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German Pages 228 Year 2019
Alfonso de Toro, Stefan Welz (Hrsg.) Rhetorische Seh-Reisen
Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprachund Übersetzungswissenschaft Bd. 9 HERAUSGEBER/EDITORS Anne Koenen; Elmar Schenkel; Wolfgang F. Schwarz; Anita Steube; Ludwig Stockinger; Alfonso de Toro; Gerd Wotjak BEIRAT/ADVISORY BOARD: Angelika Hoffmann-Maxis; Karlheinz Kasper; Edgar Mass; Albrecht Neubert; Monika Ritzer; Ekkehard Stärk REDAKTION (Bd. 9): René Ceballos; Cornelia Sieber; Katrin Siegmeyer
Alfonso de Toro, Stefan Welz (Hrsg.)
Rhetorische Seh-Rehen Fallstudien zu Wahrnehmungsformen in Literatur, Kunst und Kultur
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1999
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rhetorische „Seh"-Reisen : Fallstudien zu Wahrnehmungsformen in Literatur, Kunst und Kultur / Alfonso de Toro ; Stefan Welz (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprachund Übersetzungswissenschaft ; Bd. 9) ISBN 3 - 8 9 3 5 4 - 2 6 9 - 8
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann; Abbildung: „Aquí te doy otra regla para el arte de la escultura" (1998) von Román Hernández González Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany
Inhalt Vorbemerkung der Herausgeber
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Eckhard Höfner J. M. Chladenii "Sehepunckt": Zu Problemen der historischen Erklärung in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft und in heutiger Interpretation
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Alfonso de Toro Formen des Sehens im französischen Kultursystem des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Roman und Lyrik
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Stefan Welz Erzähle mir, was Du siehst, damit ich sehe, was Du mir erzählst. Ways ofSeeing und der englische Roman
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Catrin Gersdorf Sehen in Literatur und Geschichte: Paul Austers Roman Moon Palace (1989)
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Julika Griem Zwischen Oberfläche und Tiefe: Vexierbilder des Fernsehens in zeitgenössischen amerikanischen Erzähltexten
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Elmar Schenkel Vision und Télévision: Über die literarische Antizipation des Fernsehens
143
Jürgen Kramer Blicke im Film, Blicke im Kino - Überlegungen zu Alfred Hitchcocks Rear Window (1954)
159
Jan Jirouàek Verbal-visuelle Beziehungen aus semiotischer Sicht (metagenetisches Modell)
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Barbara Körte Landschaftsperspektiven in anglokanadischer Lyrik
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Monika Ritzer Die Tatsachen der Wahrnehmung. Zur Relation von Naturwissenschaft und Literatur im Realismus am Beispiel von Hermann Helmholtz und Conrad Ferdinand Meyer
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Vorbemerkung der Herausgeber Gerade der interdisziplinäre wissenschaftliche Meinungsaustausch läßt sich nicht immer nahtlos in die geregelten Publikationsstrategien von umfangreichen Einzelarbeiten, Projektveröffentlichungen und Kolloquia-Bänden einfügen. Dabei gehen von der methodischen und inhaltlichen Vielfalt der fächerübergreifenden Zusammen- und Nebeneinanderstellung thematisch aufeinander bezogener Beiträge wertvolle Anregungen und letztlich auch Wissensgewinn aus. Obwohl die Drucklegung der oft nur vereinzelt erscheinenden Forschungsergebnisse, die an den Rändern ihrer jeweiligen Disziplinen oder im Vorfeld zu anderen Wissenschaftsgebieten gewonnen werden, methodische und wissenschaftstheoretische Probleme aufwirft, hieße ein Veröffentlichungsverzicht auch ein Verlust an Innovation und Dynamik. Die vorliegende Publikation stellt sich daher das Ziel, einen geeigneten Kontext für die Veröffentlichung derartiger Forschungsergebnisse zu bieten, ein Forum des freien Gedankenaustauschs zu sein, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen und auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Möglichkeit zur Wortmeldung zu geben. Die Aufsatzsammlung mit Beiträgen von Wissenschaftlern unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen von zahlreichen deutschen Universitäten geht auf eine Vorlesungsreihe der philologischen Fakultät an der Universität Leipzig zurück. Bewußt wurde auf eine stark vereinheitlichende, allzu rigide Strukturierung verzichtet, um unter der weitgefaßten Thematik "Sehen in Kunst, Literatur und Wissenschaft" eine Vielzahl - auch unkontrollierter - Anknüpfungspunkte und Querverweise zu schaffen oder zu belassen. Die Sammlung erscheint als eigenständiger Band innerhalb der Reihe Leipziger Schriften, wo sie durch den Bezug zu anderen Veröffentlichungen eine weitere Kontextualisierung erfährt, was einer ausufernden Beliebigkeit entgegenwirkt. Der Band richtet sich sowohl an interessierte Studenten und junge Wissenschaftler als auch an Forschende, die den interdisziplinären Austausch praktizieren und seiner Beförderung aufgeschlossen gegenüberstehen.
Leipzig 1998
Alfonso de Toro
Stefan Welz
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Eckhard Höfner Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder
J. M. CHLADENII "SEHEPUNCKT": ZU PROBLEMEN DER HISTORISCHEN ERKLÄRUNG IN DER ALLGEMEINEN GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND IN HEUTIGER INTERPRETATION Wer eine (Kultur-)Geschichte des Sehens, des (menschlichen) Blickes zu schreiben unternähme, sähe sich zunächst mit einem Phänomen konfrontiert, das gerade nichts Historisches an sich trüge: er hätte es mit einer biologischen/anthropologischen Konstante zu tun, der (menschlichen) Sehfähigkeit, die zwar innerhalb der Evolution, nicht aber innerhalb der Kultur(en) eine Geschichte zugewiesen bekäme. Eine Kulturgeschichte des Sehens müßte also jeweils Relationen des menschlichen Blickes zu anderen Größen untersuchen: etwa zu den Grenzen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die in jeweiligen Kulturen oder Kulturepochen gesetzt, dann auch verschoben bzw. transformiert würden, sei es durch technische Entwicklungen (das Fernrohr, das Elektronenmikroskop; meinetwegen die Straßenbeleuchtung), sei es durch 'ideologische' Vorgaben, die darüber entscheiden, was wann wie überhaupt wahrgenommen werden darf oder kann.1 Wir alle haben, beispielsweise bei Galilei, gelernt, wie beide Vorgaben auch konfligieren können: die Schwierigkeiten, einen Theologen des frühen 17. Jahrhunderts hinter ein Fernrohr zu bringen, liegen ja nicht etwa an dessen ausgeprägter Orts- und Sesselveränderungsunlust, sondern daran, daß er dem Gesehenen eine größere Wahrheitsverbindlichkeit einräumen soll denn einer Theorie, die sich auf eine Autorität gründen kann. Wögegen er sich mit dem nicht ohne weiteres falschen Hinweis wehrt, daß man sich im Anschauen der Dinge täuschen kann, die Empirie des Sehens/des Sichtbaren also so sicher denn doch nicht sein muß. Galilei selbst freilich bedarf dann, in der Verteidigung des Kopernikus (Galilei 1632), selbst des Vorranges der Theorie vor dem Sehen, geht doch für unseren menschlichen Blick des Abends die Sonne unter, nicht die Erde. Es wäre aber mit keinem Gottesprädikat, oder besser: nur mit dem der Allmacht, vereinbar, wollte man annehmen, der ungeheure Umfang der Himmelssphäre drehe sich um die Erde als Mittelpunkt, so daß die Vernunft und das Vertrauen auf den harmonischen Bau des
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Einige präzise Bemerkungen dazu etwa bei Titzmann (1996).
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Universums dazu zwingt, statt dessen eine Bewegung der Erde um die Sonne anzunehmen. 2 Und eine Kulturgeschichte des Blickes müßte dem Umstand Rechnung tragen, daß der Terminus Sehen sehr schnell in (metaphorischer) Übertragung gebraucht wesentlich wird, in der Ansicht etwa der/über die 'Welt'. Der zentrale, umfassende Blick, den noch Pico della Mirandola zur von Gott verliehenen Würde des Menschen rechnen konnte 3 , fällt der 'kopernikanischen Wende' zum Opfer, die den (Blick des) Menschen aus dem Zentrum des Kosmos herausrückt; die Perspektive wird relevant: in der Optik, gewiß; in der (Theorie der) Malerei; übertragen aber wohl erst in der Aufklärung, der unser Chladenius zugehört. 4 Es sieht ganz so aus, als begegnete uns der erste philosophische Gebrauch des Terminus Perspektive bei G. W. Leibniz, auf den sich Chladenius denn auch häufig, ihn wie die Franzosen beharrlich mit 'tz' schreibend, beruft: so in der Theodicee von 1710 5 und in der Monadologie von 1712 (vgl. etwa § 57). Der erste Eintrag Chladenius' zum "Sehepunckte" findet sich in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft im Paragraphen 17 des 2. Capitels "Von den Begebenheiten der Körper": Der Ort, den Gesichtspunckt: uns ein Cörper Sache, daß sie
unser Auge bey beschauung eines Cörpers einnimmt, heisset der oder der Sehepunckt. Dieser hat auf dreyerley Weise einen Einfluß, daß so, und nicht anders vorgestellet wird: 1. Durch die Entfernung von der nahe oder ferne ist: 2. Durch den Stand des Auges, daß nehmlich dem
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Vgl. auch Blumenberg (1965/1980).
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"Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu [o Adam], nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manus te posui, tibi illam praefmies. Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo." (Mirandola 1486/1557/ 1994: 6).
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Johann Martin Chladenius, geb. 1710 in Wittenberg, Studium der klassischen Philologie, Philosophie und Theologie, 1731 Magister, a.o. Prof. in Leipzig, Gymnasialrektor in Coburg, o. Prof. in Erlangen ab 1747, gestorben 1759. Schriften in Auswahl: Logica practica (1742), Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schriffien (1742), Logica sacra (1745), Idolum saeculi: probabilitas (1747), Nova philosophia definitiva (1750), Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752). Zur Biographie vgl. Hans Müller (1917/1965).
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"Il est vrai que la même chose peut être représentée différemment, mais il doit toujours y avoir un rapport exact entre la représentation et la chose, et par conséquent entre les différentes représentations d'une même chose. Les projections de perspective, qui reviennent dans le cercle aux sections coniques, font voir qu'un même cercle peut être représenté par une ellipse, par une parabole et par une hyperbole, et même par un autre cercle et par une ligne droite et par un point. Rien ne paraît si différent ni si dissemblable que ces figures; et cependant il y a un rapport exact de chaque point à chaque point. Aussi faut-il avouer que chaque âme se représente l'univers suivant son point de vue, et par un rapport qui lui est propre; mais une parfaite harmonie y subsiste toujours." (Leibniz 1710/1969: § 357, S. 327f).
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Auge just diese Seite des Cörpers, und keine andere entgegen stehet. 3. Durch die Materie, welche zwischen dem Auge und dem Objeckt ist, als wodurch die Strahlen auf mancherley Weise nicht ohne Veränderung des daraus entstehenden Bildes, pflegen gebrochen zu werden. Von dieser Art der historischen Erkenntniß sind wir freylich schon längst aus der Optick treflich versehen. (Chladenius 1752/1985: 37).
Geradezu aufregend werden wir dieses Zitat nicht finden; und doch ist so manches daran gar nicht so selbstverständlich, wie man meinen könnte. Was hat ein Teilbereich der Physik, die Optik nämlich, mit der Geschichtswissenschaft zu tun und warum beginnt ein Lehrbuch zur historischen Erkenntnis mit einem Kapitel zur Lehre von den (physikalischen) Körpern? Und worauf zielt denn die Definition: auf die Körper selbst oder auf die Perzeptionsbedingungen? Um die Physik allein geht es nun freilich nicht; unser Zitat bleibt nicht bei der "Optick" stehen, sondern fährt fort: "Nur müssen wir hie und da deutliche Begriffe noch suchen, damit man allgemeinere Begriffe abstrahieren kann, die sich auch auf Geschichte, die nicht sichtlich sind, anwenden lassen." (ebd.). Die genannte Übertragung eines optischen Problems des Sehens auf nichtphysikalische Bereiche wird also intendiert, nicht nur bei Chladenius. Eine recht einprägsame Trennung der Begriffe Perspektive und Sehepunkt, bei aller ihnen zugehörigen Ähnlichkeit, findet sich in Crusius' Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß von 1747: "Die Perspektiv", so heißt es da, sei die Wissenschaft, "welche einen Körper auf einer Fläche also vorstellen lehret, wie er sich dem Auge in der Natur darstellen würde" - ein Maler etwa des Cinquecento würde den Sachverhalt nicht anders ausgedrückt haben; der "Sehepunkt" aber hat zu tun mit dem Problem, "daß die Menschen einander nicht gnugsam verstehen" (Crusius 1747/1965, Bd. 3: IX § 618-625); denn es gilt: Wenn nun die Menschen einander solche Begriffe mittheilen wollen; so ist [...] das unvermeidlich, daß nicht ein iedweder wegen der Begriffe, welche ihm schon zuvor geläufig sind, und wegen der unterschiedenen Richtung seiner Aufmercksamkeit die Sache gewisser massen mit andern Augen ansehen und so zu reden aus einem anderen Sehe-Punckte betrachten muß. (ebd.).
Woraus gefolgert wird, man habe "aus der Vergleichung aller Umstände gleichsam den rechten Sehe-Punckt zu bestimmen, aus welchem der Verfasser eine Sache angesehen hat, und sich in den Gedancken in denselbigen zu stellen." (ebd.). Auch hier finden wir also die Koppelung von Begriffen, Aussagen, Meinungen mit dem Sehepunckt, in Ähnlichkeit mit dem aus der Optik bekannten, gebraucht, aber nicht mehr nur auf die anschauende Erkenntnis von (physikalischen) Körpern bezogen. Warum aber die Optik zum Ausgangspunkt nehmen, so hatten wir gefragt. Eine Antwort nun wird darin liegen, daß man im 18. Jahrhundert in der Regel die Möglichkeit nicht bezweifelt, über Bereiche der Physik sowohl empirische Aussagen zu treffen als auch in solchen Gegenstandsbereichen zu allgemeinen Begriffen zu ge-
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ECKHARD HÖFNER
langen, so daß die Ableitung von Regeln und das Erstellen von Gesetzen möglich wird; für die menschlichen Tätigkeiten im Bereich der Kultur(-wissenschaften) ist eben diese Möglichkeit aber nicht als sicher gesetzt. Gerade die historische Erkenntnis scheint sich dagegen zu sperren - eine Meinung, der man heutzutage wieder begegnen kann. In der Aufklärung nun wird die Ansicht, daß man in der historischen Erkenntnis nur bis maximal zur Stufe einer Wahrscheinlichkeit gelangen und keine verbindlichen Erkenntnis-Regeln aufstellen könne, unter der Bezeichnung historischer Pyrrhonismus zusammengefaßt - Pyrrhonismus wegen des Begründers der philosophischen Skepsis in Griechenland, wie bei Piaton nachzulesen oder bei Sextus Empiricus. Wir haben es also mit einem extrem ausgeprägten Skeptizismus zu tun, für den, neben vielen anderen, etwa Pierre Bayle stehen kann. Die Antworten gerade auf Grundpostulate Bayles liefert in der Philosophie G. W. Leibniz in den genannten Schriften, in der Geschichtswissenschaft - wenn man das Vorhaben Chladenius' schon so nennen möchte - unser Leipziger und Erlanger Theologe. Die Teilanalogie zur Betrachtung der Physik erhebt also hier, in unserer Propädeutik der Historiographie, den erkenntnistheoretischen Anspruch, daß auch die Bereiche humaner Tätigkeit, darunter etwa die vielfältigen Texte literarischen wie nicht-literarischen Charakters - so geschehen in der Auslegung vernünfftiger Reden und Schriffien - und die historische Erkenntnis in einer Begrifflichkeit formuliert werden könnten, die den Vergleich mit den Begriffen und Regeln physikalischer Erkenntnis nicht zu scheuen brauchte: es wird keine Identität der Erkenntnissprachen und -weisen postuliert, aber eine teilanaloge Vörgehensweise. Nehmen wir vorweg, daß der Streit darüber bis in die heutige Zeit nicht ausgestanden ist und also andauert, wobei die heutigen Pyrrhonisten - interessanterweise sind eben sie es, die den wackeren Chladenius wieder exhumiert haben - auf der Seite der Diltheyschen und nach-Diltheyschen Hermeneutik stehen, die "Physikalisten" auf der der (analytischen) Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Doch davon später. Wir hatten noch eine weitere Teilfrage gestellt, die zu beantworten bleibt: Chladenius, so stellen wir dazu fest, beschäftigt sich nicht primär mit der Beschaffenheit der Körper resp. der (historischen) Geschichten, sondern in allererster Linie mit den Perzeptionsbedingungen, also nicht mit der Geschichte, sondern mit den Modalitäten ihrer Erkenntnis. Das erinnert uns - wie auch in der Literatur zu Chladenius geschehen - unmittelbar an eine Kant'sche Einsicht: an die nämlich von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich.6
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Vgl. auch Chladenius (1752/1985: VIII, § 43): "Wir haben deswegen gleich anfangs die Geschichte von der Erkenntniß derselben sorgfältig unterschieden: und daraus entstehet der allergrößte Unterschied der allgemeinen Erkenntniß und der historischen Erkenntniß. jene ist lauter menschliche Erkenntniß, und ein Werk des menschlichen Verstandes: die Geschichte aber ist nicht menschliche Erkenntniß, sondern sie ist vorhanden, wenn auch niemand vorhanden wäre, der sie erkennete."
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Ich fasse einen ersten Schritt zusammen: "Cörper", so Chladenius, "werden uns durchs Gesichte" (1752/1985: II, § 1), "[hauptsächlich aber durchs Gefuehl vorgestellt" (ebd.: II, § 2), recht eigentlich nur durch den Tastsinn - ich erinnere en parenthèse an die relevante philosophische Debatte des 18. Jahrhunderts über die Erkenntnisfähigkeit der Blinden und an die Hierarchie der Sinne -: schon eine Aussage über die Existenz von Körpern, die "wir nur bloß gesehen, nie aber beruehrt haben", erfolgt hier "durch einen Vernunfftschluß" (ebd.: II, § 3). Die Erkenntnis nicht-körperlicher Dinge, etwa der Geschichte(n), erfolgt teilanalog: sie ist Ansicht dieser Dinge, und auch diese Ansichten hängen von Standpunkten, Erkenntnisperspektiven, Erkennntisinteressen, kurz vom jeweiligen "Sehepunckt" ab. Allerdings sind es nun Ansichten von "moralischen Wesen", die wir folgendermaßen als Begriff Chladenius' einfuhren können: "Wenn Menschen einen beständigen Willen haben, [...], und zwar der bekannt ist, so daß sich andere darnach richten können, so heisset dieses ein moralisches Wesen." (ebd.: III, § 4)7, und diese nun werden 'sichtbar'/manifest in Geschichte(n). Und auch hier gilt, daß es eine verschiedene Entfernung von der Sache gibt, einen (moralischen) Stand des Auges und Materie, "welche zwischen dem [moralischen] Auge und dem Objeckt ist", so daß "Veränderung des daraus entstehenden Bildes" generiert wird (ebd.: II, § 17). Auch die weiteren Perzeptionsbedingungen beim Anschauen von Körpern werden teilanalog auf die Ansicht der moralischen Wesen und der Geschichte(n) übertragen, so etwa "Stand", "Stelle"/"Seite", Auffassung von Werten, "Gemüthsverfassung". Rekonstruieren wir Chladenius genauer, so wird deutlich, daß hier keineswegs allein eine Geschichtstheorie vorgelegt wird; oder besser: daß es um (historische) Grundfragen geht in der Behandlung von Satzaussagen, Erzählungen, Erklärungsmustern, handlungstheoretischen Aspekten, Überlegungen zur Prognostik, dergestalt daß die angeführten Beispiele aus diversen Bereichen stammen: Medizin, Jurisprudenz, Alltagswelt, Literatur - und auch aus der Geschichtsschreibung. Wir haben - die Übereilung ergab sich aus dem Terminus "Sehepunckt" im Titel des Vortrags - mit dem zweiten Kapitel des Chladenius begonnen und müssen also nachtragen, das erste Kapitel nämlich, das überschrieben ist: "Von der historischen Erkenntniß überhaupt. "
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Aus des Chladenius Beispielen (Lehrer, Fabrikant, Gastwirt) wird dabei noch ein wichtiger Gesichtspunkt klar: "Ein Lehrstuhl, eine Fabrique, ein Gasthof sind also moralische Wesen, die eigentlich in dem Willen der Menschen bestehen, ohngeachtet sie mit cörperlichen Dingen verknüpft sind. So ist auch ein Königreich, eine Würde, jeder Stand beschaffen. Und solche moralische Dinge, wenn sie aus mehrern Menschen bestehen, pflegen gemeiniglich viel länger, als die Menschen selbst zu dauren, weil bey Abgang eines oder des andern, dennoch der Wille der übrigen unverändert bleibt, der erledigte Platz aber gar leicht mit einem andern individuo wieder erfüllet wird." (ebd.).
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Die Welt ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß die in ihr liegenden Dinge ständigen Veränderungen unterworfen sind; man muß also auf ihren Zustand wie auf ihre Veränderungen achthaben: "Die Erkenntniß der Dinge, welche sind oder geschehen, wird zusammen genommen die Historische Erkenntniß genennet" (ebd.: I, § 2). Der Ausdruck 'Historie' ist dabei nicht eindeutig; einmal wird damit die Begebenheit, i.e. Veränderung an sich bezeichnet, von der wir voraussetzen, daß sie geschieht; zum anderen die "Vorstellung" derselben, die wir uns erst bilden und ausdrücken, also der Akt der Perzeption und der Erkenntnis von Geschichte. Diese Trennung ist wichtig: nicht um das 'Ding Geschichte an sich' darf es gehen, sondern um dessen/deren Perzeption: "Jede Historie" - in diesem zweiten Sinn - "erfordert einen Zuschauer" (ebd.: I, § 24). "Wenn wir bey einer Begebenheit gegenwärtig sind, und wir uns derselben bewust sind, so entstehet in unserm Verstände ein Unheil" (ebd.: I, § 4) - Anschauungsurteile erfordern aber, wie jeder Theoretiker weiß, eine Sprache, weil man bloß Sätze sinnvoll auf Aussagen untersuchen kann, ergo: "Ein Satz, dadurch eine Begebenheit, oder unser Urtheil von der Begebenheit ausgedruckt wird, wollen wir einen historischen Satz nennen" (ebd.: I, § 4). Einzelne Begebenheiten/Veränderungen kann man nun unter bestimmten Regeln zusammenfassen zu "einer einigen Begebenheit", verschiedene Begebenheiten und deren Umstände reihen: "Eine Reyhe von Begebenheiten wird eine Geschichte genennet", wobei der Term 'Reihe' nicht allein die Menge anzeige, sondern "auch die Verbindung derselben unter einander, und ihren Zusammenhang." (ebd.: I, § 13). Der Reihe von Begebenheiten korrespondiert folglich - beim Zuschauer - eine Reihe von Urteilen, die die 'Geschichte' dem Verstände vorstellen; und dann eine Reihe von Sätzen: "Die Sätze, wodurch eine Geschichte ausgedruckt wird, heissen eine Erzehlung" (ebd.: I, § 14). 'Geschichte' und 'Erzählung' bedingen einander, gehören aber säuberlich getrennt, "weil die historischen Schwierigkeiten bald aus der Geschichte und Begebenheit selbst, bald aber aus den Nachrichten und Erzehlungen entspringen." (ebd.: I, § 16). Wir haben so einen Erkenntnis-Gegenstand ( = "Subject") und eine Veränderung dieses Gegenstandes auf Seiten der 'Geschichte'; wir haben, auf Seiten der Erkenntnis, den Zuschauer, der sich über beide Urteile bildet und sie in einem Satz bzw. einer 'Erzählung' intersubjektiv vermittelt. Dazu werden Regeln benötigt, solche der Betrachtung, der Auslegung und der Formulierung/Darlegung. Woher aber bezieht man man diese Kenntnisse? Woher nimmt man die "Regeln", denn wenn es um eine "Wissenschaft von der historischen Erkenntniß" gehen soll, muß es solche geben. "Die Regeln der historischen Erkenntniß" - so heißt es dann - "gehören zur Vernunfftlehre" (ebd.: I, § 38). Und das spätestens läßt - so meine ich - aufhorchen;
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hier ist auch - meine These - der Punkt, den einige Historiker, die Chladenius wiedererweckt haben, um ihn in Richtung auf hermeneutische Positionen hin zu lesen, ausgespart haben. Die Vernunftlehre, in die Chladenius seine "Allgemeine Geschichtswissenschaft" integrieren will, ist gerade mit der Hermeneutik in heutigem Sinn nicht ohne weiteres kompatibel. Hören wir einen längeren Augenblick in den Text hinein: Wenn aber die Wissenschaft der historischen Erkenntniß vor ein Stück der Vernunfftlehre ausgegeben wird, so ist dabey, um allen Mißverstand zu vermeiden, mancherley zu beobachten. Denn so ist 1. gewiß, daß vom Aristotele an bis auf die jetzigen Zeiten, in der Vernunfftlehre hauptsächlich auf das Lehrgebäude der allgemeinen Wahrheiten gesehen worden; wie solches ordentlich und gründlich eingerichtet werden möchte; [...] 2. Es hat auch unser Lehrsatz nicht die Meinung, daß die bisherige Verfassung der Vernunfftlehre geändert, und diese Abhandlung, die wir vor uns nehmen, mit jener vermengt werden solle. Selbst diese Wissenschaft setzet die Logik im bisherigen Umfange genommen, voraus: nicht allein, daß man durch dieselbe geschickt werde, die Beweise in dieser Kunst besser zu fassen; sondern sie legt auch die Begriffe und Sätze der Vernunfftlehre zum Grunde: indem fast alles, was in der historischen Erkenntniß künstlich, und denen Menschen vor den Thieren eigen ist, aus der allgemeinen Erkenntniß herrühret; mit welcher wir schon versehen seyn müssen, wenn wir geschickte Zuschauer der vorgehenden Veränderungen, Begebenheiten und Geschichte abgeben wollen, (ebd.: I, § 39).
Es müßte also etwas wie eine 'Logik' der Geschichtsschreibung entworfen werden, eine logica practica freilich, die auf empirische Daten sich anwenden ließe; kurzum: eine induktive. Die Probleme der Induktion verfolgen die Historiographie bis heute. Skizzieren wir zunächst - kurz wiederholend - den Prozeß, der nach Chladenius zur historischen Erkenntnis führt. Seine Historiographie ist im Ursprung - das hat seine Tradition bis zum 18. Jahrhundert und taucht modifiziert heutzutage wieder auf - Augenzeugengeschichte: die Erkenntnis der Veränderungen bedarf des Zuschauers. Zuschauer nehmen Vorgänge wahr, die bei ihnen Empfindungen - der Term hat im 18. Jahrhundert eine größere Extensionsbreite denn heute - hervorrufen; daraus werden vermittels der Vernunft Urteile gebildet: Anschauungsurteile. Die Basis der Historiographie - auf dieser ersten Stufe - ist eine strikt empirische; die Sätze, aus denen die Anschauungsurteile bestehen, sind, mit einem moderneren Ausdruck wiedergegeben, Protokollsätze. Der Bereich, über den solche Protokollsätze gebildet werden, ist zunächst nicht in unserem Sinne auf 'historisch' zu nennende Ereignisse beschränkt, sondern der der "Lebenswelt"; Chladenius' Beispiele zeigen immer wieder, daß der 'Alltag' mitgemeint ist: Naturereignisse, Geschäfte/Handel, Gerichtsverhandlungen. Die Veränderungen der Welt, i.e. die Geschichte, werden also von Zuschauern wahrgenommen und - zu Anschauungsurteilen - versprachlicht; die Sätze richten sich potentiell und real an Hörer, die sie weitergeben (können), die Nachsager, die sich
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wieder an Hörer wenden, die wiederum zu Nachsagem werden: es entsteht eine, hier orale, Tradition, die einen relevanten Teil des Kanals bildet. Selbstverständlich gehören zum Kanal auch die schriftlich überlieferten Zeugnisse, von denen allerdings wieder ein erheblicher Teil aus der Niederschrift von Augenzeugenberichten besteht. Einen anderen bildeten Dokumente wie etwa Befehle, Erlasse, Verfügungen etc.8 Jeder Zuschauer - und "[h]ierbey giebt es nun so viele Arten der Zuschauer, als es Arten der Verbindungen giebt, unter Leuten, die an einem Orte leben, oder die in der Nähe beysammen sind" (ebd.: V, § 3) - hat seinen Sehepunckt: bei Anschauungen der "cörperlichen Dinge" wie bei der der "moralischen Wesen". Gleiches - die Sehepunkt-Verschiedenheit - gilt dann erneut bei den Hörern und Nachsagern und folglich in der gesamten Rezeption des Kanals. Hier lauert eine Reihe von Problemen, die bis heute nicht aus der wissenschaftlichen Debatte verschwunden sind und bei Chladenius zumindest angerissen werden: 1.
Die Wahrnehmung von Vorgängen läßt im Zuschauer eine Empfindung entstehen; unser Empfindungsvermögen unterliegt aber äußerst variablen Dispositionen und Umständen: "[...] so muß man, wenn man des andern seine Empfindungen begreiffen will, allerdings auf den Zustand seiner Sinne sehen; und daher muß bey den Empfindungen überhaupt, der Zustand unserer Sinne, der Sehepunckt genennet werden." resp. "Daher hat auch der innerliche Zustand der Seele eines Menschen einen Einfluß in das, was er durch die Sinne empfindet, und in die Erzehlungen, die aus solchen Empfindungen entstehen" (ebd.: V, §§ 3, 4).
2.
Nehmen wir an, dieser "gantze Mensch" habe seine Wahrnehmungen gemacht, sein Anschauungsurteil gebildet; verfüge über das Urbild. Wie bildet er Sätze? In Sprache freilich. Aber das ist ein Übersetzungsakt: man muß "allgemeine Begriffe" benutzen. Wie aber gelangt man zu diesen Begriffen, die sich doch nicht aus den Beobachtungen selbst, ohne Abstraktion und Klassenbildung, ergeben, sondern in einer Theoriesprache definiert sind.9
3.
In einer Normalsprache x sei die Denotation des Zeichens 'Wald' präzise geregelt; die Vorstellungen, die "concepts" in de Saussures Terminologie, sind dennoch bei Sprecher wie Hörer nicht unbedingt gleich, wie Chladenius sehr wohl weiß:
8
Selbstverständlich ist Chladenius die bahnbrechende Unternehmung Mabillons, De re diplomatica, bekannt.
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Der Wiener Empirist Ernst Mach hat das Problem espritvoll auf den Punkt gebracht, als er einen Physiker, der ihm von Atomen sprach, - so will es die Anekdote - mit der Frage gekontert haben soll: "Ham's aans g'sehn?"
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[...], so sagt man kürtzlich - um keine "langweilige Erzehlung" zu produzieren - : eine große, oder eine kleine Kirche. Allein dieses Wort hat ganz verschiedene Bedeutungen, nachdem jemand nur Dorfkirchen, oder Stadt- und Thumkirchen gesehen hat. Ist nun der Erzelllende von der ersten, der Zuhörer aber von der letzten Art, so wird sich dieser einen gantz andern Begriff von der Kirche machen, als des Erzehlers Meinung ist. [...] So ist es auch mit der Kleinheit, Schönheit, Menge, Ueberfluß, Ordnung, und vielen andern Begriffen beschaffen, darinnen die Menschen, ohngeachtet sie einerley Worte brauchen, gar nicht miteinander übereinkommen, (ebd.: VI, § 6).
Und um wieviel unklarer wird die sprachliche Formulierung, wenn wir auch noch - wie zuweilen; nach Chladenius, unvermeidlich - zu Gleichnissen, Metaphern und "Vergleichungen" "unsere Zuflucht nehmen"; wenn, unversehens, Wertungen sich einschmuggeln. 4.
Aus dem/den Sehepunckt(en) werden Erzehlungen gebildet: es ergeben sich mithin Probleme der Selektion und der für diese Selektion bei der Darstellung anzugebenden Relevanzkriterien; damit verbunden solche der Einseitigkeit und Parteilichkeit der Seh- wie Darstellungsweise. Und schließlich;
5.
Wo bleibt die versprochene Logik, "lógica practica", resp. wie steht es mit logischen Schlüssen in diesem Bereich?
