719 für die Düsseldorfer Galerie des Kurfürsten Johann Wilhelm erstellte (Sheehan 2002: 47). Im frühen 18. Jahrhundert wurden die fürstlichen Sammlungen zunächst einer ausgewählten Öffentlichkeit (Studenten und Kunstkennern) zugänglich gemacht, bevor sie im weiteren Verlauf des Jahrhunderts generell für das Publikum geöffnet wurden. Nach und neben dem Adel entdeckte bald auch das aufsteigende Bürgertum, Bankiers und Kaufleute, Interesse für die Kunstproduktion, sowohl als Sammler wie als Rezipienten. Es »wollte innerlich bewegt und angerührt werden, anstatt belehrt und beeindruckt« (Honnef 1999: 16). Gleichwohl war nach James Sheehan das 18. und frühe 19. Jahrhunderts noch deutlich gekennzeichnet von der Gleichzeitigkeit und teilweisen Durchdringung der höfisch-repräsentativen und der bürgerlichen Öffentlichkeit (2002: 32ff.). In keinem europäischen Land haben sich »Kenner und ein gebildetes Publikum so intensiv mit der zeitgenössischen Kunst auseinandergesetzt wie in Frankreich« (Drost 2007: 189). Bereits im frühen 18. Jahrhundert kristallisierte sich in Paris eine »diskursive Öffentlichkeit heraus, die von Literaten, Kunstliebhabern und Sammlern gebildet wurde« (Spenlé 2008: 210); gleichwohl blieb die Auseinandersetzung mit der Kunst zunächst auf einen inneren
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Zirkel der Liebhaber und Kenner beschränkt – gewissermaßen ein »Privileg der Wohlhabenden« (ebd.: 211). In dem Maße aber, wie der »Pariser Salon« zur regelmäßigen Einrichtung wurde, zählte er, wie Dresdner schreibt, »zu den Ereignissen im Stadtleben«, an dem – zumal der Eintritt kostenlos war – auch »das mittlere und kleine Bürgertum« Anteil nahm und schließlich »tout Paris zu einem neugierigen, interessierten, über die Entwicklung im ganzen unterrichteten und nach Leibeskräften kritisierenden Kunstpublikum zusammenfand« (Dresdner 1968: 107). Für den Salon von 1845 errechnete das »Journal des Artists« eine Million und zweihunderttausend Besucher (Angabe nach Baudelaire 1977: 389). In den Niederlanden mit seinen wenigen Adelsfamilien entstand früh das städtische Bürgertum als kunstinteressiertes Publikum. Neben den wohlhabenden Bürgern erlaubten es die expandierende künstlerische Produktion und deren Preisentwicklung bereits im 17. Jahrhundert, dass auch Handwerker und weniger begüterte Bevölkerungsschichten Bilder erwerben konnten (North 2001: 98). In Deutschland fanden die entstehenden Kunstmuseen und die gegründeten Periodika, die sich mit literarischen und künstlerischen Themen befassten, ihr Publikum in den gebildeten Schichten. Wohlhabende Bürger begannen Kunstwerke zu erwerben, sei es aus Sammlerleidenschaft, Liebhaberei oder Repräsentationsbedürfnissen. Zur Entstehung einer Kunstöffentlichkeit in Deutschland trugen vornehmlich die Kunstvereine bei (Müller-Jentsch 2012: 79ff.). Der prinzipiell uneingeschränkte Zugang machte sie – wie auch die Lesegesellschaften der Aufklärung – zu einer gesellschaftlichen Plattform, auf der in einer feudal-aristokratisch dominierten Umwelt erstmals bürgerliche Gleichberechtigung und Partizipation erprobt werden konnte. Als Zusammenschlüsse »gleichgesinnter Bürger mit durchlässigen Grenzen zum Kleinbürgertum und Adel« (Grasskamp 1993: 105) fungierten sie als »Genossenschaften von Kunstkonsumenten«, die den bis dato exklusiven Kunstkonsum adeliger Zirkel zum aufsteigenden Bürgertum hin öffneten. Walter Grasskamp spricht von der »Einbürgerung der Kunst« (1993), die den Kunstvereinen zu danken gewesen sei.
