Martin Buber Werkausgabe. Band 7 Schriften zu Literatur, Theater und Kunst: Lykrik, Autobiographie und Drama 9783641248567

Obwohl sich Buber zu Beginn seines Schaffens vor allem als Dichter verstand und sich zeitlebens immer wieder mit Fragen

195 26 18MB

German Pages 911 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Dank
Einleitung
Buber und die Literatur
Buber und das Theater
Buber und die bildenden Künste
Literatur
Gedichte. Veröffentlichte Gedichte
Unveröffentlichte Gedichte
Literarische Schriften
Literaturkritische Schriften
Autobiographische Schriften
Erinnerung
Begegnung
Theater
Dramen
Schriften zum Theater
Kunst
Das Buch »Juda«
[Referat über »Jüdische Kunst«]
[Einleitung zu Jüdische Künstler]
Lesser Ury
[Rede zur Eröffnung der Ausstellung im »Bezalel«]
Der Zeichner Krakauer
Vorwort [zu Bruno Zevi, »Im Raum der Architektur«]
Ein Beispiel. Zu den Landschaften Leopold Krakauers
Archivmaterialien
Skizzen und Entwürfe zu Elengo
[Claudel. L’Annonce faite à Marie. Hellerau 1913]
Die Träume Josefs
[Sieg? Kampf? Wer gegen wen?]
Kommentar
Editorische Notiz
Diakritische Zeichen
Einzelkommentare. Teil 1
Einzelkommentare. Teil 2
Verzeichnis der Gedichte und Gedichtanfänge
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Stellenregister
Personenregister
Abbildungen
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Martin Buber Werkausgabe. Band 7 Schriften zu Literatur, Theater und Kunst: Lykrik, Autobiographie und Drama
 9783641248567

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Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte

Gütersloher Verlagshaus

Martin Buber Werkausgabe 7 Schriften zur Literatur, Theater und Kunst Lyrik, Autobiographie und Drama Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Emily D. Bilski, Heike Breitenbach, Freddie Rokem und Bernd Witte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Gefördert vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt.

Gefördert von der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.

Gefördert von der Israel Academy of Sciences and Humanities.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House1.GmbH, AuflageNeumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 2016 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh Der Inhalt dieses ist urheberrechtlich geschützt in derE-Books Verlagsgruppe Random House GmbHund enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Neumarkter Str. 28, 81673 München Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Verlag nur bis zum Zeitpunkt derinsbesondere Buchveröffentlichung eingesehen werden Zugänglichmachung, in elektronischer Form, ist konnten. Aufund spätere hat der Verlag keinerlei Einfluss. untersagt kannVeränderungen straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Umschlaggestaltung: InitDritter GmbH,enthalten, Bielefeld so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht Satz: SatzWeise GmbH, Trierzu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand Zeitpunkt der & Erstveröffentlichung verweisen. Druck undzum Einband: Hubert Co, Göttingen Printed in Germany Umschlaggestaltung: InitISBN Kommunikationsdesign 978-3-579-02682-4GmbH, Bad Oeynhausen Satz: SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg www.gtvh.de ISBN 978-3-641-24856-7 www.gtvh.de

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . .

15 15 28 32

Freddie Rokem und Heike Breitenbach: Buber und das Theater . .

38

Emily D. Bilski: Buber und die bildenden Künste . . . . . . . . . .

52

Bernd Witte: Buber und die Literatur 1. Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literaturkritik . . . . . . . . . . 3. Autobiographische Schriften . . .

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Literatur Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veröffentlichte Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

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Literarische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolog (Aus der Skizzenreihe »Studentinnen«) . . Die Statue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Züge in Wilfrids Bild. . . . . . . . . . . . . . . .

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201 202 204 205 207 209

Unveröffentlichte Gedichte . . »Aus jüdischer Stimmung« . An Paula . . . . . . . . . . An andere Personen . . . . Gelegenheitsgedichte . . . .

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Literaturkritische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Das Buch Joram. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

6

Inhalt

Vorbemerkung über Franz Werfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Mombert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 [Über Stefan George] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Ein Wort über Franz Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Der Erzähler [Zu S. J. Agnon] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Zum Ruhm des Publizisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

. . . . . . . Der Galilei Roman . . . Das Reinmenschliche . . [Drei Erinnerungen] . .

. . . . Hermann Hesses Dienst am Geist . Der Erzähler in unserer Zeit . . .

. . . . . . Vorwort [zu Paula Buber, »Geister und Menschen«] . [Geleitwort zu Beer-Hofmann] . . . . . . . . . . . . [Psychologie der dichterischen Produktivität] . . . . . Für Agnon

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230 231 233 239 250 258 260 262 269

Autobiographische Schriften Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Begegnung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Theater Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dämon. . . . . . . . . . . . . . . . . . Eisik Scheftel [übertragen von Martin Buber] . Elija . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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313 314 317 370

Schriften zum Theater . . . Eine Jungjüdische Bühne. . Die Duse in Florenz . . . . Drei Rollen Novellis. . . . Moritz Heimann. . . . . .

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Inhalt

Das Raumproblem der Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Moritz Heimann zum 50. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Hinweis auf ein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Drama und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Greif nach der Welt, Habimah! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Worte des Gedenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

. . . . . . . . . . . . . . . 445 [Zur Habimah-Aufführung in London] . . . . . . . . . . . . . . . 451 Das ewige Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 [Über die Aufführungen der Habima]

Kunst Das Buch »Juda« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 [Referat über »Jüdische Kunst«] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 [Einleitung zu Jüdische Künstler]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

Lesser Ury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 [Rede zur Eröffnung der Ausstellung im »Bezalel«]

. . . . . . . . 505

Der Zeichner Krakauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Vorwort [zu Bruno Zevi, »Im Raum der Architektur«] . . . . . . . 510 Ein Beispiel. Zu den Landschaften Leopold Krakauers . . . . . . . 512

Archivmaterialien Skizzen und Entwürfe zu Elengo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 [Claudel. L’Annonce faite à Marie. Hellerau 1913] . . . . . . . . . 524 Die Träume Josefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 [Sieg? Kampf? Wer gegen wen?] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532

8

Inhalt

Kommentar Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Diakritische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Verzeichnis der Gedichte und Gedichtanfänge . . . . . . . . . . . 856 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 Personenregister Abbildungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907

Gesamtaufriss der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912

Vorbemerkung Der vorliegende Band ist der achte, der nach der Übernahme der Arbeit an der Martin Buber Werkausgabe durch die Heinrich Heine Universität Düsseldorf publiziert werden kann. Er ist nach den neuen Editionskriterien gestaltet, wie sie erstmals in Band 9 der MBW angewandt und im vorliegenden Band in der Editorischen Notiz als Einleitung zum Kommentar erörtert werden. Dieser Band dokumentiert in drei Abteilungen Bubers literarisches Schaffen in Gestalt von Gedichten und literaturkritischen Arbeiten, seine Auseinandersetzung mit Problemfeldern der Dramatik und schließlich seine Beschäftigung mit den bildenden Künsten. Buber, der vornehmlich als Philosoph des dialogischen Denkens, Übersetzer und Exeget der Bibel sowie als politischer Denker erinnert wird, hat sich sein ganzes Leben, vorwiegend aber in jüngeren Jahren, literarisch betätigt und mit Fragestellungen künstlerischer Produktion beschäftigt. Dieser bislang weniger beachtete Aspekt seines Schaffens wird nun erstmals in diesem Band der Werkausgabe umfänglich abgebildet und in seiner Bedeutung für das Gesamtwerk Bubers hervorgehoben. Neben einer Reihe von Gedichten, die Buber hauptsächlich in den frühen Jahren seines Wirkens veröffentlichte, haben sich im Nachlass eine Vielzahl unveröffentlichter lyrischer Versuche erhalten, die sowohl individuelle Situationen zu bewältigen suchen als auch zeitgeschichtliche, religiöse und politische Reflexionen darstellen. Der Großteil der hier dargebotenen Gedichte erfährt somit in diesem Band seine erste Veröffentlichung. Einige der zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Gedichte, die Buber in den ungedruckt gebliebenen, handschriftlich überlieferten Gedichtzyklus Aus jüdischer Stimmung aufnahm, werden in diesem Band zweifach gedruckt, um die Struktur dieses Zyklus zu erhalten. Buber war mit bekannten und maßgeblichen Literaten seiner Zeit – etwa Hermann Hesse, Franz Kafka und Hugo von Hofmannsthal – bekannt oder befreundet und unterstützte die Verbreitung ihrer Werke mit literaturkritischen Arbeiten. Diese Aufsätze werden im vorliegenden Band den literarischen Texten Bubers nachfolgend abgedruckt. Das vielleicht bedeutendste und auch philosophisch aufschlussreichste Dokument der literarischen Produktion Bubers dürfte indessen die Schrift Begegnung aus dem Jahre 1960 darstellen. In dieser autobiographischen Publikation sammelte, überarbeitete und ergänzte Buber verstreute Skizzen von entscheidenden Wendepunkten und wesentlichen Situationen seines Lebens, die er vereinzelt bereits in früheren Schriften

10

Vorbemerkung

publiziert hatte und für die umfassende Veröffentlichung um zahlreiche neue Episoden ergänzte. Bubers Beschäftigung mit der Dramatik reicht von der Übersetzung einzelner Dramen über den Entwurf dramatischer Fragmente bis hin zum ausgearbeiteten biblischen Mysterienspiel Elija, das Buber noch 1963 in hohem Alter veröffentlichte. Die Herausgeber haben sich dazu entschieden, mit dem Arbeiterdrama Eisik Scheftel von David Pinski, eine von Buber angefertigte Übersetzung aus dem Jiddischen in den Band aufzunehmen, nicht zuletzt um das breite Spektrum an Themen zu dokumentieren – vom sozialkritisch orientierten naturalistischen Schauspiel bis hin zur biblischen Prophetie – an denen sich Bubers dramatisches Interesse entzündete. Schließlich versammelt der Teil dieses Bandes, der Bubers Arbeiten zum Theater gewidmet ist, Porträts von Schauspielern, essayistische Schriften zu dramatischen Fragestellungen sowie Zeugnisse seines Engagements bei den Hellerauer Festspielen. In jüngeren Jahren setzte sich Buber intensiv mit den bildenden Künsten auseinander, vornehmlich mit dem Problem, inwiefern die Künste zur »Jüdischen Renaissance« beitragen können. An dieser Fragestellung sollte sich nicht zuletzt Bubers Begriff des Kulturzionismus gegenüber dem politischen Zionismus Theodor Herzls kristallisieren. Deutlich wird dieses Spannungsfeld vor allem im Referat über Jüdische Kunst, das Buber vor dem Fünften zionistischen Kongress im Dezember 1901 in Basel vortrug. Neben die eher kulturpolitisch orientierten Arbeiten tritt in den späteren Jahren eine Reihe von Texten, die sich dem Porträt einzelner Künstler, wie etwa Helmar Lerski und Leopold Krakauer, widmen. Die Israel Academy of Sciences and Humanities, deren erster Präsident Martin Buber war, hat im Jahre 2012 die Arbeit an der Werkausgabe als ein »highly important project« anerkannt und fördert sie seitdem mit einem jährlichen Beitrag. Ein Projekt wie diese Werkausgabe wäre ohne eine großzügige finanzielle Förderung nicht möglich. Wir danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Gerda Henkel Stiftung für ihre nachhaltige Unterstützung. Nicht zuletzt sei der Heinrich Heine Universität Düsseldorf gedankt, die das Projekt logistisch und administrativ betreut. Düsseldorf, im April 2016

Paul Mendes-Flohr, Bernd Witte

Dank Für die Erstellung des vorliegenden Bandes konnten die Herausgeber auf umfangreiche unveröffentlichte Materialien zurückgreifen, die im Martin Buber Archiv in Jerusalem aufbewahrt werden. Für die großzügige Unterstützung gebührt Stefan Litt und den Mitarbeitern der Archivabteilung der Nationalbibliothek unser besonderer Dank. Auch dem Archiv der Universität von Wien sowie dem Kulturhistorischen Museum in Görlitz sei für die Bereitstellung von Dokumenten und Bildmaterialien gedankt. Besonders sind die Herausgeber gegenüber Tamar Goldschmidt zu Dank verpflichtet, die aufschlussreiche Dokumente aus ihrem Privatbesitz und hilfreiche biographische Informationen für die Kommentierung beisteuerte. Paul Mendes-Flohr hat die Drucklegung dieses Bandes durch zahlreiche substantielle Hinweise bei der Erstellung des Kommentars zu Bubers literarischen und autobiographischen Schriften gefördert. Deshalb gilt ihm der besondere Dank der Bandherausgeber. Desgleichen Olga Levitan sowie dem Israeli Center for the Documentation of the Performing Arts für wichtige Informationen zu Bubers dramatischem Engagement. Die weitgespannte Thematik des Bandes, die Vielzahl der in ihm versammelten Texte sowie die Verteilung der Arbeiten auf vier Bearbeiter machte eine umfangreiche Koordinierung erforderlich. Sowohl für die Zusammenfügung aller Teile des Bandes als auch für die Hilfe bei dessen Kommentierung und der Erstellung des kritischen Apparats gebührt den beiden Mitarbeitern der Arbeitsstelle, Simone Pöpl und Arne Taube, der Dank der Herausgeber. Einen wertvollen Beitrag haben zudem die beiden ehemaligen Mitarbeiter, Andreas Losch und Helen Przibilla, geleistet, die die frühe Entstehungsphase des Bandes begleitet haben. Schließlich sei Caterina Rosato, Kerstin Schreck und Tim Willmann für ihre Mithilfe beim Erfassen der Gedichte, dem Korrekturlesen und Vergleich verschiedener Textzeugen gedankt. Jerusalem, Tel Aviv und Düsseldorf, im April 2016 Emily D. Bilski, Heike Breitenbach, Freddie Rokem, Bernd Witte

Einleitung

Buber und die Literatur 1. Lyrik In der Literatur zu Martin Bubers Werk gibt es bisher nur einige wenige, verstreute Hinweise auf seine literarischen Ambitionen. In seiner umfangreichen Biographie hatte Hans Kohn (1891-1971) schon 1930 auf Bubers frühe dichterische Arbeiten hingewiesen und die bis dahin publizierten Texte bibliographisch erfasst: Buber nahm mit einigen, wenige Jahre älteren Freunden […] führenden Anteil an der kulturellen Entfaltung der im Westen noch jungen jüdischen Bewegung. Feiwel und Buber haben die neue Bewegung mit Gedichten und Erzählungen bereichert und Dichtungen aus der hebräischen und jiddischen Sprache übertragen. Jüdische Dichtung und Bühne, Kunst und Musik sollten in das Leben der Juden eindringen und es jüdischer und schöner zugleich gestalten. 1

Ähnlich äußerte sich Grete Schaeder (1903-1990) 1972 in ihrer Einleitung zur Briefausgabe: »Es ist aus der Entwicklung Bubers nicht wegzudenken, daß er sich in seiner Jugend zum Dichter berufen glaubte. Im Jerusalemer Martin Buber – Archiv sind zahlreiche ungedruckte Gedichte von ihm erhalten; sie lesen sich wie ganz frühe und unreife Gedichte Hofmannsthals«. 2

Was Schaeder nicht erwähnt, sind die an sichtbarer Stelle publizierten Gedichte Bubers, die schon Kohn bibliographisch nachgewiesen hatte. 3 Auf drei von ihnen (»Gebet«, »Unseres Volkes Erwachen« und »An Narcissus«) 4 geht allein Gilya Gerda Schmidt in kurzen Interpretationen ein. 5 Zudem hat Maurice Friedman in seiner englischen Übertragung von Bubers Nachlese unter dem Titel A Believing Humanism. My Testa1. 2. 3. 4. 5.

Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, Hellerau 1930, S. 37 f. Grete Schaeder, Martin Buber. Ein biographischer Abriß, in: B I, S. 19-141, hier S. 40. Siehe Kohn, ebd. S. 391 f. Bibliographie II, Nr. 116-128, 131-133. Vgl. in diesem Band S. 79, 71 u. 82. Gilya Gerda Schmidt, Martin Buber’s Formative Years. From German Culture to Jewish Renewal, 1897-1909, Tuscaloosa u. London 1995. Über das Gedicht »An Narcissus« schreibt sie: »here he identifies the narcissistic personality, the model available from secular German culture, as the major impediment to the formation of the type of personality and community he envisioned. The poem brought to light that Judaism and Western individualism were mutually exclusive.« (S. 68) Das ist insofern unzutreffend, als Buber in seiner Frühzeit durchaus einen modernen Individualismus Nietzschescher Prägung propagierte. Vgl. etwa »Der Jünger« (1903): »Kannst du dein Eigen sein, sei nie des andern.« (In diesem Band S. 86.)

16

Einleitung

ment, 1902-1965 die in diesem Band veröffentlichten Gedichte einer kurzen sachlichen Kommentierung unterzogen. 6 Buber selbst hatte schon mit seinen frühesten programmatischen Äußerungen deutlich gemacht, dass er sich und seine kulturzionistischen Mitstreiter als Künstler ansah und seine literarischen Texte als Dichtung verstanden wissen wollte. So schreibt er im ersten Heft des ersten Jahrgangs der neu gegründeten Zeitschrift Ost und West 1901 den Leitartikel, dessen von den Schriften Achad Haams (1856-1927) inspirierter Titel Jüdische Renaissance nicht nur dem neu gegründeten Publikationsorgan das Programm vorgab, sondern gleichzeitig den Bestrebungen für eine kulturelle Erneuerung des europäischen Judentums im deutschen Sprachraum augenblicklich Namen und Richtung verlieh. Der dreiundzwanzigjährige Autor des Artikels äußert sich in diesem Manifest zum ersten Mal öffentlich zu Fragen des Judentums. Dabei ordnet er dessen kulturellen Aufbruch in die allgemeine Kulturbewegung der europäischen Völker um die Jahrhundertwende ein, die er in neoromantischer Terminologie als »die Selbstbesinnung der Völkerseelen« interpretiert. Mit Hinweis auf die europäische Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts möchte er »die neue Schönheitskultur« auch für das Judentum in Anspruch nehmen, 7 um den beiden gesellschaftlichen Formationen der zeitgenössischen europäischen Judenheit, dem Ghetto, als dem »Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition«, aber auch der »armseligen Episode der ›Assimilation‹« zu entkommen und so »das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl der Juden wieder auf den Thron [zu] setzen«. In seinem Manifest bestimmt Buber die Kunst, insbesondere die jungjüdische Dichtung als wichtigstes Instrument der Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird […] durch Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Malens und Meisselns erwecken; und vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen.

Diese Charakterisierung des Tuns der Dichter ist außerordentlich charakteristisch für das eklektische Verfahren des jungen Autors. Aus dem 6. 7.

New York 1967. S. 233-245. Im Wiederabdruck dieses Aufsatzes in Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900-1916 (Berlin 1916) ist der Ausdruck »die neue Schönheitskultur« durch »die neue menschheitliche Kultur« ersetzt. (S. 15, vgl. auch MBW 3, S. 147.) Darin deutet sich an, dass Buber damals sein Schreiben schon nicht mehr als das eines Dichters versteht.

Buber und die Literatur

17

Mythos des Judentums übernimmt Buber das Bild der Feuersäule, die den Israeliten bei ihrem Exodus aus Ägypten voranzieht und den Weg weist, aus dem Mythos des Christentums die Auferstehung als Zeichen der endgültigen Erlösung. Zudem fließen in seinem Text Eindrücke aus dem ostjüdischen Kulturzionismus mit klassischer deutscher Bildungsideologie zusammen, weshalb Buber am Ende ganz im Sinne Goethes »die einheitliche Persönlichkeit, die aus einer Willensglut heraus schafft,« den jungen Juden als Ideal vorschreiben kann. 8 Was Buber zunächst allgemein als Ziel der jungjüdischen Bewegung definiert und mit dem Referat über »Jüdische Kunst« dem im Dezember 1901 stattfindenden 5. Zionistenkongress vorgetragen hat, 9 bezieht er in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung 10 auf seine eigene Stellung innerhalb der jüdischen Renaissance. Auch hier gelingt es ihm, seinen Text an weithin sichtbarer Stelle zu platzieren, als programmatische Eröffnung des Jüdischen Almanachs, den der neugegründete Jüdische Verlag als seine erste Publikation im September 1902 veröffentlichte. Mit der Figur des »Schaffenden«, die er von der des »Intellektuellen« und der des »Künstlers« abgrenzt, 11 beschreibt er die von ihm selbst erstrebte Rolle für die erhoffte Erneuerung des Judentums. In diesem Begriff kommt – wie auch in der enthusiastischen Redeweise des Textes – der Einfluss Friedrich Nietzsches (18441900) zum Ausdruck, dessen Also sprach Zarathustra (1883-1885) sich, wie Buber 1960 in Begegnung schreibt, des Studenten der Philosophie »bemächtigt« hatte. 12 Ihm, der als Student seinen althergebrachten Glauben verloren hatte, eröffnet sich im jüdischen »Volk« die neue metaphysische Größe, die für ihn eine Etappe auf dem Weg zu einer erneuerten, individuellen Religion werden sollte. Daher die für seine eigene Entwicklung geradezu prophetischen Sätze: »Aber wer seinen Gott ver-

8. 9. 10. 11.

MBW 3, S. 143-147. Vgl. in diesem Band S. 470-487. Jetzt in MBW 3, S. 166-171. In seinem frühesten literaturkritischen Text »Zur Wiener Literatur« (1897) (in MBW 1, S. 119-129) hatte der Neunzehnjährige, der vor einem Jahr zum Studium nach Wien gekommen war, am Beispiel der Autoren des »Jungen Wien« vier »Typen« des Schriftstellers unterschieden: den »Literaten« (Bahr), den »Dichter« (Hofmannsthal), den »Denker« (Altenberg) und den »Künstler« (Schnitzler). Wenn man »Literaten« und »Denker« in einer Kategorie als »Intellektuelle« zusammenfasst, sieht man, dass die »Schaffenden« dem Typus des »Dichters« nahe stehen. 12. Jetzt in diesem Band S. 283. Gershom Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, in: ders., Judaica 2, Frankfurt a. M. 1982, S. 140: »Nietzsches Rede von den ›Schaffenden‹ durchzieht alle seine frühesten Schriften.«

18

Einleitung

loren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden.« 13 Der Aufsatz ist stark von der ideologischen Terminologie der Zeit geprägt, wenn er die Gemeinsamkeiten eines Volkes mit den drei Begriffen »Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft« zu umschreiben versucht. 14 Mit der Betonung von »Blut« und »Schicksal« übernimmt er unkritisch Kategorien aus dem damals gängigen Populärdarwinismus, wie er etwa auch in den Schriften Houston Stewart Chamberlains (1855-1927) zu finden ist. Allerdings geht er in seinen Ausführungen nur auf die produktiven Kräfte des Volkes näher ein, die zu erwecken, er den Schaffenden als deren originäre Aufgabe zuschreibt. Dabei grenzt er sich deutlich vom orthodoxen Judentum ab, wenn er fordert, dass der Schaffende »nicht vom seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen« solle. Diese abstrakte Zielsetzung konkretisiert er in »zwei Grundmächten des schöpferischen Lebens«, worunter er die Rückkehr in das angestammte Land Erez Israel und die Verbundenheit mit der zweitausendjährigen Leidensgeschichte der Juden versteht. Beides, von ihm als »Wurzelhaftigkeit« und »gebundene Tragik« definiert, sollen die Schaffenden in ihrer Kunst dem im Galut zerstreuten Volk vermitteln und dadurch in ihm ein neues Selbstbewusstsein und einen neuen Stolz erwecken. 15 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Buber sich in den Jahren um die Jahrhundertwende selbst als ein solcher »Schaffender« versteht, das heißt als einer, der durch seine Aufrufe, aber auch durch sein dichterisches Wirken das jüdische Volk zu einem neuen Bewusstsein seiner selbst bringen will. In den Briefen aus dieser Zeit an seine Frau Paula Buber, geb. Winkler (1877-1958), spricht er diese seine Ambitionen unverhüllt aus. Als er im August 1900 an der unvollendet gebliebenen Legende »Satu’s Leiden und Rache« 16 arbeitet, schreibt er: »Liebste, die letzten Tage, die ich diesmal mit Dir zusammen war, so schön in ihrem ruhigen Licht, haben mir ganz neue Kraft geschenkt, Du kennst meine Art zu schaffen und Du wirst verstehen, was das für mich bedeutet: ich habe einen eigenen künstlerischen Weg gefunden.« 17 Ein Jahr später ist er sich seiner dichterischen Begabung schon weniger sicher, wenn er an dieselbe Adressatin schreibt: »Du weißt, daß ich kein extensives Talent habe, da muß die Hand straff sein. […] Du mußt verstehen, daß dies eine Sache 13. 14. 15. 16. 17.

MBW 3, S. 167. Ebd. MBW 3, S. 168 f. Jetzt in MBW 2.1, S. 67-69. An Paula Buber, 4. 8. 1900 (B I, 156).

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auf Leben und Tod ist. Es handelt sich einfach um meine Kunst: wenn ich mich gehen lasse, verkomme ich – das steht fest.« Der hier zum Ausdruck gebrachte Zweifel an seinem eigenen schriftstellerischen Talent bleibt jedoch gepaart mit existentiellem Ernst und dem Willen, als Künstler den eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen. Alles andere, etwa eine wissenschaftliche Karriere als »Privatdozent«, hält er demgegenüber für wenig erstrebenswert; denn dann sei »es mit dem Machen von lebendigen Dingen […] zu Ende«. 18 Nach dem Besuch einer Ausstellung von Plastiken des zionistischen Bildhauers und Schriftstellers Alfred Nossig 19 kritisiert er – wiederum in einem Brief an seine Frau – dessen Werke als nicht radikal genug im Sinne einer jüdischen Renaissance. Im Kontrast zu dessen Unzulänglichkeiten formuliert er das inhaltliche Programm seiner eigenen künstlerischen und literarischen Bestrebungen als Erfüllung der Aufgaben eines »Schaffenden«. Bei Nossig habe er »tief nationale Anknüpfungen, Auslösung von Momenten der Volksseele, Ausbildung des Unausgebildeten« gesucht, aber nicht gefunden. Mit diesen Formulierungen umreißt er das Ziel seines eigenen schöpferischen Tuns und das aller »Schaffenden« der Bewegung: Die Menschen, in denen sich das Volksgeschick nicht restlos sagen konnte, so gestalten, daß es sich restlos sagt. Die große unterirdische Volksgeschichte vollenden! Oh Liebe, wie erbärmlich ist doch die Kunst, die nicht das Letzte will – in irgendeiner Richtung das Letzte – ausschöpfen dieses Rätsel des Lebens, zu Ende graben an diesem Punkte der Welt. Eine ganze Stimmung geben, die Stimmung der Mistel oder die der Mona Lisa […]. 20

In diesen Worten klingen die Parolen der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys (1833-1911), seines philosophischen Lehrers in Berlin, nach. Allerdings setzt Buber es sich nicht zum Ziel, das Leben durch Philosophie zu erfassen, sondern durch Kunst, das heißt für ihn, unter dem Einfluss der Dichtung des Jungen Wien 21 zunächst durch lyrische Texte, in denen die »ganze Stimmung« der jüdischen Existenz eingefangen werden soll. 22 18. An Paula Buber, 26. 7. 1901 (B I, 159). 19. Geb. 1864 in Lwow (Lemberg), 1943 im Warschauer Ghetto wegen Spionage für die Gestapo von der Jüdischen Widerstandsbewegung zum Tode verurteilt und hingerichtet. 20. An Paula Buber, 24. 4. 1900. B I, 155. 21. Vgl. Anmerkung 11. 22. Aus eigener Anschauung der Zeit bemerkt Hans Kohn in diesem Kontext zurecht: »Der Künder dieser Zeit wird der lyrische Dichter. Der strenge und starre Bau der Religion lockert sich ihm auf in die Sehnsucht lebendiger Religiosität, in das pathetische Suchen neuer Bindungen, die von dem unermeßlichen Strom des Lebens noch durchflutet sind.« (Kohn, Martin Buber, S. 64).

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So ist es nur zu verständlich, dass Buber als er seine um die Jahrhundertwende entstandenen Gedichte in einem kleinen ledergebundenen Heft sammelt, sie unter dem Titel Aus jüdischer Stimmung zusammenfasst. Dieses als Reinschrift angelegte kleine Werk, das im vorliegenden Band in Gänze abgedruckt wird, 23 weil es in seinem Aufbau Bubers damaligen Intentionen auf das genaueste entspricht, wird eröffnet mit dem Gedicht »Ich wandle unter euch«, in dem der Autor mit der Gebärde eines zweiten Zarathustra sich an seine Jünger wendet und ihnen, den Juden auf ihrer Wanderschaft, prophezeit, das sein »Singen« ihnen »neuen Lebensmut / und hohe freie Weggewissheit bringen« wird. In der Nachfolge Nietzsches, der in seinem »Versuch einer Selbstkritik« zu Die Geburt der Tragödie von sich bekannt hatte: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!«, 24 stilisiert sich der junge Buber zu einem neuen, besseren Dichter-Philosophen, der seinem Volk auf seiner Irrfahrt im Exil den Weg zu weisen vermag. Bei genauer Analyse des Aufbaus der kleinen, dreizehn Texte umfassenden Sammlung lässt sich eine bewusste Anordnung der Gedichte erkennen. Auf die programmatische Selbstvorstellung, mit der das Ensemble eröffnet wird, folgen zwei Teile, gerahmt von einem Naturgedicht am Anfang und am Ende, in dem die Nacht als Inspirationsraum des Dichters vorgeführt wird (»Und schon war die Nacht ein Meer« und »Der Segen«). In der ersten Sektion spricht der Dichter von seinem Verhältnis zur jüdischen Jugend, ausgehend von der Selbstverpflichtung: »Ich will mein junges Herz dem Volke geben« (»Mein Herz«) bis hin zur Identifikation mit der neuen, sich ihres Judentums bewussten Jugend in der Zeile: »Wir wollen Jude sein!«, mit der das Gedicht »Neue Jugend« schließt. Die zweite Abteilung, die von der ersten durch ein weiteres Naturgedicht getrennt ist, das als Metapher für den frühlingshaften Aufbruch des jüdischen Volks zu lesen ist (»Maizauber«), setzt mit einem großen Dialog zwischen dem als Befreier sich verstehenden jungen Juden und dem mutlosen jüdischen Volk ein (»Des Volkes Erwachen«), an dessen Ende die triumphierenden Zeilen stehen: »Und als sich Sonnenblick und sein Blick fanden, / Da ist mein Volk in Strahlen auferstanden.« Hier bedient sich Buber derselben Bildlichkeit, die auch die vom Jugendstil beeinflussten Illustrationen Ephraim Mose Liliens (1874-1925) zu Börries von Münchhausens Gedichtbuch (1875-1945) Juda prägt. 25 Liliens’ Buchschmuck zu dem Gedicht »Passah« beschreibt Buber in seiner Rezensi23. Vgl. S. 108-122. 24. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1966; Bd. 1., S. 12. 25. Juda. Gesänge von Börries, Freiherrn von Münchhausen mit Buchschmuck vom E. M. Lilien, Goslar 1900. Ohne Paginierung.

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on des Werks mit Worten, die seinem eigenen Gedicht entnommen sein könnten: Gläubige Kraft der Hoffnung: Passah; zwischen uralten, regungslosen Pyramiden und Königsgrabmalen schreitet der weisshaarige Jude im dornen-bedeckten Gewande, Dornen über der Stirne, am Rande eines Wassers und blickt zu Boden. In der Ferne strahlt die Sonne auf und in ihr das Wort »Zion« in den Lettern der geliebten Sprache. 26

1901, im selben Jahr, in dem er sein erstes kulturzionistisches Manifest veröffentlichte, trat Buber mit seinen Gedichten auch an die Öffentlichkeit. 27 Zum 1. September übernahm er auf Theodor Herzls (1860-1904) Bitte hin die Redaktion von Die Welt in Wien. Zuvor schon hatte er im März, Mai, und Juni dieses Jahres jeweils einen lyrischen Text aus seiner Sammlung Aus jüdischer Stimmung in diesem »Zentralorgan der Zionistischen Bewegung« publiziert. (B I, 160-163) Im ersten dieser Gedichte »Ein Purim-Prolog« interpretiert er mit Bezug auf das biblische Buch Esther die Feier des Purimfestes als Ausdruck von »uns’res Volkes ganze[r] Seele«, die sich aus des »Elends Ketten« für einen Tag befreit, aber angesichts des »vier Wochen später« gefeierten Pessah-Festes auch schon die endgültige Befreiung erahnt. Damit erfüllt sein Gedicht auf das genaueste das Programm, das er den jungjüdischen Dichtern in seinem Manifest nahe gelegt hatte. Das Gedicht erklärt mit Bezug auf den kanonischen Text der Bibel den religiösen Sinn des Purimfestes und macht ihn zugleich auf seine Bedeutung für den jungjüdischen Aufbruch hin durchsichtig. Allerdings bleibt die dichterische Qualität des Textes durch diese ideologische Aufladung weitgehend auf der Strecke. Ein heutiger Leser wird sich fragen, warum die vom Autor vermittelte Botschaft ausgerechnet in fünffüßigen Jamben daher kommen muss. Nachdem Buber im Dezember 1901 auf dem Fünften Basler Kongress für seine künstlerischen Ambitionen keine Unterstützung gefunden hatte, lässt sich ein deutlicher Wechsel in den Publikationsorganen seiner Lyrik feststellen. Zum einen veröffentlicht er seine Gedichte jetzt in den 26. Martin Buber, Das Buch »Juda«, in: Die Welt, 15. Dezember 1900; jetzt in diesem Band, S. 468. 27. Allerdings war schon im September 1899 das Gedicht »Unseres Volkes Erwachen« in Die Welt erschienen. Buber hatte es dem Reverend William Henry Hechler (1845-1931), einem anglikanischen Pastor und Anhänger des Herzlschen Zionismus, im Manuskript überlassen und der hatte es ohne das Wissen des Autors publiziert. Vgl. »Frage und Antwort« in Begegnung, (in diesem Band S. 294), wo er das Gedicht noch 1960 einen »von mir verfaßten Hymnus auf das erwachende jüdische Volk« nennt, es aber auch als »fragwürdiges Opusculum« abwertet.

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beiden frühesten Veröffentlichungen des Jüdischen Verlags, der 1902 in Berlin von der jungjüdischen Demokratischen Fraktion gegründet worden war. In dem noch im gleichen Jahr erschienenen Jüdischen Almanach ist Buber neben dem schon erwähnten programmatischen Einleitungsaufsatz mit den zwei Gedichten »Der Juenger« und »Die Magier« vertreten, die unter dem Obertitel »Zwei Gedichte aus dem Cyclus ›Geist der Herr‹« zusammengefasst sind. Außerdem hat er zu dem Band den Text »Der Dämon« 28 beigesteuert, den er als »Aus einem Drama« bezeichnet, sowie seine Übersetzung von David Pinskis (1872-1959) Erzählung »Das Erwachen«. In den beiden Gedichten wird noch einmal die Konstellation eines »Meisters« mit seinen Schülern beschworen, der wie Zarathustra seine Lehren an die Jünger weiter gibt, wobei diese eher dem übersteigerten Individualismus eines Nietzsche als jüdischem Gemeinschaftsdenken zu entstammen scheinen. So wird dem fragenden »Jünger« die aller jüdischen Weltsicht widersprechende Belehrung zuteil: »Kannst du dein Eigen sein, sei nie des andern.« 29 In der repräsentativen »Sammlung jungjüdischer Gedichte«, die Berthold Feiwel (1875-1935), der Mitstreiter Bubers, 1903 unter dem Titel Junge Harfen im Jüdischen Verlag herausgegeben hat, veröffentlichte Buber ebenfalls zwei Gedichte. Zum einen das in handschriftlicher Fassung schon in Aus jüdischer Stimmung aufgenommene »Ein Ackersmann«. In dessen Kontrastierung des ernsthaften Sämanns, der »das goldene Weizenkorn« in die Furchen streut, mit dem Sprecher, der müßig am Rand des Ackers liegt und sich darüber freut, dass der Wind die Samen wilder Blumen herbeiweht – »Kornblume, Rade, wilder Mohn« –, kann man durchaus den Gegensatz zwischen Herzl, dem Organisator politischer Macht, und dem jungjüdischen Lyriker sehen, der von einem »leuchtend starken Schönheitswillen« beseelt, sich um den praktischen Nutzen seines Tuns nicht kümmert. 30 Das zweite mit dem Titel »Zwei Tänze« stellt dem in Jugendstilmanier geschilderten »Reigen« junger Hellenen den »Wechseltanz« der »jungen Juden« gegenüber, die sich an Simchat Tora, dem »Fest der Freude am Gesetze«, zu »Gemeinden« zusammenfinden, um so »alle Schranken zu zerbrechen / Und im Unendlichen wie Gott zu sein«. 31 Das Gedicht »Zwei Tänze« gehört in einen Zusammenhang, in dem Buber sich, wie der Untertitel »Aus dem Cyklus ›Elischa Ben Abuja, genannt Acher‹« anzeigt, in der talmudischen Figur dieses Tannaiten eine 28. 29. 30. 31.

In diesem Band, S. 314-316. Ebd., S. 86. Ebd., S. 80 f. Ebd., S. 89.

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Identifikationsfigur geschaffen hat. Aus demselben Gedichtzyklus hatte er in der Zeitschrift Ost und West im Jahr 1902 zwei Sonette veröffentlicht, 32 die ein Motiv aus dem Jerusalemer Talmud aufgreifen und neu interpretieren. Darin wird erzählt Acher, »der Andere«, sei einer der vier Weisen gewesen, die in den Garten des Paradieses eintreten durften 33 . Während von den drei anderen der eine starb, der andere schwermütig wurde und nur Rabbi Akiba unbeschadet zurückkam, führte das mystische Erlebnis bei Elisa ben Abuja zum Abfall vom Judentum, weshalb er in die Yeshivot zu gehen pflegte, um die jungen Juden zu ermahnen, praktische Berufe zu ergreifen. 34 Es ist evident, dass der vom Zionismus und dessen Propagierung handwerklicher und bäuerlicher Arbeit in Palästina faszinierte Buber in Acher einen Gleichgesinnten gesehen hat. Der Jerusalemer Talmud verbannt den Ketzer Acher wegen seines Abfalls ins Gehenna, ins ewige Feuer. Buber hingegen deutet in seinem Gedicht die Flamme als Zeichen seiner Auserwählung und lässt in Jugendstilmanier einen Chor trauernder, »weissumhüllter« Frauen das Grab des Abtrünnigen umgeben. In dem zweiten, zwei Monate später ebenfalls in Ost und West publizierten Sonett mit dem Titel »Die Erlösung« lässt er den Schüler Achers, Rabbi Meïr, ans Grab treten, seinen Gebetsmantel über die Flamme breiten und sie so als Zeichen für die Erlösung des Meisters zum Erlöschen bringen. Auch diese Episode entstammt dem Jerusalemer Talmud, in dem Rabbi Meïr am Grab seines Lehrers sagt: »›Gut ist der Herr zu allem, und sein Erbarmen ist über allen seinen Werken.‹ ›Und wenn es ihm nicht gefällt, dich zu lösen, so löse ich dich, so wahr der Herr lebt.‹« Wie in der talmudischen Tradition üblich, redet Rabbi Meïr hier in Bibelzitaten, die in diesem Fall den Psalmen und dem Buch Ruth entstammen. 35 Auf diese Worte spielt Buber im zweiten Terzett seines Sonetts an, in dem er den Rabbi sagen lässt: »Wenn jetzt zur Stunde / Er dich nicht löst, so will ich dich erlösen.« 36 Diese Verdoppelung des Zitiervorgangs verweist auf den Sinn des angewandten dichterischen Verfahrens und damit auf Bubers kulturzionistisches Credo: Nur in der Kontinuität der Überlieferung und in deren gleichzeitiger Überschrei32. Zu Ost und West und zu den beiden Sonetten vgl. Bernd Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne, München 2007. S. 95-106. 33. jChag II,1 (vgl. Hagiga. Festopfer, übers. von Gerd A. Wewers, Tübingen 1983, S. 37-42). Siehe auch bChag 14b (vgl. BT, Bd. IV, S. 283 f.). 34. Abschnitt Chagiga im Jerusalemer Talmud. In: Der Jerusalemer Talmud. Sieben ausgewählte Kapitel. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Hans-Jürgen Becker, Stuttgart 1995, S. 139 f. 35. Psalm 145,9 und Ruth 3,13. 36. In diesem Band S. 85.

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tung auf die Moderne hin, für die bei ihm die betont an den Schluss gesetzte Chiffre »das Leben« einsteht, – »Und Meïr sah das Leben.« – kann jüdische Kultur sich entfalten. In den Jahren nach 1906, in denen Buber so gut wie keine Gedichte mehr veröffentlicht hat, überträgt er das in der Lyrik angewandte Verfahren auf das Schreiben seiner Prosatexte. Jetzt sind es Die Geschichten des Rabbi Nachman und Die Legende des Baal-Schem, in denen er seine dichterischen Ambitionen verwirklicht und die er als seine »Werke« ansieht. 37 Auch sie sind, wie die beiden Sonette, das Resultat kommentierenden Schreibens, wobei der Autor hier auf die chassidische Tradition zurückgreift, um sie in neuromantische Kunstmärchen und Legenden zu verwandeln. Damit glaubt er jetzt die »Schöpfungen« der jüdischen Mystik »dem europäischen Publikum in einer künstlerisch möglichst reinen Form bekannt« machen zu können. 38 Zwar hat Buber auch nach 1906 noch zahlreiche Gedichte geschrieben. Allerdings haben sie jetzt einen anderen Charakter. Sie sind privater Natur, worauf schon ihre überwiegend handschriftliche Überlieferung hinweist. Im Dialog mit seiner Frau Paula dienen sie der eigenen Selbstverständigung und der Verständigung mit ihr in entscheidenden Augenblicken ihres gemeinsamen Lebens. 39 Schon die Widmung »Einer Hellenin zugeeignet«, die er dem 1903 publizierten Gedicht »Zwei Tänze« voranstellt, weist auf die neue Adressatin seines lyrischen Sprechens hin. Ihr, die in der deutschen, am Griechentum orientierten Kulturtradition aufgewachsen ist, soll durch das Gedicht die überlegene Schönheit des jüdischen Erbes vor Augen geführt werden. Damit beginnt die zweite Phase seines lyrischen Sprechens, die Buber in den Jahren zwischen 1905 und 1965, in denen er so gut wie keine Gedichte publizierte, als Dialog mit seiner Frau kontinuierlich beibehalten hat. Die frühesten unter ihnen stammen aus der Zeit der ersten Begegnung und der Eheschließung mit Paula. Beginnend mit diesen Versen, die eher konventionelle Liebeslyrik im Stil der Zeit sind, über die Gelegenheitsgedichte, in denen die Mühen des gemeinsamen Alltags zur Sprache gebracht werden, reicht die Reihe bis hin zu dem späten Wunsch, im Tod 37. Am 9. 1. 1906 schreibt Buber aus Florenz an den Dichter Karl Wolfskehl (18691948): »Ich bin jetzt seltsamerweise und zum ersten Mal in meinem Leben, in eine Zeit des Werkes eingetreten.« (B I, S. 235) Der Begriff des »Werks« weist unmissverständlich auf den dichterischen Charakter der von ihm geplanten Prosaschriften hin. 38. B I, S. 244. 39. Deshalb ist es angebracht, diese Gedichte nach den Sektionen »Veröffentlichte Gedichte« und »Aus jüdischer Stimmung« in einem eigenen Abschnitt unter der Überschrift »An Paula« zusammenzufassen.

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»zuletzt noch meine Hand / von der Deinen gehalten zu fühlen«. Was die Begegnung mit ihr ihm bedeutet hat, hat Buber in knappster Form in dem Gedicht »An Paula« zum Ausdruck gebracht: »Der Abgrund und das Weltenlicht, / Zeitnot und Ewigkeitsbegier, / Vision, Ereignis und Gedicht: // Zwiesprache wars und ists mit dir«. 40 Diese Zeilen fungieren als Dialog mit der geliebten Frau und sind zugleich ein Dialog über den Ursprung dialogischen Philosophierens. Von besonderer Bedeutung im Kontext dieses Dialogs mit Paula sind die beiden Gedichte an sie, die Buber selbst publiziert hat. In den zwei Strophen von »Am Tag der Rückschau«, die er im Februar 1928 in der Jüdischen Rundschau mit dem Motto »P. B. gewidmet« veröffentlicht hat, bekennt er, dass es ihre »Gegenwart« war, die ihm »Geist« und »Welt« erschlossen hat. 41 In »Rückschau«, das er ihr im Jahr 1949 mit einem Exemplar der Erzählungen der Chassidim gewidmet und 1965 in dem Band Nachlese publiziert hat, beschreibt er die chassidischen Erzählungen als das Medium, in dem ihre gemeinsame Erkundung der Welt, ihr Gespräch über sie seinen Gegenstand gefunden habe und das ihnen so zur Heimat geworden sei. Dabei ist es nicht von ungefähr, dass das Gedicht mit den Worten »ich und du« schließt, Worte, die seit der Begründung einer dialogischen Philosophie in Ich und Du (1923) als die Formel für die wahre Begegnung zweier Menschen gelten. Eine letzte Gruppe von Gedichten hat Buber in dem von ihm selbst noch kurz vor seinem Tod redigierten Buch Nachlese von 1965 publiziert. In seinem »Nachwort« bekundet er, er habe nur das in das Werk aufgenommen, »was mir noch heute als gültiger, als des Überdauerns würdiger Ausdruck einer Erfahrung, eines Gefühls, eines Entschlusses, ja sogar eines Traums erscheint«. 42 In diesem Sinne erweist sich diese späteste Textsammlung Bubers als Dokument und Rekonstruktion der entscheidenden Wendepunkte seines Lebens. Von den insgesamt neun Abschnitten, in die das Buch unterteilt ist, 43 enthalten die beiden ersten, der mittlere und die beiden letzten jeweils Gedichttexte. Dabei betont Buber ausdrücklich, dass er auch die Gedichte als weiterhin gültige Zeugnisse seines Lebenswegs versteht. »Demgemäß habe ich auch einige meiner Gedichte, unveröffentlichte und ein paar bereits veröffentlichte (Gedichte habe ich nur selten drucken lassen), hier aufgenommen. Das

40. 41. 42. 43.

In diesem Band, S. 135. Ebd., S. 95. Martin Buber, Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 261. Buber spricht von »zehn Abteilungen«, wobei er das kurze »Nachwort«, das keine früheren Texte mehr enthält, mitzählt. (Ebd., S. 262.)

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Ganze hätte ich, dieser Zusammensetzung gemäß, auch wohl ›Zeugnis‹ benennen können.« 44 Der erste Abschnitt beginnt, ähnlich wie das 65 Jahre zuvor zusammengestellte Gedichtbuch Aus jüdischer Stimmung, mit einem »Bekenntnis des Schriftstellers«. Das Gedicht, zuvor schon im Juli 1952 in der Neuen Schweizer Rundschau anlässlich des 75. Geburtstags von Hermann Hesse (1877-1962) publiziert, ist hier mit der Jahreszahl 1945 und der Widmung »Für Ernst Simon« abgedruckt. In ihm resümiert Buber seine schriftstellerische Laufbahn als ein ihm von außen auferlegtes Schicksal. Denn seine dichterischen Anfänge als Lyriker und als Erzähler wurden beendet durch den unabweisbaren »Spruch des Geistes«: »Nun stelle die Schrift!« Deshalb habe er die mühevolle Arbeit der Übersetzung der Schrift und die damit zusammenhängende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel übernehmen und sein ursprüngliches Dichtertum vernachlässigen müssen. Noch einmal spielt er in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Die Geburt der Tragödie (1872) an: »und die Seele vergißt, daß sie sang«, um die schmerzhafte Tragik des Verzichts auf sein Dichtertum zugunsten der Religion erfahrbar zu machen. 45 Auch die übrigen fünf Gedichte dieser ersten Sektion sprechen von der Berufung des Autors. In »Elijahu« von 1903 und »Das Wort an Elijahu« von 1904 wird der jugendliche Autor im Gespräch mit dem Propheten Elija auf die Sendung für sein Volk verwiesen. Hier wie in »Der Jünger« (1901) und »Die Magier« (1901) findet er am Ende seinen geschichtlichen Auftrag in sich selbst, wobei die sorgfältige Komposition des Bandes sich darin bewährt, dass in letzterem Gedicht der Liebe vor der »Macht« der Vorzug gegeben wird. Dieses Motiv wird im letzten Gedicht des ersten Abschnitts »Gewalt und Liebe. Drei Strophen für das werdende Zeitalter« von 1926 noch einmal aufgegriffen und in der letzten Zeile zu einer rein formalen Synthese gebracht, in der es heißt: »So laßt uns […] / Gewaltig lieben.« 46 Daran schließt sich unmittelbar der zweite Abschnitt an, den Buber seiner Frau Paula gewidmet hat. Neben »Am Tag der Rückschau«, das mit dem Datum »8. Februar 1928« auf Bubers fünfzigsten Geburtstag als Entstehungszeit verweist, und »Weißt du es noch … ?«, worin das Erscheinen der Erzählungen der Chassidim zum Anlass genommen wird, an die jahrzehntelange gemeinsame Arbeit an diesem Buch zu erinnern, druckt Buber hier das »Vorwort« zu Paula Bu44. Ebd., S. 261 f. 45. In diesem Band, S. 98. 46. Ebd., S. 94.

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bers [Georg Munks] Buch Geister und Menschen erneut ab, um an seine »1958 verstorbene Frau« zu erinnern. 47 In die Mitte des mittleren, sechsten Abschnitts, in dem kürzere Texte zur Religionsphilosophie versammelt sind, stellt Buber das 1927, »nach Vollendung des Buches ›Die chassidischen Bücher‹« entstandene Gedicht »Chassidut« und macht damit die Bedeutung seiner Beschäftigung mit dem Chassidismus für sein religiöses Leben kenntlich. In ihm habe er »ein Heimatsland« gefunden. Im achten Abschnitt, in dem der Autor sich der Politik zuwendet, sind am Ende drei Gedichte versammelt, die Stellung nehmen zu den historischen Ereignissen der Zeit. In »November«, seinem Schwiegersohn, dem Dichter Ludwig Strauß (1892-1953), gewidmet, stellt er den Novemberpogromen von 1938 und den darauf folgenden Gräueln der Naziherrschaft die Gewissheit gegenüber: »Unser Wort ist geblieben.« Und in »Rachman, ein ferner Geist, spricht« gebraucht er das unangemessene Bild eines »Vögleins«, das sich in seine Obhut verirrt hat, als Metapher für die Situation des palästinensischen Judentums, um am Ende zu versichern: »Ich hege in zitternden Händen / Das zitternde Israel.« Die beiden Gedichte am Ende des neunten und letzten Abschnitts, die hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, stehen schon im Zeichen des Todes. Auf dessen Bedeutung für die menschliche Existenz geht auch der abschließende Prosatext des Buches ein, der »Nach dem Tod« überschrieben ist. 48 In »Zurseiten mir« stellt Buber unter Bezug auf Dürers Kupferstich »Melancholia« seine letzte Lebenszeit als von Melancholie überschattet dar. In ihm wird wie auch im zweiten Gedicht, »Der Fiedler«, der als allegorische Figur den Tod verkörpert, die Klage laut, den Sinn des Lebens verloren zu haben. Es ist »Des Geistes Klage, der – wann doch? Wie? – / Das Leben der Seele verlor.« In keinem anderen Text seines vielfältigen Oeuvres hat Buber eine so düstere Bilanz seines Lebens gezogen. Hier bewährt sich noch einmal das lyrische Gedicht als Ausdruck einer inneren Erfahrung, als »Zeugnis« der seelischen Antriebskräfte einer menschlichen Existenz. Buber selbst hat unter dem Titel »Wer redet?« in seinem Buch Zwiesprache von 1932 die Bedeutung des Corpus der gesammelten Gedichte eines Autors, wie es in diesem Bande zum ersten Mal für Buber vorgelegt wird, für die Einsicht in die Lebenswirklichkeit und den Charakter des Dichters herausgestellt. In »einem linkischen Vergleich«, mit 47. Jetzt in diesem Band, S. 260 f. 48. Martin Buber, Nach dem Tod. 1927. Antwort auf eine Rundfrage, in: Buber, Nachlese, S. 259.

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dem er verdeutlichen möchte, was unter der »Sprache« Gottes zu verstehen sei, stellt er den die Menschen ansprechenden Gott neben den seine Leser ansprechenden Dichter: »Wenn wir ein Gedicht wirklich aufnehmen, wissen wir von dem Dichter nur das, was wir daraus von ihm erfahren – keine biographische Weisheit taugt zur reinen Aufnahme des Aufzunehmenden: das Ich, das uns angeht, ist das Subjekt dieses einzigen Gedichts. Wenn wir aber in der gleichen getreuen Weise andre Gedichte dieses Dichters lesen, schließen sich ihre Subjekte doch in all ihrer Mannigfaltigkeit, einander ergänzend und bestätigend, zu dem einen polyphonen Dasein der Person zusammen.« 49

In diesem Sinne wird auch die Vielzahl der in diesem Band versammelten Gedichte eine Einsicht in das »polyphone Dasein« des Dichters Martin Buber ermöglichen. 2. Literaturkritik Buber hat auch immer wieder kritisch oder theoretisch zu Fragen der Dichtung und zu einzelnen Autoren Stellung genommen. Diese Texte sind eher Gelegenheitsarbeiten, die zur Klärung bestimmter sachlicher Fragen oder aus Anlass einer persönlichen Nähe zu anderen Schriftstellern entstanden sind. Das hat es mit sich gebracht, dass sie in der Martin Buber Werkausgabe (MBW) in mehreren Bänden verstreut veröffentlicht worden sind. Um einen zusammenhängenden Überblick über diese Texte zu ermöglichen, hier eine chronologische Liste aller in diesen Kontext gehörigen Äußerungen Bubers: 1. Zur Wiener Literatur (in polnischer Sprache 1897). Jetzt in deutscher Übersetzung in MBW 1, S. 119-129. 2. Zwei Bücher nordischer Frauen (1901). Jetzt in MBW 1, S. 161-167. 3. Die Abenteuer des kleinen Walther (1901). Jetzt in MBW 1, S. 169176. 4. Perez – Ein Wort zu seinem 25jährigen Schriftsteller-Jubiläum (1901). Jetzt in MBW 3, S. 55-56. 5. Aus dem Munde der Bibel (1901). Jetzt in MBW 3, S. 57-58. 6. Das Buch Joram (1907). Jetzt in diesem Band, S. 212. 7. Helden (1914). Jetzt in MBW 1, S. 257-261. 49. Martin Buber, Zwiesprache. Traktat vom dialogischen Leben, Heidelberg: Lambert Schneider 3. Aufl. 1978. S. 34.

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8. Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind (1914). Jetzt in MBW 1, S. 279-280. 9. Jizchak Leib Perez (1915). Jetzt in MBW 3, S. 59-61. 10. Über Agnon (1916). Jetzt in MBW 3, S. 62. 11. Von jüdischen Dichtern und Erzählern. Zwei Bruchstücke aus einem Vortrag über Perez (1916). Jetzt in MBW 3, S. 63-65. 12. Ein Dankeswort an Alfons Paquet (1916). Jetzt in MBW 1, S. 289. 13. Vorbemerkung über Franz Werfel (1917). Jetzt in diesem Band, S. 213-216. 14. Alfred Mombert (1922). Jetzt in diesem Band, S. 217-222. 15. Der Dichter und die Nation. Zu Bialiks 50. Geburtstag (1922). Jetzt in MBW 3, S. 66. 16. Ein Wort über Franz Kafka. Aus zwei Briefen an Max Brod (1926). Jetzt in diesem Band, S. 224. 17. [Über Stefan George] (1928). Jetzt in diesem Band, S. 223 18. Der Erzähler (1938). Jetzt in diesem Band, S. 225-228. 19. Zum Ruhm des Publizisten (1941). Jetzt in diesem Band, S. 229. 20. Für Agnon (1948). Jetzt in diesem Band, S. 230. 21. Der Galilei Roman (1949). Jetzt in diesem Band, S. 231-232. 22. Das Reinmenschliche (1949). Jetzt in diesem Band, S. 233-238. 23. »Seit ein Gespräch wir sind.« Bemerkungen zu einem Vers Hölderlins (MBB 1150) 50 . Jetzt in MBW 6, S. 83-85. 24. [Drei Erinnerungen] (1953). Jetzt in diesem Band, S. 239-249. 25. Geleitwort zu Ludwig Strauss »Wintersaat, ein Buch aus Sätzen« (1953). Jetzt in MBW 6, S. 87. 26. Schuld und Schuldgefühle. [Über Dostojewskijs »Die Dämonen« und Franz Kafkas »Der Prozeß«.] (1957). Jetzt in MBW 10, S. 127152. 27. Hermann Hesses Dienst am Geist (1957). Jetzt in diesem Band, S. 250-257. 28. Der Erzähler in unserer Zeit (1958). Jetzt in diesem Band, S. 258259. 29. Vorwort [zu Georg Munk, d. i. Paula Buber: »Geister und Menschen«] (1961). Jetzt in diesem Band, S. 260 f. 30. Geleitwort [zu Richard Beer-Hofmann] (1962). Jetzt in diesem Band, S. 262 31. Authentische Zweisprachigkeit (1963). Jetzt in MBW 6, S. 89-92. 50. Am 18. Oktober 1952 in einer Mappe mit handschriftlichen Glückwünschen an Ludwig Strauß übergeben. Erstdruck in: Hölderlin Jahrbuch 11 (1958-1960), Tübingen 1960, S. 210 f. Dann in: Buber, Nachlese, S. 71 f., mit der Widmung: »Ludwig Strauss zum Gedächtnis«.

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Auffällig an dieser Liste ist, dass sie bis 1916 vorwiegend osteuropäische Autoren der damals entstehenden jiddischen und neuhebräischen Literatur enthält, für die Buber sich im Rahmen seiner kulturzionistischen Bestrebungen interessierte. Später besprach er vornehmlich zeitgenössische deutschsprachige Autoren mit jüdischem kulturellen Hintergrund, so Franz Kafka (1883-1924), Max Brod (1884-1968), Alfred Mombert (1872-1942), Richard Beer-Hofmann (1866-1945) und Ludwig Strauß. Über diesen zu erwartenden Horizont ragen die Besprechungen von vier Autoren hinaus, die mehr sind als bloßes Neben- und Beiwerk, vielmehr in die Mitte von Bubers Geisteswelt führen. Die beiden Texte zu Goethe (1749-1832) und Hölderlin (1770-1843) behandeln kanonische Autoren der Vergangenheit, die für Bubers eigene geistige Entwicklung von besonderer Bedeutung waren. In der Interpretation der beiden jüngeren Erzähler, Agnon (1888-1970) und Hesse, die ihm auch menschlich nahe gestanden haben, gibt er zentrale Inhalte seines eigenen Denkens preis. In dem Vortrag »Das Reinmenschliche«, den er 1949 für das GoetheSymposion in Aspen (Colorado) ausgearbeitet und im selben Jahr in der Neuen Schweizer Rundschau veröffentlicht hat, interpretiert er Goethe in seiner Auseinandersetzung mit dem Christus – Fanatiker Lavater (1741-1801) als Vertreter des reinen Humanum. Dabei projiziert er in die Deutung einer Passage aus dem Werther die damals modische existenzialistische Terminologie hinein, wenn er in dem Roman des 18. Jahrhunderts die »Geworfenheit« des Menschen ausgedrückt finden will. Noch deutlicher wird die Subjektivität seiner Analyse darin, dass er behauptet, Goethe sei es darum gegangen zu ergründen, wie der Mensch »als der Mensch zum Sein […] zum göttlichen Sein« sich verhalte. Dabei verdeckt der von ihm gewählte Terminus »göttliches Sein« den Zwiespalt, der zwischen Goethes Auffassung vom Göttlichen als der allumfassenden Natur und seiner eigenen herrscht, die in Gott den Anderen sieht, dessen Wahrheit der Mensch in der Begegnung erfährt. Indem Buber über Goethe spricht, spricht er so vor allem über sich selbst und seine eigene Geisteswelt, wobei dieser Umstand ihm durchaus bewusst ist, wenn er notiert, dass die Begrifflichkeit, in der er Goethes Leben und Denken beschreibt, »nicht von Goethe selbst, sondern von mir als seinem Interpreten« stamme. 51 In dem Text »Seit ein Gespräch wir sind« findet Buber die Essenz seines dialogischen Denkens, wie schon der aus der Schlusssequenz der »Friedensfeier« stammende Titel andeutet, in der Lyrik Hölderlins wieder. Der Text ist zunächst für einen bestimmten Adressaten konzipiert, 51. In diesem Band, S. 235.

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für seinen Schwiegersohn Ludwig Strauß, der sich in seiner Aachener Habilitationsschrift mit dem Problem der Gemeinschaft bei Hölderlin befasst hatte. Daher der intime, ja geradezu esoterische Gestus dieses Textes. In der Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Hölderlindeutung montiert Buber aus Zitaten der späten Hymnen Hölderlins einen gegenstrebigen Text, der am Schluss in eigenen Worten sein Eigenstes ausspricht: »Erst wenn die, deren Gespräch wir sind, uns singen, sind Wir.« Hier verdichtet sich Bubers Philosophie des Dialogischen in einem Satz, der in seiner dichterischen Verknappung zugleich auf den sonst vielfach unausgesprochen bleibenden messianischen Fluchtpunkt seines Denkens verweist. Der kurze Text, »Der Erzähler in unserer Zeit«, in dem Buber Josef Agnon als Chronisten des Ostjudentums und des neuen Israel zugleich würdigt, sticht schon durch seinen scheinbar sachlichen Ton von der Charakterisierung ab, die er ihm vierzig Jahre zuvor gewidmet hatte. Während er ihn dort zu den »Wenigen« zählt, »die die Weihe zu den Dingen des jüdischen Lebens haben«, 52 nennt er ihn hier einen »wahren Erzähler« und setzt ihn damit von den »Romanautoren« ab. Diese Gegenüberstellung, die sich in ähnlicher Form auch in Walter Benjamins (1892-1940) Aufsatz »Der Erzähler« von 1936 findet, spricht dem Erzähler die Fähigkeit zu, auch noch »das in Verlegenheit geratene und sich allerorten auflösende Leben« der Moderne durch »eine Art konkretes Erleben«, das heißt, durch Einbeziehung der eigenen autobiographischen Erfahrung zu beruhigen und damit »die Existenz jener in allem Tun bestehenden inneren, gut eingerichteten […] Ordnung« zu bezeugen. 53 So verbergen sich auch hier unter den literaturwissenschaftlichen Kategorien, mit denen Buber argumentiert, die eigenen metaphysischen Grundüberzeugungen. Die Würdigung Hermann Hesses schließlich, im Untertitel als »Ansprache« bei der Hesse-Feier aus Anlass von dessen achtzigstem Geburtstag im Jahr 1957 ausgewiesen, befasst sich – wie der Text über Agnon – mit einem Schriftsteller, mit dem Buber in lebenslanger Freundschaft verbunden war. Im Durchgang durch Hesses Werke demonstriert Buber, wie in ihnen das Leben des Geistes sich immer deutlicher manifestiert habe, bis schließlich im Glasperlenspiel »das Beisichsein, die Selbsteinkehr des Geistes« Ereignis geworden sei. Auch hier lässt sich nicht wirklich entscheiden, was mit »Geist« eigentlich gemeint sei. Ist es der Weltgeist Hegels? Verbirgt sich hinter diesem Begriff »Gott«, der in einem 52. MBW 3, S. 62. 53. In diesem Band, S. 258.

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säkularen Kontext nicht genannt werden soll? Wie dem auch sei, Buber dekretiert jedenfalls, dass der Geist »einem wunderlichen Naturwesen, Mensch genannt, auf dessen Wegen ihm erschienen und zu ihm […] eingegangen« sei. Der Text endet mit einer pathetischen Anrede an den Freund: »Die Diener des Geistes in aller Welt rufen dir mitsammen einen großen Gruß der Liebe zu. Überall, wo man dem Geiste dient, wirst du geliebt.« 54 Hesse hat auf diese Rede in seinen Briefen an Buber mit Zustimmung und Freude geantwortet. »Und wie sehr mich […] Ihre Wärme und Freundschaft bewegt und erfreut hat, brauche ich kaum zu sagen«, schreibt er im November 1957 aus Montagnola. 55 Acht Jahre zuvor, in einem Brief vom 2. 3. 1949, hatte Hesse, der Nobelpreisträger von 1948, Martin Buber, den »große[n] Lehrer und Führer der geistigen Elite unter den Juden« für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen. Neun Jahre später wiederholte er diesen Vorschlag an die Schwedische Akademie noch einmal. 56 1949 begründete er seine Nominierung mit der bedeutenden Stellung Bubers in der Weltliteratur: »Als Übersetzer der Bibel, als Wiederentdecker und Verdeutscher der chassidischen Weisheit, als gelehrter, als großer Schriftsteller, und schließlich als Weiser, als Lehrer und Repräsentant einer hohen Ethik und Humanität ist er […] eine der führenden und wertvollsten Persönlichkeiten im heutigen Schrifttum der Welt.« 57

Diese umfassende Würdigung galt einem Mann, der im selben Jahr mit den Erzählungen der Chassidim, wie Hesse meinte, ein »Buch der Weltliteratur« geschaffen hatte. 58 Sie trifft auf das genaueste die Bedeutung und den Stellenwert von Bubers insgesamt vielfach literarisch ausgerichtetem Werk. 3. Autobiographische Schriften Das Werk Martin Bubers, dem die höchste literarische Qualität zuzusprechen ist, sind seine unter dem Titel Begegnung 1960 erschienenen »autobiographischen Fragmente«. Buber hat schon relativ früh in seinem Leben Texte autobiographischen Inhalts nicht nur geschrieben, sondern auch publiziert. Als solchen hat er selbst den »Vorspruch« in 54. 55. 56. 57. 58.