Wir wollen in der Beantwortung der ersten drei Punkte noch skizzenhafter sein als hier, im kurzen Vortrag, generell nötig; hoffentlich ohne deshalb einerseits verfälschend, andererseits enigmatisch-kryptisch zu werden: -
Wie es für viele Fälle - etwa das Kirchen-Beispiel - intersubjektive Meßdaten und Meßsysteme gibt, so lassen sich auch die situativen Empfindungsvariablen, die zu verschiedenen Rezeptionen fuhren, rekonstruieren und somit interpretatorisch in Anschlag bringen: "[...] also wird auch nöthig seyn, den Zustand des Leibes und der Seele, mithin des gantzen Menschen zusammen zu nehmen, wenn man von seinen gehabten Empfindungen, und denen daraus flüssenden Erzehlungen Rechenschafft geben soll" (ebd.: V, § 4). Diese Empfindungen können also, jedenfalls dann, wenn sie sich zu ihrer Darstellung eines Regelinstruments, nämlich der Sprache, bedienen - so sie nicht ohnedies in der "Seele" bereits (vage) zeichenhaft vorliegen -, mitgeteilt werden - und bilden somit keinen rein privaten, unkommunikablen Raum. Und in der Tat - noch Wittgenstein hat vehement darauf hingewiesen -: gesetzt, es gäbe rein individuelle Empfindungen, so wäre doch deren Mitteilung, da an eine Sprache, i.e. eine soziale Praxis, gebunden, nicht privat: hermetisch geschlossene individuelle Sprachräume existieren (logisch) nicht.10
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Wittgenstein (1945/49/1971); vgl. auch: Savigny (1969/1974: 35ff.). Vgl. Chladenius (1752/1985: VI, § 4): "[...], wenn man, wie doch beständig und unvermeidlich geschiehet, die
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ECKHARD HÖFNER Diese generelle Kommunikationsleistung der (Normal-)Sprache ist Chladenius einem Aufklärer, damit vor jedem modernen 'philosophical/linguistic turn' stehend - selbstständlich; folglich setzt er auf die Stabilität/Konstanz der Semantik seiner Dokumente, Texte, Augenzeugenberichte: "Eine Nachricht" - so ist Cap. VII, § 17 überschrieben - "hat zu allen Zeiten einerley Verstand".11 Das heißt freilich nicht, daß solche Nachrichten nicht fragmentarisch sein könnten, oder durch wertende Partei-Meinungen einseitig, oder 'poetisch' dunkel; diese Probleme aber löst man durch Anwendung seiner Kenntnis der Rhetorik resp. generell der Auslegekunst.
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Und wo es solches Vertrauen in (Normal-)Sprache und die Konstanz der semiotischen Zeichenstruktur bzw. die Geordnetheit der Semiosis gibt, gibt es in der Aufstellung von Metasprachen und damit im Auffinden von (allgemeinen) Begriffen notwendig nur lösbare Probleme.
Zur Beantwortung von Punkt 4 blenden wir noch einmal zum "Sehepunckt" über, weist er doch mehr Aspekte auf als bislang genannt: Bezüglich der "cörperlichen" Dinge ist er definiert durch Materie, Entfernung zwischen Wahrnehmungsinstanz und Ding sowie dem Stand des Auges; Bezüglich der Anschauung der "moralischen Wesen" - teilanalog - von einer "Seite" oder Meinung oder Partei, von der aus man das Objekt betrachtet: durch soziales Normensystem, "Stand", Moral, Einstellung, Vorstellungswelt.12 individuellen Ideen, die uns beywohnen, in der Erzehlung durch allgemeine Worte ausdruckt: denn auf diese Weise wird der individuelle Begriff in den Begriff einer Art verwandelt, welche Begriffe allezeit viel weniger determiniret sind." 11
Chladenius weiter: "Wenn die Geschichte einmahl in eine Erzehlung ist gebracht, und zu einer Nachricht gemacht worden; so wird der Verstand der Erzehlung nach dem Wörterbuch und der Grammatick derselben Sprache bestimmt, darinnen die Erzehlung abgefasset ist (§. 13. Auslegek.): Folglich ist der Verstand einer Erzehlung bey allen, die über dieselbe Nachricht kommen, einerley. [...] Daher muß nun eine aufgeschriebene Nachricht zu allen Zeiten eben die Belehrung geben, die sie den ersten Tag gegeben, und eben die Belehrung den tausendsten Lesern geben, die sie dem ersten Leser und Nachsager gegeben." (ebd.: VII, § 17). Wieso sich gerade die Hermeneutik auf Chladenius beruft, bleibt anläßlich solcher Zitate rätselhaft; halten wir fest: das Problem der'Perspektiv(en) betrifft hier zuvörderst den "Zuschauer" und Augenzeugen, nicht die (historischen) Rezepienten, das "Wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" (Term: Gadamer).
12
"Unter einen allgemeinen Begriff' gebracht, gilt: "Der Sehepunckt ist der innerliche und äusserliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, flüsset." (ebd.: V, § 12).
CHLADENII "SEHEPUNCKT" Die Vorgänge einer Schlacht etwa bieten ein gutes, auch von Chladenius herangezogenes Exempel: ihre Beobachtung in toto wird einem/einem Betrachter nicht möglich sein; viel wird davon abhängen, auf welcher Flanke er steht, ob ein Hügel oder Wald ihm die Sicht versperrt usw.; viel auch ferner, auf welcher 'Seite' er für welche Partei, ob freiwillig oder gezwungen, in das Geschehen eingreift, ob er solches als General oder als Infanterist tut etc. Die Freunde der französischen Literatur werden sich hierbei an den Roman des 19. Jahrhunderts erinnern, an die Schlacht bei Waterloo aus der Sicht des orientierungslos über das Schlachtfeld irrenden Fabrizio del Dongo etwa oder gleich an die Perspektiventechnik Flauberts und dessen epistemologischen Leitsatz zum Problem der Realitätsauffassung: "Il n'y a pas de Vrai! Il n'y a que des manières de voir".13 Letzteres freilich ist (noch) nicht ganz Chladenius' Auffassung: sein Begriff des Sehepuncktes, "der mit den allerwichtigsten in der gantzen Philosophie im gleichen Paare gehet" und auf den "in der historischen Erkenntnis" "fast alles" ankommt, wird auf Leibniz bezogen - und dort ist Wahrheit, und sei es in Gottes Auge, noch gegeben (cf. Fn. 5); gälte das nicht, wäre man beim Pyrrhonismus (ebd.: V, § 12). Wie der "Sehepunckt" die Apperzeption lenkt, so lenkt er freilich auch die Wiedergabe des Gesehenen, die Erzehlung: "Es ist nämlich bey einer Erzehlung nicht zu vermeiden, daß jeder die Geschichte nach seinem Sehepunckte ansehe; und sie also auch nach demselben erzehle" (ebd.: VI, § 33). Und da der "Sehepunckt" nicht zu einer "vollständige(n) Geschichte" führen kann, gibt es auch in der Wiedergabe keine "gantze Erzehlung", sondern notwendig nur jeweils ein "verjüngtes Bild"; das Problem der Selektion - das im 19. Jahrhundert die genannten Literaten auf diversen Ebenen so sehr beschäftigte14 - ist für das Sehen wie für die Wiedergabe des Gesehenen also konstitutiv, wobei eine Reihe von verschiedenen Selektionsmustern und -notwendigkeiten zu unterscheiden bleibt.
"Davon [daß man gewisse Umstände und Theile zusammen nimmt, und sie sich auf einmahl, oder unmittelbar aufeinander vorstellet (ebd.: III, § 19)] kan nun nicht der Grund in der Sache selber liegen, sondern er muß in dem Zuschauer zu suchen seyn, der vermöge seiner besondern Umstände und Gedenckart, solche Determinationen vor andern bemerckt und zusammen nimmt." (ebd.: V, § 13). 13
Stendhal, La Chartreuse de Parme (1839); Flaubert, Brief an Léon Hennique, 2./3. 2. 1880.
14
Vgl. etwa Höfner (1980). Man kann nicht alle Vorgänge/Ereignisse auch nur zweier Stunden im Leben von, sagen wir Iphigenie, exhaustiv beschreiben, fuhrt z.B. Stendhal aus; sie füllten allein fünf Bände. Fügen wir mit Lévi-Strauss (1973, Kap. IX, S. 387) hinzu: "Selbst wenn ich über eine riesige Datenmenge diesen Typs verfügte, bliebe sie - solange unstrukturiert, damit unseligiert - inkomprehensibel." Setzen wir hier eine moderne Variante hinzu: Sartres (aussichtslosen) Versuch, in L'idiot de la famille unternommen, eine Selektion in der Biographie zu vermeiden: "Son [des Buches] sujet: que peut-on savoir d'un homme aujourd'hui? [...]. Cela revient à totaliser les informations dont nous disposons de lui." (Sartre 1971: I, 7ff, Préface).
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So fänden sich unter den "Zuschauern eines moralischen Wesens" (alles: Cap. V) also hinsichtlich der Wahrnehmung ("so kommen die Seiten lediglich vom Zuschauer her") - "Mitglieder", "Theilnahmer", "Freunde'V'Feinde", "Fremde", gar "Barbaren", aber auch "Gelehrte" vs. "Ungelehrte"; und jeder 'sieht' jeweils nach seinem "Stand", seiner "Stelle" und "innerlichem Zustand" (in "fröhlicher" oder "trauriger" Gemütslage). Zwar kommen in diesem Prozeß nicht bloß "seine fünff Sinne" - unter denen nach der generellen Apperzeptionshierarchie des 18. Jahrhunderts das Sehen den ersten Rang einnimmt - zum Tragen, sondern es kommt "die Vernunffit zu Hülffe", i.e. die Abstraktionsfähigkeit, Klassen-Bildung, die "Menge allgemeiner Begriffe" (ebd.: V, § 24), aber dennoch: "Ein Zuschauer erlangt" - "nur aus seinem eigenen Sehepunckte" - "keine vollständige Geschichte" (ebd.: V, § 26); "So ist es bey allen Geschichten: jeder Zuschauer hat nur eine gewisse Aussicht und Einsicht in dieselbe: und das hat hernach seine sichtbare Folgen in alle Erzehlungen derselben" (ebd.: V, § 26). Aus der (notwendigen) Perspektivierung des Sehens, aus dem das "Urbild" entsteht, folgt eine (ebenso notwendige) "Verwandlung der Geschichte im erzehlen" (ebd.: Cap. VI), deren Formen das VI. Kapitel auflistet; sie gehören zur "Erzeugung der Erzehlung". Dazu zählen: -
Probleme der Stoffanordnung wie "Verkürtzung" und "Weglassung vieler Umstände", aber auch andererseits die rhetorische amplificatio, ferner das im 18. Jahrhundert immer wieder (etwa Lessing: Laokoon) diskutierte Thema der Notwendigkeit, synchrone Ereignisse in Sprache syntagmatisch diachron anzuordnen; des weiteren die Extrapolation und digressio;
-
Probleme des (rhetorischen) ornatus: "angenehmer" vs. "rauher" Stil; "Vergleichung", Metaphern; aber auch: Epitheta und anderes Sprachmaterial, die/das auf Wertungen verweis(en)t; die Übersetzung der Ereignisse in "allgemeine Wörter", also Abstraktionsvorgänge;
-
vor allem: die "Einrichtung der Erzehlung nach einer gewissen Absicht" (ebd.: VI, § 9); dies Problem bildet einen Kernpunkt, führt es doch zu den Ausführungen über den "Begriff einer unpartheyischen Erzehlung" (ebd.: VI, §§ 33, 34): "Jeder wünschet sich, wenn er von einer Sache unterrichtet seyn will, eine unpartheyische Erzehlung, oder Nachricht." (ebd.: VI, § 33). Genau dies aber ist nach Chladenius ein unerfüllbarer Wunsch, der schon seine Begriffe nicht hinreichend definiert: Es ist nehmlich bey einer Erzehlung nicht zu vermeiden, daß jeder die Geschichte nach seinem Sehepunckte ansehe; und sie also auch nach demselben erzehle. [...]. Eine Erzehlung also mit völliger Abstracktion von seinem eigenen Sehepuckte, ist nach dem 4. und 5. Capitel nicht möglich. Eine unpartheyische Erzehlung kan also auch nicht so
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viel heissen, als eine Sache ohne alle Sehepunckte erzehlen, denn das ist einmahl nicht möglich: und partheyisch erzehlen, kan also auch nicht so viel heissen, als eine Sache und Geschichte nach seinem Sehepunckte erzehlen, denn sonst würden alle Erzehlungen partheyisch sein, (ebd.: VI, § 33). Wie aber sind dann die Begriffe 'parteilich' und 'unparteilich' zu definieren? 15 Unpartheyisch erzehlen kan daher nichts anders heissen, als die Sache erzehlen, ohne daß man das geringste darin vorsetzlich verdrehet oder verdunckelt: oder sie nach seinem besten Wissen und Gewissen erzehlen: so wie hingegen eine partheyische Erzehlung nichts anders als eine Verdrehung [resp. "Verdunckelung", "Verstümmelung", theils auch durchs Vergrössern] der Geschichte ist. (ebd.). Es ist dieser Komplex seiner Ausführungen, der - aus der Sicht von Vertretern der Hermeneutik - Chladenius zu einem Vorläufer des modernen historischen Bewußtseins werden ließ; noch sei dieser Aspekt zwar nicht ausgereift, aber doch bereits interpretierbar auf ein Zentralpostulat der Hermeneutik hin: den Zirkel der Geschichtlichkeit des Verstehens. 16 Wir resümieren - anhand von Gadamers Ansatz (1960: 284ff) - in aller Eile dieses Grundpostulat. Gadamer benutzt dazu die Metapher des Horizontes, die mit d e m Ausdruck "Sehepunckt" unseres Chladenius beträchtliche Ähnlichkeit aufweist. Jeder, so wird behauptet, befinde sich unausweichlich in seiner Geschichtlichkeit, seinem Horizont eingeschlossen. Notwendig von diesem aus trägt er in der Betrachtung von Objekten anderer historischer Zeiten resp. anderer (kultureller) Räume 17 seine "Fragen"
15
Vgl. zu diesem Problem der Historiographie: Koselleck/Mommsen/Rüsen (1977); der darin enthaltene Artikel Kosellecks (1977: 17-46) geht auch auf Chladenius ein.
16
Vgl. etwa Friederich (1985: XIII): "Phase des Übergangs von der rhetorisch-exemplarischen zur forschungsorientierten [was immer dies heißen mag: kann nur hermeneutisch geforscht werden ?] Geschichtsauffassung". Friederich (1982: 53): "Verglichen mit der gegenwärtigen Hermeneutik, die von der historischen und sachlichen Fremdheit eines Textes ausgeht, kann die chladnische Sachhermeneutik alles das als bekannt voraussetzen, was jener problematisch erscheint und den unvermeidlichen Durchgang durch die hermeneutische Spirale aufzwingt." Der ungewöhnliche Terminus Sachhermeneutik soll offenbar illegitimerweise jede Interpretation/Rekonstruktion als mehr oder weniger hermeneutisch ausweisen. Vgl. auch Geldsetzer (1969); Koselleck (1977); Gadamer/Boehm (1976); Rüsen/Schulze: "Methode, historische", in: Ritter u.a.(1980: V, Sp. 1345-1355).
17
Gerade die Ethnologie reflektiert das Problem des Fremdverstehens nicht immer hermeneutisch. Aufschlußreich ist etwa Clifford Geertz' theoretisches Schwanken zwischen Semiotik und Hermeneutik, vgl. seinen Artikel 'From the Native's Point of View': On the Nature of Anthropological Understanding von 1977: Unklar freilich bleibt, wie die semiotische Rekonstruktion kultureller Zeichen- und Normsysteme einer Kultur mit dem Dilthey'schen Einflihlen - "Was wird aus dem Verstehen,wenn das Einfühlen entfällt?" (Geertz: 1977/1983:
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an diese Objekte heran, die also einerseits durch die Befangenheit im geschlossenen geschichtlichen Horizont gesteuert sind, andereseits aber diejenigen sein sollen, auf die "der Text"/ die Objekte "eine Antwort war"(en).18 Der jeweilige Zeitabstand zum Objekt mache diese Unausweichlichkeit sichtbar: das Objekt Mittelalter z.B. habe von jeweils sich wandelnden, in sich geschlossenen (Epochen-^Horizonten her jeweils verschiedene, allesamt notwendig nicht mittelaltergemäße Betrachtungen erfahren, wobei letztere Behauptung eigentlich gar nicht aufzustellen ist, wenn das Theorem vom abgeschlossenen Horizont gelten soll. Man könne aus dem Horizont einer späteren Epoche sehen, wie frühere interpretatorisch in ihren Horizonten (Erfahrung; Selbstverständnis) befangen waren "Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein" -, kann aber selbst eben diese Befangenheit nicht umgehen: die Einsicht in die je epochale interpretatorische Bedingtheit vermeidet die eigene keineswegs. Dieser Zirkel der Geschichtlichkeit des Verstehens wird als ontologischer betrachtet, ist "fruchtbar" und sei vom logischen circulus vitiosus zu unterscheiden. Dieser sogenannte Zirkel ist zumindest ungenau formuliert: denn wenn es sich um geschlossene, jeweils historisch bedingte Horizonte der Interpreten handelt, um "Vorentwürfe", aus denen diese nicht herauskommen, dann können sie eigentlich an ihre raumzeitlich diversen Objekte nur ihre horizontbedingten Fragen stellen und folglich auch nur von ihnen dergestalt seligierte Antworten bekommen: das in der Tat ist zirkulär. Soll man aber an diese Objekte die Fragen stellen können, auf die sie eine Antwort waren, so muß man seinen Horizont doch wohl zu verlassen imstande sein oder aber postulieren, daß die scheinbar zeitbedingten Fragen eigentlich immer identisch seien: der erstere Vorgang wäre nicht zirkulär; das zweite Postulat wäre ahistorisch und machte die gesamte Horizont-Trennung überflüssig. Wenn es also, nach Gadamer und als zweiter Aspekt des "Wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins", in der gelingenden historischen Betrachtung zu einer Horizont-Verschmelzung kommt, kann es sich um einen Zirkel nicht handeln; das dialogische Frage-Antwort-Spiel wäre wissenschaftstheoretisch genauer als Hypothesen-Bildungs- und -Nachprüfungsverfahren formulierbar.19 Analoges gilt offenbar nicht allein bei der Betrachtung historischer Zeiten, sondern ist diesen Problemen sogar 'vorgelagert', da es konstitutiv sein soll für die Partner jedes Dialogspiels; der Horizont ist dabei der Kreis persönlicher Vorstellungen, die sich in einer partiell (privaten) Sprache manifestieren; im Dialog würde nun ebenfalls eine Verschmelzung der (Individual-) Horizonte vorgenommen als mühsame
290) - verbunden werden soll. Im Regelfall wird das semiotische Verstehen ohne Einfühlen rational klarer. 18
Ahnliche Dialogizitäts-Vorstellungen leiten auch Collingwood (1956: 228): "history is nothing but the re-enactment of past thought in the historian's mind".
19
Vgl. dazu Göttner (1973); Höfner (1976).
CHLADENII "SEHEPUNCKT"
21
- dann nicht zirkulär - oder unmögliche - dann zirkulär - Übersetzung der Partner'Sprachen'. Es hat ganz den Anschein, als wären Hauptpfeiler des Derrida'schen Philosophie-Gebäudes nur eine Radikalisierung der letztgenannten HermeneutikVariante der Unübersetzbarkeit, die freilich mit empirischen Befunden nicht in Einklang zu bringen ist: die 'Welt' leidet nicht generell am Problem der 'Unübersetzbarkeit' von (Privat-)Sprachen; die überwiegende Mehrzahl der Sprechakte gelingt, und wo sie nicht gelingt, können Dialogformen/Rückfragen helfen; selten liegt es am Locutions-Potential oder illocutiven Mißverständnissen, sondern z.B. an Perlocutions-Verweigerung.20 Auch bei K.-O. Apel ist ein historisch interpretierbarer Aspekt mit dem linguistischen zusammengeführt worden in seiner Theorie der Umgangssprache als letzter, unhintergehbarer Metasprache21: wenn jeder unausweichlich in einer sozial und historisch vorgeprägten "Interpretationsgemeinschaft" befangen ist, und wenn jede Wissenschaftssprache so auf die Umgangssprache bezogen bleibt, daß diese die eigentlich letzte Metasprache darstellt; wenn ergo die "Experimentiergemeinschaft", i.e. die (Natur-)Wissenschaften, in die "Interpretationsgemeinschaft", von der nur die Geisteswissenschaften etwas "verstehen", eingebettet bleibt, dann freilich käme es wenn auch nicht als Problem von 'Privatsprachen' - immer zu der skizzierten Unhintergehbarkeit von Horizont(en). Nun intendiere ich hier nicht, was man anderswo ausführlich und besser nachlesen kann, eine Kritik der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts: es sollte um Fragen des Sehens in kulturellen Zusammenhängen gehen, um den "Sehepunckt" des Chladenius; aber eben auch um die Frage, welcher Stellenwert seinen Überlegungen zur notwendig für den "Zuschauer" gegebenen - Perspektive in seiner Erkenntnis-Theorie zukommt. Und dabei schien der kleine Exkurs unvermeidlich, um zu zeigen, daß die Vereinnahmung unseres Aufklärers in der neueren Historiographie - er würde sagen: "einseitig" - ausfällt.22 Alle die Punkte, die der Hermeneutik unhintergehbar erscheinen, gelten Chladenius als lösbar: wie wir gesehen haben, ist die Semantik von Zeugnissen von seinen Se/ie/JM/zcfo-Perspekivierungen nicht unmittelbar, im Sinne von ineinander nicht übersetzbaren, bestenfalls verschmelzbaren (Privat-, Gruppen-, Gemeinschafts-,
20
Vielleicht sollte man allerdings gerade Derridas Darlegungssprache ausnehmen; doch davon nicht hier.
21
Vgl. Apel (1964/65) - in Auseinandersetzung mit P.Winch: The Idea ofa Social Science and Its Relation to Philosophy - und Apel (1970). Vgl. auch Freundlieb (1975). Seit etwa zehn Jahren stellt man bei Apel eine Hinwendung zur Semiotik als Basismodell fest; vgl. dazu auch Geertz (1977/83).
22
So ist es auch nicht erstaunlich, daß das genannte Buch Müllers (1917/1965) weniger auf den Sehepunckt - und schon gar nicht auf dessen hermeneutische Interpretation - eingeht als auf das Erklärungsproblem.
2±
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National-) Sprachen, betroffen: der "Fremde" z.B. hat kein darin begründetes Verständnis-Problem. Er bringt zwar andere Maßstäbe aus seinem Kulturkreis in die Betrachtung ein - ganz so wie etwa die von Chladenius zitierten Perser Montesquieus; 2 3 die Vermittelbarkeit der jeweiligen Horizonte wird aber nicht in Frage gestellt. Und die 'Parteilichkeiten', die sich, sei es aus verfälschender Absicht, sei es aus der unausweichlichen Blickwinkelverengung ergeben? D a ist an Abhilfe gedacht, die sich zwar zunächst auf ein Vertrauen (etwa auch) der (französischen) Aufklärung auf die Möglichkeit von Wissenskumulation stützt, die manchem in der Moderne - gewohnt daran, neues Wissen als andere theoretische Formulierung zu begreifen - 'naiv' erscheinen mag, in der Praxis etwa der Historiographie aber so 'naiv' gar nicht zu sein braucht: Ob aber in der Erzehlung eine solche Verdunckelung oder Verdrehung etwa vorgefallen, das kann man am besten aus Zusammenhaltung zweyer Erzehlungen aus entgegen gesetzten Sehepunckten, abnehmen. Denn was der eine entweder vorsetzlich, oder nach Beschaffenheit seines Sehepunckts kürtzlich [= in geraffter Form] erzehlet, welches einige Verdunckelung nach sich ziehet, das wird in der entgegen gesetzten Erzehlung umständlich angefüihret werden, was der eine groß vorstellet, wird der andere klein vorstellen: und durch Einsicht in die Regeln der historischen Erkenntniß wird man urtheilen können, wie die Sache innerlich beschaffen gewesen, welche von dem einen groß, von dem andern klein vorgestellet worden. Dergleichen abstrackte Einsicht aber niemand als einem Richter nöthig ist, oder aber dem der eine gelehrte Erzehlung machen will, die vor die gantze Welt ist. (Chladenius 1752/1985: VI, § 34). Es ist nach Chladenius also möglich, die aus verschiedenen Sehepunckten erfolgenden, damit (notwendig) "partheyischen" Darstellungen gegeneinander zu halten und zu vergleichen; eine beliebige Menge solcher Darstellungen, wie in der Mythenanalyse Lévi-Strauss', 'übereinandergelegt' und aufeinander 'durchgepaust', müßte dann Invarianten und ('Partei-') Variable sichtbar machen. Unser Bild der (historischen)
23
Vgl. Montesquieu (1721), Lettres persanes; vgl. auch Bayle (1702), Dictionnaire historique et critique, Art. Japon'. "Ce serait une chose assez curieuse qu'une relation de l'Occident composée par un Japonais ou un Chinoisf...]" (ebd.: S. 31); Dufresny (1707), Amusements sérieux et comiques: "Je vais prendre le génie d'un voyageur siamois:[...] il sera frappé de certaines choses que les préjugés de l'habitude nous font paraître raisonnables et naturelles" (ebd.: S. 31); Addison (1711), The Spectator, Nr.50; J. Bonnet (1716), Lettre écrite à Musala, sur les mœurs et la religion des Français; d'Argens (1739/40), Lettres chinoises; Mme de Graffigny (1747), Lettres d'une péruvienne, etc. Chladenius (1752/1985: V, § 23): "Der Unterschied ist, daß wenn eine Geschichte und Begebenheit einen Zuschauer von gantz fremden Sitten hat, er sich ein gantz ander Bild und Vorstellung davon macht, als die Einheimischen vermuthen; und die Sache diesen selbst fremde vorkommt, wenn sie sie nach des Ausländers Gedenckart erzehlen und beschreiben hören. Die Verfasser der Jüdischen, Persischen und Chinesischen Brieffe haben durch Annehmung einer solchen fremden Gedenckart, denen bey uns bekanntesten Sachen ein gantz ander Ansehen zu geben gewußt".
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21
Vorgänge und Bewertungen würde dadurch bereichert und gleichzeitig differenziert; man könnte dann nicht nur die Invarianten von den Variablen trennen, sondern sich auch anschicken, für das Zustandekommen dieser Variablen 'Gründe'/Motivationen zu suchen und zu rekonstruieren. Auch der eigene Sehepunckt bliebe dialogisch und korrigierbar auf andere Sichtweisen bezogen. Man sage nicht, die Historiographie gehe nicht - etwa wenn sie die Beschreibung und Bewertung einer historischen Figur oder Ereigniskette aus verschiedenen nationalen und/oder epochalen Sichtweisen untersucht und vergleicht - in praxi häufig auch ebenso vor. Wir vermerken ein wenig stolz, ein wenig gerührt, daß in diesem Perspektivenvergleich den "Gelehrten" - die noch nicht dem Verdacht der Trahison des clercs ausgesetzt werden - bei Chladenius eine zentrale Rolle in der ErkenntnisHierarchie eingeräumt, daß ihnen noch zugetraut wird, durch PerspektivenVergleichung, jeden Ideologisierungszwang zu vermeiden24, und wenden uns dem fünften Punkt zu. Nehmen wir an, die bislang skizzierten Schwierigkeiten wären befriedigend ausgeräumt. Wir verfügten dann - Zuschauer wie Hörer - über eine Reihe gültiger historischer Sätze, die Wahrnehmungen und Beobachtungen wiedergeben, kurz: "Anschauungsurtheile" sind.25 Das Problem beim "Urbild" liegt darin, daß wir - wie bei der "Erzehlung" - diese Sätze verknüpfen würden wollen, es ginge uns, wie im VIII. Kapitel des Chladenius dargelegt, um den "Zusammenhang der Begebenheiten". Wir würden als Hörer gerade in der Kommunikationssituation, der Chladenius seine Geschichtserkenntnis und -darstellung unterwirft - 'Warum?' fragen wollen; als Zuschauer und Berichterstatter gerne 'b, weil a' antworten dürfen. Und wir benötigen die Angabe solcher Verknüpfungsregeln und Gründe auch dringend, schon weil wir ohne sie nicht in der Lage
24
Vor allem: Chladenius (ebd.: V, § 21): "Unter den Gelehrten aber, möchte denen Lehrern auf hohen Schulen, wenn sie geübt sind, ein besonderer Sehepunckt zugeschrieben werden", nicht zuletzt deshalb: "Weil auch Lehrer auf Academien beständig mit Lehrern von andern Facultäten und Wissenschafften umgehen, so werden ihre Ideen gegen tausenderley andere objecto gehalten; wodurch erst ihr Nutzen, ihre möglichen Anwendungen, aber auch ihre Mängel erhellen. Ja endlich jeder Begriff wird zu einer gantzen Abhandlung in der Seele, da man denselben Stunden lang zu erwegen und auf allen Seiten zu betrachten nicht allein Gelegenheit hat, sondern auch öffters so gar genöthiget wird". Zum dadurch möglichen Status der "gelehrten Erzehlungen" vgl. ebd.: VI, § 19.
25
Chladenius (ebd.: V, § 27): "Wenn wir nun die Handlungen eines Zuschauers nach der Vernunfftlehre und ihren Begriffen abwägen, so findet sich, daß 1. lauter Empfindungen vorgehen; 2. daß wenn wir aber auf jede acht geben, ein Anschauungsurtheil in unserer Seele entstehe. Denn indem wir genauer darauf achtung geben, was vorgehet, so wird sich das Beständige von der Veränderung, die in ihm vorgehet, distinguiren; und so entstehet ein Urtheil. Weil aber hierzu kein Schluß, noch andere besondere Handlung der Seele erfordert wird, ein solches Urtheil zu fällen, so ist es ein Anschauungsurtheil."
2£
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wären zu begründen, weshalb wir genau unsere (notwendige) Selektion aus der Menge der beobachteten/zu beobachtenden Daten getroffen haben. Wir zögern aber zu sagen, a sei die "Ursach" von b, womit wir aus einem "iudicio intuitiuo" ein "iudicium discursiuum und einen Schlußsatz" (ebd.: VIII, § 1) machten; wir hätten nämlich, z.B. aus der Regularitätstheorie der Kausalität Humes gelernt "Ein Vorgang folgt einem anderen, doch können wir niemals eine Bindung zwischen ihnen beobachten-, sie scheinen verbunden (conjoined), doch nie verknüpft (connected)" (Hume 1748/58/1967: 99) -, daß die Relation 'ist Ursache von' genau dann vorliegt, wenn eine allgemeine Regelmäßigkeit/ein Gesetz existiert, das Vorkommnisse von der Art der Ereignisse a und b immer und ausnahmslos verknüpft. Erklärungen, wird später J. St. Mill sagen, bestehen aus der Subsumtion von Einzelereignissen unter Gesetze.26 Das ist ärgerlich, denn bislang haben wir nur Einzelereignisse, von denen wir zwar annehmen, daß sie unter eine allgemeine Klasse/einen "allgemeinen Begriff' fallen, aber uns fehlen historische Gesetze. Mit einem Wort: Chladenius stößt auf das Problem von Ursache und Wirkung bei empirischen Wahrnehmungen und Beobachtungs-Sätzen, - auf das Induktionsproblem.27 Nun - wir haben es bereits beim "Sehepunckt" (Problemkreis 4.) bemerkt - wirft Chladenius nicht gerne die Flinte vorschnell ins Korn; er bemüht sich folglich um Schritte, die ihn wenigstens in die Nähe von oder, nicht quantitativ, sondern qualitativ ausgedrückt: in eine Homologie zu kausalen Schlüssen bringen könnten, d.h. um quasikausale Schlüsse. Ein Ergebnis dabei ist "der Beweis, daß die Stücke unserer historischen Erkenntniß nicht durch Schlüsse verknüpft werden können; wenn die Begebenheiten gleich selbst nach syllogistischer Art zusammen hiengen" (ebd.:VIII, § 48).28
26
Hume (1739), A Treatise of Human Nature; ders. (1748/58), An Enquiry Human Understanding. Mill (1841), A System of Logic.
Concerning
27
Chladenius (ebd., § 1): "Nur mit der Erfindung solcher Schlüsse gehet es anders zu. Denn da man bey Erfindung anderer allgemeinen Wahrheiten, die nämlich nur a priori können erkannt werden, die Fördersätze (wenigstens bey dem ersten Erfinder) eher bekannt sind als der Schlußsatz; so ist hingegen in einem Schlüsse, da man die Ursach eines Dinges, oder einer Erfahrung entdeckt, der Schlußsatz eher bekannt als die Fördersätze. Und die Erfindung der physicalischen Ursachen nöthiget uns nach einem noch unauflößlichen Logikalischen Problemate zu handeln, welches so heisset: aus einem gegebenen Schlußsatze die beyden Fördersätze zu finden, welches niemahls in eine Regel wird gebracht werden, wegen der schon anderwerts bemerckten Schwierigkeiten."
28
Chladenius (ebd.: VIII, § 49): "Wenn wir also die Ursachen einer Begebenheit uns düncken einzusehen; und also einen Schluß gemacht haben, dessen Schlußsatz die Begebenheit ist, deren Ursache wir untersuchen, (§ 1) so wird doch der Schluß niemahls seine völlige Gestalt haben."