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Die Entfaltung der Kunstkritik Lionello Venturi rühmte das 18. Jahrhundert dafür, dass es »sowohl die Ästhetik als eine philosophische Wissenschaft begründet als auch für die Kunstkritik wie für die Kunstgeschichte jeweils eigene Betrachtungsweisen entwickelt« habe (Venturi 1972: 163). Wir haben den historischen Pfad nachverfolgt, auf dem sich die Kunstkritik »auf dem Substrat der Ästhetik, der Kunstliteratur und der Diskussion um die Beurteilung von Kunst« (Kluge 2009: 371) zunächst in Frankreich als eine eigenständige literarische Gattung ausdifferenzierte. Ihre Geburtshelfer waren Journalisten, Schriftsteller und Dichter. Was sich in Frankreich als ein Komplement zum Kunstmarkt im Kontext der Pariser Ausstellungen entwickelte, entstand im politisch und kulturell dezentrierten Deutschland im Kontext der frühen Museumsgründungen und der Einführung von Periodika für die »gebildeten Stände«. Die Kunstkritik war zunächst vorwiegend beschreibend-archivalisch orientiert, indem sie Kunstwerke inventarisierend auflistete; später trugen kunstinteressierte Dichter zu ihrer Literarisierung bei. Als Teil »des gebildeten Publikums, das sich sowohl in der antiken Mythologie wie in der Weltliteratur auskannte«, verfassten die Dichter meist am Anfang ihrer Karriere Ausstellungsberichte. Sie waren nicht immer besondere Kunstkenner, aber als kreative Menschen »mit den Problemen vertraut, die Maler und Bildhauer bei der Gestaltung ihrer Konzepte und der Wirklichkeit beschäftigten« und verfügten zudem »über eine besondere Sensibilität für gestalterische Probleme und über alle Mittel der Sprache, um ihre vor dem Kunstwerk empfangenen Eindrücke wiederzugeben« (Drost 2007: 191). Als ein kongeniales Medium für die Kommunikation mit dem Publikum erwies sich der Kunstbrief, mit dem der subjektive Wahrnehmungsakt und die ihn begleitenden Empfindungen sich in unangestrengter Weise literarisch umsetzen ließen und der den Leser zum virtuellen Betrachter machte. Das 19. Jahrhundert sah eine bemerkenswerte Entfaltung der Kunstkritik. Am Klassizismus Davids und Ingres’, an der Romantik des Delacroix und am Realismus Corots und Rousseaus sowie an der Streitfrage über Zeichnung versus Farbe entzündeten sich die kunstkritischen Geister Frankreichs in ihren Salonberichten (Venturi 1972: 242ff.). Gefördert wurde deren Verbreitung durch die entstehende, industriell gefertigte Informationspresse, die ein aufnahmebereites Massenpublikum bediente. Zwei befreundete Dichter, Théophile Gautier und Charles Baudelaire, waren es, die den Anspruch erheben durften, die »größten französischen Kunst-
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kritiker« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein (Drost 1976: 412). Sie setzten Maßstäbe für spätere Kritikergenerationen. Das sich rapide entwickelnde Pressewesen in Frankreich bot Gautier bereits in jungen Jahren die Möglichkeit zum Broterwerb durch Kunstkritiken. Ab 1831, als gerade Zwanzigjähriger, schrieb er Kunstkritiken für verschiedene Journale, bevor Émile de Girardin, ein erfolgreicher Neuerer des Zeitungswesens, ihn zum Kunst- und Theaterkritiker für seine 1836 gegründete »La Presse« machte. Mit dieser populären Tageszeitung, die im Straßenverkauf vertrieben und zum größten Teil durch Werbeeinnahmen finanziert wurde, sprach Girardin eine breit gefächerte politisierte Öffentlichkeit an. Zweimal die Woche lieferte Gautier Beiträge fürs Feuilleton, das auf der unteren ersten Seite durch einen dicken Strich (›unterm Strich‹) von den übrigen Meldungen getrennt war. Später wechselte Gautier zur Tageszeitung »Le Moniteur universel«. Mehr als irgendein anderer französischer Schriftsteller hat Gautier über Kunst und Künstler publiziert. Seine scharfen Kritiken trugen ihm den Ruf eines mächtigen Kunstkritikers ein. Als ein Verfechter der reinen Schönheit und Wegbereiter der zwecklosen Kunst prägte er jenes Wort, das zum Programm des Ästhetizismus und der avantgardistischen Kunst werden sollte: »l’art pour l’art«. Gautier hat in seinen zahlreichen Kritiken über die besten Künstler seiner Zeit (unter ihnen Delacroix, Ingres, Chassériau, Courbet, Manet) geschrieben und dabei deren Besonderheiten respektiert, ohne sich von Doktrinen, Dogmen oder Schulen beeindrucken zu lassen. Als Kunstkritiker sei er nicht »Richter«, sondern »Dichter«, der »es liebe, eine geschriebene Seite neben ein Kunstwerk zu setzen, in der des Malers Thema aufgenommen ist« (nach Drost 1976: 411); seine Salonartikel verstand er als literarische Substitute für die Kunstwerke. Und Gautiers erfolgreiche Kunstkritik beweist Wolfgang Drost zufolge, dass das Publikum »die Spiegelung eines Kunstwerks durch das Prisma der individuellen Sensibilität und schöpferischen Einbildungskraft« honorierte (ebd.: 412): Der Schriftsteller, Lyriker und Wegbereiter der Moderne, Charles Baudelaire, hat – ein Jahrhundert nach Diderot und als Zeitgenosse und jüngerer Freund Gautiers – sich mit ausführlichen Kunstkritiken über die Pariser Salons zu Wort gemeldet. Mit ihnen erreichte die französische Kunstkritik zweifellos einen Höhepunkt. Für viele junge Dichter seiner Zeit war die Kunstkritik »ein Broterwerb, der ihnen half zu überleben und ihnen dabei erlaubte, ihren Stil geschmeidig zu halten und sich bekannt zu machen. So fing auch Baudelaire an. Er war 23
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Jahre, als er seinen ersten Salon de 1845 in Form einer schmalen Broschüre veröffentlichte.« (Drost 2007: 191; Hervorh. i. O.) Neben dieser verfasste er zwei weitere Salonbesprechungen (Salons von 1846 und 1859). Während die eine ebenfalls als selbständige Broschüre veröffentlicht wurde, erschien die letzte in vier Folgen in der Zeitschrift »Revue française«. Der »Salon 1846« begründete Baudelaires Ruf als »Kunstkritiker ersten Ranges« (Anhang zu Baudelaire 1977-1: 438). Er pflegte einen intensiven Umgang mit Künstlern und Kunstkritikern seiner Zeit und »besaß von Jugend an eine leidenschaftliche Liebe zur bildenden Kunst« (Drost 1976: 413). Wie Diderot begnügte er sich »bei der Beschreibung von Werken bildender Kunst nicht mit der Wiedergabe des Dargestellten«, vielmehr gab er zugleich »den eigenen, vor dem Kunstwerk empfundenen Gefühlen Ausdruck« (ebd.: 411) bei »Zurückweisung jeglicher doktrinären Ästhetik« und »erklärter Gegnerschaft zu allen Arten des Akademismus« (ebd.: 413). Aus der während der Betrachtung eines Kunstwerkes entstehenden subjektiven Regung und der Reflexion dieses Empfindens resultierte sein Kunsturteil. Wenn sich, aufs Ganze gesehen, seine Berichte durch »Widersprüchlichkeiten« auszeichneten, die es nicht erlauben, »seine Kunstkritik als einheitlich« (ebd.) zu verstehen, lässt sie sich gleichwohl auf den Schlüsselbegriff der Imagination zurückführen. Sie galt ihm als »die Königin aller menschlichen Fähigkeiten«, ein »fast göttliches Vermögen, das vor allem […] die geheimen inneren Beziehungen der Dinge, die Entsprechungen und Analogien wahrnimmt« (Baudelaire 1977-2: 352). Der zwischen Spätromantik und Moderne stehende Baudelaire übernahm Gedanken der Gebrüder Schlegel, welche Madame de Staël in Frankreich bekannt gemacht hatte. Wie Walter Benjamin insbesondere an Friedrich Schlegels Schriften aufgezeigt hat, verstand sich die romantische Kunstkritik als Ergänzung und Vollendung eines Kunstwerkes. Ihrem Selbstverständnis nach erschließe sie erst die ganze Fülle und Welthaltigkeit eines Kunstwerkes (Benjamin 1973: 57ff.). Der frühromantische Jenenser Kreis machte »damit die Kunstkritik selbst zu einer Form der Kunst« (Lehmann 2012: 29) und zu einem Verfahren, bei dem – nach Friedrich Schlegel – »der Verständige jedes Gebildete in seiner Sphäre [lässt], und es nur nach seinem eigenen Ideale [beurteilt]« (Schlegel 1978: 176). Obwohl die spätere Kunstkritik diesen hohen Anspruch nicht mehr erhob, erlebte sie, im Verein mit den historischen Avantgarden (von Beyme 2005), um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten danach eine Blütezeit, retrospektiv gesehen: ihren Zenit. Während die Im-
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pressionisten noch weitgehend auf Ablehnung gestoßen waren, fanden die verschiedenen Strömungen der klassischen Moderne in den Kunstkritikern ihre engagiertesten Fürsprecher (Metzler Lexikon 2000: 290). Stellvertretend seien hier die wichtigsten unter den Kunstkritikern jener Zeit genannt, die als Protagonisten avantgardistischer Kunstströmungen zugleich als Kunsttheoretiker auftraten: Julius Meier-Graefe (Neo-/Spätimpressionismus), Herwarth Walden (Expressionismus, Dadaismus, Futurismus), Carl Einstein (Kubismus, Surrealismus), Herbert Read (Surrealismus), Harold Rosenberg, Clement Greenberg (Action Painting, Abstrakter