In diesem Band, S. 257. B III, S. 443; vgl. auch ebd., S. 451. Ebd., S. 451. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226.

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seinem Buch Daniel von 1913 identifiziert, 59 indem er ihn unter der Überschrift »Der Stab und der Baum« in sein spätes Erinnerungsbuch aufgenommen hat. 60 Schon dieser Text, der über ein unscheinbares Ereignis auf einer Bergwanderung berichtet, ist typisch für Bubers individuelle Gedächtnisprosa. In ihr wird ein alltägliches Erlebnis zu einer Metapher für die »Begegnung« des erzählenden Ich mit einem Anderen, hier mit einer Esche, wobei diese »Begegnung« als »Berührung des Wesens«, des eigenen mit dem des anderen, erfahrbar gemacht werden soll. In ähnlicher Weise kann man auch eine Episode aus dem Abschnitt »Von dem Sinn. Gespräch im Garten« im Buch Daniel (1913) lesen, die Buber aber – aus guten Gründen – nicht in Begegnung aufgenommen hat. In ihr berichtet er von der existentiellen Verunsicherung, die er an »einem Abend in Spezia« während einer Fahrt im Ruderboot auf dem Meer erlebte. Die Angst vor dem »Nichts«, vor dem »Abgrund« in ihm selber, die der heraufziehende Sturm dem in seiner Nussschale der Unendlichkeit preisgegebenen Menschen einflößt, lässt ihn im buchstäblichen Sinn seine Ausgesetztheit erfahren. »Seither ist der Abgrund vor mir zu aller Zeit. Der namenlose, den alle namhaften kundgeben.« 61 Mit diesem negativen Resümee endet der Bericht. Er ist der negative Gegenpol zu »Der Stab und der Baum«, weshalb er nicht in Begegnung aufgenommen werden konnte, das – bis auf eine Ausnahme – nur von positiven Begegnungen zu berichten weiß. Noch einmal hat Buber eine Tagebuchnotiz aus dem Sommerurlaub an der norditalienischen Küste zum Gegenstand einer autobiographischen Veröffentlichung gemacht. Unter dem Titel »Pescara, an einem Augustmorgen« publizierte er in der Zeitschrift Zeit-Echo. Ein KriegsTagebuch der Künstler (1, [1914], Heft 3 vom September 1914) die Eindrücke und Gedanken, die ihn überkamen, als er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs nächtliche »Kanonenschüsse vom Meer her« vernahm. In einer ersten und unmittelbaren Reaktion deutet er sie als Vorboten der drohenden »Vernichtung, und – Reinigung des Geistes«. 62 Die positive Sicht auf den Krieg, die sich in dieser spontanen Äußerung manifestiert, wird noch durch die undifferenzierte Begeisterung überboten, die sich in dem wenige Monate später in der gleichen Zeitschrift publizierten Gedicht »Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch« äu-

59. Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel Verlag 1913, S.[5]. (Jetzt in MBW 1, S. 183.) 60. In diesem Band, S. 293. 61. Daniel, S. 65 (Jetzt in MBW 1, S. 208.) 62. Jetzt in MBW 1, S. 277.

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ßert. Nun »Ist der Krieg tief drin in jedem Volke, / Eingeboren jedem echten Stamme.« 63 Anfang 1918, also im Alter von vierzig Jahren, hat Buber dann eine kleine Broschüre mit dem Titel Mein Weg zum Chassidismus veröffentlicht, deren Untertitel »Erinnerungen« sie als erste eigenständige autobiographische Schrift ausweist. 64 Aus ihr entnimmt er unter dem Titel »Der Zaddik« eine Kindheitserinnerung, in der er seine Sommeraufenthalte auf dem väterlichen Gut in Galizien in der Nähe der Stadt Sadagora schildert. Dort habe er die chassidischen Rabbis als Verkörperung des »vollkommenen Menschen« erkannt. In Mein Weg zum Chassidismus wird dieses Bild aus der Kindheit in seiner Bedeutung für die eigene Existenz erst durch die Lektüre des Zewaat Ribesch, des »Testaments des Rabbi Israel Baal – Schem«, erhellt. Durch dieses Buch sei ihm eine mystische Erleuchtung zuteil geworden: »Da war es, daß ich, im Nu überwältigt, die chassidische Seele erfuhr. Urjüdisches ging mir auf, im Dunkel des Exils zu neu bewußter Äußerung aufgeblüht: die Gottes – Ebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefaßt.« 65 Ganz anders in Begegnung. An Stelle dieses pathetischen Bekenntnisses wird hier im Anschluss an das Bild aus der Kindheit ein alltägliches Erlebnis des Erwachsenen aus dem »Jahr 1910 oder 1911« erzählt. Wieder in Sadagora habe ihn »ein gutgewachsener, bürgerlich blickender Jude in mittleren Jahren« in ein Gespräch verwickelt. Auch wenn er selbst in dieser Situation versagt habe, weil er dem Fragenden die erwünschte Auskunft nicht geben konnte, habe er »dennoch den wahren Zaddik, den nach Offenbarendem Befragten und Offenbarendes Entgegnenden von innen – damals zum erstenmal« erlebt. Dieses innere Erlebnis fasst er im letzten Satz in dem Begriff »Verantwortung« zusammen. So zu verfahren, scheint typisch für die Struktur der kurzen Vignetten, aus denen sich das Buch Begegnung zusammensetzt. Wie schon in dem an eine Bergwanderung erinnernden Text Der Stamm und der Baum, in dem die Beziehung zwischen Mensch und Baum zum Anlass einer Meditation über das Vermögen der Sprache wird, so erzählt Buber auch hier ein alltägliches Ereignis so, dass es zur Metapher für die zentrale philosophische Erfahrung des Autors wird, die ihm das Wesen der »Ich – Du – Beziehung« aufschließt. 63. Jetzt in diesem Band, S. 93; auch in MBW 1, S. 287. 64. Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1918; jetzt in MBW 17. 65. Ebd. S. 19

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In diesem Sinne hat Buber selbst die Intention seiner autobiographischen Fragmente zu Beginn seines Buches interpretiert: »Es geht hier nicht darum, von meinem persönlichen Leben zu erzählen, sondern einzig darum, von etlichen in meiner Rückschau auftauchenden Momenten Bericht zu erstatten, die auf Art und Richtung meines Denkens bestimmenden Einfluß ausgeübt haben.« 66 Das ist zwar richtig, aber es verschweigt den eigentlichen Kern des Erzählten. Immer geht es nämlich um »Begegnungen«, oder, wie Albrecht Goes (1908-2000) im Nachwort zur dritten Auflage des Buches formuliert, um »einfache Konstellationen menschlichen Zusammenseins«. 67 So berichtet Buber vom Leben mit den Großeltern (»Die Großmutter«), mit dem Vater, mit Mitschülern (»Die Schule«, »Die zwei Knaben«), von seiner Auseinandersetzung mit Theodor Herzl (»Sache und Persson«), von seinen Gesprächen mit dem anglikanischen Pastor Henry Hechler (»Frage und Antwort«), mit einem jungen Arbeiter und dem »edlen alten Denker« Paul Natorp (1854-1924) (»Bericht von zwei Gesprächen«), schließlich mit einem »gesetzestreue[n] Juden« (»Samuel und Agag«). Immer intensiver geht es in diesen letzten Berichten um die Beziehung des Menschen zu Gott. Alle Texte dieser Kurzprosa aber – auch die, in denen die Begegnung mit philosophischen Werken der Vergangenheit (»Philosophen«), mit Tieren (»Das Pferd«) oder Pflanzen (»Der Stab und der Baum«) berichtet wird, sind »echte Erzählungen« in dem Sinne, wie Buber diese Gattung in einem Brief an Maurice Friedman vom 4. 8. 1950 definiert: »Echte Erzählung bedeutet Zusammenhang von Begebenheiten zwischen voll wahrnehmbaren Personen.« 68 In jeder von ihnen wird die Begegnung eines »Ich« mit einem »Du« im Sinne der Buberschen Dialogphilosophie erzählt. Dabei ist alles nur Private von vornherein ausgeschlossen. Stattdessen werden die einzelnen Ereignisse überhöht auf ein Allgemeines hin, das »Geist« heißt oder – gegen Ende hin – immer häufiger »Gott«. Als Erzählungen von wechselnden Begegnungen kreisen sie zugleich alle um ein geheimes Zentrum, das Buber schon 1923 in Ich und Du definiert hatte: »Der Mensch wird am Du zum Ich. Gegenüber kommt und entschwindet, Beziehungsereignisse verdichten sich und zerstieben, und im Wechsel klärt sich, von Mal zu Mal wachsend, das Bewußtsein des gleichbleibenden Partners, das Ichbewußtsein.« 69 Was hier theo66. In diesem Band, S. 274. 67. Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente. Mit einem Nachwort von Albrecht Goes, Heidelberg: Lambert Schneider, Neuausgabe: 3. verb. Aufl. 1978. S. 97. 68. B III, S. 258. 69. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig: Insel Verlag 1923, S. 36 f.

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retisch beschrieben wird, führt Buber in Begegnung dem Leser am Beispiel des eigenen Lebens vor Augen: das Heranwachsen des eigenen Ich in den wechselnden Begegnungen mit dem Anderen. Insofern ist das Buch Autobiographie im eigentlichen Wortsinn. In diesem schmalen, aus Fragmenten zusammengesetzten Werk ist dem Leser der ganze Mensch, der Buber war, gegeben. Die einzige Ausnahme, auf die zuvor schon hingewiesen wurde, stellt der erste Text »Die Mutter« dar. In ihm berichtet Buber, wie das »Heim« seiner Kindheit in Wien durch die »Trennung« der Eltern »zusammengebrochen« war und er im Alter von drei Jahren zu seinen Großeltern väterlicherseits nach Lemberg gegeben wurde. Seine Mutter sollte er erst dreißig Jahre später wieder sehen. Buber hat diesen Verlust der Mutter als »das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen« und als gravierenden Einschnitt in seinem Leben empfunden und sich dafür, wie er in Begegnung schreibt, zehn Jahre nach der Trennung »das Wort ›Vergegnung‹ zurechtgemacht«. 70 Damit bezeichnet er das Urerlebnis, als dessen Wiedergutmachung seine stetige Suche nach menschlicher »Begegnung« sich erweist. Buber hat diesen Zusammenhang in einem Brief an seine Frau Paula vom 25. Oktober 1901, also wiederum zehn Jahre später, selbst hergestellt: »Deine Briefe sind das Allereinzigste [das mir Kraft gibt]. Außer ihnen vielleicht noch der Gedanke, daß eine Mutter in Dir ist, der Glaube daran. Jetzt weiß ich es: ich habe immer und immer meine Mutter gesucht.« 71 Ohne allzu sehr zu psychologisieren, wird man hier den Ursprung von Bubers Philosophie des Dialogs ausmachen können. Bubers »autobiographische Fragmente« wurden von den Freunden, an die er Belegexemplare verschickt hatte, begeistert aufgenommen. Der protestantische Pfarrer Albrecht Goes berichtet in seinem Brief vom Dezember 1960, er habe das Buch drei Mal hintereinander gelesen. Es sei »ein Geschenk besonderer Art«, das in der bedrückenden politischen Atmosphäre des Jahres 1960, in dem über die atomare Wiederbewaffnung der Bundesrepublik diskutiert wurde, ihm neuen Mut zugesprochen habe. 72 Ähnlich enthusiastisch äußert sich Hermann Hesse: »Mit wie gro70. Zehn Jahre später berichtet Buber denselben Vorfall fast gleich lautend in einem Interview: »I wanted to see my mother. And the impossibility of this gave me an infinite sense of deprivation and loss. Do you understand? Something had broken down. When I was thirteen I even coined a private word for it, which had this meaning, a meeting-that-had-gone-wrong.« In: Aubrey Hodes, Martin Buber. An Intimate Portrait, New York 1971, S. 43. Ich danke Paul Mendes-Flohr für diesen Hinweis. 71. B I, S. 169. 72. B III, S. 513 f.

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ßer Teilnahme, Freude und Bewegung ich Ihr Buch ›Begegnung‹ gelesen und wieder gelesen habe, können Sie sich wohl denken.« 73 Einige Monate später kommt Goes noch einmal auf seine Lektüre mit der feinsinnigen Bemerkung zurück, ihm sei »zum Bewußtsein gekommen, wie wesentlich ein Buch von all dem lebt, was nicht ausgesprochen ist«. 74 Nach Bubers Tod hat er zur Neuausgabe des Buches 1978 ein lesenswertes Nachwort beigesteuert, in dem er dem Buch ein »reines Deutsch« attestiert: »eine Hebel’sche Einfalt, Anschaulichkeit, Erzählerfreude regiert. Hinzutritt ein Stück der österreichischen Grazie, eine zuweilen schon hofmannsthal’sche Anmut, und auch das heimliche Lachen der Chassidim ist nicht fern.« 75 Bernd Witte

73. B III, S. 520. 74. Ebd. 75. Buber, Begegnung, wie Anm. 66, S. 99.

Buber und das Theater Die Kunst und insbesondere das Theater stellen zweifelsohne eine wichtige Quelle der Inspiration für Bubers philosophisches und religiöses Denken dar. Er war tiefgreifend an allen künstlerischen Ausdrucksformen interessiert, aber da er nicht die Literatur oder das Theater zu seinem Beruf machte oder den Beruf eines Literatur-, Theater- oder Kunstkritikers anstrebte, sind seine Schriften auf diesem Gebiet unsystematisch geblieben. Sie enthalten Texte, die für besondere Gelegenheiten wie dem Geburtstag oder dem Tod eines Schriftstellers oder Malers geschrieben wurden. Bei anderen handelt es sich um Gelegenheitsarbeiten, angestoßen durch künstlerische Ereignisse, bei denen Buber zugegen war, oder durch das Erscheinen eines neuen Buches. Viele seiner Aufsätze zeigen dennoch eine klare kulturelle Agenda, die seinen eigenen Standpunkt wiederspiegelt, insbesondere was die Jüdische Renaissance und den Zionismus betrifft. Einige seiner Essays über das Theater entstanden im Zusammenhang mit Theateraufführungen, an denen er in der einen oder anderen Form aktiv beteiligt war. Daneben veröffentlichte er auch Artikel, die sich mit allgemeineren ästhetischen und kulturellen Fragestellungen befassten. So beschäftigt sich schon Bubers erste Veröffentlichung aus dem Jahr 1897, verfasst auf Polnisch, mit drei Schriftstellern, nämlich Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), Arthur Schnitzler (1862-1931) und Peter Altenberg (1859-1919). 1 Buber veröffentlichte auch ein abendfüllendes Theaterstück und arbeitete an Entwürfen für verschiedene dramatische Texte. Unter den Kunstformen war das Schauspiel für Buber von früher Kindheit an von einer besonders starken emotionalen Bedeutung. Als er drei Jahre alt war, verließ ihn seine Mutter, 2 die eine Schauspielerin war, und er sah sie erst nach mehr als zwanzig Jahren wieder. Sehr viel später in seinem Leben, in einem Text mit dem Titel Begegnung. Autobiographische Fragmente, der im vorliegenden Band vollständig zum Abdruck kommt, reflektiert Buber seine Bemühungen, diesen Verlust zu bewältigen: Später einmal habe ich mir das Wort »Vergegnung« zurechtgemacht, womit etwa das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war. Als ich nach weiteren zwanzig Jahren meine Mutter wiedersah, die aus der Ferne mich, 1. 2.

Martin Buber, Zur Wiener Literatur, deutscher Erstdruck in MBW 1, S. 119-129. Elise geb. Wurgast wurde 1858 in Odessa geboren, war also 20 Jahre alt, als sie Buber zur Welt brachte.

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meine Frau und meine Kinder besuchen gekommen war, konnte ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort »Vergegnung«, als ein zu mir gesprochenes Wort, zu vernehmen. 3

Zu diesem Zeitpunkt hatten sicherlich bereits Bubers eigene Erfahrungen mit Theateraufführungen die Leere gefüllt, die durch die Abwesenheit der Mutter entstanden war. Zusammen mit diesem entscheidenden, wenngleich indirekten Einfluss des Theaters wurde Bubers frühe intellektuelle Entwicklung in starkem Maß von seinen Erfahrungen mit dem Theater bestimmt. Im Alter von 18 Jahren kehrte Buber 1896 an seinen Geburtsort Wien zurück, um Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik an der dortigen Universität zu studieren. In den Autobiographischen Fragmenten erinnert sich Buber an die Bedeutung, die dem gemeinsamen Lesen von Texten vor dem Hintergrund eines Seminars zukommt, und wie seine Erfahrungen mit Theateraufführungen zu einer nahezu mystischen Verwirklichung einer solchen Gemeinschaft wurden, die aus Bildung und gegenseitiger Inspiration entsteht: Was aber am stärksten auf mich wirkte, war das Burgtheater, in das ich mich oft, zuweilen Tag um Tag, nach mehrstündigem »Anstellen« drei Treppen hoch stürzte, um einen Platz auf der obersten Galerie zu erbeuten. Wenn dann tief unten vor mir der Vorhang aufging und ich in die Ereignisse des dramatischen Agon als, wie spielhaft auch, dennoch jetzt und hier sich begebend blicken durfte, war es doch das Wort, das »richtig« gesprochene Menschenwort, was ich recht eigentlich in mich aufnahm. Die Sprache – hier erst, in dieser Welt der Fiktion aus Fiktion, gewann sie ihre Adäquatheit; gesteigert erschien sie wohl, aber zu sich selber. So war es jedoch nur so lange, bis etwa – was immerhin mitunter geschah – einer für ein Weilchen ins Rezitieren, ein »edles« Rezitieren, geriet; da zerbrach mir, mit der echten Gesprochenheit der Sprache, der dialogischen oder auch monologischen (sofern der Monolog eben ein Anreden der eigenen Person als eines Mitmenschen und keine Rezitation war), diese ganze, aus Überraschung und Gesetz geheimnisvoll gebaute Welt, – bis sie nach Augenblicken, mit der Wiederkehr des Gegenüber, neu erstand. 4

Als Buber diese Erinnerungen seiner Jugendjahre zu Papier brachte – sich auf den Punkt konzentrierend, an dem der Vorhang sich hebt und das Wort von der Bühne weit unten gehört werden konnte –, hatte er bereits seine zentralen Ideen, mit denen er wohl am längsten im kulturellen Gedächtnis bleiben wird, formuliert. Das dialogische Prinzip, das 3. 4.

Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1960, S. 6; jetzt in diesem Band, S. 275. Ebd., S. 20 f.; jetzt in diesem Band, S. 285.

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er in Ich und Du (1923) formuliert, beschreibt die Wirklichkeit als ein Sprachereignis zwischen Einzelmenschen, wobei Buber sich bewusst ist, wie selten und zerbrechlich diese Momente der Begegnung sind. Das kulturelle Leben Wiens hinterließ bei Buber einen tiefen Eindruck. Während seiner Wiener Jahre veröffentlichte er mehr als ein Dutzend Gedichte mit überwiegend jüdischen Themen und ein poetisches Werk mit dem Titel »Der Dämon«, welches er als »Aus einem Drama« bezeichnete (vgl. in diesem Band, S. 314-316). Er veröffentlichte auch das Gedicht »Ein Purim-Prolog«, sowie zwei Gedichte, die den Propheten Elija zum Thema hatten. 5 Diese Gestalt sollte die Hauptfigur des einzigen abendfüllenden Stücks werden, das Buber 1955 vollendete und 1963 veröffentlichte. In diesen frühen Jahren, genauer schon 1901, veröffentlichte Buber in Die Welt einen kurzen Artikel mit der Überschrift »Eine jungjüdische Bühne«, der sich mit Fragen der Organisation und Infrastruktur eines solchen möglichen Projekts beschäftigt. Er argumentiert, dass die Bedingungen zur Schaffung eines ständigen jüdischen Theaters noch nicht reif seien. Einer der Gründe, die er hierfür anführt, ist das fehlende Repertoire für ein solches Unterfangen. Erst 1914, also mehr als ein Jahrzehnt nach Erscheinen dieses Artikels, kam Nahum Zemach (1887/ 1890-1939) mit einer Schauspielergruppe zum Zionistenkongress nach Wien, um den Delegierten eine Demonstration in verwirklichtem Kulturzionismus zu bieten. Jedoch fand selbst diese Aufführung wenig Widerhall. Nach dem Kongress löste sich die Schauspielergruppe auf. Erst 1917 gelang es Zemach, in Moskau das Habima Theater zu gründen. Die Zeit für ein derartiges Vorhaben war sicherlich noch nicht reif, als Bubers Artikel 1901 erschien. Aber auch fast 30 Jahre später, als Buber gemeinsam mit Größen wie Chaim Nachman Bialik (1873-1934), Arnold Zweig (1887-1968), Alfred Döblin (1878-1957) und Nachum Goldmann (1895-1982) mit dem Habima Theaterkollektiv, das zu dieser Zeit in Berlin lebte und arbeitete, zusammenkam, beklagte Buber das Fehlen von Dramen, die auf Hebräisch geschrieben worden seien, also der Sprache, in der das Habima Theater seit seiner Gründung auftrat. In einem Artikel mit dem Titel »Greif nach der Welt, Habimah!«, der im selben Jahr in der Jüdischen Rundschau erschien, konstatiert Buber: Daß wir Juden eine ursprüngliche Begabung zum Theater – also zur unmittelbaren leiblichen Darstellung eines Vorgestellten – haben, ist unverkennbar, obgleich wir aus der biblischen Antike nur vom improvisierten Dialog, nicht von der Pantomi-

5.

Alle hier erwähnten Gedichte sind aufgenommen in den vorliegenden Band, siehe in diesem Band, S. 76, 91 u. 92.

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me wissen […] Daß wir keine ursprüngliche Begabung zum Drama haben, ist wohl ebenso sicher. 6

Buber selbst hatte versucht, etwas gegen das fehlende Repertoire zu unternehmen, indem er eine Übersetzung aus dem Jiddischen von David Pinskis Eisik Scheftel. Ein jüdisches Arbeiterdrama anfertigte und, versehen mit einer kurzen Einleitung, im Jüdischen Verlag, den er zusammen mit Berthold Feiwel 1902 gegründet hatte, veröffentlichte 7 . Fast alles, was Buber über das Theater schrieb, kann retrospektiv als eine Art Vorbereitung für die Entwicklung seines dialogischen Denkens interpretiert werden. So argumentiert bereits Maurice Friedman in seinem Buch Martin Buber and the Theater 8 und sieht in Bubers ausgeprägtem Interesse an Drama und Schauspiel sein späteres religiöses, ethisches und metaphysisches Denken vorgeformt. Das Theater war für Buber zweifelsohne eines der seinem philosophischen Denken zugrunde liegenden strukturellen Muster, aber es wurde für ihn nie die allumfassende Metapher, wie es später bei dem Soziologen Erving Goffman (1922-1982) und dem Anthropologen Victor Turner (1920-1983) der Fall ist. Im Denken von Goffman und Turner werden das Theater und die Rituale des Alltagslebens oder auch Handlungen, die sich in den verschiedenen sozialen Kontexten abspielen, zu einem neuen, allumfassenden Denkmodell, von dem aus die beiden Wissenschaftler die sie interessierenden Aspekte der Welt untersuchen konnten. Bubers zentraler Ausgangspunkt hingegen war religiöser Natur: von einer übernatürlichen Ordnung auszugehen, in der das Theater einen Aspekt einer solchen metaphysischen überweltlichen Ordnung, aber nicht die Grundlage darstellt. Mit 27 Jahren ging Buber nach Florenz, um Die Geschichten des Rabbi Nachman und Die Legende des Baal-Schem zu schreiben, die Bücher, die zu seinem späteren Ruf als weltberühmter jüdischer Denker beitrugen. Während dieses Aufenthalts schrieb er 1905 und 1906 seine ersten theo6.

7. 8.

Martin Buber, Greif nach der Welt, Habimah!, in: Jüdische Rundschau, 34. Jg., Nr. 97, 10. 12. 1929, S. 653; jetzt in diesem Band, S. 441-443. Weiteres zu Bubers Beziehung zum Habima Theater findet sich im Kommentar zu diesem Text, in diesem Band, S. 773-775. Eisik Scheftel. Ein jüdisches Arbeiterdrama in drei Akten von David Pinski. Autorisierte Übertragung aus dem jüdischen Manuskript von Martin Buber, Berlin: Jüdischer Verlag 1905; jetzt in diesem Band, S. 317-369. Martin Buber and the Theater, edited and translated with three introductory essays by Maurice Friedman, New York: Funk and Wagnalls 1969. Kürzlich erschien eine Monografie, die der Frage nachgeht, inwieweit Bubers dialogische Philosophie ihre Wurzeln in seinem Verständnis von Kunst und insbesondere von Theater hat. Vgl. Marcella Scopelliti, L’attore di fuoco. Martin Buber e il teatro, Torino 2015.

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retischen Texte zum Theater und insbesondere zur Schauspielkunst, an denen man erkennen kann, wie sich Bubers Auseinandersetzung mit dem Theater emotional und intellektuell entwickelte. In diesen Artikeln – »Die Duse in Florenz« und »Drei Rollen Novellis« – fasst Buber seine Eindrücke von der Arbeit zweier italienischer Schauspieler zusammen, der berühmten Eleonora Duse (1858-1924) und des Ermete Novelli (1851-1919), die damals in Florenz auftraten. Ein weiteres wichtiges Dokument für Bubers Auseinandersetzung mit dem Theater bildet der vierte Dialog »Von der Polarität. Gespräch nach dem Theater« des 1913 erschienen Daniel. 9 Dieser Text Bubers wird oftmals als ein Werk betrachtet, welches zu einer Übergangsphase gehört, die schließlich in den Existenzialismus von Ich und Du (1923) mündet. Wie viele seiner anderen Schriften ist Daniel in Dialogform geschrieben. »Von der Polarität. Gespräch nach dem Theater« entwickelt einige der Themen weiter, die Buber bereits in »Drei Rollen Novellis« angeschnitten hatte. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen dem einzelnen Darsteller und dem Ensemble, wobei anzunehmen ist, dass Bubers Eindrücke aus seiner Zeit in Hellerau 10 miteingeflossen sind. Der erwähnte Abschnitt aus Daniel über das Theater belegt Nietzsches großen Einfluss auf Bubers Denken und Stil zu dieser Zeit, so dass der Text auch »Die Geburt des Theater aus dem Geist der Metaphysik« hätte betitelt werden können. Schon die zeitgenössischen Leser kritisierten an dieser Schrift, dass die metaphysischen Formulierungen und die eingewobene Mystik, die sich bis zu Momenten konkreter Gottesschau steigert, Bubers Fähigkeit beeinträchtigt hätten, detaillierte Beobachtungen über das, was wirklich auf der Bühne passiert, anzustellen, ein Zug, der seine früheren Essays zu diesem Thema ausgezeichnet hatte. Gerade diese Kritik macht deutlich, dass Bubers Sicht des Theaters hier im Wandel begriffen ist, und lässt eine nähere Untersuchung der Hauptideen des Textes als lohnend erscheinen. Daniel, der führende Sprecher, unterhält sich mit Leonard, nachdem sie miteinander einer Theateraufführung beigewohnt haben. Leonard erkennt deutlich, dass Daniel von der Aufführung sehr ergriffen ist, und er will herausfinden, warum Daniel von der Verwandlung menschlicher Wesen in göttliche Gestalten so tief betroffen ist. Sie sprechen von einem Stück mit einem Thema aus der Nordischen Mythologie, der Saga Olaf Tryggvasons über den Nordischen Gott Freyr (in: Flateyjarbók, I, 337 f.). Der Protagonist in diesem Stück, Gunnar Helming, wird von Norwegen nach Schweden 9. Daniel, S. 85–121. (Jetzt in MBW 1, S. 216-234.) 10. Siehe unten.

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verbannt, wo er die Frau des Gottes Freyr verführt und schwängert. Gunnar Helming »spielte den Gott«, sagt Daniel, und »er empfängt die Opfergaben des Volkes, vermählt sich mit der Priesterin, segnet das Land zur Fruchtbarkeit« 11 Es ist bemerkenswert, dass der Protagonist dieser Geschichte ein ähnliches Täuschungsmanöver ausführt wie Eleonora Duse als Heldin in Monna Vanna, wie Buber es acht Jahre vorher beschrieben hatte. Es ist nicht eindeutig zu beweisen, ob die im Gespräch thematisierte Aufführung in Wirklichkeit stattgefunden hat oder ob Buber das Thema seiner Lektüre entnahm. Angesichts der konkreten Details, die Buber in seiner Beschreibung der Schlüsselszene nennt, spricht einiges dafür, dass eine entsprechende Aufführung stattgefunden hat. Bevor diese Szene eingehender besprochen wird, geht Bubers Daniel näher auf die Verwandlung des Menschen in einen Gott ein und fragt: »Ruhte nicht auf ihm das Geheimnis der Magie, dem alle jungfräulichen Völker ergeben sind: wer sich in den Gott verwandelt, lebt das Leben, tut die Tat, wirkt das Werk des Gottes? Ve r w i r k l i c h t e er nicht den Gott in und mit seiner Seele wie in und mit seinem Leibe?« 12 Buber stellt die These auf, dass die wichtigste und grundlegende Polarität des Theaters die zwischen dem Schauspieler und der von ihm verkörperten Figur sei, die sich allmählich ausweitet um die Polaritäten zwischen den Protagonisten, zwischen der Vorführung und dem Publikum und schließlich zwischen dem Drama und dem Theater. Der große Schauspieler »steht dem Helden gegenüber und – verwandelt sich in ihn.«; und weiter erklärt er: »In der Verwandlung gelöst, geläutert, verklärt verwirklicht er den Helden in immer neuer Erstmaligkeit mit seiner Seele wie mit seinem Leibe.« 13 An anderer Stelle fügt er hinzu: »Der große Schauspieler nimmt nicht Masken vor. In jener formenden Stunde, in der er seine Rolle entscheidend erlebt, dringt er sich verwandelnd, seine Seele aufgebend und wiedergewinnend, in das Zentrum seines Helden ein und enthebt ihm das Geheimnis der persönlichen Kinesis, die ihm eigentümliche Verbindung von Sinn und Tat.« 14 Nachdem er diese allgemeinen Prinzipien formuliert, werden Bubers Ausführungen zunehmend metaphysisch, wobei er sich zunehmend von den materiellen Gegebenheiten des Theaters entfernt. Während seines Universitätsstudiums in Wien, Leipzig, Berlin und Zürich belegte Buber mehrere Seminare, die literarische und ästhetische 11. 12. 13. 14.

Buber, Daniel, S. 103. (Jetzt in MBW 1, S. 225.) Daniel, S. 107. (Jetzt in MBW 1, S. 226.) Daniel, S. 110. (Jetzt in MBW 1, S. 227). Daniel, S. 111. (Jetzt in MBW 1, S. 228.)

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Themen behandelten. Georg Simmel (1858-1918), dessen Schüler er in seiner Berliner Zeit 1899-1901 war, hatte einen entscheidenden Einfluss auf sein Denken. Unter Simmels vielfältigen Interessen als Philosoph und Kultursoziologe spielte das Theater eine bedeutende Rolle und in einem 1921 posthum veröffentlichten Aufsatz »Zur Philosophie des Schauspielers« argumentiert Simmel: Die Bühnenfigur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch, sie ist nicht ein Mensch im sinnlichen Sinne – sondern der Komplex des literarisch Erfaßbaren an einem Menschen. Weder die Stimmen noch den Tonfall, weder das ritardando noch das accelerando des Sprechens, weder die Gesten noch die besondere Atmosphäre der lebenswarmen Gestalt kann der Dichter vorzeichnen oder auch nur wirklich eindeutige Prämissen dafür geben. Er hat vielmehr Schicksal, Erscheinung, Seele dieser Gestalt in den nur eindimensionalen Verlauf des bloß Geistigen verlegt. Als Dichtung angesehen ist das Drama ein selbstgenügsames Ganzes; hinsichtlich der Totalität des Geschehens bleibt es Symbol, aus dem diese sich nicht logisch entwickeln läßt. 15

Diese Gedankengänge haben eine große Ähnlichkeit mit denen, die Buber in seinen Schriften zum Theater, besonders in Daniel, äußert. Aber Simmel zeigt keine Tendenz zu metaphysischen oder mystischen Höhenflügen. Die metaphysischen Aspekte des Theaters wie Buber sie sah – besonders seine Idee der Polarität oder Dualität – wurden dennoch weder von seinen Zeitgenossen noch von späteren Gelehrten als ein hermeneutisches Modell für das Theater gänzlich zurückgewiesen, wenn sie auch wenig Einfluss auf den wissenschaftlichen Diskurs über das Theater und die Aufführungspraxis ausübten, die eher empirisch ausgerichtet ist. Es scheint aber, dass Bubers Daniel einen starken Eindruck auf Rainer Maria Rilke (1875-1923) gemacht hat, der ebenso wie Buber im Insel Verlag veröffentlichte. In seinem Dankesbrief an den Verleger Anton Kippenberg (1874-1950) für die Zusendung eines Exemplars ist Rilke voll des Lobes und nennt Daniel darin einen »sehr bedeutenden Begleiter« »auf meinen 15. Georg Simmel, Zur Philosophie des Schauspielers. Aus dem Nachlaß herausgegeben, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, hrsg. von Richard Kroner u. Georg Mehlis, Band IX, 1920/21, Tübingen 1921, S. 339-362; hier S. 339 f.; aufgenommen in: Simmel, Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ingo Meyer, Frankfurt a. M. 2008, S. 111-136. Bereits 1908 erschien in Der Morgen ein Aufsatz Simmels unter dem gleichen Titel, der jedoch deutlich kürzer ist und bei dem es sich vielleicht um eine erste Auseinandersetzung Simmels mit der Kunst des Schauspielers handelt (siehe: Georg Simmel, Zur Philosophie des Schauspielers, in: Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, begr. und hrsg. von Werner Sombart, 2. Jg., Nr. 51/52, 18. Dezember 1908, S. 1685-1689).

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Wegen«. 16 Die Duineser Elegien, an denen Rilke von 1912 bis 1922 arbeitete und 1923, zehn Jahre nach dem Erscheinen von Daniel herausgab, weisen viele thematische Gemeinsamkeiten besonders hinsichtlich des Schauspielers und des Theaters mit Bubers Arbeit auf. In der Vierten Elegie spricht Rilke über seine Erfahrungen mit dem Theater: […] wenn mir zumut ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein, so völlig hinzuschaun, daß, um mein Schauen am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt. Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel. Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind. Dann entsteht aus unsern Jahreszeiten erst der Umkreis des ganzen Wandelns. Über uns hinüber spielt dann der Engel. Sieh, die Sterbenden, sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand das alles ist, was wir hier leisten. Alles ist nicht es selbst. 17

Es liegt etwas Spielerisches in dem Zusammentreffen oder der Polarität zwischen dem Engel, der das metaphysische Prinzip vertritt, und der Puppe, die dem materiellen Alltag zugehört, vielleicht dem des Kindes. Am stärksten kommt diese Polarität in der kurzen Zeile zum Ausdruck: »Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel.« Als ob es ein Wunder wäre, das das Kind ungeduldig erwartet, und welches ihm ermöglicht, erwachsen zu werden und sich den Härten des Lebens zu stellen. Während Rilke diese Gedichte schrieb, war Buber in der Gesellschaft zur Veranstaltung dramatischer Aufführungen (Hellerauer Schauspiele) engagiert, 18 die eng verbunden war mit der Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus, die Wolf Dohrn (1878-1914) 1911 in Hellerau nördlich von Dresden gegründet hatte. Dohrn hatte Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950) und Adolphe Appia (1862-1928) nach Hellerau eingeladen, um dort eine Schule für rhythmische Gymnastik zu gründen. Zusammen mit dem Architekten Heinrich Tessenow (1876-1950) planten sie 16. Rainer Maria Rilke, Briefe an seinen Verleger 1906 bis 1926, hrsg. von Ruth SieberRilke u. Carl Sieber, Leipzig 1941, S. 180, 182. 17. Ders., Duineser Elegien. Die vierte Elegie, in: Rilke, Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1955, S. 697 -700, hier S. 698f. 18. Siehe ausführlicher zu Bubers Engagement in der Gesellschaft Hellerauer Schauspiele den Kommentar zu »Das Raumproblem der Bühne«, in diesem Band, S. 747-756.

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das Festspielhaus, in dem die berühmte Aufführung von Glucks (17141787) Oper Orpheus und Eurydike (Orfeo ed Euridice, 1762) im Juni 1912 inszeniert wurde, sowie die Aufführung von Paul Claudels (18681955) Verkündigung im Oktober 1913 stattfand (Premiere in Paris 1912). Im zugehörigen Programmheft veröffentlichte Buber den Aufsatz »Das Raumproblem der Bühne«, 19 in welchem er die »moderne Bühne« stark kritisierte. In einem späteren Wiederabdruck seines Aufsatzes, im Sammelband Hinweise (1953), leitet Buber den Essay stolz mit der Bemerkung ein, dass er »zu Versuchen der Hellerauer Bühne, an denen ich Anteil nahm, geschrieben« 20 wurde. In ihm führt Buber aus: Das echte Kunstgefühl ist, wie alle vollständigen Gefühle, ein polares. Es versetzt uns mitten in eine Welt, die zu betreten wir unvermögend sind. Lebendig von ihr umschlossen, daß uns und sie nichts mehr entsondern zu können scheint, von ihr getränkt, durchdrungen und bestätigt von ihr, erkennen wir sie doch als die auf ewig abgehobene Ferne. Sie ist Wirklichkeit, einig und gewiß wie keine naturhafte, sie allein ist fertige Wirklichkeit: wir überlassen uns ihr und atmen in ihrem Bereiche; und sie ist Bild: ihrem Wesen nach uns entrückt und unzugänglich. Aus dieser Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, vollkommnem Genuß und vollkommnem Verzicht kommen die Weihen des echten Kunstgefühls. 21

Der Aufsatz ist ein Versuch, die ritualisierten Aspekte des Theaters zu beschreiben, denen Buber anscheinend eine starke Bedeutung bei seiner Suche nach einer Dialektik beimaß, in welcher die Welt und das Göttliche in einem fruchtbaren Austausch zueinander stehen. Weiter behandelt er darin Themen, die damals sowohl auf theoretischer wie praktischer Ebene umfänglich diskutiert wurden. Die Aufführungen in Hellerau erfuhren mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Unterbrechung, als das Festspielhaus zunächst in ein Feldlazarett und dann in eine Kaserne umgewandelt wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde es dann in ein Erholungsheim für Angehörige der SS umfunktioniert, und nach dem Zweiten Weltkrieg diente es als Kaserne für russische Soldaten. Der Ort übte eine große Anziehungskraft auf viele Künstler und Intellektuelle aus wie Franz Kafka, Vaslav Nijinsky (1889-1959), Emil Nolde (1867-1956), Mary Wigman (1886-1973), Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Ernst Bloch (1885-1977), Hugo von Hofmannsthal, Rudolf von 19. Martin Buber, Das Raumproblem der Bühne, in: Das Claudel-Programmbuch, Hellerau: Hellerauer Verlag 1913, S. 72-81; jetzt in diesem Band, S. 429-434. 20. Martin Buber, Das Raumproblem der Bühne, in: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse Verlag 1953, S. 202-210, hier S. 202. 21. In diesem Band, S. 429.

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Laban (1879-1958), Max Reinhardt (1873-1943), George Bernhard Shaw (1856-1950) und sogar Constantin Stanislavsky (1863-1938), um nur einige der prominenten Namen zu nennen, und einige sahen in Hellerau eine Alternative zu Bayreuth. Das folgende Zitat aus dem Bericht eines Augenzeugen mag ein Bild von der begeisterten Atmosphäre während der Festspiele vermitteln: »Alle, die kommen, müssen sich von den rhythmischen Erlebnissen durchdringen lassen, müssen sie in der erhöhten Stimmung des festlichen Verbundenseins innerlich verarbeiten, müssen […] das Dargebotene als ein Selbsterlebtes, das körperlich Geschaute als Symbolisierung eigner seelischer Vorgänge, das Bild als Ausdruck eigner Gedanken und Wünsche aufnehmen […].« 22 Offensichtlich fand Buber in diesem Umfeld ein seinen eigenen spirituellen und künstlerischen Neigungen und Ambitionen förderliches Klima. Selbst wenn die Erfahrungen in Hellerau Buber nicht ganz zufrieden stellten, 23 so führte er seine Theaterarbeit dennoch weiter, insbesondere in der Zusammenarbeit mit der mit ihm eng befreundeten Schauspielerin und Theaterleiterin Louise Dumont (1862-1932) und deren Ehemann Gustav Lindemann (1872-1960). Lindemann war damals der Direktor des Düsseldorfer Schauspielhauses, das er 1905 zusammen mit Louise Dumont als Privattheater gegründet hatte und das als Reformbühne berühmt wurde. Dem Schauspielhaus war eine Theaterakademie angeschlossen, die Hochschule für Bühnenkunst, und Martin Buber gehörte ab 1914 dem »außerordentlichen Lehrkörper« der Hochschule an. Daneben veranstaltete das Schauspielhaus eine Vortragsreihe, die sogenannten »Morgenfeiern«, die Sonntagsvormittags stattfanden und bei denen Buber ebenfalls ab 1918 Vorträge hielt. Dumont und Lindemann planten zusammen mit Buber und ihrem gemeinsamen Freund Gustav Landauer – im Stil der Experimente von Hellerau – eine deutsche »Theaterkultur« zu entwickeln. Hierzu wurde Gustav Landauer im Oktober 1918 als Dramaturg an das Düsseldorfer Schauspielhaus berufen. Als Landauer 1919 wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik von Freikorpssoldaten ermordet wurde, fanden diese Pläne jedoch ein abruptes Ende. Aber Buber blieb dem Düsseldorfer Schauspielhaus weiterhin eng verbunden. Ab Juni 1924 gehörte er dem Aufsichtsrat und dem »geistigen Beirat« des Schauspielhauses an, dessen Hauptaufgabe darin bestand, die beim Schauspielhaus eingereichten bzw. geplanten Theaterstücke vorab zu begutachten. 24 Von Januar 1925 22. August Horneffer, Das Fest, in: Die Schulfeste der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze. Programmbuch (Jahrbuch Der Rhythmus, 2.1), Jena 1912, S. 14-21; hier S. 14. 23. Vgl. den Kommentar zu »Das Raumproblem der Bühne«, in diesem Band, S. 750 f. 24. Im MBA findet sich die ausführliche Korrespondenz zwischen Martin Buber und

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bis Juli 1926 war der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ludwig Strauß (1892-1953) Dramaturg und Regisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus sowie Lehrer an dessen Hochschule für Bühnenkunst. Buber und Strauß kannten sich schon seit vielen Jahren, und seit 1925 war Strauß mit Bubers Tochter Eva verheiratet. Die Korrespondenz zwischen Buber und Ludwig Strauß aus den Jahren 1925 und 1926 spiegelt noch einmal Bubers Engagement und sein weitreichendes Interesse am Düsseldorfer Schauspielhaus wider. In den Briefen diskutiert Buber mit Strauß die geplanten Produktionen des Schauspielhauses, zu denen Buber in seiner beratenden Funktion als Mitglied des »geistigen Beirats« seine Bewertungen und Ratschläge gibt. Daneben geht es auch um konkrete dramaturgische Fragen der Inszenierungen sowie um zunehmende Konflikte zwischen der Leitung des Düsseldorfer Schauspielhauses und seinen Mitarbeitern. 25 Das Düsseldorfer Schauspielhaus gab die Zeitschrift Masken heraus, an der Buber ebenfalls mitarbeitete. In Gedenken an den ermordeten Gustav Landauer widmete es ihm 1919 ein eigenes Heft, zu dem Buber mit seinen Aufsatz »Landauer und die Revolution« beitrug. 26 1924 erschien in Masken Bubers Aufsatz über »Drama und Theater« 27 . Erst gegen Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn hat Buber einen vollständigen Dramentext verfasst, das Mysterienspiel Elija, das 1955 geschrieben und zuerst 1963 im Verlag Lambert Schneider Heidelberg

Louise Dumont, die sich auf den Zeitraum von 1919 bis 1930 erstreckt und insgesamt ca. 200 Briefe umfasst. Neben etlichen Briefen, die persönlichen Angelegenheiten gewidmet sind, betreffen andere Briefe die zahlreichen Terminabsprachen zu Vorträgen Bubers im Rahmen der »Morgenfeiern« und an der »Hochschule für Bühnenkunst« oder zu verschiedenen Besprechungen am Schauspielhaus. Ein weiterer Teil der Korrespondenz betrifft Bubers Tätigkeit als Mitglied des »geistigen Beirats« des Schauspielhauses, und ein kleinerer Teil der Briefe befasst sich mit der finanziellen Situation des Schauspielhauses sowie mit Problemen zwischen der Leitung und Angestellten des Schauspielhauses. (s. Arc. Ms. Var 350, 8, 182 und 8, 182.I) 1930 erschien zu Ehren von Louise Dumont und Gustav Lindemann eine Festgabe zum Theaterjubiläum, in der auch Buber mit einem Beitrag vertreten ist, und zwar mit einem Auszug aus dem zwei Jahre später erschienenen Band Zwiesprache, »Dialogisches und monologisches Leben«, in: Deutsches Theater am Rhein. Louise Dumont und Gustav Lindemann als Ehrengruß zum 25 jährigen Bestehen des Düsseldorfer Schauspielhauses am 28. Oktober 1930, hrsg. von der Gemeinschaft der Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses, Düsseldorf: A. Bagel 1930, S. 79-80. 25. Vgl. Briefwechsel Martin Buber – Ludwig Strauß 1913-1953, hrsg. von Tuvia Rübner und Dafna Mach, Frankfurt a. M. 1990. 26. Martin Buber, Landauer und die Revolution, in: Masken, 14. Jg., Heft 18/19, S. 282291. 27. Martin Buber, Drama und Theater, in: Masken, 18. Jg., Erstes Oktoberheft 1924, S. 3-5; jetzt in diesem Band, S. 438-440.

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publiziert wurde. Die Gestalt des Propheten Elija hat Buber mehrfach in seinem Leben beschäftigt, wie seine beiden hier abgedruckten Gedichte »Elijahu« (1904) und »Das Wort an Elijahu« (1906/7) bezeugen. Auch in seiner Auseinandersetzung mit dieser Gestalt im Rahmen der biblischen Schriften (vgl. Der Glaube der Propheten, Zürich: Manesse Verlag 1950, S. 111-123; jetzt in: MBW 13) und im Zusammenhang der chassidischen Anekdoten (vgl. z. B. »Elija«, zuerst in Der Große Maggid und seine Nachfolge, S. 60 f. veröffentlicht, jetzt in: MBW 18, Nr. [487]) steht Elija im Mittelpunkt von Bubers prophetischer Vision. In der zugehörigen Anmerkung schreibt er: »Der in den Himmel entrückte Elias ist der jüdischen Sage nach, zu deren eigentümlichster Gestalt er geworden ist, der stete Bote Gottes an die Menschenwelt, gegenwärtig beim Eintritt jedes jüdischen Knaben in den Bund Israels mit Gott, gegenwärtig an jeder ›Seder‹-Tafel in der dem Gedächtnis der großen Bundestat, der Befreiung aus Ägypten geweihten Osternacht, wo für ihn ein Weinbecher kredenzt wird, hilfreich in Nöten, belehrend in Ungewißheiten, bestimmt, dereinst als Vorbote des Messias, als Wecker und Rufer die träge Menschheit dem Kommenden zu bereiten.« (Vgl. MBW 18, S. 1009.) Die dramatische Handlung entfaltet sich in 23 Szenen entlang der biblischen Erzählung (I Kön 17-II Kön 2). Dabei werden die inneren Kämpfe und Zweifel des Propheten Elija gegenüber der biblischen Vorlage herausgearbeitet und der eher schroffe Charakter der biblischen Erzählung gemildert. Für Buber repräsentiert diese Figur die Möglichkeit, im Judentum eine einzigartige und archaische Religiosität, die frei ist von rabbinischen Einfügungen und Rationalismen, wieder zu erlangen. Sein Interesse an der Figur des Elija resultierte auch aus seinem Verständnis der Bibel als lebendiger Literatur, die als Beweis der Begegnung zwischen dem Volk Israel und dem Göttlichen in der Geschichte zu gelten hätte, ein historischer Beleg für Gottes Beziehung zu den Menschen, gesehen mit menschlichen Augen. Elija weckt eine messianische Hoffnung, die nicht nur am Rande der Geschichte verwirklicht werden soll, sondern einst zur kollektiven Erlösung der Welt und nicht nur der Individuen, die sie bevölkern, führen wird. So wie das Theater eine wichtige Quelle der Inspiration für Bubers philosophisches Denken war, wurden auch umgekehrt Theaterautoren von ihm und seiner Philosophie beeinflusst. Ein Beispiel ist der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz (1904-1969). Im Jahr 1951 wandte sich Gombrowicz, der neben Romanen und Erzählungen auch Theaterstücke verfasste, an Martin Buber. Hieraus entwickelte sich in den nächsten Jahren ein brieflicher Kontakt zwischen beiden, der sich hauptsäch-

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lich mit Gombrowicz’ dramatischem Werk befasste. 28 1951 übersandte Gombrowicz Buber eine Kopie seines Dramas Die Trauung (poln. Originaltitel Ślub) in französischer Übersetzung, 29 das er 1948 vollendet hatte. In seinem ersten Brief an Buber vom 3. Mai 1951 äußert er die Hoffnung, dass Buber Parallelen zwischen den Gedanken über die Ehe, die Gombrowicz in seinem Stück entwickelt, und Bubers eigenen Gedanken in dessen ebenfalls 1948 erschienenem Werk Das Problem des Menschen erkennt. Gombrowicz sieht Gemeinsamkeiten darin, wie er in seinem Stück die Frage der zwischenmenschlichen Beziehung darstellt und behandelt und wie Buber dies in seinem Werk tut. Bubers Antwort ist zwar freundlich, jedoch macht er deutlich, dass er Gombrowicz’ Ansicht nicht teilt. In Gombrowicz’ Tagebuch, das dieser 1957 veröffentlichte, findet sich ein Eintrag aus dem Jahr 1953, in dem er Buber erwähnt. Auch hier geht es Gombrowicz wiederum um das »Zwischenmenschliche«: Buber, a Jewish philosopher, described this pretty well when he said that the individualist philosophy we have known up to now has done itself in and that the greatest disillusionment that awaits mankind in the near future is the bankruptcy of collectivist philosophy […]. It will be on the corpses of these worldviews that the third vision of man will be born: man in relation to another man, a concrete man, I in relation to you and him … Man through man. Man in relation to man. Man created by man. Man strengthened by man. Is it my illusion that I see in this a secret new reality? For in thinking about these misunderstandings that are springing up between us and the West, I always stumble on the »other« man raised to the category of a creative power. 30

Seine Korrespondenz mit Buber wie auch sein Tagebuch verdeutlichen Gombrowicz’ intensive Rezeption von Bubers philosophischem Denken, v. a. in den Jahren 1953-1957. Eine Art Abschluss findet die Korrespondenz zwischen Gombrowicz und Buber mit einem Empfehlungsschrei-

28. Die Korrespondenz zwischen Buber und Gombrowicz umfasst die Jahre 1951 bis 1955. Im MBA finden sich vier Briefe von Gombrowicz an Buber aus dieser Zeit, von denen der erste auf Französisch und die folgenden drei auf Polnisch geschrieben sind (Briefe vom 3. Mai 1951, 25. Juli 1951, 28. Dezember 1954, 15. Februar 1955; MBA: Arc. Ms. Var. 350, 8, 239h), sowie zwei auf Polnisch geschriebene Briefe Bubers an Gombrowicz (vom 9. Juli 1951 u. 29. Januar 1955; MBA: Arc. Ms. Var. 350, 8, 239h.I), daneben ein Empfehlungsschreiben Bubers die Veröffentlichung von Gombrowicz’ Stück Die Trauung in anderen Sprachen betreffend. 29. Siehe im MBA Arc. Ms. Var. 350, 11, 284. 30. Witold Gombrowicz, Diary, Vol. 1: 1953-1956, hrsg. von Jan Kott, übers. von Lillian Vallee, Evanston IL 1988, S. 20 (Originaltitel Dziennik, 1957).

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ben Bubers vom 30. Januar 1955, in dem er Gombrowicz’ Stück Die Trauung zur Publikation in anderen Sprachen empfiehlt. 31 Das Theater stellte eine einflussreiche Konstante im Leben und Wirken Martin Bubers dar. Bubers intensiver Dialog mit dem Theater fand 1963 seinen Höhepunkt und Abschluss mit der Veröffentlichung seines Mysterienspiels Elija. Auch wenn Bubers Interesse an der konkreten Theaterpraxis, wie sie in seiner Arbeit als Dramaturg in Hellerau und Düsseldorf zum Ausdruck kommt, im Laufe der Jahre abnahm, war sie doch zweifelsohne ein wesentliches Element zur Entwicklung seiner dialogischen Philosophie: Theater ist Dialog, und Dialog ist der Schlüssel in Bubers Denken. Freddie Rokem, Heike Breitenbach

31. Arc. Ms. Var. 350, 8, 239h.I; vgl. zur Beziehung Buber – Gombrowicz auch: Francis Imbert, Witold Gombrowicz ou les aventures de l’interhumain, Paris 2009, bes. das Kapitel »L’homme-Dieu«.

Buber und die bildenden Künste Die intensive Auseinandersetzung mit Kunst beschäftigte Buber in den ersten Jahren seiner intellektuellen Karriere sowohl während seiner Universitätsstudien, als auch als einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten innerhalb der zionistischen Bewegung in den Jahren um die Jahrhundertwende. Von 1897 bis 1905 studierte er Kunstgeschichte an der Universität Wien und arbeitete an einer unvollendet gebliebenen Habilitationsschrift. Später äußerte er sich nur noch ausgesprochen selten zur Kunst 1 . In den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens nahm Buber in Jerusalem seine Arbeiten zur Kunst wieder auf, als er, als »graue Eminenz«, mit kurzen Einleitungen zu Publikationen beitrug und bei Ausstellungseröffnungen und Gedenkveranstaltungen Reden hielt. Jedoch sollte die gemessen an dem Umfang der Arbeiten Bubers zu anderen Themen eher gering scheinende Anzahl dieser Texte nicht darüber hinwegtäuschen, welche Bedeutung Buber der Kunst während seines ganzen Lebens beimaß. Seine leidenschaftliche Beschäftigung mit Kunst kam in der Sorgfalt zum Ausdruck, mit der er die visuelle Gestaltung seiner Veröffentlichungen begleitete, und auch in seinem Familienleben, in seinen Beziehungen zu Künstlern und in der ästhetischen Grundhaltung seines Lebens 2 . Das Interesse für die Jüdische Kunst, das zu Beginn der 1980er Jahre explosionsartig zunahm, setzte Bubers frühe Schriften zur Kunst – insbesondere seine Rede zum Fünften Zionistischen Kongress, seine Essays 1.

2.

So etwa, zusätzlich zu den in diesem Band versammelten Schriften, in der kurzen Arbeit »Der Altar« (zu dem von Matthias Grünewald (ca. 1475/78-1528) gestalteten Isenheimer Altar), die als Teil von »Ereignisse und Begegnungen« bereits in MBW 1, S. 249-252 abgedruckt ist; sowie die Besprechung von Hermann Struck in »Die Entdeckung von Palaestina« von 1905, jetzt in MBW 3, S. 351-353. An dieser Stelle möchte ich Tamar Goldschmidt, Martin Bubers Urenkelin, für die großzügige Mitteilung von Material und Familienerinnerungen bezüglich Bubers Beziehung zur Kunst und der herausragenden Bedeutung, die der Kunst in der Familie Buber zukam, danken. Bubers Enkeltochter Barbara Goldschmidt (1921-2013), die zusammen mit ihrer Schwester Judith (Judith Buber Agassi, geb. 1924) im Haus Martin Bubers aufwuchs, war selber Künstlerin. Bezeichnend für Bubers eindringliche Deutung von Bildern sind die Kurzgedichte, die er auf die Rückseiten von fünf Schwarzweiß-Reproduktionen musizierender Engel von Melozzo da Forlì (14381494) niederschrieb. Bei den Reproduktionen handelt es sich um Fragmente eines Freskos (ca. 1480) für die Apsis der Basilica dei Santi Apostoli in Rom, das 1711 entfernt wurde und heute in der Vatikanischen Pinakothek ausgestellt sind. Die reproduzierten Fragmente der Fresken sind Teil einer Komposition, die die Himmelfahrt Christi zeigt, während sich Bubers Gedichte auf das Verhältnis der Engel zum aufsteigenden »Gott« beziehen, wobei das Sehen als Metapher betont wird. Zu den Gedichten vgl. in diesem Band, S. 170-174.

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zu Lesser Ury (1861-1931) und seine Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band Jüdische Künstler – wieder auf die Tagesordnung einer reichen und bis heute anhaltenden Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Künstlern 3 . Was also zunächst als ein eher marginaler Aspekt von Bubers Werk erscheint, wird von gegenwärtigen Kunsthistorikern und Forschern als wegweisender Beitrag gewertet. Als Student an der Universität Wien schrieb sich Buber während des Wintersemesters 1896/97 in Seminare ein, die von führenden Kunsthistorikern der Zeit, etwa Franz Wickhoff (1853-1909), Alois Riegl (18581905) und Julius von Schlosser (1866-1938), abgehalten wurden 4 . Außerdem arbeitete er während des Winters 1905/06 in Florenz an einer Habilitationsschrift, die sich vermutlich auf ein kunstgeschichtliches Thema beziehen sollte, aber nie fertig gestellt wurde 5 . Auch wenn Buber Kunstgeschichte als akademisches Studienfach nicht weiter verfolgte, lassen sich sein ästhetischer Scharfsinn und seine Begabung für den genauen Blick und die visuelle Analyse in vielen seiner Schriften nachweisen. Diese Begabung kam ihm während seines gesamten Lebens zustatten. Er verstand sich meisterhaft auf das Lesen von Bildern. Bubers Bewusstsein für 3.

4.

5.

Siehe zum Beispiel Richard I. Cohen, Jewish Icons: Art and Society in Modern Europe, Berkeley 1998; Essays von Inka Bertz, Emily D. Bilski, Paul Mendes-Flohr und Chana Schütz in Berlin Metropolis: Jews and the New Culture 1890-1918, hrsg. von Emily D. Bilski, Berkeley 1999; Jewish Identity in Modern Art History, hrsg. von Cathrine M. Soussloff, Berkeley 1999; Vivian B. Mann, Jewish Texts on the Visual Arts, Cambridge 2000; Kalman P. Bland, The Artless Jew: Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual, Princeton 2000; Margaret Olin, The Nation without Art: Examining Modern Discourses on Jewish Art, Lincoln, Nebraska 2001; Gilya Gerda Schmidt, The Art and Artists of the Fifth Zionist Congress, 1901, Syracuse 2003. Archiv der Universität Wien, »Nationale« und »Rigorosen«, PH RA 1678 Buber. Bei den Vorlesungen handelte es sich um: »Geschichte des Naturalismus in Malerei und Plastik« von Prof. Franz Wickhoff, »Geschichte der holländischen Malerei« von Prof. Alois Riegl und »Einführung in das Studium der Kunstgeschichte, ihre Quellen und Hilfsmittel« von Priv. Doz. Julius Ritter von Schlosser. Es ist bemerkenswert, dass zum Ende seines Studiums keine Einträge mehr darauf verweisen, dass Buber diese Kurse fortgeführt hätte, was vermuten lässt, dass sich Buber schliesslich dazu entschlossen hat, sich von ihnen zurückzuziehen, und sich ganz auf das Studium der Philosophie zu konzentrieren. Außerdem studierte Buber an der Universität Leipzig bei August Schmarsow (1853-1936), dem Gründer des Kunsthistorischen Instituts in Florenz und Autor einer Monographie zu Melozzo da Forlì (1886), dessen Werk auch Gedichte Bubers inspirierte (vgl. oben, Anm. 2). Grete Schaeder, Martin Buber, in B I, S. 41. Bubers Briefe aus Florenz erwähnen die seiner Arbeit förderliche Umgebung, berühren aber andere Projekte als seine Habilitationsschrift. Vgl. B I, S. 233-242. Bemühungen, den Gegenstand von Bubers Habilitationsschrift genauer zu bestimmen, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Vgl. auch Olin, The Nation without Art, S. 108 u. 233, Anm. 10; Dominique Bourel, Martin Buber: Sentinell de l’humanité, Paris 2015, S. 131-132.

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die Bedeutung der visuellen Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts war für sein Engagement in der frühen zionistischen Bewegung zentral. Buber beabsichtigte, die bildenden Künste in den Hauptstrom der Zionistischen Aktivitäten zu integrieren, denn er sprach der Kunst das Vermögen zu, als Faktor der kulturellen Erneuerung des Judentums zu wirken. Die Kunst erschien ihm als machtvolles Werkzeug im Instrumentarium der zionistischen Bewegung und gleichermaßen als Vorbote und Katalysator einer Wiedergeburt jüdischer Gesellschaft und Kultur 6. Bubers Rede »Über jüdische Kunst«, die er 1901 vor den Delegierten des Fünften Zionistischen Kongresses gehalten hat, ist ein Manifest, in dem die zentrale Rolle umrissen wird, die der Kunst im Zionismus und darüber hinaus in jeder Bewegung zur spirituellen und nationalen Erneuerung des Judentums zukommen sollte. Inspiriert von Achad Haam stellten Buber und die Kulturzionisten den politischen Zionismus in Frage, wie er von Theodor Herzl und Max Nordau (1843-1923) propagiert wurde. Zudem fürchtete sich ein Teil der orthodoxen Zionisten vor jeder Säkularisierung der Bewegung, die etwa dazu führen könnte, die Religion durch die Kultur zu ersetzen. Nordau war der Auffassung, Kunst sei von sehr begrenzter Nützlichkeit allein zu Propagandazwecken und verwarf alles darüber Hinausgehende als Luxus, der für die Massen armer Juden nur von geringem Nutzen sein könne. Demgegenüber betonte Buber die Bedeutung der Kunst, die ihr bei dem Vorhaben zukomme, ein breites Spektrum des Judentums für den Zionismus zu gewinnen und schließlich auf den Aufbau eines zukünftigen jüdischen Staates vorzubereiten: Der Zionismus hat mit dem ganzen Volke zu rechnen. Und wahrlich, wir brauchen gerade für unsere nicht völlig besitzlosen Classen geistige Hebung. Gerade die besitzenden Classen müssen wir von Grund aus geistig und sittlich erziehen, bevor sie ein fähiges und würdiges Menschenmaterial für unser Palästina abgeben. Und Mittel dieser Erziehung wollen wir Ihnen hier vorschlagen, Mittel der Erziehung, die grosse Schichten unseres Volkes entwickeln, unsere Bewegung stärken, der nationalen Sache neue und wertvolle Kräfte zuführen werden. Ein solches Mittel ist die jüdische Kunst. 7

Neben ihrer Funktion, eine spirituelle Erneuerung zu unterstützen und die Menschen zu erziehen, gilt für Buber die Kunst als entscheidender Faktor der Konstituierung nationaler Identität: »Denn in dem künstlerischen Schaffen sprechen sich die specifischen Eigenschaften der Nation 6. 7.

In einer ganzen Anzahl von Arbeiten Bubers, die nicht ausschließlich der Kunst gewidmet sind, kommen diese Überlegungen zum Ausdruck. Vgl. z. B. Jüdische Renaissance, MBW 3, S. 143-147. In diesem Band, S. 471.

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am reinsten aus: alles, was diesem Volke, und nur ihm, eigen ist, das Einzigartige und Unvergleichbare seiner Individualität, findet greifbare lebendige Gestalt in seiner Kunst. So ist unsere Kunst der schönste Weg unseres Volkes zu sich selbst.« 8 Bubers Worte erinnern an den berühmten Ausspruch von John Ruskin (1819-1900): »Great nations write their autobiographies in three manuscripts—the book of their deeds, the book of their words, and the book of their art. Not one of these books can be understood unless we read the two others; but of the three the only quite trustworthy one is the last.« 9 In den Arbeiten, die er in den Jahren um 1900 verfasste, benennt Buber einerseits Beispiele jüdischer Kunst, während er andererseits betont, dass solche Kunst ohne die Verwurzelung im Land Israel unmöglich sei. Das Exil habe dem jüdischen Volk »das Anschauen einer schönen Landschaft und schöner Menschen« 10 geraubt. Doch der Kontakt mit der westlichen Kultur habe den Juden die Möglichkeiten eines Nationalbewusstseins und damit einhergehend einer jüdischen Kunst eröffnet: »da war es doch wieder unsere Vermählung mit der abendländischen Civilisation, die es uns ermöglichte, unseren uralten Drang nach nationalem Sich-Ausleben […] und ebenso war es jene Vermählung, die unsere Sehnsucht nach Schönheit und Schaffen, die im Ghetto immer wieder todtgequält wurde, zu der jungen Macht heranreifen liess, der wir, in ihrer unfertigen Gegenwart die große Zukunft verehrend, den Namen ›jüdische Kunst‹ gegeben haben.« 11 Bubers Ansicht darüber, was jüdische Kunst ausmachen sollte, war von ausgesprochen umfassender Natur. Die bildenden Künste, Literatur, Theater und Musik erschienen als gleichberechtigte Bestandteile seines übergreifenden Projekts einer jüdischen Erneuerung. Zwei Monate vor seiner Rede auf dem Kongress schrieb er von Wien aus an Paula Buber: »Ich beschäftige mich jetzt viel mit dem Plan einer freien jungjüdischen Bühne […] Das gibt zusammen mit Anthologie, Kunstausstellung, Kunstverlag, Buchverlag, Zeitschriften und anderen Projekten ein ganzes jüdisches Kunstprogramm.« 12 Buber befand sich aber in einer Zwickmühle. Um die jüdische Kunst voranzubringen, war es entscheidend, das Vorhandensein jüdischer Kreativität anzuerkennen. Gleichzeitig war es jedoch notwendig, die Be-

8. 9. 10. 11. 12.