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27
Ein merkwürdiger theoretischer Satz: es gibt demnach hier zwar keine regelrechten logischen Schlüsse, aber gleichwohl Syllogismen-, und letztere gehören doch dem Bereich der Logik an. Spätestens seit den Analytica des Aristoteles kennt man sie, aufgeteilt in drei Oberklassen, die eine große Menge weiterer zu generieren erlauben. Und vielleicht ist Aristoteles - den unser Professor der Rhetorik natürlich kennt - ein Schlüssel zur scheinbaren Widersprüchlichkeit des Zitats: man wird sich an die aristotelische Rhetorik erinnern und an die dort dargelegte Reihe von Folgerungen, die Enthymemata heißen, oder an die Topica, in denen ein Schluß beschrieben wird, den man Praktischen Syllogismus genannt hat; ich erinnere an die Überlegungen Chladenius' zu einer Logica Practica und borge mir zur Verdeutlichung ein Beispiel aus der Sekundärliteratur: 1.
x intendiert, p zu verwirklichen, also eine Handlung mit einem Ziel;
2.
x ist der Überzeugung, daß er p nur verwirklichen kann, wenn er q tut;
3.
x macht sich daher - conclusio - an die Realisierung von q.
Einem 'Kausalisten', der sich sehr wohl auch auf Handlungen und Intentionen einließe29, würde dieses Schema nicht genügen; er würde ein Gesetz vermissen, etwa folgende Formulierung vor die conclusio rücken: 3.
(G) wenn immer jemand p intendiert und der Überzeugung ist, daß q für die Verwirklichung von p kausal notwendig ist, tut er q;30
4.
x macht sich daher an die Realisierung von q.
Offenbar führt uns unser Kapitel aus einer Geschichte des menschlichen Sehens mitten hinein in den Streit der "zwei Kulturen" von (natur-)wissenschaftlicher, szientifischer, und geisteswissenschaftlicher Intelligenz und Methodik.31 Die Debatte ist unabgeschlossen und wird nicht ohne ideologische Kanten geführt; weite Teile der Historiographie haben sich vorderhand auf einen Ausweg verständigt, den sie im Postulat der
29
Vgl. Intentionale Logik; auch Chladenius geht es um Intentionen und Handlungen, vgl. ebd.: VIII, § 15 ff.
30
Bedingung 3. bildet den sogenannten Ducasse-Satz, nach: Ducasse (1925: 150 ff). "Nach Auffassung des 'Kausalisten' ist der Ducasse-Satz als Prämisse erforderlich, nach der Überzeugung des 'Intentionalisten' ist diese Prämisse hingegen überflüssig." (Stegmüller 1975: 113).
31
Snow (1959/1960); vgl. Kreuzer (1969/1987).
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Notwendigkeit der historischen Erzählung - wohl nicht ohne Chladenius, aber bei genauer Betrachtung auch nicht strikt mit ihm - finden wollen. Dieser Ausweg freilich ist genau besehen ein Seitenweg, enthebt er doch nicht des Problems der historischen Erklärung und/oder rationalen Plausibilisierung von Ereignisverkettungen, das auch die Form der Geschichtserzählung darstellt. Verdeutlichen wir noch einmal den Auslöser der Debatte: Erklärungen in der Perspektive der (Natur-)Wissenschaften bedienen sich wissenschaftstheoretisch des Hempel-Oppenheim-Schemas, das besagt, daß man ein Explanandum gültig nur deduzieren kann, wenn im Explanans ein Gesetz enthalten ist: Explanans
1. Antecedensbedingungen (1, 2, 3... n) 2. Gesetz
Explanandum Geisteswissenschaftler wenden dagegen ein, daß es historische Gesetze nicht gebe, und daß daher das H-O-Schema in historicis nicht anwendbar sei.32 Der Einwand ist zwar nicht unplausibel, jedenfalls solange man nicht eine wie immer geartete Geschichtsphilosophie zu treiben wünscht; aber er ist zumindest unpräzise formuliert. Was in dieser Ablehnung historische(s) Gesetz(e) genannt wird, besteht aus einem Bündel von diversen Bereichen und damit Erklärungsansätzen, in dem partiell selbst physikalische Muster eine Rolle spielen. So lassen sich verschiedene historische Tatsachen - daß sich in einer gegebenen meteorologischen Situation die schweren Schiffe der spanischen Armada als manövrierunfähiger erwiesen denn die leichten der englischen Flotte; daß in einer anderen (Pfeilhagel; durchschlagende Feuerwaffen) schwere Ritter-Panzer geringen Vorteil bieten; daß man zum Funktionieren von Atombomben herkömmlichen Typs Beryllium-Spiegel benötigt etc. - nur naturwissenschaftlich erklären; andere verweisen auf Ökonomie, Soziologie, Psychologie. Allein dem Gebiet der Historiographie zuzuordnen ist zunächst keine einzige davon: Geschichtsschreibung muß dagegen begründen, welche Erklärungsmuster für welche Objekte und Gültigkeitsbereiche mit anderen zusammenspielen - es entstehe z.B. aus dem Bewußtsein seiner Überlegenheit beim Besitzer von Feuerwaffen eine Intention/Handlungsstrategie des Typs x gegenüber Gepanzerten, die sich vor der Erfindung von Feuerwaffen nicht hätte konzipieren lassen - und welche sie an welchem Ort mit welcher Erklärungsreichweite einsetzt. Historiographie fußt gar nicht auf einem Erklärungsmodell, sondern ist - implizit geht sie im allgemeinen so vor, obgleich sie es theoretisch gerne ablehnt - eine Misch-Praxis. Umso stärker freilich hätte sie die Überlegungen und Theorie-Entwürfe zu berücksichtigen, die die Wissenschaftstheorie z.B. in den Bereichen Induktion, statistische Erklärung, probabilistische Schlüsse, Logik der Intentionen und der Handlungen vorgelegt hat. Daß sie solches relativ selten reflektiert, und
32
Vgl. etwa Dray (1957); Gardiner (1959); Baumgartner/Rüsen (1976); Lübbe (1977).
22
CHLADENII "SEHEPUNCKT"
wenn, dann häufig in prekären Formen einer Monokausalität praktiziert, unterscheidet sie nicht zuletzt von Chladenius, dem gerade diese Punkte ein - wie immer stellenweise 'naiv' gelöstes33 - Anliegen darstellen und zumindest der Thematisierung wert sind. So bleibt es durchaus richtig zu sagen, es gebe keine historischen Gesetze: einmal, weil die Erklärungsmuster verschiedenen und verschieden formalisierten Disziplinen angehören; zum anderen, weil nicht - ob noch nicht oder grundsätzlich nicht, stehe im Moment dahin - alle diese Wissen(schaft)s-Bereiche über Erklärungsmuster nach dem H-O-Schema verfügen. Dieses Problem ist schon C. G. Hempel selbst bewußt gewesen und hat ihn 1942 dazu veranlaßt, für solche Fälle einer Erklärungsnotwendigkeit, denen zu conclusiones vorerst kein(e) Gesetz(eshypothese) zur Verfügung steht, den Weg der Erklärungsskizze zu wählen; damit würde zwar keine Erklärung geliefert, die für alle Teil-Aspekte und Implikanten des zu erklärenden Phänomens x nach naturwissenschaftlichen Standards abliefe, aber doch eine, die den optimalen Erklärungsgrad des zur Verfügung stehenden Wissens und damit auch der Erklärungspram böte, und die damit allen zum Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Rekonstruktionsmöglichkeiten Rechnung trüge. Zudem liefe sie nach rational verfügbaren Rekonstruktionskriterien ab, wäre metasprachlich klar formulierbar und schlösse damit die nötige Falsifizierbarkeit (etwa durch Auftauchen neuer Real-Daten oder durch interne Stringenzerfordernisse der Hypothetisierung) ein.34 Unserem Gewährsmann Chladenius - und das ist sein Dilemma - hätten 'Erklärungsskizzen' letztlich nicht genügt, käme ihnen doch nur der Status der "Wahrscheinlichkeit" zu, der ihm allzeit als Signum des Pyrrhonismus erschien35; interessanterweise genügen sie theoretisch auch weiten Teilen der heutigen Geschichtsschreibung nicht, obwohl diese in praxi nicht anders vorgeht: dem Satz A. C. Dantos (1965/1980: 337) "Vielleicht müßte die Deduzierbarkeits-Voraussetzung aufgegeben werden" kontrastiert die Tatsache, daß niemand von uns ein - allemal auch narratives - Geschichtswerk wüßte, in dem der Satzanschluß 'daher'/'deshalb'/'folglich' etc. fehlte, und zwar so, daß der gezogene Schluß implizit auf eine unbestimmte gesetzesähnliche Annahme verwiese.36
33
Z.B. sein aufklärungstypisches Vertrauen auf die Konstanz einer (a-historischen) Anthropologie.
34
Hempel (1942); vgl. auch ders. (1966); Danto (1965/1980); Stegmüller (1969).
35
Chladenius (1747), Idolum saeculi: probabilitas.
36
Also auch, aber nicht allein innerhalb der Problematik, die Chladenius (ebd.: VIII, § 1) so formuliert: "Hingegen in der Erkenntniß der Geschichte, wenn man sich anders in Ursachen einlassen will, ist die Frage nicht von der Regel und allgemeinen Begriffe der Begebenheit, sondern warum an diesem Orte, zu der Zeit, sich etwas zugetragen: [...]. Hier wird man bald sehen, daß allemahl, um die Ursach zu finden, auf den vorhergehenden Zustand der Dinge, und auf die älteren Begebenheiten müsse zurückgesehen werden".
Idolum ist eine Anspielung auf Francis Bacon.
ECKHARD HÖFNER
M
Kehren wir zu Chladenius zurück und gliedern wir einen bestimmten Aspekt der Erklärungsdebatte, der ihm wichtig ist, aus dem Gesamtkomplex aus: den der Handlungslogik im Rahmen von Sehen und Darlegen/"Erzehlen", damit im Rahmen der induktiven Schlüsse. Chladenius beginnt sein Induktions-Unterfangen mit einer Unterscheidung, die man später die von analytischen und synthetischen Sätzen nennen wird; für Beobachtungssätze sind letztere ausschlaggebend: Wenn man nun bey Geschichten auch von Ursachen höret, so kan uns leicht dabei einfallen, daß die Begebenheiten der Welt aus den vorhergehenden auf eben die Weise folgeten, als wie Schlußsätze aus den Fördersätzen flüssen, und also alles mit Schlüssen und Syllogismis auszurichten sey. Hier aber äußert sich nun der größte Unterschied. Bey allgemeinen Wahrheiten folget eine aus der andern, oder eine ist schon in der andern enthalten: bey historischen Wahrheiten aber ist keinesweges zu behaupten, daß das nachfolgende in dem vorhergehenden enthalten sey. [...]. Es ist also hier nicht die Frage: wie das nachfolgende an sich aus dem vorhergehenden folget, welches eine metaphysische Untersuchung ist; sondern wie das nachfolgende, das wir wissen, aus dem vorhergehenden folge, das wir auch wissen? (1752/1985: VIII, § 42).
Ferner schlägt er eine "Nützliche Eintheilung der Handlungen, wenn man von den Ursachen derselben handeln will" (ebd.: VIII, § 3) vor: 1.
"Handlungen, die an sich und in sich mit einem Vergnügen verknüpfft sind, welches entweder erlaubt oder unerlaubt seyn kan" (ebd.: VIII, § 3);
2.
Handlungen aus Pflicht(en);
3.
Handlungen zu einem Nutzen oder Zweck, aus Intentionen heraus37: "Diese Art der Handlungen ist in der historischen Erkenntniß die wichtigste" (ebd.: VIII, §3).
Das nun ist ein Ansatz, der sich zwar nicht in der philosophischen Hermeneutik wiederfindet, aber in der modernen Wissenschaftstheorie, und das genau dort, wo man versucht, den Streit der "zwei Kulturen" in einen Dialog der Natur- und Geisteswissenschaften zu überführen. Ein Beispiel dafür bietet Georg Henrik von Wrights Buch Erklären und Verstehen (1974), das in den bekannten beiden (angeblich: kontroversen) Hauptbegriffen die Opposition von Natur- und Geisteswissenschaften aufnimmt.
37
"Hier ist der Bewegungsgrund ausser der Handlung, und von der Handlung selbst unterschieden; und heisset die Absicht" und "Solche Handlungen, so lange man sie nur im Sinn hat, heissen Anschläge, woraus die Thaten entstehen (ebd.: VIII, § 4)".
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Von Wright unterscheidet die Galilei'sehe von der Aristotelischen Tradition; erstere zielt auf kausale Erklärungen und kann sich dabei (weitgehend) auf Naturgesetze stützen, verfügt damit also über die Erklärungs-Prämisse G (also den DucasseSatz); letztere auf die teleologische Erklärung. Ferner untersucht er "quasi-kausale historische"38 Erklärungen, i.e. intentionalistische Erklärungsmodelle, die zur Untersuchung von Phänomenen dienen, die der Herrschaft von sozialen Institutionen, Codes und Regeln unterliegen. Man untersucht damit die Faktoren, die das Verhalten von Individuen als Mitglieder von sozialen Gemeinschaften bestimmen. Die Handlungen, die dabei zutage treten, sind gelenkt durch "determinierende Faktoren": Bedürfnis, Pflicht, Fähigkeit, Gelegenheit. Wenn man dazu auf eine Gesetzesprämisse G vom obgenannten Typ verzichten muß, so kann man nur auf Quasi-Schlüsse ausweichen, auf Formen induktiver Schlüsse also. Man wird dazu rekurrieren auf - siehe Aristoteles, Analytica, Topica, partiell die Rhetorik - den Praktischen Syllogismus. Um aber statt des Streites in den Dialog der "zwei Kulturen" eintreten zu können, wird es nötig sein, zu einer Verträglichkeitsthese zu gelangen, d.h. zu zeigen, daß die wissenschaftlichen Normenrahmen beider 'Kulturen' so eingehalten werden können, daß Modell! mit Modell2 kompatibel (zu machen) ist, woraus folgt, daß man ebenso gut Mj wie M2 wählen kann. Gelänge dies, so rückte die Opposition von Erklären und Verstehen, die gerade die Hermeneutik betont - und zuweilen, in wissenschaftlich inakzeptabler Weise, ontologisch fundieren will -, in eine nicht mehr die Wissenschaften kategorial trennende Position; beide Verfahrensweisen bildeten eine echte Alternative. Lassen Sie mich eine kurze Darstellung der von Wright'sehen Überlegungen geben: Wie ist ein Satz zu verstehen, der behauptete, die Ursache für den Ausbruch des I. Weltkrieges sei die Ermordung des österreichischen Erzherzogs im Juli 1914 in Sarajevo gewesen? Wir haben darin ein Explanans, die Schüsse von Sarajevo, und ein Explanandum, den Ausbruch des Krieges, wobei die theoretische Forderung der logischen Unabhängigkeit von Explanans und Explanandum eingehalten wird. Ist die Folgerung aber eine "kausale"? Wohl kaum, und zwar nicht deshalb 'kaum', weil nur eine von mehreren Ursachen genannt wird. Hume würde - allemal fehlt ein Gesetz - erklären, die beiden Ereignisse seien conjoined, aber nicht connected. Nach von Wrights Analyse liegt folgendes vor: Ereignis! (Sarajevo), das den Rahmen der bislang geltenden Handlungsbedingungen/Interessen/Intentionen des österreichischen Kabinetts ändert; aus "praktischen Schlüssen" gezogene Motivation für weitere Handlungen, i.e. der Motivationshintergrund-, das führt zu Ereignis2 (österrei-
38
"Und die Erklärung 'kausal' zu nennen, ist ebenso ganz in Ordnung, solange wir sie nicht auf gleiche Stufe mit Erklärungen stellen, die das Gesetzesschema der Erklärung erfüllen. Die Erklärung 'teleologisch' zu nennen, wäre sicherlich eine falsche Bezeichnung, obwohl Teleologie wesentlich in die das Explanans mit dem Explanandum verbindenden praktischen Schlüsse eingeht." (von Wright 1974: 130).
ECKHARD HOFNER
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chisches Ultimatum); Ereignis 2 ändert den Motivationshintergrund (Handlungsbedingungen/Interessen/Intentionen) der russischen Regierung; diese Änderungsintention, gezogen aus syllogismis practicis, führt zu Ereignis 3 (Antwort der russischen Regierung: Mobilmachung) usf. Die Erklärung historischer Ereignisse (z.B. des Ausbruchs eines Krieges) besteht oft einfach in dem Verweis auf eines oder mehrere frühere Ereignisse (z.B. eine Ermordung, einen Vertragsbruch, einen Grenzzwischenfall), die wir als deren 'Mit-Ursachen' ansehen. Wenn man die Antecedensbedingungen Explanantia nennt, dann sind Explananda und Explanantia in solchen historischen Erklärungen tatsächlich logisch unabhängig. Was sie jedoch verknüpft, ist nicht eine Menge allgemeiner Gesetze, sondern eine Menge singulärer Aussagen, die die Prämissen praktischer Schlüsse bilden. Die Conclusio, die aus dem in diesen Prämissen gegebenen Motivationshintergrund gezogen wird, ist oft nicht das Explanandum selbst, sondern irgendein anderes, dazwischenliegendes Ereignis39 bzw. irgendeine andere, dazwischenliegende Handlung - in unserem Beispiel das österreichische Ultimatum das bzw. die in den Motivationshintergrund eines wiederum anderen praktischen Schlusses mit einer anderen Zwischen-Conclusio - etwa Rußlands Mobilisierung seiner Armee - eingeht und so fort durch eine Anzahl von Schritten, bis wir schließlich zum Explanandum selbst kommen, (von Wright 1974: 129f.).40 Das scheint zunächst von Hempels Vorschlag der Erklärungsskizze - mit ihr verträglich ist e s allemal - nicht allzu weit entfernt; aber von Wright kommt vor allem ohne die
39
"Ein Ereignis, so könnte man sagen, ist ein Paar von aufeinanderfolgenden Zuständen." (von Wright ebd.: 24).
40
Einfache Linie bedeutet, "daß eine Tatsache die Prämissen eines praktischen Schlusses beeinflußt"; fette Linie besagt, "daß sich eine neue Tatsache als eine Conclusio aus den Prämissen ergibt." (von Wright ebd.: 130). Praktische Prämissen
Explanans
Explanandum
C H L A D E N I I "SEHEPUNCKT"
¿2
'Lücke' aus, die nach Hempel von einem (noch zu findenden) Gesetz aufgefüllt werden müßte/könnte. 4 1 In die Rekonstruktion des Motivationshintergrundes geht nun ein - u m zur skizzierten Ereignis-Logik zu gelangen - die Analyse von Intention(-alität), die von Wright in seinem III. Kapitel ausführlich darlegt 42 , und zu der man ferner die Überlegungen und Formen der Entscheidungstheorie nutzen kann, um zur "Gewinnung eines intentionalen Verständnisses einer Handlung" (Stegmüller 1975: 121) zu gelangen. Abzustellen ist dabei nach von Wright nicht auf eine Kausalerklärung Hume'schen Typs, sondern auf eine - wenn erstere nur in Einzelfällen sich anbietet, so ist diese immer möglich - logische Verknüpfung, auf die L (Logik) -Wahrheit des "Logischen Verknüpfungs-Arguments" (von Wright 1974: 109).
41
Auch zu Hempels Vorschlag der Erklärungsskizze ein Schema (aus: Stegmüller 1969: 357): (b): historisch-genetische Erklärung:
'S(2)
*
A
« s 2
so)
Y + D(2)
'S(n)
'S(3)
* ®
S(n-1)
S(n) Y
* +D(3)
D(n)
Cf. dagegen: (a) kausal-genetische Erklärung: S(1)->S(2)-S(3)—•S(n-l)->S(n) (bzw. im Fall statistischer Gesetze mit probabilistischem Index). S: Sätze, welche bestimmte Tatsachen über gewisse Zustände beschreiben; Pfeile: gesetzmäßige Verknüpfungen, wobei der Einfachheit halber nur nichtstatistische Gesetzmäßigkeiten vorausgesetzt sind." Wie wir wissen, ist diese Voraussetzung im historischen Fall nur sehr selten erfüllt; außerdem sind die Gesetze meist nur andeutungsweise formuliert. 'S((2)...'S(n) sind jene Sätze, die Tatsachen beschreiben, welche aus den vorangehenden Zuständen als Antecedensdaten erklärt werden können. D(2).. .D(n) dagegen stellen zusätzliche Informationen dar, die ohne Erklärung eingeschoben werden müssen, um eine hinreichend umfassende Klasse von Antecedensdaten für die Ableitung des nächsten Zustandes zu erhalten." 42
Das Grundmodell von S. 27 wird präzisiert (von Wright 1974: 83- 121): Intentionalistische Erklärung: Prämisse l:x intendiert von jetzt an, p zur Zeit t zu verwirklichen; P 2: x glaubt von jetzt an, daß er p nur dann zur Zeit t verwirklichen kann, wenn er q nicht später als zur Zeit t' tut; P 3: x vergißt weder seine Intention noch die Zeit t'; außerdem wird x nicht davon abgehalten, q zu tun; Conclusio: daher schickt sich x nicht später als zu der Zeit, da er t' für gekommen hält, an, q herbeizuführen.
ECKHARD HÖFNER Es entsteht zwischen den Ereignissen! 2 3 n ein "motivationaler Mechanismus, dessen Funktionieren als eine Reihe praktischer Schlüsse rekonstruiert werden kann", wobei gilt: "Historische Ereignisse 'fuhren notwendig' zu anderen Ereignissen, wenn sie die Menschen angesichts bereits existierender Ziele und Intentionen zu einer Neueinschätzung der 'Erfordernisse der Situation' führen. Historische Ereignisse 'ermöglichen' andere Ereignisse, wenn sie dadurch, daß sie die Handelnden mit neuen Handlungsmöglichkeiten versehen, die Intentionen umformen" (ebd.: 140). In ähnlicher Weise hatte Chladenius (1752/1985: Cap. VIII) bereits Absichten ("Anschläge") und "Gelegenheiten" untersucht und zwei Klassen gebildet. Für die erste - "leicht einzusehen": dahin gehören die Intentionen aus "Vergnügen", aus "Pflicht" und ein Großteil derer aus "Nutzen" - gelte: "Ich würde es auch so gemacht haben" (ebd.: VIII, § 5).43 In der zweiten finden sich die "sonderbaren und neuen", die "bösen" und die "ungeheuren Anschläge", alle auch - obgleich Irrationalismen inkludierend "größtentheils begreifflich", wiederum durch Rekonstruktion, diesmal der "besonderen Gedenckart"44, wozu die der "besonderen Umstände", der "Gelegenheit" tritt.45 Allerdings lassen die zwei Klassen nur unterschiedliche Formen der Erklärung, der Schlüsse zu: innerhalb der ersten Klasse sind, nach Chladenius, noch Kausalschlüsse möglich; bei der zweiten ist es "nicht wohl möglich", "daraus einen Schluß, der förmlich wäre, zu machen"; hier nun tritt die Logica practica mit den ihr eigenen Schlußverfahren in ihr Recht: "Auf diese Art kommt man einem sogenannten Causalschluß gar nahe." (ebd.: VIII, § 14).46
43
"In solchen Fällen ist daher die Ursach bekannt, wenn man nur die besonderen Umstände der Sache weiß: Die Erfüllung der Ursach kan jeder aus der gemeinen Gedenckart der menschen vor sich selbst machen." (ebd.: VIII, § 5). Man griffe zu kurz, wollte man darin ein psychologistisches Argument sehen; die "Gedenckart" umgreift die Klasse der jeweils rekonstruierbaren sozialen Konventionen, Regeln, Normen.
44
Das Problem einer hier implizierten Rationalitätsthese bewegt Toumela (1974) zu kritischen Einwänden gegen von Wright; die Einwände sind ausräumbar, vgl. Stegmüller (1975: 118f.). Zur Rationalitätsthese in historicis, vgl. Dray (1957); sie ist dort gegen H-O-Erklärungen gesetzt; zur Kritik an Dray, vgl. Stegmüller (1969: 379ff.).
45
"Die Umstände von welchen wir reden, sind in dem gemeinen Begriffe und Benennung der Gelegenheit enthalten." (Chladenius 1752/1985: VIII, § 11).
46
"Wo wir die Ursach eines Dinges erkennen, da machen wir einen Schluß: Die Begebenheit, die wir aus ihren Ursachen herleiten, wird ein Schlußsatz (§. 1.) dieses geschiehet mit Zuziehung eines allgemeinen Satzes." (Chladenius ebd.:VIII, § 11). Das ist die erste Variante; zur zweiten ist "in Ansehung unserer Erkenntniß ein grosser Unterschied": "So werden wir doch in Ansehung der Anschläge von der vornehmsten Gattung, ausnehmende Schwierigkeiten finden, die Ursachen derselben zu entdecken. Denn es werden dabey 1. besondere Umstände voraus gesetzet (§. 6.): Die also von den gemeinen und schon längst bekannten Arten der Handlungen, und der Zustände der Dinge, abgehen; und sie sind also auch nicht so leichte in einen förmlichen Satz zu bringen, als wie die gemeinen Bege-
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Der Ausgangspunkt für die modernen Überlegungen ist ebenso ähnlich wie die Problemlage, wobei letztere freilich erheblich präzisiert werden kann. Wir kehren zurück zu von Wrights Konzept vom "normativem Druck" (1974: 134), aus dem "Verhaltensregeln" folgen, und das man in interne und externe Determinanten untergliedern kann, um so zu unseren vier Klassen von determinierenden Faktoren zu gelangen: Bedürfnisse/Wünsche, Pflichten, Fähigkeiten, Gelegenheit(en).47 Damit können Kriterien zur Erstellung eines Motivationshintergrundes gewonnen werden; und im zweiten Schritt kann man damit zu gültigen Schlüssen gelangen. Der Terminus Determinismus mag dabei philosophisch - nicht zuletzt im (etwa Laplace'sehen) Sinne der Kausalitätsgesetze - zu stark vorbelastet erscheinen; von Wright differenziert - und dies zurecht - zwei "Typen von Determinismus" (ebd.: 145), von denen der eine in Zusammenhang stehe mit der "Idee der Voraussagbarkeit", der andere mit der "Idee der Verständlichkeit des historischen und sozialen Prozesses" (ebd.: 145): "Man könnte die beiden Typen u.U. Prä-Determination und PostDetermination nennen. Die Verständlichkeit der Geschichte ist ein Determinismus ex postfacto", weil die für sie konstitutiven Schlüsse - genau diejenigen, die Chladenius zu suchen unternahm: "die Frage, [...] wie das nachfolgende, das wir wissen, aus dem vorhergehenden folge, das wir auch wissen" (1752/1985: VIII, § 42) - quasi-kausale Schlüsse sind.48
benheiten und Umstände der Dinge. Es wird aber auch 2. eine besondere Gedenckart erfordert (§. cit.): davon also keine allgemeine Regeln vorhanden sind." (ebd.: VIII, § 11). Und: "Ein Anschlag, wenn er mit einem Satze soll verglichen werden, der sich demonstriren lässet; müste nicht mit einem Corollario, sondern mit einem Theoremate in Parallel gestellet werden, von welchem wir anderswo gewiesen haben, daß es nicht durch eine einfache Reyhe Schlüsse könne erwiesen werden, sondern mehr als eine Reyhe erfordere. Logica practica (§.32.p.25)." (ebd.: § 13). 47
Wir verweisen auf den Begriff des "moralischen Wesens" zurück, an den eben die sozialen Konventionen und Normen gebunden sind, die Bedingungen abgeben für die determinierenden Faktoren.
48
Von Wright (1974: 110): "Trotz der Wahrheit des Logischen Verknüpfungs-Arguments haben also die Prämissen eines praktischen Schlusses nicht mit logischer Notwendigkeit ein bestimmtes Verhalten zur Folge. Aus ihnen folgt nicht die 'Existenz' einer zu ihnen passenden Conclusio. Der Syllogismus ist, wenn er zum Handeln führt, 'praktisch' und kein logischer Beweis. Nur wenn eine Handlung bereits vorliegt und eine praktische Argumentation zu ihrer Erklärung oder Rechtfertigung konstruiert wird, nur dann haben wir eine logisch schlüssige Argumentation. Die Notwendigkeit des praktischen Schlußschemas ist, so könnte man sagen, eine ex post facto verstandene Notwendigkeit." (Hervorh. d. A.). - Nochmals: es handelt sich nicht um kausale, aber auch nicht um teleologische Schlüsse, sondern um eine dritte Klasse.
ECKHARD HÖFNER Man veranschlage nun die Relevanz solcher Schlüsse, trotz der von Wright'sehen Einschränkung des Gültigkeitsbereiches, aber nicht niedrig: von zwei gegebenen, auf derselben Datenmenge basierenden Rekonstruktionen einer historischen 'Handlung' könnte damit die eine - weil nicht logisch verknüpfend - zurückgewiesen, die andere weil logisch verknüpfend - als historisch 'wahr' aufrechterhalten werden; ein wichtiges Entscheidungskriterium zur Unterscheidung divergierender historischer Darstellungen ist damit zur Hand. Von großer Tragweite ist dabei, daß 1.
die Argumentation von Wrights logischen und rationalen Kriterien genügt49;
2.
ein Beweis der Verträglichkeit der (hermeneutisch) getrennten Begriffe - und damit wird auch die bekannte Opposition von Natur- und Geisteswissenschaften betroffen - Erklären und Verstehen erbracht werden kann.50
Man muß kein Vertreter eines strikten Vereinheitlichungszwanges in der Wissenschaftstheorie sein - wobei wir in jedem Falle die heute zuweilen geäußerte Meinung als unsinnig verwerfen, die Objekte einer Wissenschaft suchten sich selbst ihre Theorie -, um solches Ergebnis im Streit der zwei Kulturen zu begrüßen. Wir finden die Verträglichkeitsthese auch bei manchen modernen Historikern nicht zufällig in der Debatte über die These von der Unausweichlichkeit der Narrativität in der Historiographie, die sich gegen das wissenschaftskonforme Erklären wendet: "Diese Frontstellung ist unhaltbar, weil Erzählung und Theorie überhaupt keine Alternativen sind, die sich gegenseitig ausschließen." (Rüsen 1982: 26).51 So mag Dantos "pragmatische Überlegung, daß in gewissen Zusammenhängen dasjenige, was Menschen wollen und erwarten, wenn das Bedürfnis nach Erklärung empfunden wird, ganz schlicht eine wahre Geschichte ist" (1965/1980: 371), ebenso viel für sich haben wie eine Geschmackswahl, die uns, delectare vor utile gesetzt, zu
49
Einige Probleme klärt etwa Stegmüller (1975). Relevant erscheint dabei vor allem die Überprüfung des praktischen Syllogismus durch Instrumente der Entscheidungslogik'. "Die innerhalb der Entscheidungstheorie angestellten Betrachtungen sind in dreifacher Hinsicht komplexer: Erstens wird dort davon ausgegangen, daß der Handelnde (in der Regel) mehrere Ziele oder Wünsche hat, zwischen denen er wählen muß. Zweitens wird dabei mitberücksichtigt, daß es (in der Regel) mehrere Möglichkeiten der Zielerreichung gibt und daß der Handelnde zwischen den zu wählenden Mitteln ebenso wie zwischen seinen Wünschen Präferenzen hat. Drittens ist die Entscheidungstheorie insofern keine bloß qualitative Theorie, als sie mit quantitativen Begriffen des Wünschbarkeitsgrades und der Wahrscheinlichkeit arbeitet" (ebd.: 117).
50
Noch mit etwas Skepsis: Wright (1974: l l l f . ) ; eindeutig: Stegmüller (1975: 121, 139f.).
51
Vgl. vor allem auch: Rüsen (1979) und Hardtwig (1979).