Expressionismus), Will Grohmann, Pierre Restany (Abstrakte Kunst, Informel). Sie hatten erheblichen Anteil an der Durchsetzung der von ihnen favorisierten avantgardistischen Strömungen. Greenberg und Restany etwa »schrieben wie die Humanisten in der Renaissance bestimmten Strömungen der Kunst ihre Programme und lancierten sie mit beträchtlichem Aufwand an Geschick, Rhetorik und Unnachsichtigkeit« (Honnef 2008: 8). Wenn, wie Adorno in der »Ästhetischen Theorie« schreibt, »die Male der Zerrüttung das Echtheitssiegel der Moderne (sind)« (GS 7: 41), dann bannten die avantgardistischen Künstler mit ihren Montagen und Abstraktionen, ihren dissonanten Konstruktionen und schockartigen Verzerrungen und Zertrümmerungen – mit all jenen Stilmitteln, die Hans Sedlmayr als »Verlust der Mitte« (1948) beklagte – in ihren Bildern und Objekten ein Bewusstsein von der Krise ihrer Zeitepoche, hinter das ihre avancierten Kritiker nicht zurückfielen.
Kunstkritik in der Krise Die Krise der Kunstkritik wurde zwar schon früher häufig beschworen, doch spätestens mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist der Prozess ihres Niedergangs von untrüglicher Evidenz. Wenn Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren der Kunstkritik vorwarf, sie diene »nur scheinbar dem Publikum, in Wahrheit aber dem Kunsthandel« (zit.n. Bürger 2012: 52), dann ist seine damals noch vereinzelte Stimme heute zu einem anschwellenden Chor geworden, in den die renommiertesten Kunstkritiker einstimmen. Hören wir dazu einige ausgewählte Urteile, die sich wie resignative Abgesänge lesen. Klaus Honnef konstatiert: »In den vergangenen dreißig Jahren ist die Kunstkritik von einem Schwer- zum Leichtgewicht geschrumpft. Ihr Einfluss auf die Geschicke der zeitgenössischen Kunst tendiert gegen Null« (2008: 20).
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Christian Demand hat in einer furiosen Streitschrift, »Die Beschämung der Philister«, die Entwicklung des Kunstkritikers vom urteilenden, die Perspektive des Publikums einnehmenden Betrachters, zum oft hymnischen Sprachrohr des Künstlers verfolgt, der das Publikum als Philister zu beschämen trachtet. Er sieht die Gattung Kunstkritik in einem »traurigen Zustand«; sie produziere »enthusiastische Erlebnisaufsätze« (Demand 2007: 11), sei »intellektuell hoffnungslos verwildert«, und ihre »meisten Texte zur Gegenwartskunst [bestehen] überwiegend aus Anmaßung, Halbwissen und Schaumschlägerei« (Demand 2012: 63). Der langjährige Kunstkritiker der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Eduard Beaucamp, bescheinigt der Kunstkritik, dass sie zu einer »geduldeten Begleitmusik« herabgesunken sei, die »gern gehört [wird], wenn sie psalmodiert, nachbetet und wirbt« (2012: 172). »Der Kritiker zieht heute mit Pfeil und Bogen gegen Panzer ins Feld. Er ist der reine Tor, ein Don Quichotte, der für Werte und Ziel streitet, wo es bloß um Mehrwert und Rendite geht« (ebd.: 172f.). Der Kunstkritiker des Wochenblatts »Die Zeit«, Hanno Rauterberg, sieht in den Kunstkritikern »in der Regel nur Randfiguren«, deren Bedeutung schwindet. »Sie stehen ganz hinten in der Kunstverwertungskette. […] Je bedeutsamer die Kunst wurde, desto bedeutungsloser wurde die Kritik. […] Kunstkritik gilt oftmals nur noch als schmückendes Beiwerk« (Rauterberg 2012: 140f.). »Niemand würde die Kritiker vermissen, wenn sie ab sofort schwiegen« (Rauterberg 2004). Mit ähnlich resignativer Einsicht beschließt die Berliner Kunstkritikerin und Professorin für Kunsttheorie, Isabelle Graw, ihre Streitschrift »Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur«, wenn sie konstatiert, dass »in bestimmten Segmenten des Marktes« der Kunstkritik »nur eine apologetische Form der Hofberichterstattung zugestanden [wird], die fatal an das Genre des Pressetextes erinnert« (2008: 234). Verbreitet ist die Meinung, dass heute nicht mehr die Kunstkritiker, sondern Galeristen und Sammler die einflussreichsten Akteure im Kunstsystem seien. Lakonisch vermerkt Hans Belting: »Der Erfolg der Kunst hängt davon ab, wer sie sammelt, und nicht davon, wer sie macht« (1995: 27). Und für Klaus Honnef »sind die privaten Sammler in die einstige Stellung der Kunstkritik als Tastemaker und Opinionleader der Kunst gerückt« (Honnef 2008: 20). Sie stellen die Weichen für die zeitgenössische Kunst, und dies erklärt für viele auch deren Mittelmäßigkeit.