In diesem Band, S. 474. John Ruskin, St. Mark’s rest; the history of Venice, 1877, S. III. In diesem Band, S. 471. Ebd., S. 472. B I, S. 166.

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hauptung aufrecht zu erhalten, dass das Leben im Land Israel die Vorbedingung für eine vollkommene Verwirklichung jüdischer Kunst sei. Buber schwankt zwischen diesen beiden Positionen: was er der einen zugesteht, muss er der anderen aberkennen. In seiner Rede auf dem Kongress macht er geltend, eine »nationale Kunst« brauche »einen Erdboden, aus dem sie hervorwächst, und einen Himmel, dem sie entgegenblüht. Wir Juden von heute haben keines von beiden.« 13 Bereits einige Monate zuvor, in einem Artikel über den Maler Lesser Ury, der in der Zeitschrift Ost und West erschien, hatte er sich ganz ähnlich geäußert: »Ist h e u t e eine jüdische Kunst möglich? Darauf giebt es nur e i n e Antwort, eine klare und harte: Nein.« 14 Doch noch in seiner Analyse der Gemälde Urys und ihrer Befähigung, »zum Innersten unserer Seele [zu] sprechen« 15 , erkennt Buber sie tatsächlich als Schöpfungen einer jüdischen Kunst an. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, unterscheidet er zwischen einer Art idealtypischen jüdischen Kunst, die sich erst im zukünftigen jüdischen Heimatland voll entwickeln könne, und der zeitgenössischen Wirklichkeit einer bereits geschaffenen Kunst, in der das Schicksal der Juden, ihre Sehnsucht und ihre Identität zum Ausdruck kommen. Er sieht in Lesser Ury einen Künstler, der exemplarisch für dieses Vermögen einsteht: »Sind heute jüdische Künstler – d. h. Künstler, die in ihrem Wesen und ihren Werken jüdische Stammesart kundgeben – möglich? Können wir sie bejahen, so ist damit auch die innere Möglichkeit einer jüdischen Kunst bejaht.« 16 Buber baut diese Idee, die er zunächst im spezifischen Kontext von Lesser Urys Werk erörtert, in seiner Rede auf dem Fünften Zionistischen Kongress 1901 zu einem allgemeinen Konzept aus. Während eine vollkommen realisierte jüdische Kunst allein »auf jüdischem Boden« möglich sei, würden sich die Keime dieser zukünftigen Kreativität im Europa der Gegenwart entwickeln. Buber begriff, dass, wenn man die Entwicklung einer jüdischen Kunst wünscht, man sie nicht einfach für nicht existent erklären kann. Auf die antisemitische Behauptung einer Unmöglichkeit jüdischer Kunst, wie sie im 19. Jahrhundert verbreitet wurde, geht Buber ein, indem er Richard Wagner (1813-1883) im ersten Satz seiner Einleitung zu Jüdische Künstler zitiert. Jüdische Kunst müsse jedoch als etwas angesehen werden, das im Prozess des Entstehens begriffen sei: »Das, was wir jüdische Kunst nennen, ist kein Sein, sondern ein Wer13. In diesem Band, S. 473. 14. Buber, Lesser Ury, Ost und West, Sp. 113, jetzt im Kommentar dieses Bandes, S. 822. 15. Jetzt in diesem Band, S. 494. 16. Jetzt im Kommentar dieses Bandes, S. 823.

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den, keine Erfüllung, sondern eine schöne Möglichkeit, ebenso wie der Zionismus heute ein Werden und eine schöne Möglichkeit ist.« 17 Buber sprach nicht allein von »Culturkeime[n]«, er war entschlossen, seine Mitdelegierten auf die »Tatsachen« zu verweisen, auf die man sich bereits berufen könne. Bestandteil seiner Strategie, den Künsten innerhalb des Zionismus zur zentralen Geltung zu verhelfen, war es, gemeinsam mit Ephraim Mose Lilien (1874-1925) eine Ausstellung zu organisieren, in der die Arbeiten von elf Künstlern ausgestellt wurden: Eduard Bendemann (1811-1889), Jehuda Epstein (1870-1945), Moritz Gottlieb (1856-1879), Jozef Israëls (1827-1911), Solomon Kischinewski (18631941), Alfred Lakos (1870-1961), E. M. Lilien, Oskar Marmorek (18631909), Alfred Nossig (1864-1943), Hermann Struck (1876-1944) und Lesser Ury 18. Bubers Entscheidung, auf das Medium einer Ausstellung zurückzugreifen, um seine Ideen zu verbreiten, entsprach dem Zeitgeist. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, von der Londoner Weltausstellung im Kristallpalast 1857 bis hin zur Weltausstellung in Paris 1900, könnte als Epoche der internationalen Ausstellungen bezeichnet werden. Diese gewaltigen zeitlich befristeten Ausstellungen boten den Nationen eine Bühne, auf der sie stolz ihre neuesten Erfolge in der Industrie, Technik und den Künsten präsentieren, ihre Leistungen feierlich inszenieren und somit nationales Selbstbewusstsein und nationale Selbstdarstellung demonstrieren konnten. Die Weltausstellung in Paris von 1900 versammelte 83.000 Aussteller und zog knapp 51 Millionen Besucher an, die eine Reihe nationaler Pavillons besichtigen konnten, »eine Ansammlung vorübergehend errichteter Gebäude, die ausgeprägte nationale Identitäten geltend machen sollten« 19 . Während die Pavillons sich an den jeweiligen historischen Baustilen anlehnten, griffen die Kunstwerke, die in ihnen ausgestellt wurden und die nationalen Bestrebungen artikulieren sollten, auf Mittel moderner nationaler Kunststile zurück, die sich von volkstümlichen Traditionen inspirieren ließen. Diese zeitgenössischen Strategien, eine nationale Identität zu konstruieren, könnten Buber dazu veranlasst haben, eine Ausstellung von wenn auch nur kurzer Dauer zu organisieren, um die jüdische künstlerische Kreativität innerhalb des explizit nationalen Kontexts des Zionistischen Kongresses zu zelebrieren. 17. Buber, Einleitung zu Jüdische Künstler, in diesem Band, S. 474. 18. Zu dieser Ausstellung vgl. Schmidt, Art and Artists of the Fifth Zionist Congress. 19. Maryanne Stevens, »The Exposition Universelle: ›This vast competition of effort, realization and victories‹«, in: 1900: Art at the Crossroads, hrsg. von Robert Rosenblum, Maryanne Stevens u. a., London 2000, S. 64. Übersetzung durch die Arbeitsstelle.

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Ausstellungen zu künstlerisch gestalteten jüdischen Ritualgegenständen wurden bereits auf der Weltausstellung von Paris 1878 und 1887 in der Royal Albert Hall in London organisiert. Als Student in Wien wird Buber sowohl das Jüdische Museum, das als weltweit erstes seiner Art 1895 gegründet wurde, wie auch die »Gesellschaft für Sammlung und Konservierung von Kunst- und historischen Denkmälern des Judentums« gekannt haben. Eine ähnliche Organisation, die »Gesellschaft zur Erforschung jüdischer Kunstdenkmäler«, wurde 1900 von Heinrich Frauberger (1845-1920), dem (nicht-jüdischen) Direktor des Kunstmuseums in Düsseldorf gegründet. Diese Unternehmungen beabsichtigten, jüdische Kunstobjekte in den Augen von Juden und Nichtjuden aufzuwerten, so dass sie der Sammlung, dem Studium und der Ausstellung für würdig erschienen, aber konzentrierten sich ausschließlich auf den religiösen Aspekt der materiellen jüdischen Kultur. Es war Bubers Neuerung, jüdische künstlerische Kreativität aus den religiösen Funktionen und dem religiösen Kontext herauszulösen, sie aber dennoch in der jüdischen Vergangenheit zu verwurzeln und eine bessere jüdische Zukunft verkünden zu lassen. Michael Berkowitz bemerkt hierzu: »Zum Ersten zionistischen Kongress wurden Porträts von Proto-Zionisten in den Fluren des Basler Stadtkasinos aufgehängt, aber diese Ausstellung Jüdischer Kunst, unter der Schirmherrschaft der Zionistischen Bewegung, war sicherlich das erste Mal, dass die Werke Jüdischer Künstler in Zentraleuropa in einem national-jüdischen Kontext gezeigt wurden.« 20 Buber ließ sich von den zeitgenössischen Strömungen des europäischen Kunstdiskurses inspirieren und entwickelte aus ihnen seine Ideen über das Wesen der jüdischen Kunst und wie sie für nationale Bestrebungen mobilisiert werden könne. Eine Vielzahl jener Diskurse befasste sich mit der Inszenierung von Kunst auf den Weltausstellungen und thematisierten »die angeblichen nationalen Züge […], die im Gegenstand und der Technik eines Werkes vermeintlich zum Ausdruck kommen sollten.« 21 Die Inhalte der ausgestellten Kunstwerke, von denen man meinte, sie seien Ausdruck des Nationalgefühls, entstammten üblicherweise der Geschichte – der gemeinsamen nationalen Vergangenheit – und der Landschaft, in der man die nationale Identität verwurzelt glaubte. Wenn also Buber behauptet, dass eine jüdische Kunst ohne eine jüdische Erde, 20. Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993, S. 129. Übersetzung durch die Arbeitsstelle. 21. Michelle Facos, An Introduction to Nineteenth-Century Art, New York 2011, S. 387. Vgl. auch Art, Culture, and National Identity in Fin-de-Siècle Europe, hrsg. von Michelle Facos u. Sharon L. Hirsh, Cambridge 2003. Übersetzung durch die Arbeitsstelle.

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von der sie sich nähren könne, haltlos sei, knüpft er ebenso an einen Grundsatz der Zionistischen Ideologie an, wie er zeitgenössische Ideen zur Beziehung zwischen Landschaft, Kunst und nationaler Identität aufgreift. Den Blick hauptsächlich auf die besondere Topographie national konnotierter Landschaft zu richten, kommt insbesondere in Bubers Arbeit zu Hermann Strucks Radierungen von Landschaften Palästinas zur Geltung, die er als einen »Seelenzustand« charakterisiert. 22 Hier betont Buber die Bedeutung wahrhaften Sehens, ein Thema, zu dem er in seinen Schriften des Öfteren zurückkehrt: »Unsere Frage, ob uns unser Land eine Wirklichkeit ist, bedeutet, ob wir es wirklich sehen und dies wieder, ob wir es aus unserer Stimmung heraus sehen.« Buber zufolge »bringen uns« Strucks Landschaftsradierungen »zum erstenmal das wahre Land unseres Gefühls: ganz und gar weite sehnsuchtsvolle Stimmung.« 23 Buber studierte an der Universität Wien zu einer Zeit, in der die Stadt durch die Gründung der Wiener Secession 1897 einen künstlerischen Aufschwung erfuhr. Die Ausstellungen der Secession waren – abgesehen davon, ihren Mitgliedern Gelegenheiten zur öffentlichen Präsentation ihrer Werke zu verschaffen – als Mittel gedacht, das Publikum zu erziehen und eine nationale künstlerische Erneuerung zu fördern. Die Kritiker, die die Secession unterstützten, bedienten sich einer Sprache, die ähnlich derjenigen Sprache Bubers war, die er in seinen Schriften zur Kunst für einige Jahre verwendete. Hermann Bahr, über den Buber bereits 1897 geschrieben hatte 24 , veröffentlichte in der Zeitschrift der Secession, Ver Sacrum, einen »Brief an die Secession«, in dem er zur Schaffung einer österreichischen Kunst aufrief: »Mit dieser ersten Ausstellung ist noch gar nichts gethan, jetzt fängst erst an! Diese erste Ausstellung von Euch ist eine grosse Frage an das Publicum gewesen […] Ihr müsst schaffen, was noch nicht dagewesen ist: Ihr müsst uns eine österreichische Kunst schaffen […] Die moderne Kunst hat ungeheure Mittel in Eure Hand gegeben; nehmt sie, um durch sie die Seele unserer Heimat auszudrücken. […] Eine österreichische Kunst werden wir erst haben, wenn sie unter uns allen in unserer täglichen Existenz lebendig geworden ist. […] Diese müsst Ihr uns geben, nicht mir, nicht diesem oder jenem Kenner, sondern unserem ganzen Volk. Hüllt unser Volk in eine österreichische Schönheit ein!« 25

22. Martin Buber, Die Entdeckung von Palaestina, jetzt in: MBW 3, S. 351-53. 23. Buber, Ebd., S. 352. Zu Bubers Begriff der »Stimmung« in den Werken von Hermann Struck und Lesser Ury vgl. auch Olin, Nation without Art, S. 118. 24. Martin Buber, Zur Wiener Literatur, jetzt in MBW 1, S. 119-129. 25. Hermann Bahr, »An die Secession. Ein Brief von Hermann Bahr«, Ver Sacrum, I, 5/6 (Mai/Juni 1898), S. 5.

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Alois Riegls Theorien über den relativen Kunstwert haben die Grundsätze der Wiener Secession beeinflusst 26 und wurden auch von der zeitgenössischen Diskussion zur jüdischen Kunst aufgegriffen. Riegl verabschiedete sich von der Ansicht, dass es einen einzigen ästhetischen Standard gebe, und trat stattdessen für eine »Pluralität der Kunst« 27 ein, was eine Neugewichtung von Perioden der Kunstgeschichte mit sich brachte, die zuvor als »dekadent« verurteilt worden waren. Für Riegl war das Konzept des »Kunstwollens« zentral, dessen genaue Bedeutung aber schwer zu fassen ist. Einer einflussreichen Interpretation dieses Konzepts zufolge, die von Riegls Schülern Edgar Wind (1900-1971) und Erwin Panofsky (18921963) vertreten wurde, beziehe sich das »Kunstwollen« auf einen »Gehalt oder eine objektive immanente Bedeutung – jedes Werk bezieht durch seinen Stil die Gesamtheit der Kultur ein, der es entstammt.« 28 In jeder Kultur komme der Kunst ein bestimmter Zweck zu, und es sei Aufgabe des Kunsthistorikers, diesen aufzudecken. Den hohen Stellenwert, den Buber der Kunst zur Erneuerung der jüdischen Kultur beimaß, wirkte auf die Künstler anspornend und inspirierend. Künstler suchten ihn auf, baten ihn, einen Blick auf ihre Projekte zu werfen, eifrig bemüht, seine Anerkennung zu erhalten. Diese Kontakte zu jüngeren Künstlern wurden oft durch Hermann Struck vermittelt. Beispielsweise machte Struck Buber mit seinem Schüler Joseph Budko (1888-1940) bekannt und forderte Buber wiederholt auf, bei der Suche nach einem Verleger für Budkos Radierungen zur Pessach Haggadah behilflich zu sein 29 . Des Weiteren bat Budko Buber darum, einen Text zu diesen Radierungen beizusteuern, die auf der Berliner Secession ausgestellt wurden: »Ich freue mich als Jude, dass diese jüdischen Blätter von Nichtjuden gewürdigt werden!« 30 Zu einer Serie von Kunstdrucken, die Karl Jacob Hirsch (1892-1952) 1914 unter dem Titel »Legende des Baalschem« nach der Vorlage von Bubers gleichnamiger Veröffentlichung von 1908 erstellte, verfasste wiederum Struck eine Einführung. 31 26. Diana Reynolds Cordeleoni, Alois Riegl in Vienna 1875-1905: an Institutional Biography, Vermont 2014, S. 239-243. 27. Carl Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt a. M. 1980, S. 222. 28. Henri Zerner, Aloïs Riegl: Art, Value, and Historicism, Daedalus, 105, Nr. 1 (Winter 1976), S. 180. Übersetzung durch die Arbeitsstelle. 29. Hermann Struck in einem Brief vom 4. April 1917 an Martin Buber, und in einem Brief von der Front »vor Jakobstadt, 15. V. 17«, Arc. Ms. Var. 350-008-793. 30. Joseph Budko an Martin Buber in einem Brief vom 8. Mai 1917, Arc. Ms. Var. 350008-145b. 31. Vgl. den Brief von Struck an Buber vom 7. November 1915 im MBA, Arc. Ms. Var. 350-008-793.

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Buber und Hirsch standen über Jahre im Briefwechsel miteinander, und Hirsch, der später als einziger jüdischer Künstler in der Künstlerkolonie von Worpswede lebte, empfing 1922 begeistert Bubers Besuch 32 . Einige Jahre zuvor schuf Hirsch ein eindrückliches Bildnis von Buber, das diesen klagend auf einem Jüdischen Friedhof zeigt, den geneigten Kopf im Einklang mit den Ästen eines Baumes 33 . Hirsch erläuterte den wesentlichen Einfluss, den Buber auf seine Arbeit als jüdischer Künstler ausübte: »Die Gestalt des chassidischen Rabbis, des Baal Schem Tov, war in dem Buche, das zu illustrieren ich unternahm, in anschaulicher Weise gezeichnet. Hier war eine Art von Judentum, das jenseits von allen Synagogen oder Gebrauchsjudentum sich befand. Diese ost-jüdischen Menschen, die Gestalten des Buches, waren naturverbunden und sahen und erlebten ihren Gott in Bäumen wie Kreaturen. Es war eine mehr pantheistische als orthodoxe jüdische Art, die hier von Martin Buber gestaltet war. Meine persönliche Bekanntschaft mit Buber bestärkte mich in meinem neu-jüdischen Bewusstsein […] Es war ein seltsames Gefühl damals, als ich der einzige Jude in Worpswede war und ein jüdisches Leben in Bildern aufbaute, das mir im Grunde fremd war […] Das orthodoxe, west-jüdische Synagogen-Judentum war mir fremd geworden, fremd in der Sprache und in der Leerheit der Formeln, die für mich keinen Sinn mehr hatten. So stürzte ich mich als Künstler auf das chassidische Judentum, ohne zu wissen, dass ich damit eigentlich mich dem National-Judentum genähert hatte. Ich malte damals auf alle meine Bilder und Radierungen den Davidsstern und fühlte mich in besonderer Weise als Jude.« 34

Buber wurde selbst aber auch durch die Zusammenarbeit mit Künstlern und Gestaltern über Jahre hinweg beeinflusst. Als er im Jahr 1900 das Buch Juda bespricht – das neben einer Sammlung von Gedichten von Börries Freiherr von Münchhausen (1876-1945) Illustrationen von E. M. Lilien enthielt – beginnt er bezeichnenderweise nicht damit, den Inhalt des Buches wiederzugeben, sondern beschreibt seinen Genuss angesichts der schönen Gestaltung des Buches: »Freude an allem. An dem Einbande in unseren Farben, auf dessen dunkelstem Blau die weisse Aufschrift ›Juda‹ leuchtet, in Buchstaben, die, wie hebräische stilisiert, eine süsse heimatliche Stimmung wecken. An dem Vorsatzpapier, aus dem die Menorah uns mit ornamentaler Weihe entgegenstrahlt. An den festen, schönen

32. Buber wollte seinen Sohn besuchen, aber Hirsch hoffte, Martin und Paula Buber würden sich entschließen, sich in Worpswede niederzulassen. Brief von Karl Jacob Hirsch an Martin Buber im MBA, Arc. Ms. Var. 350-008-270. 33. Das Bild ist reproduziert in Art in Germany 1909-1936. From Expressionism to Resistance: The Marvin and Janet Fishman Collection, hrsg. von Reinhold Heller, München und Milwaukee 1990, S. 68, cat. no. 63. 34. Karl Jacob Hirsch, Heimkehr zu Gott. Briefe an meinen Sohn, München 1946, S. 5152.

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Blättern, die allem Hastigen und Oberflächlichen Feind sind und die langsame liebevolle Hand des Geniessers fordern.« 35

Indem Buber das Buch als eine Verbindung von Gesichts- und Tastsinn beschreibt und damit die sinnliche Begegnung des Lesers mit dem Buch hervorhebt, betont er, dass alle Aspekte der Buchgestaltung zusammenwirken, um den Gehalt selbst zu vermitteln. Tatsächlich zeigt Buber seit seinen frühesten Aktivitäten als Autor und Herausgeber ein einzigartiges Feingefühl, was die ästhetische Qualität der von ihm veröffentlichten Bücher betrifft. Als Lektor im Frankfurter Verlag Rütten & Loening war Buber für die Herausgabe der Schriftenreihe Die Gesellschaft verantwortlich, in deren Rahmen vierzig Monographien zu sozialwissenschaftlichen Gegenständen veröffentlicht wurden, die von bekannten Gelehrten und Schriftstellern verfasst wurden. Die graphische Gestaltung der Bände übernahm Peter Behrens (1868-1940) 36 , ein führender Künstler des Jugendstils, die Initialen stammten von Hermann Kirchmayr (18571938) 37 . Bubers Bücher, die bei Rütten & Loening erschienen, wie etwa Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des BaalSchem (1908), wurden von Emil Rudolf Weiß (1875-1942) gestaltet, einem Typographen, Maler und Zeichner, mit dem Buber über Jahrzehnte zusammenarbeitete 38 . Das einfühlsame Porträt, das Weiß vom jugendlichen Buber anfertigte 39 , sowie Bubers Beitrag zur Festschrift zu Ehren des 50. Geburtstags von Weiß (1925) 40 sind weitere Belege ihrer langwährenden freundschaftlichen Beziehung. Dem langjährigen Brief35. Buber, Das Buch »Juda«, in diesem Band, S. 464-469. 36. Vgl. Paul Mendes-Flohr, From Mysticism to Dialogue: Martin Buber’s Transformation of German Social Thought, Detroit 1989, S. 83-92. 37. Kirchmayrs Briefe an Buber verdeutlichen, bis zu welchem Grad Buber die Gestaltung dieser Bände beschäftigte. Vgl. im MBA, Arc. Ms. Var. 350, 8, 356. 38. Von der Ausstattung verschiedener Bücher abgesehen, entwarf Weiß das Deckblatt für Bubers Zeitschrift Der Jude sowie die Gestaltung des in Einzelbänden erschienen Übersetzungsprojekts der Bibel, Die Schrift. Zur Gestaltung von Die Schrift, vgl. Emily D. Bilski, A Constellation of Bibliophiles: Moshe Spitzer and the BuberRosenzweig Bible Translation, in: New Types: Three Pioneers of Hebrew Graphic Design, hrsg. von Ada Wardi, Jerusalem 2015, S. 81-88. [Hebräisch; englische Ausgabe im Druck 2016.] 39. Das Porträt stammt aus dem Jahr 1910 und befand sich bis zu deren Tod in Jerusalem in der Sammlung von Barbara Goldschmidt, der Enkelin Bubers, und nicht, wie in MBW 2.3, S. 422 bemerkt, in der Sammlung der Familie von Ludwig Strauß. Vgl. hierzu die Abbildung in diesem Band, S. 910. Das Porträt Bubers, das die StraußFamilie besitzt, stammt von Emil Orlik (1870-1932). Zum Porträt von Weiß vgl. auch den Brief Bubers an Heinz Politzer (1907-1978) vom 17. März 1948, in dem Buber die Unruhen in Abu Tor beschreibt, in deren Verlauf das Gemälde von einem Geschoss durchschlagen wurde. 40. Martin Buber, Zwei Malergeschichten, jetzt in MBW 2.3, S. 281.

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wechsel zwischen Weiß und Buber lässt sich entnehmen, mit welcher Akribie sämtliche Aspekte der Buchgestaltung diskutiert wurden, von der Auswahl des Papiers, der Schriftart, dem Einband, dem Format, dem Seitenlayout, den Umschlagentwürfen bis hin zu den verschiedenen Ausstattungen von Standard- und Luxusausgaben 41 . Bubers erfolgreiche Zusammenarbeit mit künstlerisch begabten Gestaltern, die ihm dabei halfen, Bücher zu produzieren, die Form und Inhalt miteinander verschmelzen, verdeutlicht, wie wichtig die lebenslange Beschäftigung mit der Kunst für seine intellektuellen Bestrebungen war. Die Herausforderung zu intensiver Betrachtung, ohne die wirkliches Sehen unmöglich ist, war für Buber von höchster Wichtigkeit. In einem kurzen Artikel zum Dichter J. L. Perez, der im Mai 1901 publiziert worden ist, gebraucht Buber die Künstler-Kolonie von Worpswede als eine Metapher für die verkannte Schönheit, die einer begnadeten Vision des Künstlers bedarf, um entdeckt zu werden 42 . So wie die Künstler, die nach Worpswede kamen, Schönheit in einer Landschaft antrafen, die zuvor achtlos übergangen worden war, und sodann diese Schönheit der Öffentlichkeit durch ihre Gemälde vermittelten, so enthülle Perez die verborgene Schönheit des jüdischen Lebens: »Das jüdische Volksleben ist das Worpswede der Nationen … Keiner wüsste von seiner Schönheit; nicht die drin standen … und nicht die von draussen zusahen: deren Blick blieb an der Oberfläche haften und erfasste nur das Graue, Dumpfe und Schwere. Aber da kam einer, der hatte das Auge des Künstlers und des Künstlers Hand. Und seinem Auge erschloss sich das tiefe, wogende Leuchten, und seine Hand weckte das Schlummernde zu lichtem, sichtbarem Leben.« 43

Die Frage nach dem Wesen des Sehens ist ein Problem, das Buber während der letzten Jahrzehnte seines Lebens in mehreren Schriften behandelt. In dem handschriftlichen Entwurf der Einleitung zur hebräischen Ausgabe von Bruno Zevis (1918-2000) Buch über die Architektur (1957), fragt Buber, ob Sehen gelehrt werden könne und was es bedeutet, ein scharfsinniger Betrachter zu sein: »die Frage, ob und wie man Kunstwerke sehen lehren kann, das heisst: ob und wie man sie als die Kunstwerke, die sie sind, sehen lehren, besser, richtiger, vollständiger sehen lehren

41. Vgl. im MBA, Arc. Ms. Var. 350, 8, 876. 42. »Aber da kamen einmal einige junge Maler hin, mit dem frischen Unternehmungsdurste und den gesegneten Augen der Jugend, und zugleich mit jener künstlerischen Macht begabt, die Wunder thut an allen Dingen; sie sahen sich Worpswede an, und – sie sahen es.« Martin Buber, J. L. Perez. Ein Wort zu seinem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum, jetzt in MBW 3, S. 55. 43. Ebd.

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Einleitung

kann. […] Ich sage: das spezifisch optische Verhältnis, denn darum allein geht es.« 44 Diese intensive Auseinandersetzung mit einem individuellen Kunstwerk erinnert an Alois Riegls Konzept der »Aufmerksamkeit«, das auf das Verhältnis zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk abzielt. Riegl entwickelte dieses Konzept in Verbindung mit seinen Studien zum niederländischen Gruppenportrait und arbeitete seine Ideen hierzu in seinen Vorlesungen zur Niederländischen Malerei aus, die Buber im Wintersemester 1896/97 an der Universität Wien besuchte 45 . Riegl analysierte, wie der Betrachter in einen Dialog mit dem im Gemälde Dargestellten eintritt und sich eine Beziehung aufbaut, die, wie Margaret Olin bemerkt, dem dialogischen Verhältnis von Bubers Ich und Du (1923) entspricht 46 . In der erwähnten unveröffentlichten Fassung der Einleitung zu Zevis Buch über die Architektur schreibt Buber: »Der Mensch wird Mensch, indem er bauend den Raum vermenschlicht.« 47 Während Bubers frühe Schriften Kunst in Beziehung zur nationalen und spirituellen jüdischen Identität betrachten – sowohl als deren Ausdruck wie als Mittel zu ihrer Entfaltung – wird ihm die Kunst zum Ende seines Lebens hin zu einem Kennzeichen allgemeiner Humanität 48 . In einer Besprechung von Helmar Lerskis (1871-1956) ausdrucksstarker Folge von Fotografien eines einzelnen Menschen, dessen Erscheinung sich durch die Manipulation des Lichts verändert, erörtert Buber die Macht des Künstlers, ebenso sehr zu enthüllen wie zu erschaffen, und legt nahe, das Licht des Fotografen als eine Metapher für Offenbarung anzusehen. Wenn wir, die Betrachter, wissen, wie wir zu sehen haben, werden wir in die Wahrheit eingeweiht, die der Künstler enthüllt: »Und in unmittelbarer Anschauung erkennen wir die wichtige Wahrheit […] Lerskis Lichtzauber lehrt uns Ehrfurcht vor dem armseligen und ungeheuren Geschöpf, das sich Mensch

44. Arc. Ms. Var. 350, bet 160; jetzt erstmals vollständig abgedruckt im Kommentar in diesem Band, S. 839. 45. Archive der Universität von Wien, »Nationale«. 46. Olin, Nation with Art, S. 116-126; sowie Olin, Forms of Respect: Alois Riegl’s Concept of Attentiveness, Art Bulletin 71, Nr. 2 (1989), S. 285-299, insbesondere S. 295. Olin argumentiert, dass die Bekanntschaft mit den Ideen Riegls die Entwicklung von Bubers Theologie beeinflusst habe. 47. Siehe Anm. 44. 48. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass von den zahlreichen Postkarten, die Buber im Laufe der Jahre sammelte und die Abbildungen von Kunstwerken zeigen, die bei weitem überwiegende Mehrzahl menschliche Figuren darstellt, und zwar zumeist Figuren, bei denen die Ausdruckskraft des menschlichen Gesichts besonders hervorgehoben ist.

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nennt.« 49 Es sei die Natur dieser Wahrheit – und darin scheint letztendlich für Buber der Sinn der Kunst zu bestehen – uns der Menschheit näher zu bringen und dadurch humaner werden zu lassen. Emily D. Bilski (Übersetzt aus dem Englischen durch die Arbeitsstelle.)

49. Martin Buber, [Rede zur Eröffnung der Ausstellung im »Bezalel«], in diesem Band, S. 505-507.

Literatur

Gedichte Veröffentlichte Gedichte

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Literatur · Gedichte

Jugend Ihr zerquält euch ohne Rast, Sucht und findet nicht, Mir ist selbst des Lebens Last Frohsinn und Gedicht. Ihr bringt euch zum Opfer dar Einem fernen Glück, Mir ist würdiger Altar Jeder Augenblick. Und ihr fragt euch: »Herz, was will Diese Traurigkeit?« Aber meine Lust ist still Und mein Himmel weit.

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‫עורה למה תישן׃‬ Wache auf! Warum schläfst Du? Psalm 44, 24.

Unseres Volkes Erwachen. 5

Der Ruf! Ein Ruf erschallt, ein Heilwort ist gegeben, Und unser Muth ist wunderbar erwacht: Empor! mein Volk, zu Ende ist die Nacht! Steh’ auf und schreite, denn jetzt w i r s t Du leben!

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Einst bist Du müd am Wege hingesunken, – Die Lösung naht, der M o r g e n blickt auf Dich, Es segnet Dich die Flut der Sonnenfunken, Und alles harrt. – Wohlan, mein Volk, so sprich! Antwort des jüdischen Volkes.

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»Wie kann ich aufsteh’n und wie kann ich schreiten? Was sollen mir die morgenfrischen Lieder? Mein Herz ist krank und wund sind meine Glieder, Auf meiner Stirn ruht Last von Ewigkeiten.« »B l i n d sind die Augen mir von vielem We i n e n , Und dicht umhüllt von starren Finsternissen, Die Füsse bluten mir, vom Dorn zerrissen, Die Hand ist siech. Mir will kein Licht erscheinen.« Ermuthigung.

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Die Kraft erglüht. – Mein Volk, Du s o l l s t gesunden! In uns’rer Hand sind balsamstarke Tränke. Die L i e b e gab uns für Dich Heilgeschenke, So waschen wir das Blut von Deinen Wunden.

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Literatur · Gedichte

Wir heben ab die Nacht von Deinen Blicken, Von Deinem Leib die Müdigkeit und Last. Dann fühlst Du stolz mit staunendem Entzücken Das G o t t e s f e u e r, das Du wieder hast. Zweifel an der herrlichen Botschaft.

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Es lauscht erregt und kann den Traum nicht fassen, Doch wieder kraftlos sinkt das Haupt zurück: »O! zeiget nicht ein trügerisches Glück. Mir ist kein Heil! – Mein Gott hat mich verlassen! Und hör’ ich neue Kraft mir auch verkünden, Ich finde nie ein Heim und nie ein Bleiben, Die dunklen Boten, die mich rastlos treiben Von Land zu Land, wann werden die verschwinden?«

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Gottes-Trost! Sie sind verschwunden! – Denn ein eig’nes Haus, Ein g o t t g e w e i h t e s , wollen wir Dir bauen. Auf eig’nem Boden stehend, sollst Du schauen Nach Ost und West und über’s Meer hinaus! Wie in den alten Zeiten soll Dich grüssen Das g o l d ’ n e K o r n , von Deiner Hand gesät, Und wieder siehst Du lächelnd Dir zu Füssen Die stillen Fluten des Genezareth! G o t t i s t m i t u n s ! – Siehst Du nicht sein Gebieten In uns’rer Augen zukunftsfrohem Glanz? Er nimmt von Deinem Haupt den Dornenkranz Und schmückt mit Rosen Dich, mit jung erblühten. Erhebe Dich, mein Volk! Dein Retter naht! Der Tag ist da und leuchtet uns zur That!

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Das Erwachen! Und als sich Sonnenblick und sein Blick fanden, Da ist mein Volk in Strahlen auferstanden!

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Neue Jugend. Wie müde Wandervögel waren wir, Wir jungen Juden, stumm und ohne Ruh, Wie ein gehetztes, todesbanges Tier Sah jeder starr dem Weltgetriebe zu, Und wollte doch ein Blitz das Aug’ entzünden, War es wie Sterne, die in Nacht verschwinden. Wie schmaler Blumenstengel schwanke Schaar, In eines Glases enges Rund gepresst, So waren wir. Und wie ein kranker Aar Im Käfig, fern vom felsgeschützten Nest, In Sehnsucht schweigt, so war in tiefer Stille Ein einsam stolzer Schmerz nur unser Wille. So fruchtlos war ja alle unsre That, So ohne Zukunft unser junger Drang; Wenn je vor unser durst’ges Auge trat Des Lebens Glut und goldner Ueberschwang, Da bebte unser Herz, doch durch die Hände Rann träg das Blut, und nirgends war ein Ende. Nur manchmal ahnten wir es dämmerhaft, Dass uns ein ander Loos entgegenquoll, Und keinem war der Mut so tief erschlafft, In d i e s e m Traume war er Glückes voll, Sah er d i e s Leuchten durch das Dunkel schweben, War er berauscht und wollte doch noch leben. Da ward es Licht. Ein ruhig grosses Wort, Das eines Träumers schlichtem Mund entsprang, Hob uns empor und riss uns mit sich fort Und gab uns Hoffnung und gab uns Gesang; Des Traumes Deutung, unsrer Ahnung Zeichen, Schuf es uns Bettler um zu Ueberreichen. Da wurden unsre Augen froh und hell, Und unsre Herzen wurden stark und weit, Von jedem Felsen sprudelte ein Quell, Aus jedem Sehnen wurde Tapferkeit.

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In jeden Willen goss den Segenswein Die reine Kraft des Wortes: »Jude sein!«

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Nun tritt das Leben streng an uns heran Und heisst uns wählen: Sklave oder frei! Wir zaudern nicht, wir stehen Mann bei Mann, Die alten Ketten reissen wir entzwei, Und laut hinaus in ersten Sonnenschein Tönt unser Ruf: Wir wollen Juden sein!

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Ein Purim-Prolog Buch Esther III. 2.

Wir feiern heut’ ein froh bescheid’nes Fest, Nicht einen jener Tage, da der Himmel In göttlich weiter Herrlichkeit erstrahlt Und goldene Fäden leis’ herniedergleiten In Menschenherzen, die sich scheu erschauernd Und tief durchglüht dem Heiligen ergeben. Nein, nur ein Fest des Frohsinns und der Farben, Ein Fest der bunten tollen Maskenzüge, Ein Fest der herzlich warmen Händedrücke, Der Augen, die beglückt in Augen schau’n. Und doch spricht uns’res Volkes ganze Seele, Aus dieses Festes Tanz, aus seinem Lächeln. Denn diese Freude, die Ihr kaum begreift, So fremd und fern erscheint sie Eurem Wesen, Volksfreude ist’s, und ihr verborg’ner Wert Ist heimlich in Jahrhunderten erworben. Die Freude des Befreiten ist’s, der dumpf Das ganze Jahr des Elends Ketten schleppte. Und nun für einen Tag dem Joch entrinnt, Die Arme reckt und auf zur Sonne schaut. So war es unser’m Volk an diesem Fest: Da fiel von ihnen aller Jammer ab, Die Schmach des kleinen, athemlosen Lebens, Und stolz, in stolzes Flitterzeug gehüllt, Bewegten sie die sonst so müden Glieder In Scherz und Reigen, und vergessen war Der grosse Schmerz der Zeit, der Tage Noth. Ein Fest der Lose war ja dieser Tag, Und wie im Spiel die weiss und schwarzen Lose In stetem Wechsel fallen, so erschien Vielleicht auch manchen seines Volks Geschichte Als solch ein Spiel der schwarz und weissen Lose. Und tagte nicht manch still verträumtem Knaben In ahnungsfreud’ger Seele schon der Ruf, Den er vier Wochen später schallen hörte: »Heut Knechte, morgen sind wir freie Herren! Dies Jahr in enger, sonnenloser Fremde,

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Das nächste Jahr in uns’rem Vaterland!« … Und der verträumten Knabenseele kam Ein wunderbares Bild: im Thor des Perserkönigs Sitzt still mit grauem Bart ein hoher Mann; Es gehen Fürsten stolz an ihm vorüber, Doch jener neigt die mächt’ge Stirne nicht, Die furchenreiche Stirn, darauf des Volkes Leid In unlöschbaren Lettern eingegraben … Des Knaben Seele glüht dem Bild entgegen Und seine blassen Lippen flüstern heiss: »Ich beug mich nicht. Komm, Elend, kommt, Ihr Qualen, Du tausendfält’ges Weh, komm über mich, Nehmt mich in Eure Arme, drückt mich fest An Eure Brust, zermalmet mir das Herz: – Ich bin ein Jude und ich beug mich nicht.« – Und mitten in des Maskenzugs Gewoge Lodert ein Schwur empor zum blauen Himmel. Wir feiern heut’ ein froh bescheid’nes Fest, Ein Fest des Frohsinns und der bunten Farben, Und doch ist uns’res Volkes ganze Seele In diesem Spiel und spricht aus ihm zu Euch.

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Literatur · Gedichte

Maizauber Kahl und starr ist noch der Baum, Doch im allerhöchsten Zweige Sitzt der Frühling, und er geigt Sehr vergnügt auf seiner Geige.

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Weiss der Zweig nicht, ob er’s soll, Aber bald wird er es müssen, Denn die Luft bebt von Gesängen Und die Erde bebt von Küssen. Und noch in dem kleinen Zweige Küsst sich’s wie von Menschenlippen, Bald wird an das grüne Herzchen Rosenfarb’ner Finger tippen. Junges Spriessen wird sich bald Aus besonnter Schale drängen, Denn die Erde bebt von Küssen Und die Luft bebt von Gesängen.

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Gebet. Josef M a r c o u - B a r o u c h zugeeignet.

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Herr, Herr, schüttle mein Volk, Schlage es, segne es, grimmig, lind, Mache es brennen, mache es frei, Heile Dein Kind. Gott, gib die verlorene Glut Meinem ermatteten Volke zurück, Schenk’ ihm in wilden, rauschenden Flammen, Schenk’ ihm Dein Glück. Siehe, ein Fieber nur kann es retten Und der rasende Ueberschwang, Weck’ ihn, und, Vater, zu Jordans Fluren Führe den Drang.

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Literatur · Gedichte

Der Ackersmann. Ich sah einst einen Ackersmann Still über schwarze Felder schreiten, Er liess das gold’ne Weizenkorn In tragbereite Schollen gleiten, Er gieng so hoch, er gieng so fest: Ein Herr, der Zukunft wachsen lässt. Da ward ich reiner Demuth voll Und sprach zu mir: »Was soll Dein Leben? Kannst Du, wie dieser, Deiner Welt Zu neuen Formen Keime geben? Hast Du, wie dieser, eine Kraft, Die grüne Werdenstriebe schafft? Du hast sie nicht, Du weisst es wohl, Du kannst Dein Hoffen nur erträumen. So bist Du denn das Samenkorn Und reifst in dunklen Zeugungsräumen? Ragst morgen schon in vollem Licht, Ein Drang, der seine Fesseln bricht? Du wirst es nicht, Du weisst es wohl, Bleibst an Dein enges Hier gebunden. So bist Du denn das Ackerland Und ahnst die heil’gen Mutterstunden? Und ahnst in stummer Seligkeit Ein tiefes, lebensschwang’res Leid? O meine Seele, unfruchtbar War stets Dein Schoss und wird es bleiben, Nie wirst Du gelber Sommersaat Beglänzte Fülle selig treiben, Du bist ein Lied, das niemand singt, Das keinem Trost und Frieden bringt!« Da sah ich, wie der Wirbelwind, Der keck des Sä’manns Thun belachte, In seinen weichen Furchengrund Viel hundert graue Körnchen brachte.

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In jedem glüht ein Seelchen schon: Kornblume, Rade, wilder Mohn.

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Ein Volk ohn’ Ernst und ohne Kraft, Voll krauser Lust und bunter Launen, Doch musst’ ich den verborg’nen Glanz, Der künft’gen Blüten Reiz bestaunen, So formenreich, so farbensatt Sah ich im Geiste jedes Blatt. Und meine Seele sprach zu mir: »O lehre Deine Demuth schauen, Und ein gekröntes Blumenreich Wird ihrem Aug’ in Dir erblauen. Du wilde Blume, heiss und still, Die von der Welt nichts weiss und will! Der Brüder Armut, Durst und Leid Kannst Du mit Flamm’ und Blut nicht stillen, Doch lebt in tiefstem Herzen Dir Ein leuchtend starker Schönheitswillen. So lass’ ihn, schwer von Prachtgeschenken, Mit Duft und Glanz die Menschen tränken. Und giesse Deiner Farben Saft Aus über Träume, Schmerz und Irren, Der dunklen Dränge Räthselspiel Mit Lichtesruhe zu entwirren, Und all Dein Blüh’n sei eine Macht, Der Welt aus vollem Glück gebracht!« – Der Abend deckte schon das Land. Der Ackersmann war heimgegangen. Ich lag auf schwarzem Feldesrand Und alle meine Sinne sangen. Der Stimmen lauter Jubelchor Stieg zu den Sternen stolz empor.

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An Narcissus Du siehst die Andern ihre Arme breiten In einem fruchtlos suchenden »Wohin«?, Du siehst sie irrend durch die fremden Weiten In dumpfem Jammer, hohlem Schauen zieh’n Und kosest still mit deinen Seligkeiten, Schlürfst lächelnd ein die eignen Melodien, Du fühlst’s um dich von Griechengöttern rauschen, Die hellen Blickes Nektarbecher tauschen. Und jeder Tag taucht nur dazu in’s Leben, Um deiner Seele neues Prunkgestein Und neuen Sang und neues Spiel zu geben; Und jede Nacht, um süsse Märchenfei’n In bunten Schleiertraum dir einzuweben. Du ringst dich nie frisch in die Welt hinein, Und glüht dein Herz im Wirbeltanz der Funken, So ist’s von bleichem Traumesweine trunken. Wohl denkst du oft des Volkes Gluth und Sehnen, Im Daseinsdrang verkümmert und verrenkt, Und musst die Stirn dir in die Hände lehnen, Von so viel todter Schönheit wundgekränkt, Doch nicht wie man mit wilder Angst und Thränen Die Faust geballt, in heissen Schwüren denkt, – Wie herbstlich müde Sonnenuntergänge Zerfliessen deines Schmerzenstraumes Klänge. Und wieder kehren deine Liebesspiele In dich zurück mit ihrem Spiegeltand; Ein Blütenkelch auf überzartem Stiele Bist kaum du noch in festen Grund gebannt; Schon schwebst Du frei und unbeirrt vom Ziele, Dein Auge schwelgt in deinem Zauberland, All Sein wird dir zum sanften Wellenzittern, Das unberührt von Winden und Gewittern. Und doch kommt einst auch dir ein weher Morgen, Beglänzt von trübem, dürftig kargem Strahl, Da wird dein Geist durch keinen Schatz geborgen

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Vor stummem Zehren, ungesproch’ner Qual; Ein Trank aus blinden Fragen, Räthseln, Sorgen Wird dir geschenkt im funkelnden Pokal – Kein Reichthum schützt dich und kein Seelenprangen Vor einem tastend grauenhaften Bangen. Dann wirst du dürsten nach dem Duft der Schollen, Nach Zorn und Hoffnung, Leidesmuth und Lust, Und wirst verzweifeln, wenn die Tage rollen Und du dir stets nur deines Traums bewusst, Du wirst dich sehnen nach Gebot und Sollen, Nach einem Gott, der donnernd ruft: »Du musst!« – Doch alle Welten werden ihren Reigen In Ruhe zieh’n, und furchtbar sein, und schweigen. Da wirst du einmal liegen in den Nächten, Und deine Kräfte, die du Schicht auf Schicht Gethürmt, dass einst sie Siege dir erfechten, Sind, ungebraucht, erloschen wie ein Licht. Du selbst wirst dir zur Dornenkrone flechten Der Jugend rosenschimmerndes Gedicht Und wirst dein Elend hellen Auges sehen Und Alles wissen, kennen und verstehen. Dann wirst du sterben, nicht wie der mit Allen Gelebt und nun in Aller Glanze geht, Dem nun an Mutter Schoss zurückzuwallen Das schönste Glück, das reinste Allgebet – Nein, du wirst sterben in verwirrtem Lallen Wie Einer, der sich selbst nicht mehr versteht … Und warst doch herrlich wie ein Stern der Sterne, Getaucht in dichte, nebelhafte Ferne.

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Die Flamme. (Aus dem Cyklus »Acher«.) Und als der grosse Ketzer war begraben, Kamen die stillen weissumhüllten Frauen Und wollten nur: das Stückchen Erde schauen. Denn Acher’s Bild in tiefrem Sinn zu haben Erhofften sie von diesem letzten Grauen. Einst warteten geduldig ihre Gaben, Den Dunklen auf dem dunklen Weg zu laben. An ihm und Gott zerbrach das Glücksvertrauen.

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Nun standen sie, beisammen, ruhevoll. Da ward das Wunder. Aus dem Grabe stieg Weiss eine Flamme, machtbeschwingt, und schwoll. Und jede, selig hingegeben, schwieg. Dann sangen sie – die Flamme wuchs empor – Umschlungen jenen alten Liebeschor.

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Die Erlösung. (Aus dem Cyklus »Acher«.)

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Und zu dem Grab, daraus die Flamme schlug Und weiss den blauen Mondglanz überschien, Trat Meïr, Acher’s Freund und Schüler, hin, Ein Mächtiger, der die Strahlenkrone trug Der Gottgerechten, und dem doch verliehn Urschauen war und tief der schwarze Flug Ins andre Reich. Der kam und sprach: »Genug!«, Und hob den Arm mit seltsam starkem Zieh’n, Als wollte er die Flamme fassen, heben, Und sie entreissen: guten oder bösen Dämonen. Und er schwur: »Wenn jetzt zur Stunde

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Er dich nicht löst, so will ich dich erlösen.« Da legte Gott die Hand auf Acher’s Wunde. Die Flamme starb. Und Meïr sah das Leben.

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Zwei Gedichte aus dem Cyclus »Geist der Herr«. Der Jünger. Die graue Hand des Sturms lag über beiden. Des Meisters Haar trug eine schwarze Glut. Gehüllt und eingewiegt in stummes Leiden War das Gesicht des Schülers, blass und gut. Der Weg war felsig. Blitz und Bergesfeuer Wob rings um sie ein zuckendes Geäst. Des Knaben Schritt ward weich und immer scheuer, Der Alte ging wie immer, grad und fest.

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Die blauen Augen träumten zu den seinen, Und durch die schmalen Wangen schlug die Scham, Der Mund war starr wie von gepresstem Weinen, Die grosse Sehnsucht eines Kindes kam. Da sprach der Meister: »Von dem vielen Wandern Nahm ich der einen Wahrheit goldne Macht: Kannst du dein Eigen sein, sei nie des andern.« – Und schweigend ging der Knabe in die Nacht.

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Die Magier. Der Magier Schar zog an dem Herrn vorbei, Der auf dem schwarzen Throne sass und schwieg. Aus ihren langen magren Händen stieg Der Duft der Nächte auf und zog vorbei. Der eine sprach: Dem Glühn im Bergesschacht, Dem winkend heissen Reifen erzner Frucht Hab’ ich in treuem Schauen nachgesucht, Und fand des Bildens Trieb im Bergesschacht. Der andre sprach: Dem Blut des Samenkorns Lauscht’ ich und hört’ es wachsen und wuchs mit, In beiden war der Welle gleicher Schritt, Ich fand des Werdens Kraft im Samenkorn.

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So sprachen sie. Und andrer Rätselkunst Erzählte viel von dunkler Zeichen Sinn. Wortlos zog ein gekrönter Mann dahin. Ihm ruft der Meister: Sag uns deine Kunst! 5

Der sprach, und jedes Herzens Schlag erstarb: »Vor aller Macht ist mir der Drang geblieben Nach einem Menschen, den ich möchte lieben, Denn alle Macht ist tot.« Das Wort erstarb.

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Zwei Tänze (Aus dem Cyklus »Elischa ben Abuja, genannt Acher«) Einer Hellenin zugeeignet.

An jungem Feld steht Acher mit den Schülern. Der Abend ist in stiller Pracht gekommen Und alle Seelen rührt ein Segen an. Da fasst sich einer von den Jüngern Mut Und spricht zum Meister: »Sieh! Ist’s hier nicht schön? Mischt sich nicht Erd’ und Luft in einem Glühen? Strömt es nicht stolz und reich und sehnend frei In jedem Halm, in jeder Vogelkehle? Und wir, die’s fühlen, sollten hässlich sein? Wir sollten nicht in heisser Schönheit blühen? Das Volk, das all’ dies s i e h t , sollt’ es nicht l e b e n ? Oh du, du sprichst uns immer nur von Jenen, Homer dem Hohen und dem Bildner Phidias, Und jenem Volk, darin sie wachsen durften, – Sieh her, schau tiefer, ist hier wirklich nichts, Kein Sang, kein Schaffen, keines Traums Gestaltung? Nichts? Nichts? …« Elischa schweigt, er senkt die Stirn. Das Ferne, Tote überflutet ihn. Dann spricht er leise: »Ja – ich seh’ es noch – Ja – Schönheit – Gott – ja wir sind voll des Wunders … Ich will euch von zwei Tänzen jetzt erzählen … Den einen sah ich einst, auf einer Reise. Hellenen waren’s, junges, tolles Volk, Bedeckt mit Rosen die geschürzten Kleider. Sie hatte sacht auf grünem Plan die Freude Gefasst und je zwei braune Jünglingsarme Um eines Mädchens zarten Hals gelegt. Dann, wie die selige Stunde überfloss, Konnt keiner mehr des Rausches Fülle tragen, Und jeder löste zitternd das Umfangen Und jeder fasste seines Mädchens Hände, Und dem Zusammenklange vieler Wonnen Entschwebte leis und wunderbar ein Reigen.

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Und so entzückend war das Spiel der Leiber, So friedvoll süss der Glieder Melodie, Dass es mir schien: jetzt atmet Mutter Erde Aus schwerem Traume auf und fühlt befreit Der Kinder schönes, vogelhaftes Glück. Den andern sah ich – ach wie lange schon! – Als Knabe, doch mir ist’s als sei es heut: Denn junge Juden haben ihn getanzt … Es war das Fest der Freude am Gesetze. Gen Abend ging’s, der Abend kam wie heut. Ich lag am Waldsaum, träumte mich weit fort, Denn das Gesetz war mir schon da verhasst Wie Fesselstricke oder Käfiggitter. Da seh’ ich einen langen Zug erscheinen Von Jünglingen in priesterlichem Kleide. Die schreiten langsam, Fackeln in den Händen, Und schreiten langsam, stumm an mir vorüber – Ich sehe immer neue Fackeln brennen Und immer neue Augenpaare leuchten – Und schreiten durch den Wald bis hin zur Wiese, Die man »die Stätte Elijahus« nannte. Ich ihnen nach. Sie bildeten einen Kreis Und heben erst die Fackeln all empor, Dass ein gewaltiger Purpurkranz erstrahlt, Und heben auch die Augen, und es glüht Die Opferflamme hundert junger Seelen In einem starken Flug zum Himmel auf. Dann lösen sie den Kreis, doch schlingen schon Zehn neue sich: der Wechseltanz beginnt. Nicht zwei und zwei – sie tanzen in Gemeinden. Und die in einem Kreise sich bewegen, Sind Lebensbrüder und einander eigen, – Das sieht man. Denn im Zueinanderkommen Schaut Aug’ in Auge, Seele taucht in Seele: Sie lieben sich mit einer grossen Liebe, Die stark ist wie der Tod und ewig dauert. Und jeder schmiegt die eigene Sehnsuchtsglut An die des Freundes; denn sehnsüchtig sind sie Und lechzen, alle Schranken zu zerbrechen Und im Unendlichen wie Gott zu sein.

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Literatur · Gedichte

In diesem Bangen strecken immer wieder Erst scheu, dann wild und stürmisch sie die schlanken Und milchig weissen Arme, werfen hoch Den Fackelnbrand der Himmelsnacht entgegen, Aufrecht, wie kämpfend – oh die freuen sich Nicht des Gesetzes – Sturmessöhne sind sie Und in dem Fieber ihrer Herzen schlummert Das neue Wort, das einst die Welt erneut … « Und Acher schwieg. Die Schüler standen schweigend. Bis Einer sprach: »Nun, Meister?« – »Still! der Tanz Ist Tot! … « Doch jener: »Nein – er lebt in uns – Sieh’ uns ins Aug’ – er lebt in unsern Seelen – Er w a r t e t n u r – sieh her!« – Und Acher sah.

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Elijahu. 1. Könige XIX. 11, 12.

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Du wolltest wie ein Sturmwind niedergehen Und wie der Föhn im Tun gewaltig sein, Du wolltest Wesen hin zu Wesen wehen Und Menschenseelen geisselnd benedein, In heissem Wirbel müde Herzen mahnen Und Starres rühren zu bewegtem Licht, – Du suchtest mich auf deinen Sturmesbahnen Und fandst mich nicht. Du wolltest wie ein Feuer aufwärts drängen Und alles tilgen, was dir nicht bestand, Du wolltest sonnenmächtig Welten sengen Und Welten läutern in geweihtem Brand, Mit jäher Wucht ein junges Nichts entzünden Zu neues Werdens seligem Gedicht, – Und suchtest mich in deinen Flammengründen Und fandst mich nicht. Da kam mein Bote über dich und legte Dein Ohr ans stille Leben meiner Erde, Da fühltest du, wie Keim an Keim sich regte, Und dich umfing des Wachsens Allgebärde, Blut schlug an Blut, und dich bezwang das Schweigen, Das ewig volle, weich und mütterlich, – Da musstest du dich zu dir selber neigen, Da fandst du mich.

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Literatur · Gedichte

Das Wort an Elijahu. Starke sanken klagend ins Grab – Hör in den Lüften, höre den Klang – – Sprich, Menschensohn: Ihr harrtet lang.

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Junge sanken dürstend ins Grab – Fühl alle Dürste noch ungestillt – – Sprich, Menschensohn: Es ist erfüllt. Hohe sanken segnend ins Grab – Siehe, o sieh die erstarrte Geberde – – – Sprich, Menschensohn: Es werde!

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Veröffentlichte Gedichte

[Krieg der Völker …]

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Krieg der Völker heißt des Blitzes Flamme, Doch aus dem sie brach, das Reich der Wolke Ist der Krieg tief drin in jedem Volke, Eingeboren jedem echten Stamme, Aber jetzt aufwallend an der Wende: Krieg der Freien mit den Eingewöhnten, Krieg der Wagenden mit den Versöhnten, Der im Anfang wider die im Ende.

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Wolke stieg aus Millionen Tropfen, Was im Volk sich ballt, ersteht aus allen, Die Entscheidungen des Krieges fallen Denen nach, die heut dein Herz durchklopfen.

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Literatur · Gedichte

Gewalt und Liebe Drei Strophen für das werdende Zeitalter.

1. Unsre Hoffnung ist zu neu und zu alt – Ich weiß nicht, was uns verbliebe, Wäre Liebe nicht verklärte Gewalt Und Gewalt nicht irrende Liebe.

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2. Verschwör nicht: »Liebe herrsche allein!« Magst du’s bewähren? Aber schwöre: An jedem Morgen Will ich neu um die Grenze sorgen Zwischen Liebestat-Ja und Gewalttat-Nein Und vordringend die Wirklichkeit ehren. 3. Wir können nicht umhin, Gewalt zu üben, Dem Zwange nicht entfliehn, Welt zu betrüben, So laßt uns, Spruchs bedächtig Und Widerspruches mächtig, Gewaltig lieben.

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Veröffentlichte Gedichte

Am Tag der Rückschau P. B. gewidmet.

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Der Schweifende sprach zu mir: Ich bin der Geist. Die Schillernde sprach zu mir: Ich bin die Welt. Er hatte mich mit Flügeln überkreist. Sie hatte mich mit Flammenspiel umstellt. Schon wollt ich ihnen fronen, Schon war mein Herz genarrt, Da trat vor die Dämonen Eine Gegenwart. Dem Schweifenden sagte sie: Du bist der Wahn. Der Schillernden sagte sie: Du bist der Trug. Da ward so Geist wie Welt mir aufgetan, Die Lüge barst, und was war, war genug. Du wirktest, daß ich schaue, – Wirktest? du lebtest nur, Du Element und Fraue, Seele und Natur!

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Literatur · Gedichte

[O junge Seelen …] O junge Seelen, die ihr mir entfliegt In Dunkel oder Licht, das ich nicht kenne, Jetzt Körner ihr der namenlosen Tenne, Die unsrer Welt Gewicht noch überwiegt,

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Welch eine Macht ist eure, die erliegt Dem ersten Angriff, und so als gewänne Im Falschspiel euch die listige Gehenne! Ach, es ist eure Macht, die euch besiegt! Ich starb mit euch, doch seid auch ihr erstanden? Wandeln sich Körner ein in frische Ähren, Wie sie zum grünen Kreiswuchs sich verbanden? Das Dunkel hält euch und will ewig währen, – Nun schau ich eure Macht in seinen Banden Und weiß: es muß das neue Licht gebären.

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Veröffentlichte Gedichte

November Für Ludwig Strauß

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Die Rollen brannten langsam und lang. Ich sah aus der Ferne die Funken stieben, Ich sah, wie das Pergament zersprang, Und als ich den Blick zu beharren zwang Sah ich: die Asche sank. Nur das Wort ist geblieben. Die Täter sind nun längst abgetan, Ein wüster Haufe von Henkern und Dieben. Mit ihnen ging die Wut und der Wahn Und die kalte Sucht um den Plünderplan. Ich sah: geleert die Bahn. Unser Wort ist geblieben. Wir aber, sind wir Sprecher dem Wort? Vermögen zu lauten wirs und zu lieben? Ich seh uns ringen – um welchen Hort? Gewaltig der Arm – und das Herz verdorrt? O Stimme ohne Ort, Der das Wort ist geblieben!

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Literatur · Gedichte

Bekenntnis des Schriftstellers Ich bin einst mit leichtem Kiele Ums Land der Legende geschifft, Durch Taten, Werke und Spiele, Unlässig den Sinn nach dem Ziele Und im Blut das berückende Gift – Da ist einer auf mich niedergefahren, Der faßte mich an den Haaren Und sprach: Nun stelle die Schrift. Von Stund an hält die Galeere Mir Gehirn und Hände in Gang, Das Ruder schreibt Charaktere, Mein Leben verschmäht seine Ehre Und die Seele vergißt, daß sie sang. Alle Stürme müssen stehn und sich neigen, Wenn grausam zwingend im Schweigen Das Wort des Geistes erklang. Hau in den Fels deine Taten, Welt! In der Flut ist Schrift erstellt. …

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Veröffentlichte Gedichte

Antwort an Hanns Meinke

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Ja, bete jeder für das volk des andern Die beide durch die dunkle zeitschlucht wandern Und wissens, beide, und sie wissens nicht: Es kommt – kommt uns entgegen, jetzt das licht?

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Literatur · Gedichte

Weißt du es noch … ? Mit einem Exemplar der »Erzählungen der Chassidim« Weißt du es noch, wie wir in jungen Jahren Mitsammen sind auf diesem Meer gefahren? Gesichte kamen, groß und wunderlich, Wir schauten miteinander, du und ich. Wie fügte sich im Herzen Bild zu Bildern! Wie stieg ein gegenseitig reges Schildern Draus auf und lebte zwischen dir und mir! Wir waren dort und waren doch ganz hier Und ganz beisammen, streifend und gegründet. So ward die Stimme wach, die seither kündet Und alte Herrlichkeit bezeugt als neu, Sich selbst und dir und dem Mitsammen treu. Nimm denn auch dieses Zeugnis in die Hände, Es ist ein Ende und hat doch kein Ende, Denn Ewiges hört ihm und hört uns zu, Wie wir aus ihm ertönen, ich und du.

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Veröffentlichte Gedichte

Chassidut Nach Vollendung des Buches »Die chassidischen Bücher« – Ist Chassidut wohl Frömmigkeit zu nennen? – Irdische Züge lernt ich an ihr kennen. 5

– So heiß sie Güte dann und Mildigkeit? – Da bandst du allzusehr sie in die Zeit. Dem Himmel nah, ist nah sie dem Getriebe – Drum deutsche ich sie ein: die Wesensliebe.

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Das Wesen liebt der Chassid, liebend hält Er’s fest in Gott, im Menschen, in der Welt. Die Wesensliebe überall zu suchen Ging ich einst aus, um sie getreu zu buchen. In diesem Buch vereint ist, was ich fand, Ein Traum, ein wahr Geschehn, ein Heimatsland.

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Literatur · Gedichte

Die Drei In jener so tumultuösen Zeit, Aus der wir alle widerwillig stammen, Lebten dreieinig diese drei beisammen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch wenn von drein, die miteinander wohnen, Zwei kaum was andres sind als Abstraktionen, Konkretisiert nur durch den Lebenshauch Der dritten, kann man sich gar leicht entdrein. Es fliegt sich leicht nach West, nach Osten auch, Man hat ja hier und man hat dort Verwendung Für die »Ideen« – nun nahn sie der Vollendung.

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Veröffentlichte Gedichte

Rachman, ein ferner Geist, spricht

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Schon kämpfen im krachenden All Die Götter und die Gespenster, Da fliegt mir, der Flug ist ein Fall, Ein graues Vöglein ins Fenster. Vom Himmel regnen die Gluten, Blakend birst schon der Erdengrund. Auf die Bank sehe ichs bluten, O mein Vöglein, wie bist du wund!

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Übers schütternde Weltgewirr Legt sich ein fahliger Schatten. Das Auge des Vögleins blickt irr, Sein Herz ist nah am Ermatten. Und mag wie immer er enden, Der Kampf zwischen Asen und Hel, Ich hege in zitternden Händen Das zitternde Israel.

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Literatur · Gedichte

Zuseiten mir Zuseiten mir sitzt Melancholie (So hat einst sie der Meister gesehn). Sie spricht mich nicht an, sie flüstert nie, Nur ihres Atems zögerndes Wehn Trägt zu mir, bis ans innerste Ohr, Des Geistes Klage, der – wann doch? Wie? – Das Leben der Seele verlor.

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Veröffentlichte Gedichte

Der Fiedler Für Grete Schaeder

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Hier, am Weltrand, habe ich zur Stunde Wunderlich mein Leben angesiedelt. Hinter mir im grenzenlosen Runde Schweigt das All, nur jener Fiedler fiedelt. Dunkler, schon steh ich mit dir im Bunde, Willig, aus den Tönen zu erfahren, Wes ich schuld ward ohne eigne Kunde. Spüren laß michs, laß sich offenbaren Dieser heilen Seele jede Wunde, Die ich heillos schlug und blieb im Schein. Nicht eher, heilger Spielmann, halte ein!

Unveröffentlichte Gedichte

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Literatur · Gedichte

Aus jüdischer Stimmung Inhalt:

Ich wandle unter euch … Und schon war die Nacht ein Meer … Mein Herz.

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Der Ackersmann. Zu früh. Neue Jugend. Maizauber. Des Volkes Erwachen.