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einem Werk narrativer Historiographie greifen läßt; eine theoretische Notwendigkeit, Geschichtsschreibung narrativ zu strukturieren, ist daraus ebenso wenig ableitbar wie die Meinung, daß Historiographie Narrativität erzwänge, weil in diesem Felde deduktiv-nomologische, also H-O-Erklärungen, nur eine eingeschränkte Rolle spielten.52 Wie wir zu zeigen versucht haben, ist das Paradigma rationaler und logischer Erklärungsmuster erheblich breiter und jede Geschichtsdarstellung, sie sei narrativ oder etwa struktural, wird ohne ihre Verwendung (und die theoretische Rechtfertigung ihrer jeweiligen Verwendung) nicht auskommen können. Ein Musterbeispiel dafür, wie man die Probleme sicher nicht angehen darf, hat Golo Mann (1979) in seinem, unter anderem gegen Stegmüller gerichteten Plädoyer für die historische Erzählung geliefert: jeder "theoretische Vorgriff' kappe die "Fülle des Lebens"; Strukturbeschreibungen gäben die "Wandlungen" und "Ereignisse" nicht wieder und: "[...]; post factum zu wissen, daß die Strukturen die Ereignisse notwendig produzierten oder mit großer Wahrscheinlichkeit produzieren würden, erscheint mir billig" (ebd.: 41).53 Wir wenden entschieden ein: jede Wissenschaft seligiert aus der "Fülle des Lebens" ebenso notwendig wie jede Form der Narrativik; G. Mann verkennt den fundamentalen Unterschied zwischen dem Objekt 'Welt' und der zu ihrer Darstellung (nicht nur wissenschaftlich) notwendigen Metasprache über die 'Welt'; es gibt nachweislich gültige Beschreibungsmodelle für Strukturwandel, i.e. SystemTransformationen auf diachroner Achse. Und wir wüßten gerne, "billig" hin oder her, wie man denn (historische) Ereignisse ante factum oder auch inter/intra facta wissenschaftlich wie "erzählend" beschriebe. Dies Plädoyer krankt nicht nur an seiner Unkenntnis des Diskurses von Wissenschaft; es kennt und reflektiert auch die Probleme des Erzählens und der Erzähltheorie kaum. Unser Beitrag zum Problem des Sehens im Rahmen dieser Leipziger Ringvorlesung hat uns weit - scheinbar unziemlich weit - vom Thema Sehen weggeführt. Oder ist es so, daß der kulturgeschichtliche Aspekt des Sehens immer eine relevante 52
Wir gestehen dabei gerne zu, daß Dantos Betonung des Erzählens statt des Erklärens, wiewohl uns letztlich nicht stringent erscheinend, vielschichtig ist und Erklärungsmuster des hier genannten Typs nicht einmal ausschlösse, also reformulierbar wäre.
53
"Fülle des Lebens": "Denn hier steht alles in einem ständig bewegten Zusammenhang, wirkt alles auf alles und zuletzt kommt heraus, was niemand vorausgesagt oder gewollt hatte." (Mann 1979: 42ff.). "Meine Überzeugung ist eine andere: Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist unerschöpflich; darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents zu erkunden." (ebd.: 49). Dagegen gehalten sind die Vorschläge unseres Chladenius überaus einsichtig, reflektiert und nachgerade 'modern'.
ECKHARD HÖFNER Relation zum Sprechen aufweist, weil wir uns des Sehens wie des Gesehenen (fast) immer in Sprache vergegenwärtigen? Wenn das aber stimmt, wenn die Sprache (fast) immer eine der Rahmenbedingungen für diese (wie, obzwar hierarchisch gestaffelt, für die meisten anderen) Sinnenapperzeption(en) abgibt, wenn wir schon neurophysiologisch Bilder dechiffrieren, 'umstellen' und u.U. memorieren, wenn wir, in Galileis Worten, allemal beobachten, "se non con l'occhio della fronte, almeno con quel della mente", wenn wir Gesehenes, zumindest innerhalb der Kommunikation - und die führt man auch mit sich selbst -, ständig in Sprache übersetzen, dann waren wir so weit vom Thema nicht entfernt mit unseren Fragen zu Beobachtungssätzen, Anschauungsurteilen, erklärenden Satz- und Urteilverknüpfungen, mit der Perspektivengebundenheit oder Perspektivenvermittelbarkeit von Sichtweisen, Ansichten und Einsichten.
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Alfonso de Toro Universität
Leipzig
FORMEN DES SEHENS IM FRANZÖSISCHEN KULTURSYSTEM DES 19. JAHRHUNDERTS UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG VON ROMAN UND LYRIK
"E ora ditemi" [...] "come avete fatto a sapere?" "Mio buon Adson" [...] "È tutto il viaggio che ti insegno a riconoscere le tracce con cui il mondo ci parla come un grande libro. Alano delle Isole diceva che omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est in speculum e pensava alla inesausta riserva di simboli con cui Dio, attraverso le sue creature, ci parla della vita eterna. Ma l'universo è ancor più loquace di come pensava Alano e non solo parla delle cose ultime (nel qual caso lo fa sempre in modo oscuro) ma anche di quelle prossime, e in questo è chiarissimo." (Umberto Eco, Il Nome della rosa, 1980: 31f.).
"Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n'y a qu'à l'étudier. La Société française allait être l'historien, je ne devais être que le secrétaire." (Honoré de Balzac, Avant-Propos, 1842/1976: 11).
"Mais dans la choix des documents, un certain esprit dominera, et comme il varie, suivant les conditions de l'écrivain, jamais l'histoire ne sera fixée." (Gustave Flaubert, Bouvard et Pécuchet, 1881/1965: 152).
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ALFONSO DH TORO
DAS SEHEN: EINIGE VORÜBERLEGUNGEN UND VORAUSSETZUNGEN
1.1. Das Sehen und sein epistemologischer Ort 1.1.1. Allgemeines Das 'Sehen' ist ein Phänomen, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle für die Erkenntnis spielt, und zwar im Sinne von Ergründung der Größe 'Tiefe'. Bereits bei Goethe findet das Sehen in der Farbenlehre (1810/1959, I) oder in Die Schriften zur Naturwissenschaft (1810/1952, II) Eingang, und ab der zweiten Hälfte des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert wird das Sehen zu einer zentralen Kategorie, die besonders die französische Kultur beschäftigen wird.1 Überwiegend in wissenschaftlichen Disziplinen wie Botanik (des Schweden Carl von Linné, Gründer der histoire naturelle), Biologie (Charles Darwin), Zoologie (Georges Louis Leclerc Comte de Buffon), Paläontologie bzw. Anatomie der Tiere (Georges Cuvier, Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, der auch Botaniker war), Medizin (Claude Bernard), Physik, Malerei (Impressionismus), Architektur (Passagen-Bauten; Fourier), Photographie (Niepce/Daguerre, Talbot) und auch Philologie (Hippolyte Taine) gewinnt das Sehen große Bedeutung. Goethe (1810/1952, II: 439ff.) befaßt sich im Rahmen des Sehens z.B. mit der Physiognomie, und zwar ausgehend von Lavater, später werden sich Balzac (1834/ 1966: 25) und Benjamin (1983: 288) der Archäologie des Innen- und Außenraumes (mit den intra et extra muros bzw. mit der "Physiognomie der Wohnung") zuwenden. Es versteht sich von selbst, daß im Rahmen dieses Beitrags ein so komplexes Problem wie das des Sehens, welches auf verschiedenen Gebieten zu finden ist, nicht mit der notwendigen Breite wird behandelt werden können. Dennoch möchte ich versuchen, auf eine stark synthetisierende Art und Weise ein Panorama wichtiger Aspekte und Korrelationen zwischen diesen Gebieten der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst im Hinblick auf die Problematik des 'Sehens' zu bieten. Meinen Ausgangspunkt stellen zwei für die Beschreibung des 19. Jahrhunderts fundamentale Werke dar: Ich gehe in der Hauptsache von Michel Foucaults Les mots et les choses (1966) und von Walter Benjamins Passagen-Werk (1983) aus, von Arbeiten also, die selbst einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft einleiteten. Benjamin betrachtet sein Herangehen an Kultur und Geschichte als "kopernikanische Wendung" (1983 [Kl,2]: 490-491), indem er von einer statischen Betrachtungsweise
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Das Phänomen werden wir überall dort vorfinden, wo sich Großstädte gebildet haben; außer Paris muß man auch London und Berlin nennen.
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zu einer dynamischen2 übergeht. Foucaults Schriften haben die Theorie der Differenz und der Dekonstruktion bzw. die Postmoderne eingeleitet. Beide Werke haben gemeinsam, daß sie sich mit dem 19. Jahrhundert befassen (der zweite Teil von Foucaults Les mots et les ckoses ausschließlich), beide widmen sich dem Problem der Oberflächenund Tiefenstruktur, den Ähnlichkeiten und Differenzen, dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Sie wollen deutlich machen, was hinter den Chiffren und Diskursen verborgen liegt. Sie beabsichtigen die Darstellung einer Geschichtlichkeit des Unsichtbaren und deren Repräsentationen sowie einer Geschichtlichkeit der Dinge, des Alltags, eine Darstellung der Brüche, die die Geschichte beinhaltet. Während Foucault uns die theoretische Basis für die Erkenntnis liefert, nämlich welche Bereiche des Denkens und Wissens im 19. Jahrhundert revolutioniert wurden, wie die unterschiedlichen Diskursreihen und -formationen miteinander verbunden sind und wo die Episteme, d.h. die Kristallisationspunkte von Denken und Wissen zu orten sind, stellt uns Benjamin eine monumentale Montage von Zitaten und Quellen, eine Geschichte des Sehens und zugleich eine Geschichte 'von unten' vor3, in der ausgehend von einer "materialistischen Physiognomie" (Tiedemann 1983: 29) von der Oberflächenstruktur auf die Tiefe und von partikulären Erscheinungen und Gegenständen auf das Allgemeine geschlossen wird. So zielen Benjamin und Foucault darauf ab, den sich dem regulären kulturellen bzw. historischen Diskurs entziehenden Signaturen des 19. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen, um den Zusammenhang von Kultur, Wissen, Denken und Handeln zu dechiffrieren. Die erwähnte "kopernikanische Wendung" liegt eben vor allem darin, die traditionelle Geschichtsschreibung mit ihrem Anspruch auf "zeitlose Wahrheit" (Benjamin 1983: [N3,2] 578) zu überwinden. Geschichte wird als Weg, als etwas Erlebtes, als Konstrukt verstanden4. Gerade diese Auffassung von
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Benjamin (1983 [Kl,2], 490-491): "[...] man hielt für den fixen Punkt das »Gewesene« und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen"; und (ibid.): "Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden"; (ibid.: [N7,2], 587): "Entscheidend ist weiterhin, daß der Dialektiker die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation betrachten kann, die er, denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprung ist."
3
Benjamin (1983: [NI,8], 571): "Das bildschaffende Medium in uns zu dem stereoskopischen und dimensionalen Sehen in die Tiefe der geschichtlichen Schatten zu erziehen"; (Ibid.: [Nl,a,8], 574): "Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisiert sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden"; (Ibid.: [e°,l]): "Noch eines: jener anamnestische Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht, zieht nicht nur Nahrung aus dem, was ihm sinnlich vor Augen kommt, sondern vermag des bloßen Wissens, ja toter Daten wie eines Erfahrenen und Gelebten sich zu bemächtigen."
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Benjamin (1983 [N2,6], 575): "Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten,
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Geschichte, zusammen mit dem Ziel, "die Abfälle der Geschichte" und die "dialektische" Bedingtheit von Vergangenheit und Gegenwart bzw. das "Totalgeschehen" ("auf nichts zu verzichten", ibid.: 578), macht Benjamin zum Fortführer der Konzepte, die Le Goff unter la nouvelle histoire und White unter Metahistory entwickelten. Diese 'neue' Geschichtskonzeption bedeutet eine "Abkehr von einer Geschichtsschreibung, die an der Oberfläche der Ereignisse verharrt und sich auf monokausale Erklärungen versteift" (Le Goff 1978/1994: 20). Man begreift hier die Geschichtsschreibung als 'Konstrukt', insofern die Wirklichkeit nicht als gegeben, sondern als jene, die zu gewinnen sei, verstanden wird. Diese sich von der sog. Faktengeschichte abwendende Geschichtskonzeption ermöglicht die Öffnung bzw. Entgrenzung zu anderen Gebieten hin, die von der traditionellen oder offiziellen Geschichtsschreibung unberücksichtigt blieben. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang die Erwähnung der Ziele der nouvelle histoire hinsichtlich der "Entmythologisierung der Ursprünge" und ihr nachdrückliches Bemühen, "die Gegenwart durch die Vergangenheit zu verstehen, aber auch die Vergangenheit durch die Gegenwart" (Le Goff ibid.: 23-24). Die nouvelle histoire versteht sich ferner als Versuch, eine histoire totale zu vermitteln. Ihr Projekt gilt der Erneuerung der Interpretationsansätze der Geschichtswissenschaft. Um dies zu erreichen, stellt sie sich zwei Hauptziele: die Geschichtsschreibung "aus der Routine, aus ihrer inneren Erstarrung herauszuführen und ihre Gettoisierung zu beenden" (Le Goff ibid.: 17) und eine interdisziplinäre Arbeit mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aufzunehmen. Es geht also darum, den Menschen in seiner alltagsweltlichen Totalität zu erfassen und die bloße Chronik durch die Beschreibung von langfristigen Strukturen ("longue durée") zu ersetzen. Das heißt, der Historiker muß es sich zur Aufgabe machen, die Geschichtlichkeit nicht nur aus objektiv-materiellen, sondern auch aus psychischen und kulturellen Strukturen zu gewinnen. Ergänzend zu den Ansätzen der nouvelle histoire werden die Thesen von Hayden White (1973/1994; 1978/1986; 1987/1990) im Kontext der sog. Metahistory mitberücksichtigt. White geht von einem gleichen Status des historiographischen und fiktionalen Diskurses aus, insofern er eine durch das "Erzählen" konstituierte Tiefenstruktur ausmacht. Der Historiker nämlich - so White - "vollzieht einen wesentlichen poetischen Akt, der das historische Feld präfiguriert und den Bereich konstituiert, in dem er die besonderen Theorien entwickelt", die zeigen sollten, "was wirklich geschehen ist" (1973/1994: 11). Davon ausgehend entwickelt er zwei Strategien, erstens die 'tropologische Analyse', die von der Hypothese ausgeht, daß die Tiefenstruktur narrativer Texte von vier grundlegenden rhetorischen Figuren - der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie - konstituiert ist, und zweitens die Strategie der 'ideologischen Analyse', die Handlungsstrukturen mit Ereignischarakter beschreibt, die aufgrund ihres narrativen Status einen "moralischen Sinn" aufweisen. Diese Auffassung
scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu erreichen. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. [...] Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen."
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von Narrativität, die ja eindeutig auf strukturalistische bzw. poststrukturalistische Prämissen zurückgreift (Barthes, Derrida, Jakobson, Lacan), versteht die Tropen als "das rationale Wissen, auf dem die Welt basiert", als eine "fiktionale Matrix", die Tatsachen miteinander verbindet und interpretiert. Damit stellt White den Wahrheitsanspruch der traditionellen Geschichtsschreibung in bisher nie da gewesener Form in Frage. Die historiographischen Ansätze Le Goffs und Whites, die in den epistemologischhistorischen Kontext der Postmoderne einzuordnen sind - vor allem im Falle des letzteren -, erreichen die gestellten Ziele durch die interdisziplinäre Arbeit mit verwandten und nicht verwandten Wissensbereichen. In diesem Zusammenhang kommen die Ergebnisse der Analyse des historischen und fiktionalen Diskurses, also die Resultate der nouvelle histoire/Metahistory, Strukturalisten, Semiotikern und postmodernen Philosophen, letztlich der Literaturwissenschaft zugute und sollen auch hier fruchtbar gemacht werden. Neben der Geschichtlichkeit und der Tiefe ist zweifelsohne das Sehen eines der Grundepisteme des 19. Jahrhunderts, wobei das Epistem 'Mensch' als übergeordnetes zu verstehen ist. In diesem Denk- und Wissenskontext lehrt uns Benjamin, wie eine Geschichte des Alltags, eine Geschichte der Spuren, die fast ausschließlich vom Sehen geprägt ist, zu schreiben wäre. Er wollte herausfinden, wo die Ursprünge lagen bzw. was sich hinter dem Bau der Passagen verbarg, was die Anwendung von Eisen und Glas für die Menschen bedeutete, welches Denken eine solche Auswahl prägte, welche Ideologie sich in den Boulevards und in den Warenhäusern niederschlug, welche Auswirkungen die Photographie z.B. auf die Malerei oder auf das Buch hatte. Während Foucault über die Formation der Diskurse und ihre Macht spricht, konzentriert sich Benjamin auf das unmittelbar Gesehene und abstrahiert dann eine materialistische Metaphysik. Beide Haltungen finden sich im Motto-Zitat aus dem Munde Wilhelm von Baskervilles in Ecos Roman II Nome della rosa wieder. Dieses Zitat erlaubt uns aber, einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Mittelalter, der Neuzeit und der Moderne festzuhalten: Während das Mittelalter das Verstehen, die Erkenntnis und die Wahrheit von Gott, d.h. von dem in den Zeichen chiffrierten Göttlichen bzw. von der göttlichen Offenbarung ableitete, gewinnt die Neuzeit eine wissenschaftliche Begründung aus Natur, Mathematik, Physik und aus spekulativ rational fundierten Modellen. Der Wissenschaftsbegriff der Neuzeit wird durch den Positivismus und den Historizismus, durch die naturwissenschaftlichen Disziplinen abgelöst, in deren Zentrum die Beobachtung, das Experiment, die Überprüfbarkeit (Reproduktion) von Phänomenen und die Ableitung von allgemeinen Gesetzen steht. Diese wenigen Bemerkungen mögen die wissenschaftlichen Grundlagen des vorliegenden Beitrags erläutert haben. Was den Primärkorpus anbelangt, so werde ich auch Beispiele aus den Naturwissenschaften, vorwiegend jedoch aus der Literatur verwenden. Mein besonderes Interesse gilt dabei Balzac, dessen literarische Konzeption und literarische Praxis von der Flauberts, Zolas und Baudelaires ergänzt wird.
ALFONSO DF- TORO 1.1.2. Àrt, Beschaffenheit und Ebenen der Größe 'Sehen' Zunächst möchte ich die Frage nach Art und Beschaffenheit der Größe 'Sehen' im 19. Jahrhundert beantworten, um sie dann mit der Literatur zu korrelieren. Man kann mindestens vier große Bereiche als Ausgangspunkt für diese Erörterung zugrunde legen, die in das Phänomen Fortschritt und Evolution eingebunden sind: Naturwissenschaft, Geschichtsschreibung, Großstadt und Literatur. So sind die Naturwissenschaften durch eine Durchdringung der Tiefe gekennzeichnet, d.h. durch die Organisation des Wissens auf der Basis der Zusammengehörigkeit von tieferliegenden Funktionen und den auf der Oberfläche erscheinenden Manifestationen. Die Biologie wird zum Beispiel durch die Vivisektion und die Aufdeckung von mystères, durch Wissensfragmentarisierung und die empirische Triade 'Beobachtung-Experiment-Gesetz' sowie durch Evolutionstheorien bestimmt. Die Geschichtsschreibung ist gleichwohl durch den Evolutionsgedanken, den Vitalismus und die Perspektivierung im Rahmen einer nichtteleologischen Ausrichtung markiert. Die Großstadt erlebt den Ausbau des Verkehrsnetzes, die Entwicklung der Fotografie, die Städteerneuerung, die Entstehung der Warenhäuser, Boulevards und Passagen, die Einführung der Gasbeleuchtung, den Beginn der Massenliteratur sowie die Zirkulation von Waren und Kapital.5 Die Literatur wiederum nimmt Bezug auf diese kulturellen Größen: Balzac ist der große Erkunder der Tiefe, der Aufdecker und Interpret der mystères, die er immer noch in ein Gesamterkenntnissystem einzuordnen sucht. Flaubert entledigt sich dieser Art von Gesamtschau und führt sowohl Perspektivierung als auch Subjektivierung von Sehen und Erkenntnis als einzige Möglichkeit des Wissens ein. Er relativiert damit die Empirizität der Fakten sowie die Möglichkeit von gesicherter Erkenntnis generell. Baudelaire entdeckt die Städte als neue Landschaften und macht die Flüchtigkeit der Zeit sowie die Verabsolutierung des Augenblicks am Beispiel des Flaneurs - eine seiner Hauptfiguren - deutlich. Unter dem Begriff 'Sehen' subsumiere ich in diesem Zusammenhang mindestens zwei Bedeutungen. Zum einen unterscheide ich eine rein naturwissenschaftliche Bedeutung - auch dann, wenn ich diese zeitweilig metaphorisch verwende - mit der Zielsetzung, das Unsichtbare durch bestimmte Methoden sichtbar zu machen und zu deuten, also die in der Tiefe gewonnenen Größen mit deren Konkretisation auf der Oberfläche zu korrelieren und anschließend zu interpretieren. Damit gelangen wir in den Bereich der Hermeneutik, die - worauf Höfner (1980: 74-75) zu Recht hinweist im 19. Jahrhundert nicht unbedingt in Opposition zu den naturwissenschaftlichen Methoden steht. Das 'Sehen' betrachten wir zweitens als einen Akt individueller, partikulärer und subjektiver Beobachtung, z.B. eines Flaneurs oder eines Dandys, bei dem die Phantasie zu einem analytischen Instrument wird, als einen Akt, durch den wie
5
Zu diesen Bereichen vgl. Höfner (1980: Kap. 2).
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in den Naturwissenschaften - und mit deren Hilfe - Erkenntnisse erzielt werden.6 Unter den 'Sehenden'/Beobachtern treffen wir also auf zwei Spezies: auf den Naturwissenschaftler einerseits und den Künstler andererseits, wobei sich die Philologie, im 19. Jahrhundert verstanden als Sprachwissenschaft, Textologie und Biographismus, ebenfalls als eine empirische, positivistische Disziplin begriff. Mir geht es nicht nur darum, die Zeichen in ihren konkreten Manifestationen zu beschreiben und zu interpretieren, sondern auch darum, ihre Funktionen und Relationen in der Tiefe zu deuten und die Beziehungen zwischen relevanten Bereichen zu beschreiben: die Beziehungen zwischen Sehen und Graphem, zwischen Blick und Literatur, zwischen Sehen und dessen literarischer Umsetzung, zwischen Sagen und Beschreiben.
1.1.2.1. Wissenschaft Im 19. Jahrhundert ereignet sich ein bereits von Foucault (1966) eingehend beschriebener epistemologischer Bruch: Eine fundamentale Änderung im Bereich der Organisation des Wissens und damit des Denkens wird deutlich, die sich schon spätestens seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts abzeichnete. Dieser Bruch äußert sich im Auseinanderklaffen der Manifestation von Erscheinungen und Phänomenen auf der Oberfläche und ihrer Zuordnung in der Tiefe. Das Problem ist uns seit Ende des 16. Jahrhunderts bekannt. Don Quijote verwechselt Windmühlen mit mythischen Riesen, er ist also unfähig, dem Referenten 'Windmühle' einen adäquaten Signifikanten bzw. Signifikate zuzuordnen. Hier liegt das Problem allerdings auf einer anderen Ebene. Während die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Zeichenzuordnung bei Don Quijote aus einer Zersprengung der semiotischen Triade Signifikat-SignifikantReferenz resultiert, Denken und Wissen also noch mythisch, göttlich und ikonisch nach 6
Hier im Sinne des Begriffs der imagination von Baudelaire (1976, H: 329): "L'Imagination est une faculté quasi divine qui perçoit tout d'abord, en dehors des méthodes philosophiques, les rapports intimes et secrets des choses, les correspondances et les analogies." (Ibid. : 627): "Tout l'univers visible n'est qu'un magasin d'images et des signes auxquels l'imagination donnera une place et une valeur relative; c'est une espèce de pâture que l'imagination doit digérer et transformer. Toutes les facultés de l'âme humaine doivent être subordonnées à l'imagination, qui les met en réquisition toutes à la fois. De même que bien connaître le dictionnaire n'implique pas nécessairement la connaissance de l'art de la composition, et que l'art de la composition lui-même n'implique pas l'imagination universelle, ainsi un bon peintre peut ne pas être un grand peintre. Mais un grand peintre est forcément un bon peintre, parce que l'imagination universelle renferme l'intelligence de tous les moyens et le désir de les acquérir." Vgl. auch Balzac (1931/1971: 89): "Ma seule ambition a été de voir. Voir, n'est-ce pas savoir? ... Oh! savoir, jeune homme, n'est-ce pas jouir intuitivement? n'est-ce pas découvrir la substance même du fait et s'en emparer essentiellement?"
ALFONSO DE TORO dem Prinzip von Ähnlichkeit und Analogie organisiert waren, liegt das Problem der Klassik und der Moderne darin, daß ab dem 17. Jahrhundert Ähnlichkeiten und Differenzen zwar auf der Ebene der Beobachtung und Analyse erkannt, aber je nach sich entsprechenden/ausschließenden Merkmalen auf der Oberfläche in ein tableau als petitio principi der Klassifizierung und ohne Ansehen ihrer jeweiligen Funktionen eingeordnet werden. Im 19. Jahrhundert werden Organismen etwa nach ihren Funktionen geordnet, so gehören Wal und Pferd zur übergeordneten Klasse der Säugetiere. Die Feststellung der Funktionen macht den Blick in die Tiefe, das erkennende Sehen notwendig. Die neue Organisation des Wissens ist aber durch das Auseinanderklaffen von Oberfläche und Tiefe erschwert, wobei die Vielfalt an Erscheinungen auf der Oberfläche nicht so ohne weiteres mit den Funktionen in der Tiefe zu korrelieren ist. Das gesamte Wissen kann also nicht mehr einheitlich organisiert werden. Der Blick in die Tiefe erzeugt vor allem Differenzen, das tableau, auf dem alles so klar zerlegt und klassifiziert wurde, wird obsolet. Damit verbunden ist auch die Entstehung der Einzelwissenschaften, die sich der Beantwortung partieller Fragen widmen. Die aus der Fokussierung und Perspektivierung der Fragen resultierende Zersplitterung des Wissens läßt kein Gesamterkenntnissystem mehr zu, wie es beispielsweise in der Klassik noch möglich war. Von nun an konkurrieren mehrere Systeme mit- und untereinander, d.h. es gibt unterschiedliche Sehweisen und daher auch unterschiedliche Wahrheiten. Es ergeben sich nun, da kein verbindliches Erkenntnissystem mehr zur Verfügung steht, zahlreiche Widersprüche und Diskontinuitäten.
1.1.2.2. Geschichte Dieses 'labile' System, das sich zunächst synchron durch die Spezialisierung konstituiert, bewirkt, daß im 19. Jahrhundert die große Geschichte, die Geschichtsschreibung neu definiert wird. Die sich neu konstituierenden Disziplinen verlangen nach einer Legitimation und nach Anknüpfungspunkten. Das hatte die Entstehung eines ausgeprägten Geschichtsbewußtseins zur Folge. Die neuen Wissenschaften brauchten eine Historisierung ihres Tuns, gerade weil die nicht nur synchron, sondern auch zeitlos sowie per Analogie operierende klassische Organisation des Wissens nicht mehr zur Verfügung stand. Im 19. Jahrhundert will man - so paradox es erscheinen mag wieder Kontinuität herstellen, obwohl sich das System in Diskontinuitäten organisiert und manifestiert. Mensch, Historisierung, Beobachtung, Analyse und Experiment stehen im Zentrum des sich neu abzeichnenden Erkenntnissystems. Die Geschichte, gerade in der Biologie oder Zoologie bekannt als histoire naturelle, war vor dem 19. Jahrhundert vor allem bemüht zu sammeln, zu inventarisieren und zu klassifizieren, ohne das Erfaßte in seiner Evolution zu beschreiben. Die Geschichte im 19. Jahrhundert erschöpft sich nun nicht mehr in der Darstellung von Ereignissen bzw. Fakten, die als unerschütterlich und zeitübergreifend gelten, sondern
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sie ist selbst zeitlichen Wandlungen unterworfen. Die sog. Fakten werden aus verschiedenen Perspektiven interpretiert. Damit gibt es nicht nur eine einzige geschichtliche Wahrheit, sondern unterschiedliche, die je nach Standpunkt des Beobachters und je nach Zeitpunkt anders ausfallen. Im 19. Jahrhundert können zumindest zwei große Richtungen in der Geschichtsschreibung ausgemacht werden7: zunächst eine teleologische. Als Beispiel kann das marxistische Konzept von Wissenschaft dienen, das letztlich auf eine Einheit abzielt: die Aufhebung der Entfremdung, damit Mensch und Arbeit eins werden können. Ihr Ziel ist die Aufhebung der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Ungleichheit, also das Glück des Menschen (Ahnliches kann man über Freuds heilungsgerichtete Psychoanalyse sagen). Eine andere Richtung ist die nicht-teleologische, die stark mit der Klassik und Romantik sowie mit dem Historizismus verbunden ist, in der die dargestellten und interpretierten Fakten nur eine Möglichkeit unter anderen bieten. Die Wirklichkeit ergibt sich in diesem System aus einer Oberflächenstruktur (die Fakten in ihrer Erscheinung) und aus einer Tiefenstruktur (hier wird untersucht, wie diese Fakten entstehen und wie sie einzuordnen sind, welche Funktionen und Auswirkungen sie haben). Damit entsteht eine Realitätsebene! (Oberflächenstruktur) und eine Realitätsebene2 (Tiefenstruktur), woraus ein historisch variabler Wirklichkeits- bzw. Realitätsbegriff resultiert. Dieser Wirklichkeits- bzw. Realitätsbegriff ist ein Ergebnis des Sehens, des Blickes, der Beobachtung und der Perspektive. In diesem Zusammenhang rückt auch die Geschichte der Dinge in den Vordergrund. Durch die geschichtliche Darstellung von Objekten kann man Aussagen über den Menschen und den Verlauf der Geschichte insgesamt treffen. In dieser Tradition sehen wir Benjamins Entwurf einer Geschichte des Alltags, einer Geschichte von unten, die einer gewaltigen Entgrenzung der Gebiete und Gattungen im 19. Jahrhundert Rechnung trägt. Ferner haben wir eine enge - und längst von Benjamin, aber vor ihm von Baudelaire (s.u.) erkannte - Korrelation und Bedingtheit von Literatur/Kunst und Wissenschaften. Sowohl das, was sich innerhalb der Natur- bzw. der exakten Wissenschaften als auch das, was sich innerhalb der Geschichtsschreibung ereignet, wird tiefgreifende Auswirkungen auf Literatur und Kunst haben.
1.1.2.3. Großstadt Das Sehen wird im 19. Jahrhundert nicht nur aufgrund der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung zum Epistem, sondern auch aufgrund der Umwälzung in den Großstädten wie Paris, London oder Berlin. Die Reurbanisierung von Paris, der Bau der Haussmannschen Boulevards mit breiten Straßen und großzügigen Gehwegen, der Bau der Passagen, die Entstehung der Warenhäuser, die Zunahme der Verkehrsmittel, 7
Vgl. Höfner (1980: 71-84).
ALFONSO DE TORO die Zirkulation von Waren und Kapital, die Dynamik, Aufgeregtheit und Flüchtigkeit der Börse und des Lebens insgesamt, die Fotographie, das Feuilleton, die Mode und Modezeitschriften, die Industrialisierung samt Bildung von Ballungsräumen und die Mechanisierung der Arbeitswelt, all das bewirkt eine dialektische Bewegung: Auf der einen Seite wird die Straße mit ihren Menschen- und Warenmassen zum Mittelpunkt der Gesellschaft; auf der anderen Seite tritt eine Anonymisierung des Individuums ein (beides verkörpert durch den Flaneur). Der Mensch versucht, diese Tatsache mit einem Rückzug in die bürgerliche Intimität zu kompensieren, indem er sich mit unzähligen Alltagsgegenständen umgibt, die zur Konstitution seiner Identität beitragen. Allerdings ist die Verquickung zwischen Außen- und Innenraum sehr stark, wobei deren Grenzen, bei einer gleichzeitigen und steten Zunahme des Einflusses des Außenraumes, zu entschwinden beginnen. An dieser Nahtstelle bleibt nur der Selbstbezug, da weder die Außen- noch die Innenräume Halt geben können. Es entsteht der Narziß. Dies ist aber gleichzeitig die Geburtsstunde des Flaneurs und des Zerbrochenen, des Außenseiters. Die Straßen sind offen und breit und die groß angelegten Parkanlagen laden zum rituellen Spaziergang ein. Man stellt sich zur Schau. Sehen und gesehen werden, das steht im Mittelpunkt des Interesses. Die Mode wird vorgeführt: Kleidung, Kutschen und Utensilien wie Regenschirme. Man begegnet sich, man verschlingt sich mit den Augen. Hier werden Bekanntschaften geschlossen und Rendezvous vereinbart, hier ist der Ort der Verführung und der zur Schau getragenen Lust, Männer und Frauen tragen ihre Errungenschaften spazieren. Die Passagen sind aus Glas, man kann in alle Geschäfte hineinsehen. Die Dächer sind aus Glas und das Licht strömt von oben herein. Das macht die Passagen durchsichtig, sie laden zum Schauen ein. Die Passagen mit ihrem breiten Angebot in den Schaufensterauslagen, mit ihrer Mischung aus Straße und Zuhause werden zur steten Vernissage, zur Begegnungsstätte der bürgerlichen Welt, des Bohemiens, des Flaneurs, des Künstlers. Sie sind ein Mikro-Paris, der Ort unzähliger Mikro-Welten. Hier herrscht der Blick, gierig und lüstern sehend bemächtigt man sich der Passagen, der Menschen und der Dinge. Die Passagen sind der Ort der Vielfalt und der Pluralität. Die Passagen sind die architektonische Entsprechung des Panoramas wie des Feuilletons (z.B. in Le livre des Cent-et-un, Les Français peints par eux-mêmes, Le diable à Paris), in dem die Vielschichtigkeit des Pariser Lebens dargestellt wird: flüchtig, fragmentarisch, skurril, schrill. Die Flüchtigkeit des Panoramas, der Feuilletons entspricht der Geschwindigkeit der Transportmittel: die Bahn erreicht eine derartige Geschwindigkeit, daß Entfernungen schmelzen. Das Leben wird durch die Zirkulation des Kapitals schneller, menschliche Beziehungen vergänglicher. Raum und Zeit garantieren keine Festigkeit mehr, sondern sind Teil von Auflösungsprozessen. Das Sehen im Paris des 19. Jahrhunderts gründet sich darauf, daß der Innenraum in den Außenraum verlagert wird, daß dieser Außenraum nicht vorrangig Hören oder Denken, sondern Sehen erforderlich macht. Der Blick, vor allem der des Flaneurs, wird zum Hauptanalyseinstrument der modernen Gesellschaft, und der Künstler wird zum Flaneur, zum Seher. Die
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Gesellschaft erhält eine Maske, eine sich stets wandelnde Maske, was die Fantasie steigert und die analytische Beobachtung kompliziert.