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Der Niedergang der Kunstkritik kann auf zwei Hauptursachen zurückgeführt werden, eine endogene und eine exogene. Die endogene Ursache ergibt sich aus der Entwicklungsgeschichte der Kunst, genauer: aus der Erschöpfung der Avantgarden mit einer beschleunigten Relativierung aller Kriterien zur Bewertung von Kunst. Die Logik der historischen Avantgarde war »eine Überbietungslogik, die sich an den errungenen ›Materialfortschritten‹ […] orientierte« (Lehmann 2012b: 12), die »sich im Siegeszug einer unaufhaltsamen Folge immer neuer Innovationen dynamisch nach vorn bewegte« (Lüddemann 2006: 23). Eine Fortsetzung der Stilgeschichte der Kunst zu erzählen, ist historisch unmöglich geworden (Belting 1995: 21, 23; Ullrich 2001: 557). Mit ihrem ›anything goes‹ hat die Postmoderne ›Materialrückschritte‹ salonfähig gemacht und den Kritikern den Boden unter den Füßen weggezogen. Nach Peter Bürgers Diagnose »ist der von der Postmoderne erzwungene Abschied von erklärungsstarken Modernetheorien nur dem Anschein nach ein Akt der Befreiung; in Wahrheit enthält er das Eingeständnis, dass die Kritik keine Wertungskategorien hat« (Bürger 2012: 46). Darauf sei auch das für die zeitgenössische Kunstkritik charakteristische »Ausbleiben entschiedener Urteile« (Geimer 2012: 43) zurückzuführen. Theorien vom Ende der Kunst, von ihrer »Entmündigung« durch Philosophie, wie sie exemplarisch der einflussreiche amerikanische Kunstkritiker und Philosoph Arthur C. Danto (1991) verbreitete, haben das Ihrige zur Banalisierung der Kunst, zur »Verklärung des Gewöhnlichen« beigetragen. Nach seinem Erweckungserlebnis beim Anblick von Warhols Brillo Boxes in einer New Yorker Gallery erklärte Danto (1964/1994; 1997), dass von nun an alles ein Kunstwerk sein könne (»Everything is possible. Anything can be art«), sofern es im institutionellen Kontext der »Kunstwelt« eine (philosophische) Interpretation zulässt, die über es hinausweist. Die von ihm beeinflusste institutionalistische Theorie der Kunst (vgl. Dickie 2000; Ullrich 2001: 568ff.) folgerte daraus: Sobald ein Gegenstand in ein Museum gehängt oder gestellt wird, handele es sich um Kunst. Paradoxerweise erwächst dem Kunstmuseum daraus eine eminente Konsekrationsmacht; entscheidet es doch nunmehr als wichtigste, wenn nicht einzige Institution der »Kunstwelt« verbindlich über Kunst und Nicht-Kunst. Boris Groys spricht von »der regulativen Idee des modernen Kunstmuseums«; Kunstwerke außerhalb des Museums würden als solche nur noch wahrgenommen, »weil sie zumindest imaginär in den musealen Kontext gestellt werden« (Groys 1997a: 10). Insbesondere die zeitgenössische Kunst benötigt Museen der Gegenwartskunst; denn die museale Präsentation vermag auch dem
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Trivialen eine besondere Aura zu verleihen und den Marktwert ihrer Exponate zu steigern. Ohne das Museum wäre die heutige Kunst »nicht nur heimatlos, sondern stumm, ja unsichtbar« (Belting 1995: 104). Es bietet die »merkwürdige Möglichkeit […] das Banale, Langweilige, Ordinäre unseres Alltags als interessant zu zeigen« (Groys 2007b: 61). Dies erklärt schließlich das ehrgeizige Bestreben zeitgenössischer Sammler, ihre teils mittelmäßigen Kollektionen in einem Museum unterzubringen, wenn nicht in einem eigens für sie eingerichteten, dann – als zweitbeste Lösung – als zeitweilige Leihgabe. »Dankbar und unterwürfig« – so der Kunsthistoriker Hans Belting – nehmen die Museen »die ungeeignetsten Privatsammlungen in sich auf, deren Verwendung allein vom Stifter diktiert wird« (Belting 1995: 105). Es gibt Sammler, die Unterschlupf in bestehenden Museen