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Gebet. An Narcissus. Ein Purim-Prolog. Vierwaldstättersee. Der Segen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Ich wandle unter euch …

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Ich wandle unter euch, erfüllt von Schweigen, Und schau auf euch, wie man auf Bäume schaut, Die niemals wissen, wem sie sich verneigen, Und schau auf euch, wie auf die scheue Braut, Die mutlos geht zum frohen Hochzeitsreigen, – So wandl’ ich unter euch, erfüllt von Schweigen. Ihr kennt mich nicht, und eure Blicke fliegen Zu Clown und Rufer, aber nicht zu mir, Und nichts wisst ihr von meinen grossen Kriegen, Wo ich ganz Gott war und ganz durstig Tier; Zur blauen Höhe, die ich mir erstiegen, Sah ich noch nie den schweren Blick euch fliegen. Und doch soll alles, was ich mir errungen, Was meine goldne Wunscheskraft mir gab, Was ich gefühlt, geschaffen und gesungen, Nur eine Blüte sein am Wanderstab, Den ihr so müd, so hoffnungslos geschwungen. Gern geb ich alles, was ich mir errungen. Und wird mein Geist euch auf die Knie zwingen, Wenn diese Hand schon längst in Erde ruht, Dann soll mein helles, liebevolles Singen Euch neuen Stolz und neuen Lebensmut Und hohe freie Weggewissheit bringen – Und vor euch selbst euch auf die Kniee zwingen. Und schon war die Nacht ein Meer …

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Und schon war die Nacht ein Meer, Und es wogte leise, Schwammen über, unter mir Wunderbare Kreise. Und ein Flüstern ging ringsum, Worte, nicht zu fassen, Laute, die sich schmiegen sacht,

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Literatur · Gedichte

Laute, die sich hassen. Nach den Kreisen griff ich still, Flocht sie mir zu Kränzen, Fühlte bald auf meiner Stirn Sternenkronen glänzen.

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Und die Laute fügte ich Weich zu Sangeswellen, Fühlte bald aus meiner Brust Eine Welt entquellen. Sieh, da streichelt es mein Haar, Dankbar süsses Kosen, Meines Reiches Liebesgruss Und ein Duft der Rosen.

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Mein Herz. Ich will mein junges Herz dem Volke geben Und meines Herzens wogenden Gesang Und alles, alles, was mir je im Leben Aus ungeahnten Wundertiefen drang. Mein junges Herz – nicht in sich selber kreisen Soll’s in des Werdens heimlicher Gewalt, Nicht nur in Liedern, innern, seufzerleisen, Austönen das, was stürmisch es durchhallt. Nein, wie die Sonne soll es Strahlen spenden, So still verschwendrisch, in erglühter Pracht, So wie mit vollen nimmermüden Händen Ausschütten Licht in Nebelrauch und Nacht. Und wie die Sonne soll’s in Purpur sterben, Im eignen Blut, umströmt von hellem Rot. Oh selig schönes, jauchzendes Verderben – Zum letzten Mal sich schenken: seinem Tod!

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Der Ackersmann.

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Ich sah einst einen Ackersmann Still über schwarze Felder schreiten, Er liess das goldne Weizenkorn In tragbereite Schollen gleiten, Er gieng so hoch, er gieng so fest: Ein Herr, der Zukunft wachsen lässt. Da ward ich reiner Demut voll Und sprach zu mir: »Was soll dein Leben? Kannst du, wie Dieser, deiner Welt Zu neuen Formen Keime geben? Hast du, wie Dieser, eine Kraft, Die grüne Werdenstriebe schafft? Du hast sie nicht, du weisst es wohl, Du kannst dein Hoffen nur erträumen. So bist du denn das Samenkorn Und reifst in dunklen Zeugungsräumen? Ragst morgen schon in vollem Licht, Ein Drang, der seine Fesseln bricht? Du wirst es nicht, du weisst es wohl, Bleibst an dein enges Hier gebunden. So bist du denn das Ackerland Und ahnst die heilgen Mutterstunden? Und ahnst in stummer Seligkeit Ein schweres, lebensschwangres Leid? O meine Seele, unfruchtbar War stets dein Schoss und wird es bleiben, Nie wirst du gelber Sommersaat Beglänzte Fülle selig treiben, Du bist ein Lied, das Niemand singt, Das keinem Trost und Frieden bringt.« Da sah ich, wie der Wirbelwind, Der keck des Sä’manns Thun belachte, In seinen weichen Furchengrund Vielhundert graue Körnchen brachte.

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Literatur · Gedichte

In jedem glüht ein Seelchen schon: Kornblume, Rade, wilder Mohn. Ein Volk ohn’ Ernst und ohne Kraft, Voll krauser Lust und bunter Launen, Doch musst’ ich den verborgnen Glanz, Der künft’gen Blüten Reiz bestaunen, So formenreich, so farbensatt Sah ich im Geiste jedes Blatt. Und meine Seele sprach zu mir: »Oh lehre deine Demut schauen, Und ein gekröntes Blumenreich Wird ihrem Aug’ in dir erblauen. Du wilde Blume, heiss und still, Die von der Welt nichts weiss und will. Der Brüder Armut, Durst und Leid Kannst du mit Flamm’ und Blut nicht stillen, Doch lebt in tiefstem Herzen dir Ein leuchtend starker Schönheitswillen. So lass ihn, schwer von Prachtgeschenken, Mit Duft und Glanz die Menschen tränken. Und giesse deiner Farben Saft Aus über Träume, Schmerz und Irren, Der dunklen Dränge Rätselspiel Mit Lichtesruhe zu entwirren, Und all dein Blühn sei eine Macht, Der Welt aus vollem Glück gebracht.« – Der Abend deckte schon das Land. Der Ackersmann war heimgegangen. Ich lag auf schwarzem Feldesrand Und alle meine Sinne sangen. Der Stimmen lauter Jubelchor Stieg zu den Sternen stolz empor.

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Zu früh.

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Wie stumm verzweifelnd Dieser geht! Er kam zu spät. Du aber glühe höher, glüh, Mein junges Herz, Du kamst zu früh. Vom Kampfe, eh der Feind noch naht, Schon bebt die That, Schon stürzt die flammenwilde Kraft, Und kommt die Zeit, Ist sie erschlafft. So war dein Thun und Streben nicht, Dein Weg war licht Und Ruhe strömt durch deine Glut, Du kennst dein Ziel, Und so ist’s gut. Ein Sämann warst du, der zum Segen sät Und heimwärts geht. Er weiss: er wird die Frucht nicht schaun, Und ruft doch froh: »Gott darf man traun!« Neue Jugend.

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Wie müde Wandervögel waren wir, Wir jungen Juden, stumm und ohne Ruh, Wie ein gehetztes, todesbanges Tier Sah jeder starr dem Weltgetriebe zu, Und wollte doch ein Blitz das Aug’ entzünden, War es wie Sterne, die in Nacht verschwinden. Wie schmaler Blumenstengel schwanke Schaar, In eines Glases enges Rund gepresst, So waren wir. Und wie ein kranker Aar Im Käfig, fern vom felsgeschützten Nest, In Sehnsucht schweigt, so war in tiefer Stille

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Literatur · Gedichte

Ein einsam stolzer Schmerz nur unser Wille. So fruchtlos war ja alle unsre That, So ohne Zukunft unser junger Drang; Wenn je uns vor das durst’ge Auge trat Des Lebens Glut und goldner Ueberschwang, Da bebte unser Herz, doch durch die Hände Rann träg das Blut, und nirgends war ein Ende. Nur manchmal ahnten wir es dämmerhaft, Dass uns ein ander Loos entgegenquoll, Und keinem war der Mut so tief erschlafft, In diesem Traume war er Glückes voll; Sah er dies Leuchten durch das Dunkel schweben, War er berauscht und wollte doch noch leben. Da ward es Licht. Ein ruhig grosses Wort, Das stiller Träumer schlichtem Mund entsprang, Hob uns empor und riss uns mit sich fort Und gab uns Hoffnung und gab uns Gesang; Des Traumes Deutung, unsrer Ahnung Zeichen, Schuf es uns Bettler um zu Ueberrreichen. Da wurden unsre Augen froh und hell, Und unsre Herzen wurden stark und weit, Von jedem Felsen sprudelte ein Quell, Aus jedem Sehnen wurde Tapferkeit. In jeden Willen goss den Segenswein Die reine Kraft des Worte: »Jude sein!« Nun tritt das Leben streng an uns heran Und heisst uns wählen: Sklave oder frei! Wir zaudern nicht, wir stehen Mann bei Mann, Die alten Ketten reissen wir entzwei, Und laut hinaus in ersten Sonnenschein Tönt unser Ruf: Wir wollen Juden sein!

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Maizauber.

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Kahl und starr ist noch der Baum, Doch im allerhöchsten Zweige Sitzt der Frühling, und er geigt Sehr vergnügt auf seiner Geige. Weiss der Zweig nicht, ob er’s soll, Aber bald wird er es müssen, Denn die Luft bebt von Gesängen Und die Erde bebt von Küssen.

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Und noch in dem kleinen Zweige Küsst sich’s wie von Menschenlippen. Bald wird an das grüne Herzchen Rosenfarbner Finger tippen. Junges Spriessen wird sich bald Aus besonnter Schale drängen, Denn die Erde bebt von Küssen Und die Luft bebt von Gesängen. Des Volkes Erwachen.

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Ein Ruf erschallt, ein Heilwort ist gegeben Und unser Mut ist wunderbar erwacht: Empor, mein Volk, zu Ende ist die Nacht, Steh auf und schreite, denn jetzt wirst Du leben. Einst bist Du müd am Wege hingesunken – Die Lösung naht, der Morgen blickt auf Dich, Es segnet Dich die Flut der Sonnenfunken, Und alles harrt. Wohlan, mein Volk, so sprich! – »Wie kann ich aufstehn und wie kann ich schreiten? Was sollen mir die morgenfrischen Lieder? Mein Herz ist krank und wund sind meine Glieder, Auf meiner Stirn ruht Last von Ewigkeiten. Blind sind die Augen mir von vielem Weinen Und dicht umhüllt von starren Finsternissen,

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Literatur · Gedichte

Die Füsse bluten mir, vom Dorn zerrissen, Die Hand ist siech. Mir will kein Licht erscheinen.« Die Kraft erglüht. Mein Volk, Du sollst gesunden. In unsrer Hand sind balsamstarke Tränke, Die Liebe gab uns für Dich Heilgeschenke. So waschen wir das Blut von Deinen Wunden, Wir heben ab die Nacht von Deinen Blicken, Von Deinem Leib die Müdigkeit und Last. Dann fühlst Du stolz mit staunendem Entzücken Das Gottesfeuer, das Du wieder hast. Es lauscht erregt und kann den Traum nicht fassen, Doch wieder kraftlos sinkt das Haupt zurück: »Oh zeiget nicht ein trügerisches Glück. Mir ist kein Heil. Mein Gott hat mich verlassen. Und hör ich neue Kraft mir auch verkünden, Ich finde nie ein Heim und nie ein Bleiben. Die dunklen Mächte, die mich rastlos treiben Von Land zu Land, wann werden die verschwinden?« Sie sind verschwunden. Denn ein eignes Haus, Ein gottgeweihtes, wollen wir Dir bauen. Auf eignem Boden stehend, sollst Du schauen Nach Ost und West und übers Meer hinaus. Wie in den alten Zeiten soll Dich grüssen Das goldne Korn, von Deiner Hand gesät, Und wieder siehst Du lächelnd Dir zu Füssen Die stillen Fluten des Genezareth. Gott ist in uns! Siehst Du nicht sein Gebieten In unsrer Augen zukunftsfrohem Glanz? Er nimmt von Deinem Haupt den Dornenkranz Und schmückt mit Rosen Dich, mit jung erblühten. Erhebe Dich, mein Volk, Dein Retter naht, Der Tag ist da und leuchtet uns zur That. – Und als sich Sonnenblick und sein Blick fanden, Da ist mein Volk in Strahlen auferstanden.

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

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Gebet.

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Herr, Herr, schüttle mein Volk, Schlage es, segne es, grimmig, lind, Mache es brennen, mache es frei, Heile Dein Kind. Gott, gieb die verlorene Glut Meinem ermattenden Volke zurück, Schenk ihm in wilden rauschenden Flammen Schenk ihm Dein Glück.

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Siehe, ein Fieber nur kann es retten Und der rasende Ueberschwang. Weck ihn und, Vater, zu Jordans Fluren Führe den Drang. An Narcissus.

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Einigen jungen Juden zugeeignet.

Du siehst die Andern ihre Arme breiten In einem fruchtlos suchenden »Wohin?«, Du siehst sie irrend durch die fremden Weiten In dumpfem Jammer, hohlem Schauen ziehn, Und kosest still mit deinen Seligkeiten, Schlürfst lächelnd ein die eignen Melodien, Du fühlst’s in Dir von Griechengöttern rauschen, Die hellen Blickes Nektarbecher tauschen. Und jeder Tag taucht nur dazu ins Leben, Um deiner Seele neues Prunkgestein Und neuen Sang und neues Spiel zu geben, Und jede Nacht, um süsse Märchenfei’n In bunten Schleiertraum dir einzuweben, – Du ringst dich nie frisch in die Welt hinein, Und glüht dein Herz im Wirbeltanz der Funken, So ist’s von bleichem Traumesweine trunken.

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Literatur · Gedichte

Wohl denkst du oft des Volkes Glut und Sehnen, Im Daseinsdrang verkümmert und verrenkt, Und musst die Stirn dir in die Hände lehnen, Von so viel todter Schönheit wundgekränkt, Doch nicht wie man mit wilder Angst und Thränen, Die Faust geballt, in heissen Schwüren denkt, – Wie herbstlich müde Sonnenuntergänge Zerfliessen deines Schmerzentraumes Klänge. Und wieder kehren deine Liebesspiele In dich zurück mit ihrem Spiegeltand; Ein Blütenkelch auf überzartem Stiele, Bist kaum du noch in festen Grund gebannt; Schon schwebst Du frei und unbeirrt vom Ziele, Dein Auge schwelgt in deinem Zauberland, All Sein wird dir zum sanften Wellenzittern, Das unberührt von Winden und Gewittern. Und doch kommt einst auch dir ein weher Morgen, Beglänzt von trübem, herbstlich welkem Strahl, Da wird dein Geist durch keinen Schatz geborgen Vor stummem Zehren, ungesprochner Qual; Ein Trank aus blinden Fragen, Rätseln, Sorgen Wird dir geschenkt im funkelnden Pokal, Kein Reichtum schützt dich und kein Seelenprangen Vor einem tastend grauenhaften Bangen. Dann wirst du dürsten nach dem Duft der Schollen, Nach Zorn und Hoffnung, Leidesmut und Lust, Und wirst verzweifeln, wenn die Tage rollen Und du dir stets nur deines Traums bewusst, Du wirst dich sehnen nach Gebot und Sollen, Nach einem Gott, der donnernd ruft: »Du musst!« – Doch alle Welten werden ihren Reigen In Ruhe ziehn, und furchtbar sein und schweigen. Da wirst du einmal liegen in den Nächten, Und deine Kräfte, die du Schicht auf Schicht Getürmt, dass einst sie Siege dir erfechten, Sind, ungebraucht, erloschen wie ein Licht, Du selbst wirst dir zur Dornenkrone flechten

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Der Jugend rosenschimmerndes Gedicht, Und wirst dein Elend hellen Auges sehen Und Alles wissen, kennen und verstehen.

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Dann wirst du sterben, nicht wie der mit Allen Gelebt und nun in Aller Glanze geht, Dem nun an Mutters Schoss zurückzuwallen Das schönste Glück, das reinste Allgebet, – Nein, du wirst sterben in verwirrtem Lallen Wie Einer, der sich selbst nicht mehr versteht. – – Und warst doch herrlich wie ein Stern der Sterne, Getaucht in dichte, nebelhafte Ferne. Ein Purim-Prolog. Buch Esther III. 2.

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Wir feiern heut ein froh bescheidnes Fest, Nicht einen jener Tage, da der Himmel In göttlich weiter Herrlichkeit erstrahlt Und goldene Fäden leis herniedergleiten In Menschenherzen, die sich scheu erschauernd Und tief durchglüht dem Heiligen ergeben. Nein, nur ein Fest des Frohsinns und der Farben, Ein Fest der bunten tollen Maskenzüge, Der Augen, die beglückt in Augen schaun. Und doch spricht unsres Volkes stillste Seele Aus dieses Festes Tanz, aus seinem Lächeln. Denn diese Freude, die ihr kaum begreift, So fremd und fern erscheint sie eurem Wesen, Volksfreude ist’s, und ihr verborgner Wert Ist heimlich in Jahrhunderten erworben. Die Freude des Befreiten ist’s, der dumpf Das ganze Jahr des Elends Ketten schleppte Und nun für einen Tag dem Joch entrinnt, Die Arme reckt und auf zur Sonne schaut. So war es unserm Volk an diesem Fest: Da fiel von ihnen aller Jammer ab, Die Schmach des kleinen, atemlosen Lebens, Und stolz, in stolzes Flitterzeug gehüllt,

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Literatur · Gedichte

Bewegten sie die sonst so müden Glieder In Scherz und Reigen, und vergessen war Der grosse Schmerz der Zeit, der Tage Not. Ein Fest der Lose war ja dieser Tag, Und wie im Spiel die weiss und schwarzen Lose In stetem Wechsel fallen, so erschien Vielleicht auch Manchem seines Volks Geschichte Als solch ein Spiel der schwarz und weissen Lose. Und tagte nicht manch still verträumtem Knaben In ahnungsfreud’ger Seele schon der Ruf, Den er vier Wochen später schallen hörte: »Heut Knechte, morgen sind wir freie Herren! Dies Jahr in enger, sonnenloser Fremde, Das nächste Jahr in unsrem Vaterland!« … Und der verträumten Knabenseele kam Ein wunderbares Bild: im Thor des Perserkönigs Sitzt still mit grauem Bart ein hoher Mann; Es gehen Fürsten stolz an ihm vorüber, Doch jener neigt die mächt’ge Stirne nicht, Die furchenreiche Stirn, darauf des Volkes Leid In unlöschbaren Lettern eingegraben … Des Knaben Seele glüht dem Bild entgegen Und seine blassen Lippen flüstern heiss: »Ich beug mich nicht. Komm, Elend, kommt, Ihr Qualen, Du tausendfältges Weh, komm über mich, Nehmt mich in eure Arme, drückt mich fest An eure Brust, zermalmet mir das Herz: – Ich bin ein Jude und ich beug mich nicht.« Und mitten in des Maskenzugs Gewoge Lodert ein Schwur empor zum blauen Himmel.

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Wir feiern heut’ ein froh bescheidnes Fest, Ein Fest des Frohsinns und der bunten Farben, Und doch ist unsres Volkes stillste Seele In diesem Spiel und spricht aus ihm zu euch. (von einer Purim-Feier der nationaljüdischen Vereine Berlins)

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Unveröffentlichte Gedichte · Aus jüdischer Stimmung

Vierwaldstättersee. Eine Erinnerung.

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Am Bugspriet stand ich, und der wilde Föhn, Grauäugig, gross, in feuchtem Lockenglanz, Sah mir ins Auge, und ich ihm in seins. Und seine Hände spielten mit dem Schiff. Es war wie tausend Hände. Tobend drang Die Flut zu mir und Lechzen war ringsum Nach Menschenleibern und nach dunklem Sieg. Laut jauchzte es in mir, und meine Brust War glückgeschwellt von diesem kalten Wind, Der durch die Kleider fuhr und mich umschlang. Und neben mir sah ich ein Mädchen stehn, In junger Freude, ungeschickt und zart, Das keck wie ich die Brust dem Sturme bot. So herb und süss war dieser Glieder Spiel, So stillbewegt und grosser Sehnsucht voll, Dass sich mein Jubel mehrte und ich sang. Wohin, wohin, Noemi? Verschmachtet nicht dein Herz? Bebt nicht dein Schritt Vor stummen Bangens Qual, Vor wilden Traumes Lust? Verschmachtet nicht dein Herz Und weiss nicht was es will? Noemi! Kommt das Leben, fasst dich an, Bricht das Bangen, bricht den Traum, Bricht dein Herz, Noemi! Nicht in eines Mannes Arm Sollst du dich schmiegen, Irres banges Vögelein du! An einer Ceder hohen Stamm, An deines Volkes Baum Sollst du dich lehnen, Und fest den Fuss, das Auge klar,

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Literatur · Gedichte

Dein Leben fassen Mit eigener Hand, Dein Leben trinken Mit seligem Mund, Stille du, sonnige Braut, Noemi! So sang ich vor mich hin. Und sieh, der Föhn Sang dieses Lied mit mir, und seine Hand Glitt über Harfen, die das Wasser barg, Und spielte diese Weise. Aber stumm Und staunend stand sie. Plötzlich kam ihr Blick Zu mir geflogen und sie bebte auf. Und flog mir um den Hals und küsste mich. Und sprach: »Dem Volke!« Doch der wilde Föhn Stand wie ein Gott und segnete sein Kind.

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Der Segen. Nie hat mich die Nacht so labend, So voll Liebe angeblickt, Wie an diesem blauen Abend, Da sie mir das Schönste schickt. Ganz umhüllt von ihren dunkeln Weichen Flügeln und umrauscht Seh ich fernste Sterne funkeln Und mein trunkner Wille lauscht. Nicht ein Windhauch will sich regen, Alles liegt und atmet still. Durch die Welten kommt ein Segen, Der mein Herz beglücken will.

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An Paula

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Literatur · Gedichte

[Und heute, heut bist du …] Und heute, heut bist du mein Weib geworden, Nun komm und reiche bräutlich mir die Hand, Zwei erdenfrohe seegeweihte Pilger Ziehn wir hinaus ins helle Sommerland.

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Zwei Götter, die durch graue Ewigkeiten, Gestaltenreich, sich suchten ohne Rast, Gehn wir und lachen der zerrissnen Kleider Und all der abgeworfnen Erdenlast. Gar still und ernst sehn wir uns Aug in Auge – »Bist du’s?« – »Bist du’s?«, und das Erkennen singt, Wie Kinder stammeln, wenn der frische Morgen So ungeahnte Wundergaben bringt. Kein Kuss, kein Wort, – wir tragen Purpurmäntel, Ich reiche dir die liebesstille Hand, Zwei erdenfrohe seegeweihte Pilger Ziehn wir hinaus ins helle Sommerland.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

Sehnsucht. Meiner lieben Frau zugeeignet.

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Von Herbstlust trunken wie von altem Wein Such ich, mein Mädchen, dich auf allen Wegen, Ich sehne mich nach deines Kusses Segen, Nach deiner Augen wundervollem Schein, – Nach deiner milden Schönheit ist mir bange. Mit lautem stolz begehrendem Gesange Durch stumme Strassen schreite ich allein, Von Herbstlust trunken wie von altem Wein. Der roten Blätter Schwermut sieht mich an. Sie liegen still, die armen schwachen Leichen, Doch steigt ihr Schmerz in zartgefügten Zeichen Zu mir, bis zu dem Singemund hinan. Und während sie noch purpurner sich färben, Hör ich sie flüstern: »Oh wie süss zu sterben, wie gramvoll süss, du kranker trunkner Mann!« Der roten Blätter Schwermut sieht mich an. Die Arme reck ich und mein Lied erklingt Noch lauter, freier. Hei! aus voller Kehle Sing ich sie aus, die fessellose Seele, Wie nur der Engel und die Lerche singt. Ihr welken Blätter, gerne wollt ich spenden Von meinem Leben euch mit vollen Händen, Doch bringt den Tod euch, was mir Leben bringt. Die Arme reck ich, und mein Lied erklingt. Die Sterne schauen staunend auf mich hin, Mit müdem Silberarm seh ich sie winken, Seh Strahlenboten zu mir niedersinken Und huldgen meinem sangesfrohen Sinn. Ihr Reigen lockt und ihre Blicke strahlen, Mich dünkt, sie trinken aus Krystallpokalen Zu Ehren meiner Liederkönigin. Die Sterne schauen staunend auf mich hin.

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Literatur · Gedichte

Ich lache auf und hör mein Lachen gern. Habt Dank, ihr Sterne, treue Reichsvasallen, Ihr einzgen Treugebliebnen von den Allen, Die einst mich nannten ihren Lehensherrn. Zieht es auch euch nach unserm Heimatslande? So sprengt gleich mir des neuen Gottes Bande, Seid was ich bin: ein freier Himmelsstern. Ich lache auf und hör mein Lachen gern. Auf meine Stirn senkt sich ein goldner Glanz Wie eines Gottes sonnenfarbne Krone. Mir ist, als säss ich wieder auf dem Throne Und säh sich neigen mir der Welten Tanz. Madonna! komm an meine rechte Seite Und vor der Sterne treuem Brautgeleite Nimm auf dein Haupt den roten Blätterkranz. Auf meine Stirn senkt sich ein goldner Glanz. – Von Herbstlust trunken wie von altem Wein Such ich, mein Mädchen, dich auf allen Wegen, Ich sehne mich nach deines Kusses Segen, Nach deiner Augen wundervollem Schein, – Nach deiner milden Schönheit ist mir bange. Mit lautem stolz begehrendem Gesange Durch stumme Strassen schreite ich allein, Von Herbstlust trunken wie von altem Wein. Meine liebe Frau, nimm dieses alte Gedicht als stilles Zeichen des grossen Traums und der grossen Erfüllung. Martin 2. X. 99.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

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[In meines Traumes blauen Nächten …] Für Dich.

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In meines Traumes blauen Nächten Kommst du mir, weich und wundersam, Wie einst der Schritt der fernen Mutter Zum einsambangen Kind kam. Und deine Hand kühlt mir die Schläfe Und deine Stimme ist ein Trost, Der meiner Seele lässig Liegen Mit sanftem Wiegensange kost. Vom reinen Himmel meiner Wünsche Fliesst goldig wellenzarte Ruh, Am reinen Himmel meiner Wünsche Tront strahlend eine Sonne: du.

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Literatur · Gedichte

[Still in flammendem Duft …] Still in flammendem Duft Bin ich zu dir erwacht, Und nun hebt’s sich und fliegt In die weite offne Nacht.

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Liegt mein Kindchen bei dir, Dehnt die Aermchen zum Licht, Streichelt der Vogel ihm sacht Das kleine stumme Gesicht. Ungeborenen Blick Sucht er auf zaghaftem Grund Und ein Flügel berührt Leis den geschlossenen Mund. »Tiefres Sehen als meins, Hellres wärmeres Wort.« Küsst der Vogel dein Herz. Bebend, und flattert fort.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

Erlebnis.

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Ich gehe träumend durch das hohe Feld, Wo weicher Wind die Roggenhalme wellt, Und denke, wie ich doch so ganz allein Und fern von meinem süssen Lieb muss sein; Hier fühl’ ich ihres Herzens banges Schlagen, – Wie mag das Kind die schweren Stunden tragen? So fein ist es, so scheu und gliederzart, So recht nach junger Singevögel Art, Die sich mit Schwirren und versteckten Thränen In jedem Sturm nach Mutters Flügel sehnen. Wie soll es, einsam in der grossen Stadt, Schwach, unbeschützt, von stummer Sehnsucht matt, Wie soll es leben? Meine Seele schreit Zum Himmel auf aus tiefem tiefem Leid. – Da seh’ ich hin – in meines Herzens Bangen Bin ich in fremdes Erntefeld gegangen. Vor mir sind Garben, gelb und sonnenheiss, Wie noch durchglüht von ihrer Schnitter Schweiss, Der steten Arbeit volle goldne Frucht, Allheilig dem, der ihre Seele sucht. Ich bücke mich: vor einer Garbe liegt, Vom Sonnenstrahl in Schlummer eingewiegt Und halb verdeckt von hängendem Getreide, Ein Bauernkind in schmutzig rotem Kleide. Sein flachsnes Haar klebt an der Stirne nass, Und seine Wangen sind so kränklich blass, Dass meine Brust es wie ein Schauer packt. Des Kindes Füsse liegen mager, nackt, Verkrümmt von Krankheit und bedeckt mit Schwären, Ganz eine Wunde, unter gelben Aehren. – Da johlt es nah, der Schnitterhaufe lacht, Ein tolles Kreischen, – und das Kind erwacht. Erwacht und dehnt die Aermchen was es kann, Und sieht mich starr mit seinen Augen an. Oh dieser Eine Blick, so stumm und laut, Wie dessen nicht, der seinen Tod erschaut! Oh diese blauen Augen, die sich hoben Und langsam, gross, sich wendeten nach oben, So voll von einem unermessnen Leid

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Literatur · Gedichte

Wie keine mehr in aller Ewigkeit! Und war in ihnen nur ein Wort zu sehen, Das Wort: »Ich werde durch das Leben gehen.« Da schlich ich fort und weint’ in mich hinein Und dacht’ nicht mehr, dass ich so ganz allein, Dass mich mein Lieb für Monate verliert, – Zwei graue Hände hatten mich berührt.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

Paula.

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Meine Seele ist eine Harfe, Harfe mit goldenen Saiten. Spiele auf ihr, oh spiele auf ihr Das goldene Lied der Freude. Meine Saiten, Meine Saiten zittern dir zu. Meine Seele ist ein Becher, Becher mit blutigen Steinen. Trinke aus ihm, oh trinke aus ihm Den blutigen Rausch der Freude. Meine Steine, Meine Steine blitzen dir zu. Meine Seele ist ein Kind, Kind mit seligen Augen, Lerne von ihm, oh lerne von ihm Den seligen Tod in Freude. Meine Augen, Meine Augen rufen dir zu.

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Literatur · Gedichte

Triolet. Still durch stillen Raum Wie in schüchternem Traum Giengen wir. Du nahmst meinen Arm, Sprachst so quellend und warm: »Sag es mir!« Oh du, wie das klang! Da ward Alles Gesang Und Leben und Liebe zu dir.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

[Wir wissen nichts …]

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Wir wissen nichts von Nehmen oder Geben In unsrer Liebe unsichtbarem Reich, Wir sind ein einzges, selbstbewusstes Wesen, Im Tiefsten einig, zwiespaltlos und gleich, Ein Gott sind wir und fühlen in uns spriessen Das krafterfüllte, wissende Geniessen. Wir sind das Wort, das aus des Chaos Dunkel Sich tönend, leuchtend, formbegabt entrang, Der Geist, der feindlich wahlverwandte Mächte Zu Einem band in ewgem Schaffensdrang; Der grossen Liebe unfassbares Wesen Sind wir stets neu zu bilden auserlesen. Wir waren stets und werden immer bleiben, Ein wechselnd Spiel geheimster Einheitssucht, Des Weltalls Spiegel und des Weltalls Lösung, Der Keim, die Blüte und die volle Frucht; Natur hiess uns als Rätselzeichen schreiten Durch lebenschwangre, tiefe Ewigkeiten.

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Literatur · Gedichte

[Mein kleines Liedchen …] Mein kleines Liedchen ist es nicht Das zu dir spricht. Vieltausend Sterne haben heut An meiner Seele sich erfreut. Und wenn des Tages Lärm entwich Und ich dir sage: Liebe mich! – Dann ist es mein Begehren nicht Das zu dir spricht. Die beiden Lippen sind mir nur Ein treuer Bote der Natur. Vieltausend Sterne glühn in mir, Vieltausend Sterne sagen’s dir Herzinniglich: Liebe mich!

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

An Paula

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Der Abgrund und das Weltenlicht, Zeitnot und Ewigkeitsbegier, Vision, Ereignis und Gedicht: Zwiesprache wars und ists mit dir

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Literatur · Gedichte

[Vergib mir doch …] Vergib mir doch die unbedachten Worte! Mein Herz begehrt, dass mir die Zunge dorrte, Wenn je, in einem noch so nichtigen Nu, Ich dies vergässe: Auch die Müh warst du! Die Helligkeit, die Wärme, das Bewegen, Der Fruchtschoss so und so der Geistessegen, Doch all das nicht allein, nein, spät und früh Auch das Gemein-und-Heilige, auch die Müh! Ich weiss es mit dem Sinn und mit dem Blute, Dass nie im harten Dienst die Hand dir ruhte, Wie nie die Seele ruhte in dem hehren – Lass meinen Kuss die Spurn der Müh verehren!

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

Erlebnis.

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Sie weinte schwer, sie weinte lang, – nun hat sie ausgeweint, Nur aus den müden Augen noch die müd’re Seele scheint. Nur durch die schmale weisse Hand, eng an die Stirn gepresst, Geht manchmal noch ein leiser Krampf, der sie nicht ruhen lässt. Nun ist sie wie ein armes Kind, verweint und matt vom Trauern, Nun will mich selbst ihr blondes Haar in seiner Fülle dauern. So tret’ ich hin zu ihr und nehm’ ihr Köpfchen in die Hände Und leg’ es sanft an meine Brust und streichl’ es ohne Ende. Und trinke ihren müden Blick, der mir noch nicht vertraut Und über mich hinweg, hinaus in andre Welten schaut. Bis er im Stahle meines Augs sich fest und sicher fand Und mir mit scheuer Andacht folgt in mein besonntes Land. Du krank und zitternd Vögelein, nun will ich deine Wunden Mit weicher warmer Hand erfreun, nun sollst du mir gesunden. Sollst mit mir über Flurengold und Bergespurpur fliegen, Auf lindem Luftboot dich mit mir am Silbersegel wiegen. Die Strahlenwellen des Lazurs solln dich in Schlummer singen Und aus der Welt soll nie ein Laut, ein Windhauch zu dir dringen. So ganz in weissen Sammt gehüllt verträumst du einen Tag, Bis dich zu neuem Leben weckt ein Nachtigallenschlag. Erwachst mir dann im Marmorschloss, vorm Fenster blüht ein Garten, Und Sternenelfen ziehn ringsum, die werden deiner warten. Der alte Erdenball verschwand in Nebel unterdessen, Und du hast alle deine Qual und allen Schmerz vergessen. Du legst die Locken mir aufs Knie und ich will dir erzählen, Da wird sich aller Erdenstaub aus deinem Herzen stehlen. Das Haar werd’ ich dir streicheln – so! – und dir die Schläfe fächeln, Da wirst du langsam schaun zu mir, wirst staunen, und wirst lächeln. Und sieh, in diesem Lächeln wird sich deine Seele heben, Wird athmend quellen und zu mir aufjubeln: »Ich will leben!« Oh du, wie werden wir da süss vorm offnen Fenster lachen! – Ja, ja, nun schlafe ein, mein Kind, ich werde bei dir wachen! Sie schüttelt leise nur den Kopf und küsst mir heiss die Hand, Da hab’ ich aufgeschluchzt und bin in Schluchzen weggerannt.

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Literatur · Gedichte

[Lächle, lache nur wieder …] Lächle, lache nur wieder, du, Und alles ist gut, In deinem Lächeln wird mir Ruh, Zu deinem Lachen singt mein Blut.

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Und alle Stürme schweigen, Zu stillen Siegen führt mein Silberboot, Und meinen Freund, den Tod, Seh ich erwachend von mir gehn Und deinen Händen nur sich noch verehrend neigen.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

[Und blieb er auch der Gleiche …]

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Und blieb er auch der Gleiche, Zerstreut, zerstäubt, zerscheint, Er bleibt dir doch der Gleiche, Geeint. Mag’ Geisterheer entführen In Schlünd’ ihn ohn’ Geleit: Ein innerstes Berühren, Das feit.

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Ein währendes Erscheinen Löst allen Widerstreit, Es ist der ewig Einen Geweiht.

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Literatur · Gedichte

[Unsere Lieder vom Schmerz …] Unsere Lieder vom Schmerz – Sieh das Erbeben der Nacht! – Flammten, zwei Blutfackeln, auf, Brannten, und fanden sich nicht.

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Unseres Kämpfens Gesang – Fühl, wie die Nacht uns umspannt! – Mischte sich seltsam verwirrt, Stürzte, und zuckte, und litt. Aber er weckte den Gott – Liebste, wie küsst uns die Nacht! – Auf Flügeln des Raubadlers kam Ein stilles Lied uns vom Glück.

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

[Mein Herz hat kein Versteck vor dir …]

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Mein Herz hat kein Versteck vor dir und keinen Hinterhalt, darüber waltet ohne Rest die einige Gestalt, auf seinem Grunde glüht die Macht der stillen Ewigkeit, und da besteht nichts mehr als du, du bist mir zugefreit, die Welt hat Recht nur, das du gibst, nur Ton, der aus dir hallt, – wie bärge ein Versteck mein Herz, wie einen Hinterhalt!

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Literatur · Gedichte

[Ich trete ans offne Fenster …] Ich trete ans offne Fenster, die Halden treiben – Was ist das ohne dich? ich kann am Fenster nicht bleiben. Aufmach ich Bücher des Dichters, ich hör ihn sagen – Was ist das ohne dich! ich muss jedes Buch zerschlagen. Nun ruh ich und tauch in mein Herz – gewiss, alles Fremde wich, Aber das Eigne tut weh: o was ist mein Herz ohne dich!

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Unveröffentlichte Gedichte · An Paula

[So wahr ich …]

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So wahr ich, wenn ich zu sterben haben werde, ruhig und nicht in der Pein sterben möchte: ich habe keinen Zwiespalt, keinen Hinterhalt, kein Anderswohin, nichts was, sei es auch nur für Augenblicke, meinen Wunsch kreuzte, mit Dir zu leben und einst zuletzt noch meine Hand von der Deinen gehalten zu fühlen.

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An andere Personen

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Literatur · Gedichte

Jehuda Halevi spricht: Jeglicher, der je sich unterwand, Mich zu übersetzen an den Strand Einer fremden Sprache, jeder fand, Als, den Kahn anlegend, er die Hand

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Hinbot dem Gefährten, ihn ans Land Zu geleiten: der da vor ihm stand, Und soeben noch als ich benannt, War zur Stund ihm fern und unverwandt. Den er liebte, wie war’s, dass er schwand? – Jeder sann, nicht einer hat’s erkannt. Aber sieh, du fuhrst mich, und ich blieb Der ich war. Denn du fuhrst Gott zulieb.

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Unveröffentlichte Gedichte · An andere Personen

Vom Umgang mit Büchern und mit Menschen An Salmann Schocken

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Der Verkehr mit Büchern ist zu loben: Willst du, bleibst du unablässig droben Und musst nicht, wie, bist du menschbeflissen, Um das Allzumitmenschliche wissen. Einen Vorzug hat das Buch vorm Manne Und vorm Weibe auch: wie wenn, die Kanne Edeln Weins vor dir, du jeweil trinkst, Jeweil aber in dich selbst versinkst, So der Lettern zauberhafter Reigen, – Willst du, singts, willst du es nicht, sie schweigen. Eine weitre Gunst ist nicht gering: Unbefangen rätst du mit im Thing Jener hohen Geister, die einst schrieben, Und du weisst, getreu ist dir verblieben Ihre Freundschaft, tadeltest du auch, Lebend üben wenige solchen Brauch. Und zu alldem ist noch dies zu schätzen, Dass die Bücher auch dein Auge letzen, Wenn Papier, Schrift, Ordnung dich erfreut Und das Wort sich dir in Würde beut. Selten gilt von Sterblichen dergleichen, Ach, wir sind zumeist verwischte Zeichen. Dennoch aber eignet dem Verkehr Mit uns Unzulänglichen ein Mehr: Über allem Ewigkeitenbunde Jäh erblüht die nie gewesne Stunde.

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Literatur · Gedichte

[Juble, Wurzellose …] Für Frau Geheeb übersetzt

Juble, Wurzellose, die nicht gebar, ausbrich in Jubel, jauchze, die sich nicht wand, denn mehr sind der Kinder der Verödeten als der Kinder der Vermählten – spricht ER.

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Gelegenheitsgedichte

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Literatur · Gedichte

Wir. Arm sind wir und verbannt aus unserm Reiche, Sind müde Bettler, die zum Tode flehen, Dass seine milde Hand uns bald erreiche Und wir den stillen guten Grabweg gehen. Wir suchten heiss und haben nie gefunden, Wir schritten einsam unsre Dornenpfade, Von Blut bedeckt und unvernarbten Wunden, Auf unsern Stirnen war kein Strahl der Gnade. In allen Welten rangen wir nach Liebe Und gaben hin die Ruhe unsres Lebens, Dass diese eine Hoffnung uns verbliebe: Zu lieben, – doch wir opferten vergebens. Nun ziehen wir, lichtdurst’ge Pilgerschaaren, Und wollen uns ein andres Heil erwerben: Wir haben alles Leid der Welt erfahren, So lass’ uns, Herr, als junge Helden sterben!

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

Vor meiner Sehnsucht –

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Vor meiner Sehnsucht knien die Worte nieder Und legen sich in Demut ihr zu Füssen, In gottgeweihter Andacht sie zu grüssen, Ihr leises Flehn klingt bang wie Sterbelieder. »Blauäugige, gekrönte Himmelsfraue, Wir sind zu schwach, um fürder zu empfangen In uns des reinen Leibes Wunderprangen, Um uns in deines hellen Blutes Thaue

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Zu Sonnenkönigen wie einst zu baden, Denn unsre Kraft ist müde und gebrochen, Wie die des Kindes, das für wen’ge Wochen Die bösen Geister auf die Erde laden. So lass uns frei und nimm von uns die Gaben, In jede Seele abgrundtief zu blicken Und jede Frage mit dem Glanz zu schmücken, Den wir von deiner Huld empfangen haben. Und lass uns wieder wie in alten Tagen Das halbe Leben und die halbe Liebe, Die stillen Gluten, abgeklärten Triebe, Der matten Herzen leise Seufzer sagen.« Doch meine Sehnsucht wirft die Purpurdecken Mit Macht von sich, steht nackt in ihrer Schöne Und streichelt sanft die wundgequälten Söhne, Die ihre letzte, tiefste Trauer wecken. Und hebt die Hand, dass alle Nebel weichen, – Und stumm, umhüllt von glorreichen Standarten, Sehn hinter ihr sie es geduldig warten, Das weltenweite, schwarze Kreuzeszeichen.

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Literatur · Gedichte

[Auf des Kranken Stirn …] Auf des Kranken Stirn ein zarter Glanz Ein letzter weiss und goldner Kranz Von Sonnenstrahlen. In des Kranken Auge ein dunkles Thor, Da brechen noch einmal Ströme hervor Aus alten verborgenen Opferschalen. Feuerströme und Sonnenmeer. Der Kranke redet irr und schwer Und will sich Keinem fassen. Ihm bebt durch die Seele ein neues Wort, Er aber stemmt sich und will nicht fort Von seinem grossen Hassen. Noch hält mein Wunsch die Mächte gebannt, Ich öffne nicht die umschliessende Hand Und lasse die Diener nicht los. Noch zwingt mein Arm die Glieder der Not Noch ruft mein stilles und starres Gebot Die Dinge aus angstvollem Schoss. An der Wand, von purpurnen Schatten umringt Lehnt traumhaft ein junger Harfner und singt Ein Lied, das niemand versteht. Denn bald erscheint’s ihm, als rühre leis Ans Herz der Sterne die flutende Weis! Und dann ist’s ein scheues Gebet. Doch wie dies junge Lied verklang, Wird alles Ringen zum Gesang Und lächelnd spricht der Mund: »Hör ich dich werben, Will ich gern sterben, Hingehn in silberner Stund!

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

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Denn die Stillen Thun ihren Willen Und wir wissen es nicht, All das Laute, Felsengebaute Beugt sich dem schwachen Gedicht.«

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Literatur · Gedichte

[Weite dunkle Schweigenacht …] Weite dunkle Schweigenacht. Nur mein treues Herz hält Wacht. Schlafet, denen Schlaf gegeben! Bunte Schleier möcht ich weben Über euer kindlich Leben.

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Schlummre ein, denn finstre Sorgen wild umkrallend flüstern »Morgen?« Schlaf, in Gottes Arm geborgen. Ruht auch ihr, die leidzerrissen Bebt vorm ewig Ungewissen, Klarheit naht aus Finsternissen. Arme kranke Sünder-Leute, Eigner grimmer Geier Beute, Schlieft so lang nicht, schlafet heute!

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Alle Ohnmacht soll verschwinden, Zweifel neue Kräfte zünden, Liebe möge Liebe finden! Da, ein Schrei, so todesschrill, Und mein heisses Herz wird still.

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Jünglinge ihr, überreich, Mannesgross und kindesweich, Einsame, ich höre euch. Eure Fülle will sich schenken, Schwerter zittern in Gehenken, Eure Kraft will Sonnen lenken. Niemals naht euch ein Empfangen, Ewig müsst ihr glühend hangen Zwischen Leben und Verlangen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

Oh euch kommt kein Seelenschlummer, Schwarzes Kreuz hält euren Kummer, Ragt und starrt ein Weltenstummer.

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Marmor-Grabsteins Eisgeberde, Euch ruft nie ein Gott »Es werde!«, Ihr, Johannesse der Erde! Wundersegens Allerbarmen, Christus löst die Geistesarmen.

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Ueber andre Stirnen streichen Schmerzen heut, die nimmer weichen. Wer erlöst die Geistesreichen? Wisst ihr, blasse wehe Recken, Wen zu feuerschwangrem Schrecken Eure Wüstenschreie wecken?

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Herr, mein Herr, ich seh dich kommen, Unsre Last wird uns genommen, Morgenröte ist entglommen. Auf empor aus dumpfen Banden, Menschensohn ist auferstanden!

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Vor des Volkes durstgen Fluten Merkst du nicht, die dort verbluten Stumm in letzten Schauens Wonne, Die Johannesse der Sonne.

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Literatur · Gedichte

[Nächte, neumondstille Nächte …] Nächte, neumondstille Nächte, Die ich einsam fiebernd lag, Ihr, die ich so oft verwünschte, Kommt, verscheuchet mir den Tag.

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Seht, die müden Augen bluten, Alles Licht ist scharf und grell, Kommt, ich will mir Trost ertrinken Aus dem jungfraunkühlen Quell. Eurem Quell! mir droht von oben Einer Sonne spitzes Schwert, Kommt und deckt den armen Wandrer, Der nur euch, nur euch begehrt. Oh ich weiss es: eure Küsse Führen in ein kaltes Grab, – Küsst mich! soll ich weitergehen Welk an morschem Bettlerstab? Soll ich gehen, hoch die Stirne Und das todte Auge hell? Nächte kommt, versenkt mich küssend In den jungfraunkühlen Quell.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Goldne Dämmerungen …]

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Goldne Dämmerungen füllten rings die Welt und von Flammenzungen war sie tief erhellt. Und die stillen Weiten flossen über ganz und es war ein Schreiten wie zum Tanz.

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Was in Licht und Welle sich dir offenbart, das ist eine Schwelle nur zu deiner Art.

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Literatur · Gedichte

Sang der Jungfrauen. Unberührte Seen sind wir, die auf ihr Geheimnis warten, Zage bleiche Rosenknospen im erwachten Sommergarten, Stumme Vögel, die im Herzen unbegriffne Lieder lernen, Matte weisse Wolkenschafe in den dunkelschweren Fernen.

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Sag uns, fremder Wandersänger, was wir sind und was wir wollen, Lass uns trinken aus dem Becher, aus dem goldnen, winkend vollen, Lass uns trinken von der Klarheit köstlich herbem, hellem Weine, Dass wir schaun die rote Pforte zu Astartes Wunderhaine. Rote Pforten und Jasminduft, schwüle traumdurchtränkte Winde Führen uns im Taumelschritte zu der segensweiten Linde, Wo wir lusterhitzt und selig in den weichen Fluten baden, Wo uns sehnsuchtschöne Helden zu beschwingtem Tanze laden, Wo wir glühend, freudetrunken, in verzücktem Liebesreigen Silbern milden Mondesstrahlen unsre weissen Brüste zeigen, Wo uns ungeahnte Schauer, süsses tolles Glücksverlangen Wie mit zarten Seidennetzen lockend, zaubervoll umfangen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Wenn du, mein Freund …]

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Wenn du, mein Freund, durch purpurtrunkne Meere, Ein einsam stolzer, stiller Sucher fährst, Umschiffe nicht die Insel der Cythere, Wo Schwäne sind und schwanengleiche Frauen, Schlag Anker, lerne ohne Sehnsucht schauen, Was du für dich und deinen Traum begehrst, Und warst du wunschlos einen Augenblick, Zieh trotzig weiter, bleibe nicht zurück! Kommst du dahin, wo zu den nächtig dunkeln Fluchvollen Welten Schlangenwege führen, Dahin, wo keines Sternes Segenfunkeln, Nur Schrecken herrscht und räthselbanges Grausen, Tritt kühn hinein, wo blinde Mächte hausen, Nur hüte dich, sie forschend zu berühren, – Das Schauen lehrt dich tiefster Fragen Wort, Regst du die Hand, reisst dich der Wirbel fort.

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Literatur · Gedichte

Kinder. Lache, weil wir selig sind, Lache, weil wir leben, Goldnes Lachen ist ein Spiel, Das nur uns gegeben.

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Träum dich ein im Fliederbusch, Träum im Windeswehen, Blaues Träumen ist ein Flug, Den nur wir verstehen. Küsse mir zur Mittagsstund Augen, Mund und Wangen, Rotes Küssen ist ein Tod, Den nur wir empfangen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

Zu einem Bilde.

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Weiss ragt der palmenschlanke Tempelbogen, Schneeweisse Säulen Kommen dem Auge in endloser Reihe gezogen, Kommen und eilen. Ein todblasses Mädchen, frauenhaft Kind Naht sich den Mauern, Die jungen Glieder, die benetzt vom Morgenthaue sind, Beben in Schauern.

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Zum schweigend ernsten, weissen Heiligtume Tritt sie mit Zittern, Ihr nackter Fuss ist wie die zarte Lotosblume An Altarsgittern. Sie ist gewiss: sie hat so viel gelitten, Gott wird ihr’s geben, – Und weiss nicht: soll sie den Tod des kranken Liebsten erbitten Oder sein Leben.

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Literatur · Gedichte

Drei Sonnenlieder. 1. Ich liege und träume, Die Sonne lacht, Da hab ich mein Fenster Weit aufgemacht. Ich beuge mich über Und geb mich ihr ganz, Nun bin ich gehüllt In Sonnenglanz.

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Und seht ihr mich wieder Ihr kennt mich nicht, Ich bin verzaubert In Sonnenlicht. Im Blick ist Strahlen Und Strahlen im Wort, Mein Schritt weckt Blüten An jedem Ort.

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2. In meines Traumes blauen Nächten Kommst du mir, leicht und wundersam, Wie einst der Schritt der fernen Mutter Zum einsam bangen Kinde kam. Und deine Hand kühlt mir die Schläfe Und deine Stimme ist ein Trost, Der meiner Seele lässig Liegen Mit sanftem Wiegensange kost. Vom reinen Himmel meiner Wünsche Fliesst goldig wellenzarte Ruh, Am reinen Himmel meiner Wünsche Thront strahlend eine Sonne: du.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

Sommerseele.

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Zwischen Feldern ist gut schweigen, Weil dich keine Stimme ruft, Heissen Athem strömt die Luft Und die Ähren sich verneigen. Ist’s dir nicht, als ob in Wellen Flötenspiel vom Himmel zieht, Leises Wunderflötenlied, Kranke Seelen zu erhellen? Siehst du nicht, umkrönt vom Lichte, Halb verhüllt von tiefem Blau, Eine blonde Zauberfrau Singen leise Heilgedichte? Halb zu dir und halb zur Sonne Still gewendet, lächelt sie, Und du weisst nicht, was und wie, Strahlst und glühest nur vor Wonne. Plötzlich ist der Himmel leer, Bild und Sang ist jäh verschwunden; Aber du hast dich gefunden Und dein Herz ist wie ein Meer.

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Literatur · Gedichte

An Berlin. Du grosse Stadt mit deinem blinden Stürmen, Wie du mich willst! wie deine Arme greifen In deinen Wirbel mich hinabzuschleifen, – Du grosse Stadt mit deinem blinden Stürmen!

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Ich stehe da und seh dir ins Gesicht. Ich sehe alle Runzeln deiner Wangen. Du arme Stadt! mich wirst du nicht umfangen: Ich stehe da und seh dir ins Gesicht. Wie Sehnsucht tönt’s von allen deinen Türmen, Du sehnst dich toll nach Jugendkraft und Blut, Mein Auge sieht, mein Leib fühlt deine Glut; Wie Sehnsucht tönt’s von allen deinen Türmen. Die vor mir kamen, gaben es dir nicht, Sie gaben was sie hatten: Traum und Thränen; Wonach sich fiebernd deine Sinne sehnen, Die vor mir kamen, gaben es dir nicht. Und ich, du kranke, augenwirre Stadt, Ich könnt dir Alles, mehr als Alles geben, Mein junges starkes feuertrunknes Leben Hat Kraft genug dich frisch und rot zu küssen, – Du würdest jauchzend es empfinden müssen, Dass Götter sind und heisse Götterstrahlen, Geschenkt in schweren, schwingenden Pokalen, – Du würdest schreien und du würdest zittern, Durchtränkt von meinen flammenden Gewittern, – Du würdest fragen und die Lust nicht fassen. Mir aber, Stadt, beliebt es, dich zu hassen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Wenn je sich mir um dunkle Seligkeiten …]

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Wenn je sich mir um dunkle Seligkeiten Ein blauer Himmel weich und bergend spannte, Wenn ich der Welten früchtereiche Weiten Nur ein Gespiele meiner Seele nannte, So will ich beten heut, mein Gott, zu dir. Und will dir sagen, dass mein Stolz geschwunden, Und meines Reichtums purpurgoldne Schwere Und meine vollen wonnesatten Stunden Will ich dir dankbar, Herr, zu Füssen legen. Und nun bewahre ich mir nur die leere Gereinigt schwache Hand, und nur das Träumen, Und nur des Glaubens blütenweisse Lehre, Und gehe schweigend an des Lebens Steuer.

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Unendlichkeit kann niemals überschäumen, Ich habe mir ein stilles Kleid gefunden, Ganz weiss und still, und mit besternten Säumen. Wie jene sind, die kranke Engel tragen. Doch niemals wieder werd’ ich vor dich treten, Mein Gott, mit keuschem und beredtem Sagen, – Das Eine Mal nur lernte ich das Beten, Oh lass mich fern von dir ins Weite fahren, Lass mich in Blindheit meinen Hass bewahren, Des Hasses stummes Glauben, Herr, an dich.

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Literatur · Gedichte

[In der Welt ist rings ein Weinen …] In der Welt ist rings ein Weinen, und der Himmel ist wie Augen. Wolltest du aus seinem Scheinen frische Lebenshoffnung saugen? Und nun siehst du aus den blauen tiefen Augen Thränen thauen. In der Welt ist rings ein Weinen. Willst du fragen, beten, zittern? Sehnst du dich nach Gottes Steinen, träumst von wilden Ungewittern? Und nun hüllt des Lebens Feier ruhig grauer Wittwenschleier. In der Welt ist rings ein Weinen. Denke sie nicht süss, nicht prächtig. Trost und Schönheit sind in deinen, nur in deinen Sinnen mächtig. Sammle still die Kraft des Werde, schaffe dir die eigne Erde!

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Nun ist mein Herz wie über Nacht …]

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Nun ist mein Herz wie über Nacht So stark geworden und so weit, Wohlauf! der Sonne zugelacht, Und aller lichten Herrlichkeit! Mit festem Sehnen, sichrer Hand Greif ’ ich nach meiner Krone Gold, – Wie sturmeswild das Adernband Mein heisses Blut im Flug durchrollt!

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Ich geh’ dahin, mein Schritt ist Tanz, Und dieses Tages heller Schein, Und aller Duft, und aller Glanz, Und aller Sterne Lust ist mein. Die Rosen neigen sich in Glut, Die Vögel athmen ohne Sang, Der Menschen irres Wirken ruht Und lauscht mir angespannt und bang. Sie wagen Alle nicht zu flehn, Doch hör’ ich durch die stille Welt Ein demutscheues Flüstern gehn, Wie Rauschen durch das Ährenfeld. Da wird die Brust mir schmerzvoll lind Und aller Stolz wird thränenstill, Als wär’ die Welt ein krankes Kind, Das nur gestreichelt werden will. Ich werfe Purpur ab und Kron’ Und greife nach des Hammers Schaft, – Was soll ich noch zum Sonnenthron Im Liede senden meine Kraft,

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Wenn meine Erde, voll von Weh Und schwer von Thränenlast und Klagen, Wie ein gehetztes schlankes Reh Nicht mehr den müden Leib kann tragen?

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Literatur · Gedichte

So sei die Arbeit nun mein Reich, Das Werkstattfeuer Lust und Strahl, Mein Arm, so glatt und prinzenweich, Werd’ mir ein schlagbereiter Stahl! Oh duftet Rosen eure Pracht, Singt, Vögel, der herrlichen Zeit, Nun ist mein Herz wie über Nacht So stark geworden und so weit!

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Ein Rauschen grosser Flügel war um mich …] Ein Rauschen grosser Flügel war um mich Und vielen Glückes Segen. Und wie ein trunkner Mann gieng ich auf stillen Wegen. 5

Da kam ein irrender Schmetterling Und meine trunkne Seele vergieng Und Fallen todter Flügel war um mich.

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Literatur · Gedichte

1. Du weisst nichts und du spielst. Und deine Flügel sind Gespannt zum Flug. Wohin? Vor deinem Auge zieht Das Schicksal eines Gottes. Ob es dein Auge sieht? Du spielst, du glaubst. Und deine Seele ist bereit, du Kind!

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2.

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Er schaut dich an, du ihn. In deiner schlanken Hand Lebt schon der erste Klang. Doch weckst du ihn noch nicht. Du wartest eines Winks. Da dringt ein wehes Licht In dich, durchtränkt dich. Und die Stimme tönt ins Land.

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Literatur · Gedichte

3. Du bist von ihm erfasst. Er naht ein Sturmgemahl Im Feuer dir. Du zitterst, jubelst ihm entgegen. Die sonst so stillen Arme ergreift sein wilder Segen Und reisst dich heiss empor im Rausche seiner Wahl.

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4.

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Du lauschest, hebst die Hand. Die Welt wird heut geboren. Was tief in Nächten rief, wird heut dem Tag geweiht. Du horchst und neigst den Sinn der stillen Ewigkeit Und schweigend offenbart dein Lied sich allen Ohren.

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Literatur · Gedichte

5. Du stehst auf fester Erde, und deine Augen wissen Den Schmerz im Sonnenlichte, die Lust in Finsternissen, Und so ist deine Macht, die dir ein Traum gewann, Dass alles nun aus dir und in dich wachsen kann.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

Die Blumen sagen:

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Künstlerblumen wollen dein sein. Küsse die krystallne Glut, Die auf unsren Lippen ruht, Küsse sie in dich hinein, Denn wir woll’n dein Eigen sein. Und dann geh zum Volk und sprich – Siegend; denn wir lieben dich.

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Literatur · Gedichte

[Es ist ein Licht verborgen …] Es ist ein Licht verborgen Unter den fahlen Beschwerden und Sorgen – Aber es will erstrahlen! Lass ihm nur die Minnen Zu Fülle und Schein Nicht im Geheimnis innen Gefesselt sein!

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[Gott ist ein grosser Bauer …]

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Gott ist ein grosser Bauer Er sät die Seelen hin, Fühl’s Seele, fest im Schauer: Sein Schreiten ist die Dauer, Sein Armschwung ist der Sinn. Wir sinken in die Schollen, Wir reifen an das Licht, Tu’s Seele, bang im Wollen; Lass deine Körner rollen Vor Gottes Angesicht.

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Literatur · Gedichte

[Ein trauriges Liedchen …] Ein trauriges Liedchen Ist mein Leben erklungen, Ich weiss nicht, hab ich’s, Hat’s ein Andrer gesungen; Ich weiss, ich bin heute Zum Sterben krank, Es geht zu Ende Mit dem Gesang. Ein trauriges Liedchen Von unermessnen Schmerzen, Ich weiss nicht, hat’s Sinn, Oder war’s nur zum Scherzen; Ich weiss, ich bin heute Ein krankes Kind, Verklinge, mein Liedchen, Geschwind, geschwind.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Nicht nur, die schön sind, liebe ich allein …]

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Nicht nur, die schön sind, liebe ich allein, Und nicht, die stark, und nicht die gütig sind, Ich liebe jeden Strauch und jedes Kind Und jeden Wurm und jeden Kieselstein, Ich kenne nicht das Niedrige und Schlechte, Dem ich nicht gern mein ganzes Lieben brächte Wie Einen Kuss, wie Einen Becher Wein. Es giebt hier Menschen, die wie Flammen lohn, Und deren Augen zu den Gipfeln gehn, Und auch, die auf eignen Füssen stehn Wie auf zwei Säulen, ohne Furcht und Hohn, Ich, der ich stets muss fest sein und doch wandern, Reich meine Hand dem einen und dem andern Und Aller Seelen sind mir wie Ein Ton. Seht, diesen Einen Ton, den ich mir band, Ergeb’ ich mich und giess ihn ins Gemüth, Und wenn er spielt und wogt und lacht und glüht, Wie Liebesblicke und wie Liebespfand Bin ich so einsam und so weltbeglückt, Wie wenn geniessend, sehnend man verzückt Sich Zukunft träumt am abendgrauen Strand. Aus meinen Armen und, oh Welt, aus deinen Muss sich das Alles, was ich kämpfend fand, Zu Einem Drang in meiner Liebe einen.

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Literatur · Gedichte

Zwischen ihnen (Aus dem Zyklus »Mythen«) Der grosse Zarvan stand auf, stand und murmelte vor sich hin tausend Jahre, den Lichtsohn sich zu ersprechen, den Beseeler von Himmel und Erde. Tausend Jahre opferte er dem Wortlosen das Wort. Keine Gestalt erschien, kein Lichtkeim regte im Mutterleib sich. Der grosse Zarran stand still, stand und dachte in sich hinein: Vielleicht – ist – das Seiende – nicht. Da waren im Schoss ihrer Mutter empfangen zwei: Der Lichte aus Wissen und Wort, der Beseeler von Himmel und Erde, aus Zweifel und Einhalt war der Andre geworden. Zwischen ihnen zuckst du nun, Welt.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Auf meinem Herzen liegt die Last …]

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Auf meinem Herzen liegt die Last Von vielen Tagen. Ich irre krank in Glut und Hast Und muss es schweigend tragen. Ich sehne mich nach langer Ruh Auf Sonnenstrahlen. Oh liebe Sonne, sage du, Wann enden meine Qualen?

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Oh liebe Sonne, nimm mich mit.

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Literatur · Gedichte

[Aus meinem Dunkel führen drei Wege …] Aus meinem Dunkel führen drei Wege. Der eine zu mir, in ein stummes Gehege. Auf tausend Keimen Eine harte Hand. Tausend Keime gebannt. Tausend kämpfen, sterben. Wird keiner das ewige Leben erben, Wo die Sonne scheint? Hat es Gott gut mit mir gemeint? Oder nicht? Führt der andre Weg ans Licht? Rosen umwehn mich auf meinem Wege Und jede schenkt Wandel mir rege. Zu Dir durch die Nacht Führt mich eine sanfte Macht Und weist: hier wartet dir ein Blick, Der bringt die Seele dir zurück. Und weist: hier wartet dein ein Mund, Der tut Dir die Erlösung kund. Und weist mir – dich. Aber du? Träumst, und seufzest, und summst und lachst ganz sachte dazu. Siehe, da kommt die Stille Und lockt. Aber dem dritten der Wege verwehrt sich schweigend mein Wille.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Beides ist Gegenwart …]

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Beides ist Gegenwart, Jenes und dies, Ewig im Sein beharrt, Was sich erwies. Ewig im Werden bleibt, Was sich gewann, – Wesend euch einverleibt, Heute und dann. Was sich unterwand Was sich gewann, Innerst dir einverleibt, Heute und dann.

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Literatur · Gedichte

[Dass auch die schwere Stunde …] Dass auch die schwere Stunde Nie weiche aus der Runde Der Horen; dass im Bunde Sie bleibe und bekunde, Urabsicht sei’s der Wunde, Dass man zum Heil gesunde – »ûz tiefer sinne grunde erwünschen mit dem munde«

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[Ich habe noch einmal geglaubt …]

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Ich habe noch einmal geglaubt, ihr seid, und habe um euch verraten die Ewigkeit. Aber wohl sind die Ulmen im Dämmerlicht, und ich höre die Meisen sein, ihr seid nicht. Gerufen, angetreten, gepackt schwatzt ihr fort, ihr überschwatzt noch das letzte Gotteswort. Die Blitze umsonst und die Brände, ihr schaltet euch um und schwatzt alles wieder zurecht, herzensstumm. Hob der Ahn das Messer für euch zu solchem End, und jener rang, bis zur Frühe, damit ihr euch nach ihm nennt, ihr, wie ihr da wimmelt, geläufig geschäftig, geschickt und gescheit?! Und um euch habe ich verraten die Ewigkeit.

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[Nun kam das letzte Blatt in deine Hände …] Nun kam das letzte Blatt in deine Hände – du liest, das Buch Im Anfang sei zuende, und du empörst dich: »Dieses darf nicht stehn! Nicht vor der Welt wird es zu Ende gehn, das Buch vom ewigen Anfang aus der Tat, das Buch vom Ursprung, der kein Ende hat, so es auch keinen, nur den äussern Schluss, wie jede Menschenschrift ihn haben muss.« Und ich besinns, am ewigen Anfangstag, ob es sich wohl dabei bewenden mag – doch aus dem Buch die dunkle Stimme spricht, die nun vertraute: »Lass genügen nicht! Ich Buch bin voller Ende von Beginn, weil ich in mir des Endes mächtig bin. Nicht ströme ich, ich steig empor, hernieder, wie Boten unverbunden sind die Lieder, wie Boten mannigfach, wie Boten endend, wie Boten sich, nach ihrer Botschaft, wendend zur Herkunft und entschwunden – so die Schrift: den Anfang trifft nur, wen das Ende trifft.« Ich hielt der Stimme stand, vor Ruhe stumm, dann fragt ich wie das Kind fragt: »Buch, warum?« Und es: »Geschrieben wird im himmlischen Gelände am heutigen Tag: ›Im Anfang war das Ende‹. Geschöpfs Vollendung ist des Schöpfers jetzt, im Ursprung ist der Welt ihr Ziel gesetzt, Gesetz bin ich, gesprochen und verschwiegen, im Anfang ich dem Endesspruch entstiegen.«

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Das Buch Im Anfang]

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Das Buch Im Anfang: Des Erzes Urgesang, Das Buch Namen: Schmelzofen draus wir kamen, Das Buch Er rief: Verformung schwer und tief, Das Buch In der Wüste: Wie das Chaos als Sünde hergrüsste, Das Buch Reden: Sehnsucht der Gestalt, vom Gestaltlosen umwallt, zum neuen Eden.