1.1.2.4. Literatur Wir können - ausgehend von diesen drei kurz erläuterten Bereichen - zunächst als einen ersten Vergleich den Impressionismus in der Malerei (zwischen 1860-1870 entstanden) anführen, bevor wir auf die Literatur eingehen. In der Malerei geht es nicht in erster Linie um das Gesehene, d.h. um den Gegenstand des Gesehenen, sondern vor allem um die Art und Weise, wie man sieht. Das Resultat des Gesehenen ergibt sich aus der Position des Objekts, aus den Lichtverhältnissen zu einer bestimmten Tageszeit und aus subjektiven 'Sehwahrnehmungen'. In der impressionistischen Malerei verhält es sich also nicht anders als in benachbarten Gebieten, so in der Literatur oder in der Philosophie. In der Malerei wird der unmittelbare optische Eindruck erfaßt, und nicht objektiv, sondern subjektiv wiedergegeben. Es wird aufgedeckt, wie man sieht, nicht was man sieht. Das Dargestellte wird nicht a priori festgelegt, sondern bildet sich in einem bestimmten (und flüchtigen) Augenblick. Es wird absichtlich auf eine Hierarchisierung der Perspektive und auf eine geordnete Distribution des Raumes verzichtet. Die Vielfalt der Farben und des alltäglichen Lebens finden Eingang in die Malerei, das Nebeneinander wird betont (und hier liegt z.T. ein wesentlicher Unterschied zur Literatur). Der Impressionismus macht Schluß mit einer rigorosen Mimesis, die die Wirklichkeit reproduzieren will. Diese kann unterschiedlich und vielfältig erfaßt werden. Nach dem Impressionismus, insbesondere dem eines Cézanne, war der Kubismus nur eine logische Folge, und nach diesem wiederum die abstrakte Malerei. Wenn sich der Blick, das Sehen subjektiv manifestiert, dann wird der Zustand der totalen Verinnerlichung erreicht, was in das Abstrakte mündet. Wir erwähnten oben, daß im 19. Jahrhundert neben den sog. Fakten und dem Rekurs auf die Naturwissenschaften auch auf die Hermeneutik zurückgegriffen wird. Als Grund hierfür kann angeführt werden, daß, während die Naturwissenschaften uns ermöglichen, Daten abzusichern, die Interpretationen dieser Daten und Folgerungen aus ihnen den Rahmen der Empirie überschreiten. Hier konkurrieren - wie bereits bei Goethes Farbenlehre oder bei Hugos totalisierendem und anthropologischem Geschichtsentwurf bzw. bei seiner Theorie der harmonie de contraire - verschiedene Positionen: der Versuch einer Gesamtschau von miteinander in Verbindung stehenden Bereichen, der Illuminismus eines Swedenborg, der von Balzac im Avant-Propos und in der Comédie Humaine ebenso berücksichtigt wird, die Vererbungstheorie, der Vitalismus oder die metaphysische Spekulation eines Claude Bernard und deren Umsetzung in Emile Zolas Les Rougon-Macquart. An dieser Stelle werden unterschwellige Verwandtschaften deutlich, ein Denken, das sich durch eine totalisierendsynthetisierende Weltsicht charakterisiert, in der alles Leben in funktionaler Ver-
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bindung zueinander steht. So kennen wir z.B. die in der Literatur des 18. Jahrhunderts bedeutsamen 'Wahlverwandschaften' (Goethe) und die in der Literatur des 19. Jahrhunderts so verbreiteten 'mystères'/'correspondances' (Balzac, Baudelaire). Der Blick in die Tiefe legt Schichten frei, so z.B. in der Literatur durch Rekonstruktion eines Menschenschicksals (Balzac8/Zola), in der Biologie durch die Vivisektion oder in der Paläontologie durch die Rekonstruktion: Ausgehend von einem Knochen wird eine ganze Tierart rekonstruiert (Cuvier). Biologische bzw. gattungsgeschichtliche Modelle, bei denen das 'milieu', d.h. die Interaktion zwischen Gattung und Umwelt die zentrale Rolle spielt, werden sich in der Geschichtsschreibung, in der literarischen Praxis und in der Literaturgeschichte und -theorie wiederfinden. In der Literatur ist eine klar beschreibbare Linie von Balzac über Flaubert bis hin zu Zola erkennbar (Höfner 1980). Während Balzac sich unterschiedlicher Quellen bedient, wobei vor allem Cuviers (insbesondere in La Peau de Chagrin) und SaintHilaires, aber auch Swedenborgs Theorien einfließen, und er noch daran glaubt, mit einem sicheren Erkenntnissystem operieren zu können, verneint Flaubert diese Frage explizit in Bouvard et Pécuchet und geht sogar noch weiter: Er stellt die Möglichkeit in Frage, eine gesicherte Erkenntnis aus der neuen wissenschaftlichen Organisation ziehen zu können und problematisiert die Rolle der Wissenschaften, der Wahrheit und der Verbindlichkeit von Modellen. Zola knüpft an Balzacs Anspruch an, geht aber freilich von einem viel weiter entwickelten Stadium der Naturwissenschaften aus, auch dann, wenn Claude Bernard zum Zeitpunkt der Niederschrift des Zyklus Les RougonMacquart bereits überholt sein sollte (Höfner 1980: 217ff.), und er agiert aus einer Mischung von Positivismus (Bernard) und Vitalismus; er entwickelt eine "transzendierende Wissenschaft", d.h. eine Hybride aus experimentellem Positivismus auf der einen Seite sowie vitalistischer und christlicher Geschichtsphilosophie auf der anderen (Höfner: 219ff.). Wir treffen hier wie bei Balzac eine säkularisierte Christologie an, die jedoch an die Naturwissenschaften gekoppelt ist. Ziehen wir ein erstes Fazit: Zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert ereignet sich ein epistemologischer Bruch, bei dem das verbindliche klassische Gesamterkenntnissystem dadurch gekippt wird, daß das Verhältnis zwischen den Oberflächenerscheinungen der Phänomene nicht mehr direkt mit deren Konstitution in der Tiefe in Verbindung gebracht wird. Die Klassifikation von Phänomenen erfolgt nicht mehr nach ihren 8
Vgl. Balzac (1831/1971: 78): "Vous-êtes-vous jamais lancé dans l'immensité de l'espace et du temps, en lisant les œuvres géologiques de Cuvier? Emporté par son génie, avez-vous plané sur l'abîme sans bornes du passé, comme soutenu par la main d'un enchanteur? En découvrant de tranche en tranche, de couche en couche, sous les carrières de Montmartre ou dans les schistes de l'Oural, ces animaux dont les dépouilles fossilisées appartiennent à des civilisations antédiluviennes, l'âme est effrayée d'entrevoir des milliards d'années, des millions de peuples que la faible mémoire humaine, que l'indestructible tradition divine ont oubliés et dont la cendre entassée à la surface de notre globe, y forme les deux pieds de terre qui nous donnent du pain et des fleurs. Cuvier n'est-il pas le plus grand poète de notre siècle?"
FORMEN DES SEHENS Repräsentationen auf der Oberfläche (nach Ähnlichkeiten), sondern nach der Beschreibung ihrer Funktionen. Beobachtung, Analyse und Experiment, Interpretation, Hermeneutik und eine neue Metaphysik, Vitalismus und Illuminismus sind die neuen Grundlagen, die neuen Gottheiten des Denkens und Wissens im 19. Jahrhundert. Dabei erweist sich das Sehen als das wichtigste Epistem, das das Verborgene offenlegt. Es geht von nun an darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen. So, wie in der Biologie durch die Vivisektion, in der Paläontologie auf der Basis eines KnochenFragments, in der Geschichte auf der Grundlage eines Ereignisses, eines Zeugnisses, einer Spur das Unsichtbare an die Oberfläche befördert wird, so wird auch in der Literatur und in der Malerei vorgegangen. Die Kunst und die Literatur gehen im 19. Jahrhundert eine komplexe, umstrittene und ambivalente Ehe mit den Naturwissenschaften ein, die sich aber als äußerst fruchtbar erweist und eine gewaltige Umwandlung des Mimesis-Begriffs mit sich bringt. Baudelaire sagt dazu: "Die Zeit ist nicht fern, da man verstehen wird, daß eine Literatur, die sich weigert, brüderlich vereint mit der Wissenschaft und mit der Philosophie ihren Weg zu machen, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist" (zitiert nach Benjamin 1974: 41).
2.
DAS SEHEN IN DER LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS (BALZAC, FLAUBERT, BAUDELAIRE)
Es ist wohl bekannt, daß in der Literatur und in ihren unterschiedlichen Textgruppen, -typen und -Sorten seit Aristoteles die Mimesis (seit Horaz die imitatio naturae), seit dem 18. Jahrhundert die Aufklärung - mit der Nachahmung der Alltagssitten - und seit dem 19. Jahrhundert der Realismus die Diskussion über die Beziehung Text und Wirklichkeit prägen. Wenn man die Natur, eine externe Referenzgröße, etwa Paris, also die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts beschreiben möchte, kann man das durch Lektüre und Sehen bzw. durch eine vom Sehen gesteuerte Lektüre und durch eine vom Sehen gesteuerte Schreibweise erreichen. Die Rolle des Sehens kommt am deutlichsten in den Beschreibungen zum Ausdruck, aber auch das im Roman Gesagte ist durch das Sehen geprägt. Es ist daher selbstverständlich zu behaupten, daß das Sehen in der Literatur einen festen Platz hat. Einzig und allein die Analyse dieses Verhältnisses zwischen Blick/Wahrnehmung und Schrift, das literarisierte Sehen also, ist von Bedeutung. Es geht um das Verhältnis zwischen dem Erzähler, genauer zwischen der Erzählhaltung oder -perspektive aus der Position des Beobachters, und der Beschreibung des Gesehenen.
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2.1.
Balzac und Paris oder Die Welt als Maske: Sehen als Panorama
Balzac befindet sich auf der einen Seite im Denken des 18. Jahrhunderts, indem sein impliziter Autor an der Einheit des Wissens, einem verbindlichen Gesamterkenntnissystem festhält, auf der anderen Seite verkörpert er einen Teil des Denkens des 19. Jahrhunderts, insofern er das Sehen und die Rekonstruktion des Unsichtbaren als Ziel der Comédie Humaine vor Augen hat. Der erste Fall wird deutlich, wenn Balzac die unité de composition, d.h. die kompositorische Einheit der Natur, anpreist und sich dabei auf Cuvier, Saint-Hilaire, Swedenborg, Saint-Martin, Leibniz, Buffon, Charles Bonnet und Needham beruft, die ihrerseits Vergleiche zwischen der tierischen und pflanzlichen Welt zogen (so Bonnets Arbeit aus dem Jahre 1760, in der zu lesen ist, daß "l'animal végète comme la plante"). Davon ausgehend bestätigt Balzac, daß in diesen Welten die belle loi "du soi pour soi" herrsche und man von hier aus zu den Äquivalenzsetzungen zwischen Tierwelt und Menschheit gelangt.9 Mit dieser Behauptung leitet Balzac epistemologisch seinen Schritt ins 19. Jahrhundert. Er geht von einem Vergleich zwischen Mensch und Tier aus, wobei Unterschiede auf der Oberfläche erkennbar sind, diese jedoch in der Tiefe auf eine gemeinsame Funktion zurückzuführen sind, die mit der jeweiligen Umwelt in Verbindung steht. Diesen Vorgang bezeichnet der von ihm verwendete Begriff der Organisation. Allerdings zieht Balzac die extreme Theorie von Saint-Hilaire vor, der die Konzeption von einer einheitlichen Evolution verabsolutiert, indem er diese linear und ohne Brüche ansieht, während Cuvier dies zu Recht bestreitet. Balzac schlägt sich auf die Seite von Saint-Hilaire, den er als den erfolgreichen Sieger apostrophiert (und ihm seinen Roman Le père Goriot widmet), und bemüht Goethe, der diesen Erfolg gelobt haben soll, im wissenschaftlichen Disput darüber, ob in der Natur alles miteinander in Verbindung stünde und die Evolution sich durch eine lineare Entwicklung vollzogen hätte - oder umgekehrt: Ob die Evolution durch Brüche und Mutationen bestimmt gewesen sei. Goethes Ansichten, gerade was den Evolutionsplan betrifft, waren mehr von einer neuen Metaphysik als von wissenschaftlich abgesicherten Kriterien geprägt und gehören, wie Höfner (1980: 92) hinweist, in den philosophisch-spekulativen Bereich im Kultursystem des späten 18. sowie v.a. in den der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Frage ist nun, warum Balzac auf die Biologie und Zoologie rekurriert. Zunächst können wir feststellen, daß die Größe der unité im Zentrum seines Systems steht und daß er diese benötigt, um einen Vergleich zwischen Natur und Gesellschaft anzustellen. Die histoire naturelle ist seine wissenschaftliche Basis, mit Hilfe derer er Parallelen zwischen Mensch und Tier zieht, so wie in der Zoologie und Botanik etwa Tierarten und deren Organisation sowie Pflanzen verglichen werden. Dieses Vorgehen ist nicht nur eine Methode für die stoffliche Organisation seiner Romane bzw. ein Beschreibungsmodell für die Gesellschaft, sondern zugleich hat es eine metatextuelle 9
Balzac (1842/1976: 7-8), s. Anhang.
FORMEN DES SEHENS Funktion: Es dient Balzac dazu, sein literarisches Unternehmen wissenschaftlich zu legitimieren, so wie es Zola später mit Hilfe der experimentellen Medizin Claude Bernards versucht. Ferner müssen wir fragen, warum Balzac sowohl Cuvier als auch Saint-Hilaire zitiert, wenn seiner Meinung nach letzterer den Theorien Cuviers gegenüber überlegen sei (eine Einschätzung, die im übrigen in krassem Widerspruch zur geltenden wissenschaftlichen Meinung steht, wonach Cuviers Theorien bis heute Gültigkeit behalten hätten). Der Grund ist offenbar darin zu sehen, daß Balzac beide für sein kompositorisches Modell braucht. Cuvier offenbart ihm, daß die verschiedenen Organe (nicht Tierarten) miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen, daß man deshalb in die Lage versetzt werde, ausgehend von einem Fragment (Oberfläche) die Geschichte einer ganzen Tierart (Tiefe) zu rekonstruieren. Balzac braucht das Verfahren der Rekonstruktion durch den Weg über die Oberfläche (Gesellschaft / menschliches Verhalten), um in die Tiefe einzudringen (in die Ursachen für die Manifestation von Gesellschaft und Menschen auf der Oberfläche) und die Signaturen der Zeit zu entziffern, da die Beobachtung der Erscheinungen auf der Oberfläche sich ihm als einziger Zugang zur Erklärung menschlichen Verhaltens erweist, als einziger Weg, das Verborgene, das Unsichtbare sichtbar zu machen. (Balzac macht operativ genau das, was Freud Ende des 19. Jahrhunderts mit der Psychoanalyse und der Traumdeutung versucht, nämlich in den Bereich des Es einzudringen). Saint-Hilaire stellt ihm das Prinzip der unité und der Analogie zur Verfügung, wonach Vergleiche deshalb möglich sind, weil der Schöpfungsakt von einem für alle Lebewesen geltenden Grundorganisationsprinzip ausgehe. Auf diese Weise kann Balzac seinen Rekurs auf die histoire naturelle und ihre Anwendung auf die Gesellschaft rechtfertigen und seine histoire des mœurs vorgeblich wissenschaftlich absichern. Das Analogieverfahren besteht konkret in der Homologisierung der Espèces Zoologiques /Nature auf der einen Seite und den Espèces Sociales/Société auf der anderen Seite.10 Beide Systeme sind in das System des milieu eingebunden, von wo aus sich die unterschiedlichen Arten dann durch Anpassung und Notwendigkeit entwickeln. So haben wir eine variété zoologique, z.B. bei Säugetieren oder Reptilien, und eine variété humaine der menschlichen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Typen. Je nach Milieu werden Unterschiede auf der Oberfläche zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwalter oder einem Anwalt usw. auftreten, die sogar viel gravierender seien als die zwischen einem Löwen und einem Wolf etwa. Diese Vielfalt soll nun - so wie es Buffon für die Zoologie vorexerziert hat - von ihm, Balzac, für die Gesellschaft erfaßt und gedeutet werden. Er aber macht deutlich, daß es viel einfacher sei, die Unterschiede zwischen einem Löwen und einer Löwin als zwischen einem weiblichen und einem männlichen menschlichen Wesen darzustellen, da im Tierreich die Rollen eindeutiger verteilt seien und konstant blieben, in der Gesellschaft aber das Prinzip Zufall derart herrsche, daß man vom Geschlecht her keine Gesetze über die 10
Balzac (1842/1976: 8f.), s. Anhang.
ALFONSO DR TORO Rollenverteilung ableiten könne. Grund dieser Funktionsvielfalt sei die Seelenstruktur des Alltagsmenschen, der durch seine Intelligenz, durch sein Milieu, durch Dinge (Mobiliar), durch Wissenschaft und Kunst, durch Leidenschaft, durch Kleidung und Sitten/Gebräuche, durch Armut oder Reichtum, kurzum durch den Faktor Zivilisation geprägt sei. Balzac hat den Versuch unternommen, eine histoire des mœurs der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu schreiben, eine von der großen Geschichte vergessene Sitten- und Alltagsgeschichte, die Philosophie und Poesie anhand von eindrucksvollen und berührenden Bildern in sich vereinigt und bei der der Schriftsteller und Romancier die Gesellschaft beobachtet, um die, angeblich auf dieser beruhenden, Geschichte zu schreiben. Der Status der Fiktionalität dieser Geschichte wird mit dem Prinzip Zufall, mit der Phantasie des Romanciers verbunden, der dann als Medium zwischen Beobachtung und Adressaten fungiert.11 Diese "neue" Geschichtsauffassung steht der kanonisch positivistischen Historiographie gegenüber, die sich in der Vermittlung von Fakten erschöpfte und den 'Bereich Mensch' weitestgehend aussparte, dennoch aber den Anspruch erhob, die "wahre" Geschichte des Menschen wiederzugeben. Im Zentrum dieser histoire des mœurs, dieser 'Geschichte von unten', steht die histoire du cœur humain, verstanden als "drame social", weil sie von den "passions", diese verstanden sowohl als "vices" als auch als "vertus", beherrscht wird. Die Leidenschaften agieren als Motor des Lebens und damit auch der Gesellschaft. Die Leidenschaften verwandeln das Leben in einen Kampf. Dieser Kampf erweist sich als drame in einem Paris, das als Allegorese zum Tal der Tränen und als Hölle gesehen wird, in der Menschen als gefallene Engel ihr Dasein verbringen. Der Begriff der Leidenschaften ist hier doppelt markiert: als 'niedere Regungen', die von Eros und Thanatos, von Lust und Selbstzerstörung besetzt sind, und vom 'Leiden' in christlichem Sinne, im Sinne von Kampf als Sühne, als Bewährung für die Erlösung. So haben wir es hier mit einer Säkularisierung christlicher Prämissen zu tun. Menschen werden durch diesseitsbezogenes Leiden christlichen Heroen gleich in einer sündhaften Welt dargestellt.12 Es handelt sich bei Balzac ferner um eine Archäologie des Alltags, der Dinge, der Berufe und der Seelenlandschaften.13 Um diesen Plan zu realisieren, um das hinter den Chiffren verborgene Unsichtbare ans Licht zu bringen, geht er in drei, von den Naturwissenschaften übernommenen, Schritten vor: er beobachtet/untersucht (1) die
11
Balzac (1842/1976:11) stellt folgende Homologie zwischen dem Diskurs der Geschichtsschreibung und dem der Fiktionalität auf: "Hasard = Romancier :: Société française = Historien :: Romancier = Secrétaire. Histoire des mœurs :: drame social (saisissantes images)".
12
Außer Balzac ist es gerade Baudelaire, der in den Heroen ein Merkmal der Moderne sieht. Der Künstler selbst als Ausgegrenzter, an den Rand der Gesellschaft Gedrängter, ist einer dieser Heroen, der Verbrecher, der Waghalsige, der Normbrecher.
13
Balzac (1842/1976: 9, 11-12), s. Anhang.
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Ursachen (raisons/causes) der Erscheinungen, (2) ihre Folgen (effets aux actes de la vie individuelle), d.h. ihre konkreten Manifestationen; während der erste Bereich der Tiefe zuzuordnen ist, gehört der zweite zur Oberfläche. Die Beschäftigung mit den Ursachen deckt das Unsichtbare, den sens caché, auf. Die Ebene der Ursachen stellt eine erste Abstraktionsebene dar, d.h. ausgehend von den vom Autor beobachteten Phänomenen auf der Oberfläche kann man auf die Ursachen stoßen. Letztlich (3) will Balzac aus Ursachen und Folgen allgemeine Naturgesetze ableiten (les principes naturels), was eine zweite und abschließende Abstraktionsebene darstellt.14 Dieses Modell ist zwar auf das 19. Jahrhundert ausgerichtet, also synchronisch, will aber aufgrund der abgeleiteten Naturgesetze eine Geschichte bzw. eine Historisierung der sozialen Phänomene, eine 'histoire générale de la Société' vornehmen. Nach dieser triadischen Taxonomie ist auch die Comédie Humaine organisiert. Dabei gehören die Études analytiques wie auch die Études philosophiques zu der zweiten und höchsten Abstraktionsebene und die Études de mœurs zu der Démonstrations- bzw. Applikationsebene. Das im Avant-propos dargelegte wissenschaftliche Konzept, das ich an anderer Stelle im Anschluß an Wehle (1980) als eine "Poetik der wissenschaftlichen Imagination" bezeichnet habe (de Toro 1987: 11), möchte ich nun als eine Form des Sehens auf der Grundlage von einigen Textstellen aus Le père Goriot demonstrieren15. Zunächst bietet uns der allwissende Mystagoge, der Hohepriester und Lehrer, der uns in die Geheimlehre, d.h. in das Unsichtbare einführen will, eine mit Werturteilen durchsetzte Beschreibung der Oberfläche der Pension und der Figur von Madame Vauquer. Madame Vauquer und die Pension stellen das Material, die Oberflächenerscheinung von Menschen und Dingen dar, das er in einem Bild zusammenhalten will, er beobachtet es und will es gemeinsam mit dem impliziten Leser dekodieren. In der Pension wohnen vorwiegend alte und arme Menschen, junge sind dort nicht anzutreffen, es sei denn, sie stammen aus finanziell schwachen Familien. Das Werk ist zwar kein Drama im gattungstheoretischen Sinne, aber doch in Bezug auf menschliche Schicksale: in der Schilderung alltäglicher, beobachtbarer und erlebbarer Erfahrungen (extra muros) und der für die Mehrheit verborgen bleibenden geschlossenen Bereiche und Lebensschicksale (intra muros), die der allwissende Erzähler aufdeckt und in einer Gesamtinterpretation verdichtet16. Es handelt sich offenbar um eine lokale Geschichte, die sich in Montmartre, Montrouge, Faubourg Saint Marceau (Rue Neuve-SainteGeneviève) zuträgt und die sich aus der Beobachtung des Lokalkolorits dieser Viertel ergibt - wo der Stuck von den Häusern abfällt, wo die Kloake die Straße hinabfließt,
14
Balzac (1842/1976: 17), s. Anhang.
15
Balzac (1834/1966: 25-27; 29-30; 32), s. Anhang.
16
Die Kategorie 'intra muros' verstehen wir nicht nur als die einzigartige Fähigkeit des allwissenden Erzählers, in die Innenräume hineinzuschauen, sondern in erweiterter Form in die Seele und Lebensschicksale der Menschen einzudringen.
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dort findet das Drama von Menschen, die abgestiegen sind und von anderen, die diesen Niederungen entfliehen wollen extra muros statt. Der Erzähler aber sieht im Inneren der Häuser und in den Seelen der Menschen ein Drama, das sich aus einem Tal voll wahren Leides und falscher Freude ergibt, durchdrungen von erschütterndem, aus Lastern und Tugenden bestehenden Schmerz. Dieser verleiht leidensfähigen Menschen etwas Erhabenes. Der Mystagoge erhebt seinen Roman mit dem aus Shakespeares Heinrich VIII. stammenden Zitat All is true auf die Ebene der wahren Alltagsgeschichte, so daß der implizite Leser sich hier wiedererkennen kann. Der Ort des Dramas ist nicht nur ein Bereich der finanziellen und sozialen, sondern auch der ethischen Niederungen; letztere kennen keine Grenzen, man findet sie im Faubourg Saint Marceau, Rue Neuve-Sainte-Geneviève, aber auch im Faubourg Saint-Germain, in dem der Adel und Hochadel residiert. Allerdings wird im Falle unserer Pension eine Homologie zwischen finanzieller/sozialer Niederung und der Topographie hergestellt. Die Rue Sainte-Geneviève befindet sich tief versunken am Ende einer steilen Straße, umgeben vom Panthéon und dem Dom Val-de-Grace, die die Umgebung in eine Art Orkus verwandeln. Aber nicht genug: Dieses Viertel ist das schlimmste und unbekannteste in ganz Paris. Um hierher zu gelangen, muß man sich verirrt haben oder als Tourist auf der Suche nach den Katakomben sein. Es handelt sich also um ein dunkles, tristes und übelriechendes Viertel, das ein Greuel für die Sinne darstellt. Die topographische Anordnung und manche Strategien lassen uns unschwer eine eindeutige Äquivalenzbeziehung zu Dantes Divina Commedia erkennen, in der Vergil Dante über die Hölle und das Fegefeuer ins Paradies begleitet (womit sich uns auch der Titel Comédie Humaine als die Umwandlung des Danteschen Titels erschließt, insofern das Göttliche auf das Allgemeinmenschliche übertragen wird). Das ist der Gang, den der Mystagoge dem Leser als seinem Initianden anbietet. Er führt uns in die unsichtbaren Tiefen, die nur er zu ergründen weiß, d.h. an die Oberfläche bringen kann.17 Der Mystagoge definiert Paris als unendliche und unergründbare Tiefe ("Ozean"), die sich den Normalsterblichen, vor allem dem "feinen" Paris entziehe, aber nicht ihm, der diesen Ozean "durchfahren" und "erfahren" hat, in dem immer wieder unerforschte Bereiche zu entdecken sind, die allesamt in die Welt des Unerhörten, des Dämonischen gehören. Auch die Pension Vauquer ist Teil dieser Welt, die als 'Monstrosität' apostrophiert wird. Diese Archäologie des Schreckens befindet sich in Äquivalenz zum Inneren der Pension (zweite Stufe der Äquivalenzbeziehungen). Der Innenraum ist nicht weniger gräßlich als die Fassade: Die Möbel sind alt, zerfetzt, speckig, glänzend, von schlech17
Balzac (1834/1966: 34): "Le beau Paris ignore ces figures blêmes de souffrances morales ou physiques. Mais Paris est un véritable océan. Jetez-y-la sonde, vous n'en connaîtrez jamais la profondeur. Parcourez-le, décrivez-le! quelque soin que vous mettiez à le parcourir, à le décrire; quelque nombreux et intéressés que soient les explorateurs de cette mer, il s'y rencontrera toujours un lieu vierge, un antre unconnu, des fleurs, des perles, des monstres, quelque chose d'inouï, oublié par les plongeurs littéraires. La Maison Vauquer est une de ces monstruosités curieuses."
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tem Geschmack, es riecht ranzig und muffig, kurz, es herrscht großes Elend. Die äußere und innere Topographie als Archäologie der Verwesung bilden eine weitere dritte Äquivalenz zur Figur der Madame Yauquer, die als Kirchenratte (gierig und armselig), fettig und stinkend beschrieben wird. Pension und Eigentümerin implizieren hier die gleichen Attribute. Die Person Vauquer vereinigt in sich das Aussehen der Räume, die Distribution und den Zustand des Gartens und die Qualität des Essens. Sie ist eine Synthese ihrer Umgebung. Auch ihre improvisierten und armseligen Kleider befinden sich in trauriger "Harmonie" zu den ärmlichen Vorhängen. Diese Figur spricht für die Dinge um sie herum und die Dinge ebenso für ihren Zustand; so konstituiert sich eine Archäologie des Alltags. Ein weiterer Aspekt ist die Physiognomie: Ihr Gesicht ist violett gefärbt und rundlich, was metonymisch für Krankheit steht, ihre Papageiennase wirkt lächerlich, ihre rundlichen Hände gepaart mit der Assoziation zur Kirchenratte stehen für ihren Geiz. Dem Textauszug folgend machen ihr gläserner Blick und ihr Anblick sie zu einer eifrigen Kupplerin, die bereit ist, alles zu tun, um sich zu bereichern. Diese Physiognomie verrät - so der Erzähler - ein unglückliches Schicksal. Obwohl die Gäste glauben, Madame Vauquer sei genauso arm wie sie selbst, weiß der Mystagoge, daß dies nicht der Fall ist. Paris, insbesondere die Pension Vauquer, wird also als ein Stadtmonstrum, als die irdische Hölle, dargestellt. Die Strategie der Erforschung der Seele (als Tiefenstruktur) ausgehend von der Oberfläche erkennt man deutlich in der Erläuterung der Ursachen von Beziehungen und Leidenschaften. Die Beziehung zwischen Rastignac und Goriot z.B. bildet die Oberfläche: eine Beziehung, die vom allwissenden Erzähler als mystère betrachtet wird, weil es sich um eine ungleiche Freundschaft zwischen einem jungen, aufstrebenden Aristokraten und einem greisen, im Abstieg begriffenen Kaufmann handelt. Das mystère läßt sich auflösen, indem man die Ursachen in der Tiefe erkundet, welche psychologischer Natur sind. Die Gefühle bzw. deren Ursachen kristallisieren sich in der physischen, empirischen Welt heraus, in der sich Mensch und Tier ähnlich sind. Der Erzähler sagt, daß der Hund ein hervorragender Physiognom sei, denn dieser könne von einem Charakterzug ableiten bzw. spüren, ob er geliebt oder abgelehnt werde. Goriot sei - so der Erzähler weiter - von dieser Natur geprägt, er habe den unterwürfigen Charakter eines "Hundes", er erkenne den sanften und mitleidigen Charakter Rastignacs und "wittert" wie ein Hund das Mitleid, das der junge Mann ihm entgegenbringe (Balzac (1834/1966: 118). Aber auch Rastignac ist ein scharfer Beobachter geworden; eine Voraussetzung, die unerläßlich ist, um in Paris überleben zu können. Als dieser von seiner Gönnerin, Madame de Beauséant, brüsk mit einer abweisenden Geste empfangen wird, beobachtet bzw. liest er in dieser Archäologie des Äußeren, bestehend aus einem Satz, einer Geste, einem Blick, einer Tonart (Oberfläche), "die Geschichte des Charakters und der Sitten einer Kaste" in der Tiefe ab. Ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren, das von der oberflächlichen Erscheinung auf die Tiefenstruktur schließt, finden wir bei der Beschreibung des ersten
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Rendezvous Rastignacs mit der verheirateten Madame Delphine Nucingen, einer der Töchter Goriots und spätere Geliebte Rastignacs. Das Treffen fungiert hier als Oberflächenstruktur. Die Begierde, von der Männer im Leben befallen werden, führt der Erzähler nun auf zwei Ursachen zurück: auf die Schwierigkeit bzw. auf die Leichtigkeit, mit der ein Mann eine Frau erobert, wobei das Temperament den Verlauf des Liebeskampfes bestimmt. Der Melancholiker braucht beispielsweise "stärkende" Koketterie, Geschmeidigkeit, das nervöse oder sanguinische Temperament jedoch bricht bei zu hartem Widerstand "das Lager ab", gibt also schnell auf. Davon ausgehend kann man behaupten - so der Erzähler weiter -, daß die Elegie lymphatisch, also für die Apathischen, und der Dithyrambus für die Choleriker, für die Hitzköpfe sei. Gattungen (als Teil der Oberfläche) haben also ihre Korrespondenz in der Tiefe der menschlichen Seele. In einem letzten Beispiel aus Balzacs Le père Goriot möchte ich auf das Problem der Perspektive, Sehen vs. Schreiben, zurückkommen.18 Es soll damit u.a. untermauert werden, daß die Comédie Humaine als Makrokosmos und Paris (als Tal der Tränen einer säkularisierten Christologie) als Mikrokosmos zu begreifen sind, die durch die Kraft der Beobachtungsfähigkeit eines in die Tiefe steigenden Mystagogen offenbart werden. Hinter den alltäglichen Dramen kann der Mystagoge menschliche Tugenden und menschliche Abgründe entdecken. Das Frevelhafte als Resultat menschlicher Schwächen kann aber letzten Endes aufgrund der Leidensfähigkeit des Menschen gesühnt werden. Der Mystagoge schildert einen Abschiedsball, den Madame de Beauséant gibt, als sie Paris verläßt, um die Welt, die Hölle hinter sich zu lassen und sich in der Provinz einem Eremiten gleich zu begraben (Decontemptus mundi). Den Grund hierfür gab der Marquis d'Ajuda Pinto, ihr portugiesischer adliger Liebhaber, der die ihrerseits verheiratete Madame de Beauséant verläßt und sich für das Wagnis der Ehe mit einer viel jüngeren, reicheren und schöneren Dame entscheidet. Nicht Rastignac, sondern der allwissende Erzähler schildert das große Fest aus einer globalen Perspektive. Die Interpunktion nach "s'écria Rastignac" unterstreicht die Trennung zwischen Figuren- und Erzählerperspektive: Hier fehlen die Verben der Bewegung, der Wahrnehmung, die erlebte Rede und die entsprechenden Perspektivierungs-Deiktika. Die Allwissenheit des Erzählers steht in einer HomologieRelation zur panoramahaften Wiedergabe des gesehenen Gegenstandes, wobei der Erzähler der Beschreibung immer eine Bedeutung voranstellt. Er überläßt es dem Betrachter nicht, das Gesehene selbst einzuschätzen, sondern nimmt durch seinen Blick die Interpretation vorweg. Ferner gibt es hier keine literarisch verarbeitete Mimesis des Sehens, wie bei Flaubert, die sich durch den Ausschnittcharakter des Gesehenen charakterisiert, sondern der Erzähler setzt sich vom Gegenstand des Sehens ab und bietet dem Leser ein breites Panorama an, das er nach seiner Interpretation und nicht 18
Balzac (1834/1966: 228-231); s. Anhang.