finden und dort für ihre Schätze eigene Säle eingerichtet bekommen. Anderen werden eigenständige Museen mit öffentlichen Mitteln geschaffen (jüngere Beispiele sind die »Friedrich Christian Flick Collection« im »Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart« in Berlin und das »Brandhorst Museum« in München). Steinreiche Sammler neuen Typs wie Charles Saatchi, François Pinault, Viktor Pintchuk und Roman Abramowitsch schließlich begründen, vernetzt mit Galerien-Imperien und dank eigener Mittel, ihre Privatmuseen (Maak 2011). Sammler, die ihre Kollektion als »Leihgaben« renommierten öffentlichen Museen überlassen, benutzen diese nicht selten als ›Durchlauferhitzer‹. Dass sie ihre Sammlung nach einer Anstandsfrist den Museen umstandslos wieder entziehen können, um mit den im Wert gestiegenen Werken auf dem Auktionsmarkt Kasse zu machen, haben in den zurückliegenden Jahren einige Museumsdirektoren schmerzhaft erfahren müssen (Müller-Jentsch 2012: 190f.). Die obigen Anmerkungen über die Sammler verweisen bereits auf die exogene Ursache des Niedergangs der Kunstkritik: die forcierte Kommerzialisierung der gesamten Kunstwelt. Sie begann schleichend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erreichte aber in den nachfolgenden Jahrzehnten einen point of no return: Seither ist der Kunstmarkt zu einem »Umschlagplatz des großen Kapitals« geworden (Müller-Jentsch 2012: 186). Zeitgenössische Kunstkritiker stimmen darin überein: »Der Markt braucht keine Kritiker: Er produziert seine eigene Marketing-Poesie« (Beaucamp 2012: 173). »Seit der Kunstbetrieb die überlieferten ästhetischen Normen beiseite gefegt hat, seit die traditionellen Kategorien obsolet und die Perspektiven in der Kunst unscharf geworden sind, ist es der Marktwert, der die verlässlichen
11. Kunstkritik als literarische Gattung
Kriterien einer Bewertung zeitgenössischer Kunstqualität liefert« (Honnef 1999: 32). Kunstwerke reüssierten zu den begehrtesten Prestigeobjekten und zum Anlage- und Spekulationstitel im Portefeuille der vermögenden Klasse. Wie der sagenhafte König Midas hat mittlerweile der Kommerz alle relevanten Institutionen und Akteure des Kunstsystems – Museen, Galerien, Auktionshäuser, Händler, Sammler, Kuratoren, Ausstellungsmacher und schließlich auch die Kunstkritiker – mit Gold verhext. Nachdem sich die Kunst dem Markt angepasst hat, »ist dieser auch konstitutiv für sie geworden. Der Preis ist inzwischen ebenso Teil des Kunstwerks wie sein Titel oder der Ort, an dem es gezeigt wird« (Ullrich 2007: 275). Der amerikanische Kunstkritiker des »New Yorker«, Harold Rosenberg, hatte bereits 1978 resigniert auf die Transformation der Kunstkritik zu »kaum mehr als Einkaufsberatung« (zit.n. Gewen 2006: 379) hingewiesen. Damit einher ging die Verwandlung von Kunstkritikern in »multiple Persönlichkeiten«: »Sie schreiben nicht nur Rezensionen, sie kuratieren auch Ausstellungen, beraten Sammler, arbeiten als Künstler, betreiben eine Galerie« und sprechen »auf Vernissagen die Einleitungsworte« (Rauterberg 2012: 142, 153). Ein prominentes Beispiel für diese Art von Mehrfach-Beschäftigung ist der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Werner Spies. Er schreibt seit vierzig Jahren kunstkritische Aufsätze für das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, hatte von 1975 bis 2002 den Lehrstuhl für moderne Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie inne, war von 1997 bis 2000 Direktor des Centre Georges Pompidou in Paris, gründete das »Max Ernst Museum Brühl« und war Vorsitzender des Stiftungsrates und des Kuratoriums der »Stiftung Max Ernst«, zudem kuratierte er Ausstellungen, beriet Sammler und vermittelte Kunstverkäufe (u.a. als Mitglied des Kunstbeirats der »Sammlung Reinhold Würth«) – kurz, »ein ganzes Netzwerk in Personalunion« (Catrin Lorch). Durch seine Verwicklung im Kunstfälscher-Skandal um die fingierte »Kunstsammlung Jägers« (Koldehoff/Timm 2012) fand die steile Karriere einen empfindlichen Knick, weil er als Gutachter Echtheits-Expertisen für sieben gefälschte Max-Ernst-Bilder ausgestellt hatte. Selbstredend warf seine Umtriebigkeit auf dem Kunstmarkt erkleckliche Nebeneinkünfte ab.14