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Literatur · Gedichte

Warnung vor Exzessen in der Methode Man pfleg’ der Alliteration wo’s noch geht, noch, wo’s schon geht, schon, doch lasse man den Dienst, den raren, den seltsam dank- und undankbaren, so ernst er ist, in allen Dingen ja nicht den Sinndienst überschwingen. Willst ein Gestell du Korb benennen, um es vom Kessel nicht zu trennen – denn alliterativ erwählt hat’s ihn und ist ihm anvermählt –, so musst du doch den kostbarn Fund dir wegzuziehn verstehn vom Mund, wenn sich ein wahrer Korb erhebt und dich drauf hinweist, dass er lebt: denn dieser hat auf Korbestum den Anspruch, ’s ist sein Ruf, sein Ruhm; raubst du’s, er rennt schnurstracks dir hin, von Wut entbrannt, zum Vater Sinn: »O räche, was mir armem Knaben«, fleht er, »die Leut entrissen haben, und lassen sie sich suchend blicken, mit einem Korb woll’ heim sie schicken!«

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Buch, bist du Botschaft? …]

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Buch, bist du Botschaft? sonst bist du nicht! Kunde aus Welten wie Sternenlicht? oder Verprasseln wie Buntfeuerspiel? Buch, bist du Ziel? Schwer ists zu leben in wortleerer Zeit, – wo tönt eine Stimme noch, unentweiht, wo redet ein Mund, der begabt ward mit Laut, wo singt eine Braut?

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Buch, bist du Wort? sonst erschrick und verstumm! Es ist Mitternachtstunde, die Geister gehn um, rufe sie an, raune den Bann, oder entflieh vor dem drohenden Reigen, und gelobt sei das Schweigen!

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Literatur · Gedichte

[Das war ein wunderliches Buch! …] Das war ein wunderliches Buch! Ich lag wie Sancho auf dem Tuch und ward durch die Empfindungswelt hinauf, doch mehr hinab geschnellt: in Angst wenns steigt, in Pein, wenns fällt. O Aasgestank, o Opferruch! O kurzer Segen, langer Fluch! Ach, eine Welt ist dieses Buch, ach, ist sie unser, diese Welt?

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Der Ruhm ist eine hohle Nuss …]

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Der Ruhm ist eine hohle Nuss, die knackt, wer sie knacken muss! Doch ungeknackt schafft er zu Zeiten Dir mancherlei Bequemlichkeiten.

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Literatur · Gedichte

Die Frage Wir waren Laute die der Urmund spricht Und doch sind wir nur Wörter, Worte nicht. Wann werden wir zu Worten die sich fügen Zu einem Spruch, dem Urspruch zu genügen?

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Die Antwort Du warte nicht, dein Heil ist hier auch Ort, In Worten, Wörtern, Lauten leibt das Wort, Wir werden nicht wenn wir nicht sind, erscheinen Darf je und je der Spruch: wenn wir ihn meinen.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Die Jahre spür ich all …]

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Die Jahre spür ich all und spür sie nicht, Seit es mir ward, das seltsame Gesicht. Wie gestern ists und doch war Werks so viel – Welch eine Müh, und doch auch, welch ein Spiel! Ob schwer geschmiedet, leicht zusammgelesen, Ob lang ob kurz, es ist ein Dienst gewesen.

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Literatur · Gedichte

[Sage nicht: Verregnet…] Sage nicht: »Verregnet Ist der Sommer uns ganz und gar!« Sag: »Sieh da, Gott segnet In Stürmen und Stürzen das Jahr!« Sage nicht: »Vergebens! Sein, du bist um den Sinn gebracht!« Sag: »Den Weg meines Lebens Führt Gott durch die Tiefe der Nacht.«

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[Weisser weicher weiter Schnee …]

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Weisser weicher weiter Schnee, Sieh ich hab dich lieb und weh. Hab als Kind in dir gelacht Und du glänztest in der Nacht Tief in meine Träume. Weisser weicher weiter Schnee, Eine Sehnsucht thut mir weh. Möcht’ auf stillen dunklen Wegen Tief in deinen Schoss mich legen Und in deine Träume.

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Literatur · Gedichte

[Mehr ist Tanzschritt als …] Mehr ist Tanzschritt als Schritt, doch der Gang ist mehr als die Tänze, Weil ein Ende ihm ist und so ist, als ob er begänne. Gehe, wagender Mensch, bis an deine eigenste Grenze Und erkenn, es bricht auf – nicht eher, dann aber erkenne!

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Seht, da steht er ...]

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Seht, da steht er, der Verwöhnte, Der nur dem Behagen frönte! Doch von diesem Tag an wese Hier die Kleine-Wunsch-Askese!

Wahltag 55 10

Bewähre dich als Meliorist Und wähle, was erträglich ist.

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Literatur · Gedichte

[Adam schlägt die Augen auf …] Adam schlägt die Augen auf, kann sehn bis ans Ende der Welt. Vor sich hin mag er nicht sehn, braucht ja noch nicht zu pflügen. Der Pflüger sieht vor sich hin. Adam liegt auf dem Rücken, schaut zum Himmelsdach auf. Vor sich hin mag er nicht sehn, sieht nicht, was die Schlange ihm sinnt. Der Pflüger sieht vor sich hin. Adam lernt sehn vor sich hin, kann nicht mehr sehn ans Ende der Welt, zum Acker war er verbannt, und der Acker will gepflügt sein. Der Pflüger sieht vor sich hin.

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Unveröffentlichte Gedichte · Gelegenheitsgedichte

[Wächserner Kerze entstrahlt der Duft …]

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Wächserner Kerze entstrahlt der Duft, Ihr enthaucht, wie ein Odem, das Licht. Einheit der Sinne west in der Luft, Schiedsamkeit – bis daher langt sie nicht. Der der Sinne waltet, es ist der Sinn: Er bekundet die Eine, die Geberin.

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Literatur · Gedichte

[Eine fremde Stimme spricht …] 1. Eine fremde (laute) Stimme spricht: Ein Seil ist über die Tiefe gestreckt, Setz deinen Fuß nun darauf Und, eh dein Schritt den Widerspruch weckt, Lauf! Ein Seil ist über die Tiefe gespannt, Versag dich unterwegs allem Hier! Schon winkt von drüben dir eine Hand: »Zu mir!« 2.

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Die vertraute (leise) Stimme spricht: Folge nicht dem heischenden Ruf! Der dich schuf Meinte zu dir: »Sei bereit Für jede irdische Zeit!« Immer schon hält dich seine Hand – Bleib liebend der Welt zugewandt!

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Literarische Schriften

Ein Traum »Forschet nicht: liebet!« Hölderlin

Da ist unten ein Leiermann angekommen, ein ganz sonderbarer alter Mann. Ein rotes geschwollenes Weingesicht mit einer von hinten in einen schmutzig weissen Haarbüschel endigenden Glatze; mehr sehe ich nicht von ihm. Aber wie er seinen Kasten aufstellt, so nachlässig virtuosenhaft! Und dann stellt er sich hin, ein wenig weiter, und dreht, und man sieht dass er denkt, an irgend etwas anderes denkt, dass ihn den Kopf ganz bedächtig wiegen lässt. Dann holt er eine Cigarre hervor, und während er mit den Händen wechselt, macht er einen Zug, und sein Gesicht wird ganz satyrmässig, echt griechisch. Ja, das Gesicht ist voll von Runzeln und Leiden, ein hin und her geschleudertes Gesicht, aber es wird doch so lachend, so leichtsinnig. Er hat eine seltsame spitze dunkelgraue Pelzmütze auf, und es dünkt mir wunderlich, dass ich sie erst jetzt bemerke, da ich sie doch schon so oft gesehen habe. Wie er nun diese Mütze herabnimmt, wenn man ihm ein Geldstück zuwirft, wie er sie da zu einem vornehmen Herrengrusse schwenkt, wie er sich lächelnd vorbeugt und wie bei diesem Lächeln stets die Cigarre einen räthselhaften Bogen über das Kinn macht und irgendwo in Nichts zerfliesst, um dann wieder die feste Form anzunehmen, ich grüble lange und vergebens darüber. Ich will ihn aber doch forthaben, gehe hinunter, und lege ihm eine Münze in die Hand; ich bin sehr freigebig und lege ihm mein St. Georgs-Medaillon, mein liebstes Ding, in die Hand. Und der Alte schaut mich so verständnisinnig an. Von einer kostbaren Hässlichkeit sind seine Züge, als ob eine Reihe edler Ahnen dafür mit einem Leben voll sündiger Liebe bezahlt hätte. Da … auf einmal … wie er mir zunickt … was geschieht mit ihm? Er verwandelt sich, er wächst, sein Gesicht wird ernst, seine Züge tief. Ja was ist denn das? Er legt die Hand mit befehlender Geste auf sein Instrument, er wird Künstler, und der Kasten ein sprechender, tönender, hundertfältiger. Und mit der erdgrauen gefurchten Hand, die sich zusammenkrampft wie die umfassende zermalmende Hand eines Titanen, beginnt er ein Notturno Chopins, ja wahrhaftig, dein bello Notturno, das mit den schweren, schwarzen, himmelbeschattenden Adlerflügeln. Ich höre die Töne, eine tolle wundervolle Phantasie, machtvoll, niederwerfend, mit einem feinen Sprühregen von zarten süssen Klängen, die ohnmächtig machen in ihrer überirdischen Reinheit.

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Ein Traum

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Ich bin bewusstlos, es klingt in mir, durch mich, ich zittere als Ton in dem Wogensturme. Hat je ein Mensch so gespielt? Der Alte sieht wie ein Prophet aus, wie ein kranker zerrissener, der die Dissonanzen der Natur aufgesaugt hat. Ich trete auf ihn zu und drücke ihm die Hand; leise, demütig drücke ich sie, und mit einem frechen Lächeln auf den Lippen. »Spiele auch noch mein Sternen-Capriccio«, sage ich, »die Melodie der Sphären.« Er schaut mich an, ganz so wie ein Blitz schaut er mir in die Augen. Ich aber lache, ja ich wage zu lachen in dieser Gewitternähe. »Thue es doch«, lache ich, »ich will auch dein Incognito nicht verrathen, mein lieber Prometheus.« Da zieht der Alte aber die Cigarre an den Mund und das Gesicht in die Satyrfalten. Er scheint mich für verrückt zu halten. »Ja wie hängt denn das zusammen« sagt er und ist ganz verwundert. Ja wie hängt denn das zusammen?

Prolog (Aus der Skizzenreihe »Studentinnen«) Ich hatte einmal einen hübschen kleinen Käfig mit goldenen Stäben. Es war ein Geschenk. Ich sah die Nothwendigkeit ein, es zu verwerthen. Ich dachte darüber nach, wer hineinpassen könnte. Zuletzt fiel meine Wahl auf einen kleinen, braungelben Vogel, den ich in einem Laden gesehen hatte. Dieser kleine Vogel konnte nicht singen, aber er gefiel mir. Ich kaufte ihn und setzte ihn in den hübschen kleinen Käfig mit den goldenen Stäben. Da flatterte er herum und wurde mit allerlei Leckerbissen gefüttert. Ich hatte meine Freude an ihm. Allmählich aber merkte ich, dass der Vogel schwerfällig wurde. Er flog im Käfig wie blind umher und wenn er an die goldenen Stäbe stiess, fiel er hin und wollte nicht wieder aufstehen. Immer matter und trübsinniger wurde er. Endlich liess er auch das schöne Futter liegen. Da errieth ich, was ihm noth that. Ich öffnete den Käfig. Er schwirrte heraus, drehte sich einigemale um sich selbst herum und konnte nur langsam weiterkommen, so toll vor Freude war er. Ich sah ihm zu. Ob er wohl einmal mit den kleinen wilden Flügelchen an das geschlossene Fenster stossen und fühlen wird, dass dieses Zimmer auch nur ein grosser, mit vielen sonderbaren Dingen angefüllter Käfig ist – der nicht einmal goldene Stäbe hat?

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Zu Siena ereignete es sich einst, dass etliche Brüder vom Orden des heiligen Franziskus beim Umgraben des Klostergartens mit ihren Spaten auf ein altes Steinbild gerieten. Da sie just Musse hatten und des Fundes neugierig froh waren, befreiten sie die Gestalt sogleich aus ihrem Grabe, säuberten sie und stellten sie zwischen zwei Platanen auf. Es war ein Frauenbild vom schönsten Ebenmass. Das gelassene Antlitz blickte wie das eines Kindes, das lang und wohl geschlummert hat, und war doch auch holdselig reif und voller Weisheit und Geheimnis. Zu den Füssen des Weibes lag ein Delfin, auf dem das gelenke Bein seine Stütze fand. Einige Tage darauf kam ein Steinmetz zu den Bettelmönchen, der um seiner Kunst willen von vielen hoch geschätzt wurde. Staunend und bewundernd besah er den Findling der Mönche, kehrte zur Stadt und erschien noch vor Sonnenniedergang mit andern verständigen Männern wieder, die alle in einer tiefen Freude vor der steinernen Frau verweilten. Des andern Morgens schon zog ein grosses Volk zum Klostergarten und es geschah ihnen, dass ein jeglicher sich in dem alten Bilde erfüllt und erhoben fand und nicht der Dumpfste und Törichteste unter ihnen in diesem Gefühle zurückstand. So beschloss man, dass die Steinfrau auf alle Tage und Taten Sienas niederschauen und über dem Glück so der Stadt wie eines jeden Menschen in ihr walten sollte. Sie trugen sie unter Jubelgetön auf den Marktplatz und erhöhten sie dort alsbald auf einer schön gebildeten Säule. Durch etliche Zeit war sie im Lächeln jedes Kindes, im Blick der Frauen und im Genügen der Greise. In ihrer Hand war das gute Heil der Stadt geborgen. Da kam Krieg über Siena, Händel mit dem mächtigen Florenz, die sich unglücklich anliessen. Verwirrung, Not und Unzufriedenheit hielten ihren Einzug. An einem unguten Tag hob ein finsterer Mensch sein Auge zu dem Gesicht der steinernen Frau und sah heidnische Verruchtheit in ihren Mienen, einen boshaften Hohn um ihren Mund. Er verschwieg es und doch sahen von der Stunde an alle wie er. Statt der Blumen, die die Mädchen des Morgens zu den Füssen der Statue hinzulegen pflegten, waren schielende Blicke, Murren und halblaute Flüche um ihren Sockel, bis eines Tages einer auf dem Markte sie laut als die dämonische Verderberin der Stadt beschrie. Schon hoben sich steinbewehrte Fäuste, sie zu zerschmettern, da gebot ein mächtiger Herr ihnen Einhalt, indem er sagte, noch der letzte Bruchteil des Bildes würde Schaden wirken; es müsse von der Erde Sienas entfernt werden, wolle man das Gemeinwesen vom

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Literarische Schriften

Untergang retten. So führte es am selben Abend ein stierbespannter Karren, von einer Schar schweigender Bewaffneter begleitet, hinweg. Als sie in der nächsten Nacht heimlich und mit großer List auf Florentiner Boden gelangt waren, entzündeten sie Fackeln, bildeten einen Kreis und unter gemurmelten Verwünschungen senkten sie die Statue tief in die Feindeserde.

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Der Anschlag

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Sigismondo Malatesta war mit seinem Kriegsvolk aus Morea heimgezogen, wo er gegen die Ungläubigen gestritten hatte als Condottiere Venedigs und des Papstes. Der aber sah Sieg und Heimkehr mit halber Freude, da er den Untergang des gewaltsamen und gefährlichen Herrn so hoch gewertet hätte wie die Unterjochung der Heiden. Eine Weile sass zu Rimini, das ihm Umtriebe und schlechtes Kriegsglück von all seinem Besitz einzig verschont hatten, rastend Sigismondo, ohne dass der Papst oder die Republik ihm für seine Dienste Dank geboten hätten. So liess er endlich Paul II. wissen, dass er seinen Lohn erhoffe, zuvörderst aber und zumindest den Unterhalt der Soldaten von ihm begehre. Da sandte ihm der Papst Herrn Giulio von Camerino, des Malatesta eigenen Tochtersmann, zu und liess ihm sagen, er möge ihm Rimini überlassen, daraus er ja bislang nur Mühe gezogen habe; zum Tausch wolle er ihm das Vikariat über Foligno und Spoleto bieten. Mit widerwilliger Seele unterzog sich Herr Giulio dem Auftrag, denn er kannte Sigismondo und seine Liebe zur Stadt, die am Geschlecht der Malatesta so stark geworden war wie das Geschlecht an ihr. Zudem wusste er, dass der Condottiere um offener und versteckter Schädigung willen schon ohnedem gegen Rom Groll nähren mochte. Allein Paul wusste ihn schmeichelnd und verheissend zu der Botenfahrt zu überreden. So trat er zu seiner Zeit vor Herrn Sigismondo und sprach: »Vetter, ich entledige mich der päpstlichen Worte, deiner Weisheit völlig vertrauend, die über Gehör und Beschluss entscheiden wird.« Darauf richtete er seinen Auftrag aus. Schweigend vernahm ihn der Malatesta. Er verdunkelte seine Gesichtsfarbe, enthielt sich aber jeder Bewegung oder Widerrede, wie er auch Herrn Giulios Blick nicht begegnete. Der liess endlich sehr bange das Gemach, in dem Sigismondo bis zum Nachtdunkel einsam verblieb. Vor Mitternacht trat er hervor, hiess etliche von seinen Leuten sich zur Reise rüsten, stieg ohne jeglichen Abschied oder Bescheid zu Pferd und ritt mit seinem Gefolge in sieben Tagen nach Rom. Gaspare Broglio, der an diesem Weg teilnahm und dem Malatesta ungeachtet dessen Willkür und Heftigkeit ergeben war, hat später erzählt, es hätten die Augen des Herrn schrecklich aus blutrünstigem Geäder über alles weg in die Luft gestiert. Auch sei er hart wie aus Metall auf seinem Gaul gesessen, schier ohne Speise und Trank all die Zeit. Schlang er aber widerwillig einen Bissen, so litten seine Leute Todesangst, er könnte daran ersticken, so schloss sich seine Kehle jeder Nahrung. Heimlich wu-

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schen ihm die Diener des Nachts, indes er kurz schlief, die schwarzen rissigen Lippen mit Wein. Um die siebente Mitternacht waren sie vor Rom. Der frühe Morgen sah den Malatesta vor den Kämmerern des Papstes, von denen er ein Zwiegespräch mit ihrem Herrn heischte. Paul aber, schlau und einbildsam, weigerte ihm selben Tags die Zusammenkunft, indem er ihn mit schmeichlerischen Worten für den nächsten zu sich entbieten liess. Als Sigismondo in den Saal trat, war er blind, so schoss ihm das Blut in die Augen. Mit dem Fingernagel fühlte er nach der Spitze des Dolchs, der im Futter seines kurzen Mantels steckte. Er wähnte den Papst allein oder in geringem Geleit. Als ihm das Augenlicht jedoch wiederkehrte, stand er Paul gegenüber im prunkenden Kreis der Kardinäle. Hinter dem Purpur starrten die Hellebarden der Wachen als vielfacher blitzender Mauerring. Der Papst trat dem Malatesta entgegen, fasste dessen Hände in die seinen und hielt sie während der Unterredung wie in geschmeidigen lebendigen Fesseln. Ein sanfter Druck zwang Sigismondo in die Knie, glatt und gleissend spülte der Strom der päpstlichen Worte über sein Haupt. Er dünkte sich nackt und aller Augen höhnisch auf die Spitze seines Dolchs gerichtet. Leib und Seele wollten ihm verdorren. Als er schwindelnd von dannen ging, trug er Paul II. Verzicht auf Rimini mit sich hinweg. Aber er war leichenkalt und heiss in einem und spürte ein heimliches endloses Gelächter die Luft um sich durchrieseln. Selben Tags wandte er sich fieberkrank heimwärts. Und ob er gleich zwei Jahre noch am Leben und in des Papstes Diensten verblieb, hielten alle die ihn kannten dafür, es habe der missratene Anschlag wie ein Geier sein Leben gefressen. Denn Herr Sigismondo hatte bei seinem Hingang das fünfte Jahrzehnt um ein weniges nur überschritten und nie hatte vordem sein eisenharter Leib von Siechtum gewusst.

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Züge in Wilfrids Bild. Er war einsam wie ein Stern, und glaubte unverbrüchlich an Gemeinschaft.

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Er hat mit uns gelebt wie in einer Fremde, und war doch der treueste Freund. Scheu, bis in eine Tiefe, wo auch Scheuen die Unbefangenheit innewohnt, und doch unendlich entschlossen. Ganz und gar verwundbar, ganz und gar gefeit, narbenbedeckt und heil zugleich.

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Er war dem Leben ausgesetzt wie ein Opfer, und war anzusehen wie einer, der es mit leichter Hand meistert. Leiden war ihm nicht wie eine Speise, sondern wie die Luft, die einzuatmen das Geläufigste ist, – man befasst sich mit ihr nicht. Er hat nicht aufgehört Jüngling zu sein, und war schon an allem vorüber.

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Die Schwermut in seinem Herzen war nicht bitter und zäh, sie hatte die herbe Klarheit des Endgültigen. Dicht benachbart in seinem Herzen war ihr der Wille sich herzugeben und zu tun was zu tun ist. Abendländisch die verhaltene Gebärde, morgenländisch der wissende Blick, – und die Stimme? Vox humana, ganz einfach.

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Humanität als Natur, hier ist sie gewesen. Mit ihr ist eine andre verschmolzen, die aus dem Geist wuchs. So entsteht echte Tugend. In einer Welt, in der keiner ihm helfen konnte, wurde ihm das Helfen zur Leidenschaft. Wir erkennen den edlen Menschen daran, was er aus seiner schmerzlichsten Erfahrung macht.

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Eifrig und zärtlich hat er dem Land Israel gedient, wie man einer Heimat dient. Es ist ihm nicht zur Heimat geworden. Immer lag ein gezücktes Schwert zwischen ihm und dem was er liebte.

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Literarische Schriften

Und prüfst du fort und fort, als Letztes bleibt dir eine unnennbare Treue. Er ist sinnbildlich gestorben, als Helfer und einsam. Wir sahen ihn stürzen wie einen Stern. Aber wenn wir zu dem nächtigen Himmel unsrer Erinnerungen aufschauen, ist unter den Leuchtenden, die uns da, rein und tröstlich, erscheinen, sein unauslöschliches Bild.

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Literaturkritische Schriften

Das Buch Joram. Von Rudolf Borchardt. Im Insel-Verlag. Leipzig. 1907. »Besprechen« will ich dieses Buch, das ich schon, als es ein Privatdruck war, gekannt und geliebt habe, nicht. Es erscheint mir als aller Analyse entrückt. Man berührt sein Wesen nicht, wenn man es ein Meisterwerk an Bewältigung des Archaischen nennt. Denn es wiederholt nicht, paßt nicht an, ist ganz und gar aus der Gnade geboren, erstmalig, nothwendig, unbegrenzbar. Es hat den Herzschlag der Gewaltigen. Der Hiob-Mythus ist hier in die Erde unseres Traumes gepflanzt, wie in dem Drama Hofmannsthals der Oedipus-Mythus. Aber der Baum, der daraus gewachsen ist, ist so einsam, als sei er nicht einmal von Luft umgeben, und seine Krone hebt sich in jene zeitlose Welt, in der der Sakyersohn Gotamo den Gott Brahma heimgesucht und besiegt hat. Das Gedicht vom heimgekehrten Joram hat Unendlichkeit und Reinheit, Geheimniß und Gestalt, Stille und Pathos zugleich. Ich wünsche es den Seinen und die Seinen ihm.

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Vorbemerkung über Franz Werfel »…, daß ich in mir die tausend Schmerzen und Verzerrungen des neuen Ghettos erkenne, bekenne und zu überwinden kämpfe und als einziges Heilmittel die Errichtung eines unhysterischen gereinigten nationalen Selbstbewußtseins sehe …« 5 Franz Werfel (in einem Brief)

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Ich habe mit Lobrednern und Anzweiflern keinen Zusammenhang. Einem Dichter gegenüber sind mir Erwartungen und Enttäuschungen fremd; seine Gegenwart macht mich alles vergessen, was ihr Entwicklung nennt. Ich mache eure Hausse- und Baisse-Notierungen nicht mit; als sein erstes Gedicht mich berührte, habe ich ihm (wohl wissend, welche Problematik ich einlasse) die Pforte meines Geistergartens aufgetan, und nun kann er in alle Ewigkeit nichts anstellen, was mich ihn daraus verbannen hieße. Messet getrost wirklichen an anekdotischem Menschen, spätres Buch an frühem, meinetwegen, den ihr seht, an euch selber; ich habe einen Dichter nicht abzuschätzen, nur zu erkennen, daß er es ist – und wie er es ist. In der Welt dieses Dichters gibt es keine Gegenständlichkeit. Die Dinge und Wesen, deren Gedicht er uns mitteilt, bestehen nie als angeschautes Sein; es ist immer das Gefühl des Dichters, das sich an ihnen – nicht erfüllt, sondern manifestiert. Er erblickt etwa ein buckliges Kind in einem Laden, das Kind sieht ihn an, und er berichtet: »Da fühlte ich wunderbar die unwiederbringlichen Ruinen der Dämmerung«, und noch einmal und zum dritten Mal: »Da fühlte ich …« Hier ist, was ich meine, überdeutlich bekundet; aber tiefer klar wird es, wenn er aufzählt: »Ich weiß das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen, das Gefühl von schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis, das Gefühl von Debutanten, die sich zitternd vor den Souffleurkasten stellen.« Das ist kein Gerede, das ist zwingende Dichterwahrheit: ja, er weiß jedes Gefühl, von dem er spricht – und dieses sein Wissen ist ein Urmotiv seiner Dichtung, es begeistert ihn, es zu besingen. Wenn es zu schweigen droht, bittet er den Dämon: »Laß mich wieder verstehn die unirdischen Augen der Hunde«. Und noch eine Schicht tiefer, zutiefst, im Reich des blutenden Bekennens – da wird er inne, daß sein Wissen kein letztes Durchleben war: »Kenn ich die Lampe denn, kenn ich den Hut, die Luft, den Mond, den Herbst …« und betet, des Allebens und Allworts gewürdigt zu werden: »Bis daß ich erst in jedem Lumpen starb, in jeder Katz’ und jedem Gaul verreckte und ein Soldat, im Wüstendurst verdarb«.

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Werfel schaut die Dinge und Wesen nicht als Gestalten, in denen sich der Sinn vollendet, er spürt sie als Ichs, deren unhörbare Rede sein Ich aufzunehmen vermag. Er holt aus ihnen nicht Bilder, in denen das Gefühl beschlossen liegt, sondern Stimmen, in denen es erschallt, und wo sie zu verstummen scheinen, wirft er mächtig in sie die seine: »Aber Mensch, gedenke du in ihr …« Kein Ding stellt sich ihm dar, jedes Ding sagt Ich zu ihm. Die tote Schultasche spricht: »Wir alle sind, alle sind da!« aber nur als Ich sind sie da, nicht als Gegenstand. Die Sphäre Werfels ist nicht das Leben, ist das Erleben. Wenn es zumeist als die geheimnisvolle Eigenschaft des Dichters gelten darf, daß er alles, Eindrücke, Stimmungen, Gedanken, ja den Kern der eigenen Seele als Gegenstand zu fassen, zu Gegenstand zu bannen, in Gegenstand zu wandeln vermag, daß unter seiner Hand alle Subjektivität zu Substanz wird und die Leidenschaft selber zum unberührbar umrissenen Sein gerinnt, tritt in Werfel eine andre, schier die umgekehrte Funktion zutage: kein Gegenstand, nur Ich, unendliches Ich besteht vor ihm. Er spricht dies zuweilen selbst in überscharfer Formel aus: »Du liebst und liebst dich selbst als irgendwen«. Nein, nicht s e i n Ich, d a s Ich, die Ichheit ist es, die ihm tausendfältig entgegentritt. Gemeinhin schafft die Anschauung der Gegenständlichkeit, die Fähigkeit der Vergegenständlichung im Dichter eine letzte, vor zerstörerischer Schwermut und Verzweiflung bergende Sicherheit, die ich seine prästabilierte Distanz nennen will. Die Welt ist gegenständlich, ist sein Gegenstand; das besagt der unverbrüchliche Vertrag zwischen ihm und ihr. Daher stammt jene keiner andern vergleichbare Vertrautheit des Dichters mit der Welt, die unsterbliche Mitte zwischen Fremdheit und Vermischung. Er kann sich der Welt nicht anders verschmolzen fühlen, als indem er seine Seele selber zu Gegenstand verwandelt: im Gedicht; er kann sich kaum je nach einer andern Verschmelzung sehnen, nach einer, die seine prästabilierte Distanz, seine letzte Sicherheit aufhöbe. Erwacht diese Sehnsucht dennoch, dann ist sie nicht ein Moment im Leben, der zum Gestern werden kann, sondern abschließendes Schicksal, das hohe Verhängnis der Empedokles und Hölderlin. Anders ist es bei einem Dichter von Werfels Art. Zwischen ihm und der Welt fehlt der Vertrag, fehlt die Vergegenständlichung, durch die sie dem Dichter geheimnisvoll angelobt und so verbunden wie entrückt wird. Er kennt keine Schranke als die der natürlichen Einsamkeit des Ich. Aus ihr sehnt er sich, je weniger die primitive Vertrautheit des Kindes dem andringenden Ereignis standhält, um so tiefer nach Vereinigung.

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Vorbemerkung über Franz Werfel

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»Ich möchte fort, ich möchte in die Welt!« »Warum bin ich nicht durch die Welt gespannt?« Aber unerbittlicher als anderen ist ihm die Vereinigung geweigert: weil es nicht das Du, sondern das Ich der Dinge ist, das ihm entgegentritt, und weil die Ichheit sich wie dem Vertrag so der Vereinigung versagt. Jene Weigerung wird immer mehr zu Werfels zentralem Gefühl: »Und das Wort, das waltet, heißt: Allein! … Eines weiß ich, nie und nichts wird mein«. Aber zu Unrecht deutet er auf sich: »Ich bin so zugebaut!« Er ist unendlich offen – aber nur dem Ich der Dinge, nicht ihrem Sein, das allein dem, der Ich ruft, ein anderes als das Echowort zu entgegnen vermag. In diesem wahrhaften Sinn ist die Verlegung der »Schuld« als des Urgrunds aller Einsamkeit in das Ich gerechtfertigt. Zwar spricht sie Werfel der Welt zu: »Die Welt ist Abfall … Die Welt ist Bruch und Schuld auf immerdar«. Aber der eigentliche Ort der Entzweiung wird mit immer tieferer Geltung die Seele. Das Gefühl der »Wand« zwischen Ich und Welt verdichtet sich zu dem einer Wand im Subjekt selber. Im Subjekt selber ist das Ich vom Sein abgefallen. Die Einsicht wird hart und klar: »Ja, wer niederfährt zu diesem Stand, wo das Einsame sich teilt und spaltet«. Aber auch diese ungeheuer ichhaft erlebte Fatalität ist nur die Schwelle zu einer anderen: zu der des Widerspruchs zwischen dem v o r g e f u n d e n e n und dem g e m e i n t e n Menschen. In einer frühen freudigen Stunde war das kindliche Wort erklungen: »Eine gute Tat habe ich getan. Nun bin ich nicht mehr einsam … Tausend gute Taten will ich tun!« Jetzt aber erscheint das Gute in einer paulinisch schwermütigen »Empfindung des Entfernten«, und die Pein des Widerspruchs steigert und reinigt sich in einem der schönsten Gedichte zu der Frage: Was schufst du mich, mein Herr und Gott, Der ich aufging, unwissend Kerzenlicht, Und dabin jetzt im Winde meiner Schuld, Was schufst du mich, mein Herr und Gott, Zur Eitelkeit des Worts, Und daß ich dies füge, Und trage vermessenen Stolz, Und in der Ferne meiner selbst Die Einsamkeit?! Was schufst du mich zu dem, mein Herr und Gott? Und nun erwacht auch der letzte, äußerste Zweifel, der Zweifel am Wort. Jener auf der gegenständlichen Anschauung gegründete unverbrüchliche

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Vertrag zwischen dem Dichter und der Welt verbürgt ihm die unanfechtbare Wahrheit seines Wortes, seiner Grundfeste. Hier aber fehlt diese Bürgschaft, hier redet das Wort nicht aus einer von der dichterischen Moira eingesetzten Ordnung, sondern aus dem Abgrund des Ich, hier kann der Zweifel, kann die Verzweiflung am Wort aufsteigen und so zerstörerischen Ausdruck gewinnen wie in dem »Fluch des Werkes« und in einigen der jüngsten Gedichte. Hier stehen wir am Rande des dichterischen Kosmos. Brauche ich noch auszusprechen, w a s das ist, was so erlebt und in einem unangreifbar echten Sprachgefüge gedichtet ward? We s s e n innerlichste Not – wahrlich nicht die eines Einzelnen und gewiß nicht die des heutigen Deutschen – hier zum reinen Bekenntnis gedieh? Wer, wenn er zum Dichter berufen wird, der Sicherheit, die aus der Gegenständlichkeit quillt, entbehren muß und, bis er sich selber erlöst, allem Grauen der Problematik ausgeliefert ist? Und wem in einem frühen, wunderbar überbewußten Vers Franz Werfels die Erlösung vorgeahnt ist: Schon naht die schmerzliche Stunde der Geburt, Da er sich selbst gebiert, der hinfällige Mensch.

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Mombert Zum fünfzigsten Geburtstag (6. Feb. 1922)

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Was Mombert zu einem Phänomen der Natur und des Geistes macht, ist, daß sich durch diesen »späten« Menschen eine Urkonzeption echt ausspricht, nicht als überkommener, vorgestellter, geäußerter Inhalt, sondern als die Gewalt, die Leben und Werk dieses Menschen trägt, der Grund, aus dem er wächst und dem er gehorcht. Da ist nicht Willkür und auch nicht Bekenntnis, da ist welthafte Notwendigkeit; nicht Wort, das man in den Mund nimmt, sondern Wort, dem man zum Munde dient. Dieser Dichter, der von dem Gesetz der dichterischen Überlieferung seines Schrifttums gelöst erscheint, ist nicht gesetzlos: er steht in dem Gesetz der Urkonzeption, die sich durch ihn ausspricht. Sie ist der Halt seiner Ekstasen und die Regel seiner Gesichte; sie befiehlt ihm die Bilder und die Klänge. Sie macht, daß sein Werk jenseits der heutigen Dichtung erscheint, gleicherweise der gestalthaften und der gestaltsprengenden – der ersten gegenüber in einer Unvollendung und Unvollendbarkeit von unbedingter Legitimität, der zweiten gegenüber in einer monumentalen Absolutheit. Es ist die Urkonzeption der We l t a l s S c h ö p f u n g : die Konzeption, daß die Welt geschaffen ist und geschaffen wird und daß ihr Geschaffensein und Geschaffenwerden den im Menschen lebendigen Geist unmittelbar angeht. Es hatte den Anschein, sie sei im Getriebe der Religionen und Theologien, der Literaturen und Rhetoriken zerwalkt worden; Mombert bezeugt, daß sie Element geblieben ist. Der »Urmensch« erfährt die Welt als Schöpfung, nicht indem er Betrachtungen darüber anstellt, wer all die Dinge gemacht habe, sondern indem er in ungeheuren Erschütterungen, in Katastrophen der Seele seine eigene Urheberschaft erfährt. Wer das Werkzeug, das er gezimmert und oft gebraucht hat, plötzlich s a h ; wer, der mit seinem artikulierten Ruf immer wieder die Gefährten zu einer bestimmten Haltung und Handlung bewegt hatte, es plötzlich m e r k t e ; wer, nachdem ihm vom Weibe Kind um Kind geboren war, plötzlich v e r s t a n d , daß er sie gezeugt hatte: diese s p ä t e n Menschen (denn wie viele Geschlechter mögen ihr Leben abgelebt haben, ehe s i e es erkannten!), diese frühen Menschen (denn wie vielen Geschlechtern mußte neu und neu das gleiche Erkennen widerfahren, bis es Wissen und Wissenserbe wurde!) erfuhren nicht sich, sondern die Welt. Es wäre intellektuelle Ausdeutung, hier von einer »Projektion« oder gar von einem »Analogieschluß« zu reden, als ob der

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solches Erfahrende sich sodann einen Gott aussänne und ihm den eignen Urhebertrieb und die eigne Urhebermacht beilegte; der Vorgang ist tiefer und einfacher, er hat den Charakter eines N ä h e r k o m m e n s . Hinfort steht der Mensch im Zeichen des Schöpferischen, das ihn mit dem nun vertrauter gewordenen Gott verbindet. Der Mythus der Weltschöpfung in seiner mannigfachen Gestalt – Schöpfung durch ein Machen, durch ein Sagen, durch ein Zeugen – ist die Sprache dieses Grundverhältnisses. Das Dogma schematisiert das Bild des Schöpfergottes; die innere Lehre richtet immer wieder groß und lebendig das Selbstwissen des Menschen auf, daß er von Gottes Geschlecht und sein Genosse im Werk der Schöpfung ist. Jenes verkündet den vorweltlichen, diese äußert den ewigen Schöpfungsakt. Ihn meint die Kunst, wenn sie, urselten, an das Geheimnis des Anfangs rührt: aus der Selbsterfahrung der ewigen Schöpfung stammt die Bewegung des Schöpfergottes auf der Decke der Sistina. Unser Zeitalter scheint vollends, über lauter Ent- und Abwicklung, der Gegenwart des creator spiritus entfremdet zu sein. Die Schöpfung ist zu einem Satz des Katechismus und das Schöpferische zu einer beliebten literarischen Metapher geworden. Darüber kann auch der sogenannte Expressionismus mit seinen Ausbrüchen psychologischer Lava nicht hinwegtäuschen. Mombert ragt einsam hervor als eine wahrhafte Kundgebung des Fortbestands. »Kennst du den Übergang vom Er zum Ich?« Dies ist in Momberts Werk das Grundmotiv, aus dem allein es zu verstehen ist. Daß die Einheit nicht gegeben ist – daß wir dem Geistwesen, das über den Wassern brütet, mit einem eigenen Geisthauch gegenübertreten – daß wir den Samen des Unfaßbaren zeugerisch in uns tragen – daß das von urher Seiende sich im vergänglichen Werden ewig neu gebiert – und daß das Fünklein in seiner Selbsterfahrung solcher Unendlichkeit inne wird, daß es zum Urfeuer kaum noch Du sagen kann: aus dieser gelebten Unausdenkbarkeit entspringen diese – nicht mythischen, aber p r ä m y t h i s c h e n – Dichtungen in all ihrer Macht und Ohnmacht. An ein Wort des R a n d e s hat hier wieder einmal ein Mensch sein Äußerstes gewagt, ihm zum Mund zu werden, aus Notwendigkeit. Daraus kommt die Unvollkommenheit des Dichters und seine Größe. Die Welt wird nicht. Die Welt wird getan. Wer so fühlt, wer so erkennt, in Unmittelbarkeit, dem wird aller Gegenstand zur Musik des Subjekts, und das Subjekt kann nicht unmittelbar genug sein. Ich tue dieses ungeheure Schaffen – auch das Gewahren der Dinge, unter den Flügeln der Fantasia, wird als ein Schaffen der Dinge gelebt – ist dies nicht das

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Schaffen der Welt? »Ich« – aber das Ich des Einzelnen unter zahllosen Einzelnen ist entschwunden, hier spricht, nicht mehr geeinzelt, das Ich des Menschengeistes. Kein Abstraktum: das gelebte schöpferische, zeugerische Menschen-Ich: Aeon. In drei Bildträumen, von denen jeder folgende den Vorgänger überwindet, versucht dieses Ich, der furchtbaren Ferne und Nähe des Schöpfergottes, den Schwingungen des »Übergangs« standzuhalten. Der eine Bildtraum ist: Erinnerung, – das Sich-Zurückwerfen in das Subjekt der Urschöpfung, aus unüberwindlich verharrender, dennoch überklungener Ferne. »Einst war hier nichts als mein Beruf. / Heut lieg’ ich körperlich in großen Träumen / zwischen weißen Wogenschäumen / und rede mit dem Licht, das ich erschuf.« Das ist der Traum der Identität. Der andere Bildtraum ist: Übernahme, die Fortbildung oder Umbildung der Schöpfung; am deutlichsten wohl in der Vision des Riesen unterm Sterngewölbe: »Ich nahm sein Wort, ich nahm sein Licht und nahm dann / seine ganze Last auf meine Schultern.« Das ist der Traum der Geschichte. Aber der stärkste und lebendigste ist der Traum der Begegnung. »Erheb’ ich: wach: die Hand zum Frühgruß, / so lächelst du aus deiner Morgenröte.« Im ersten der Träume versinkt das Ich im Er, von ihm Ich sagend. Aber da ist das Ich nur noch ein Gefühl. Im zweiten geht Er ins Ich über. Aber da ist Er nur noch eine Vorstellung. Im dritten allein heißt es, als von Wesen zu Wesen: Ich und Du. So hat sich hier der Vorgang des Näherkommens vollzogen. Die Welt wird getan. Wer des Geistes als ihres Täters in sich selber inne wird, inne werden kann, dem ist alle Natur in einer eigentümlichen Art erschlossen – und entzogen. Die harte Abgehobenheit der dinghaften Welt unseres disziplinierten Wachbewußtseins von der Wirbelwelt des Traums besteht für ihn nicht; der Bann, der die Dinge von uns weg in ihre festen Formen und an ihre sichern Orte wies, ist gelöst; ein mächtiger Gegenzauber des Aneinander- und Ineinanderdringens wirkt, die Welt möchte am Menschen vergehen, an dem »wunderbaren Geist-Gewebe, das die vielen Welten eint und bindet«. Das Gesetz eines schöpferischen Traums, eines Traums also, der nicht geschähe, sondern getan würde, wird zum Gesetz der Schöpfung. Der schöpferische Traum, in dem die Mächte nicht dinghaft stocken, sondern elementhaft wogen, überwindet die zuverlässige Welt der Individuation. Es ist hier, bei dem Dichter Mombert, nicht so, wie wir es in

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aller naturschauenden und naturdeutenden Dichtung der neuern Zeit im Abendland erfahren haben: daß sich die Wesen, Gestein, Gewächs und Getier, die Raumgestaltungen, Gebirg, Gewässer und Gestirn, in den Grenzen ihrer Einzelung und Einmaligkeit bleibend, verklären, daß also die Eiche des Gedichts nicht als »die«, sondern als diese, diese einzelne und einmalige, aber als diese eben doch verklärt sich offenbart; vielmehr sind hier die Wesen und die Gestaltungen Gefäße schwingender Mächte, von der ganzen Sinnlichkeit und Sinnenergebenheit des Traums, aber eben nicht geeinzelt, sondern kosmisch, nicht einmalig, sondern äonisch. Über dieser Welt, die um den Preis der Welt erkauft ist, steht der Gottesname Schaddai: »Der der Dämonen Waltende.« Dämonen sind sie alle, die Spieler und Gegenspieler des ungeschriebenen und unschreibbaren Dramas, dessen Bruchstücke Momberts Gedichte sind; und auch die, welche sich nicht zu den Dämonen zählen. Wie immer sie heißen – der Erdriese, Asia, das Weib, das Meer –, Dämonen sind sie alle, und alle, handelnd, leidend und singend eingetan in das eine große Spiel der Traum-Welt-Dämonie, welches das ewige Zwiegespräch, Dreigespräch – denn der Geist ist der Dritte – von Chaos und Kosmos umspielt. Und auch diese Beiden, die »Frauen«, zwischen denen Aeon steht, die dunkle Ur-Frühe und die helle Tiona, sind Dämonen. Es sind nicht Götter. Götter sind nicht Mächte, sondern absolute Individuen, so einzeln und einmalig wie »diese« Eiche, aber bis in eine unwandelbar thronende Dauer hinein verklärt; sie sind unsterblich; sie sind nicht ewig. Dämonen sind sterblich aber ewig; denn sie sind Mächte. Fordere von ihnen nicht, daß sie dir ein götterhaft verklärtes EinzelWesens-Angesicht zeigen! Ihr Spiel umspielt den Dialog von Chaos und Kosmos. Die Welt wird getan. Die Welt wird ewig getan. Nicht nur einst war Chaos und nicht nur jetzt ist Kosmos, wie nicht einst Mutter war und nicht jetzt Sohn ist. Sondern daß die Welt getan wird, meint ein ewiges Bewältigen, ein ewiges Einander-Bewältigen. Denn in jedem Kristall ist Chaos und in jeder Gärung ist Kosmos, als Gewalten. Jeder Leib fühlt alle seine Glieder in jedem Augenblick aus Urbrei werden und in ihn vergehen, und das Verhängnis Unvollendbarkeit, dem das umgrenzte Marmorbild trotzt, starrt aus eben dessen Zügen dem Bildner als das Verhängnis der Welt entgegen. In all der Ausgespanntheit des Raums und der Zeit wächst unendlichfaltig aus der heiligen Fülle die heilige Gestalt, versinkt – und dauert. Jede Sekunde jedes Atoms ist ein Schmelztiegel des ewigen Gießers Geist. Denn er ist der Täter der Welt. Er zeugt im Chaos, er formt am Kosmos, er spricht zwischen beiden sein Wort als der Dritte. Er liebt beide. Nicht als Feind gerungen hat er gegen den Abgrund, ehrfürchtig hat er ihn

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berührt und ist ihm obsiegend erlegen als ein Liebender, und erst als er in ihn eindrang, ward er seiner selbst gewahr. Nicht kann er sich von ihm weg ganz zur Vollendung wenden; wenn er sich an sie verlöre, an die Herrlichkeit des Gewordenen, wäre es um seine ewige Tat geschehen. Er »will nicht verseligen; will nicht verstirnen. Zeugen will er«. Darum trägt in der Welt des Dichters Mombert jedes Weib als Sinn-Bild die Zeichen beider; jedes ist Urschoß und Verheißung der Gestalt, jedes Tänzerin des Chaos und aber dessen Blüte. Ob aber auch in jedem Augenblick der Kosmos geboren wird: die Tatsache, daß der Mensch und die von ihm vorstellbaren Wesen in einer e i n l i n i g , in einer Richtung verlaufenden Zeit (deren Gleichnis das einzelne Leben mit seiner Bewegung von der Geburt auf den Tod hin ist) wohnen, spannt die Urkonzeption der Welt als Schöpfung in die Form der Geschichte. An ihren Rändern stehen das Geheimnis des Anfangs – die große Tiefe unter dem Anhauch des Geistes – und das Geheimnis des Endes – die Vollendung der Welt aus dem Geist. Zwischen diesen Geheimnissen, von Erinnerung des Gedächtnislosen und Ahnung des vom Gedanken nicht Vorwegzunehmenden umwittert, geschehen die Taten des Geistes, dem zu dienen und zu opfern, den zu tragen und zu dem als zu seinem ewigen Selbst sich zu bekennen der Mensch berufen ist. Es ist bedeutend an Mombert, daß er die Geschichte des Menschengeistes unauslöschbar in die Geschichte des Weltgeistes eingefügt schaut, in einer stolzen Demut. Der Geist spricht: »So fielen einst die Völker von mir ab. / So verrieten mich einmal die Meerwogen. / So verließen mich frühe Gestirne.« Und: »Um meinen Scheitel spielten Weltschöpfungen, / in meiner Herz-Höhle harfte die Zeit.« Der Geist, der in der Geschichte des Menschen waltet, der Geist-Befreier, der Völker zeugt, sie in den Kampf um ihr Freiwerden, ihr Selbstwerden führt, der in ihrem Zusammenklang tönt und in ihrem Untergang stirbt und aufersteht, entdeckt sich als jenem wesensgleich, der den Gürtel des Chaos löste. Fantasia kommt zu ihm als Lockung, aber auch als Mahnung aus dem All. Und die Mutter der Völker spricht zu ihm: »Alle leben sie in dir. / Du hast sie ausgeströmt in deinen Gezeiten, / und hast sie wieder zurückgeschlürft.« Geschichte ist. Und Geschichte ist Schöpfung. In der Zeitlichkeit ist Schöpfung Tragödie. Aeons Gefährte »im furchtbaren Spiel«, sein Schatten-Geist, ist »der Zertrümmerte«, dem das ganze Grauen, aus dem die Taten der Geschichte aufsteigen, aufs Haupt gehäuft wird, wie die Sünden Israels dem Bock des Asasael aufgeladen wurde. Und Aeons Werk selber scheitert auf der Erde. Das »neue Volk«, das er

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ersehnt, wird nicht geboren. In großer Stunde, am Ende eines Weltalters, sterben die Völker und er ihnen nach. Aber aus dem Sterbenden steigt der Geist in neuer Gestalt auf, Sfaira, »die Freude des Menschen«, und fragt: »Was ist’s mit dem Menschen? / Hat er ein Ziel? / Soll ich an ihm weiterschaffen auf diesem Stern?« Und wie eine Antwort erklingt es aus anderm Gedicht: »Selige Welt-Jugend! / Die alte, erloschene / granitene Himalaja-Welt: / ersetzt ein Hauch aus Geist.« Und wieder: »Dann werden Blumen blühen, wie noch keine. / Dann kommt ein großer Frühling über die Welt. / Dann werden Menschen blühen, wie noch keine.« Zukunft ist. Und auch Zukunft ist Schöpfung: an der die Tragödie der Schöpfung sich zum Mysterium löst. Sie verkündend, gehorcht der Dichter dem Gesetz der Urkonzeption, die sich durch ihn ausspricht. Denn beide Bilder: schöpferischer Ursprung im Anfang der Zeit, schöpferische Erlösung in ihrem Ende, sind die zwei Seiten eines Gottgewands, von Einem Geist gewoben; dessen sinaitischer Stimme die Stimme widertönt, die in Momberts Gedicht den »großen Frühling« ansagt, da sie mit den Worten endet: »Deum sempiternum omniscium omnipotentem / a tergo vidi et obstupui.«

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[Über Stefan George]

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In meinem achtzehnten Jahr erfuhr ich beim Lesen des Gedichts »Der Tag des Hirten«, daß in dieser, in meiner Zeit ein Dichter lebt. Fünf Jahre später merkte ich am Vorspiel des »Teppichs«, daß in eben dieser Zeit Gedichte sich so rechtmäßig zur Reihe verbinden können, wie Verse zum Gedicht, – und die Reihe war ein Dialog. Das sind zwei Begebenheiten, unvergeßlich, aber vielleicht nicht mitteilbar, die – die zweite weit stärker noch als die erste – meine Jugend beeinflußt haben. Darum scheint es mir heut, so nach dem Persönlichen befragt, angemessener, auf sie hinzuweisen, als auf all das, was in meinem inneren Verhältnis zu George folgte, nachdem mein Weg abgebogen war. Jetzt, während ich schreibe, taucht ein Vers mir wieder einmal empor: »Mir ist, als ob ein Blick im Dunkel glimme«; er hat an Kraft gewonnen, seit ich ihn zum letztenmal erinnerte. Das gilt.

Ein Wort über Franz Kafka Aus zwei Briefen an Max Brod Kafkas »Schloß« war für mich ein Gegenstand nicht des Lesens, sondern wirklichen Geschehens. Es ist eine Körperhaftigkeit des Geheimnisses darin, die die Überlebenden in ihrem eigensten Leben angeht … Auch da, wo dieses Buch (»Der Prozeß«) mich bedrückte oder bestürzte, blieb ich im ungeschmälerten Vertrauen zu ihm, nie wandelte mich der Gedanke an, daß etwas darin anders sein sollte oder könnte. Dabei weiß ich aber doch, daß ich, wenn dieses reine Menschengesicht uns erhalten geblieben wäre, mich getrauen würde ihm entgegenzutreten und zu sagen: »Gewiß, so ist es – zum Vollstrecken des Sinns ist das Sinnlose eingesetzt, mit ihm haben wirs hier zu tun, bis an den letzten Augenblick. Aber indem wir uns mit ihm zu schaffen machen und die Verstrickungen des konkreten Widersinns erleiden, werden wir dann nicht gerade da und so, immer wieder, es nicht wahrhaben wollend, in grausamer Heiligung, des Sinns inne, der sich als eben ganz und gar nicht unserartig erweist und doch als der uns zugekehrte, quer durch all den Brodem zu unsern Herzkammern vorstoßende, die er im letzten, im rechten Augenblick doch noch erreicht und einnimmt?«

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Der Erzähler [Zu S. J. Agnon] 1

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Das erzählerische Handwerk ist eine Kunst, die nicht häufig anzutreffen ist. Viele Erzähler scheinen zu erzählen, zahllose Leser scheinen tagtäglich eine neue Geschichte zu lesen, aber das ist nichts weiter als eine Illusion. So ist es nicht richtig, zwischen guten, mittelmäßigen und schlechten Erzählungen zu unterscheiden. Wenn etwas in Wahrheit erzählt wird, dann gibt es weder Mittelmaß noch Schlechtes. Der Erzähler an sich existiert nicht, sondern nur der gute Erzähler. Was macht nun die Qualität des erzählerischen Handwerks aus? Wenn wir nun irgendein Begebnis, wie zum Beispiel das Zusammentreffen von Menschen auf der Straße als e i n G e s c h e h n i s wahrnehmen, so gibt es drei Gesichtspunkte: erstens, das Begebnis scheint uns nicht wie die Abfolge von Bildern, die sich aneinander reihen wie in einem Film, sondern wie die deutlich konturierte Gestalt einer Bewegung im Verlauf der Zeit; zweitens erscheint es uns nicht einfach wie eine Bündelung von Bewegungen, von der Art, wie wenn welke Blätter einer Baumreihe im Sturm dahin fliegen, sondern wie miteinander verbundene Handlungen tätiger Geschöpfe (auch wenn man nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern reagiert wie z. B. bei einer Naturkatastrophe); und drittens, erscheint es uns nicht allein wie miteinander verbundene Handlungen, wie etwa das einstudierte Spiel einer Zirkustruppe, sondern als etwas Einmaliges, das sich genau in diesem Moment ereignet und eine schicksalshafte Bedeutung in seiner Einmaligkeit und seiner Gegenwärtigkeit hat. Aus diesen drei Grundlagen, Bewegung, Handlung und Bedeutsamkeit, entsteht der einheitliche Charakter des Geschehens. Das erzählerische Handwerk besteht darin, die Begebnisse in einer solchen Form vorzutragen, so dass wir sie gezwungenermaßen als ein Geschehen wahrnehmen, ohne dass ein nebensächliches und fremdes Element beigemengt ist. Alles was im realen Leben von der Linie des Geschehens abweicht und es verdunkelt, wird hier weggenommen. Bewegung, Handlung und schicksalhafte Bedeutung, von denen in unserem Bewusstsein jeweils eins hervorsticht (deswegen beziehen wir uns auf ein Begebnis entweder mit einer ästhetischen Rezeption oder mit einer moralischen Bewertung oder einem Schicksalsempfinden), sind jetzt so ineinander verwoben, dass man sie nicht voneinander tren-

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nen kann. Und wir erfassen – aber nicht nach der Art wie wir ein bewundernswertes Werk eines Künstlers auffassen, sondern so wie Kinder den Erzählungen ihrer Großmütter lauschen – wir erfassen das reine Geschehen, die Welt als Geschehen. Aber gibt es nicht viele Großmütter? Heutzutage ist die echte Großmutter natürlich kaum noch anzutreffen. Aber auch die echte Großmutter beeinflusst mit der Kraft des Erzählers nur diejenigen, die in ihrem Umkreis leben, während der Dichter, der zu erzählen versteht, jeden, der sein Buch aufschlägt, in seine Atmosphäre hineinzieht. So verfährt Agnon. Und sein Vermögen steigert sich von Buch zu Buch und fast von Erzählung zu Erzählung.

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2 Auf drei Dingen beruht die Qualität des Erzählers: auf seinem Empfinden von Begebnissen als Geschehnissen, auf ihrem Erinnern als Geschehnissen und auf seinem Können, sie vorzutragen als Geschehnisse – der epischen Auffassungsgabe, dem epischen Gedächtnis und der epischen Schilderung. Unter ihnen lohnt es sich besonders, den Augenmerk auf das epische Gedächtnis zu legen. Es gibt ja Menschen, die Geschehnisse als solche wahrnehmen, aber sie ziehen sie in ihrem Gedächtnis in Form von Bildern oder sogar in Form von Begriffen zusammen. Demgegenüber ist der Erzähler ein Mann, bei dem das Geschehnis in seinem Kolorit erhalten bleibt, dem Kolorit des Geschehnisses, ohne das es verblasst, das Geschehnis bleibt bei ihm Geschehnis. Der echte Erzähler hat einen zentralen Kern von Geschehnissen in seiner Seele. Das sind die Geschehnisse, die er in seiner Kindheit und Jugend aufnahm, zur Zeit als er noch nicht wusste, dass er sie einmal erzählen will. Dieser Kern bleibt die hauptsächliche schöpferische Essenz im Schaffen des Erzählers. Dieser Gedächtniskern bildet eine Ganzheit, wie zum Beispiel das Leben von Bewohnern einer Siedlung, Geschichten von Schulbankfreunden und manchmal auch das mutige Handeln eines Menschen, eines Menschen besonderer Art, der Träger eines besonderen sagenhaften Glanzes ist. Bei Agnon ist dieser Gedächtniskern die jüdische Gemeinde Buczacz. Und um diesen Kern wächst, wie ich sagte, alles, was der Mensch danach erfasst. Gerade deswegen muss die epische Auffassung ganz leben-

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dig bleiben, ganz flexibel, sie darf nicht zu einem Ende kommen und nicht ermüden. Und ob nun der Erzähler die Ereignisse, für die er sich interessiert, in einem Winkel der »Ruine« sieht, oder ob er sie mit seinem Schreiben aus den verschwundenen Winkeln der Tradition empor hebt, die Begebnisse treten in die Schatzkammer seiner schriftstellerischen Könnerschaft als Geschehnisse ein, als Einheit von Bewegung, Handlung und schicksalhafter Bedeutung. Wie ärmlich schienen sie dort in ihren Winkeln und wie leuchten sie jetzt in bescheidener Festlichkeit! Was hat Agnon von sich hinzugefügt? Nichts- außer der Reinheit des schriftstellerischen Handwerks. Und das, was der Erzähler mit epischem Maß aufnimmt und mit epischem Maß erinnert, das muss er auch mit epischem Maß wiedergeben. Er darf sich von nichts anziehen lassen, dass seine Aufmerksamkeit vom Geschehnis ablenken könnte. Das Herz fühlt sich hingezogen, Landschaft, Situationen, Menschentypen zu zeichnen, und umso mehr, wenn es den geliebten, erzählerischen Kern ausgestaltet; aber jede Beschreibung, die der Dynamik der Erzählung nicht hilft, hält sie nur auf. Das Herz verlangt, die Gestalten in der Erzählung viele interessante Sachen über alle möglichen weltbewegende »Fragen« sagen zu lassen; aber das Gespräch, das nicht notwendiger Bestandteil des Geschehnisses ist, schadet ihm. In der modernen Literatur findet man einige bedeutende Beispiele dafür. Große Schriftsteller, wenn sie groß als Schriftsteller von Romanen und Novellen waren, waren im besonderen Maß große Erzähler, was nicht auf alle zutrifft. Der wahre Erzähler trägt das Geschehnis vor, das ist sein Werk und nicht mehr. Alles Material wird in seinem Geist zum Geschehnis und jedes Wort in seinem Mund wird zum Teil seines Vortrags. Deswegen sind wir so glücklich, wenn eine wahre Erzählung auf uns kommt. Nicht die »Schönheit« oder die »künstlerische Feinarbeit« stimmen uns glücklich, sondern die Reinheit der menschlichen Welt, der Welt des Geschehnisses. Vor beinah 25 Jahren schrieb ich über Agnon, er sei dazu bestimmt, die Rolle des Chronisten unseres gegenwärtigen Volkslebens auszufüllen, eine Aufgabe, die unsere großen Schriftsteller trotz all ihrer Vorzüge nicht auszuüben vermochten. Seit damals erfüllt er diese Rolle. In der Zwischenzeit ist Wertvolles geschehen. Das Leben unseres Volkes ist mit Tradition durchdrungen, so auch die jüdische Gemeinde Buczacz. In den ersten Büchern Agnons ist alles im Gewand der Tradition wie in Kleidern aus feiner Seide eingehüllt, alles ist mit den Kleinoden der Tradition geschmückt. Die Tradition verdunkelt das Licht des Geschehnisses. Doch das ändert sich. Nicht dass Agnon die

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Tradition loslassen würde. Aber statt als Gewand und Schmuckstück zu dienen, wird sie zum Herzen und Geheimnis des Geschehens. Ihr Licht wird in diesem Licht geklärt. So wurde Agnon zu dem Erzähler, den wir heute kennen.

Zum Ruhm des Publizisten

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Es ist heute, zumal hierzulande, wenig bekannt, ein wie kostbares Wesen ein echter Publizist ist. Ein echter Publizist, das heisst, ein Mensch, der befähigt und berufen ist, die wechselnden geschichtlichen Situationen seiner Tage, die grossen und die kleinen, als Situationen zu erfassen, darzustellen und zu deuten. Als Situationen, das heisst, nicht, wie es allgemein geläufig ist, als Ereignisse und Ereignispausen, sondern jeweils als die Verfugung eines gegenwärtigen Zustands mit dem Vergangenen und dem Kommenden. Die Realität der Stunde interpretiert der echte Publizist nach der Seite der Ursachen und Folgen und nach der Seite der Möglichkeiten und Entscheidungen hin. Er fragt sowohl: »Wie ist es dazu gekommen? was an Tun und Unterlassen hat dazu beigetragen?« als auch: »Was kann nun werden? was soll nun geschehen?« Nichts kann wichtiger sein, insbesondre in einer Zeit wie diese, wo die Leute im allgemeinen weder die Situationen, an denen sie aktiv beteiligt sind, zu fassen vermögen oder begehren noch jene, die sie zu erleiden haben, des vollgewichtigen Verantwortens unkundig und unlustig. Aber es ist auch recht wohl zu verstehen, dass der echte Publizist in einer solchen Zeit nicht eben beliebt ist. Er entlarvt ja durch seine blosse Tätigkeit die private Meinungsimpotenz, die sich öffentliche Meinung nennt. Er konfrontiert die Generation immer neu mit ihrer Schuld. Und er warnt, explicite oder implicite, immer neu vor dem Beharren darin. Er ist sehr unbequem. Man will doch nicht umkehren, sondern weiterrennen – nur ja nicht denken, wohin! Aber eben dies, diese Unbequemheit und Unbeliebtheit, ist der Ruhm des echten Publizisten. Er ist unbequem, weil er unbefangen, und unbeliebt, weil er unbeeinflussbar ist. Und man irrt sich gründlich, wenn man glaubt, ihm, der seiner Stunde dient, wüchse kein Lorbeer. Künftige Stunden werden’s berichten: Damals hatten erst die deutschen Juden, dann die Juden aus Deutschland eine Kostbarkeit – einen echten Publizisten.

Für Agnon Wer die zeitgenössische Literatur beobachtet, findet in reichem Maße zwei Typen von Schriftstellern vor, zwei Typen von Einstellungen zu dem Geheimnis des Seins. Die einen reinigen den Gegenstand, von dem sie erzählen, von dem ›Bazillus‹ des Geheimnisses. Und es bedarf nicht des Hinweises, dass ihre Sinne es sind, die die ›Reinigung‹ vollbringen. Und die anderen beschäftigen sich nur mit dem Geheimnis: in ihren Schriften geschieht nichts, alles »raunt«. Auch hier sind die Sinne die Hauptsache, das heißt, ihnen fehlen diese Werkzeuge. Der Weltenlauf der einen ist ohne Sinn. Hingegen fehlt in den Büchern der anderen die Welt selbst. Die Worte der einen sind wahrheitstreu, aber diese Treue ist nicht viel wert, und bei den Worten der anderen wird nach deren Treue nicht gefragt, denn ihr fehlt der Bezug. In dieser Zwiespältigkeit spiegelt sich das Elend des typischen Menschen unserer Zeit wider, der für das Geheimnis blind ist und der bereit ist zu bezeugen, dass das, was wir mit diesem Begriff bezeichnen, nur als ein sprachliches Gebilde existiert. Du, Agnon, erzählst von allem, was in unserer Welt geschah und geschieht; und du hütest das Geheimnis, und unser Auge erschaut es. Deine Sinne nehmen es zusammen mit der Welt auf, und du bringst es zusammen mit der Welt zu uns, allerdings geht dein Wort sparsam damit um, dein Wort ehrt es, dein Wort trennt es nicht vom Sein. Der Ausdruck des Geheimnisses ist kein Inhalt, den man von der Form trennen kann, die Form selbst ist sein Ausdruck. Die Form deines Wortes, Agnon, lässt das Gesagte sprechen. Deswegen sieht der typische Mensch unserer Zeit, der für das Geheimnis blind ist, dich als Erben. Und in der Tat bist du der Enkel derer, die sahen. Aber das Entscheidende ist, dass du der Großvater derer bist, die von neuem sehen werden.