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nach dem physikalischen Prinzip des Sehens anordnet. Der Gegenstand des Sehens wird nicht mit Hilfe einer Verbindung von Sprache und Blick bewältigt, sondern er geht gänzlich in Sprache auf. Er dient somit nur noch als Alibi, um den Blick in die Tiefe zu werfen und um zu Erkenntnis zu gelangen. Dieser Erzähler und Mystagoge mißtraut also der Sehfähigkeit seines Lesers, den er stets als Initianden betrachtet. Dieser Erzähler erkennt intuitiv die Grenzen, die die Chiffren der Erkenntnis setzen. Die Art der panoramahaften Beschreibung will die Vielfalt der Sehfläche wiedergeben, d.h. die Reproduktion ihrer infiniten Dinge vortäuschen, nicht aber die Sehweise nachahmen; sie will sagen: Wie ich sehe, so schreibe ich, mein sprachlicher Text ist mein Sehtext. Hier wird jedoch verhindert, daß das Sehen sprachtechnisch bewältigt wird. Man kann erkennen, daß die Fotografie, die sich erst 1839 zu verbreiten beginnt und erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Buchdruck einwirkt, auf Balzac noch keinen Einfluß hatte, obwohl er von den Panoramabildern Daguerres begeistert war. Dasselbe gilt für den Einfluß des Impressionismus auf die Literatur, der sich spätestens ab 1860 als Paradigma etabliert hat. Im Gegensatz dazu wird deutlich, daß Flaubert von Madame Bovary (1853 begonnen, 1856 veröffentlicht) bis zu L'éducation sentimentale (1864 in Angriff genommen, 1867 veröffentlicht; im folg. ES) seine Schreibweise und seine Beschreibungen nach der neuen, perspektivischen, mit Ausschnittcharakter ausgestatteten Sehweise ändert. Sehen heißt bei Balzac in erster Linie, aus der betrachteten Oberfläche Erkenntnis über tieferliegende Schichten zu erzielen. Da er von einem verbindlichen Gesamterkenntnissystem ausgeht, braucht er den globalen Blick, denn der perspektivische Ausschnitt (Flaubert), der einer Fragmentarisierung des Wissens entspricht, ist das Gegenteil eines globalen Systems. Als Beleg dieser Übermacht der Sprache über das Sehen kann z.B. die Bewertung der Madame de Beauséant als "große Frau im Augenblick ihres Sturzes" dienen. Ein Wissen, das nur er, der Mystagoge besitzt, denn sie scheidet in Glanz und Gloria aus und zeigt nur wenigen Auserwählten gegenüber ihren Schmerz. Auch die tragische Geschichte einer großen Geliebten Ludwigs XIV. erscheint in den Augen des Erzählers klein gegenüber dem Leiden der Madame de Beauséant. Der Erzähler teilt uns mit, daß Ludwig XIV. die von ihm begehrte Frau zwingt, sich von ihrem Geliebten zu trennen, um sie an sich zu reißen. Zum Abschiedsball von Madame de Beauséant, die zum Großadel gehört und gefaßt über der eitlen Welt zu stehen scheint, über jener Welt, die sie zu ihrem Spielball zu machen pflegte, kommt jeder, der Rang und Namen hat. Unsere tragische Madame wird nicht nur als "Königin" apostrophiert, sondern zur Heiligen Maria von Paris stilisiert. Von ihrer Frisur (die Haare züchtig zu einem Zopf geflochten) und ihrer Kleidung (das Kleid ist weiß, sie trägt keinen Schmuck), leitet der Erzähler ihre Erhabenheit und Keuschheit ab. Er setzt dieses schlichte Aussehen mit ihrem inneren "scheinbar ruhigen Zustand" (daß sie leidet, weiß nur Er, der Mystagoge) gleich, der weder Schmerz noch Hochmut, noch falsche Freude vortäuscht. An ihrem Aussehen und Auftreten erkennt der Erzähler eine strahlende
ALFONSO DE TORO Göttin bzw. eine Herrscherin, die von der Pariser Welt, den Gladiatoren im alten Rom gleich, gefeiert wird. Am meisten bedrückt Madame de Beauséant der Weggang aus der "Hölle", in der es sich offenbar gut leben ließ. Der Tod würde nach dem Fest kommen, in der Normandie nämlich ("tandis que la mort viendra plus tard"), meint sie, denn Paris bedeutet für einen Pariser, noch dazu für einen Angehörigen der Aristokratie, die Welt: "Je ne verrai plus jamais ni Paris ni le monde. A cinq heures du matin, je vais partir pour aller m'ensevelir au fond de la Normandie". Die einsetzende Säkularisierung der Christologie wird darin deutlich19, daß die Dame mit dem leichten Lebensstil vom Schmerz überwältigt wird: "Elle s'arrêta encore accablée de douleur". Sie sucht die Selbstkasteiung durch das selbstauferlegte Verlassen von Paris und durch die damit verbundene Einsamkeit in einem Kloster der Normandie, was für eine Pariserin des Großadels eine schlimme Strafe bedeutet: "Si j'échoue, j'irai dans un couvent!" Der Abgang von Paris löst in ihr tiefes Leid aus, das in Läuterung umschlägt. Weg von Paris, dieser irdischen Hölle, in der echte Gefühle nicht mehr möglich sind ("A mon départ de ce monde, j'aurai eu, comme quelques mourants privilégiés, de religieuses, de sincères émotions autour de moi!"), und in den Händen Gottes hofft sie, den nötigen seelischen Frieden zu finden ("En Normandie, à Courcelles, aimer, prier, jusqu' au jour où Dieu me retirera de ce monde"). Der Schmerz von Madame de Beauséant, ihre Tränen sind für den Erzähler der Beweis, daß sich auch hochstehende Personen den Gesetzen des Herzens nicht entziehen können und leidensfähig sind, im Gegensatz zur Auffassung des gemeinen Volkes, der Adel hätte keinen Schmerz. Zusammen mit dieser Affaire vollendet sich - so der Erzähler - die "Erziehung" von Rastignac, der nach einer Reihe von Erfahrungen für das Pariser Leben genügend ausgerüstet zu sein scheint, um reüssieren zu können: "Son éducation s'achevait".
2.2.
Flaubert und das erzählte Gesehene, die Welt als Ausschnitt, als Oberfläche oder Die Unmöglichkeit der Erkenntnis
In der ES wird ebenfalls ein Ball, allerdings kein privater, sondern ein öffentlicher Ball beschrieben. 20 Wir erfahren zunächst, daß Frédéric als personales Medium, als Vermittler zwischen Erzähler und Leser aufgebaut wird. Wir haben hier schon eine Reduktion des Panoramas auf den Ausschnitt. Das Sehen wird der Sprache untergeordnet, es wird kein Panorama vorgetäuscht, sondern ein Ausschnitt aus der subjektiven
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Diese einsetzende Säkularisierung wird auch bei der Gestaltung der Figur Goriots sichtbar, eines in den Wirren der Revolution durch Getreidespekulationen reich gewordenen Mannes, der selbstsüchtig und krankhaft seine Töchter liebt und als christ de la paternité bezeichnet wird.
20
Flaubert (ES: 114ff.; 157-161); s. Anhang.
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Perspektive Frédérics wiedergegeben. Wahrnehmung wird literarisch verarbeitet, nicht direkt nachgeahmt. Sprache und Sehen wollen sich nicht miteinander vermischen, sie wollen sich nicht verbrüdern oder sich gegenseitig vereinnahmen, sondern sie wollen miteinander konkurrieren. Die Sprache stellt sich andererseits zuerst einmal in den Dienst des Sehens und wird zunächst auf das Sehen reduziert. Der erste Satz des Zitats steht nicht getrennt von den übrigen, sondern ist durch ein Semikolon an eine Satzperiode angeschlossen. Die Wahrnehmungsdeiktika 'verblendet' und 'wahrnehmen' prägen den literarischen Diskurs und machen das Gesehene als eine sich nach der Musik bewegende, einem impressionistischen Bild ähnliche Farbmasse erfahrbar. Die Sprache wird nicht semantisch überhöht, es wird also keine Interpretation der weiblichen Schönheit, der aus Seiden- und Samtkleidern oder nackten Schultern entspringenden Erotik abgegeben, sondern es werden optische Wahrnehmungen beschrieben ("Frédéric ébloui par les lumières"). Einige Dinge bleiben aber dem Betrachter verborgen, und je nach Positionswechsel - markiert durch Bewegungsdeiktika - ("Des hautes lampes [...] posées sur des consoles dans les coins [...] et, en face, après une seconde pièce plus petite, on distinguait, dans une troisième") wird er zeitweise bestimmte Punkte wahrnehmen können. Das Panorama des Gesehenen wird durch eine akribische Lexikomanie und Benennungspedanterie zerstört, so daß der Leser nun nicht mehr allein mit dem Phänomen des Sehens, sondern mit einem literarischen, lexikographischen Problem zu tun hat. Er ist gezwungen, die Chiffren zu dekodieren, um sich ein Bild machen zu können. Wir erkennen eine spezialisierte Sprache, die den Seh-Gegenstand in den Griff bekommen will, wobei die sprachliche Umsetzung vom Leser bewältigt werden muß. Es handelt sich um eine Sprache, die ihre Unschuld verloren hat, die sich nicht mehr als Träger, sondern als Aussage, als Selbstzweck, als selbstreferentiell versteht. Die Sprache will sich hier als Sprache 'outen', zunächst will sie das Sehen nachahmen, erkennt dann aber, daß das Sehen nicht nachzuahmen ist, sondern in Sprache verwandelt werden muß. In unserem Beispiel handelt es sich um eine Beschreibung der verkleideten und maskierten Personen, die sich auf der Oberfläche bewegen - es wird nur festgestellt. Die Sprache kann das perspektivische Sehen nicht reproduzieren, und es bleibt nur die Möglichkeit, das Gesehene nicht anhand spontaner Wahrnehmungen, sondern anhand der Sprache zu ordnen. Die Konkurrenz besteht in der Benennung, in der sprachlichen Bewältigung des Gesehenen, daher spreche ich von einem "erzählten Gesehenen". Dann folgt ein bewußter, fast unmerklicher Bruch in der Nüchternheit der Beschreibung. Es wird eine berühmte Tänzerin namens Loulou als die "Königin", der "Stern" des Balls beschrieben und charakterisiert. Obwohl der Eindruck der völligen Erzählerneutralität entsteht, werden subtil verdeckte Wertungen vorgenommen, die nicht allein vom Erzähler, sondern auch durch die Sprache und deren pragmatischsyntaktischen Ort bestimmt werden. Zunächst ist die erwähnte Schöne eine berühmte "Tänzerin" in einem öffentlichen Etablissement, das die bürgerlichen Schichten zwar besuchen, um sich dort zu amüsieren, wobei gleichzeitig die dort tätigen Personen aus
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dem bürgerlichen Milieu ausgeschlossen werden. Diese Tänzerin ist 'zur Zeit reich', d.h. ihr derzeitiger Liebhaber ist ein reicher Mann, der sie großzügig aushält, womit sie zur Großmaitresse avanciert ist. Ihre Herkunft bleibt jedoch nicht verborgen, sondern zeigt sich in ihrer auffälligen Kleidung. Gesichtszüge und Aussehen verraten außerdem ihr nach wie vor bewegtes Leben: Sie sieht blaß und aufgedunsen aus, hat eine Stupsnase, die sie frecher erscheinen läßt als sie ohnehin schon ist. Diese Form einer verdeckten Wertung findet sich noch deutlicher, als Frédéric einen privaten Ball von Madame Dambreuse besucht. Hier wird - aus der Perspektive Frédérics - beobachtet, wie sich Frauen in einem Raum erfrischen.21 Zunächst werden die Frauen von vorn beschrieben, ihre breiten Röcke, aus denen Hüften und Oberkörper zum Vorschein kommen. Dann wird geschildert, daß ihre Brüste in den breiten Dekolletés großzügig den Blicken freigegeben werden. Sie tragen einen kleinen Blumenstrauß in der Hand, die Hände sind durch Handschuhe verdeckt, was den Kontrast zur weißen Haut der Arme (keine blasse, sondern weiße Haut!) betont. Auffallend ist, daß eben nicht 'weiße Haut', sondern 'blancheur humaine' gesagt wird, was erotisch konnotiert ist. Frei interpretiert bedeutet dieser Ausdruck 'begehrenswertes Fleisch', denn die Oberteile der Kleider sind in ihrer Offenheit derart gewagt, daß sie vor allem von hinten betrachtet den Eindruck vermitteln, bei der kleinsten Bewegung herunterrutschen zu können. Die Kleidung der Frauen scheint Frédéric so provozierend, daß der junge Mann eine bestialische Lust beim Anblick dieser halbnackten Damen spürt, die ihn an die märchenhafte Welt eines Harems erinnern. Frédéric, dem ein noch "vulgärerer" Vergleich in den Sinn kommt, vermeidet es, diesen explizit zu äußern. Daß er an ein Bordell denkt, wird lediglich durch die vom Erzähler evozierte Auslassung deutlich. In den folgenden Zeilen wird der Gedanke an das Bordell mit dem Verweis, er verdränge seine Gelüste und tröste sich mit den Gedanken an die "Maréchale", eine seiner Geliebten, dennoch indirekt zum Ausdruck gebracht. Außerdem fühlt er sich genötigt, darauf hinzuweisen, daß die Anständigkeit der Frauen die erotischen Gedanken dämpfe. Diese wenigen Beispiele zeigen bei Flaubert, im Gegensatz zu Balzac, eine hochgradige, strategische Literarisierung des Sehvorgangs. Flaubert erkennt, daß Literatur bzw. Sprache das Sehen nicht reproduzieren kann, sondern daß Wahrnehmungen nur literarisch transportiert werden können. Das bedeutet eine "literarische Beschreibung", ein Bild aus Buchstaben herzustellen. Damit verschafft Flaubert der Sprache eine bis dahin ungekannte Autonomie. Er formuliert etwas Allgemeingültiges, das grundlegende Problem zwischen Sehen und dessen literarischer Wiedergabe, was bei Borges in der ersten Hälfe dieses Jahrhunderts erneut als Problem erkannt wird: Als Carlos Argentino in einem Keller unter der Treppe das Aleph sieht, eine Kugel nämlich, in der die ganze Welt simultan zu sehen ist, gerät der Erzähler in eine verzweifelte Situation und stellt fest: 21
Flaubert (ES: 157-161); s. Anhang.
FORMEN DES SEHENS Cerré los ojos, los abrí. Entonces vi el Aleph. Arribo, ahora, al inefable centro de mi relato; empieza, aquí, mi desesperación de escritor. Todo lenguaje es un alfabeto de símbolos cuyo ejercicio presupone un pasado que los interlocutores comparten; ¿cómo transmitir a los otros el infinito Aleph, que mi temerosa memoria apenas abarca? Los místicos, en análogo trance, prodigan los emblemas: para significar la divinidad, un persa habla de un pájaro que de algún modo es todos los pájaros; Alanus de Insulis, de una esfera cuyo centro está en todas partes y la circunferencia en ninguna [...]. (Borges 1989: 624-25).22
2.3.
Die Flüchtigkeit der Zeit und die Mode bei Flaubert und Baudelaire
Ein anderer zentraler, eng mit dem Sehen verbundener Aspekt ist nun nicht allein durch das Verhältnis Sehen/Beschreibung/Schrift markiert, sondern durch die Thematisierung und Problematisierung von Zeit und Raum, von zwei Größen also, die in der Moderne durch das Flüchtige und durch das Vorherrschen des Augenblicks geprägt werden. Die Moderne mit ihrer rasanten Entwicklung von Technik und Wissenschaft sowie deren Folgen für alle Lebensbereiche und für die Stadt Paris hat - wie eben erwähnt das Augenblickliche, das Unmittelbare in den Vordergrund gerückt. Die neue Reichweite der Eisenbahnen, die durch ihre Geschwindigkeit den Raum verzeitlichen und zum flüchtigen vorbeirasenden Panorama werden lassen, die Kollektivarbeit der Feuilletonschreiber seit dem 18. Jahrhundert mit Mercier, die ein kaleidoskopartiges Panorama der Pariser Gesellschaft bietet, die Zirkulation von Waren, die Zunahme der öffentlichen Verkehrsmittel, die die Stadt immer mehr prägen, die Mechanisierung der Produktion, all dies hat das Leben, die Begegnungen, die Wahrnehmungen, die Beziehungen, das Verhalten der Menschen untereinander tiefgreifend verändert und sich auch in die Literatur eingeschrieben. Das Leben scheint aus einer Fraktion von Minuten, ja Sekunden zu bestehen, Zeit und Raum entschwinden, sie scheinen sich in Nichts aufzulösen und hinterlassen Schmerz und Wehmut. Die Flüchtigkeit kann aber dem Flaneur größte Freude bedeuten, denn dieser ergötzt sich an dem steten Wechseln, ja an dieser beängstigenden und zugleich faszinierenden Flüchtigkeit. Einige kurze Beispiele mögen das Gesagte exemplarisch verdeutlichen.
22
Dt.: Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder. Da sah ich das Aleph. Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfaßt? Die Mystiker helfen sich in einer ähnlichen Klemme mit einer Fülle von Emblemen: um die Gottheit zu bezeichnen, spricht ein Perser von einem Vogel, der irgendwie alle Vögel ist; Alanus ab Insulis von einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall, dessen Umfang aber nirgendwo ist.
ALFONSO DH TORO 2.3.1. Die Flüchtigkeit der Zeit in Flauberts L'éducation sentimentale Zu diesem Zweck entnehme ich einer Episode aus ES ein erstes Beispiel. Frédéric begegnet seiner großen alten Liebe, Madame Arnoux, mitten in Paris wieder, und zwar lange nach jener verpaßten Liebesnacht, in der das Verhältnis hätte beginnen sollen und nach der die sich anbahnende Beziehung auseinanderbrach. Inzwischen ist Zeit vergangen. Aus Frédérics Perspektive wird zunächst die Silhouette von Madame Arnoux, von Sonnenstrahlen umrahmt, wahrgenommen, sodann werden ihre Augenbrauen, dann der Schal, der ihre Schulter und den Rücken umhüllt, ihr taubenblauer Rock, die Blumen auf ihrem Mantel beschrieben, dann kehrt die Deskription erneut in das Gesicht zurück und widmet sich ihren schönen Augen. Ihre Lippen öffnen sich, Frédéric und sie tauschen ein paar belanglose Worte über das Wetter, über die Kinder und ihren Ehemann und jeder geht seiner Wege. Frédéric betrachtet diese Begegnung, bei der kein Wort der Liebe gefallen ist, bei der sich nicht einmal ihre Hände berührten und keinerlei Verabredung einer neuen Begegnung getroffen wurde, dennoch als "la plus belle des aventures".23 Auch am Ende des Romans wird erneut auf die Flüchtigkeit der Zeit und damit der menschlichen Beziehungen und der Wandelbarkeit der Gefühle hingewiesen. Madame Arnoux kehrt nach dem Tod ihres Mannes in Rom - und nachdem ihre Kinder aus dem Haus sind - nach Paris zurück und besucht Frédéric. Sie deutet an, daß sie nun frei sei, Frédéric stellt aber fest, daß sie etwas ergraut ist und lehnt ab. In weniger als zwanzig Minuten, in denen sie sich mehr oder weniger stumm gegenüberstanden, wird eine zehnjährige Liebe mit dem Kommentar "und das war alles!" endgültig begraben.24
2.3.2.
Die Flüchtigkeit der Zeit in Baudelaires A une passante und Le Cygne
In Baudelaires Lyrik, und speziell in A une passante, artikuliert sich das Bewußtsein der Moderne und das Sehen in der Moderne auf exemplarische Weise:25 Der Flaneur ergötzt sich an der aus der Anonymität der Masse entspringenden Erotik, die vom Sehen und von der Flüchtigkeit der Begegnung geprägt ist. Er hat die Straße zu seinem Zuhause gemacht, er hat das Leben vom Innenraum in den Außenraum verlegt, sein Gefühl in das Sehen verlagert. Verweilen wir kurz bei diesen Bemerkungen und betrachten wir das Gedicht A une passante in seiner intertextuellen, dialogisierenden Beziehung zu Dantes Vita Nova. In Dantes Text handelt es sich um eine rein intellektuelle, platonische, von göttlicher Erleuchtung geprägte Begegnung zwischen dem jungen Dante und der 23
Flaubert (ES: 261); s. Anhang.
24
Flaubert (ES: 422-423); s. Anhang.
25
Baudelaire (Les Fleurs du Mal: 92); s. Anhang.
FORMEN DES SEHENS schönen Beatrice de Pontinari. Dante trinkt aus ihrem Auge, dem Amors göttliche Erkenntnis, Weisheit und Tugendhaftigkeit innewohnt. Die Erfahrung des Sehens ist völlig nach innen gerichtet und Erotik ist dieser Begegnung vollkommen fremd. Beatrice taucht auch auf der Straße, auf einer Brücke auf, und gemächlich, umringt von schönen jungen Damen, blickt sie Dante kurz zu. Er glaubt zu sterben, sie macht ein segno/signe mit ihrer makellosen weißen Hand und Dante wird wieder ins Leben zurückgeführt. Man hat Zeit während dieser Begegnung, Menschen sitzen am Flußufer, Tauben fliegen herum, Dante steht auf und blickt um sich, alles ist still, alles hat einen festen Platz, die Begegnung strahlt Ruhe und Frieden aus. Dante blickt verzückt, er beschreibt Aussehen und Kleidung der Beatrice jedoch nicht. Das Sehen Dantes ist spirituell, typisch für die verträumte Kleinstadt Florenz in einer Zeit, in der Gott und rätselhafte Chiffre herrschen. Ganz anders stellt sich das an Vita Nova anknüpfende Gedicht von Baudelaire dar. Hier tobt der Straßenlärm und inmitten der betäubenden Stadt taucht plötzlich eine Vorbeigehende auf, groß und schlank, modisch gekleidet, sie geht mit einem dem modischen Rock angepaßten Rhythmus, wobei offenbar ihr Fuß zu sehen ist, der ein edles Bein erahnen läßt. Diese erste Beobachtung steigert die von solcherlei erotischen Reizen angeregte Seh-Aktivität ins Unermeßliche: Das Erblickte macht den Sprecher, den Seher, süchtig, er wird gegenüber dem "Erlebten-Gesehenen" trunken und betört von Süße und Lust. Neben der inmitten der Menge erlebten erotischen Gefühlsentladung besteht das starke Faszinosum der Begegnung darin, daß dieser so intensiv erlebte Augenblick nicht festzuhalten ist. Die Begegnung ist flüchtig wie ein Blitz, wie der Augenblick einer Offenbarung, wie ein unwiederholbares Wunder, aus dem der Seher, der Flaneur, Kraft schöpft. Das Bewußtsein des niemals wiederkehrenden Augenblicks, die völlige Anonymität der Frau, die Bereitschaft und Torheit, sich der unbändigen Lust hinzugeben, die Frau lieben zu wollen, scheint den Reiz unendlich zu erhöhen. Dem Sprecher in Dantes Vita Nova war es aufgrund des herrschenden Kultursystems nicht möglich, Beatrice für sich zu gewinnen, also besingt er sie. Der Sprecher bei Baudelaire ist fasziniert von der Mode, vom Aussehen der Frau und von der Unmöglichkeit, aufgrund der Flüchtigkeit der Zeit, sie zu verführen. Er labt sich an ihr, er verschlingt sie mit seinem Blick, einem Voyeur und Flaneur gleich, um seiner Lust Ausdruck zu verleihen, um seine Begierde zu stillen. Die Straße, die Masse läßt nur eine Befriedigung zu: das Sehen. Dieses Gedicht von Baudelaire, der Danteschen Dichtung gegenübergestellt, zeigt einerseits den Bruch zwischen innen und außen, aber andererseits auch eine Moderne, die mit der Antike konkurrieren will und ebenso wie diese aus der Asche des Neuen etwas Universelles etablieren will. Hier hat Benjamin Recht, wenn er sagt (1974: 80): "Unter allen Verhältnissen, in die die Moderne tritt, ist das zur Antike ein ausgezeichnetes. [...]. Die Moderne bezeichnet eine Epoche; sie bezeichnet zugleich die Kraft, die in dieser Epoche am Werke ist, der Antike sie anverwandelnd." Die Ruhe ausstrahlende und verklärte Antike betreffend, betont Baudelaire das Transitorische:
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Es gibt nun also keinen zeitüberdauernden Schönheitsbegriff mehr, sondern es gilt, gerade das Ephemere des Schönen zu beschreiben, das Transitorische als Ereignis zu überhöhen (vgl. die Gedichte La beauté, L'idéal, Hymne à la beauté)-. "Allerorten hat er die transitorische, flüchtige Schönheit unseres gegenwärtigen Lebens gesucht. Der Leser hat uns erlaubt, sie die Modernität zu nennen" (Benjamin 1974: 81). Diese Änderung des Sehens, der Wahrnehmung und der Erfahrung in der Moderne gegenüber der Antike und den vorhergehenden Jahrhunderten finden wir immer wieder bei Baudelaire, so z.B. in Le cygne.26 Der Sprecher befindet sich gegenüber dem Triumphbogen an einem Karussell im Innenhof des Louvre. Der gegenwärtige Glanz des neuen Triumphbogens, der als Trümmerhaufen dastand, ging auf Kosten des alten Paris. Inmitten dieser Tristesse treibt sich ein dürstender Schwan herum, wälzt sich im Dreck und bejammert nostalgisch die Idylle seiner ursprünglichen Heimat. Das Neue spendet ihm keinen Trost. Der Sprecher, ein Seher der Moderne, stellt hier nicht den sich an der Moderne glücklich-begierig weidenden Flaneur dar, wie im vorhergehenden Gedicht, sondern einen, der mit dem Umbruch nicht zurechtgekommen ist und so dem Schwan ähnelt. Der von der Moderne bewirkte Umbruch erweist sich hier, wie die tragische Lage der Andromache zeigt, für manchen als Katastrophe. Andromache wie der Schwan und der Sprecher werden zur "Beute" der Zeit. Diese drei sowie die angesprochene Negerin sind heimatlos geworden. Hier saugt der Sprecher nicht mehr lustvoll die Erscheinung einer flüchtigen Schönen ein, sondern ist von Tränen, Schmerz und Trauer getränkt. Diese beiden Gedichte stellen zwei Seiten der Moderne dar: die eines sich erfreuenden und die eines trauernden Sehers. Das sich stets verändernde Stadtbild (eine Entwicklung, die bis heute anhält) verwischt Spuren und löscht Erinnerungen aus. Daher bleiben dem Großstädter nur flüchtiges Sehen und die narzißtische Intimität der Alltagsutensilien und Innenräume, die immer mehr von der Außenwelt als einer Weltbühne, als einem überdimensionalen Zuhause vereinnahmt werden, was sich auch in den lichtüberfluteten Passagen niederschlägt. Die Gebrechlichkeit alles Zeitlichen, aller Dinge und Städte drückt auch die Gebrechlichkeit des Menschen aus. Das Sehen dekuvriert letztlich die Hinfälligkeit alles Menschlichen.
2.3.3. Das Sehen und die unzuverlässige Oberfläche in Flauberts Bouvard et Pécuchet: das Scheitern der Erkenntnis? Die Formen des Sehens haben mit unserer Wahrnehmung von Welt zu tun, und indem wir uns daranmachen, diese Seherfahrung zu erzählen und wiederzugeben, beginnen wir auch, Geschichte zu schreiben (Benjamin/Le Goff/White). Diese Geschichte, diese
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Baudelaire (Les Fleurs du Mal: 85-87); s. Anhang.