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Allein von der Fälscherfamilie Beltracchi bezog er Provisionen in Höhe von 400.000 Euro (Stefan Koldehoff/Tobias Timm: »Max Ernst GmbH & Co. KG«, in: »Die Zeit« vom 12.01.2012).
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Adorno und Andere
Da es den ›reinen‹ Kunstkritiker kaum noch gibt und um die Kunstkritik aus ihrer gegenwärtigen Misere herauszuführen, vornehmlich um ihre Bindung an Vermarktungsinteressen zu lösen, haben der Philosoph Harry Lehmann und der Kunstkritiker Hanno Rauterberg in einem kleinen Sammelband Perspektiven aufgezeigt, die auf eine »autonome Kunstkritik« und eine zu gründende »Akademie für Kunstkritik« zielen (Lehmann 2012a). Wenn Kunst es ermöglicht, »über sich und die Welt hinauszublicken« (Lehmann 2006: 83), dann wäre es Aufgabe einer autonomen Kunstkritik, die ästhetischen Gehalte eines Kunstwerks erfahrbar zu machen mit dem exemplarischen Bezug auf eine potentiell andere Welt (Lehmann 2012b: 25, 34). Eine solche Kunstkritik, so ließe sich aus dem von Rauterberg stammenden Schlusskapitel des Sammelbandes folgern, könnte ihren Rückhalt in einer »Akademie für Kunstkritik« finden, die nicht nur das Handwerk der Kunstkritik lehren, sondern auch zu einer »stärkeren finanziellen und vor allem geistigen Autonomie« beitragen könnte und das »allgemeine Bewusstsein der Kritikerschaft für ethische Fragen heben« müsste (Rauterberg 2012: 152). Für eine Neuorientierung der Kunstkritik steht auch Stefan Lüddemanns (2004) Modell einer evaluativen Kunstkritik. Sein auf Luhmanns Systemtheorie fußender Entwurf zielt auf eine Kunstkritik, die Kunstwerke »nicht einfach nach bereits existierenden Kriterien bewertet, sondern ihr innovatives Potential erkundet« (Lüddemann 2004: 171). Ihm zufolge soll der Kunstkritiker nicht länger den Kunstrichter spielen, sondern – als Evaluationsagentur – die der Kunst als dem »stimulierenden Gegenüber« zu verdankenden Sinnangebote in die allgemeine Kommunikation der Gesellschaft einspeisen. Freilich ist die Erwartung, dass die Kunstkritik sich gleichsam am eigenen Schopf aus dem kommerziellen Morast ziehen könnte, ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft. Wie heißt es schon bei Marx? Wenn eine Idee auf ein Interesse stößt, blamiert sich meistens die Idee. Die literarische Gattung der Kunstkritik kann auf eine heroische Vergangenheit zurückblicken. Sie war einst ein Moment im historischen Ablösungsprozess der repräsentativen durch die bürgerliche Öffentlichkeit und zudem konstitutives Element in der Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Funktionssystems der Kunst; in der Romantik und der Ära der künstlerischen Avantgarden erlebte sie einen rasanten Aufschwung. Im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus, der alle Kulturbereiche mit dem Mehltau der Kommerzialisierung überzieht, liftet sich die alt gewordene Dame zur EscortLady einer Celebrity-Kultur (Graw 2008) – sofern sie es nicht vorzieht, bar aller
11. Kunstkritik als literarische Gattung
Illusionen und Allüren, ihre Zuflucht in der autonomen Kunstkritik (Lehmann 2012b) als letzter Nische zu suchen.