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Der Galilei Roman Lieber Max Brod –

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Unser Gespräch aus Anlass Ihres »Galilei« geht mir nach, und ich will, Ihren und meinen eigenen Wunsch zu erfüllen, genauer formulieren, welcher neuartigen Gattung er mir anzugehören scheint. Ich meine den Roman, dem das irdische Schicksal des Geistes zum Thema geworden ist. Ich sage nicht: das Schicksal des geistigen Menschen, denn das ist je und je behandelt worden. Sondern es ist den Erzählern, die ich im Sinn habe, um den Geist selber zu tun, um Begegnung, Kampf und versuchte (hienieden wohl nie völlig gelingende) Versöhnung geistiger Potenzen, sodann aber um das geistige Ringen in den Tiefen der Person selber, tiefer noch als alles Widereinander von »Geist« und »Trieben«: den Streit zwischen einem geistigen Trieb und einem andern geistigen Trieb; das und noch manches dazu. All dies, das Leben des Geistes, zu erzählen, nicht zu erörtern, sondern zu erzählen – merkwürdig genug, dass es heute Mal um Mal unternommen wird, noch merkwürdiger, dass es nicht selten einigermassen gelingt. In unserem Gespräch wiesen Sie, um zu belegen, dass es sich nicht um ein Novum handle, auf Flauberts »Bouvard et Pécuchet« hin. Aber gerade daran ist das Neue jener Versuche, von denen wir sprachen, und darunter des Ihren, deutlich zu machen. Flaubert lässt die »Helden« seines »Romans« das Abenteuer eines Erkenntnisgegenstands nach dem andern bestehen, wie er seinen Antonius die Versuchung einer mythisch-gnostischen Vision nach der andern bestehen liess; dort wie hier eine Aneinanderreihung geistiger Begebenheiten, ohne dass ein Lebensstrom starken Gefälls sie trüge, nicht aber die Erzählung eines Geistesschicksals, wo Vorgang aus Vorgang bricht, jeder seiner Daseinsstelle zugeteilt und keiner andern zuteilbar. Die epische Literatur, deren höchstes Anliegen es ist, durch den blossen Bericht eines Ablaufs von Ereignissen das Geheimnis menschlichen Schicksals wahrnehmbar zu machen, hat lange Zeit die Tatsache unbeachtet gelassen, dass der Geist, weil nur in personhaften Existenzen realisiert, aus der Gebundenheit an deren Schicksal auch selber ein eignes, spezifisch geistiges Schicksal empfängt. Beide, Lebensschicksal und Geistesschicksal, in ihren geschichtlich-biographisch bestimmten Mischungen und Entmischungen zu erzählen, wirklich, das heisst, als konkretes Geschehen zu erzählen, ist das Wagnis, dessen sich die denkfähigen Romanciers unserer Zeit, wissend, dass es die Zeit der Krisis von Geist und Leben in ihrer Wechselwirkung ist, einer nach dem

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andern unterfangen müssen. Ich bin selber, wiewohl dem Stande des Romanciers nicht angehörend, unter denen, die die Nötigung dazu überkommen hat, und habe ihr allerhand zu verdanken, darunter auch das besondere kameradschaftliche Vale, das ich Ihnen sende. 5

Ihr Martin Buber

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In der Rückschau des hohen Alters hat Goethe Sinn und Bedeutung seiner Schriften im »Triumph des Reinmenschlichen« erblickt; daß die »reine Menschlichkeit« alle menschlichen Gebrechen sühne, sei, so hob er damals hervor, die Lehre seiner »Iphigenie«. Aber schon der Vierunddreißigjährige hatte in seinem letzten Brief an Lavater, bald nachdem ihm schmerzhaft klar geworden war, »wie weit wir auseinander kommen sind«, und er sich doch noch an ihn wandte, »daß wir uns nur einmal wieder berühren«, geschrieben: »Gib mir vom rein Menschlichen deines Treibens und Wesens.« Was die Worte meinen, ist uns bekannt. Wenig mehr als zwei Jahre vorher hatte Goethe den Freund mit »du Menschlichster« angeredet und »das Menschliche«, das in seinen gedruckten Briefen zum Ausdruck komme, »höchst liebenswürdig« gefunden. Aber derselbe Lavater, der, wenn er sich »den Schriftstellern näherte«, »das toleranteste, schonendste Wesen« war, übte zu anderen Zeiten, als Lehrer und Prediger seiner Religion, eine »ausschließliche Intoleranz«, wenn er etwa einem jungen Mann auf seinen Weg den Rat mitgab, »keinem Menschen zu trauen, auch nicht einmal Gemeinschaft mit ihm zu haben, der nicht ein Christ sei«. So wurde er Goethe, der sich als »dezidierten Nichtchristen« verstand, immer beschwerlicher, und dieser mußte ihn bitten: »Laß mich deine Menschenstimme hören, damit wir von der Seite verbunden bleiben, da es von der andern nicht geht.« Eben das jedoch, die Scheidung zwischen den beiden »Seiten«, konnte Lavater anscheinend nicht, oder doch nicht mehr, wirklich gewähren und, mochte er es auch versuchen, der »Friedens- und Toleranzbund«, den Goethe ihm anbot, kam nicht zustande. Daß »in unseres Vaters Apotheke viele Rezepte« seien, konnte Lavater nicht zugeben. Derjenige von den beiden, der den Briefverkehr abbrach und kaum drei Jahre danach unter des andern »Existenz« »einen großen Strich« machte, war freilich Goethe. Lavater hatte es nicht bloß ertragen, daß Goethe seinem Glauben den eigenen »als einen ehernen bestehenden Fels der Menschheit« entgegenstellte, den Glauben derer, »die wir uns einer jeden durch Menschen und dem Menschen offenbarten Wahrheit zu Schülern hingeben und als Söhne Gottes ihn in uns selbst und allen seinen Kindern anbeten«; er, der Intolerante, hatte die Aussprache sogar dann noch weitergeführt, als Goethe im Evangelium »Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offen1.

Dieser Vortrag ist auf der Goethe-Convocation in Aspen, Colorado, an der persönlich teilzunehmen der Verfasser verhindert war, verlesen worden.

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barung in der Natur« fand. Goethe hingegen kam bald dahin, daß er mit einem, in dem »der höchste Menschenverstand und der krasseste Aberglauben durch das feinste und unauflöslichste Band« verknüpft seien, keine Freundschaft mehr halten konnte. Die Aufforderung des letzten Briefs, rein Menschliches zu geben, klingt schon distanziert genug. Noch wenige Jahre, und Goethe ist »Haß und Liebe auf ewig los«. Lavater, noch unabgeschreckt, wagt es, einem »Nathanael« betitelten Opus die Widmung »an einen Nathanael, dessen Stunde noch nicht gekommen ist«, voranzustellen. Goethe bringt keinen Brief an ihn mehr auf. Aber wir besitzen ein Blatt, schon von der italienischen Reise, da heißt es: »Du kommst mit deiner Salbaderei an den Unrechten. Ich bin kein Nathanael und die Nathanaele unter meinem Volke will ich selbst zum besten haben, ich will ihnen nach Bequemlichkeit oder Notdurft selbst etwas aufbinden, also pack dich, Sophist. Oder es gibt Stöße«. Lavater seinerseits hat später erklärt, »keinen zugleich so toleranten und intoleranten Menschen« wie Goethe gesehen zu haben. Was ist es um dieses rein Menschliche, auf das sich Lavater, der »Menschlichste«, im Umgang mit Goethe beschränken soll, um sein Freund bleiben zu können? Lavater, der, wenn er sich »den Schriftstellern näherte«, nicht bloß »tolerant« und »schonend«, sondern vor allem von einer Unmittelbarkeit (»Glut und Ingrimm« nennt Goethe sie) war, die ihm des jungen Goethe für das Unmittelbare glühendes Herz gewann, büßte, wenn er selber schriftstellerte, alle Rechtmäßigkeit des Wortes ein und mußte einem genialen Leser wie dieser auf die Dauer lästig werden. Aber dies ist es nicht eigentlich, was Goethe ausspricht; er spendet Werken Lavaters zuweilen ein Lob, das uns, die wir zu dieser »trüben Schwärmerei« die Geduld nicht mehr aufbringen, eher befremdet. Das Unerträgliche, das er sich selber und dem problematischen Freunde eingesteht, ist vielmehr, daß dieser es nicht lassen konnte, ihn zu seinem vermeintlichen »unmittelbaren Christusgefühl« bekehren zu wollen. Die Heftigkeit dieses Bekehrenwollens dürfte mit dem fraglichen Charakter dieser Unmittelbarkeit bei Lavater zusammenhängen. »Du hast recht«, schreibt er einmal mit entwaffnender Ehrlichkeit an Goethe. »Bis ich Seiner so gewiß bin wie deiner, ist alles, was ich von Ihm sage, nur Anbetung meiner selbst … ich möchte fast sagen, eine geistliche Onanie.« (Das gleiche Bild kehrt in den Briefen charakteristischerweise nach fast einem Jahre wieder, nun aber soll es nicht mehr Lavaters eigenes Verhalten, sondern die Religion »der meisten Menschen« illustrieren, die nichts als Schwärmerei sei, »das ist: Wahn von einem andern Wesen berührt zu sein, wenn sie sich selbst berühren«.) Er hatte »Privaterfahrungen«, aber sie genügten

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seiner Selbstprüfung nicht, um ihn der wirklichen Gegenwart dessen zu versichern, zu dem er bekehren wollte: der Sturm des bekehrenden Wirkens sollte wohl zunächst, ohne daß er darum wußte, die Unruhe des Mangels aus seiner eigenen Seele fegen. Daß solche innern Umstände Goethe widrig sein mußten, ist offenkundig. Darum versucht er, den »Menschlichsten«, der so versagt, zur reinen Menschlichkeit zurückzuführen, letztlich also, ihn von einem angeflogenen Nichtreinmenschlichen zu befreien. Dieses Nichtreinmenschliche hat selbstverständlich nichts mit dem Christentum zu tun, in dem Lavater steht, wohl aber mit dem gewaltsamen Wesen, das sich in dessen Seele damit verbindet. »Denselben Augenblick«, schreibt er an Goethe, »bin ich Atheist, wenn ich kein Christ mehr bin … Wenn Jesus Christus nicht mein Gott ist, so hab ich keinen Gott mehr.« Oder noch direkter: »Ich habe keinen Gott als Jesus Christus … Sein Vater … ist mir nur in ihm … wäre mir nirgends, wär’ er mir nicht in ihm.« Diese so krampfhaft vorgetragene Alternativik stieß Goethe nicht etwa bloß ab, sie griff ihn in seinem Verhältnis zum göttlichen Sein an und verletzte ihn darin. Denn ihm ging es von Jugend an – zwar nicht immer, aber immer wieder, und »immer wieder« ist ja das Signum seines Lebens gewesen – darum, sich als der Mensch, nicht etwa bloß ein Mensch, sondern als der Mensch zum Sein, und zwar nicht bloß denkend zum Sein als zu einem Denkbaren, sondern mit dem eignen Leben zum Sein als zu dem höchst Lebendigen, das heißt eben: zum göttlichen Sein zu verhalten. Aus solchem Verhalten allein sah er die alle menschlichen Gebrechen sühnende reine Menschlichkeit hervorgehn, deren Triumph gestaltet zu haben er am Ende seiner Bahn als erreichtes Ziel anschaute. Von da aus konnte er das rein Menschliche von den Freunden fordern, konnte die Fortdauer der Freundschaft – nicht seinem Willen, aber seinem Wesen nach – von der Erfüllung dieser Forderung abhängig werden. Was aber jene entscheidende – freilich nicht von Goethe selbst, sondern von mir als seinem Interpreten stammende – Determination »als der Mensch« besagt, wird wohl am deutlichsten, wenn man, mehr als ein Jahrzehnt hinter den Bruch mit Lavater zurückgreifend, sich jener überaus merkwürdigen Stelle in »Werthers Leiden« entsinnt, wo Werther, fünf Wochen vor dem Selbstmord, den Freund, an den er schreibt, bittet, ihn »ausdulden« zu lassen. Er spricht als einer, der außerhalb der »Religion« steht, womit er nicht den Gottesglauben, sondern das Christentum meint, und auch nicht das Christentum überhaupt, sondern nur die Verfassung des sich durch den Mittler erlöst wissenden Menschen. Nicht einmal die Gottheit Christi stellt er in Frage: er nennt ihn nicht bloß den Sohn Gottes, sondern den »Gott vom Himmel«, ja, mit einem

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alttestamentlichen Prädikat des Vaters den, »der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch«. Was er bestreitet, weil sein »Herz« es ihn bestreiten heißt, ist einzig, daß er zu denen gehöre, die der Vater, in der Sprache des Johannes-Evangeliums, dem Sohn gegeben hat: »Wenn mich nun der Vater für sich behalten will, wie mir mein Herz sagt!« Aber von dem Vater so für sich behalten werden bedeutet für das gelebte Leben dessen, dem dies widerfährt: als der Mensch, der von der Welt gekreuzigte Mensch das leiden zu müssen, nicht in der imitatio Christi, sondern in letzter Selbheit das leiden zu müssen, was der Sohn Gottes litt. Seines ist das »Menschenschicksal, sein Maß auszuleiden«. Er hat mit seiner Nichts-als-Menschenlippe den Kelch zu leeren, der »dem Gott vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter war«. Und wenn endlich auch er den Vater, der ihn solcherweise für sich behalten hat, fragt, warum er ihn verlassen habe, ist die Stimme, die so spricht, »die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur«. Hier hat Goethe, den wir oft als die Euphorie eines Zeitalters vor dessen Agonie anzusehen geneigt sind, vorweggenommen, was unsre eigne Zeit als die »Geworfenheit« des Menschen zu denken vermocht hat. Er sagt es von der »Kreatur«; denn in diesem äußersten Leiden erfährt sich der Mensch, aller Reservate seiner kreatorischen Subjekthaftigkeit verlustig gehend, als Kreatur; aber offenbar ist, daß es nicht von einer Kreatur unter Kreaturen, sondern von dem Menschen gesagt ist, in dem sich die Kreatur Mensch erfüllt hat. Die leidvolle Wahrheit des Menschlichen realisiert sich nicht in der Gattung, sondern in der Person dessen, den Goethe den »edlen Menschen« genannt hat. Wir kennen die Bezeichnung schon aus dem Munde Meister Eckharts. Der aber hat von dem homo nobilis ausgesagt, er sei »der eingeborene Sohn Gottes, den der Vater ewiglich zeugt«. Werthers kühne Worte von seinem Verhältnis zum Vater zeigen uns schon so früh an, wie weit Goethe in dieser Richtung gehen wollte – und konnte, ohne die Grenzlinie zu überschreiten, die ihn von der mystischen, zeitaufhebenden Sicht des Seins trennte. Von hier aus gesehen, erscheint uns »der Mensch« nach Goethes höchstem Begriff, der Mensch der reinen Menschlichkeit, der »Menschen-Mensch«, wie Lavater Goethe nannte, als die menschliche Person, die jenen Wesensstand des »Ausduldens« überstanden hat und aus dem fegfeuerartigen Läuterungsprozeß, der auf ihn folgte (»in mir reinigt sich’s unendlich« schreibt Goethe an Lavater), hervorgetaucht ist. Hier ist das »Stirb und werde« exemplarisch vollzogen. »Unser ganzes Kunststück«, schreibt Goethe mit der sachten Ironie des beginnenden siebenten Jahrzehnts, »besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.« So wird die eigentliche

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menschliche Existenz erlangt. Es ist die Existenz des Einzelnen in einem fast schon Kierkegaardschen und doch wesenhaft verschiedenen Aspekt. Man kann sie auch die Existenz der »Persönlichkeit« nennen, wofern man nur die Goethesche Bedeutung des Wortes festhält. Was man in unserer Zeit mit dem Terminus zu assoziieren pflegt, Unterschiedenheit und Geschlossenheit, erweist sich von hier aus als Tatsache allein; Sinn ist es nicht. Das Sich-Scheiden und Sich-Verschließen wird der echten menschlichen Person, der unterschiedenen und geschlossenen, immer wieder auferlegt (Lavater hat Goethe »verschlossener« gefunden, als er ihn zum letztenmal sah), ist aber ihrem Grunde fremd. Sie atmet in der Weltoffenheit und verlangt nach Gemeinschaftlichkeit; was ihr an jener verkümmert wird, an dieser verdorben, gehört zum Schicksal der menschlichen Person im Menschengeschlecht. Der edle Mensch verwirklicht die Kategorie des Humanen (was den Menschen »von allen Wesen, die wir kennen«, unterscheidet) dadurch allein, daß er »hilfreich und gut« ist. Erst durch ihn, innerhalb seines Hilfreich- und Gutseins, wird das menschliche Unterscheiden, Wählen und Richten zur humanen Handlung, die dem Augenblick Dauer verleiht und also das Unmögliche vermag, die Freiheit der Entscheidung im Ring der ehernen Gesetze. Darum darf er allein, als der Mensch – als ein »Vorbild jener geahnten Wesen« – den Guten lohnen und den Bösen strafen. Das Gedicht, das dies ausspricht und dem Goethe den Namen »Das Göttliche« gab, ist in der Zeit der Auseinandersetzung mit Lavater entstanden. Der edle Mensch darf zwischen Guten und Bösen unterscheiden und entscheiden, aber er maßt sich nicht an, sein Verhältnis zum göttlichen Sein – gleichviel, ob es auf ein ihm und einer Gemeinschaft Gemeinsames bezogen ist oder durchaus von keinem andern geteilt würde – als das allein wahre zu proklamieren, gegen das gehalten alle andern verwerflich seien. Jedes echte, das heißt mit dem ganzen Menschenwesen vollzogene menschliche Lebensverhältnis zum göttlichen Sein ist menschliche Wahrheit, und eine andre eignet dem Menschen nicht. Das erfassen, bedeutet nicht die Wahrheit relativieren. Die Wahrheit des Seins ist eine, aber sie wird dem Menschen nur zuteil, indem ihr Licht gebrochen in die echten Lebensverhältnisse der menschlichen Personen eingeht. Im bunten Abglanz haben wir sie, und haben sie nicht. »Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol.« Menschliche Wahrheit ist keine Uebereinstimmung eines Gedachten mit einem Seienden, sie ist Partizipation am Sein. Sie kann keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, aber sie wird gelebt, und sie kann beispielhaft, symbolhaft, vorbildlich gelebt werden. Ueber Unterscheiden, Wählen

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und Richten, über Lohnen und Strafen hinausgehoben, betrachten wir eine reine Menschlichkeit, die alle menschlichen Gebrechen sühnt. Gibt es einen Weg zu einer Menschheit? In demselben Jahr, in dem das Gedicht »Das Göttliche« entstand, schrieb Goethe, dem die Illegitimität aller »Aristokratien« der Geschichte zur Genüge bekannt war, an Lavater, wenn er öffentlich zu reden hätte, würde er für die nach seiner Ueberzeugung von Gott eingesetzte Aristokratie sprechen. Er sah keinen anderen Weg zu einer Menschheit als den über einen ausstrahlend und umfangend wirkenden Bund der menschlichen Personen. Von dessen Vollbringen sollte wohl der dritte Teil der Wilhelm-Meister-Trilogie, die »Meisterjahre«, erzählen. In diesem Belange ist auch das so schier unvorstellbar weite Gesamtwerk Goethes ein Torso geblieben. Aber jener »Triumph« redet auch in unsere, so nachdrücklich menschheitslose Zeit, und gerade in sie, sein Wort, Anspruch und Zuspruch in einem.

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Als Neunzehnjähriger in Wien studierend, erwarb ich das eben erschienene erste Heft einer Zeitschrift, »Wiener Rundschau« genannt. Darin stand ein Gedicht, Hugo von Hofmannsthal hieß der Verfasser, und es begann mit den Worten »Den Erben laß verschwenden«. Ich setzte mich auf eine Bank im Volksgarten und las. Ein Schauder (nichts Genußähnliches, wahrhaftig ein »heiliger Schauder«) überkam mich: diese Verse da waren jetzt, vor kurzem geschrieben worden! Bald danach erfuhr ich, daß der Dichter nur vier Jahre älter war als ich. Es war meine erste Erfahrung des durchdringend Gleichzeitigen. Von der Stunde, die ich bald danach mit Hofmannsthal in Rodaun, bis zu der, die ich mit dem wunderbar Geschlichteten, Todnahen in Alt-Aussee verbrachte, blieb er für mich der Verfasser jenes – zauberhaften und verzaubernden, aber gewiß nicht seines bedeutendsten – Gedichts. Lebenslied Den Erben laß verschwenden An Adler, Lamm und Pfau Das Salböl aus den Händen Der toten alten Frau! Die Toten, die entgleiten, Die Wipfel in dem Weiten – Ihm sind sie wie das Schreiten Der Tänzerinnen wert! Er geht wie den kein Walten Vom Rücken her bedroht. Er lächelt, wenn die Falten Des Lebens flüstern: Tod! Ihm bietet jede Stelle Geheimnisvoll die Schwelle; Es gibt sich jeder Welle Der Heimatlose hin. Der Schwarm von wilden Bienen Nimmt seine Seele mit; Das Singen von Delphinen

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Beflügelt seinen Schritt: Ihn tragen alle Erden Mit mächtigen Gebärden. Der Flüsse Dunkelwerden Begrenzt den Hirtentag! Das Salböl aus den Händen Der toten alten Frau Laß lächelnd ihn verschwenden An Adler, Lamm und Pfau: Er lächelt der Gefährten. – Die schwebend unbeschwerten Abgründe und die Gärten Des Lebens tragen ihn. Hofmannsthal 1913, an den Vorbereitungen zu einer Aufführung von »L’annonce faite à Marie« in Hellerau teilnehmend, lernte ich Claudel kennen. Wir kamen naturgemäß auf die dichterischen Möglichkeiten der deutschen Sprache zu reden. Er gestand ihr das Lyrische zu, aber nicht das Hymnische. »Hymnen«, rief er, »nein, das bringt sie nicht fertig!« Man versteht den Spruch erst dann völlig, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es Claudel von je um eine neue, der späten Weltstunde standhaltende Hymnik zu tun war. »Nein!« wiederholte er. Ohne zu erwidern, nahm ich einen Band Hölderlin zur Hand und las die Urfassung von »Patmos« vor. Er hörte schweigend zu; er schwieg, als ich geendet hatte. Es gab nichts mehr zu sagen.

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Patmos Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings

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Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser, O Fittige gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. So sprach ich, da entführte Mich schneller, denn ich vermutet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Haus. Es dämmerten Im Zwielicht, da ich ging Der schattige Wald Und die sehnsüchtigen Bäche Der Heimat; nimmer kannt ich die Länder; Doch bald, in frischem Glanze, Geheimnisvoll Im goldenen Rauche, blühte Schnellaufgewachsen, Mit Schritten der Sonne, Mit tausend Gipfeln duftend, Mir Asia auf, und geblendet sucht Ich eines, das ich kennete, denn ungewohnt War ich der breiten Gassen, wo herab Vom Tmolus fährt Der goldgeschmückte Paktol Und Taurus stehet und Messogis, Und voll von Blumen der Garten, Ein stilles Feuer; aber im Lichte Blüht hoch der silberne Schnee; Und Zeug unsterblichen Lebens An unzugangbaren Wänden Uralt der Efeu wächst und getragen sind Von lebenden Säulen, Zedern und Lorbeern Die feierlichen, Die göttlichgebauten Paläste. Es rauschen aber um Asias Tore Hinziehend da und dort

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In ungewisser Meeresebene Der schattenlosen Straßen genug, Doch kennt die Inseln der Schiffer. Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn. Denn nicht, wie Cypros, Die quellenreiche, oder Der anderen eine Wohnt herrlich Patmos, Gastfreundlich aber ist Im ärmeren Hause Sie dennoch Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimat oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern, und ihre Kinder Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute Sie hören ihn und liebend tönt Es wieder von den Klagen des Manns. So pflegte Sie einst des gottgeliebten, Des Sehers, der in seliger Jugend war Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstocks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmahls, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr und die letzte Liebe, denn nie genug Hatt er von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu erheitern, da

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Ers sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blickte Den Freudigsten die Freunde noch zuletzt, 5

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Doch trauerten sie, da nun Es Abend worden, erstaunt, Denn Großentschiedenes hatten in der Seele Die Männer, aber sie liebten unter der Sonne Das Leben und lassen wollten sie nicht Vom Angesichte des Herrn Und der Heimat. Eingetrieben war, Wie Feuer im Eisen, das, und ihnen ging Zur Seite der Schatte des Lieben. Drum sandt er ihnen Den Geist, und freilich bebte Das Haus und die Wetter Gottes rollten Ferndonnernd über Die ahnenden Häupter, da, schwersinnend Versammelt waren die Todeshelden, Itzt, da er scheidend Noch einmal ihnen erschien. Denn itzt erlosch der Sonne Tag Der Königliche und zerbrach Den geradestrahlenden, Den Zepter, göttlichleidend, von selbst, Denn wiederkommen sollt es Zu rechter Zeit. Nicht wär es gut Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu, Der Menschen Werk, und Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht, und bewahren In einfältigen Augen, unverwandt Abgründe der Weisheit. Und es grünen Tief an den Bergen auch lebendige Bilder, Doch furchtbar ist, wie da und dort Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott. Denn schon das Angesicht Der teuern Freunde zu lassen

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Und fernhin über die Berge zu gehen Allein, wo zweifach Erkannt, einstimmig War himmlischer Geist; und nicht geweissagt war es, sondern Die Locken ergriff es, gegenwärtig, Wenn ihnen plötzlich Ferneilend zurück blickte Der Gott und schwörend, Damit er halte, wie an Seilen golden Gebunden hinfort Das Böse nennend, sie die Hände sich reichten – Wenn aber stirbt alsdenn An dem am meisten Die Schönheit hing, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn, und wenn, ein Rätsel ewig füreinander Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtnis, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreift, wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet Darob, daß nirgend ein Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist dies? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Weizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fällt die Schale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern, Nicht alles will der Höchste zumal. Zwar Eisen träget der Schacht, Und glühende Harze der Ätna,

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So hätt ich Reichtum, Ein Bild zu bilden, und ähnlich Zu schaun, wie er gewesen, den Christ,

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Wenn aber einer spornte sich selbst, Und traurig redend, unterweges, da ich wehrlos wäre Mich überfiele, daß ich staunt und von dem Gotte Das Bild nachahmen möcht ein Knecht – Im Zorne sichtbar sah ich einmal Des Himmels Herrn, nicht, daß ich sein sollt etwas, sondern Zu lernen. Gütig sind sie, ihr Verhaßtestes aber ist, So lange sie herrschen, das Falsche, und es gilt Dann Menschliches unter Menschen nicht mehr. Denn sie nicht walten, es waltet aber Unsterblicher Schicksal und es wandelt ihr Werk Von selbst, und eilend geht es zu Ende. Wenn nämlich höher gehet himmlischer Triumphgang, wird genennet, der Sonne gleich Vom Starken der frohlockende Sohn des Höchsten, Ein Losungszeichen, und hier ist der Stab Des Gesanges, niederwinkend, Denn nichts ist gemein. Die Toten wecket Er auf, die noch gefangen nicht Vom Rohen sind. Es warten aber Der scheuen Augen viele Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strahle sie blühn, Wiewohl den Mut der goldene Zaum hält. Wenn aber, als Von schwellenden Augenbraunen Der Welt vergessen Stilleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fällt, mögen Der Gnade sich freuend, sie Am stillen Blicke sich üben. Und wenn die Himmlischen jetzt So, wie ich glaube, mich lieben Wie viel mehr Dich, Denn Eines weiß ich, Daß nämlich der Wille

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Des ewigen Vaters viel Dir gilt. Still ist sein Zeichen Am donnernden Himmel. Und Einer steht darunter Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus. Es sind aber die Helden, seine Söhne Gekommen all und heilige Schriften Von ihm und den Blitz erklären Die Taten der Erde bis itzt, Ein Wettlauf unaufhaltsam. Er ist aber dabei. Denn seine Werke sind Ihm alle bewußt von jeher. Zu lang, zu lang schon ist Die Ehre der Himmlischen unsichtbar. Denn fast die Finger müssen sie Uns führen und schmählich Entreißt das Herz uns eine Gewalt. Denn Opfer will der Himmlischen jedes, Wenn aber eines versäumt ward, Nie hat es Gutes gebracht. Wir haben gedienet der Mutter Erd Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der feste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang. Hölderlin Von einer Zeit zur andern lege ich den West-östlichen Divan vor mich hin und schlage die Seiten auf, auf denen das »Vermächtnis altpersischen Glaubens« steht. Ich lese es nicht, ich weiß es ja von Jugend auf auswendig. Ich schaue nur auf die dritte Zeile der siebenten Strophe, die Goethe unerhörterweise gesperrt hat setzen lassen, Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, und erinnere mich wieder einmal an einen einsam-harten Morgen, da ich diesen Vers unversehens in den Sinn bekam, ihn laut und der Sperrung ihr Recht gebend rezitierte und über Goethen in Tränen ausbrach. Wie gut, wie geheimnisvoll gut hat er daran getan, daß er die Worte sperrte! Diese Sperrung ist selber ein Vermächtnis.

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Ve r m ä c h t n i s A l t p e r s i s c h e n G l a u b e n s

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Welch Vermächtnis, Brüder, sollt euch kommen Von dem Scheidenden, dem armen Frommen, Den ihr Jüngeren geduldig nährtet, Seine letzten Tage pflegend ehrtet? Wenn wir oft gesehn den König reiten Gold an ihm und Gold an allen Seiten, Edelstein auf ihn und seine Großen Ausgesät wie dichte Hagelschloßen:

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Habt ihr jemals ihn darum beneidet? Und nicht herrlicher den Blick geweidet, Wenn die Sonne sich auf Morgenflügeln Darnawends unzählgen Gipfelhügeln Bogenhaft hervorhob? Wer enthielte Sich des Blicks dahin? Ich fühlte, fühlte Tausendmal, in so viel Lebenstagen, Mich mit ihr, der kommenden, getragen, Gott auf seinem Throne zu erkennen, Ihn den Herrn des Lebensquells zu nennen, Jenes hohen Anblicks wert zu handeln Und in seinem Lichte fortzuwandeln. Aber stieg der Feuerkreis vollendet, Stand ich als in Finsternis geblendet, Schlug den Busen, die erfrischten Glieder Warf ich, Stirn voran, zur Erde nieder. Und nun sei ein heiliges Vermächtnis Brüderlichem Wollen und Gedächtnis: Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, Sonst bedarf es keiner Offenbarung.

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Regt ein Neugeborner fromme Hände, Daß man ihn sogleich zur Sonne wende, Tauche Leib und Geist im Feuerbade! Fühlen wird es jeden Morgens Gnade.

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Dem Lebendgen übergebt die Toten, Selbst die Tiere deckt mit Schutt und Boden, Und, soweit sich eure Kraft erstrecket, Was euch unrein dünkt, es sei bedecket. Grabet euer Feld ins zierlich Reine, Daß die Sonne gern den Fleiß bescheine; Wenn ihr Bäume pflanzt, so seis in Reihen, Denn sie läßt Geordnetes gedeihen. Auch dem Wasser darf es in Kanälen Nie am Laufe, nie an Reine fehlen; Wie euch Senderud aus Bergrevieren Rein entspringt, soll er sich rein verlieren. Sanften Fall des Wassers nicht zu schwächen, Sorgt, die Gräben fleißig auszustechen; Rohr und Binse, Molch und Salamander, Ungeschöpfe, tilgt sie miteinander! Habt ihr Erd und Wasser so im Reinen, Wird die Sonne gern durch Lüfte scheinen, Wo sie, ihrer würdig aufgenommen, Leben wirkt, dem Leben Heil und Frommen.

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Ihr, von Müh zu Mühe so gepeinigt, Seid getrost, nun ist das All gereinigt, Und nun darf der Mensch als Priester wagen, Gottes Gleichnis aus dem Stein zu schlagen. Wo die Flamme brennt, erkennet freudig: Hell ist Nacht, und Glieder sind geschmeidig. An des Herdes raschen Feuerkräften Reift das Rohe Tier- und Pflanzensäften. Schleppt ihr Holz herbei, so tuts mit Wonne, Denn ihr tragt den Samen irdscher Sonne; Pflückt ihr Pambeh, mögt ihr traulich sagen: Diese wird als Docht das Heilge tragen.

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Werdet ihr in jeder Lampe Brennen Fromm den Abglanz höhern Lichts erkennen, Soll euch nie ein Mißgeschick verwehren, Gottes Thron am Morgen zu verehren. 5

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Das ist unsers Dasein Kaisersiegel, Uns und Engeln reiner Gottesspiegel, Und was nur am Lob des Höchsten stammelt, Ist in Kreis um Kreise dort versammelt. Will dem Ufer Senderuds entsagen, Auf zum Darnawend die Flügel schlagen, Wie sie tagt, ihr freudig zu begegnen Und von dorther ewig euch zu segnen. Goethe

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Hermann Hesses Dienst am Geist Ansprache bei der Hesse-Feier in Stuttgart am 30. Juni 1957 Aufgefordert, zum 80. Geburtstag meines Freundes Hermann Hesse zu sprechen, habe ich empfunden und erklärt, daß ich nicht zu leisten vermag, was von einem solchen Vortrag erwartet wird: die Würdigung eines dichterischen Gesamtwerks. Was ich zustande zu bringen meinte und daher übernahm, ist ein Hinweis auf die Bedeutung, die dem zentralen Abschnitt dieses Werkes, der in Hesses Schwabenalter beginnenden Reihe großer Erzählungen, innerhalb der Bemühung unserer Zeit um die Position des Geistes zukommt. Auf sie hin ist ein personaler Weg, Stück für Stück dieses Wegs, exemplarisch sichtbar zu machen. Daß es erzählende Werke sind, um die es geht, muß als wesentlich verstanden werden. Der berufene Erzähler erfährt und berichtet alles Sein als Begebenheit. Landschaft, gedanklicher Ausspruch, ja die Regungen der Seele selber teilen sich uns hier als ungebrochenes Ereignis mit. Als Hesse 1917, nach einigen erzählungsfrohen Büchern, die als solche freudig aufgenommen worden waren, in den Dienst des Geistes trat, mußte er eine Idee des Geistes vom Geist, die er in der Sphäre der leiblichen Begebenheiten erlebt hatte, als leibliche Begebenheit erzählen. Den Dichter Hesse hatte in der Mitte seines Lebens die Hand des Geistes aus sorglosem Fabulieren gerissen und hatte ihn gezwungen, sein, des Geistes Ringen, seine Fährnisse und Wagnisse episch, das heißt, als Vorgänge des Lebens von Menschen mit Menschen zu berichten. Dabei wurde von Werk zu Werk das Anliegen in immer genauerem Sinn ein geistiges. Zugleich aber vollendete sich die erzählerische Meisterschaft, die Macht der Wandlung des Problems in Ereignis. Zuletzt, als von einem imaginären Reich des in sich beschlossenen Geistes zu berichten war, war keine andere Sprache mehr vernehmbar als die des Geschehens. Geschicke des Geistes traten als ein unseren Sinnen gezeigter Verlauf in die Erscheinung.

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2 Geschicke des Geistes – in unserem Zeitalter ist damit vornehmlich die Krisis des Geistes gemeint, genauer: die Krisis in seinem Verhältnis zum Leben. Am Himmel der Philosophie hatten sich die Zeichen dieser Krisis schon vordem kundgetan. Von dem stürmenden und heischenden Leben überwältigt, bestritt der Geist sein eigenes Amt des Wahrheitfinders und

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Gesetzsprechers, er gab das Leben frei und wollte nur noch dessen Interpret sein, je nachdem ein dithyrambischer oder auch ein pragmatistisch dozierender Interpret. Was das freigegebene Leben mit sich anzufangen wußte, das haben wir hernach zur Genüge erfahren. Ehe dies aber sich unverkennbar manifestierte, erscholl der Widerhall des Lebens zum Ruf des Geistes; vielmehr, es war nun der dichtende Geist, der im Namen des unbändigen Lebens sprach, gegen die Zwingherrschaft einer absoluten Moral sich empörte und die souveräne Individuation pries. Hierher gehört das erste in der Reihe der die Krisis des Geistes spiegelnden Werke Hermann Hesses, jener aufrührerische »Demian« aus der Zeit des ersten Weltkrieges, in dem das Recht eines selbstherrlichen Kain gegen einen unterwürfigen Abel verfochten wurde – eine Haltung, die ja schon zu Byrons Zeit ein Vorrecht der nach Freiheit vom Gesetz begehrenden Dichter war. Es ist kein Zufall, daß Hesse dieses anthropologische Postulat durch ein theologisches ergänzte und daß der Gott, den er verkündete, kein anderer war als das gnostizisierende Wesen Abraxas, das uns auch in einer frühen Schrift des Psychologen Carl Gustav Jung entgegentritt, das Wesen, das, wie Hesse sagt, »die symbolische Aufgabe hat, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen«, das also ebendasselbe in ewiger Vollkommenheit besitzt, was die psychologistische Lehre ihre Adepten als die Integration des Bösen vollziehen heißt. Es hat den Anschein, als erhöbe sich hier nur ein Aufstand gegen jene Macht des creator spiritus, welche nicht bloß zwischen Licht und Finsternis, sondern bald auch zwischen Heil und Unheil scheidet. Und doch beginnt mit diesem ersten Werk der Reihe der Dienst des Dichters Hesse am Geist. Denn der Weg des menschlichen Geistes fängt immer wieder mit einem verwegenen Durchbruch an, und jedem Durchbruch geht ein vermessener Abbruch voraus. Alles kommt darauf an, wohin nun der Schritt führt. Man kann nicht zurück und man darf nicht da stehen bleiben, wohin man gelangt ist, denn wer im Abbruch verweilt, geht des geistigen Lebens verlustig. Auf der Suche nach dem lebendigen Gott muß man mitunter unwürdig gewordene Bilder zerschlagen, um für ein neues Raum zu schaffen. Aber der Abraxas ist gar kein Gottesbild, sondern ein komplexer Begriff, der Begriff einer letztgültigen Verschmelzung von Gut und Böse. Man muß ihm den Rücken kehren, wenn man weiter kommen will. Denn ein Wesen, das lediglich uns selbst, ins Unbedingte gehoben, darstellt und legitimiert, statt uns in den Weg zu treten, uns zu unterweisen und uns zu berichtigen, ist nicht göttlicher Art. Nach dem Durchbruch des »Demian« ist Hesse nicht auf eine Versöhnung ausgegangen. Er ist auf der Seite des rebellierenden Lebens geblie-

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ben. Aber schon der nächste Schritt führt ihn auf eine Stufe größerer Erhellung. 3 Die in der Reihe folgende Erzählung »Siddharta«, die als »indische Dichtung« bezeichnet ist und aus den ersten Nachkriegsjahren stammt, gibt der großen Frage, die durch alle diese Werke Hesses geht, der Frage nach dem Ziel des Geistes, eine neue bedeutsame Wendung. Siddharta, ein Zeitgenosse Buddhas, widersteht der Lehre des Meisters, weil sie wie alle Lehren einseitig sei. Er, Siddharta, sagt allen Lehren ab, die notwendigerweise das eine bejahen und das andere verneinen, denn sie könnten, so meint er, der Wirklichkeit des Seienden nicht gerecht werden. Er, Siddharta, will die Welt, die wirkliche Welt, in der Sünde und Gnade dicht beisammen hausen, nicht durch Scheidung, durch Ja und Nein, ergründen und zerspalten, sondern sie nur noch lieben, sie als die lieben, die sie eben ist, in sich bestehend. Im »Demian« hatte Hesse den Anspruch des drängenden Lebens gegen das Diktat des Geistes vertreten; im »Siddharta« wird kein Anspruch mehr geltend gemacht. Dort war das Ziel die perfekte Individuation, hier die Liebe zu der in ihrem Bestande untadeligen Welt. Hier wie dort steht letztlich der Geist gegen den Geist, aber dort um der Freigabe der durch den Geist niedergehaltenen Elementarkräfte willen, hier um seiner selber, des Geistes willen, damit ihm nicht mehr vorgeschrieben werde, was an der Welt er lieben dürfe und was an ihr er zu verachten habe. Zwischen jenem und diesem Werk steht der Beginn der grausamen Erfahrung des Zeitalters: daß das Leben, wenn es dem Geist nicht mehr botmäßig ist, gegen sich selber wütet und sich selber vernichtet. Mag Siddharta in einer steten Meditation Sünde und Gnade in einem umfangen: wenn er es nicht mehr mit der allgemeinen Wesenheit »Sünde« zu tun hat, sondern etwa mit der faktischen Gewalttat, die vor seinen Augen anhebt, mit der Mißhandlung des Schwachen durch den Starken, mit dem Mißbrauch des Abhängigen durch den über ihn Verfügenden, wird er, Siddharta, die All-Liebe vergessen und sich gegen das Böse einsetzen. In der Dimension des Faktischen muß der Geist, damit das menschliche Übel nicht übermächtig werde, Mal um Mal innerhalb der Menschenwelt so kräftig unterscheiden als er je und je vermag. Diesen Notstand des weltliebenden Menschen hat der Mensch Hesse ja selber immer unmittelbarer kennen gelernt und hat in einer Zeit, in der die Geistigen so

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vielfältig sich den Machthabern versklavten, das freie Standhalten des Geistes unerschrocken bewährt. 4

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Das Buch »Der Steppenwolf«, das nun an der Reihe wäre, gehört nur peripher zum Thema des Dienstes am Geist. In all seiner rückhaltlosen Heutigkeit doch ein tief romantisches Werk, greift es in einer seltsamen Weise auf die Phase des Abbruchs zurück. Es ist, als habe der Autor durch etwas, das, wiewohl grundwichtig, damals, ein Jahrzehnt vorher, ungesagt geblieben war, sich im Weitersteigen behindert gefühlt. Das Buch will als die »innere Biographie« eines Menschen verstanden werden, den, wie Hesse sagt, »schon sein hoher Grad von Individuation zum Nichtbürger bestimmt«. Über diese Grundanschauung hatte der »Siddharta« schon einen bedeutsamen Schritt weit hinaus geführt, aber gleichsam über etwas hinweg, das nun nachgetragen, nachgeholt zu werden verlangte. 5

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Schon aber, unmittelbar nach diesem intermezzo appassionato, wird uns eine neue Stufe zu ersteigen gegeben. »Narziß und Goldmund«, ein hartes und im Grunde schwermütiges Werk, ist in dieser Reihe die blankste, rundeste Erzählung im Sinn der klassischen Tradition. Zum Unterschied von den früheren Büchern der Folge wird hier dem rebellischen Geist, der sich in der Hauptperson verkörpert, ein ebenbürtiger Widerpart gesellt, und zwischen den beiden, zwischen dem immer neu im Aufbruch begriffenen, schweifenden, an sich reißenden und das Ergriffene zu Bild gestaltenden Geist und dem asketischen, dem Gedanken hingegebenen, dem Leben mit der Idee antwortenden, waltet ein großgefaßtes dialogisches Verhältnis. Beiden wohnt die Authentizität des Geistes inne, beide sind Geist, beide zusammen sind der Geist. Hier erst hat Hesse den Widerstreit des Geistes leiblich geformt, in der Zwiefalt dieser zwei Menschen, die nicht gegeneinander kämpfen, sondern einander gegenüber und eben so miteinander da sind. Zu Unrecht also sagt der Denker Narziß zu seinem Antagonisten und Freund, dem Bildner Goldmund, von seiner eigenen Art redend, in der Natur könne der Geist nicht leben, nur gegen sie, als ihr Gegenspiel. Beide mitsammen erst, der sich von der Natur hinnehmen läßt und der

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ihr die Stirn bietet, beide mitsammen sind der Geist. Der Widerstreit des Geistes, der sich in der Geschichte immer wieder, mit geschichtlichen Faktoren eigentümlich zusammenwirkend, in Krisen entlädt, ist hier im Bilde eines Gegeneinander und Miteinander zweier Menschen begriffen und berichtet. Wirklich erzählt wird freilich nur das Leben des einen, des Künstlers. Der Mönch Narziß spricht zu uns, aber er bleibt dabei wie unbeweglich; was ihm geschieht, erfahren wir kaum. Hesse hat hernach tief erkannt, was er damit dem denkerischen Geist schuldig geblieben war, und hat im letzten Werk der Reihe, im »Glasperlenspiel«, eine große Kompensation geschaffen. In einem anderen denkwürdigen Belange, der uns hier besonders angeht, wird in »Narziß und Goldmund« gleichsam eine Brücke zu dem viel späteren »Glasperlenspiel« geschlagen. Narziß sagt von sich: »Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann … Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe.« Dem entspricht auf der nächsthöheren Stufe jene geheimnisvolle Tatsache, daß Leo, der »Diener« des Bundes der Morgenlandfahrer, sich als dessen höchster Meister enthüllt, und auch noch in dem Namen Josef Knechts, dessen Lebensgeschichte im »Glasperlenspiel« erzählt wird, klingt das gleiche Motiv an. Das Gesetz, das hier regiert, wird von Leo »das Gesetz vom Dienen« genannt.

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6 In diesen beiden letzten Werken der Reihe ist das Thema, das sich in den früheren entfaltet hat, der Widerstreit des Geistes, anscheinend nicht mehr vorhanden. Weder kämpft hier der Geist um die Rechte des Lebens, noch setzt er die allbejahende Liebe gegen die Scheidung der Erkenntnis, noch auch steht hier, in zwei Personen eingestaltet, der abenteuernde und bildselige dem in sich gehaltenen Geiste gegenüber. Und doch wären die Gemeinschaftlichkeit, die sich in der »Morgenlandfahrt« dokumentiert, und der große Friede, der im »Glasperlenspiel« waltet, nicht anders als im Schreiten durch das Feuer der Gegensätze zu erreichen gewesen, und im Innern von Fahrt und Spiel glüht das verwandelte Feuer fort. Das phantastische Gleichnis von der Morgenlandfahrt, von einer späten launenreichen Romantik durchsetzt, aber im Kern durchaus von unserer Zeit, ist der geglückte Versuch, die Traumfahrten aller Menschen von bildstarker Wunschmacht als eine einzige gemeinsame Fahrt zu fassen und zu erzählen. Ich nenne ihn einen geglückten Versuch, weil es

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Hesse gelungen ist, das Undenkbare dieser Reise durch Räume und Zeiten zugleich, Reise einer großen Schar und doch zugleich in Teilgruppen der enger Zusammengehörigen, letztlich aber jedes Einzelnen nach dem unerreichbaren Ziel seines Lebenswunsches, doch eben als einen Vorgang zu berichten. Die Schar besteht nicht bloß aus gleichzeitig lebenden Menschen, sondern auch aus sagenumwobenen Helden der Zeiten, zu den geschichtlichen gesellen sich Figuren alter und neuer Epik, und sogar Pseudonyme Hermann Hesses wagen es, sich darunter zu mengen. Sie alle sind miteinander in einem »Bund« verbunden, dem Bund der Morgenlandfahrer, die getrennt und mitsammen nach dem Zielland der einbildungskräftigen Wünsche fahren. Diese unmögliche und doch wirkliche bundhafte Verbundenheit hat die ringenden Einsamkeiten jener vorangegangenen Erzählungen Hesses abgelöst. Mit diesem Bund und dem Orden, die hier und im »Glasperlenspiel« die Geschehnisse tragen, ist die Kategorie des »Wir« in Hesses Werk eingezogen. Demgemäß bildet es den Wendepunkt der Erzählung von der Morgenlandfahrt, daß das sie erzählende Bundesmitglied, ohne alle Pseudonymie als »H. H.« bezeichnet, dem Zweifel an der Wirklichkeit des Bundes verfällt, und es ist ihr Höhepunkt, wie er den Glauben und damit die Wirklichkeit selbst auf höherer Stufe wiedergewinnt. Es ist die Wirklichkeit des Geistes, der Welten aus Welt baut; und dieser Geist ist letzten Grundes ein gemeinschaftlicher. Ein eigentliches Ende hat »Die Morgenlandfahrt« nicht. Der Erzähler bricht ab; und doch empfindet der treue Leser diesen Schluß nicht als fragmentarisch. Die Doppelfigur aus einem »halbwirklichen« H. H. und einem ganzwirklichen Leo, die uns hier zu sehen gegeben wird, läßt uns zur Genüge fühlen, wie der Geist durch Fleisch und Blut in das Gebilde fährt. Die Erzählung hat erfüllt, was ihr als einem Bekenntnis oblag, und eben damit ist sie zum Gleichnis geworden. 7 Man darf »Die Morgenlandfahrt« als ein Präludium zu dem letzten und gewichtigsten Werk der Reihe, dem »Glasperlenspiel« betrachten. In beiden verspüren wir nichts mehr von jenen Stürmen des Geistes, die die früheren durchtobt hatten. Aber in der »Morgenlandfahrt« wird uns noch das Versagen des Menschen in den Proben des Geistes beschrieben; im »Glasperlenspiel« herrscht ein großer Friede zwischen beiden. Was sich hier begibt, begibt sich in den altgewohnten Dimensionen menschlichen Daseins, wenn auch in einer künftigen Entwicklungsphase dieses

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Daseins; und doch mutet es uns an, als sei der Geist, der beim Menschen eingekehrt ist, bei sich selber zu Gast. Das Beisichsein, die Selbsteinkehr des Geistes, hat hier die Form des Spiels; und nicht anders als unter dieser Form konnten Taten des Geistes so gelassen erzählt werden. Diesem nicht über sich hinauslangenden Spiel nach eigenem strengem Gesetz, diesem lückenlos geregelten Spiel »mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur,« der Musik und der Mathematik gleich verwandt, Kunst und Wissenschaft zugleich, dieser aus äußerster Hochzucht des Geistes entstandenen Vollendung des homo ludens dient der kastalische Orden der Glasperlenspieler, der Josef Knecht zum magister ludi bestellt. Knecht arbeitet für den Geist in dieser seiner Spätform mit einer großen, nie nachlassenden Hingabe und in einer durch nichts zu trübenden Heiterkeit. Es gelingt ihm, das Erziehungswerk des Ordens zu noch größerer Vollkommenheit zu bringen. Zur gleichen Zeit aber geht es ihm immer deutlicher und unerbittlicher auf, daß mit alledem die Verantwortung des Geistes für die ihm anvertraute Welt der lebenden und leidenden Menschen eher versäumt als geübt wird. Zum Helfer des unendlich preisgegebenen und unendlich von sich selber bedrohten Lebens ist der Geist berufen, und man dient ihm schlecht, wenn man nicht der Hilfe Dienst leistet, die er dem Leben zu gewähren hat. Josef Knecht gibt sein Amt auf und verläßt den Orden, mit der Absicht, als Lehrer an einer gewöhnlichen Schule irgendwo im Lande von neuem zu beginnen. Zunächst will er den Sohn eines Freundes unterrichten. Um das volle Vertrauen des Jungen zu gewinnen, folgt er ihm zu einem bedenklichen Wettschwimmen und ertrinkt. Wenn ich diesen Schluß des großgearteten Werkes lese, streift mich jedesmal seltsamerweise die Vorstellung des Opfertodes, den in der Erzählung Knechts von einem imaginären früheren Lebenslauf der Regenmacher eines matriarchalen Stammes auf sich nimmt, weil er eine kosmische Katastrophe nicht verhütet hat.

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8 Der Geist ist nicht als ein wunderliches Nebenprodukt des evolvierenden Naturprozesses entstanden; er ist einem wunderlichen Naturwesen, Mensch genannt, auf dessen Wegen erschienen und ist zu ihm eingegangen. Paracelsus und ihm nach ein Dichter unserer Zeit, Hofmannsthal, wissen von ihm zu sagen, er wohne nicht in uns. Ich meine vielmehr, er wohne und wohne nicht. Wir verdanken ihm prometheische Gaben, und er hat wie Prometheus gelitten. Er hat, dem Leben des Menschen zu

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Hilfe, gegen allerhand Ungeheuer gekämpft. Aber er ist in sich zerfallen und hat sich selber bestritten, und da konnte er uns kein zuverlässiger Helfer mehr sein. Wir sind in große Not geraten, er hat uns beigestanden, und er hat uns verraten, denn er war kein ganzer und einiger Geist mehr. Heute steht er in der Krisis. Seine Krisis ist die unsere. Ganz und einig kann er nur werden, wenn er sich für unsere Einigkeit einsetzt. Hermann Hesse hat dem Geiste gedient, indem er als der Erzähler, der er ist, vom Widerspruch zwischen Geist und Leben und vom Streit des Geistes gegen sich selber erzählte. Eben dadurch hat er den hindernisreichen Weg wahrnehmbarer gemacht, der zu einer neuen Ganzheit und Einheit führen kann. Als der Mensch aber, der er ist, als der homo humanus, der er ist, hat er den gleichen Dienst gedient, indem er stets, wo es galt, für die Ganzheit und Einigkeit des Menschenwesens eintrat. Nicht die Morgenlandfahrer und die Glasperlenspieler allein grüßen dich heute in aller Welt, Hermann Hesse. Die Diener des Geistes in aller Welt rufen dir mitsammen einen großen Gruß der Liebe zu. Überall, wo man dem Geiste dient, wirst du geliebt.

Der Erzähler in unserer Zeit Nur einer ist unter uns, der sowohl den Zerfall der Diaspora als auch das Aufleben des Yeshuv, sowohl den Untergang Buczacz als auch den Aufbau Tel Avivs erzählte. Beides erzählte er ohne jegliches Pathos, und dennoch derart, dass – ähnlich dem Pulsieren des Blutes im Herzen – in seiner Erzählung ein befangenes Pathos pocht. Auch erzählte er seine Geschichten ohne jegliche Sentimentalität; doch kenne ich gute Leser, in denen, wenn sie eine besonders geglückte Stelle aus den Erzählungen Agnons erinnern, unverzüglich tränenloses Weinen aufsteigt und ihnen den Hals zuschnürt. Darin zeigt sich die Macht eines wahren Erzählers. Vor ungefähr vierzig Jahren, während des Ersten Weltkrieges, wurde ich gebeten, über einen jungen hebräischen Schriftsteller namens Agnon eine Skizze zu schreiben. In dieser Skizze äußerte ich die Ansicht, Agnon werde zum Erzähler der Chronik unserer wechselhaften Zeiten, zum Chronisten unserer Gegenwart. Und mit dieser Wendung wollte ich nicht sagen, sein Werk bestehe darin, dass er vor unseren Augen vorüberziehen lasse, was im Volksmund ›große Ereignisse‹ genannt wird; vielmehr meinte ich damit, er erzähle die einfachen Geschehnisse des Alltags in ihrer zeitlichen Abfolge. Dies Erzählen zeichnet sich dadurch aus, dass es Dinge durchsichtig macht, so dass unser Auge dessen ansichtig wird, was im Herzen des Zeitgeschehens, im Körper des Gebildes einer großen gesellschaftlichen Seele ist, und zwar so wie sich dieses in deren gegenwärtigem Erleben darstellt. Vor zehn Jahren wurde ich erneut gebeten, über den nun sechzigjährigen Agnon zu schreiben. Inzwischen erlangte ich ein höheres Maß an Genauigkeit sowohl hinsichtlich meines Wahrnehmungsvermögens als auch meiner Fähigkeit, die von mir wahrgenommenen Dinge in Worte zu fassen; doch auch diesmal war ich nicht in der Lage, mehr zu tun, als wahrzunehmen und, wenngleich aufgrund eines tieferen Verständnisses, zu sagen, Agnon sei ein wahrer Erzähler. Scheinbar stellt sich die Frage, welchen Wert diese Aussage hat. Doch zeigt sich in Wirklichkeit, daß sie zu allen Zeiten von hohem Wert ist und um wie vieles mehr in unserer, von der starken Tendenz geprägten Zeit, die Existenz jener in allem Tun bestehenden inneren, gut eingerichteten und vom Erzähler erhellten Ordnung abzuleugnen. Einigen berühmten Romanautoren muss ich meinem Wunsch entgegen den Titel des wahren Erzählers verweigern. Ein »Roman«, der überladen ist von malerischen Beschreibungen und mit Weisheit bespickten Dialogen, welche dem Handlungsverlauf fern sind und diesen

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nur verzögern – solch ein »Roman« kann seinem Wesen nach doch nicht den wahren Erzählungen zugerechnet werden. Im Herzen und im Werk eines wahren Erzählers verwandelt sich alles, ob es sich nun um Ereignisse in der Natur oder im Geiste handelt, in menschliches Geschehen; alles wird zur zwischenmenschlichen Angelegenheit. Mit Agnon stellte sich in unsere Mitte ein Mensch von solchem Herzen und von solchem Werk. Doch ging dieser Tage ein zur Negierung dieser epischen Natur führender Wandel vor sich. Die zwischenmenschliche Erfahrung zerfiel und folglich wurde auch die Eignung des lauteren Erzählers in Zweifel gezogen. Ehemals mühte sich der Satan vergebens, zwischen Mensch und Mitmensch zu scheiden und brachte den bösen Trieb gegen ihn auf, der sich in einer seiner Gestalten, wie z. B. brennender und verzehrender Begierde, zeigte; heute dagegen müht er sich, den miteinander lebenden Menschen Aufregung und Wahnsinn einzugeben, welche weder mit Begeisterung einhergehen noch irgendeine Richtung haben, und manchmal gelingt ihm dies so sehr, dass es einen schaudert. Wie sieht der wahre Erzähler das in Verlegenheit geratene und sich allerorten auflösende Leben, welches ihm von außen begegnet oder in welches er selbst hineingerät? Ist er unerschrocken und mutig, so bezwingt er das Durcheinander, selbst wenn es sich dabei um die größte Verwirrung auf Erden handelt, und lässt es schließlich in seiner Erzählung als eine Art konkretes Erleben wiedererstehen; er erzählt im Labyrinth, ohne in Verlegenheit zu geraten, ohne zu fliehen oder aufzugeben. Indem er autobiographische Lebensabschnitte erzählt, nimmt er den Schleier von unseren Augen, auf dass wir das in die Welt kommende Thema in all seiner Tiefe wahrnehmen, doch er selbst verlässt nicht den Bereich ursprünglicher Mäßigung. Ungewollt geraten diese Lebensabschnitte zu einer diskontinuierlichen Folge; und ungewollt tragen sie den Charakter des Autobiographischen, kann der wahre Erzähler doch allein erzählen, was er selbst in Auseinandersetzung mit dem Thema erfahren hat. Doch auch hier, am Rande menschlichen Erlebens, hörte der unerschrockene Erzähler nicht auf, Erzähler des Gegenwartsgeschehens zu sein; von diesem Charakter sind die »Handlungen« Agnons.

Vorwort [Zu Paula Buber, »Geister und Menschen«] In diesem Band habe ich drei Erzählungsbücher meiner 1958 verstorbenen Frau (Mädchenname: Paula Winkler, Schriftstellername: Georg Munk), »Die unechten Kinder Adams« (1912), »Sankt Gertrauden Minne« (1921) und »Die Gäste« (1927) vereinigt. Sie gehören zusammen. Wodurch sie zusammengehören, habe ich in dem Titel dieses Bandes auszudrücken versucht. Wohl erzählen nicht alle diese Geschichten von jener Art von Wesen, die wir als Geister zu bezeichnen pflegen. Doch ist allen gemeinsam, daß sie ein dichterisches Zeugnis für das den Menschen ganz innerweltlich, ja naturhaft antretende Geheimnis ablegen, dem wir durch diesen Plural freilich nur notdürftig gerecht zu werden vermögen. Die, ich wiederhole es, durchaus naturhafte Erscheinung ist gestaltlos, und sie fordert uns zur Gestaltgebung an, zu der aber nur Dichter, und auch sie nur zuweilen, befugt sind. Der menschliche Vollzug, der gemeint ist, wird gewöhnlich der »Einbildungskraft« zugeschrieben, womit gesagt sein soll, daß alles, was sich hier begibt, sich im Bereich der bildererzeugenden Psyche begibt. Die Person, der dergleichen widerfahren ist, weiß es anders. Was ihr begegnete, ja, begegnete, wird sie nicht dadurch verleugnen, daß sie es in einen von der Hand einer Psychologie gezogenen Kreis einträgt. Aber auch von der sogenannten Parapsychologie kann sie sich nicht dreinreden lassen. Das Begegnende ist ja nicht etwas jenseits ihrer eigenen Gestaltgebung gegenständlich Faßbares: es wird durch sie zum Gegenstand und kann es nicht anders als so werden. Innerweltlich besteht es, ist vom Menschen unabhängig, und doch nur durch ihn Gestalt zu empfangen fähig, eben indem es ihn antritt und seine Macht des Bildens, des Dichtens erregt. Dichten heißt das Geheiß von Begegnungen vollstrecken, und innerhalb der Begegnungen gibt es diese, von denen ich rede, diese, die dazu führen, daß Erzählungen – nicht Märchen, nicht romantische Spukgeschichten, sondern echte Erzählungen von »Geistern«, Berichte von ihnen entstehen, von Geistern, die in der besonderen Art naturhaften Geheimnisses in unser Leben eingehen und etwa gar ihm verfallen. Paula Winkler hat das Verborgene, das ich meine, schon in ihrer Jugend, und besonders in der Landschaft Südtirols, in die Schau bekommen; es scheinen auch Kindheitserinnerungen aus dem Bayrischen Wald mitgewirkt zu haben. Daß sie aber das Unheimliche, uns Unheimische, das ihr entgegentrat, ohne Scheu aufnahm, kam aus der Urbeschaffenheit ihres Wesens. Sie wußte um das Elementarische von ihrem eigenen

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Grunde aus. Dort war sie selber »die salige Frau«, die sich in die Brüchigkeit des Menschenhauses gewagt hat. Ihr Aufnehmen des Elementarischen aber war eben ein gestaltendes: nicht hinterher, nicht in einer willentlichen Bearbeitung des Erlebten, auch nicht einmal in jener unwillkürlichen Tätigkeit des formenden Gedächtnisses verleiht sie dem Gestaltlosen die Gestalt: sie sah, sie erfuhr es gestalthaft. Und was dann folgte, als sie etwas davon niederzuschreiben, also es festzuhalten sich vermaß, war dadurch ermöglicht, daß sie das gleichsam im ausdehnungslosen Nu Aufgenommene in einen Zeitablauf versetzte, ihm eine Geschichte gab, es erzählte. Sie war ein erzählerischer Mensch, einer von jenen, denen Bilder zu Begebenheiten werden und Begebenheiten zur Abfolge eines erzählten Lebens. Von da her gab sie den Elementargeistern, die nur die kosmische, schicksallose Zeit kennen, von unserer Menschenzeit, ihr, zu der die dunklen Fäden unseres Nachwissens um unsre Geburt sich mit den noch dunkleren unsres Vorwissens um unsern Tod verweben. Nicht alle, ich sagte es schon, von den zwölf Erzählungen, die in diesem Bande vereinigt sind, können als Geschichten von Geistern bezeichnet werden. Aber auch die nicht zu diesen gehören, entstammen Begegnungen mit jener Geisthaftigkeit der Abgründe, die uns mitten aus der Natur antritt. Auch wo nur von Menschen erzählt wird, tut sich uns die Sphäre der Verbundenheit auf.

[Geleitwort zu Beer-Hofmann] Es gibt Dichter, die in ihrem dichterischen Weg und Werk von einem Grundmotiv bestimmt sind, das sich wandelt und in der Wandlung wächst. Ein solcher Dichter war Richard Beer-Hofmann. Einem Geleitwort zu seinen gesammelten Werken ist die Aufgabe gestellt, sein Grundmotiv und dessen Wandlungen aufzuzeigen. Es ist das Todesmotiv. Freilich ist dieses Motiv Beer-Hofmann und einigen anderen deutschen Dichtern seiner Zeit und Atmosphäre gemeinsam, im wesentlichen Österreichern, und unter diesen zumeist Juden, mit denen wir hier einen Einzelnen zusammenstellen dürfen, der in einer Linie seiner Ahnenfolge dem Judentum entstammt – ich meine Hofmannsthal. Der Wiener Kreis, dem er und Beer-Hofmann angehörten, umfaßte auch Schnitzler. Das Todesmotiv erscheint hier nicht so als die Sache eines einzelnen Autors wie später im Werk Kafkas, in dem Brochs: es ist, als hätte es hier dem durch Freundschaft verbundenen Kreis noch ein besonderes, besonders geartetes Gemeinschaftselement verliehen. Schnitzler war es, der dieses Element auszudeuten gesucht hat, als er schrieb: ›Eine Ahnung von dem Ende ihrer Welt wird sie umwehen … denn das Ende ihrer Welt ist nahe.‹ Man weiß, einen wie großen Platz in Schnitzlers Werk, vornehmlich in seinen Erzählungen, das Sterben und das Totsein einnehmen. In die Erscheinung tritt jene Ahnung hier nicht, ebensowenig wie bei den Freunden; dennoch ist es für unser Verständnis wichtig, daß sie als ein Bewegendes bezeugt ist. Für Schnitzler, der von individuellen Schicksalen berichten will, ist der Tod die wesentlichste Äußerung des persönlichen Schicksals; die universale Urfrage, die durch die Tatsächlichkeit des Todes gestellt wird, wird hier kaum vernehmbar. Sie ist es, die uns Hofmannsthal vor Augen führt, schon 1893, da er den Tod in antikisierender Verklärung sieht, und noch 1922, da er ihn in derber Ungelindheit zeigt: wie er den von ihm Angetretenen – ob Dichter, ob Leser – ›von der Bühne wandern‹ heißt. Fast nirgends wird uns hier erlaubt, an eine relative Überwindung des Todesfaktums zu denken. Doch klingt zuweilen, am deutlichsten beim jungen Hofmannsthal (1894), das Thema der ›Ahnen‹ an, als Motiv der Dauer, des Dauerns. Dieses Thema ist es, um das Richard Beer-Hofmann so gerungen hat, daß kein Errungenes ihm je Genüge tat, bis er es in der Tiefe schauen und gründen durfte; von da an erwuchs es zu seiner eigentümlichen Gestalt, deren Vollendung dem an seinem Werk lang und schwer arbeitenden Dichter und seinen Lesern nicht mehr beschieden war.