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neue Geschichte, ist deshalb eine persönliche, weil sie eine subjektive, eine fragmentarische und eine instabile ist. Sie ist das Resultat einer Perspektivierung des Wissens, ein Ergebnis des Infragestellens der Quellen und Fakten sowie deren Bewertung. Während Balzac noch in dem Glauben schreibt, der Gesellschaft könnten ihre Geheimnisse und Verrätselungen durch Beobachtung entrissen werden und man könnte die wahre Geschichte einer Epoche (des Paris im 19. Jahrhundert) erzählen, stellt Flaubert in Bouvard et Pécuchet - ausgehend von den wissenschaftlichen und historischen Methoden seiner Zeit - die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns radikal in Frage. Flaubert wird zu einem absoluten Skeptiker, indem er einen verbindlichen Logos negiert. Was Flaubert kritisiert, finden wir in der Geschichtsauffassung Benjamins und in der "neuen Historiographie" von Le Goff und White oder in dem Skeptizismus Borges' wieder. Diese Form der Skepsis und eines sichtbar werdenden absoluten Relativismus, werden zwar erst mit der Postmoderne als Prinzip etabliert, also mit Foucault und Derrida, d.h. fast ein Jahrhundert später, finden aber schon hier ihren Ursprung. Diese Situation wollen wir am Beispiel einer Textstelle aus Flauberts Roman Bouvard et Pécuchet verdeutlichen. Die unvermögenden Helden versuchen sich auf dem Felde der Geschichtswissenschaft. Sie befassen sich mit der Geschichte ausgehend von einer empirischen, verobjektivierenden Quellenforschung, d.h. ausgehend von Sammlung und Auswertung schriftlicher und sonstiger Zeugnisse, die Auskunft über den behandelten Gegenstand geben. Die erste Erfahrung, die sie machen, lehrt sie, daß man - um die Geschichte "objektiv" darzustellen - alle entsprechenden Bücher gelesen haben müßte. Bei dem schon damals großen Wissensquantum erweist sich ein solches Vorgehen jedoch als unmöglich. Das Problem der Geschichtserfassung stellt sich genauso in der Vergangenheit, in diesem Fall aber aufgrund des Mangels an gesicherten Zeugnissen. Die Beschaffung von Geschichtsdaten wie etwa Zeitangaben über Ereignisse stellt oft ein unlösbares Problem dar. Daher trösten sich die Helden damit, daß nicht die empirischen Daten das Wichtigste sind, sondern daß es letztlich um die Geschichtsphilosophie gehe. Das erweist sich ebenfalls als falscher Weg, da auch die Historiker Ideologien und Machtstrukturen verhaftet sind und in der Regel "im Dienste" eines Herrschers, eines Regimes geschrieben haben. Auch jene, die nur beobachten wollen (wie z.B. Balzac), um dadurch alles erfassen zu können, erliegen einer Täuschung, denn um Geschichte zu schreiben, muß man auswählen und die Auswahl ist bereits eine Entscheidung in eine Interpretationsrichtung. So kommen unsere Helden zu der am Beginn unseres Beitrags zitierten Äußerung, daß "die Geschichte nie wird fixiert werden können" und daß "auf den Wahrheitsanspruch der Geschichte niemals Verlaß sei". Dennoch glauben sie, eine eigene Geschichte schreiben zu können, indem sie die Quellen erschöpfend behandeln, dann die Ergebnisse in eine systematische Analyse einfließen lassen, um diese dann in einem Abriß zusammenzufassen, der die
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absolute Wahrheit widerspiegeln soll.27 Sie nehmen sich vor, eine Biographie des Duc d'Angouleme, der eigentlich ein Idiot war, zu verfassen.28 Bei ihren Recherchen treffen sie auf eine Lithographie des Kurfürsten (Oberfläche la). Dort wird er wie folgt dargestellt: in Uniform mit dem Band der Ehrenlegion; sein Hals ist von einem sehr hohen Kragen umringt; sein Kopf ist birnenförmig, eingerahmt von Löckchen, er hat schwere Augenlider, eine markante Nase und dicke Lippen. All das gibt seinem Antlitz eine unbedeutende Güte bzw. Freundlichkeit (er sieht lächerlich aus). Sie stellen nun eine Gliederung auf (Oberfläche 2), die natürlich mit der Geburt des Kurfürsten beginnt und die unterschiedlichen Phasen seines Lebens bis zum Ende seiner Karriere verfolgt; diese werden aufgezählt. Sie erfahren aber wenig über sein Verhalten, noch weniger über sein Privatleben oder über belanglose Äußerungen des Betreffenden. Gerade seine Privatsphäre, sein Liebesleben ist in den Quellen ausgespart worden. Auf der Suche danach stoßen die Helden zu ihrem Unglück auf ein zweites Porträt des Kurfürsten (Oberfläche lb), auf dem der Kurfürst als Oberst abgebildet ist, und zwar aus der Profilperspektive, seine Augen sind hier kleiner als im ersten Bild, der Mund ist offen, da sind keine Löckchen mehr, sondern glatte, flatternde Haare. Nun sind die Helden am Ende ihrer Weisheit, da sie die zwei unterschiedlichen Versionen der gleichen Person nicht miteinander vereinbaren können. Die Sache sei ernsthaft, stellen die Helden fest, denn das Aussehen sage ja schließlich etwas über den Charakter (Lavater/Balzac), und da sie auch nichts über das Privatleben des Kurfürsten wissen, geben sie ihr Unternehmen endgültig auf. Als Konsequenz bleibt nur die Feststellung, daß die Geschichte allein, ohne die Hilfe von anderen benachbarten Wissenschaften, wie etwa der Psychologie, nicht auskommt. Und noch viel wichtiger ist die Feststellung, daß die Geschichtswissenschaft ohne die Fantasie gar nicht funktionieren kann. Daher verlegen sich die Helden nun darauf, historische Romane zu verfassen.29
ZUSAMMENFASSUNG Balzac lag also gar nicht so falsch mit seinem Versuch, eine Geschichte von unten, eine 'private' Geschichte zu schreiben, die zugleich aber die große Geschichte erfasse und diese dann subjektiv auslege. Die zwei Porträts des Duc sind Interpretationen einer Person und damit stehen sie in einer Homologie zu mehreren historischen Texten, die Unterschiedliches über ein Ereignis sagen. Daher bleibt es dem Interpreten überlassen, wie er sieht und wie er schreibt. Gerade die 'nouvelle histoire' bringt die Kritik an der
27
Flaubert (BP: 147-148; 148-149; 151-152); s. Anhang.
28
Flaubert (BP: 152-153; 155; ibid.; 156; 157); s. Anhang.
29
Flaubert (BP: 160); s. Anhang.
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herkömmlichen Geschichtsschreibung und die Rückkehr der Biographie, der erzählenden Geschichtsschreibung und der Suche nach der Verbindung mit anderen Disziplinen ins Spiel, um die Selbstisolierung zu überwinden. Die Metahistory bringt den historiographischen Diskurs mit dem fiktionalen in eine Äquivalenzbeziehung, so daß beiden die tropologisch-narrativen Vertextungsverfahren der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie als Organisationsprinzipien zuzuordnen sind. Sie trägt dem Anliegen Balzacs und Flauberts somit nachträglich Rechnung. Die Auktorialität des Balzacschen Erzählens läßt sich aber auch in der Verankerung des Sehens in einem Gesamterkenntnissystem begründen. Daher geht der Erzähler von einem globalen Sehen aus. Er bildet keine Sehperspektive, sein Sehen ist der Sprache übergeordnet und von epistemologischen Größen geleitet. Balzac malt die Sprache mit dem Sehen/mit der Wirklichkeit, das Sehen wird im Mythischen eingebunden, die Welt wird als rätselhafte Chiffre begriffen, die mit Hilfe der Wissenschaft (nicht mehr Gottes), enträtselt und erklärt werden kann. Hier ist es der Künstler, dieser Held der Moderne, der zusammen mit der von ihm genutzten Wissenschaft an die Stelle Gottes tritt, der Enträtselnde, der Sichtbarmachende. Flaubert dagegen malt mit der Sprache, macht das Sehen mit der Sprache, macht Bild mit der Sprache. Derart kann die Sprache mit dem Sehen konkurrieren, und zwar so, daß sich das Problem wie in der Malerei stellt. Flaubert bedient sich eines verborgenen Erzählers, weil er von einem partikulären und fragmentarischen Wissenschaftsbegriff, und damit von einem perspektivischen Sehen ausgeht. Hier wird die Interpretation als Resultat des Sehens betrachtet. Bei Balzac ist die Bedeutung a priori bestimmt, erst danach sucht er sich die Bild-Beispiele, bei Flaubert und Baudelaire bildet sich die Bedeutung nach dem Bild. Und, zum Abschluß, noch einmal Adson von Melk: Non mi rimane che tacere. O quam salubre, quam iucundum et suave est sedere in solitudine et tacere et loqui cum Deo! (Hervorheb. d. A.) [...] Fa freddo nello scriptorium, il pollice mi duole. Lascio questa scrittura, non so per chi, non so più intorno a che cosa: stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus. (Eco 1980: 503)
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ANHANG Textbeispiele Zu Fn. 9: Balzac (Avant propos, 1842/1976: 7-8) "Il n'y a qu'un animal. Le créateur ne s'est servi que d'un seul et même patron pour tous les êtres organisés. L'animal est un principe qui prend sa forme extérieure, ou, pour parler plus exactement, les différences de sa forme, dans les milieux où il est appelé à se développer. [...] Cette idée vint d'une comparaison entre l'Humanité et l'Animalité. Ce serait une erreur de croire que la grande querelle qui, dans ces derniers temps, s'est émue entre Cuvier et Geoffroi Saint-Hilaire, reposait sur une innovation scientifique. L'unité de composition occupait déjà sous d'autres termes les plus grands esprits des deux siècles précédents. En relisant les œuvres si extraordinaires des écrivains mystiques qui se sont occupés des sciences dans leurs relations avec l'infini, tels que Swedenborg, Saint-Martin, etc., et les écrits des plus beaux génies en histoire naturelle, tels que Leibnitz, Buffon, Charles Bonnet, etc., on trouve dans les monades de Leibnitz, dans les molécules organiques de Buffon, dans la force végétatrice de Needham, dans l'emboîtement des parties similaires de Charles Bonnet, assez hardi pour écrire en 1760: L'animal végète comme la plante; on trouve, dis-je, les rudiments de la belle loi du soi pour soi sur laquelle repose l'unité de composition. [...]. Les Espèces Zoologiques résultent de ces différences. La proclamation et le soutien de ce système, en harmonie d'ailleurs avec les idées que nous nous faisons de la puissance divine, sera l'éternel honneur de Geoffroi Saint-Hilaire, le Vainqueur de Cuvier sur ce point de la haute science, et dont le triomphe a été salué par le dernier article qu'écrivit le grand Goethe".
Zu Fn. 10: Balzac (1842/1976: 8-9): "Pénétré de ce système bien avant les débats auxquels il a donné lieu, je vis que, sous ce rapport, la Société ressemblait à la Nature. La Société ne fait-elle pas de l'homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d'hommes différents qu'il y a de variétés en zoologie? Les différences entre un soldat, un ouvrier, un administrateur, un avocat, un oisif, un savant, un homme d'état, un commerçant, un marin, un poète, un pauvre, un prêtre, sont, quoique plus difficiles à saisir, aussi considérables que celles qui distinguent le loup, le lion, l'âne, le corbeau, le requin, le veau marin,
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la brebis, etc. Il a donc existé, il existera donc de tout temps des Espèces Sociales comme il y a des Espèces Zoologiques. Si Buffon a fait un magnifique ouvrage en essayant de représenter dans un livre l'ensemble de la zoologie, n'y avait-il pas une œuvre de ce genre à faire pour la Société? Mais la Nature a posé, pour les variétés animales, des bornes entre lesquelles la Société ne devait pas se tenir. Quand Buffon peignait le lion, il achevait la lionne en quelques phrases; tandis que dans la Société la femme ne se trouve pas toujours être la femelle du mâle, il peut y avoir deux êtres parfaitement dissemblables dans un ménage. La femme d'un marchand est quelquefois digne d'être celle d'un prince, et souvent celle d'un prince ne vaut pas celle d'un artiste. L'État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Société. La description des Espèces Sociales était donc au moins double de celle des Espèces Animales, à ne considérer que les deux sexes. Enfin, entre les animaux, il y a peu de drames, la confusion ne s'y met guère; ils courent sur les uns aux autres, voilà tout. Les hommes courent bien aussi les uns sur les autres; mais leur plus ou moins d'intelligence rend le combat autrement compliqué. Si quelques savants n'admettent pas encore que l'Animalité se transborde dans l'Humanité par un immense courant de vie, l'épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social. Puis, Buffon a trouvé la vie excessivement simple chez les animaux. L'animal a peu de mobilier, il n'a ni arts ni sciences; tandis que l'homme, par une loi qui est à rechercher, tend à représenter ses mœurs, sa pensée et sa vie dans tout ce qu'il approprie à ses besoins. Quoique Leuwenhoëk, Swammerdam, Spallanzani, Réaumur, Charles Bonnet, Muller, Haller et autres patients zoographes aient démontré combien les mœurs des animaux étaient intéressantes; les habitudes de chaque animal sont, à nos yeux du moins, constamment semblables en tout temps; tandis que les habitudes, les vêtements, les paroles, les demeures d'un prince, d'un banquier, d'un artiste, d'un bourgeois, d'un prêtre et d'un pauvre sont entièrement dissemblables et changent au gré des civilisations."
Zu Fn. 13: Balzac (1842/1976: 9; 11-12): "Ainsi l'œuvre à faire devait avoir une triple forme: les hommes, les femmes et les choses, c'est-àdire les personnes et la représentation matérielle qu'ils donnent de leur pensée; enfin l'homme et la vie. En lisant les sèches et rebutantes nomenclatures de faits appelées histoires, qui ne s'est aperçu que les écrivains ont oublié, dans tous les temps, en Égypte, en Perse, en Grèce, à Rome, de nous donner l'histoire des mœurs. [...] Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n'y a qu'à l'étudier. La Société française allait être l'historien, je ne devais être que le secrétaire. En dressant l'inventaire des vices et des vertus, en rassemblant les principaux faits des passions, en peignant les caractères événements principaux de la Société, en composant des types par la réunion des traits de plusieurs caractères homogènes, peut-être pouvais-je arriver à écrire l'histoire oubliée par tant d'historiens, celle des mœurs. Avec beaucoup de patience et de courage, je réaliserais, sur la France au dix-neuvième siècle, ce livre que nous regrettons tous, que Rome, Athènes, Tyr, Memphis, la Perse, l'Inde ne nous ont malheureusement pas laissé sur leurs civilisations, et qu'à l'instar de l'abbé Barthélémy, le courageux et patient Monteil avait essayé pour le Moyen-Age, mais sous une forme peu attrayante. Ce travail n'était rien encore. S'en tenant à cette reproduction rigoureuse, un écrivain pouvait devenir un peintre plus ou moins fidèle, plus ou moins heureux, patient ou courageux des types humains, le conteur des drames de la vie intime, l'archéologue du mobilier social, le nomenclateur des professions, l'enregistreur du bien et du mal; mais, pour mériter les éloges que doit ambitionner tout artiste, ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux, surprendre le sens caché dans cet immense assemblage de figures, de passions et d'événements. Enfin, après avoir cherché,
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je ne dis pas trouvé, cette raison, ce moteur social, ne fallait-il pas méditer sur les principes naturels et voir en quoi les Sociétés s'écartent ou se rapprochent de la règle éternelle, du vrai, du beau? Malgré l'étendue des prémisses, qui pouvaient être à elles seules un ouvrage, l'œuvre, pour être entière, voulait une conclusion. Ainsi dépeinte, la Société devait porter avec elle la raison de son mouvement. La loi de l'écrivain, ce qui le fait tel, ce qui, je ne crains pas de le dire, le rend égal et peut-être supérieur à l'homme d'état, est une décision quelconque sur les choses humaines, un dévouement absolu à des principes."
Zu Fn. 14: Balzac (1842/1976: 17): "En saisissant bien le sens de cette composition, on reconnaîtra que j'accorde aux faits constants quotidiens, secrets ou patents, aux actes de la vie individuelle, à leurs causes et à leurs principes autant d'importance que jusqu'alors les historiens en ont attaché aux événements de la vie publique des nations. [...] Ce n'était pas une petite tâche que de peindre les deux ou trois mille figures saillantes d'une époque, car telle est, en définitif, la somme des types que présente chaque génération et que LA COMÉDIE HUMAINE comportera. Ce nombre de figures, de caractères, cette multitude d'existences exigeaient des cadres, et, qu'on me pardonne cette expression, des galeries. De là, les divisions si naturelles, déjà connues, de mon ouvrage en Scènes de la vie privée, de province, parisienne, politique, militaire et de campagne. Dans ces six livres sont classées toutes les Études de mœurs qui forment l'histoire générale de la Société, la collection de tous ses faits et gestes, eussent dit nos ancêtres. Ces six livres répondent d'ailleurs à des idées générales. Chacun d'eux a son sens, sa signification, et formule une époque de la vie humaine. Je répéterai là, mais succinctement, ce qu'écrivit, après s'être enquis de mon plan, Félix Davin, jeune talent ravi aux lettres par une mort prématurée. Les Scènes de la vie privée représentent l'enfance, l'adolescence et leurs fautes, comme les Scènes de la vie de province représentent l'âge des passions, des calculs, des intérêts et de l'ambition. Puis les Scènes de la vie parisienne offrent le tableau des goûts, des vices et de toutes les choses effrénées qu'excitent les mœurs particulières aux capitales où se rencontrent à la fois l'extrême bien et l'extrême mal. Chacune de ces trois parties a sa couleur locale: Paris et la province, cette antithèse sociale a fourni ses immenses ressources. Non-seulement les hommes, mais encore les événements principaux de la vie, se formulent par des types. Il y a des situations qui se représentent dans toutes les existences, des phases typiques, et c'est là l'une des exactitudes que j'ai le plus cherchées. J'ai taché de donner une idée des différentes contrées de notre beau pays. Mon ouvrage a sa géographie comme il a sa généalogie et ses familles, ses lieux et ses choses, ses personnes et ses faits; comme il a son armoriai, ses nobles et ses bourgeois, ses artisans et ses paysans, ses politiques et ses dandies, son armée, tout son monde enfin! Après avoir peint dans ces trois livres la vie sociale, il restait à montrer les existences d'exception qui résument les intérêts de plusieurs ou de tous, qui sont en quelque sorte hors la loi commune: de là les Scènes de la vie politique. Cette vaste peinture de la société finie et achevée, ne fallait-il pas la montrer dans son état le plus violent, se portant hors de chez elle, soit pour la défense, soit pour la conquête? De là les Scènes de la vie militaire, la portion la moins complète encore de mon ouvrage, mais dont la place sera laissée dans cette édition, afin qu'elle en fasse partie quand je l'aurai terminée. Enfin, les Scènes de la vie de campagne sont en quelque sorte le soir de cette longue journée, s'il m'est permis de nommer ainsi le drame social. Dans ce livre, se trouvent les plus purs caractères et l'application des grands principes d'ordre, de politique, de moralité. Telle est l'assise pleine de figures, pleine de comédies et de tragédies sur laquelle s'élèvent les Études philosophiques, Seconde Partie de l'ouvrage, où le moyen social de tous les effets se trouve démontré, où les ravages de la pensée sont peints, sentiment à sentiment, et dont le premier
ALFONSO DR TORO ouvrage, LA PEAU DE CHAGRIN, relie en quelque sorte les Études de mœurs aux Études philosophiques par l'anneau d'une fantaisie presque orientale où la Vie elle-même est peinte aux prises avec le Désir, principe de toute passion. Au-dessus, se trouveront les Études analytiques, desquelles je ne dirai rien, car il n'en été publié qu'une seule, LA PHYSIOLOGIE DU MARIAGE. D'ici à quelque temps je dois donner deux autres ouvrages de ce genre. D'abord la PATHOLOGIE DE LA VIE SOCIALE, puis l'ANATOMIE DES CORPS ENSEIGNANTS et la MONOGRAPHIE DE LA VERTU. [...] L'immensité d'un plan qui embrasse à la fois l'histoire et la critique de la Société, l'analyse de ses maux et la discussion de ses principes, m'autorise, je crois, à donner à mon ouvrage le titre sous lequel il paraît aujourd'hui: La Comédie humaine."
Zu Fn. 15: Balzac (Lepère Goriot: 1834/1966: 25-27; 29-30; 32) S. 25-27 "Madame Vauquer, née de Conflans, est une vieille femme qui, depuis quarante ans, tient à Paris une pension bourgeoise établie rue Neuve-Sainte-Geneviève, entre le quartier latin et le faubourg SaintMarceau. Cette pension, connue sous le nom de la Maison-Vauquer, admet également des hommes et des femmes, des jeunes gens et des vieillards, sans que jamais la médisance ait attaqué les mœurs de ce respectable établissement. Mais aussi depuis trente ans ne s'y était-il jamais vu de jeune personne, et pour qu'un jeune homme y demeure, sa famille doit-elle lui faire une bien maigre pension. Néanmoins, en 1819, époque à laquelle ce drame commence, il s'y trouvait une pauvre jeune fille. En quelque discrédit que soit tombé le mot drame par la manière abusive et tortionnaire dont il a été prodigué dans ces temps de douloureuse littérature, il est nécessaire de l'employer ici: non que cette histoire soit dramatique dans le sens vrai du mot; mais, l'œuvre accomplie, peut-être aura-t-on versé quelques larmes intra muros et extra. [...] La maison où s'exploite la pension bourgeoise appartient à madame Vauquer. Elle est située dans le bas de la rue Neuve-Sainte-Geneviève, à l'endroit où le terrain s'abaisse vers la rue de l'Arbalète par une pente si brusque et si rude que les chevaux la montent où la descendent rarement. Cette circonstance est favorable au silence qui règne dans ces rues serrées entre le dôme du Val-de-Grâce et le dôme du Panthéon, deux monuments qui changent les conditions de l'atmosphère en y jetant des tons jaunes, en y assombrissant tout par les teintes sévères que projettent leurs coupoles. Là, les pavés sont secs, les ruisseaux n'ont ni boue ni eau, l'herbe croît le long des murs. L'homme le plus insouciant s'y attriste comme tous les passants, le bruit d'une voiture y devient un événement, les maisons y sont mornes, les murailles y sentent la prison. Un Parisien égaré ne verrait là que des pensions bourgeoises ou des institutions, de la misère ou de l'ennui, de la vieillesse qui meurt, de la joyeuse jeunesse contrainte à travailler. Nul quartier de Paris n'est plus horrible, ni, disons plus inconnu. La rue Neuve-Sainte-Geneviève surtout est comme un cadre de bronze, le seul qui convienne à ce récit, auquel on ne saurait trop préparer l'intelligence par des couleurs brunes, par des idées graves; ainsi que, de marche en marche, le jour diminue et le chant du conducteur se creuse, alors que le voyageur descend aux Catacombes. Comparaison vraie! Qui décidera de ce qui est plus horrible à voir, ou des cœurs desséchés, ou des crânes vides? La façade de la pension donne sur un jardinet, en sorte que la maison tombe à l'angle droit sur la rue Neuve-Sainte-Geneviève, où vous la voyez coupée dans sa profondeur. [...] On entre dans cette allée par une porte bâtarde, surmontée d'un écriteau sur lequel est écrit: MAISON-VAUQUER, et dessous: Pension bourgeoise des deux sexes et autres. Pendant le jour, une porte à claire-voie, armée d'une sonnette criarde, laisse apercevoir au bout du petit pavé, sur le mur opposé à la rue, une arcade peinte en marbre vert par un artiste du quartier. Sous le renfoncement que simule cette peinture
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s'élève une statue représentant l'Amour. A voir le vernis écaillé qui la couvre, les amateurs de symboles y découvriraient peut-être un mythe de l'amour parisien qu'on guérit à quelques pas de là." S. 29-30 "Cette première pièce exale une odeur sans nom dans la langue, et qu'il faudrait appeler l'odeur de pension. Elle sent le renfermé, le moisie, le ranee; elle donne froid, elle est humide au nez, elle pénètre les vêtements; elle a le goût d'une salle où l'on a dîné; elle pue le service, l'office, l'hospice. Peut-être pourrait-elle se décrire si l'on inventait un procédé pour évaluer les quantités élémentaires et nauséabondes qu'y jettent les atmosphères catarrhales et sui generis de chaque pensionnaire, jeune ou vieux. Et bien! malgré ces plates horreurs, si vous le compariez à la salle à manger, qui lui est contiguë, vous trouveriez ce salon élégant et parfumé comme doit l'être un boudoir. [...] Vous y verriez un baromètre à capucin qui sort quand il pleut, des gravures exécrables qui ôtent l'appétit, toutes encadrées en bois verni à filets dorés; un cartel en écaille incrustée de cuivre; un poîle vert, des quinquets d'Argand où la poussière se combine avec l'huile, une longue table couverte en toile cirée assez grasse pour qu'un facétieux externe y écrive son nom en servant de son doigt comme de style. Des chaises estropiées, de petits paillassons piteux en sparterie qui se déroule toujours sans se perdre jamais, puis des chaufferettes misérables à trous cassés, à charnières défaites, dont le bois se carbonise. Pour expliquer combien ce mobilier est vieux, crevassé, pourri, tremblant, rongé, manchot, borgne, invalide, expirant, il faudrait en faire une description qui retarderait trop l'intérêt de cette histoire, et que les gens pressés ne pardonneraient pas. Le carreau rouge est plein de vallées produites par le frottement ou par les mises en couleur. Enfin, là règne la misère sans poésie; une misère économe, concentrée, râpée." S. 34 "Le beau Paris ignore ces figures blêmes de souffrances morales ou physiques. Mais Paris est un véritable océan. Jetez-y la sonde, vous n'en connaîtrez jamais la profondeur. Parcourez-le, décrivezle! quelque soin que vous mettiez à le parcourir, à le décrire; quelque nombreux et intéressés que soient les explorateurs de cette mer, il s'y rencontrera toujours un lieu vierge, un antre inconnu, des fleurs, des perles, des monstres, quelques choses d'inouï, oublié par les plongeurs littéraires. La Maison Vauquer est une de ces monstruosités curieuses."
Zu Fn. 18: Balzac (Le père Goriot: 1834/1966: 228-231): "-Ah, te voilà comme je te voulais, s'écria Rastignac. Les lanternes de cinq cents voitures éclairaient les abords de l'hôtel de Beauséant. De chaque côté de la porte illuminée piaffait un gendarme. Le grand monde affluait si abondamment, et chacun mettait tant d'empressement à voir cette grande femme au moment de sa chute, que les appartements, situés au rez-de-chaussée de l'hôtel, étaient déjà pleins quand madame de Nucingen et Rastignac s'y présentèrent. Depuis le moment où toute la cour se rua chez la grande Mademoiselle à qui Louis XIV arrachait son amant, nul désastre de cœur ne fut plus éclatant que ne l'était celui de madame de Beauséant. En cette circonstance, la dernière fille de la quasi royale maison de Bourgogne se montra supérieure à son mal, et domina jusqu'à son dernier moment le monde dont elle n'avait accepté les vanités que pour les faire servir au triomphe de sa passion. Les plus belles femmes de Paris animaient les salons de leurs toilettes et de leurs sourires. Les hommes les plus distingués de la cour, les ambassadeurs, les ministres, les gens illustrés en tout genre, chamarrés de croix, de plaques, de cordons multicolores, se pressaient autour de la vicomtesse. L'orchestre faisait résonner les motifs de sa musique sous les lambris dorés de ce palais, désert pour sa reine. Madame de Beauséant se tenait debout devant son premier salon pour recevoir
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ses prétendus amis. Vêtue de blanc, sans aucun ornement dans ses cheveux simplement nattés, elle semblait calme, et n'affichait ni douleur, ni fierté, ni fausse joie. Personne ne pouvait lire dans son âme. Vous eussiez dit d'une Niobé de marbre. Son sourire à ses intimes amis fut parfois railleur; mais elle parut à tous semblable à elle-même, et se montra si bien ce qu'elle était quand le bonheur la parait de ses rayons, que les plus insensibles l'admirèrent, comme les jeunes Romaines applaudissaient le gladiateur qui savait sourir en expirant. Le monde semblait s'être paré pour faire ses adieux à l'une de ses souveraines. [...] - Je tremblais que vous ne vinssiez pas, dit-elle à Rastignac. - Madame, répondit-il d'une voix émue en prenant ce mot pour un reproche, je suis venu pour rester le dernier. - Bien, dit-elle en lui prenant la main. Vous êtes peut-être ici le seul auquel je puisse me fier. Mon ami, aimez une femme que vous puissiez aimer toujours. N'en abandonnez aucune. Elle prit le bras de Rastignac et le mena sur un canapé, dans le salon où l'on jouait. - Allez, lui dit-elle, chez le marquis. Jacques, mon valet de chambre, vous y conduira et remettra une lettre pour lui. Je lui demande sa correspondance. Il vous la remettra tout entière, j'aime à le croire. Si vous avez mes lettres, montez dans ma chambre. On me préviendra. Elle se leva pour aller au-devant de la duchesse de Langeais, sa meilleure amie, qui venait aussi. Rastignac partit, fit demander le marquis d'Ajuda à l'hôtel de Rochefide, où il devait passer la soirée, et où il le trouva. Le marquis l'emmena chez lui, remit une boîte à l'étudiant, et lui dit: "Elles y sont toutes." Il parut vouloir parler à Eugène, soit pour le questionner sur les événements du bal et sur la vicomtesse, soit pour lui avouer que déjà peut-être il était au désespoir de son mariage, comme il le fut plus tard, mais un éclair d'orgueil brilla dans ses yeux, et il eut le déplorable courage de garder le secret sur ses plus nobles sentiments. "Ne lui dites rien de moi, mon cher Eugène." Il pressa la main de Rastignac par un mouvement affectueusement triste, et lui fit signe de partir. Eugène revint à l'hôtel de Beauséant, et fut introduit dans la chambre de la vicomtesse où il vit les apprêts d'un départ. Il s'assit auprès du feu, regarda la cassette en cèdre, et tomba dans une profonde mélancolie. Pour lui, madame de Beauséant avait les proportions des déesses de l'Illiade. - Ah! mon ami, dit la vicomtesse en entrant et appuyant sa main sur l'épaule de Rastignac. Il aperçut sa cousine en pleurs, les yeux levés, une main tremblante, l'autre levée. Elle prit tout à coup la boîte, la plaça dans le feu et la vit brûler. - Ils dansent! Ils sont venus tous bien exactement, tandis que la mort viendra tard. Chut! mon ami, dit-elle en mettant un doigt sur la bouche de Rastignac prêt à parler. Je ne verrai plus jamais ni Paris ni le monde. A cinq heures du matin, je vais partir pour aller m'ensevelir au fond de la Normandie. Depuis trois heures après midi, j'ai été obligée de faire mes préparatifs, signer des actes, voir à des affaires; je ne pouvais envoyer personne chez... Elle s'arrêta. Il était sûr qu'on le trouverait chez — Elle s'arrêta encore accablée de douleur. En ces moments tout est souffrance, et certains mots sont impossibles à prononcer. - Enfin, repritelle, je comptais sur vous ce soir pour ce dernier service. Je voudrais vous donner un gage de mon amitié. Je penserai souvent à vous, qui m'avez paru bon et noble, jeune et candide au milieu de ce monde où ces qualités sont si rares. Je souhaite que vous songiez quelquefois à moi. Tenez, dit-elle en jetant les yeux autour d'elle, voici le coffret où je mettais mes gants. Toutes les fois que j'en pris avant d'aller au bal ou au spectacle, je me sentais belle, parce que j'étais heureuse, et je n'y touchais que pour y laisser quelque pensée gracieuse: il y a beaucoup de moi là-dedans, il y a toute une madame de Beauséant qui n'est plus. Acceptez-le. J'aurai soin qu'on le porte chez vous, rue d'Artois. Madame de Nucingen est fort bien ce soir, aimez-la bien. Si nous ne nous voyons plus, mon ami, soyez sûr que je ferai des vœux pour vous, qui avez été bon pour moi. Descendons, je ne veux pas leur laisser croire que je pleure. J'ai l'éternité devant moi, j'y serai seule, et personne ne m'y demandera compte de mes larmes. Encore un regard à cette chambre. Elle s'arrêta. Puis, après s'être
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un moment caché les yeux avec sa main, elle se les essuya, les baigna d'eau fraîche, et prit le bras de l'étudiant. Marchons! dit-elle. Rastignac n'avait pas encore senti d'émotion aussi violente que fut le contact de cette douleur si noblement contenue. En rentrant dans le bal, Eugène en fit le tour avec madame de Beauséant, dernière et délicate attention de cette gracieuse femme. Bientôt il aperçut les deux sœurs, madame de Restaud et madame de Nucingen. La comtesse était magnifique avec tous ses diamants étalés, qui, pour elle, étaient brûlants sans doute, elle les portait pour la dernière fois. Quelque puissants que fussent son orgueil et son amour, elle ne soutenait pas bien les regards de son mari. Ce spectacle n'était pas de nature à rendre les pensées de Rastignac moins tristes. Il revit alors, sous les diamants des deux sœurs, le grabat sur lequel gisait le père Goriot. Son attitude mélancolique ayant trompé la vicomtesse, elle lui retira son bras. - Allez! je ne veux pas vous coûter un plaisir, dit-elle. Eugène fut bientôt réclamé par Delphine, heureuse de l'effet qu'elle produisait, et jalouse de mettre aux pieds de l'étudiant les hommages qu'elle recueillait dans ce monde, où elle espérait être adoptée. - Comment trouvez-vous, Nasie? lui dit-elle. - Elle a, dit Rastignac, escompté jusqu'à la mort de son père. Vers quatre heures du matin, la foule des salons commençait à s'éclaircir. Bientôt la musique ne se fit plus entendre. La duchesse de Langeais et Rastignac se trouvèrent seuls dans le grand salon. La vicomtesse, croyant n'y rencontrer que l'étudiant, y vint après avoir dit adieu à monsieur de Beauséant, qui s'alla coucher en lui répétant: "Vous avez tort, ma chère, d'aller vous enfermer à votre âge! Restez donc avec nous." En voyant la duchesse, madame de Beauséant ne put retenir une exclamation. - Je vous ai devinée, Clara, dit madame de Langeais. Vous partez pour ne plus revenir; mais vous ne partirez pas sans m'avoir entendue et sans que nous nous soyons comprises. Elle prit son amie par le bras, l'emmena dans le salon voisin, et là, la regardant avec des larmes dans les yeux, elle la serra dans ses bras et la baisa sur les joues. - Je ne veux pas vous quitter froidement, ma chère, ce serait un remords trop lourd. Vous pouvez compter sur moi comme sur vous-même. Vous avez été grande ce soir, je me suis sentie digne de vous, et veux vous le prouver. J'ai eu des torts envers vous, pardonnez-moi, ma chère: je n'ai pas toujours été bien, je désavoue tout ce qui a pu vous blesser, je voudrais reprendre mes paroles. Une même douleur a réuni nos âmes, et je ne sais qui de nous sera la plus malheureuse. Monsieur de Montriveau n'était pas ici ce soir, comprenez-vous? Qui vous a vue pendant ce bal, Clara, ne vous oubliera jamais. Moi, je tente un dernier effort. Si j'échoue, j'irai dans un couvent! Où allez-vous? - En Normandie, à Courcelles, aimer, prier, jusqu'au jour où Dieu me retirera de ce monde. - Venez, monsieur de Rastignac, dit la vicomtesse d'une voix émue, en pensant que ce jeune homme attendait. L'étudiant plia le genou, prit la main de sa cousine et la baisa. - Antoinette, adieu! reprit madame de Beauséant, soyez heureuse. Quant à vous, vous l'êtes, vous êtes jeune, vous pouvez croire à quelque chose, dit-elle à l'étudiant. A mon départ de ce monde, j'aurai eu, comme quelques mourants priviligiés, de religieuses, de sincères émotions autour de moi! Rastignac s'en alla vers cinq heures, après avoir vu madame de Beauséant dans sa berline de voyage, après avoir reçu son dernier adieu mouillé de larmes qui prouvaient que les personnes les plus élevées ne sont pas mises hors de la loi du cœur et ne vivent pas sans chagrins, comme quelques courtisans du peuple voudraient le lui faire croire. Eugène revint à pied vers la Maison-Vauquer, par un temps humide et froid. Son éducation s'achevait."