Anhang
Zeitgenössische deutsche Kunstkritiker (willkürliche Auswahl) Name
Ausbildung
Weitere Fächer
Zusätzliche Ausbildung
Hauptberuf(e)
Eduard Beaucamp
Kunstgeschichte
Literaturgeschichte, Philosophie
Christian Demand
Philosophie
Politikwissenschaft
Walter Grasskamp
Kunstgeschichte
Literaturgeschichte, Philosophie, Soziologie
Professor, Akademieleiter
Isabelle Graw
Kunst- und Kulturwissenschaft
Politikwissenschaft
Redakteurin & Hg. Kunstzeitschrift, Professorin
Will Grohmann
Kunst- und Literaturgeschichte
Philosophie, Orientalistik
Publizist, Professor
Boris Groys
Philosophie
Mathematik
Freier Autor, Professor, Ausstellungskurator
Klaus Honnef
Soziologie, Geschichte
Georg Imdahl
Philosophie
Feuilletonredakteur Redakteursausbildung
Professor, Hg. Kulturzeitschrift
Sportjournalist, Feuilletonredakteur, Ausstellungsmacher Neuere Geschichte, Politikwissenschaft
Hospitanz in Redaktion
Kulturredakteur, Professor
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Adorno und Andere
Catrin Lorch
Kunstgeschichte
Germanistik, Journalismus, Städtebau
Feuilletonredakteurin, Kuratorin
Niklas Maak
Kunstgeschichte
Philosophie, Architektur
Feuilletonredakteur
Hanno Rauterberg
Kunstgeschichte
Karl Ruhrberg
Kunstgeschichte
Theaterwissenschaft, Germanistik
Feuilletonredakteur, Chefdramaturg, Museumsdirektor, Ausstellungsmacher
Albert SchulzeVellinghausen
Kunstgeschichte
Archäologie Philosophie
Kulturjournalist, Buchhändler, Übersetzer
Werner Spies
Kunstgeschichte
Philosophie, Romanistik
Kulturkorrespondent, Professor, Museumsdirektor
Heiner Stachelhaus
Schriftsetzer
Willibald Sauerländer
Kunstgeschichte
Manfred Schwarz
Kunstgeschichte
Wolfgang Ullrich
Philosophie, Kunstgeschichte
Kia Vahland
Kunstgeschichte
Politikwissenschaft
Feuilletonredakteurin
Walter Vitt
Germanistik, Publizistik
Geschichte, Philosophie
Rundfunkredakteur, Publizist, Ausstellungskurator
Julia Voss
Kunstgeschichte
Germanistik, Philosophie
Feuilletonredakteurin
Journalistenausbildung
Redakteursvolontariat
Feuilletonredakteur
Kulturredakteur Professor, Institutsleiter
Philosophie, Archäologie
Freier Autor Freier Autor, Professor
Anhang
Nachweise
1. Die Künste und die Soziologie (Erstveröffentlichung) 2. Negativität und Versöhnung. Versuch, Adornos Kunstsoziologie zu verstehen (C. Steuerwald (Hg.): Klassiker der Soziologie der Künste. Wiesbaden 2017, S. 351-380) 3. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Max Weber und Adorno über gesellschaftliche und ästhetische Rationalität (Berliner Journal für Soziologie, Jg. 27 (2017), H. 2, S. 293-301) 4. Adornos ambivalente Heine-Rezeption (Heine-Jahrbuch 2019 der Heinrich-Heine-Gesellschaft, S. 92-99) 5. Rancune oder Adorno teilt aus (Erstveröffentlichung) 6. Herbert Marcuse und Ernst Fischer über die Notwendigkeit der Kunst (Erstveröffentlichung) 7. Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff – eine Melange aus Weber und Marx (Festschrift für Werner Nienhüser, München/Mering 2013, S. 21-24) 8. »Verkehrte Ökonomie« als literarische Strategie. Der George-Kreis aus der Sicht Bourdieus (Erstveröffentlichung) 9. Le Tour des artistes. Warum Künstler sich in Gruppen zusammenschließen (Festschrift für Wenzel Matiaske, Augsburg/München 2018, S. 267-271)
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Adorno und Andere
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Adorno und Andere
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