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Es sind wohl die zu solch einem Ringen und Werden in der Seele BeerHofmanns sich bereitenden Kräfte, deren Entwicklung den 23jährigen Hofmannsthal bewogen hat, dem älteren Freund zu schreiben: er wisse genau, ›daß es keinen Menschen gibt, dem ich so viel schuldig bin wie Ihnen‹. Das war 1897, in ebendem Jahr, in dem Beer-Hofmann das ›Schlaflied für Mirjam‹ schrieb, mit dem das erste Stadium seines Ringens um die Antwort auf den Tod abschließt. Die erste Äußerung dieses Ringens finden wir vier Jahre früher, in der, künstlerisch noch unsicheren, Erzählung ›Das Kind‹. Der Tod, von dem hier berichtet wird, ist ganz und gar nicht ein großer Gott der Seele wie für Hofmannsthal zur gleichen Zeit; er ist gar nicht, er ereignet sich nur. Was sich begibt, ist das schlechthin Sinnwidrige, das Sterben eines Kindes. Daß sein Vater diesen Tod hinnimmt, ohne ihn als Wirklichkeit zu verspüren, daß er hernach nur eben an die Schwelle dieser Wirklichkeit gelangt, läßt bei aller Abstraktheit der Führung uns aufmerken: hier ist der Anfang eines Wegs. Das ›Schlaflied‹, das erste Zeugnis dichterischer Reife, ist zugleich die erste Antwort Beer-Hofmanns auf das Faktum des Todes. Das Kind in der Wiege wird als das Wesen angeredet, das noch nichts vom Tode weiß. Es wird einst von ihm erfahren, wird zu fühlen bekommen, was der Dichter in diesem Augenblick fühlt: ›Keiner kann keinem ein Erbe hier sein‹. (Wieder mag es sich als fruchtbar erweisen, das etwa gleichzeitige Gedicht Hofmannsthals von dem ›Erben‹ zu vergleichen, der ›lächelt, wenn die Falten des Lebens flüstern: Tod!‹) Nun aber erwacht unversehens im Herzen des Vaters die Einsicht: Unser Sein selber ist Ahnenerbschaft, die wir unsern Kindern vererben. Das Sich-verlassen-fühlen hat uns getäuscht. Sind wahrhaft ›alle‹ ›in uns‹, dann wird je und je die Bangnis der Einsamkeit gebannt: der Tod ist dem Leben dienstbar geworden. Drei Jahre vorher, ein Jahr nach jenem Gedicht vom ›Erben‹, war dieses Motiv in Hofmannsthals ›Terzinen‹ angeklungen, wo er von seinen Ahnen (ihrer Doppelreihe) sagt, sie seien so eins mit ihm als wie sein eignes Haar. So war damals, 1894, den Freunden die Anschauung unseres Endens und Neubeginnens gemeinsam geworden, – wobei wohl der Ältere gedanklich, wenn auch nicht dichterisch, der Führende war. Drei Jahre nach dem ›Schlaflied‹ ist das seltsame Buch ›Der Tod Georgs‹ erschienen, das in scheinbar erzählender, im Grunde nahezu anti-epischer Form Meditationen über die Bedeutung der Todestatsache im Leben eines Lebenden aneinanderreiht. In drei Sphären des Daseins tritt uns hier das Sterben entgegen: als Traum vom Sterben einer Frau, die dem Schläfer als seine Frau vertraut ist, die aber ›nie gelebt hatte‹ ; als

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Phantasie-Ausmalung von sakralen Orgien in einem syrischen Tempel, die in Sterben münden; und als die schlichte Wirklichkeit des gelebten Lebens: der Tod des Freundes (Freundes? an dieser Stelle wird die Klage aus dem ›Schlaflied‹, ›Keiner kann keinem Gefährte hier sein‹, wiederaufgenommen); ›der wirkliche Tod‹, der in dem Überlebenden eine leidvolle Betrachtung von Verlauf und Ablauf des personhaften Daseins erweckt, – erst Einsicht in die Schuld des ›Hochmuts‹, sodann Einsicht in das Gesetz der ›Gerechtigkeit‹. Und nun, am Ende des Buches, erscheint jenes Motiv der Ahnen aus dem ›Schlaflied‹ wieder. Aber nun ist es nicht mehr etwas fast Allgemeines wie zuvor (›Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz‹): es ist etwas ganz Bestimmtes, geschichtlich Einmaliges. ›Über dem Leben derer‹, so heißt es hier, ›deren Blut in ihm floß, war Gerechtigkeit wie eine Sonne gestanden‹, und sie hatten, ›ein Volk auserwählt zu Leiden‹, in ihren äonlangen Qualen ›zu Gott dem Gerechten‹ gerufen. Von Israel ist die Rede. In der Stunde, in der Beer-Hofmann sich anschickt, diesen Abschluß seines ersten eigentlichen Werkes niederzuschreiben, muß er die ihm gestellte besondre dichterische Aufgabe erkannt haben. Das im Anfangsteil des Buches erscheinende, fast spielerische Bild einer in goldenen Strahlen verblutenden Sonne, als die dort das ersehnte ›freie prunkende Sterben‹ erscheint, ist im errungenen hohen Ernst durch das wahre Gegenbild, das Bild eines Volksmartyriums, in den Bereich der glitzernden Nichtigkeit gescheucht worden, dem es angehört. Jetzt aber wendet sich Beer-Hofmanns Weg, und wer Schritt um Schritt ihm nachginge, dem müßte es nun, eine gute Weile lang, so erscheinen, als solle jene Antwort auf das Faktum des Sterbens, die im ›Schlaflied‹, im ›Tod Georgs‹ nur erst angehoben hatte, nicht zur Entfaltung kommen. Denn was uns das nächste Werk, die Tragödie ›Der Graf von Charolais‹ (1905) über alle Handlung und Rede hinaus zu sagen hat, ist genau dies, daß es keine Antwort auf den Tod gebe. Das Drama hebt an mit dem geschehenen Tod, mit dem Schicksal eines Leichnams, es endet damit, daß derselbe Mann, der den Leichnam des Vaters erstritt, die geliebte Frau in den Tod treibt. Zwar hat der Dichter von seinem Stück gesagt, er habe darin ›die Tragödie zu Ende geschrieben‹. Aber das gilt nur für die moderne, die von den Elisabethinern herrührende Tragödie, die eben keiner Antwort auf den Tod Einlaß gewährt, es gilt nicht für die antike, die je und je auf das Menschenende den Versöhnungsspruch eines Gottes folgen zu lassen wagte. Und hätte Beer-Hofmann den letzten Teil seines Alterswerks, der David-Trilogie, schreiben dürfen, dem er den Namen ›Davids Tod‹ geben wollte, dann wäre der Tod hier kein ›tragischer‹ im

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modernen Sinne geworden, aber er hätte auch keiner Epiphanie mehr bedurft, denn alles, was von der Trilogie zu Wort geworden ist, trägt die Antwort auf den Tod in sich. Und diese Antwort ist die Klärung und Vollendung eben jener, die im ›Schlaflied‹ nur erst einen andeutenden, im Schlußabschnitt von ›Der Tod Georgs‹ dann einen verdeutlichenden, wiewohl immer noch nicht endgültigen Ausdruck gefunden hatte. Nun aber war der Weg des Dichters von der Aufgabe abgewichen, diese Antwort zureichend zu gestalten. Das bald danach (1906) veröffentlichte Gedicht ›Altern‹ löst das Rätsel, freilich nur so, daß dem Geheimnis ein neues, für immer rätselhaftes entsteigt. Dem einst vom Dichter gepriesenen Zusammenhang mit den Ahnen in der Geschichtszeit wird der Boden einer letzthinnigen Wirklichkeit entzogen. Denn hier wird in einer Sprache, die wie die Poetisierung einer großen, aber unvollständigen Erkenntnis Kants klingt, gesagt: ›Raum, wie Zeit: Gespinst, Gespenster, Die die Sinne um dich woben!‹ Tod und Leben seien, so wird uns gesagt, nur Kerker, die wir uns selbst gemauert haben: wir sollen sie brechen und ins Freie treten, wo uns ›klare Luft umschauert‹. Hier wird von der klaren, aber von aller Erdenwärme entfernenden Ahnung der Ewigkeit gesprochen – der Ewigkeit des Urgrundes, dem Zeit und Raum entstammen. Diese beiden erweisen sich ja, wenn wir sie als letzthinnige Wirklichkeit zu meinen versuchen, als bis zur Absurdität unvorstellbar, gleichviel ob wir sie als endlich oder als unendlich vorzustellen unternehmen: nur als von der zeit- und raumlosen Ewigkeit getragen sind sie faßbar. Die vitale Verbundenheit mit den Ahnen und die uns zwar nur umschauernde, dennoch zuverlässige Ahnung der überzeitlichen Ewigkeit gehören wie Systole und Diastole zueinander. Nur wer um die zwiefältige Antwort auf den Tod weiß, die von unsrer Wirklichkeit aus und die von der diesseits des Todes nur eben zu ahnenden Wahrheit aus, beides in einem, nur er weiß um die Antwort. Die Abwendung des Dichters von der Kenntnis der Verbundenheit mit den Ahnen hat im ›Grafen von Charolais‹ eine ganz empirische, in dem Gedicht ›Altern‹ eine transzendentale Gestalt angenommen: dort waltet der Tod als einer, der keine Antwort zuläßt, hier langt eine innerste Gewißheit über seine so massive Tatsächlichkeit hinaus, – Gewißheit nicht einer Fortdauer in der Zeit, sondern des endgültigen Eintritts in die schon jetzt und immer gegenwärtige Ewigkeit. Es ist, als hätte jenes nur dargestellte, nicht ausgesprochene Nein gefordert, daß dieses dichterisch

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unmittelbar ausgesprochene Ja ihm folge. In dem biographischen Vorgang der Abwendung, der Abwendung von jener gefühlsechten und vollklingenden, aber der Existenz gegenüber nicht zureichenden Tröstung, gehören beide zusammen. Um des Verständnisses des inneren Zusammenhangs willen muß aber hier auf eine Stelle im Hauptwerk jener Zeit, dem ›Grafen von Charolais‹, hingewiesen werden, dessen Handlung ›vor mehreren hundert Jahren‹ spielt. Gemeint ist die Szene, in der ›der rote Itzig‹ das von Shylock ungesagt Gebliebene von der Schmach jüdischen Daseins in der christlichen Umwelt gleichsam nachträgt. Man darf vermuten, daß hier etwas zum Ausdruck kommt, wovon Beer-Hofmann zu jener Zeit tief betroffen war: die Einsicht, wie sehr in ›Unruh und Stolz‹ des Väterbluts sich die Erfahrung dessen gemischt hat, was den Vätern an Leib und Seele zugefügt worden ist, – unter den Augen Gottes zugefügt worden ist. Hier, meine ich, setzt auf dem Weg des Dichters das große Suchen nach dem Sinn ein. Von diesem Suchen aus erschließt sich uns die nun erfolgende Rückwendung Beer-Hofmanns, die für sein späteres Werk von entscheidender Bedeutung ist. Rückwendung – nicht als bloße Wiederaufnahme des Ahnenthemas, wie es scheinen möchte. Dieses wird nun zu einem Rahmen, in dem uns, jetzt erst, ein Bild, d a s Bild entgegentritt, das sinnerfüllte Bild eines Israel, das um Gottes willen als sein Zeuge leidet, aus diesem seinem Leiden zum ›Licht der Völker‹ wird und den Volkstod überwindet. Auf diesem Felsengrund wollte Beer-Hofmann die David-Trilogie erbauen, von der nur das Vorspiel und der erste Teil vollendet werden konnten. Im Vorspiel, ›Jaákobs Traum‹, entfaltet sich das Thema in einem hohen, noch in der äußersten Höhe rechtmäßigen Pathos. Der biblische Vorwurf wandelt sich hier, aber die Wandlung geschieht in echter Treue, der Treue des Spätgeborenen, der auf der Suche nach einem dichterisch aussagbaren Sinn gefunden hat, was er sagen durfte. ›Er berief mich vom Schoße auf‹, heißt es (Jes. 49,2) in dem deuterojesajanischen Gottesspruch, aus dem Beer-Hofmann einige Sätze als Motto seiner Dichtung vorangestellt hat. Dem Stammvater wird im Traum seine Berufung und Erwählung kundgetan. Diese Erwählung ist Auftrag und Schicksal, nicht aber unabwendbares Verhängnis. In seine, Jaakobs, eigne Entscheidung wird das Schicksal gestellt: er darf diese Erwählung wählen, er darf sie verwerfen. Und ihm wird nicht verhehlt, was sie bedeutet: Wohl wird er, wird sein Samen, wie es in jenem Gottesspruch heißt, den Weltstämmen zum Licht gegeben, diese aber werden, was er an ihnen tut, damit erwidern, daß sie ihm ins Antlitz speien.

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›Wo wächst die Schmach denn, die dir nicht geschah?‹ spricht Samael, der an Gott leidende Dämon, zu Jaakob (wir denken an die Rede des roten Itzig), und weiter: ›Man geißelt dich … Er duldet es.‹ Die umstehenden Engel bezichtigen Samael der Lüge, aber Gott selber bestätigt: Ja, diesem Auftrag ist dieses Schicksal verbunden, und die Huld erstrahlt erst dem in Treuen Hindurchgeschrittenen. Und nun, wissend, wählt Jaakob diese Erwählung. Daß Jaakob sich so entscheidet, ist daraus zu verstehen, daß die Wesenheit, aus der allein jenes ›Licht‹ kommen kann, ihm im innersten Herzen lebt. Es ist die Liebe – die Gnadenliebe Gottes zum Menschen und die tätige Liebe des Menschen zum Mitmenschen, ja zu allem Seienden, vor allem aber zu denen, die von ihm abhängen, ihm also anvertraut sind. Man lese, wie Jaakob das Lamm liebend tränkt und hegt; und hier darf man vom Werk des Dichters zu seinem, des späten Nachfahren, eignem Leben übergreifen und daran denken, was wir aus dem ›Lied an den Hund Ardon‹ und aus der Erzählung vom Tod des Hundes Alcidor (in dem Buch ›Paula‹) von seiner Beziehung zu einem Tier erfahren. Man lese, mit wie liebender Gebärde Jaakob den Sklaven Idnibaal in die Freiheit entläßt; und wieder mag der Leser in den biographischen Bereich hinübertreten und dessen gedenken, was ihm (ebenfalls in dem Buch ›Paula‹) von dem Verhältnis der Familie zu dem Knecht Vinzek berichtet wird. Es gilt aber zu verstehen, daß für Jaakob in der Abhängigkeit jener Wesen von ihm seine eigne kreatürliche Abhängigkeit von Gott sich spiegelt, in ihrem Vertrauen zu ihm sein eignes ›seliges Vertrauen‹ zu Gott. Der junge David weiß es: Auf Vertrauen steht die Welt. Schon in Jaakobs Herzen sind die Liebe, die er an anderen übt, und die Liebe Gottes, die er auch noch in jedem Leid verspürt, untrennbar verbunden. Man darf hier an das Band erinnern, das in der deuteronomischen Lehre die beiden Sätze von der Liebe, ›Gott … der den Gastsassen liebt‹, und ›So liebet denn den Gastsassen‹ miteinander verknüpft. Im Schlußabschnitt des Buches ›Der Tod Georgs‹ lesen wir, wie der Überlebende, Paul, zur Einsicht gelangt, daß einst ›über dem Leben derer, deren Blut in ihm floß‹, ›Gerechtigkeit wie eine Sonne‹ stand, eine Sonne, ›deren Strahlen sie nicht wärmten‹ und zu der sie sich dennoch bekannten. Auch in ›Jaakobs Traum‹ hören wir von der Gerechtigkeit Gottes, die Jaakob und sein Volk zu verkündigen haben. Aber die eigentliche Botschaft dieses Werkes ist die von der andern, der weltdurchwärmenden Sonne der Liebe: Liebe Gottes zu seinem Geschöpf, Liebe des Menschen zu beiden – seine Liebe zu Gott ›wie Er ist, grausam und gnädig‹, seine Liebe zu den leidenden Mitgeschöpfen. Das ist die dem Nachfahren eingeborne Botschaft der Ahnen, auf die zu ›horchen‹ die stets

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erneute Überwindung des Todes in seiner bedrohlichsten Gestalt, der des Volkstodes, bedeutet. Von der Trilogie, zu der dies das Vorspiel ist, haben wir nur den ersten Teil und den Prolog zum zweiten zu kennen bekommen. Doch dürfen wir der Anlage des Werkes nach uns vorstellen, daß das, was dort in der Gestalt einer nur persönlichen, auf Volk, Staat, Geschichte nur vordeutenden Existenz sich ankündigte, das Leben des ›erwählten‹ Menschen in der treuen Partnerschaft mit Gott und mit der Kreatur, hier sich in den Dimensionen der Geschichte erfüllen sollte. Im einzigen vollendeten Teil der Trilogie, ›Der junge David‹, der von dem We r d e n der geschichtlichen Situation handelt, bekommen wir das nur zu ahnen – vornehmlich im Zeugnis der Vertrauten Davids. Mehr als dies ist uns nicht gegeben. Aber der Dichter durfte den harten biblischen Bericht über Davids Herrschaft nicht verleugnen. Im ›Vorspiel auf dem Theater‹ zu ›König David‹ wird uns deutlich gesagt, daß das Drama einen David zeigen sollte, der in manchen Zügen mehr fremden Königen aus der Geschichte der Völker glich, als dem vorgeschichtlichen Stammvater. Es geht hier um eine Erfüllung im Trotzdem, im Hindurchgegangensein. Hindurch vor allem durch die Schlucht der Schuld, die der Ahne nicht betreten hatte; diese Schuld und ihre Sühnung vorzuführen war dem Mittelteil der Trilogie aufgegeben. Aufgegeben, nicht auferlegt! Denn auf keinem andern Weg als auf diesem konnte der große Herrscher zu dem großen Beter werden, dessen Bild uns überliefert ist: die am echtesten klingenden Psalmen sind doch eben die, in denen Gott um ›Reinigung‹ angefleht wird. Der ›Prolog‹, der Dichter, der in dem ›Vorspiel auf dem Theater‹ spricht, preist David als ›begnadet, sündig‹. Denn so sah der Dichter Richard Beer-Hofmann Davids Weg zum Tode: aus der Gnade der Erwählung durch die Sünde zu jener höheren Gnade, die sich dem Umkehrenden gewährt.

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Was ich beschreibend sagen kann, ist dies: Es beginnt zumeist mit einem »Gesamtschwingen«, d. h. das ganze Seelenelement (das ganze, dem das Gefühl gilt, für das nichts ausserhalb des Vorgangs bleibt) gerät in Bewegung, und zwar in eine in zahllosen unkoordinierten Vibrationen verlaufende, und dennoch untrüglich als eine einheitlich sinngetragene empfundne. Von einem einzelnen »Motiv« ist noch nichts zu merken. Diese Bewegung bekommt immer stärker einen zielstrebigen und zum X Charakter, bis sie etwas vollzieht, was ich die Geburt der Mitte nennen möchte: ein Zusammenschliessen, die Einsetzung einer zentralen Substanz, die nun alles anzieht und einzieht. Das Gefühl steigert sich zu dem einer äussersten, gespanntesten Zentraldynamik. Aber die Mitte ist trotz dieses gewaltigen Wirkens immer noch namenlos, für das Bewusstsein unformulierbar, mit keiner Einzelvorstellung belegbar. Plötzlich wird die Mitte »wahrgenommen« als etwas bestimmtes, gewiss nicht Beschreibbares, aber völlig Umrissenes? und Deutbares?, Rhythmus. Und zwar ist dieses Wahrnehmen wesensmäßig? ein Grunderkennen: {Rest des Satzes unlesbar.} Dieser Augenblick, den ich für den entscheidenden halte, schliesst einen ungeheuren Prozess ein; denn in seinem, des Augenblicks Beginn gibt es noch die Mitte und das Kreisen, aber in seinem Ende nicht mehr – die Mitte ist zur Gestalt geworden und es gibt nichts ausser ihr. Nun kommt es darauf an, ob in diesem entscheidenden Augenblick das Bewusstsein seine eben wiedererlangte Freiheit dazu verwendet, seine ganze Aktivität der Gestalt zur Verfügung zu stellen, d. h. alles Einzelne herauszuholen und einzuliefern, dessen sie zu ihrer Äusserung bedarf. Hier setzt das Zusammenwirken des immer wieder der Gestalt »auf den Mund schauenden« Gehorsams und der spontansten Tätigkeit ein, hier aber auch droht durch Nichthaltenkönnen des Geschauten, X und die fatale Ergänzung aus eigner Willkür das tausendfältige Versagen. Die Kritik kann ihrem Wesen nach in jene Urdynamik nicht eindringen, sie kann nur nach der Gestalt und dem Mass ihrer X fragen. Sie wird dem Werk nur so gerecht, je mehr sie sich mit diesem selber abgibt, ohne dessen Betrachtung durch eine xxpsychologie der Subjektivität zu stören.

Autobiographische Schriften

Erinnerung In diesen Tagen, die mich in einer besonderen Weise auf den Weg meines Lebens mich besinnen lassen, ist auch die Erinnerung an die frühen Stadien meiner Beziehung zur deutschen Sprache neu erwacht. In Wien geboren, bin ich in der ersten Kindheit in die Hauptstadt der galizischen Provinz gekommen, in der eine eigentümliche Sprachenvielfalt mir die Tatsache des Nebeneinanderlebens sehr verschiedener Volkstümer unauslöschlich einprägte. Im großväterlichen wie im väterlichen Hause herrschte die deutsche Rede, aber Straße und Schule waren polnisch, nur das Judenviertel rauschte von derbem und zärtlichem Jiddisch, und in der Synagoge erklang, lebendig wie je, die große Stimme hebräischer Vorzeit. Aber nicht bloß dieser, auch dem deutschen Wort wohnte ein Pathos inne. Das kam daher, daß die Großmutter, Adele Buber, die mich bis ins vierzehnte Jahr erzog, diese Sprache wie einen gefundenen Schatz hütete. Sie hatte einst, eine Fünfzehnjährige, die in ihrem heimatlichen Ghetto als weltlich verbotenen deutschen Bücher ihrer Liebe auf dem Speicher versteckt gehalten; ich besitze noch ihr Exemplar von Jean Pauls ›Levana‹, dessen Lehren sie in der Erziehung ihrer künftigen Kinder anwenden wollte und dann auch wirklich angewandt hat. Nun, in meiner Kinderzeit, schrieb sie in ihre hohen schmalen Rechnungsbücher, zwischen die Aufstellungen über Einkünfte und Ausgaben des großen Landguts, dessen Verwaltung sie nicht aus den Augen ließ, teils Sprüche der verehrten Geister, teils eigene Eingebungen, alles in einem kernhaften und festlichen Deutsch. In dieser Sprachluft bin ich aufgewachsen. Mit achtzehn Jahren kam ich nach Wien auf die Universität. Was da am stärksten auf mich wirkte, war das Burgtheater, in das ich mich oft Tag um Tag nach mehrstündigem ›Anstellen‹ drei Treppen hoch stürzte, um einen Platz auf der obersten Galerie zu erbeuten. Da wurde von Menschen, die Schau-Spieler heißen, die deutsche Sprache gesprochen. Ich verstand: in den Büchern, die ich gelesen hatte, waren die Zeichen angegeben, hier erst wurden sie zu den Lauten, die gemeint waren. Das war eine große Belehrung. Aber es war auch eine holde Verführung dabei: hier erst wurde recht eigentlich das Urgold der Sprache dem unbemühten Erben in den Schoß geschüttet. »Den Erben laß verschwenden«, so begann das ›Lebenslied‹, das mir aus einem auf der Gasse gekauften Heft entgegenklang; es war von einem verfaßt, der Hofmannsthal hieß und, wie ich bald erfuhr, nur um vier Jahre älter als ich war. Ich verstand: die deutsche Sprache wurde in dieser Stadt nicht bloß zu ihrer vollen Laut-

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barkeit gebracht, sie trieb auch immer noch neues Gedicht hervor. Aber um all dies war eine wunderliche Leichtigkeit, die des Menschen, der dem Gedicht gemäß lebte, »wie den kein Walten vom Rücken her bedroht«. Diese Leichtigkeit des den Urzeit-Schatz ›verschwendenden‹ Erben bezauberte mein Herz; sie drang in mein Reden und Schreiben ein. Zwei Jahrzehnte vergingen, bis ich mich im Sturm des Weltkrieges, der die innerste Bedrohung des Menschen offenbar machte, zum strengen Dienst am Wort durchgerungen hatte und das Erbe so hart erwarb, wie wenn ich es nie zu besitzen gemeint hätte. Als ich mehrere Jahre danach Hofmannsthal nach langer Pause wiedersah, merkte ich nun auch an Zügen, Gebärde und Tonfall, was mir schon sein Spätwerk mitgeteilt hatte: daß er den gleichen Weg der Entsagung, der Mühsal und des Neubeginns gegangen war. In der Sprache wie in allen Bereichen des menschlichen Daseins ist heute kein Bestand mehr zu behaupten, es sei denn durch das Opfer.

Begegnung Autobiographische Fragmente 1 Die Mutter Es geht hier nicht darum, von meinem persönlichen Leben zu erzählen, sondern einzig darum, von etlichen in meiner Rückschau auftauchenden Momenten Bericht zu erstatten, die auf Art und Richtung meines Denkens bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Die früheste Erinnerung, die für mich in dieser Weise charakterisiert ist, stammt aus meinem vierten Lebensjahr. Etwa ein Jahr vorher war das Heim meiner Kindheit in Wien durch die Trennung meiner Eltern zusammengebrochen. Damals war ich zu meinen Großeltern väterlicherseits nach Lwow (Lemberg), der damaligen Hauptstadt des österreichischen »Kronlands« Galizien, gebracht worden. Sie waren beide Menschen von hohem Rang, im genauen Sinn adelige Menschen, und in eigentümlicher Weise einander zugepaßt und einander ergänzend. Dem Bereden von Dingen der eigenen Existenz waren sie beide abhold. Von dem, was sich zwischen meinen Eltern ereignet hatte, wurde natürlich in meiner Gegenwart nicht gesprochen; ich vermute aber, daß es auch zwischen ihnen beiden kaum je, es sei denn in praktischem und unausweichlichem Zusammenhang, Gegenstand des Gesprächs war. Das Kind selber erwartete, seine Mutter bald wiederzusehen; aber es brachte keine Frage über die Lippen. Dann begab sich einmal, was ich hier zu erzählen habe. Das Haus, in dem meine Großeltern wohnten, hatte einen großen quadratischen Innenhof, umgeben von einem bis ans Dach reichenden Holzaltan, auf dem man in jedem Stockwerk den Bau umschreiten konnte. Hier stand ich einmal, in meinem vierten Lebensjahr, mit einem um mehrere Jahre älteren Mädchen, der Tochter eines Nachbarn, deren Aufsicht mich die Großmutter anvertraut hatte. Wir lehnten beide am Geländer. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich zu meiner überlegenen Gefährtin von meiner Mutter gesprochen hatte. Aber ich höre noch, wie das große Mädchen zu mir sagt: »Nein, sie kommt niemals zurück.« Ich weiß, daß ich stumm blieb, aber auch, daß ich an der Wahrheit des gesprochenen Wortes keinen Zweifel hegte. Es blieb in mir haften, es verhaftete sich von Jahr zu Jahr immer mehr meinem Herzen, aber schon nach etwa zehn Jahren hatte ich begonnen, es als etwas zu spüren, was nicht bloß mich, sondern den Menschen anging. Später einmal habe ich mir das Wort »Vergegnung« zurechtgemacht, womit etwa das Verfehlen

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einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war. Als ich nach weiteren zwanzig Jahren meine Mutter wiedersah, die aus der Ferne mich, meine Frau und meine Kinder besuchen gekommen war, konnte ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort »Vergegnung«, als ein zu mir gesprochenes Wort, zu vernehmen. Ich vermute, daß alles, was ich im Lauf meines Lebens von der echten Begegnung erfuhr, in jener Stunde auf dem Altan seinen ersten Ursprung hat. 2 Die Großmutter Die Großmutter, Adele, war eine jener Jüdinnen von einst, die, um ihren Männern Freiheit und Muße zum Studium der Lehre zu schaffen, mit umsichtigem Eifer der Geschäfte walteten. Beim Großvater hatte »Studium der Lehre« eine besondere Bedeutung. Er war, wiewohl Autodidakt, ein echter Philolog, dem die ersten und heute noch maßgebenden kritischen Ausgaben einer besonderen Gattung der hebräischen Literatur zu verdanken sind: der Midraschim, einer einzigartigen Mischung von Schriftdeutung, Weisheitssprüchen und blühender Sage. Dem bürgerlichen Beruf nach war er Großgrundbesitzer, dazu Getreidehändler und der Inhaber von Phosphoritengruben an der österreichisch-russischen Grenze. Überdies gehörte er zu den führenden Männern der jüdischen Gemeinde und zu denen der städtischen Handelskammer, sachkundig und von eigenem Urteil. Diese Ehrenämter vernachlässigte er nie; die eigenen Geschäfte aber überließ er im allgemeinen seiner Frau, die sie alle in einer großzügigen und umsichtigen Weise leitete, keine Entscheidung jedoch traf, ohne den Gatten zu befragen. Die Großmutter war in einer galizischen Kleinstadt aufgewachsen, wo bei den Juden das Lesen »fremden« Schrifttums verpönt war, für die Mädchen aber alle Lektüre, mit Ausnahme erbaulicher Volksbücher, als unziemlich galt. Fünfzehnjährig hatte sie sich auf dem Speicher ein Versteck eingerichtet, in dem Bände von Schillers Zeitschrift »Die Horen«, Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana« und manche andere deutsche Bücher standen, die von ihr heimlich und gründlich gelesen wurden. Als Siebzehnjährige nahm sie sie und den Brauch des konzentrierten Lesens in die Ehe mit, und sie erzog ihre zwei Söhne in der Ehrfurcht vor dem gültigen Wort, das nicht zu umschreiben ist. Denselben Einfluß übte sie hernach auf mich aus; ich erfuhr, noch ehe ich vierzehn wurde und in das Haus meines Vaters und meiner Stiefmutter übersiedelte, was es bedeu-

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tete, etwas wirklich auszusprechen. In einer besonderen Weise wirkte auf mich die Art, wie die Frau die hochformatigen, gleichmäßig gebundenen Schreibbücher handhabte, in die sie täglich Einnahmen und Ausgaben verzeichnete: dazwischen nämlich trug sie, nachdem sie halblaut sie sich vorgesprochen hatte, ihr wichtig gewordene Stellen aus ihrer Lektüre ein, mitunter auch eigene Bemerkungen, die keineswegs etwa den Stil der Klassiker nachahmten, jeweils aber etwas, was sie im Umgang mit den hohen Geistern zu erwidern hatte, zuverlässig ausdrückten. Dasselbe war ihren mündlichen Äußerungen eigen: auch wenn sie offensichtlich das Ergebnis einer Reflexion mitteilte, nahm es sich aus, als beschriebe sie etwas Wahrgenommenes, und das kam zweifellos daher, daß Erfahrung und Nachdenken bei ihr nicht zwei Stadien, sondern gleichsam zwei Seiten desselben Prozesses waren: wenn sie auf die Straße sah, hatte sie zuweilen das Profil eines einer Frage nachsinnenden Menschen, und wenn ich sie ganz allein beim Nachsinnen betraf, erschien es mir zuweilen, als horchte sie. Dabei war es jedoch schon dem Blick des Knaben unverkennbar, daß sie, wen sie jeweils ansprach, wirklich ansprach. Der Großvater war ein wahrhaftiger Philologe, ein »das Wort Liebender«, aber die Liebe der Großmutter zum echten Wort wirkte noch stärker auf mich als die seine: weil diese Liebe so unmittelbar und so fromm war.

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3 Sprachen Ich kam erst mit zehn Jahren in die Schule. Bis dahin erhielt ich Privatunterricht, hauptsächlich in Sprachen, sowohl meiner eignen Neigung und Begabung wegen, als auch, weil für die Großmutter ein sprachlich zentrierter Humanismus der Königsweg der Erziehung war. Die Vielheit der menschlichen Sprachen, ihre wundersame Verschiedenheit, in der das weiße Licht der Menschensprache sich zugleich brach und bewahrte, war schon meiner Knabenzeit ein Problem, das mich immer neu belehrte, aber in der Belehrung auch wieder von neuem beunruhigte. Ich ging Mal um Mal einem einzelnen Worte oder auch Wortgefüge von einer Sprache zur andern nach, fand es da wieder und mußte doch Mal um Mal etwas daran verloren geben, was es anscheinend eben doch nur in einer einzigen von all den Sprachen gab. Das waren nicht bloße »Bedeutungsnuancen«: ich dachte mir zweisprachige Unterhaltungen mit einem Deutschen und einem Franzosen, später mit einem Hebräer und einem alten Römer aus und bekam immer wieder, halb spiel-

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haft und doch zuweilen mit pochendem Herzen, die Spannung zu spüren zwischen dem, was der eine sagte, und dem, was der andre von seinem anderssprachigen Denken aus vernahm. Das hat tief in mich hinein gewirkt und ist in einem langen Leben in immer deutlichere Einsicht eingegangen. Die Sprachenkenntnis des Knaben hat mir auch zuweilen ermöglicht, dem Großvater eine kleine Hilfe bei seiner Arbeit zu leisten. So kam es etwa vor, daß er, wenn er bei »Raschi« (Rabbi Schlomo Jizchaki), dem großen Bibel- und Talmud-Exegeten des 11. Jahrhunderts, einen Text durch einen Verweis anf eine französische Sprachwendung erklärt fand, mich befragte, wie diese zu verstehen sei. Ich mußte jeweils zunächst aus der hebräischen Transkription den altfranzösischen Wortlaut herauslesen und nun diesen erst mir selber, dann dem Großvater verständlich machen. Hernach aber, wenn ich allein in meinem Zimmer im väterlichen Hause saß, bedrängte mich die Frage: Was heißt das und wie geht das zu, etwas, was in einer Sprache geschrieben worden ist, durch etwas, was man in einer anderen Sprache zu sagen pflegt, »erklären«? Die Welt des Logos und der Logoi tat sich mir auf, verdunkelte sich, erhellte sich, verdunkelte sich wieder. 4 Der Vater Etwa vom neunten Jahr an verbrachte ich jeden Sommer auf dem Gut meines Vaters, und mit vierzehn zog ich aus dem großväterlichen Haus in sein Stadthaus. Der Einfluß meines Vaters auf meinen geistigen Werdegang war von anderer Art als der meiner Großeltern. Er kam gleichsam gar nicht vom Geiste her. In seiner Jugend hatte der Vater starke geistige Interessen gehabt, er hatte sich ernstlich mit den Fragen befaßt, die in Büchern wie Darwins »Entstehung der Arten« und Renans »Leben Jesu« aufgeworfen worden waren; aber er widmete sich schon früh der Landwirtschaft und gab ihr immer mehr von sich her. Bald war er in dem ostgalizischen Grundbesitz eine exemplarische Erscheinung. Als ich noch ein Kind war, brachte er von der Pariser Weltausstellung eine große Packung Zuchteier von im Osten noch unbekannten Hühnerarten mit; die hatte er die ganze Reise lang auf den Knien gehalten, damit keinem ein Schade geschehe. Sechsunddreißig Jahre lang arbeitete er mit

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allerhand Düngemitteln, deren spezifische Wirkungen er genau erprobte, daran, die Produktivität seiner Böden zu steigern. Er hatte die Technik seiner Zeit auf seinem Gebiete gemeistert. Aber um was es ihm eigentlich ging, merkte ich, wenn ich mit ihm inmitten des großen Rudels herrlicher Pferde stand und ihm zusah, wie er ein Tier nach dem andern nicht etwa bloß freundlich, sondern geradezu persönlich begrüßte, oder wenn ich mit ihm durch die reifenden Felder fuhr und ihm zusah, wie er den Wagen halten ließ, ausstieg und sich über die Ähren beugte, wieder und wieder, um schließlich eine zu brechen und die Körner sorgsam zu kosten. Es ging diesem ganz unsentimentalen und ganz unromantischen Menschen um den echten menschlichen Kontakt mit der Natur, einen aktiven und verantwortlichen Kontakt. Ihn zuweilen so auf seinen Wegen begleitend, lernte der Heranwachsende etwas kennen, was er von keinem der vielen von ihm gelesenen Autoren erfahren hatte. Auf eine eigene Weise hing mit diesem Verhältnis meines Vaters zur Natur ein Verhältnis zu dem Bereich zusammen, den man als den sozialen zu bezeichnen pflegt. Wie er am Leben all der Menschen teilnahm, die von ihm in der einen oder andern Weise abhingen, der Hofknechte in ihren nach seinen Angaben gebauten Häuschen, die die Hofgebäude umgaben, der Kleinbauern, die unter von ihm in genauer Gerechtigkeit ausgearbeiteten Bedingungen ihm Dienste leisteten, der Pächter, – wie er sich um die Familienverhältnisse, um Kinderaufbringen und Schulung, um Krankheit und Altern all der Leute kümmerte, das leitete sich von keinen Prinzipien ab, es war Fürsorge nicht im üblichen, sondern im personhaften Sinn. Auch in der Stadt verhielt mein Vater sich nicht anders. Der blicklosen Wohltätigkeit war er ingrimmig abgeneigt; er verstand keine andere Hilfe als die von Person zu Personen, und die übte er. Noch im Alter ließ er sich in die »Brotkommission« der jüdischen Gemeinde Lemberg wählen, und wanderte, ohne zu ermatten, in den Häusern umher, um die eigentlich Bedürftigen und ihre Bedürfnisse ausfindig zu machen; wie anders hätte das geschehen können als durch den wahren Kontakt! Eins ist noch zu erwähnen. Mein Vater war ein elementarer Erzähler. Jeweils im Gespräch, wie es ihn eben des Wegs führte, erzählte er von Menschen, die er gekannt hatte. Was er da von ihnen berichtete, war immer die schlichte Begebenheit ohne alles Nebenwerk, nichts weiter als das Dasein menschlicher Kreaturen und was sich zwischen ihnen begibt.

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Die Schule hieß »Franz-Josefs-Gymnasium«. Die Unterrichts- und Umgangssprache war das Polnische, aber die Atmosphäre war jene uns jetzt fast unhistorisch anmutende, die zwischen den Völkerschaften der österreichisch-ungarischen Monarchie herrschte oder zu herrschen schien: gegenseitige Verträglichkeit ohne gegenseitiges Verständnis. Die Schüler waren zum weitaus größten Teil Polen, dazu kam eine kleine jüdische Minderheit (die Ruthenen hatten ihre eigenen Schulen); persönlich kam man gut miteinander aus, aber die beiden Gemeinschaften als solche wußten fast nichts voneinander. Vor 8 Uhr morgens mußten alle Schüler versammelt sein. Um 8 Uhr ertönte das Klingelzeichen; einer der Lehrer trat ein und bestieg das Katheder, über dem an der Wand sich ein großes Kruzifix erhob. Im selben Augenblick standen alle Schüler in ihren Bänken auf. Der Lehrer und die polnischen Schüler bekreuzigten sich, er sprach die Dreifaltigkeitsformel und sie sprachen sie ihm nach, dann beteten sie laut mitsammen. Bis man sich wieder setzen durfte, standen wir Juden unbeweglich da, die Augen gesenkt. Ich habe schon angedeutet, daß es in unserer Schule keinen spürbaren Judenhaß gab; ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der nicht tolerant war oder doch als tolerant gelten wollte. Aber auf mich wirkte das pflichtmäßige tägliche Stehen im tönenden Raum der Fremdandacht schlimmer, als ein Akt der Unduldsamkeit hätte wirken können. Gezwungene Gäste; als Ding teilnehmen müssen an einem sakralen Vorgang, an dem kein Quentchen meiner Person teilnehmen konnte und wollte; und dies acht Jahre lang Morgen um Morgen: das hat sich der Lebenssubstanz des Knaben eingeprägt. Es ist nie ein Versuch unternommen worden, einen von uns jüdischen Schülern zu bekehren; und doch wurzelt in den Erfahrungen jener Zeit mein Widerwille gegen alle Mission. Nicht bloß etwa gegen die christliche Judenmission, sondern gegen alles Missionieren unter Menschen, die einen eigenständigen Glauben haben. Vergebens hat noch Franz Rosenzweig mich für den Gedanken einer jüdischen Mission unter Nichtjuden zu gewinnen gesucht.

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6 Die zwei Knaben Der Klassenraum umfaßte 5 Reihen zu 6 Bänken. In jeder Bank saßen zwei Schüler. Die vorderste Bank links, am Fenster, durch das man nichts als den fast leeren Spiel- und Sportplatz der Schule sah, gehörte mir und meinem besten Freund; acht Jahre lang saßen wir in derselben Bank, er links, ich rechts. In den Unterrichtspausen, die in der Regel eine ganze Viertelstunde dauerten, pflegte, wenn das Wetter einigermaßen günstig war, die ganze Schülerschar auf den Spielplatz zu stürmen und dort in eifrigen Kollektivunternehmungen bis zum Klingelzeichen zu verweilen. Bei allzu widrigem Wetter blieb man im Klassenraum beisammen, aber nur bei besonderen Anlässen bildete sich eine größere Gruppe; gewöhnlich lockerte sich die Struktur: je einige Jungen standen erzählend oder diskutierend beisammen, und die Zusammensetzung dieser kleinen Gruppen wechselte den verschiedenen jeweils auftauchenden Themen gemäß. Einmal aber, in einem arg verregneten Herbst (im Winter davor war ich zwölf geworden) ereignete sich eine sonderbare Änderung, die etliche Wochen lang anhielt. In der dritten Bank der mittleren Reihe saßen zwei Knaben, die bisher mir und wohl auch den meisten anderen in keiner Weise aufgefallen waren; nun aber zogen sie aller Blicke auf sich. Tag um Tag führten sie uns, ohne die Bank zu verlassen, mimische Spiele vor, mit clownhafter Behendigkeit, aber ohne einen Laut von sich zu geben, und ihre Gesichter blieben unveränderlich streng. Nach einiger Zeit nahmen die Spiele einen immer aufdringlicher werdenden sexualen Charakter an. Nun sahen die Gesichter der beiden so aus, wie ich mir die Seelen in der Höllenpein vorstellte, von denen mir einige Mitschüler im Ton von Sachkundigen zu berichten wußten. Alle Bewegungen waren grauenhaft zwangsartig. Wir glotzten die beiden an, solang das Schauspiel dauerte. Kurz vor dem Ende der Pause brachen sie ab. In unseren Gesprächen wurde der Vorgang nie erwähnt. Etwa eine Woche, nachdem die Schaustellungen diese Gestalt angenommen hatten, wurde ich zum Schuldirektor gerufen. Er empfing mich mit der sachten Freundlichkeit, die wir an ihm kannten, und fragte mich alsbald, was ich von dem Treiben der beiden wüßte. »Ich weiß nichts!« schrie ich auf. Er sprach wieder, ebenso sacht wie vorher. »Wir kennen dich ja«, redete er mir zu, »du bist ein gutes Kind, du wirst uns helfen.« »Helfen? Wem helfen?«, wollte ich – so scheint es mir – er-

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widern, aber ich schwieg, ich starrte schweigend den Direktor an. Von dem, was danach geschah, ist mir fast nichts ins Gedächtnis gedrungen, nur daß mich ein großes Weinen, wie nie zuvor, überkam und ich fast bewußtlos weggeführt wurde. Als ich aber zu Hause einige Stunden danach mich an den letzten Blick des Direktors zu erinnern versuchte, war es kein sachter Blick gewesen, der mich traf, sondern ein erschreckter. Einige Tage lang behielt man mich zu Hause, dann kam ich wieder in die Schule. Die dritte Bank der mittleren Reihe war leer und ist es bis zum Ende des Schuljahrs geblieben. Die lange Folge von Erfahrungen, die mich das problematische Verhältnis zwischen Grundsatz und Situation verstehen lehrte und mir damit das Wesen der wahren Norm erschloß, die nicht unsern Gehorsam, sondern uns selber fordert, hat mit dieser Erschütterung meiner Kindheit begonnen. 7 Das Pferd Während der Sommerferien auf dem Gut meiner Großeltern weilend, pflegte ich mich, sooft ich es unbeobachtet tun konnte, in den Stall zu schleichen und meinem Liebling, einem breiten Apfelschimmel, den Nacken zu kraulen. Das war für mich nicht ein beiläufiges Vergnügen, sondern eine große, zwar freundliche, aber doch auch tief erregende Begebenheit. Wenn ich sie jetzt, von der sehr frisch gebliebenen Erinnerung meiner Hand aus, deuten soll, muß ich sagen: was ich an dem Tier erfuhr, war das Andere, die ungeheure Anderheit des Anderen, die aber nicht fremd blieb, wie die von Ochs und Widder, die mich vielmehr ihr nahen, sie berühren ließ. Wenn ich über die mächtige, zuweilen verwunderlich glattgekämmte, zu andern Malen ebenso erstaunlich wilde Mähne strich und das Lebendige unter meiner Hand leben spürte, war es, als grenzte mir an die Haut das Element der Vitalität selber, etwas, das nicht ich, gar nicht ich war, gar nicht ich-vertraut, eben handgreiflich das Andere, nicht ein anderes bloß, wirklich das Andere selber, und mich doch heranließ, sich mir anvertraute, sich elementar mit mir auf Du und Du stellte. Der Schimmel hob, auch wenn ich nicht damit begonnen hatte, ihm Hafer in die Krippe zu schütten, sehr gelind den massigen Kopf, an dem sich die Ohren noch besonders regten, dann schnob er leise, wie ein Verschworner seinem Mitverschwornen ein nur diesem vernehmbar werden sollendes Signal gibt, und ich war bestätigt. Einmal aber – ich weiß nicht, was den Knaben anwandelte, jedenfalls war es kindlich genug – fiel mir

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über dem Streicheln ein, was für einen Spaß es mir doch mache, und ich fühlte plötzlich meine Hand. Das Spiel ging weiter wie sonst, aber etwas hatte sich geändert, es war nicht mehr Das. Und als ich tags darauf, nach einer reichen Futtergabe, meinem Freund den Nacken kraulte, hob er den Kopf nicht. Schon wenige Jahre später, wenn ich an den Vorfall zurückdachte, meinte ich nicht mehr, das Tier habe meinen Abfall gemerkt; damals aber erschien ich mir verurteilt.

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8 Philosophen In jener Frühzeit meines Lebens hat die Philosophie zu zwei Malen, in der Gestalt zweier Bücher, unmittelbar in meine Existenz eingegriffen, in meinem fünfzehnten und in meinem siebzehnten Jahr. Die beiden Vorgänge lassen sich in den Prozeß der Aneignung einer philosophischen Bildung, der sich insbesondre auf einer gründlichen Platon-Lektüre aufbaute, nicht einfügen. Es waren Vorgänge, die die Kontinuität, die Voraussetzung aller echten Bildungsarbeit, durchbrachen, katastrophale Vorgänge, – nur daß im ersten von ihnen die Philosophie der katastrophalen Situation lösend und helfend entgegentrat, wogegen sie im zweiten nicht bloß aufrührend wirkte, sondern mich in das Reich eines sublimen Rausches entführte, dem ich erst nach langer Zeit endgültig zu entrinnen vermochte, um auf den Weg zu einer Gewißheit des Wirklichen zu gelangen. Vom ersten dieser beiden Vorgänge habe ich anderwärts 1 erzählt, aber es muß mir daran liegen, einiges dort Berichtete stärker zu verdeutlichen. Es heißt an jener Stelle: »Es war damals eine mir unbegreifliche Nötigung über mich gekommen: ich mußte immer wieder versuchen, mir den Rand des Raums oder dessen Randlosigkeit, eine Zeit mit Anfang und Ende oder eine Zeit ohne Anfang und Ende vorzustellen, und beides war ebenso unmöglich, ebenso hoffnungslos, und doch schien mir nur die Wahl zwischen der einen und der anderen Absurdität offen.« Hier ist vor allem nachzutragen, daß mich damals die Frage nach der Zeit weitaus quälender als die nach dem Raum bedrängt hat. Ich wurde unwiderstehlich getrieben, den welthaften Gesamtablauf als faktisch fassen zu wollen, und das bedeutete, ihn, die »Zeit«, entweder als anfangend und endend oder als anfangs- und endlos zu verstehen. Beides erwies sich bei jedem Versuch, es als Wirklichkeit anzunehmen, gleicherweise als widersinnig. Ich mußte ja, wenn ich Ernst machen wollte (und eben dies zu wollen war ich immer wieder genötigt), mich entweder an den

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Beginn der Zeit oder an den Schluß der Zeit versetzen, und da bekam ich unverzüglich das Vorher wie einen Stoß in den Nacken und das Nachher wie einen Schlag gegen die Stirn zu spüren – nein, da ist kein Anfang und kein Ende! – oder aber ich mußte mich in jene oder diese Bodenlosigkeit, ins »Unendliche« werfen lassen, und nun verwirbelte alles. So begab es sich Mal um Mal. Mathematische oder physikalische Formeln hätten mir nicht helfen können; es ging um die Wirklichkeit der Welt, in der man zu leben hatte, und die hatte das Angesicht des Absurden und Unheimlichen angenommen. Da bekam ich das eine Buch in die Hand, Kants »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik«. Darin war gelehrt, Raum und Zeit seien »nichts weiter als formale Bedingungen unserer Sinnlichkeit«, seien »nicht wirkliche Beschaffenheiten, die den Dingen an sich selbst anhingen«, sondern »bloße Formen unserer sinnlichen Anschauung«. Diese Philosophie hat eine große beruhigende Wirkung auf mich ausgeübt. Ich brauchte nun nicht mehr, gepeinigt, der Zeit ein Letztes abzufragen zu suchen, sie war ja nicht über mich verhängt, sie war mein, denn sie war »unser«. Die Frage wurde für ihrem Wesen nach unlösbar erklärt, aber zugleich wurde ich von ihr, wurde ich vom Fragenmüssen befreit. Kants damaliges Geschenk an mich war die philosophische Freiheit. Etwa zwei Jahre danach bemächtigte sich meiner das andere Buch, das zwar ebenfalls das Werk eines Philosophen, aber kein philosophisches war: Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. Ich sage: »bemächtigte sich meiner«; denn hier trat mir nicht eine Lehre schlicht und gelassen gegenüber, sondern ein gewollter und gekonnter – großartig gewollter und großartig gekonnter – Vortrag stürzte auf mich zu und über mich her. Dieses Buch, vom Verfasser 2 als das größte Geschenk bezeichnet, das der Menschheit bisher gemacht worden sei, hat auf mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich loszumachen vermocht habe. Als »die Grundkonzeption« dieses Buches wollte Nietzsche selbst eine Deutung der Zeit verstanden haben: ihre Deutung als »ewige Wiederkehr des Gleichen«, das heißt: als eine unendliche Folge endlicher Abläufe, die einander in allem gleichen, so daß die Endphase des Ablaufs in seine eigene Anfangsphase übergeht. Diese von ihrem Verkünder als die abgründigste Lehre gepriesene Konzeption erweist sich dem kritischen Blick als der mit stets neuen Variationen durchgespielte Vortrag einer ekstatisch erlebten Denkmöglichkeit. Das »dionysische« Pathos hat sich hier keineswegs, wie Nietzsche schon früh im Sinn hatte, zum

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philosophischen gewandelt; es ist dionysisch geblieben, als dessen moderne Abart, von der Begeisterung des Dionysikers an den eigenen Höhen und Tiefen hervorgebracht. Kant hatte das sinnverwirrende Rätsel, das uns mit dem Sein der Zeit gestellt ist, nicht zu lösen unternommen; er hatte an ihm die philosophische Beschränkung vollzogen, indem er es zum Problem unseres eigenen Angewiesenseins auf die Zeitform machte. Nietzsche, der mit den philosophischen Selbstbescheidungen nichts zu tun haben wollte, setzte an die Stelle eines der Urgeheimnisse der Zeit, des offenbaren Geheimnisses der Einmaligkeit alles Geschehens, das Scheingeheimnis der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Am Geist des Siebzehnjährigen vollzog sich, wiewohl er diese Konzeption nicht annahm und nicht annehmen konnte, doch eine gleichsam negative Verführung. Wie er mir, nach so vielen Jahren, in der Erinnerung erscheint, hätte sich ihm von Kant her, der die Zeit als Form »unserer« Anschauung verstand, der Weg zum Fragen der Frage eröffnen können: »Wenn aber die Zeit nur eine Form ist, in der wir anschauen, wo sind ›wir‹ ? sind wir mitsamt der Zeit nicht sinngemäß im Zeitlosen? sind wir nicht in der Ewigkeit?« Damit ist freilich eine gänzlich andere Ewigkeit gemeint als die kreisartige, die Zarathustra als das »Fatum« liebt; die in sich unerfaßliche ist gemeint, die die Zeit aus sich entsendet und uns in das Verhältnis zu ihr setzt, das wir das Dasein nennen, und wer dies erkennt, dem zeigt die Wirklichkeit der Welt kein Angesicht des Absurden und Unheimlichen mehr: weil Ewigkeit ist. Daß mir der Zugang zu diesem Weg lang verschlossen blieb, ist zu einem nicht geringen Teil auf jene Berückung durch »Zarathustra« zurückzuführen 3.

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9 Wien Das erste Jahr der Universitätsstudien verbrachte ich in Wien, der Stadt meiner Geburt und frühesten Kindheit. Die losen, flächigen Erinnerungsbilder schienen aus dem großen körperhaften Zusammenhang wie Scheibchen einer magischen Laterne hervor, aber auch manche Gegend, die ich nicht gesehen haben konnte, sprach mich als ein Bekanntes an. Die heimatliche Fremde lehrte einen täglich, wiewohl in noch undeutlicher Sprache, daß man die Welt anzunehmen und sich von ihr annehmen zu lassen habe, sie nämlich sei bereit. Etwas fundierte sich damals, was in späteren Jahren durch keine der zeitalterlichen Problematiken hat umgegossen werden können.

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Die Vorlesungen jener zwei Semester, auch die bedeutender Gelehrten, haben auf mich nicht bestimmend eingewirkt. Nur etliche Seminare, in die ich vorzeitig eingetreten war, vielmehr das Seminar als solches übte sogleich einen starken Einfluß aus: der geregelte und doch freie Umgang zwischen Lehrer und Schülern, das gemeinsame Interpretieren von Texten, an dem der Meister zuweilen mit einer seltsamen Demut teilnahm, als erführe auch er eben jetzt etwas, und das mitunter von aller schulmäßigen Geläufigkeit befreite Tauschen von Frage und Antwort, all dies erschloß mir, intimer als irgendeins der gelesenen Bücher, die eigentliche Tatsache des Geistes, als eines »Zwischen«. Was aber am stärksten auf mich wirkte, war das Burgtheater, in das ich mich oft, zuweilen Tag um Tag, nach mehrstündigem »Anstellen« drei Treppen hoch stürzte, um einen Platz auf der obersten Galerie zu erbeuten. Wenn dann tief unten vor mir der Vorhang aufging und ich in die Ereignisse des dramatischen Agon als, wie spielhaft auch, dennoch jetzt und hier sich begebend blicken durfte, war es doch das Wort, das »richtig« gesprochene Menschenwort, was ich recht eigentlich in mich aufnahm. Die Sprache – hier erst, in dieser Welt der Fiktion aus Fiktion, gewann sie ihre Adäquatheit; gesteigert erschien sie wohl, aber zu sich selber. So war es jedoch nur so lange, bis etwa – was immerhin mitunter geschah – einer für ein Weilchen ins Rezitieren, ein »edles« Rezitieren, geriet; da zerbrach mir, mit der echten Gesprochenheit der Sprache, der dialogischen oder auch monologischen (sofern der Monolog eben ein Anreden der eigenen Person als eines Mitmenschen und keine Rezitation war), diese ganze, aus Überraschung und Gesetz geheimnisvoll gebaute Welt, – bis sie nach Augenblicken, mit der Wiederkehr des Gegenüber, neu erstand. Seither ist es manchmal vorgekommen, mitten in der Beiläufigkeit des Alltags, daß ich, etwa in einem Wirtshausgarten der Vorlandschaft Wiens sitzend, in dem vom Nachbartisch zu mir dringenden Streitgespräch zweier ausruhender Marktweiber über die sinkenden Preise, die Gesprochenheit der Sprache, das Laut werdende Einander vernahm. 10 Ein Vortrag

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Mein drittes Semester, während dessen ich das 20. Lebensjahr vollendete, verbrachte ich in Leipzig. Was dort am stärksten auf mich gewirkt hat, war zweifellos das Hören von Bachs Musik, und zwar Bachs Musik so gesungen und gespielt –

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dessen war ich damals gewiß und bin ich gewiß geblieben –, wie Bach selber wollte, daß sie gesungen und gespielt werde. Aber ich würde vergeblich zu sagen unternehmen, ja, ich kann es nicht einmal mir selbst klarmachen, auf welche Weise Bach mein Leben beeinflußt hat; offenbar wurde der Grundton meines Lebens irgendwie modifiziert und erst von da aus auch der Gedanke. Überhaupt bin ich außerstande, in diesen autobiographischen Fragmenten von so großen und geheimnisvollen Dingen zu berichten. Hingegen sei hier etwas Geringfügiges erzählt, das sich damals begab und, wie sich später herausstellte, nicht unwichtig war. Ich hatte seit einiger Zeit mich mit den Reden und Schriften Ferdinand Lassalles und auch mit seiner Biographie beschäftigt. Ich bewunderte an ihm die geistige Leidenschaft und die Bereitschaft, wie in dem öffentlichen so im persönlichen Leben die Existenz einzusetzen. Was an seiner Natur offenkundig problematisch war, fiel unter den Tisch; es ging mich eben nicht an. Als mich ein sozialistischer Verein, dessen Veranstaltungen ich ein paarmal besucht hatte, aufforderte, dort einen Vortrag zu halten, entschloß ich mich, über Lassalle zu sprechen und tat es. Der Vortrag, den ich hielt, war das Bild eines Heros nach dem Muster Carlyles. Ich zeigte ein Schicksal auf, das von Anbeginn tragisch angelegt war und dessen Tragik sich wie im Wege des Wortes – Scheitern des Unterfangens, eine neue Gesellschaft zu fundamentieren – so in dem des Lebens bis zu dem widersinnigen und doch symbolisch bedeutsamen Tode darstellte. Als ich geendet hatte, war der Beifall groß. Dann trat ein alter Mann auf mich zu. Er war, wie er mir sogleich berichtete, seines Zeichens Schneider und hatte in seiner Jugend dem engsten Kreise Lassalles angehört. Er ergriff meine Hand und hielt sie lange fest. Danach blickte er mich enthusiastisch an und sagte: »Ja! So, so ist er gewesen!« Ein fast zärtliches Gefühl wandelte mich an: »Wie gut ist das, so bestätigt zu werden!« Aber schon sprang mich jäh ein Schreck an und durchstieß die leichtfertige Freude: »Nein, sondern ich, ich bin der Bestätiger gewesen, der lügenhafte Bestätiger eines Idols!« Das wahre, das verhohlene, verstoßene Ergebnis meiner Lassalle-Studien offenbarte sich im Nu: das Wissen um den unbändigen Widerspruch, der in einem kühnen und eitlen Herzen gebrannt hatte und aus ihm in die Menschenwelt gestürzt war. Ich stammelte dem Schneider einen Gruß zu und entfloh. In den folgenden Wochen versuchte ich, mit höchst unzulänglichen Mitteln und dem gebührenden Mißerfolg, die zermalmte Heroenbüste durch eine Art von analytischer Darstellung zu ersetzen; diese erwies sich als eine nur scheinbar rechtmäßigere Simplifikation. Langsam, zaghaft,

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beharrlich wuchs die Einsicht in die Wirklichkeit menschlichen Daseins und in die spröde Möglichkeit, ihr gerecht zu werden. Bach half mir. 11 Sache und Person 5

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Es war am sechsten Zionisten-Kongreß, 1903, Theodor Herzl hatte seine fulminante Rede gegen die Opposition gehalten und darin auf die Kritik Davis Trietschs weniger mit sachlichen Argumenten als mit einer persönlichen Gegenkritik erwidert, in der er sich mit Trietschs eigner kolonisatorischer Tätigkeit befaßte. Der Haupthieb war ein Protokoll, das man mit einem »Opfer« dieser Tätigkeit aufgenommen hatte. Um es vorweg klarzustellen: der Hieb war – ganz abgesehen davon, daß er die Person statt der Sache treffen wollte – mit einem nicht korrekten Degen geführt worden: das »Opfer« war kein Opfer, und das Protokoll … nun, es war ein Protokoll. Herzl hatte seine Waffe optima fide geschwungen, daran hat nie ein Zweifel bestanden; aber er hatte sie sich vorher nicht genau genug angesehn. Nach der Rede zog er sich ins Präsidialzimmer zurück. Bald darauf begaben Berthold Feiwel und ich uns dahin, um ihn als Trietschs Freunde auf die Unhaltbarkeit seiner Beschuldigungen hinzuweisen und die Einsetzung eines Ausschusses zu deren Nachprüfung zu fordern. Auf dem kurzen Weg in den Präsidialraum war ich in einer tiefen Erregung. Ich hatte ja schon seit dem vorhergehenden Kongreß in entschiedener Opposition zu Herzl gestanden; aber die war ganz gegenständlich gewesen, an den Menschen zu glauben hatte ich nicht einen Augenblick aufgehört – nun zum erstenmal empörte sich meine Seele, und so gewaltsam, daß ich mich jetzt noch körperlich daran erinnere. Als ich jedoch das Zimmer betrat, verwandelte sich über dem Anblick, der mich traf, im Nu meine Erregung, das eben noch schütternde Herz erstarrte. Im Zimmer waren nur Herzl und seine Mutter. Frau Jeannette saß in einem Lehnstuhl, unbeweglich, stumm, aber Stirn und Augen von der lebendigsten Teilnahme überstrahlt, herrlich im Teilnehmen, wie ich es von meiner Großmutter her kannte. Herzl ging in großen Schritten durchs Zimmer, auf und nieder, wahrhaftig wie ein Löwe im Käfig. Seine Weste war aufgeknöpft, seine Brust hob und senkte sich, ich hatte nie geahnt, daß er, dessen Gebärden immer gemeistert und meisterlich waren, so wild atmen konnte. Seine Blässe fiel mir erst etwas später auf, so zuckte und brannte sein Blick. Sogleich war mir zwingend offenbar geworden: es war unmöglich, hier

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innerlich Vertreter einer Seite zu bleiben. Dort war ein Mensch, mein Freund und Mitkämpfer, wund, ein öffentliches Unrecht war ihm geschehen; aber hier war, der das Unrecht getan, die Wunde geschlagen hatte, ein Mensch, auch irregeführt noch mein Führer, eiferkrank, bis zur Selbstverzehrung eifernd für seinen Glauben. Für den Vierundzwanzigjährigen war das eine der ersten Stunden, in denen er den Boden der Tragödie betrat, wo das Rechthaben aufhört. Es gibt nur eins zu lernen, was noch größer ist: wie aus dem Grab des Rechthabens das Recht aufersteht. Aber das habe ich erst viel später gelernt. Unsre Aufgabe war innerlich unausführbar geworden; denn diesem Mann gegenüber hätte man im Grunde von »seiner Sache«, die er so lebte, nur an die – Wahrheit seiner Sache appellieren können, und wer hätte das vermocht? Aber selbstverständlich führten wir unseren Auftrag aus: wir wiesen hin, worauf hinzuweisen, forderten, was zu fordern wir befugt und verpflichtet waren. Herzl ging weiter die Stube auf und nieder, und es war nicht zu merken, ob er uns zuhörte. Ich sah zwischendurch seine Mutter an – ihr Gesicht hatte sich verdunkelt, es war etwas da, was mich erschreckte, ich wußte nicht, was es war, es war da. Plötzlich aber blieb Herzl vor uns stehen und redete uns an. Der Ton, in dem er redete, war durchaus nicht der, den man hätte erwarten mögen – es war ein leidenschaftlicher, aber lächelnder Ton, obgleich auf seinen Lippen kein Lächeln lag. »Noch ganz anders hätte ich ihn vorgenommen!« rief er, »noch ganz anders hätte ich ihn vorgenommen! Aber da hatte sich vor der Tribüne, unmittelbar mir gegenüber, ein Mädchen hingestellt – seine Braut, wie ich gehört habe –, die stand nun da und blitzte mich an mit diesen ihren Augen, – ich sage Ihnen: eine wunderbare Person! Da konnte ichs nicht.« Und nun lächelte auch sein Mund, wie befreit. Und wer hätte nicht mitgelächelt? Der Charmeur »Told« lächelte auf seine romantische Weise, ich vermutlich wie ein Schuljunge, der draufkommt, daß Horaz wirkliche Freunde und wirkliche Geliebte meinte, und auch die alte, nein, gar nicht alte Edeldame im Lehnstuhl hatte auf ihrem wieder erhellten Antlitz ein Lächeln stehn, wie ichs nur an den Jüdinnen jenes Geschlechts wahrgenommen habe – das Geheimnis dieses Lächelns ist verschollen. Zu entgegnen gab es nun nichts mehr. Die Unsachlichkeit des Angriffs mußte ja, von der Unsachlichkeit dieses Schonungsbekenntnisses beleuchtet, nur noch bedenklicher erscheinen. Und doch … ! Wir entledigten uns unsrer Aufgabe – es ging nun alles glatt, unpersönlich und hindernislos vonstatten – und verabschiedeten uns. Es war das letzte Mal, daß ich Herzl in solcher Nähe sah.

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Seither – noch nicht zunächst, da wollte ich dem Bild nicht nachsinnen, aber nachdem der »Bote«, dessen namenlose Gegenwart mich damals erschreckte, sein Werk getan hatte 4 – habe ich oft über jene Begebenheit nachgedacht. Wie stand denn nun eigentlich Herzl zu Sache und Person? Und wie ist das überhaupt, »Sache« und »Person«? Daß für Herzl seine Sache unablösbar mit seiner Person verknüpft war, hat sich etwa in seinem Kampf gegen Achad Haam 5, wo er uns Junge, die zu diesem hielten, aufforderte, uns »zur Bewegung zurückzufinden«, deutlich genug kundgegeben; und so ist es ja wohl bei den meisten geschichtlich agierenden Menschen. Seine Grundanschauung war sicherlich, daß es wenig Sinn habe, Prinzipien und Methoden zu diskutieren, da es letztlich nicht auf sie ankomme, sondern auf die Person, die mit ihrer Durchführung und Anwendung betraut ist, mit anderen Worten: die sich ihrer bedient, die mittels ihrer dient – wem dient? eben der Sache, die mit der Person unlösbar verknüpft ist? Wir geraten anscheinend in einen Zirkel. Aber betrachten wir das Problem von der anderen Seite, von der Seite des Volkes; denken wir etwa an Max Webers Auffassung, wonach die echte Demokratie darin besteht, einen Führer einzusetzen, dem man vertraut, und ihm Gefolgschaft zu leisten, solange er seinen Auftrag erfüllt, aber wenn er versagt, ihn zur Verantwortung zu ziehen, zu richten, abzusetzen, ja »an den Galgen mit ihm!« Die Sache also wäre so lange mit der Person verknüpft, als deren »Charisma«, mit Weber zu sprechen, d. h. deren führerische Mächtigkeit sich wirksam erweist. Von hier aus können wir Herzls Haltung zu seinen Kritikern verstehen, es ist die charismatische; darum antwortet er nicht: »Du hast unrecht, denn es verhält sich so und so«, sondern: »Du hast unrecht, denn du bist keiner, der es richtig machen kann, du hast das Charisma nicht.« Hat diese Auffassung aber recht oder unrecht? Mit einer der billigen, aus mediokrer Politik und mediokrer Moral gemischten Ideologien ist sie nicht abzutun. Die bisherige »Weltgeschichte« gibt ihr recht. Nur unsere Hoffnung auf ein anderes Führertum und ein anderes Geführtwerden, auf eine wirklich dialogische Beziehung zwischen beiden gibt ihr unrecht. Auf jeden Fall halten die Kategorien des Sachlichen und des Unsachlichen, die uns so geläufig waren, in Wahrheit dem Problem, das sich uns aufgetan hat, nicht stand. Aber die Braut mit den blitzenden Augen! Das ist denn doch wohl schlimme Unsachlichkeit?! Ich weiß nicht. Sollte nicht etwa durch diesen Eindruck, daß sein Gegner einen, sei’s auch nur einen, Menschen hatte, der so für ihn einstand, Herzl von der Frage angewandelt worden sein,

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ob es nicht doch noch eine andere Wirklichkeit gebe als die der offenbaren Weltgeschichte, eine verborgene, ohnmächtige, weil eben nicht zur Macht gelangte? und ob es nicht also wohl auch Berufene geben könne, die nicht zur Macht auserwählt worden sind und doch das Wesen von Berufenen haben? ob den Momenten, die die einen von den andern scheiden, nicht vielleicht übermäßiges Gewicht beigemessen werde? ob der Erfolg die einzige Beglaubigung sei? ob nicht den Menschen des Mißerfolgs zuweilen ein später, etwa posthumer, etwa auch noch anonymer, Sieg beschieden sei, den eben die Geschichte zu verzeichnen sich weigert? ja ob nicht, wo auch dies ausbleibt, dennoch zu diesen Preisgegebenen ein Ja und ein Segen gesprochen ist, ein Wort, das sie bestätigt? ob es nicht ein »dunkles« Charisma gibt? Der geschichtlich agierende Mensch läßt sich von solchen Fragen nicht übermannen, denn täte er das, müßte er ja verzweifeln und abtreten; aber die Augenblicke, in denen sie ihn berühren, sind die eigentlich religiösen Augenblicke seines Lebens.

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12 Der Zaddik In meiner Kindheit brachte ich jeden Sommer auf einem Gut in der Bukowina zu. Da nahm mich mein Vater zuweilen in das nahe Städtchen Sadagora mit. Sadagora war der Sitz einer Dynastie von »Zaddikim« (Zaddik: Gerechter, Bewährter, Vollkommener), das ist von chassidischen Rabbis. Die »Gebildeten« reden von »Wunderrabbis« und glauben Bescheid zu wissen. Aber sie wissen, wie es nun einmal den »Gebildeten« in solchen Dingen geht, nur um die äußerste Oberfläche Bescheid. Wohl ist die legendäre Größe der Ahnen in den Enkeln geschwunden, und etliche bemühen sich, durch allerlei kleine Magie ihre Macht zu bewahren; aber all ihr Treiben vermag das angeborene Leuchten ihrer Stirn nicht zu verdunkeln, die angeborene Erhabenheit ihrer Gestalt nicht zu verzerren: ihr unwillkürlicher Adel spricht zwingender als all ihre Willkür. Und wohl lebt in der heutigen Gemeinde nicht mehr jener hohe Glaube der ersten Chassidim, jene starke Hingabe der Ersten, die im Zaddik den vollkommenen Menschen ehrten, in dem das Unsterbliche seine sterbliche Erfüllung findet; vielmehr wenden sich die Späteren an ihn vornehmlich als an den Mittler, durch dessen Fürsprache sie Stillung ihres Bedürfens zu erlangen hoffen; aber es ist immer noch, ihrem niedern Wollen entrückt, ein Schauer urtiefer Ehrfurcht, der sie ergreift, wenn der »Rebbe« im stummen Gebet steht oder beim dritten

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Sabbatmahl in zögernder Rede das Geheimnis der Tora deutet. Auch in diesen Abgearteten glüht noch, im ungekannten Grund ihrer Seelen, das Wort des Rabbi Eleasar fort, um des vollkommenen Menschen (»Zaddik«) willen, und sei es um eines einzigen willen, sei die Welt erschaffen worden. Dies habe ich damals, als Kind, in dem schmutzigen Städtchen Sadagora von der »finstern« chassidischen Masse, der ich zusah, erfahren – wie ein Kind solche Dinge erfährt, nicht als Gedanken, sondern als Bild und Gefühl: daß es der Welt um den vollkommenen Menschen zu tun ist und daß der vollkommene Mensch kein anderer ist als der wahrhafte Helfer. Wohl wird der Zaddik jetzt wesentlich um Hilfe in recht irdischen Nöten angegangen; aber ist er nicht trotzdem der Möglichkeit nach immer noch, als was er einst gedacht und eingesetzt worden ist: der Helfer im Geist, der Lehrer des Weltsinns, der Führer zu den göttlichen Funken? Wohl ist die ihm anvertraute Macht von den Gläubigen mißdeutet, von ihm selber mißbraucht worden; aber ist sie nicht im Grunde eine legitime, die legitime Macht, diese Macht der hilfreichen Seele über die bedürftigen, liegt in ihr nicht der Keim künftiger Ordnungen? Im Jahr 1910 oder 1911, wieder in der Bukowina, unweit von Sadagora, nämlich in der Landeshauptstadt Czernowitz, ging ich nach einem Vortrag, den ich dort gehalten hatte, mit einigen Mitgliedern der Studentenverbindung, von der der Abend veranstaltet worden war, in ein Kaffeehaus, um, wie es mir lieb war, der Rede vor vielen, deren Form keine Gegenrede gestattet, ein Gespräch mit wenigen folgen zu lassen, wo die Anschauung sich im Eingehen auf Einwand und Frage unmittelbar darlegt und Persönliches auf Persönliches wirkt. Wir erörterten gerade ein moralphilosophisches Thema, als an unseren Tisch ein gutgewachsener, bürgerlich blickender Jude in mittleren Jahren trat und mich begrüßte. Meinen wohl ein wenig fremden Gegengruß beantwortete er durch die eines leichten Vorwurfs nicht entbehrenden Worte: »Herr Doktor! Sie erkennen mich nicht?« Als ich verneinen mußte, stellte er sich mir als M., den Bruder eines früheren Ökonomen meines Vaters, vor. Ich forderte ihn auf, sich zu uns zu setzen, ließ mich über seine Lebensumstände unterrichten und nahm sodann das Gespräch mit den jungen Leuten wieder auf. M. lauschte der Erörterung, die eben eine Wendung zu etwas abstrakten Formulierungen genommen hatte, mit gespannter Aufmerksamkeit. Es war offenbar, daß er kein Wort verstand; die Andacht, mit der er jedes aufnahm, glich der von Gläubigen, die den Inhalt einer Litanei nicht zu kennen brauchen, da ihnen die Fügung der Laute und Töne allein alles gibt, dessen sie bedürfen, und

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mehr, als irgendein Inhalt vermöchte. Nach einer Weile fragte ich ihn dennoch, ob er mir vielleicht etwas zu sagen hätte; ich würde gern mit ihm beiseite gehen und seine Angelegenheit besprechen. Er wehrte heftig ab. Das Gespräch setzte wieder ein und mit ihm M.s Lauschen. Als eine weitere halbe Stunde verstrichen war, befragte ich ihn von neuem, ob er nicht etwa einen Wunsch habe, den ich ihm erfüllen könnte; er dürfe auf mich rechnen. Nein, nein, er habe keinen Wunsch, versicherte er. Es war spät geworden; aber ich fühlte mich, wie es einem in solchen Stunden lebhafter Wechselwirkung geschieht, nicht müde, vielmehr frischer als zuvor, und beschloß, mit den jungen Leuten einen Spaziergang zu machen. In diesem Augenblick näherte M. sich mir mit einer unsäglich schüchternen Gebärde. »Herr Doktor«, sagte er, »ich möchte Sie etwas fragen.« Ich bat die Studenten zu warten und setzte mich mit ihm an einen Tisch. Er schwieg. »Fragen Sie nur, Herr M.«, sprach ich ihm zu; »ich will Ihnen gern, so gut ich kann, Auskunft geben.« »Herr Doktor«, sagte er, »ich habe eine Tochter.« Er hielt inne; dann fuhr er fort: »Und ich habe auch einen jungen Mann für meine Tochter.« Wieder eine Pause. »Es ist ein Jurist. Er hat die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden.« Er hielt wieder inne, diesmal etwas länger. Ich sah ihn aufmunternd an; ich vermutete, er wolle mich ersuchen, mich für den künftigen Eidam irgendwie zu verwenden. »Herr Doktor«, fragte er, »ist das ein ordentlicher Mensch?« Ich war überrascht, fühlte aber, daß ich eine Antwort nicht verweigern durfte. »Nun, Herr M.«, erklärte ich, »nach dem, was Sie sagen, ist wohl anzunehmen, daß er fleißig und tüchtig ist.« Doch er fragte weiter. »Herr Doktor«, sagte er, »ist er aber auch ein ›guter Kopf‹ ?« – »Das ist schon schwerer zu beantworten«, erwiderte ich; »aber immerhin wird er’s mit Fleiß allein nicht geschafft haben, er dürfte also wohl auch was im Kopf haben.« Noch einmal hielt M. inne; dann fragte er, offenbar als Letztes: »Herr Doktor, soll er nun zum Gericht oder zu einem Advokaten gehen?« – »Darüber kann ich Ihnen nicht Auskunft geben«, antwortete ich; »ich kenne ja den jungen Mann nicht, und auch wenn ich ihn kennte, würde ich ihn in diesem Punkte kaum zu beraten vermögen.« Da aber sah mich M. mit einem fast schwermütig verzichtenden, halb klagenden, halb begreifenden Blick an und sprach in einem unbeschreiblichen, aus Betrübnis und Demut gemischten Ton: »Herr Doktor, Sie wollen nicht sagen – nun, ich danke Ihnen dafür, was Sie mir gesagt haben.« Als Kind hatte ich ein Bild des Zaddiks empfangen und durch die befleckte Wirklichkeit hindurch die reine Idee, die Idee des wahrhaften Führers einer wahrhaften Gemeinde zu ahnen bekommen. Zwischen Jugend und Mannesalter war mir dann aus der Erkenntnis der chassi-

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dischen Lehre diese Idee als die des vollkommenen, Gott in der Welt verwirklichenden Menschen aufgegangen. Jetzt aber erblickte ich im Schein des scherzhaften Ereignisses die führende Funktion dieses Menschen in meiner inneren Erfahrung. Ich, wahrlich kein Zaddik, kein in Gott gesicherter, sondern ein vor Gott gefährdeter, ein immer neu um Gottes Licht ringender und immer neu an Gottes Abgründen vergehender Mensch, erlebte, nach Trivialem befragt und Triviales entgegnend, dennoch den wahren Zaddik, den nach Offenbarendem Befragten und Offenbarendes Entgegnenden, von innen – damals zum erstenmal. Ich erlebte ihn in dem Grundverhalten seiner Seele zur Welt: in seiner Verantwortung. 13 Der Stab und der Baum

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Nach einem Abstieg, zu dem ich ohne Rast das Spätlicht eines vergehenden Tages hatte nutzen müssen, stand ich am Rande einer Wiese, nun des sicheren Weges gewiß, und ließ die Dämmerung auf mich niederkommen. Unbedürftig einer Stütze und doch willens, meinem Verweilen eine Bindung zu gewähren, drückte ich meinen Stab gegen einen Eichenstamm. Da fühlte ich zwiefach meine Berührung des Wesens: hier, wo ich das Holz hielt, und dort, wo es die Rinde traf. Scheinbar nur bei mir, fand ich dennoch dort, wo ich den Baum fand, mich selber. Damals erschien mir das Gespräch. Denn wie jener Stab ist die Rede des Menschen, wo immer sie echte Rede, und das heißt: wahrhaft hingewandte Anrede ist. Hier, wo ich bin, wo Ganglien und Sprachwerkzeuge mir helfen, das Wort zu formen und zu entsenden, hier »meine« ich ihn, an den ich es entsende, ich intendiere ihn, diesen einen unverwechselbaren Menschen. Aber auch dorthin, wo er ist, ward etwas von mir delegiert, etwas, das gar nicht substanzartig ist wie jenes Beimirsein, sondern reine Vibration und ungreifbar; das weilt dort, bei ihm, dem von mir gemeinten Menschen, und nimmt teil am Empfangen meines Wortes. Ich umfasse ihn, zu dem ich mich wende. 14 Frage und Antwort

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Es war im Mai des Jahres 1914 (wir lebten, meine Frau und ich und unsere beiden Kinder, nun schon etwa 8 Jahre in einem Vorort von Berlin),

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als Reverend Hechler, den ich lange Zeit nicht gesehen hatte, bei mir anrief: er sei gerade in Berlin und würde mich gern aufsuchen. Bald danach kam er. Ich hatte Hechler im Herbst 1899 im Eisenbahnwagen kennengelernt. Der viel ältere Mann begann ein Gespräch mit mir, in dem wir bald erfuhren, daß wir Gesinnungsfreunde waren: er stand als in einem aktualen eschatologischen Glauben lebender Christ der zionistischen Bewegung nah, der ich seit kurzem angehörte. Die Rückkehr des jüdischen Volkes in seine Heimat war ihm die verheißene Voraussetzung für die Wiederkehr Christi. Er reiste gerade zum Großherzog von Baden, mit dem er einige Zeit vorher Theodor Herzl, den Führer der Bewegung, in deren Interesse bekannt gemacht hatte. Er war Prinzenerzieher gewesen und wurde an manchen europäischen Höfen hoch geschätzt. Der Gang des Gesprächs brachte es mit sich, daß ich Hechler das Manuskript eines kurz vorher von mir verfaßten Hymnus auf das erwachende jüdische Volk übergab, der ihn (völlig unbegründeterweise) so begeisterte, daß er erklärte, ihn dem Großherzog vorlesen zu müssen. Er hat bald danach nicht bloß dies getan, sondern hat das fragwürdige Opusculum ohne mein Wissen veröffentlicht. Als ich Hechler die Tür meiner Berliner Wohnung öffnete, fiel mir auf, wie gealtert, aber auch, wie aufrecht er war. Nach der warmen gegenseitigen Begrüßung holte er aus einer der Riesentaschen seines Havelocks ein in blauweißes Tuch gehülltes Konvolut hervor und aus ihm zunächst das Manuskript samt Korrekturabzug jenes Gedichts von 1899, dann aber ein großes Blatt, das er langsam entfaltete. Es war eine graphische Darstellung der Weissagung Daniels, auf der er mir, gleichsam auf einer Landkarte der Geschichtszeit, den genauen Punkt bezeichnete, an dem wir uns eben jetzt befänden. Dann fügte er erläuternd hinzu: »Lieber Freund! Ich komme von Athen (er war früher unter anderem Erzieher griechischer Prinzen gewesen). Ich habe an der Stelle gestanden, wo Paulus zu den Athenern vom unbekannten Gott sprach. Und jetzt komme ich zu Ihnen, um Ihnen zu sagen, daß in diesem Jahr der Weltkrieg ausbrechen wird.« Die Gewißheit, die sich in diesem Satz äußerte, stammte, wie ich erst später verstanden habe, aus einer eigentümlichen Verschmelzung von Sphären: die gläubige Daniel-Deutung war von der an den Höfen Europas herzugeströmten Materie durchsetzt und konkretisiert worden, ohne daß eine Kenntnis dessen, was sich so in der Tiefe der Seele begab, ins Bewußtsein gedrungen wäre. Was mich aber in dem ausgesprochenen Satz am stärksten traf, war das Wort »Weltkrieg«, das ich damals zum ersten Mal hörte. Was war das – so fragte ich mich, wiewohl noch keines-

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wegs deutlich genug – für ein »Krieg«, der die »Welt« umgriff? Offenbar doch etwas wesentlich anderes als was man bisher »Krieg« genannt hatte! Von jener Stunde datiert bei mir die fortan wachsende Ahnung, die Geschichtszeit der »Kriege« sei vorüber, und etwas anderes, nur scheinbar Gleichartiges, aber immer differenter und monströser Werdendes schikke sich an, die Geschichte und mit ihr den Menschen zu verschlingen. Hechler blieb noch einige Stunden bei uns. Dann begleitete ich ihn zum Bahnhof. Um dahin zu kommen, ging man zuerst die kleine Straße der »Kolonie«, in der wir wohnten, zu Ende und dann einen schmalen kohlenstaubbedeckten Weg, den sogenannten »schwarzen Weg«, am Bahngeleis entlang. Als wir an der Ecke der Koloniestraße und dieses Wegs angelangt waren, blieb Hechler stehn, legte mir die Hand auf die Schulter und sprach: »Lieber Freund! Wir leben in einer großen Zeit. Sagen Sie mir: Glauben Sie an Gott?« Es dauerte eine Weile, ehe ich antwortete, dann beruhigte ich den alten Mann, so gut ich konnte: er brauche sich in diesem Belange um mich keine Sorge zu machen. Hierauf brachte ich ihn zum Bahnhof und setzte ihn in seinen Zug. Als ich aber nun heimging und wieder an jene Ecke kam, wo der schwarze Weg in unsere Straße mündete, blieb ich stehn. Ich mußte mich bis auf den Grund besinnen. Hatte ich die Wahrheit gesagt? »Glaubte« ich an den Gott, den Hechler meinte? Wie verhielt es sich mit mir? Lange stand ich an der Ecke, entschlossen, nicht weiter zu gehen, ehe ich die rechte Antwort gefunden hatte. Plötzlich erhob sie sich mir im Geist, da wo sich je und je die Sprache bildet, erhob sich, ohne von mir zusammengesetzt worden zu sein, Wort für Wort ausgeprägt. »Wenn an Gott glauben«, so hieß es, »bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott«. Und nach einer Weile weiter: »Der Gott, der diese Stunde der Menschengeschichte, diese Stunde da vor dem ›Weltkrieg‹, Daniel so vorzuwissen gibt, daß der ihren festen Platz im Zug der Zeiten bestimmen kann, ist nicht mein Gott und nicht Gott. Der Gott, zu dem Daniel in seinem Leid betet, ist mein und aller Gott«. Noch lange stand ich an der Ecke des schwarzen Wegs und überließ mich, nunmehr jenseits der Sprache, der Klärung, die begonnen hatte.

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15 Eine Bekehrung In jüngeren Jahren war mir das »Religiöse« die Ausnahme. Es gab Stunden, die aus dem Gang der Dinge herausgenommen wurden. Die feste Schale des Alltags wurde irgendwoher durchlöchert. Da versagte die zuverlässige Stetigkeit der Erscheinungen; der Überfall, der geschah, sprengte ihr Gesetz. Die »religiöse Erfahrung« war die Erfahrung einer Anderheit, die in den Zusammenhang des Lebens nicht einstand. Das konnte mit etwas Geläufigem beginnen, mit der Betrachtung irgendeines vertrauten Gegenstands, der dann aber unversehens und unheimlich wurde, zuletzt durchsichtig in die Finsternis des Geheimnisses selber mit ihren Blitzen. Doch konnte auch ganz unvermittelt die Zeit zerreißen, – erst der feste Weltbau, danach die noch festere Selbstgewißheit versprühte, und man, das wesenlose Man, das man nur noch war, das man nicht mehr wußte, wurde der Fülle ausgeliefert. Das »Religiöse« hob einen heraus. Drüben war nun die gewohnte Existenz mit ihren Geschäften, hier aber waltete Entrückung, Erleuchtung, Verzückung, zeitlos, folgelos. Das eigene Dasein umschloß also ein Dies- und ein Jenseits, und es gab kein Band außer jeweils dem tatsächlichen Augenblick des Übergangs. Die Unrechtmäßigkeit einer solchen Aufteilung des auf Tod und Ewigkeit zuströmenden Zeitlebens, das sich ihnen gegenüber nicht anders erfüllen kann, als wenn es eben seine Zeitlichkeit erfüllt, ist mir durch ein Ereignis des Alltags aufgegangen, ein richtendes Ereignis, richtend mit jenem Spruch geschlossener Lippen und unbewegten Blicks, wie ihn der gängige Gang der Dinge zu fällen liebt. Es ereignete sich nichts weiter, als daß ich einmal, an einem Vormittag nach einem Morgen »religiöser« Begeisterung, den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich behandelte ihn nicht nachlässiger als alle seine Altersgenossen, die mich um diese Tageszeit wie ein Orakel, das mit sich reden läßt, aufzusuchen pflegten, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später, nicht lange darauf, von einem seiner Freunde – er selber lebte schon nicht mehr (er fiel zu Anfang des ersten Weltkriegs) – ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, daß er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Men-

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schen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, daß es ihn dennoch gibt, den Sinn. Seither habe ich jenes »Religiöse«, das nichts als Ausnahme ist, Herausnahme, Heraustritt, Ekstasis, aufgegeben oder es hat mich aufgegeben. Ich besitze nichts mehr als den Alltag, aus dem ich nie genommen werde. Das Geheimnis tut sich nicht mehr auf, es hat sich entzogen oder es hat hier Wohnung genommen, wo sich alles begibt, wie es sich begibt. Ich kenne keine Fülle mehr als die jeder sterblichen Stunde an Anspruch und Verantwortung. Weit entfernt davon, ihr gewachsen zu sein, weiß ich doch, daß ich im Anspruch angesprochen werde und in der Verantwortung antworten darf, und weiß, wer spricht und Antwort heischt. Viel mehr weiß ich nicht. Wenn das Religion ist, so ist sie einfach alles, das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache. Hier ist Raum auch für ihre höchsten Gestalten. Wie wenn du betest und dich damit nicht von diesem deinem Leben entfernst, sondern eben dieses Leben meinst du betend, und sei es auch nur: es herzugeben, so auch im Unerhörten und Überfallenden, wenn du von Oben angerufen wirst, angefordert, erwählt, ermächtigt, gesandt: du mit diesem deinem sterblichen Stück Leben bist gemeint, dieser Augenblick ist nicht davon herausgenommen, er lehnt sich ans Gewesene an und winkt dem noch zu lebenden Rest, du wirst nicht in einer unverbindlichen Fülle verschlungen, du wirst gewollt für die Verbundenheit. 16 Bericht von zwei Gesprächen

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An drei aufeinanderfolgenden Abenden sprach ich in der Volkshochschule einer mitteldeutschen Industriestadt über den Gegenstand »Religion als Wirklichkeit«. Was ich damit meinte, war eine einfache Feststellung: daß »Glaube« nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit, ohne Abstrich und Verkürzung. Diese Feststellung ist einfach; aber sie widerspricht der Denkgewohnheit. Und so bedurfte es, um sie deutlich zu machen, dreier Abende, und zwar nicht bloß dreier Vorträge, sondern auch noch dreier Aussprachen, die auf sie folgten. Bei diesen Aussprachen fiel mir etwas auf und war mir beschwerlich. Einen großen Teil der Hörerschaft machten ersichtlich Arbeiter aus; aber keiner von ihnen ergriff das Wort. Die Redenden, die Fragen, Zweifel, Bedenken vorbrachten, waren zumeist Studenten (denn die Stadt hat eine berühmte alte Universität), doch auch allerlei andere Kreise waren vertreten; nur die

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Arbeiter schwiegen. Erst am Schluß des dritten Abends klärte sich der mir schon schmerzlich gewordene Umstand auf. Ein junger Arbeiter trat auf mich zu und sagte: »Wissen Sie, wir mögen da so mitten drin nicht reden; aber wenn Sie sich morgen mit uns zusammensetzen wollen, könnten wir das Ganze mal miteinander besprechen.« Selbstverständlich stimmte ich zu. Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Mittagessen kam ich an den vereinbarten Ort, und nun redeten wir miteinander wohl bis an den Abend. Unter den Arbeitern war einer, ein nicht mehr junger Mann, den ich immer wieder ansehn mußte, weil er zuhörte wie einer, der wirklich hören will. Das ist nämlich selten geworden, und am ehesten noch unter Arbeitern zu finden, denen es ja nicht um die redende Person zu tun ist, wie dem bürgerlichen Publikum so oft, sondern um das, was sie zu sagen hat. Zu dem Mann gehörte ein kurioses Gesicht. Auf einem altflämischen Altarbild, das die Anbetung der Hirten darstellt, hat einer von ihnen solch ein Gesicht; der streckt die Arme der Krippe entgegen. Der Mann mir gegenüber sah nicht so aus, als ob er zu dergleichen Lust hätte, auch sein Gesicht war nicht aufgeschlossen wie das auf dem Bild; aber anzumerken war ihm, daß er hörte und bedachte, beides auf eine ebenso langsame wie nachdrückliche Weise. Schließlich tat auch er die Lippen auf: »Ich habe«, erklärte er langsam und nachdrücklich, eine Wendung wiederholend, die der Astronom Laplace, der Mitschöpfer der Kant-Laplaceschen Weltentstehungstheorie, im Gespräch mit Napoleon gebraucht haben soll, »die Erfahrung gemacht, daß ich diese Hypothese ›Gott‹ nicht brauche, um mich in der Welt auszukennen«. Er sprach das Wort »Hypothese« so aus, als hätte er die Vorlesungen des bedeutenden Naturforschers besucht, der in dieser Industrie- und Universitätsstadt gelehrt hatte und kurz vorher, fünfundachtzigjährig, gestorben war; der mochte wohl, wenn er nicht Zoologie, sondern Weltanschauung trieb, in ähnlichem Tonfall reden, wiewohl er die Bezeichnung »Gott« für seine Idee von der Natur nicht verschmähte. Der knappe Spruch des Mannes traf mich; ich fühlte mich tiefer als von den andern angefordert, herausgefordert. Bisher hatten wir zwar sehr ernst, aber auf eine etwas lockere Weise verhandelt; nun war alles auf einmal streng und hart geworden. Von woher sollte ich dem Mann antworten, damit ihm geantwortet sei? Ich überlegte eine Weile in dieser streng gewordenen Luft. Es ergab sich mir, daß ich von seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung aus die Sicherheit erschüttern mußte, mit der er an eine »Welt« dachte, in der man »sich auskennt«. Was war das für eine Welt? Was wir Welt zu nennen pflegen, die Welt, in der es Zinnoberrot und Grasgrün, D-Dur und H-Moll, Apfel- und Wermut-

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geschmack gibt, die »Sinnenwelt« – war sie etwas andres als das Ergebnis des Zusammentreffens unsrer eigentümlich beschaffenen Sinne mit jenen unvorstellbaren Vorgängen, um deren Wesensbestimmung die Physik sich je und je vergeblich bemüht? Das Rot, das wir sahen, war weder dort, in den »Dingen«, noch hier, in den »Seelen« – aus dem Aneinandergeraten beider schlug es jeweils auf und leuchtete so lange, als eben ein rotempfindendes Auge und eine roterzeugende »Schwingung« sich einander gegenüber befanden. Wo blieb die Welt und ihre Sicherheit? Die unbekannten »Objekte« dort, die scheinbar so bekannten und doch unerfaßlichen »Subjekte« hier, und beider so wirkliche und doch so hinschwindende Begegnung, die »Erscheinungen« – waren das nicht schon drei Welten, die gar nicht mehr von einer einzigen zu umgreifen waren? Was war der »Ort«, in dem wir uns diese voreinander so abgehobnen Welten miteinander zu denken vermochten, was war das Sein, das dieser so fragwürdig gewordenen »Welt« ihren Halt gab? Als ich zu Ende war, waltete in dem nun dämmernden Raum ein hartes Schweigen. Dann hob der Mann mit dem Hirtengesicht die schweren Lider, die die Zeit über gesenkt geblieben waren, zu mir und sagte langsam und nachdrücklich: »Sie haben recht.« Bestürzt saß ich ihm gegenüber. Was hatte ich getan? Ich hatte den Mann an die Schwelle des Gemachs geführt, in dem das majestätische Gebild thront, das der große Physiker, der große Gläubige Pascal den Gott der Philosophen nennt. Hatte ich das gewollt? War der, zu dem ich ihn hinführen wollte, nicht der andere, der, den Pascal den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennt, der, zu dem man du sagen kann? Es dämmerte, es war spät. Am nächsten Morgen mußte ich abreisen. Ich konnte nicht, wie ich nun hätte eigentlich tun müssen, dableiben, in die Fabrik eintreten, wo der Mann arbeitete, sein Kamerad werden, mit ihm leben, sein lebensmäßiges Vertrauen gewinnen, ihm helfen, gemeinsam mit mir den Weg der Kreatur zu gehen, die die Schöpfung annimmt. Ich konnte nur noch seinen Blick erwidern. Einige Zeit danach war ich bei einem edlen alten Denker zu Gast. Ich hatte ihn einst bei einer Tagung kennengelernt, bei der er einen Vortrag über die Volksschule und ich einen über die Volkshochschule hielt; das brachte uns zusammen; denn wir waren einig darin, daß man das Wort »Volk« beidemal im gleichen umfassenden Sinn zu verstehen habe. Damals hatte es mich freudig überrascht, wie der Mann mit den stahlgrauen Locken uns zu Beginn seiner Rede ersuchte, alles zu vergessen, was wir von seinen Büchern her über seine Philosophie zu wissen glaubten: in den letzten Jahren – und das waren Kriegsjahre gewesen – sei ihm die

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Wirklichkeit so nah gerückt, daß er alles habe neu besehen und dann eben auch neu bedenken müssen. Altsein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt; dieser alte Mann hatte es vielleicht gar im Alter erst gründlich erlernt; er tat gar nicht jung, er war wirklich so alt wie er war, aber auf eine junge, anfangskundige Weise. Er lebte in einer andern, westlicher gelegenen Universitätsstadt. Als mich die dortige Theologenschaft einlud, zu ihr über Prophetie zu sprechen, wohnte ich bei dem alten Mann. Es war ein guter Geist in seinem Haus: der Geist, der ins Leben will und dem Leben nicht vorschreibt, wo es ihn einlassen soll. An einem Morgen stand ich früh auf, um Korrektur zu lesen. Am Abend vorher hatte ich Bürstenabzüge der Vorrede eines Buches von mir bekommen, und da diese Vorrede ein Bekenntnis war 6, wollte ich sie recht sorgfältig noch einmal lesen, ehe sie gedruckt wurde. Nun nahm ich sie in das Arbeitszimmer hinunter, das mir für den Fall, daß ich es brauchen würde, angeboten war. Hier aber saß schon der alte Mann an seinem Schreibtisch. Unmittelbar an den Gruß knüpfte er die Frage, was ich da in der Hand hätte, und als ich es ihm sagte, fragte er weiter, ob ich ihm nicht vorlesen wolle. Ich tat es gern. Er hörte freundlich, aber offenbar erstaunt, ja mit wachsendem Befremden zu. Als ich zu Ende war, sagte er zögernd, dann, von dem gewichtigen Anliegen hingerissen, immer leidenschaftlicher: »Wie bringen Sie das fertig, so Mal um Mal ›Gott‹ zu sagen? Wie können Sie erwarten, daß Ihre Leser das Wort in der Bedeutung aufnehmen, in der Sie es aufgenommen wissen wollen? Was Sie damit meinen, ist doch über alles menschliche Greifen und Begreifen erhoben, eben dieses Erhobensein meinen Sie; aber indem Sie es aussprechen, werfen Sie es dem menschlichen Zugriff hin. Welches Wort der Menschensprache ist so mißbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! All das schuldlose Blut, das um es vergossen wurde, hat ihm seinen Glanz geraubt. All die Ungerechtigkeit, die zu decken es herhalten mußte, hat ihm sein Gepräge verwischt. Wenn ich das Höchste ›Gott‹ nennen höre, kommt mir das zuweilen wie eine Lästerung vor.« Die kindlich klaren Augen flammten. Die Stimme selber flammte. Dann saßen wir eine Weile schweigend einander gegenüber. Die Stube lag in der fließenden Helle des Frühmorgens. Mir war es, als zöge aus dem Licht eine Kraft in mich ein. Was ich nun entgegnete, kann ich heute nicht wiedergeben, nur noch andeuten. »Ja«, sagte ich etwa, »es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geäng-

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stigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelndsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, den die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen meinen. Gewiß, sie zeichnen Fratzen und schreiben ›Gott‹ darunter; sie morden einander und sagen ›in Gottes Namen‹. Aber wenn aller Wahn und Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüberstehn im einsamsten Dunkel und nicht mehr ›Er, er‹ sagen, sondern ›Du, Du‹ seufzen, ›Du‹ schreien, sie alle das Eine, und wenn sie dann hinzufügen ›Gott‹, ist es nicht der wirkliche Gott, den sie alle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder? Ist nicht er es, der sie hört? Der sie – erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort ›Gott‹, das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen Menschensprachen geweiht für alle Zeiten? Wir müssen die achten, die es verpönen, weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug auflehnen, die sich so gern auf die Ermächtigung durch ›Gott‹ berufen; aber wir dürfen es nicht preisgeben. Wie gut läßt es sich verstehen, daß manche vorschlagen, eine Zeit über von den ›letzten Dingen‹ zu schweigen, damit die mißbrauchten Worte erlöst werden! Aber so sind sie nicht zu erlösen. Wir können das Wort ›Gott‹ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganz machen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.« Es war sehr hell geworden in der Stube. Das Licht floß nicht mehr, es war da. Der alte Mann stand auf, kam auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und sprach: »Wir wollen uns du sagen.« Das Gespräch war vollendet. Denn wo zwei wahrhaft beisammen sind, sind sie es im Namen Gottes. 17 Samuel und Agag Ich traf einst auf einer Reise mit einem Mann zusammen, den ich schon von einer früheren Begegnung her kannte. Es war ein gesetzestreuer Ju-

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de, der in allen Einzelheiten seiner Lebensgestaltung der religiösen Überlieferung folgte; das für mich Wesentliche aber war, daß (wie mir schon bei jener ersten Begegnung unverkennbar deutlich geworden war) dieses Verhältnis zur Tradition seinen Ursprung und seine stets erneute Bestätigung in dem Verhältnis des Mannes zu Gott hatte. Als ich ihn nun wiedersah, fügte es sich, daß wir in ein Gespräch über biblische Fragen gerieten, und zwar nicht über periphere, sondern über zentrale, über zentrale Glaubensfragen. Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Zusammenhang wir auf jenen Abschnitt des Samuelbuches zu sprechen kamen, in dem erzählt wird, wie Samuel König Saul die Botschaft Gottes überbringt, die dynastische Herrschaft werde ihm entzogen, unter anderem deshalb, weil er den besiegten Amalekiterfürsten am Leben ließ. Ich berichtete meinem Gesprächspartner, wie furchtbar es mir schon in meiner Knabenzeit gewesen ist, diese als Botschaft Gottes erscheinenden Worte zu lesen (und mein Herz nötigte mich, sie immer wieder zu lesen oder auch nur daran zu denken, daß dies in der Schrift geschrieben steht); wie grauenerregend es mir schon damals war, zu lesen oder zu erinnern, wie der heidnische König, mit dem Spruch auf den Lippen »Sei’s drum, schon wich des Todes Bitterkeit« auf den Propheten zugeht, um von ihm »zerhauen« zu werden. Ich sagte zu meinem Partner: »Ich habe es nie glauben können, daß dies eine Botschaft Gottes sei. Ich glaube es nicht«. Unter gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Brauen flammte der Blick des Mannes, der mir gegenüber saß, mir in die Augen. Er schwieg, setzte zur Rede an, schwieg wieder. »So?« brachte er endlich hervor, »so? Also das glauben Sie nicht?« »Nein«, antwortete ich, »ich glaube es nicht«. »So? so? Sie glauben es nicht?« wiederholte er fast drohend. Und ich noch einmal: »Nein«. »Was … was …,« – er stieß das Wort Mal um Mal vor sich her – »was glauben Sie also?« »Ich glaube«, sagte ich ohne zu überlegen, »daß Samuel Gott mißverstanden hat«. Und er, wieder langsam, aber leiser als bisher: »So? das glauben Sie?« Und ich: »Ja«. Dann schwiegen wir beide. Nun aber begab sich etwas, dessengleichen ich vorher und nachher in diesem meinem langen Leben nur selten gesehen habe. Das zornige Gesicht mir gegenüber wandelte sich, wie wenn eine Hand beschwichtigend drüber gefahren wäre. Es erhellte sich, klärte sich, war nun hell und klar mir zugewandt. »Nun«, sagte der Mann mit einer geradezu sanften Deutlichkeit, »das meine ich auch«. Und wieder schwiegen wir beide, eine gute Weile lang. Es ist am Ende nichts Erstaunliches, daß ein gesetzestreuer Mann dieser Art, wenn er zwischen Gott und der Bibel zu wählen hat, Gott wählt: den Gott, an den er glaubt, den, an den er zu glauben vermag. Und doch:

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es schien mir damals bedeutsam und scheint es mir noch heute. Der Mann ist später nach dem Lande Israel gezogen, und hier bin ich ihm, einige Zeit vor seinem Tode, noch einmal begegnet. Naturgemäß sah ich ihn da als den Sprecher jener Worte von einst; aber in unserer Unterredung sind Probleme des biblischen Glaubens nicht aufgetaucht. Es war auch wohl nicht mehr nötig. Hingegen ist mir in all der Zeit seit jenem früheren Gespräch je und je die Frage in den Sinn gekommen: ob ich denn damals auf die rechte Art geäußert habe, was ich meine. Und je und je erwiderte ich gleicherweise: Ja und nein. Ja, insofern es darum geht, was in jenem Gespräch gesprochen worden ist; denn da galt es, dem Partner in seiner Sprache und innerhalb der Grenzen seiner Sprache zu erwidern, damit der Dialog nicht zuschanden werde und die zuweilen zwei Menschen gewährte gemeinsame Einsicht in eine Wahrheit sich, wie begrenzt auch, vollziehen könne. Insofern es darum geht, ja. Nein aber, wenn es darum geht, sowohl selber zu erkennen als auch zu erkennen zu geben, daß die Menschen und die Menschengeschlechter dazu neigen, Gott mißzuverstehn. Der Mensch ist so erschaffen, daß er verstehen kann, aber nicht verstehen muß, was Gott ihm sagt. Gott gibt den erschaffenen Menschen den Nöten und Ängsten nicht preis, er leiht ihm den Beistand seines Worts, er spricht zu ihm, er spricht sein Wort ihm zu. Der Mensch aber horcht nicht getreuen Ohrs auf das ihm Zugesprochene, er vermengt schon im Hören Himmelsgebot und Erdensatzung miteinander, Offenbarung des Seienden und die Orientierungen, die er sich selber zurechtmacht. Von diesem Tatbestand sind auch die heiligen Schriften der Menschen nicht ausgenommen, auch die Bibel ist es nicht. Es geht letztlich nicht darum, daß diese oder jene Person der biblischen Geschichtserzählung Gott mißverstanden hat; es geht darum, daß in dem Werk der Kehlen und der Griffel, aus dem der Text des »Alten Testaments« entstanden ist, sich wieder und wieder Mißverstehen ans Verstehen heftete, Hergestelltes sich mit Empfangenem verquickte. Wir haben kein objektives Kriterium für die Scheidung; wir haben einzig den Glauben, – wenn wir ihn haben. Nichts kann mich an einen Gott glauben machen, der Saul bestraft, weil er seinen Feind nicht ermordet hat. Und doch kann ich auch heute noch den Abschnitt, der dies erzählt, nicht anders als mit Furcht und Zittern lesen. Aber nicht ihn allein. Immer, wenn ich einen biblischen Text zu übertragen oder zu interpretieren habe, tue ich es mit Furcht und Zittern, in einer unentrinnbaren Schwebe zwischen dem Worte Gottes und den Worten der Menschen.

Anhang I. Anfänge Die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit eines dialogischen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott, also eines freien Partnertums des Menschen in einem Gespräch zwischen Himmel und Erde, dessen Sprache in Rede und Antwort das Geschehen selber ist, das Geschehen von oben nach unten und das Geschehen von unten nach oben, hat mich schon in meiner Jugend angefordert. Insbesondre seit die chassidische Überlieferung mir zum tragenden Grund des eigenen Denkens gedieh, also seit etwa 1905, ist jene Frage mir zu einer innersten geworden. In der Sprachform der viele Jahre danach entstandenen Schriften über das dialogische Prinzip findet sie sich zum erstenmal wohl im Herbst 1907, in der Einführung zu meinem Buch »Die Legende des Baalschem«. Hier geht es um die radikale Unterscheidung zwischen dem Mythos im engeren Sinn (dem Mythos der Mythologien) und der Legende. Es wird gesagt: »Die Legende ist der Mythos der Berufung. In dem reinen Mythos gibt es keine Verschiedenheit des Wesens … Auch der Heros steht nur auf einer anderen Stufe als der Gott, nicht ihm gegenüber; sie sind nicht das Ich und das Du … Der Gott des reinen Mythos beruft nicht, er zeugt; er sendet den Gezeugten, den Heros. Der Gott der Legende beruft, den Menschensohn: den Propheten, den Heiligen … Die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf«. Hier ist das dialogische Verhältnis also an seiner höchsten Aufgipfelung exemplifiziert: weil auch auf dieser Höhe noch die wesenhafte Verschiedenheit zwischen den Partnern ungeschwächt fortdauert, zugleich aber auch noch in solcher Nähe die Selbständigkeit des Menschen gewahrt bleibt. Von diesem Vorgang der Ausnahme, des Ausnehmens, führte das Denken mich nun aber immer ernstlicher auf das Gemeinsame, von allen Erfahrbare hin. Die Klärung geschah zunächst auch hier im Zusammenhang meiner Deutung des Chassidismus: in dem im September 1919 verfaßten »Geleitwort« zu dem Buch »Der große Maggid und seine Nachfolge« (1921) wird die jüdische Lehre als »ganz auf die doppelgerichtete Beziehung von Menschen-Ich und Gott-Du, auf die Gegenseitigkeit, auf die Begegnung gestellt« gekennzeichnet. Bald danach, im Herbst 1919, folgte die erste, noch unbeholfene Niederschrift von »Ich und Du«. Es kamen nun zwei Jahre, in denen ich bis auf Chassidisches fast gar nicht arbeiten konnte, aber auch – mit Ausnahme des wieder einmal vor-

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genommenen »Discours de la méthode« – keine Philosophica las (deshalb habe ich auch die verwandten Werke von Cohen, Rosenzweig 7 und Ebner erst später, verspätet gelesen). Es gehört dies in den Zusammenhang eines Vorgangs, den ich damals als spirituale Askese verstand. Dann durfte ich an die endgültige Fassung gehen, die – nachdem ich den Gedankengang im Januar und Februar 1922 in einem Kolleg über »Religion als Gegenwart« des von Rosenzweig gegründeten und geleiteten Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a. M. vorgetragen hatte – im Frühling 1922 beendet war. Als ich den dritten und letzten Teil schrieb, brach ich die Lese-Askese und begann mit Ebners Fragmenten 8. Das Buch zeigte mir, wie kein anderes seither, stellenweise in einer fast unheimlichen Nähe, daß in dieser unserer Zeit Menschen verschiedener Art und Tradition sich auf die Suche nach dem verschütteten Gut begeben hatten. Ähnliches ergab sich mir bald auch von anderer Seite. Von den Ahnen hatte ich Feuerbach und Kierkegaard schon als Student gekannt. Ja und Nein zu ihnen war ein Teil meines Daseins geworden, Jacobi kannte ich nur erst ganz unzulänglich (ich habe ihn erst vor kurzem ausreichend gelesen). Nun umgab mich im Geiste ein wachsender Kreis von Menschen der gegenwärtigen Generationen, denen es, wenn auch in ungleichem Maße, um das eine ging, das mir immer mehr zur Lebenssache wurde. Ich hatte seiner Erkenntnis schon in der in meinem Buche »Daniel« (1913) dargelegten Unterscheidung zwischen einer »orientierenden«, vergegenständlichenden, und einer »realisierenden«, vergegenwärtigenden Grundhaltung vorgearbeitet, einer Unterscheidung, die sich in ihrem Kern mit der in »Ich und Du« ausgeführten zwischen der Ich-Es-Relation und der Ich-Du-Relation deckt, nur daß die spätere nicht mehr in der Sphäre der Subjektivität, sondern in der zwischen den Wesen gegründet ist. Dies aber ist die entscheidende Wandlung, die sich in der Zeit des ersten Weltkriegs an einer Reihe von Geistern vollzog. Kundgegeben hat sie sich in sehr mannigfachem Sinn und Bereich, aber die fundamentale aus der erschließenden Wandlung der menschlichen Situation stammende Gemeinsamkeit ist unverkennbar. II. Versuch einer Auskunft

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Soll ich einem Fragenden Auskunft geben, welches denn das in gedanklicher Sprache aussagbare Hauptergebnis meiner Erfahrungen und Betrachtungen sei, dann ist mir keine andere Erwiderung gegeben, als mich zu dem den Fragenden und mich umfassenden Wissen zu bekennen: Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein. Die Einsicht in

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diesen schlichten Sachverhalt ist im Gang meines Lebens gewachsen. Wohl sind allerhand andere Sätze gleichen Subjekts und ähnlicher Konstruktion geäußert worden, und ich halte manche davon durchaus nicht für unrichtig; mein Wissen geht nur eben dahin, daß es dies ist, worauf es ankommt. In dem Satze ist der bestimmte Artikel voll betont. Alle Wesen in der Natur sind ja in ein Mit-Anderen-Sein gestellt, und in jedem Lebendigen tritt dies als Wahrnahme des Andern und Handlung am Andern ins Werk. Menscheneigentümlich aber ist, daß einer je und je des Andern als dieses ihm gegenüber Bestehenden inne werden kann, dem gegenüber er besteht. Er wird des Andern inne als eines, der sich aus seiner Selbheit zu ihm verhält und zu dem er sich aus seiner Selbheit verhält. Kraft dieses ihm vorbehaltenen Eigentums ist der Mensch nicht lediglich als eine – nur eben so viel vielfältiger ausgestattete – Gattung mehr unter den Gattungen, sondern als eine Sondersphäre ins Sein eingegangen. Denn hier, und innerhalb dessen, was wir Welt nennen, nur hier, vollzieht sich in voller Wirklichkeit die Begegnung des Einen mit dem Andern. Wohl ist nirgends in aller Weltimmanenz eine in sich beschlossene Einheit – diese ist als solche Transzendenz –, sondern jedes Einzelne ist auf das Andere hin- und angewiesen; aber erst im Menschen gerät dies, sich wandelnd, zur Wirklichkeit der Begegnung, in der das Eine dem Andern als seinem Andern gegenüber existiert, vermögend, in gemeinsamer Gegenwart zugleich ihm standzuhalten und es zu bestätigen. Wo dieses dem Gegenüber zugewandte Selbstsein nicht gelebt wird, ist der Mensch als Sphäre noch unverwirklicht. Das Menschliche bedeutet den jeweiligen Vollzug jener Begegnung, die im Sein der Welt angelegt ist. Der Einsicht, die ich hier angedeutet habe, tritt immer wieder ein nachdrückliches Argument entgegen, – nur selten freilich ausgesprochenerweise, zumeist als die wortlose Selbstbetonung »geistiger« Personen. Argumentiert wird mit einem, zumeist eben nur vorgeführten, Hinweis auf die vorgebliche Wesensart des geistigen Werkes. Dieses geschehe eben nicht in einem gebe- und nehmebereiten Gegenüberleben, sondern in einem abgedichteten In-sich-Sein, das allein dem »Geiste«, das heißt, den Ideen und Bildern zugänglich sei, die den allumfangenden Tiefen des Selbst enttauchen. Daß dem so sei, dafür lege das Denken der Denker das eindeutigste Zeugnis ab. Meine Erfahrungen und Betrachtungen haben es mich anders sehen gelehrt. Mir ist aus all den Zeiten des Menschen, um deren geistiges Werk ich weiß, nicht bloß keine große Gestaltung, sondern auch kein großer Gedanke bekannt geworden, dem nicht sein Ursprung aus dem das Selbst einsetzenden Kontakt mit Gegenüberseiendem abzulesen wäre. Was der

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Geist an gewordener Substanz werkhaft in die Zeiten trägt, ist ihm aus den rückhaltlosen Begegnungen seines personhaften Trägers mit der Anderheit zugekommen. Denn wie es sonst in der Weltimmanenz keine in sich beschlossene Einheit gibt, so auch keine des Geistes: einzig durch die Erschließung, durch den Eintritt ins Offne gewinnt der Geist, ins Menschenreich niedergestiegen, jenen Bestand im Werk, der nicht schon im Werden vergeht. Die Burg, in die sich die selbstbesessene Geistigkeit vor der Zumutung antwortenden Gegenüberlebens zurückzieht, ist eine herrlich bemalte Kulisse. Es ist der Geist, der, in das Wesen Mensch eingetreten, es zum Gegenüberleben in Distanz und Beziehung befähigt und befugt hat; damit hat der Geist den Menschen zur Sondersphäre des Seins ermächtigt. Aus diesem Urvorgang ist auch der höchste Werkhort des Menschen, die Sprache, hervorgegangen, die offenbare Kundgabe der existenten Gegenseitigkeit zwischen dem Einen und dem Andern. Aber die Zuteilungen des Geistes haben auch die große und immer größer werdende Gefahr mit sich gebracht, die das Menschentum bedroht. Es hat zur Konstituierung der menschlichen Person als des Trägers des Geistes gehört, daß die Grundsituation des Gegenüberseins sich auch hier in deren Innerlichkeit übertrug. So konnte sich ein der außermenschlichen Welt fremdes Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst ausbilden, wiewohl hier dem Gegenüber naturgemäß nichts von der strukturellen Geschiedenheit und der Antwortselbständigkeit des Gegenüber eignete – es sei denn in den Fällen einer den Personzusammenhang aufspaltenden Erkrankung. Es war damit aber zugleich die Möglichkeit eröffnet, daß die Dialogik der Seele sich von allem realen Kommunizieren mit dem Drüben der Anderheit abschnüre und zu einem Sichgenügen des Einzelwesens, ja zur Hybris eines Allselbst ausarte, das sich die in sich beschlossene Einheit der allen Schöpfungen und Emanationen vorseienden Gottheit arrogiert. Außer dem Selbst gab es nun Befindliches nicht mehr als Partner echter Gegenseitigkeit, sondern letztlich nur als gegenständliche Verknotungen innerhalb einer Psychik, die zwar in der Theorie als mehr oder minder universal gefaßt werden mochte, aber exklusiv individual gelebt wurde. Vermöge der universalisierenden philosophischen Positionen konnte sich dieses Einzelselbst praktisch mit dem Selbst schlechthin identifizieren und war dem Anspruch der Anderheit nicht mehr ausgesetzt. In dieser Abartung haben mich meine Erfahrungen und Betrachtungen den in den Zeiten der Geschichte, besonders aber in unsrer Zeit, an Macht stetig zunehmenden Gegenspieler des Menschentums erkennen gelehrt. Kein anderer als der Geist selber begeht, abgeschnürt, die Sünde am heiligen Geist.

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III. Bücher und Menschen Wenn man mich in meiner frühen Jugend gefragt hätte, ob ich es vorziehen würde, nur mit Menschen oder nur mit Büchern zu verkehren, hätte ich mich gewiß zugunsten der letzteren ausgesprochen. Später hat sich das mehr und mehr geändert. Nicht als hätte ich so viel bessere Erfahrungen mit Menschen als mit Büchern gemacht – im Gegenteil, rein erfreuliche Bücher kommen mir immer noch weit öfter als rein erfreuliche Menschen in den Weg –, aber die vielen schlechten Erfahrungen mit Menschen haben mein Lebensmark genährt, wie es das edelste Buch nicht vermöchte, und die guten haben mir die Erde zum Garten gemacht. Wogegen kein Buch für mich mehr zu tun vermag, als mich in ein Paradies der hohen Geister zu entrücken, wo mein innerstes Herz nie vergißt, daß ich drin nicht lange bleiben darf, aber auch nicht einmal wünschen kann, daß ich es dürfte. Denn (ich muß es gerade heraus sagen, um verstanden zu werden) mein innerstes Herz liebt die Welt mehr als den Geist. Wohl bin ich dem Leben mit der Welt nicht so gewachsen, wie ich es möchte, ich versage immer wieder im Umgang mit ihr, ich bleibe ihr immer wieder von dem schuldig, was sie von mir erwartet, und zwar zum Teil deshalb, weil ich dem Geist so verhaftet bin. Verhaftet bin ich ihm gewissermaßen wie mir selber, aber ich liebe ihn nicht eigentlich, ebenso wie ich mich nicht eigentlich liebe. Eigentlich liebe ich nicht den hier, der mich mit seiner Himmelspratze gepackt hat und festhält, sondern sie da drüben, die doch immer wieder zu mir herantritt und mir ein paar Finger reicht, die »Welt«. Beide haben sie Gaben zu verteilen. Er spendet mir sein Manna, die Bücher, sie hat ein Braunbrot für mich bereit, an dessen Rinde ich mir die Zähne ausbeiße und dessen ich nie satt werde, die Menschen. Ei, diese Wirrköpfe und Tunichtgute, wie ich sie liebe! Ich verehre die Bücher – die, die ich wirklich lese – viel zu sehr, als daß ich sie so lieben könnte. Aber an dem verehrungswürdigsten lebenden Menschen bekomme ich immer noch etwas mehr zu lieben als zu verehren, immer noch etwas mehr von dieser Welt, die eben da ist, wie der Geist niemals dasein kann. Wohl steht er über mir und »ist«, aber er ist nicht da. Gewaltig steht er über mir und redet seine erhabenen Sprüche, die Bücher, auf mich nieder; wie herrlich, wie unheimlich! Sie aber, die menschliche Welt, braucht nur ihr stummes Lächeln zu lächeln, und ich kann nicht ohne sie leben. Stumm ist sie, denn all das Gerede der Menschen ergibt doch kein Wort, wie es mir Mal um Mal aus den Büchern entgegentönt; und ich nehme all das Gerede hin, um die Stummheit empfangen zu können, die hindurchdringt, die Stummheit der Kreatur. Aber eben der menschlichen Kreatur! Und das heißt: der gemischten.

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Die Bücher sind rein, die Menschen sind gemischt, die Bücher sind Geist und Wort, lauterer Geist und geläutertes Wort, die Menschen sind aus Gerede und Stummheit zusammengefügt, und die Stummheit ist nicht die des Tiers, sondern die des Menschen – und siehe, aus der menschlichen Stummheit hinter dem Gerede raunt dir der Geist entgegen, der Geist als Seele. Sie, sie ist die Geliebte. Es gibt eine untrügliche Probe. Denk dich nur in einen Ursprung hinein, wo du allein wärst, ganz allein auf Erden, und du könntest eins von beiden bekommen, Bücher oder Menschen. Wohl höre ich manchen seine Einsamkeit preisen, aber das bringt er nur fertig, weil es eben doch die Menschen auf der Welt gibt, wenn auch in räumlicher Ferne. Ich habe nichts von Büchern gewußt, als ich dem Schoß meiner Mutter entsprang, und ich will ohne Bücher sterben, eine Menschenhand in der meinen. Jetzt freilich schließe ich zuweilen die Tür meiner Stube und ergebe mich einem Buch, aber nur, weil ich die Tür wieder öffnen kann, und ein Mensch blickt zu mir auf. Anmerkungen 1

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In meinem Buch »Das Problem des Menschen« im Schlußkapitel des Abschnitts »Von Aristoteles bis Kant«. In dem Buch »Ecce homo«. Ich war damals von dem Buch so eingenommen, daß ich es ins Polnische zu übersetzen beschloß und den ersten Teil auch übersetzt habe. Ich war eben an den zweiten gegangen, als ich den Brief eines namhaften polnischen Autors erhielt, der ebenfalls mehrere Abschnitte des Buches übertragen hatte und mir vorschlug, die Arbeit gemeinsam zu machen. Ich habe es vorgezogen, zu seinen Gunsten zu verzichten. Herzl starb an einem Herzleiden 1904. »Achad Haam«, d. h. »einer vom Volk«, war das Pseudonym Ascher Ginzbergs, der Herzls politischem Zionismus gegenüber einen im wesentlichen kulturellen vertrat. Es handelt sich um die Vorrede in Gesamtausgabe der »Reden über das Judentum« (1923). Daraus erklärt sich u. a. Rosenzweigs briefliche Mitteilung (Briefe S. 462), daß ich im Dezember 1921 sein Buch »Der Stern der Erlösung« noch nicht kannte. Zuerst bekam ich einiges in einem Heft des »Brenner« Veröffentlichte zu Gesicht und ließ mir nun das Buch (»Das Wort und die geistigen Realitäten«) schicken.

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Der Dämon. Aus einem Drama. Der Fürst. Du siehst so müd – was webt in dir? Was senkt den Blick? Ich weiss: Die stillen Tage sinken hier ein toter Traum ins Meer zurück. Ist’s das, was dich so traurig macht? Sieh her, ich breite meine Arme aus. In diesen Armen schläft ein stummes Haus, schläft dir ein Lied von diesem Haus, das stumm ist und doch lacht. Heb’ dir das Lied und sing’ es laut hinaus.

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Der Sänger. Die stillen Tage sind ein Segen. Der weht auf allen Wegen über meinen Haaren her. Kein toter Traum, ein Kranz von weissen Blüten, die mich behüten.

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Der Fürst So nimm den Kranz und wirf ihn kühn in helle Luft, ins Sonnenrot. Die weissen Blumen sollen glühn, als käm’ der Tod. Als käm’ der Tod im Purpurkleid sie mit brennender Hand zu berühren. Und die Blumen in Todesglut sollen dir singen ein Lied vom Blut, ein Lied von Rausch und wildem Leid, und sollen dich verführen.

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Was soll mir das? Ich gehe still, weil mich die Welt zum Auge will. Und viele Schrecken muss ich sehn und still der Welt hinübertragen. Und alles Schöne, das mir liebend naht, muss in mir brechen und vergehn: Ich muss alles singen und sagen. Und alle Sehnsucht wird zum Werke und keine Sehnsucht wird zur That. Der Fürst.

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Ist das nicht deine schönste Stärke, dein Krongold und dein Weltengang, dass alles, was dir lebt und wird, sich nie in Irdisches verirrt, dass jeder Blitz und jeder Drang nur Stimme zeugt und nur Gesang? Der Sänger.

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Ich ging am Morgen durch den Wald und dachte mir: Mein Herr kommt bald und ruft mir Lieder zu aus allen Hecken. Im Epheu, der sich zart und glaubend rankt, und in der Aehre, die im Winde schwankt, wird er mir Töne und Akkorde wecken. Die Schwalben werden mir zu Häupten fliegen, die jungen Rehe an mein Knie sich schmiegen, und alles bitten: Sing auch unser Lied. Ich werde Stimmen, die nur dunkel stammeln, und andere, die schauend reden, sammeln in einen Klang, der sie zum Himmel zieht. – So ging ich zwischen Bäumen. Und da lag an jener Biegung bei dem Rosenhag, der schimmervollen, vom besonnten Ring der flatternd wilden Sträucher still umschlossen,

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ein blutig zuckend Ding. Ein kleiner Vogelleib, vom Tod geschüttelt, von lebensheissem Blute übergossen. Und eine Seele legte sich mir weich und zitternd auf die Hände. Und ich stand wie einer, dem ein unsichtbares Reich und eine schwanke Seligkeit sich fand. Und meine Seele wollte leise hin zu jener, wollte sich an jene legen, und wollte töten, wollte mit ihr fliehn. Und mich durchklang ein inniges Bewegen. Da blickten mich die Vogelaugen an und war ein Lied in ihnen. Und ich dachte: Ob ich dies Lied aus ihnen singen kann, – Das grosse Lied. Und eine Stimme lachte. –

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Ein jüdisches Arbeiterdrama in drei Akten von David Pinski Autorisierte Übertragung aus dem jüdischen Manuskript von Martin Buber Geleitwort.

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Der jüdische Proletarier hat in Morris Rosenfeld und David Pinski seine Dichter gefunden. Beide haben der grossen stummen Tragik dieser unselig ringenden Scharen Worte geliehen; in ihnen hat diese gepeinigte Seele zu tönen begonnen. Aber während Rosenfeld in lyrischer Subjektivität seufzt und singt, klagt und anklagt, hat Pinski das Gestalten erwählt. Rosenfeld sagt das Leid, Pinski stellt es dar. Er will in seinen Dramen und seinen Erzählungen nichts geben als die gesehene und gehörte Wirklichkeit. Aber indem er sie gibt, herb und ungeläutert, scheinbar ungeformt, enthüllt er den Sinn eines niedergehaltenen, geknechteten Lebens. Er zeigt das Walten des grausamsten Elends, er führt auf das Leichenfeld der Seelen. Wenn es wahr ist, was einer sagte, der an der geistigsten Abart der Judennot zugrunde ging, dass der heutige Jude der Mensch der grössten Möglichkeiten und der geringsten Wirklichkeiten ist, so ist Pinski ein Dichter dieses trauer- und verheissungsvollen Rätsels. Die Höhe seiner Kunst hat er noch nicht erreicht, er kämpft noch um die letzten Geschenke der inneren Form; aber wir dürfen von dem jetzt Dreiunddreissigjährigen die Vollendung erwarten. Eisik Scheftel ist Pinskis erstes Drama. Es wurde schon vor mehreren Jahren geschrieben, ist aber bisher weder veröffentlicht noch aufgeführt worden. Wie Rosenfeld, so schreibt auch Pinski in der jüdischen Volkssprache. Es ist nun wohl schon die Erkenntnis durchgedrungen, dass das Jüdische, der fälschlich sogenannte »Jargon«, keineswegs ein Dialekt schlechthin, sondern durchaus eine res sui generis ist. Es hat sich aus einem Volksidiom zur vollwertigen Sprache entwickelt, nicht gerade reich aber schmiegsam, weniger abstrakt aber wärmer als die durch sie ergänzte hebräische, ohne deren rein geistiges Pathos, aber voll unvergleichlich sanfter und derber, zärtlicher und boshafter Accente. Im Jüdischen ist das Volkstümliche selbst Sprache geworden.

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Hatte ich schon in meiner Uebertragung von Pinskis Erzählung »Das Erwachen« (Jüdischer Almanach 5663) mich bemüht, die Redewendungen und Satzordnungen des Originals getreu wiederzugeben und so wenig als möglich das Jüdische zu »verdeutschen«, so habe ich mir dies hier noch in weit höherem Masse zur Aufgabe gesetzt. Hier redet das Volk selbst; und seine Worte in hochdeutsche Syntaxis transponieren, hiesse dem Wesen dessen, was es sagt, Gewalt antun. Grammatikalisch zwar musste ich mich im allgemeinen der deutschen Schriftsprache anpassen, da es hier unmöglich war, eine rationale Grenze zwischen dem Beizubehaltenden und dem zu Verändernden zu ziehen; auch drohte hier allzusehr die Gefahr, dass die Verständlichkeit gestört wird; und endlich scheint mir auf diesem Gebiet die sprachliche Individualität am wenigsten zur Geltung zu kommen. Immerhin habe ich manche eigentümlichen Wort- und Abwandlungsformen relativ unverändert gelassen. Hingegen habe ich in Satzbau, Anordnung der Wörter, sprüchwörtlichen und volkstümlichen Wendungen, Interjektionen, abbreviativen Wortformen, indikativen Lauten, Diminutiven usw., kurz in allem, was mir für die besondere Art der Sprache charakteristisch erschien, zu erhalten gesucht, was irgend ich, ohne die Verständlichkeit zu beeinträchtigen, erhalten durfte. Eigentlich verändert habe ich nur ganz vereinzelte Wendungen, die einem dem deutschen Publikum völlig fremden Vorstellungskreis entnommen oder schlechthin unübersetzbar waren. Berlin, Oktober 1904

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Personen: Eisik Scheftel. B e i l e , seine Frau. Gischinke 5

deren Kinder. Elinke P i n i e , Eisiks irrsinniger Vater. N o t e G o l d i n , Besitzer einer kleinen Militäreffekten-Werkstatt, Eisiks Arbeitgeber. O r k e , dessen Sohn. Michel der Alte Bäre der Rote S e l i g Ko m ö d i a n t (

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Leiwik Ssender Hile Joschke Te m e

Arbeiter bei Goldin.

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