ALFONSO DR TORO Zu Fn. 20: Flaubert (ES 1869/1964: 114ff.; 157-161): "Frédéric fut d'abord ébloui par les lumières; il n'aperçut que de la soie, du velours, des épaules nues, une masse de couleurs qui se balançait aux sons d'un orchestre caché par des verdures, entre des murailles tendues de soie jaune, avec des portraits au pastel, ça et là, et des torchères de cristal en style Louis XVI. De hautes lampes, dont les globes dépolis ressemblaient à des boules de neige, dominaient des corbeilles de fleurs, posées sur des consoles dans les coins; - et, en face, après une seconde pièce plus petite, on distinguait, dans une troisième, un lit à colonnes torses, ayant une glace de Venise à son chevet. Les danses s'arrêtèrent, et il y eut des applaudissements, un vacarme de joie, à la vue d'Arnoux s'avançant avec son panier sur la tête; les victuailles faisaient bosse au milieu. "Gare au lustre!" Frédéric leva les yeux: c'était le lustre en vieux saxe qui ornait la boutique de l'art industriel, le souvenir des anciens jours passa dans sa mémoire; mais un fantassin de la ligne en petite tenue, avec cet air nigaud que la tradition donne aux conscrits, se planta devant lui, en écartant les deux bras pour marquer l'étonnement; et il reconnut, malgré les effroyables moustaches noires extra-pointues qui le défiguraient, son ancien ami Hussonnet. Dans un charabia moitié alsacien, moitié nègre, le bohème l'accablait de félicitations, l'appelant son colonel. Frédéric, décontenancé par toutes ces personnes, ne savait que répondre. Un archet ayant frappé sur un pupitre, danseurs et danseuses se mirent en place. Ils étaient une soixantaine environ, les femmes pour la plupart en villageoises ou en marquises, et les hommes presque tous d'âge mûr, en costumes de roulier, de débardeur ou de matelot. Frédéric, s'étant rangé contre le mur, regarda le quadrille devant lui. Un vieux beau, vétu, comme un doge vénitien, d'une longue simarre de soie pourpre, dansait avec Mme Rosanette, qui portait un habit vert, une culotte de tricot et des bottes molles à éperons d'or. Le couple en face se composait d'un Arnaute chargé de yatagans et d'une Suissesse aux yeux bleus, blanche du lait, potelée comme une caille, en manches de chemise et corset rouge. Pour faire valoir sa chevelure qui lui descendait jusqu'aux jarrets, une grande blonde, marcheuse à l'opéra, s'était mise en femme sauvage; et, par-dessus son maillot de couleur brune, n'avait qu'un pagne de cuir, des bracelets de verroterie, et un diadème de clinquant, d'où s'élevait une haute gerbe en plumes de paon. Devant elle, un Pritchard, affublé d'un habit noir grotesquement large, battait la mesure avec son coude sur sa tabatière. Un petit berger Watteau, azur et argent comme un clair de lune, choquait sa houlette contre le thyre d'une Bacchante couronnée de raisins, une peau de léopard sur le flanc gauche et des cothurnes à rubans d'or. De l'autre coté une Polonaise, en spencer de velours nacarat, balançait son jupon de gaze sur les bas de soie gris perle, pris dans des bottines roses cerclées de fourrure blanche. Elle souriait à un quadragénaire ventru, déguisé en enfant de chœur, et qui, gambadait très haut, levant d'une main son surplis et retenant de l'autre sa calotte rouge. Mais la reine, l'étoile, c'était mademoiselle Loulou, célèbre danseuse des bals publics. Comme elle se trouvait riche maintenant, elle portait une large collerette de dentelle sur sa veste de velours noir uni; et son large pantalon de soie ponceau, collant sur la croupe et serré à la taille par une écharpe de cachemire, avait, tout le long de la couture, des petits camélias blancs-naturels. Sa mine pâle, un peu bouffie et à nez retroussé, semblait plus insolente encore par l'ébouriffure de sa perruque où tenait un chapeau d'homme, en feutre gris, plié d'un coup de poing sur l'oreille droite; et, dans les bonds qu'elle faisait, ses escarpins à boucles de diamants atteignaient presque au nez de son voisin, un grand Baron moyen âge tout empêtré dans une armure de fer. Il y avait aussi un Ange, un glaive d'or à la main, deux ailes de cygne dans le dos, et qui, allant, venant, perdant à toute minute son cavalier, un Louis XIV, ne comprenait rien aux figures et embarrassait la contredanse. Frédéric, en regardant ces personnes, éprouvait un sentiment d'abandon, un malaise. Il songeait encore à Madame Arnoux et il lui semblait participer à quelque chose d'hostile se tramant contre elle. [...]
FORMEN DES SEHENS Deux municipaux à cheval stationnaient dans la rue. Une file de lampion brûlaient sur les deux portes cochères; et des domestiques, dans la cour, criaient pour faire avancer les voitures jusqu'au bas du perron, sous la marquise. Puis, tout à coup, le bruit cessait dans le vestibule. ... De grands arbres emplissaient la cage de l'escalier; les globes de porcelaine versaient une lumière qui ondulait comme des moires de satin blanc sur les murailles. Frédéric monta les marches allègrement. Un huissier lança son nom; Monsieur Dambreuse lui tendit la main, presque aussitôt Madame Dambreuse parut. Sous l'abat-jour vert des bougies, des rangées de cartes et de pièces d'or couvraient la table. Frédéric s'arrêta devant une d'elle, perdit les quinze napoléons qu'il avait dans sa poche, fit une pirouette, et se trouva au seuil du boudoir où était alors Madame Dambreuse. Des femmes le remplissaient, les unes près des autres, sur des sièges sans dossier. Leurs longues jupes, bouffent autour d'elles semblaient des flots d'où leur taille émergeait, et les seins s'offraient aux regards dans l'échancrure des corsages. Presque toutes portaient un bouquet de violettes à la main. Le ton mat de leurs gants faisait ressortir la blancheur humaine de leurs bras; des effilés, des herbes leur pendaient sur les épaules et on croyait quelquefois, à certains frissonnements, que la robe allait tomber. Mais la décence des figures tempérait les provocations du costume; plusieurs même avaient une placidité presque bestiale, et ce rassemblement des femmes demi-nues faisait songer à un intérieur de harem; il vint à l'esprit du jeune homme une comparaison plus grossière. En effet, toutes sortes de beautés se trouvaient là: des Anglaises à profil de keepsake, une Italienne dont les yeux noirs fulguraient comme un Vésuve, trois sœurs habillées de bleu, trois Normandes, fraîches comme des pommiers d'avril, une grande Russe avec une parure d'améthyste, - et les blanches scintillations des diamants qui tremblaient en aigrettes dans les chevelures, les taches lumineuses des pierreries étalées sur les poitrines, et l'éclat doux de perles accompagnant les visages se mêlaient au miroitement des anneaux d'or; aux dentelles; à la poudre, aux plumes, au vermillon des petites bouches, à la nacre des dents. Le plafond, arrondi en coupole, donnait au boudoir la forme d'une corbeille; et un courant d'air parfumé circulait sous le battement des éventails. Frédéric, campé derrière elles, avec son lorgnon dans l'œil ne jugeant pas toutes les épaules irréprochables; il songeait à la Maréchale, ce qui refoulait ses tentations, ou l'en consolait."
Zu Fn. 21: Flaubert (ES 1869/1964: 157-161): "Des femmes le remplissaient, les unes près des autres, sur des sièges sans dossier. Leurs longues jupes, bouffant autour d'elles semblaient des flots d'où leur taille émergeait, et les seins s'offraient aux regards dans l'échancrure des corsages. Presque toutes portaient un bouquet de violettes à la main. Le ton mat de leurs gants faisait ressortir la blancheur humaine de leurs bras; des effilés, des herbes leur pendaient sur les épaule et on croyait quelquefois, à certains frissonnements, que la robe allait tomber. Mais la décence des figures tempérait les provocations du costume; plusieurs même avaient une placidité presque bestiale, et ce rassemblement des femmes demi-nues faisait songer à un intérieur de harem; il vint à l'esprit du jeune homme une comparaison plus grossière."
Zu Fn. 23: Flaubert (ES 1869/1964: 261): "Le lendemain, comme il se rendait chez Deslauriers au détour de la rue Vivienne et du boulevard, Madame Arnoux se montra devant lui, face à face. Leur premier mouvement fut de reculer; puis, le même sourire leur vint aux lèvres, et ils s'abordèrent. Pendant une minute, aucun des deux ne parla. Le soleil l'entourait; et sa figure ovale, ses longs sourcils, son châle de dentelle noire, moulant la
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ALFONSO DE TORO
forme de ses épaules, sa robe de soie gorge-de-pigeon, le bouquet de violettes au coin de sa capote, tout lui parut, d'une splendeur extraordinaire. Une suavité infinie s'épanchait de ses beaux yeux; et, balbutiant, au hasard, les premières paroles venues: - Comment se porte Arnoux?, dit Frédéric. - Je vous remercie! - Et vos enfants? - Ils vont très bien! - Ah!... ah! - Quel beau temps nous avons, n'est-ce pas? - Magnifique, c'est vrai! - Vous faites des courses? -Oui. Et avec une lente inclination de tête: - Adieu! Elle ne lui avait pas tendu la main, n'avait pas dit un seul mot affectueux ne l'avait même pas invité à venir chez elle, n'importe! il n'eût point donné cette rencontre pour la plus belle des aventures, et il en ruminait la douceur tout en continuant sa route."
Zu Fn. 24: Flaubert (ES 1869/1964: 422-423): "Frédéric soupçonna Madame Arnoux d'être venue pour s'offrir; et il était repris par une convoitise plus forte que jamais, furieuse, enragée. Cependant, il sentait quelque chose d'inexprimable, une répulsion, et comme l'effroi d'un inceste. Une autre crainte l'arrêta, celle d'en avoir dégoût plus tard. D'ailleurs, quel embarras ce serait! - et tout à la fois par prudence et pour ne pas dégrader son idéal, il tourna sur ses talons et se mit à faire une cigarette. Elle le contemplait, tout émerveillée. - "Comme vous êtes délicat. Il n'y a que vous. Il n'y a que vous." Onze heures sonnèrent. - "Déjà!" dit-elle; "au quart, je m'en irai." Elle se rassit; mais elle observait la pendule, et il continuait à marcher en fumant. Tous les deux ne trouvaient plus rien à se dire. Il y a un moment, dans les séparations, où la personne aimée n'est plus avec nous. Enfin, l'aiguille ayant dépassé les vingt-cinq minutes, elle prit son chapeau par les brides, lentement. - "Adieu, mon ami, mon cher ami! Je ne vous reverrai jamais! C'était ma dernière démarche de femme. Mon âme ne vous quittera pas. Que toutes bénédictions du ciel soient sur vous." Et elle le baisa au front comme une mère. Mais elle parut chercher quelque chose, et lui demanda des ciseaux. Elle défit son peigne; tous ses cheveux blancs tombèrent. Elle s'en coupa, brutalement, à la racine, une longue mèche. - "Gardez-les! adieu!" Quand elle fut sortie, Frédéric ouvrit sa fenêtre, Madame Arnoux, sur le trottoir, fit signe d'avancer à un fiacre qui passait. Elle monta dedans. La voiture disparut. Et ce fut tout."
Zu Fn. 25: Baudelaire (Les Fleurs du Mal: 92): A une passante La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
FORMEN DES SEHENS Une femme passa d'une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l'ourlet; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son œil, ciel livide où germe l'ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair...puis la nuit! - Fugitive beauté Dont le regard m'a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l'éternité? Ailleurs, bien loin d'ici! Trop tard! Jamais peut-être! Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, Ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais!
Zu Fn. 26: Baudelaire (Les Fleurs du Mal: 85-87): Le cygne A Victor Hugo I Andromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve, Pauvre et triste miroir où jadis resplendit L'immense majesté de vos douleurs de veuve, Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit, A fécondé soudain ma mémoire fertile, Comme je traversais le nouveau Carrousel. Le vieux Paris n'est plus (la forme d'une ville Change plus vite, hélas! Que le cœur d'un mortel); Je ne vois qu'en esprit tout ce camp de baraques, Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts, Les herbes, les gros blocs verdis par le feu des flaques, Et, brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus. Là s'étalait jadis une ménagerie; Là je vis, un matin, à l'heure où sous les cieux Froids et clairs le travail s'éveille, où la voirie Pousse un sombre ouragan dans l'air silencieux, Un cygne qui s'était évadé de sa cage, Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec, Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage. Près d'un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec
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A L F O N S O D E TORO Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre, et disait, le cœur plein de son beau lac natal: "Eau, quand donc pleuvras-tu? Quand tonneras-tu foudre?" Je vois ce malheureux, mythe étrange et fatal, Vers le ciel quelquefois comme l'homme d'Ovide, Vers le ciel ironique et cruellement bleu, Sur son cou convulsif tendant sa tête avide, Comme s'il adressait des reproches à Dieu! II Paris change mais rien dans ma mélancolie N'a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. Aussi devant ce Louvre une image m'opprime: Je pense à mon grand cygne, avec ses gestes fous, Comme les exilés, ridicule et sublime, Et rongé d'un désir sans trêve! Et puis à vous, Andromaque, des bras d'un grand époux tombée, Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus, Auprès d'un tombeau vide en extase courbée; Veuve d'Hector, hélas! Et femme d'Hélénus! Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique, Piétinant dans la boue, et cherchant l'œil hagard, Les cocotiers absents de la superbe Afrique Derrière la muraille immense du brouillard; A quiconque a perdu ce qui ne se retrouve jamais, jamais! A ceux qui s'abreuve de pleurs Et tètent la Douleur comme une bonne louve! Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs! Ainsi dans la forêt où mon esprit s'exile Un vieux souvenir à plein souffle du cor! Je pense aux matelots oubliés dans une île, Aux captifs, aux vaincus!...à bien d'autres encor!
Zu Fn. 27: Flaubert (BP 1881/1965: 147-148; 148-149 ;151-152): "Pour la juger impartialement, il faudait avoir lu toutes les histoires, tous les mémoires, tous les journaux et toutes les pièces manuscrites, car de la moindre omission une erreur peut dépendre qui amènera d'autres à l'infini. Ils y renoncèrent. Mais le goût de l'histoire leur était venu, le besoin de la vérité pour elle-même.
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Peut-être est-elle plus facile à découvrir dans les époques anciennes? Les auteurs étant loin des choses, doivent en parler avec passion. Et ils commencèrent le bon Rollin.[...] L'histoire ancienne est obscure par le défaut de documents. Ils abondent dans la moderne; et Bouvard et Pécuchet revinrent à la France, entamèrent Sismondi. La discussion de tant d'hommes leur donnait envie de les connaître plus profondément, de s'y mêler. Ils voulaient parcourir les originaux. Grégoire de Tours, Monstrelet, Commines, tous ceux dont les noms étaient bizarres ou agréables. Mais les événements s'embrouillèrent, faute de savoir les dates [...] Peu d'historiens ont travaillé d'après ces règles, mais tous en vue d'une cause spéciale, d'une religion, d'une nation, d'un parti, d'un système, ou pour gourmander les rois, conseiller le peuple, offrir des exemples moraux. Les autres qui prétendent narrer seulement, ne valent pas mieux; car on ne peut tout dire, il faut un choix ( . . . ) "C'est triste", pensaient-ils. Cependant, on pourrait prendre un sujet, épuiser les sources, en faire bien l'analyse, puis le condenser dans une narration, qui serait comme un raccourci des choses, reflétant la vérité toute entière. Une telle œuvre semblait exécutable à Pécuchet. "Veux-tu que nous essayions de composer une histoire? - Je ne demande pas mieux! Mais laquelle? - Effectivement laquelle?" Bouvard s'était assis, Pécuchet marchait de long en large dans le musée. Quand le pot à beurre frappa ses yeux, et s'arrêtant tout à coup: "Si nous écrivions la vie du Duc d'Angoulême? - Mais si s'était un imbécile! répliqua Bouvard. - Qu'importe! Les personnages du second plan ont parfois une influence énorme, et celui-là peut-être tenait le rouage des affaires."
Zu Fn. 28: Flaubert (BP 1881/1965: 152-153; 155; ibid.; 156; 157): "Le bibliothécaire mit à leur disposition des histoires générales et des brochures, avec une lithographie coloriée représentant de trois quarts Mgr le Duc d'Angoulême. Le drap bleu de son habit d'uniforme disparaissait sous les épaulettes, les crachats et le grand cordon rouge de la Légion d'honneur. Un collet extrêmement haut enfermait son long cou. Sa tête piriforme était encadrée par les frisons de sa chevelure et de ses minces favoris, et de lourdes paupières, un nez très fort et de grosses lèvres donnaient à sa figure une expression de bonté insignifiante. Quand ils eurent pris des notes, ils rédigèrent un programme: Naissance et enfonce peu curieuses. Un de ses gouverneurs est l'abbé Guénée, l'ennemi de Voltaire. A Turin on lui fait fondre un canon, et il étudie les campagnes de Charles VIII. Aussi est-il nommé, malgré sa jeunesse, colonel d'un régiment de gardes-nobles.[...] Tableau de ses vertus. Inutile de vanter son courage, auquel il joignait une grande politique. Car il offrit à chaque soldat soixante francs pour abandonner l'empereur, et en Espagne il tâcha de corrompre à prix d'argent les constitutionnels.!...] Détails intimes, traits du Prince: Au château de Beauregard, dans son enfance, il prit plaisir, avec son frère, à creuser une pièce d'eau que l'on voit encore. Une fois il visita la caserne des chasseurs, demanda un verre de vin et but à la santé du roi.f...]
A L F O N S O D E TORO On a conservé quelques-uns de ses mots: A une députation de Bordelais: "Ce qui me console de n'être pas à Bordeaux, c'est de me trouver au milieu de vous.[...] "Une chose me chiffonne, dit Bouvard, c'est qu'on ne mentionne pas ses affaires de cœur?" Et ils notèrent en marge: "Chercher les amours du Prince!" Au moment de partir, le bibliothécaire, se ravisant, leur fit voir un autre portrait du Duc d'Angoulême. Sur celui-là, il était en colonnel de cuirassiers, de profil, l'oeil encore plus petit, la bouche ouverte, avec des cheveux plats, voltigeant. Comment concilier les deux portraits? Avait-il les cheveux plats, ou bien crépus, à moins qu'il ne poussât la coquetterie jusqu'à se faire friser? Question grave, suivant Pécuchet, car la chevelure donne le tempérament, le tempérament l'individu. Bouvard pensait qu'on ne sait rien d'un homme tant qu'on ignore ses passions;[...]"
Zu Fn. 29: Flaubert (BP 1881/1965: 160): "Nous ne savons pas, dit Bouvard, ce qui se passe dans notre ménage, et nous prétendons découvrir ce qui se passe dans le ménage du Duc d'Angoulême!" Pécuchet ajouta: "Combien de questions autrement considérables, et encore plus difficiles!" D'où ils conclurent que les faits extérieurs ne sont pas tout. Il faut les compléter par la psychologie. Sans l'imagination, l'histoire est défectueuse. "Faisons venir quelques romans historiques!"
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Stefan Welz Universität Leipzig
ERZÄHLE MIR, WAS DU SIEHST, DAMIT ICH SEHE, WAS DU MIR ERZÄHLST. WAYS OF SEEING UND DER ENGLISCHE ROMAN 1.
DER BLICK AUF DEN TEXT
Das Thema Sehen und Literatur birgt eine Vielzahl von Aspekten. Da wäre die Lesebrille zu nennen, die heutzutage bevorzugt auf dem vorderen Drittel der Nase balanciert; der geübte Blick, der die übervollen Bücherregale in den Buchhandlungen absucht; die Inspiration durch Bilder, die von literarischen Stoffen ausgeht und in heutiger Zeit zu mehr oder weniger sehenswerten Literaturverfilmungen führt; außerdem die optischen Reize eines Buches und schließlich der literarische Text selbst. Die kurze Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wie auch der Beitrag nur einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle sich bietender Fragestellungen umreißen kann und sich daher vornehmlich auf den letztgenannten Aspekt konzentrieren wird: nämlich auf den speziellen Fall des Sehens in literarischen Erzähltexten, genauer gesagt, in englischsprachigen Erzähltexten mit Beispielen aus drei Jahrhunderten. Angenommen, der literarische Erzähltext liegt nicht gedruckt, sondern in Form eines Hörbuchs vor - eine Form, die staugeplagte amerikanische Autofahrer bereits seit einigen Jahren zu schätzen wissen - dann scheint es nicht ganz einleuchtend zu sein, was der Text mit dem Vorgang des Sehens zu tun haben soll. Nach einigem Überlegen wird deutlich, daß der Autor zuerst einmal selbst Dinge gesehen haben muß, bevor er über sie schreiben kann und daß viele literarische Texte mittels detaillierter Beschreibungen sehen machen, Bilder vor unserem geistigen Auge entstehen lassen, unsere Imagination beflügeln. Gerard Genette, einer der Begründer der modernen Erzählforschung, hat darauf verwiesen, daß das Erzählen nicht ohne Beschreiben auskommt, während die Beschreibung durchaus für sich bestehen kann (Genette 1969: 56). Doch das Phänomen des Sehens im literarischen Text ist nicht nur an der Oberfläche der Texte präsent: die Perspektive, die sich im verwirrenden Zusammenspiel von point-ofview und emotionalen, kognitiven und ideologischen Implikationen konstituiert, der Erzähler oder - neutraler gesagt - die Erzählinstanz, ja selbst die eng mit der Sprechsituation verknüpften Charaktere sind Elemente einer narrativen Struktur, die wesentlich vom Phänomen Sehen geprägt ist. Das Sehen nimmt demnach vielfaltigen Anteil am Entstehen, Bestehen und Funktionieren eines literarischen Erzähltexts.
STEFAN WELZ Zu Beginn der siebziger Jahre wurde unter dem Titel Ways of Seeing von der BBC in England eine erfolgreiche Fernsehserie ausgestrahlt, die eine ganze Schülergeneration in ihrem Sehverständnis und in ihrem Umgang mit Bildern geprägt hat. Ihr Autor war der englische Kritiker, Schriftsteller und Maler John Berger. Er hat seiner Serie ein inzwischen schon klassisches Zitat vorangestellt: Seeing comes before words. The child looks and recognizes before it can speak. But there is also another sense in which seeing comes before words. It is seeing which establishes our place in the surrounding world; we explain that world with words, but words can never undo the feet that we are surrounded by it. The relation between what we see and what we know is never settled. (Berger 1972/1986: 7).
Neben der Vorzeitigkeit des Sehens gegenüber dem Spracherwerb, die Berger anhand der Entwicklung des Kindes verdeutlicht, und der Darstellung des Sehens als primäre sensuelle Erfahrungsquelle scheint besonders der Schlußsatz bedeutsam zu sein: Die Beziehung zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir wissen, ist niemals festgeschrieben, niemals geschlichtet. Die bekannte israelische Erzählforscherin Shlomith Rimmon-Kenan hat den Erzähltext als "the narration of a succession of fictional events" (1983: 2) charakterisiert und dessen drei wesentliche Aspekte hervorgehoben: die Ereignisse als Grundlage der story, deren sprachliche Repräsentanz als text und den Akt des Erzählens oder Schreibens als narration. Bereits hier wird offenkundig, daß das Erzählen etwas mit Wissen zu tun hat. Schließlich können nur Ereignisse erzählt werden, die in den Erfahrungsschatz eingegangen sind und über die zuvor reflektiert worden ist. Dabei mag das Erzählte den ursprünglichen Wissenshorizont übersteigen, wie das bei vielen guten Büchern geschieht, wodurch es aber auch peinlich werden kann, wenn ein Autor allzu detailliert seinen eigenen Text auslegt. Aufgrund der engen Verbindung zwischen dem Kognitiven und dessen sprachlicher Repräsentanz läßt sich behaupten, daß die vielgestaltigen Beziehungen von Sehen und Erzählen, die in den Erzähltext eingegangen sind, eine Art Sonderform von Bergers niemals eindeutig fixierter Beziehung von Sehen und Wissen sind. In einem literarischen Erzähltext bedient sich der Autor des Mediums Sprache zum Codieren sinnlicher Erfahrungen. Die Sprache wiederum liegt der Erzeugung ähnlicher Eindrücke in der geistigen Vorstellungswelt des Lesers zugrunde. Jedoch ist dieser Prozeß nicht dem des Morsens analog, wo etwas verschlüsselt übertragen wird und bei korrekter Dechiffrierung als exakter Urtext wiederersteht. In den literarischen Erzähltext fließen beide Modi ein: das Sehen und das an Sprache gebundene Erzählen. Anders gesagt, die Sprache als konstituierendes Moment mit medialer aber auch ästhetischer Funktion und das Sehen als ein strukturprägendes, beeinflussendes Moment. 1 1
Die hier vertretene Auffassung orientiert sich an Angelika Corbineau-Hoffmanns Untersuchungen, worin das Beschreiben als "Prozeß der Ubersetzung des referentiellen Objekts in ein fiktionales" charakterisiert wird (1980: 8).
WAYS OF SEEING UND DER ENGLISCHE ROMAN
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Ein Beispiel: Emily Brontës Roman Wuthering Heights spielt über weite Strecken auf einem sturmumtobten abgelegenen Anwesen in den Pennines. Lockwood, der erzählende Fremde, der zu später Stunde verbotenerweise in dem seltsamen Bett in der beklemmenden Kammer liegt und den Tannenzweig gegen das Fenster peitschen hört, erträgt das Geräusch nach all den verwirrenden Ereignissen des Tages nicht, stürzt zum Fenster, zerschlägt die Scheibe, um nach dem vermeintlichen Zweig greifen zu können, und bekommt eine eiskalte kleine Hand zu fassen (1848/1985: 66/67) - Emily Brontë hat den Schauereffekt wohl eingeplant und vermittelt ihn erfolgreich durch ihren hochgradig imaginativen Text. Doch wie der Leser die Szene im Einzelnen vor seinem geistigen Auge und mittels dessen umsetzt, bleibt ihm, seinen Erfahrungen und seiner Phantasie überlassen. Die Autorin läßt den Leser selbst durch das Medium des Erzähltexts sehen, und dies ist durchaus im doppelten Sinn zu verstehen. Das Verhältnis zwischen Sehen und Erzählen ist keine Einbahnstraße, vielmehr ein Wechselverhältnis, denn das, was gelesen wird, bestimmt auch die Weltsicht. Goethe hat es zugespitzt wie folgt formuliert: "Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht."2 Der Erzähltext bildet somit eine Art Schnittstelle; er fungiert als Übergang zwischen der Wahrnehmung und deren Verarbeitung, die wiederum Reflexion und Wiedergabe des Wahrgenommenen erst möglich macht. Impulse können dabei von beiden Polen ausgehen. Der Erzähltext gestattet demnach eine wiederholbare, jedoch nicht kopierbare, weil immer einmalig individuelle Verbindung zwischen einer sensuellen Welterfahrung und deren sprachlicher Fixierung. Ein prekäres Verhältnis, das von zahlreichen Faktoren beeinflußt wird, und, wie Berger sagt, ein Verhältnis, das niemals eindeutig festzulegen ist. Sehen und Erzählen sollen daher im Weiteren als zwei Modi verstanden werden, die dem literarischen Erzähltext konstituierend zugrunde liegen und deren niemals auflösbares Spannungsverhältnis immer wieder neue Varianten hervorbringt und immer wieder dazu auffordert, sinnlich Konkretes (Seherfahrungen/ Sprache) und Abstraktes (Begriffswelt) in unserem Denken erneut aufeinander zu beziehen. Damit ist ein zentrales Problem menschlicher Erkenntnis angesprochen.
2.
BESCHREIBUNG ALS GEWOHNHEITSRECHT
Das Verhältnis von Sehen und Literatur oder von Malerei und Poesie hat Poeten und Philosophen seit der Antike, aber auch Maler, Manuskriptschreiber und späterhin Büchermacher beschäftigt. Bereits Aristoteles untersuchte in seinen Schriften Probleme der Sinneswahrnehmung, und es ist sicher kein bloßer Zufall, daß gerade die Metamorphosen Ovids oder die Aeneis des Vergil und andere Epen zu bevorzugten Inspirationen für die Malerei geworden sind. Auch die Buchmalerei des Mittelalters oder die Emblematik in der Barockdichtung bilden eine reiche Stoffquelle zur hier behandelten The2
Johann Wolfgang von Goethe in einem Brief an Friedrich von Müller vom 24. April 1819 (zit. in 1993).
STEFAN WELZ matik. An dieser Stelle soll jedoch über das Sehen im englischen Roman gesprochen werden, und obwohl es auch schon zuvor erzählerische Versuche gegeben hatte, liegen dessen Anfänge im frühen 18. Jahrhundert. Für diese Datierung sprechen sowohl thematische Merkmale wie die Orientiertheit des Romans an der Lebenspraxis des aufstrebenden Bürgertums als auch die zu jener Zeit ebenfalls erfolgte Kultivierung verwandter literarischer Formen wie Biographie, Tagebuch oder Reisebeschreibung. Aber auch externe Faktoren wie das Entstehen eines breiten Lesepublikums und der Einfluß eines lebendigen Journalismus lassen sich anführen. Aus dieser Anfangsphase soll vor allem ein markantes Datum interessieren -1719, das Erscheinungsjahr von Daniel Defoes Bucherfolg Robinson Crusoe. Dieser frühe Roman brachte nicht nur bürgerliches Selbstverständnis und gesellschaftsrelevante Thematik zum Ausdruck, er erfüllte auch die Funktion der Wissensvermittlung, der moralischen und ästhetischen Erziehung oder - was keineswegs geringzuschätzen ist - der Unterhaltung. Das Bedürfnis nach Klarheit, Präzision und Wirklichkeitsbezug ist ihm eingeschrieben, wobei sich Wirklichkeitsbezug auch im Phantastischen und Satirischen finden läßt, wie Jonathan Swifts eigentümliche Reiseerzählung Gulliver's Travels belegt, die sieben Jahre nach Defoes Roman erschienen ist. In der Beschreibung als unablösbarem Bestandteil des Erzählens zeigt sich das in der frühen Aufklärung um sich greifende Bedürfnis nach Exaktheit vielleicht am deutlichsten. In den literarischen Texten wurde das Geschäft des Beschreibens über Seiten hinweg und mit größter Detailtreue betrieben, eine Detailtreue, die hohe Anforderungen an die Geduld des heutigen Lesers stellt. Ob die Freude an der Beschreibung und der Sinn für das Detail der allgemeinen wissenschaftlich-lebenspraktisch orientierten Einstellung jener Zeit entsprang oder auch etwas mit einem Bedürfnis nach aktueller und genauer bildlicher Darstellung der alltäglichen Lebenspraxis zu tun hatte - man denke nur an das Aufkommen von Wochenzeitschriften und die florierende Porträt-, Landschafts- und Stillebenmalerei jener Zeit - oder beidem, bleibt weitergehenden Untersuchungen vorbehalten. Ein kurzer Auszug aus einer derartigen beschreibenden Passage in Robinson Crusoe soll einen Eindruck von der Freude am deskriptiven Detail im literarischen Text vermitteln. Nach einährigem Inseldasein beschreibt Robinson als vermeintlicher Ich-Erzähler sein Aussehen wie folgt: I had a great high shapeless Cap, made of Goat's Skin, with a Flap hanging down behind, as well to keep the Sun from me, as to shoot the Rain off from running into my Neck; nothing being so hurtful in these Climates, as the Rain upon the Flesh under the Cloaths. I had a short Jacket of Goat-Skin, the Skirts coming down to about the middle of my Thighs; and a Pair of openknee'd Breeches of the same, the Breeches were made of the Skin of an old He-goat, whose Hair hung down such a Length on either Side, that like Pantaloons it reach'd to the middle of my Legs; Stockings and Shoes I had none, but had made me a Pair of somethings, I scarce know what to call them, like Buskins to flap over my Legs, and lace on either Side like Spatter-dashes, but of a most barbarous Shape, as indeed were all the rest of my Cloaths. (Defoe 1719/1983: 149).
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Es folgt eine ebenso ausführliche Beschreibung der Ausrüstung, wobei der legendäre Sonnenschirm nicht fehlen darf, und das Ganze endet mit einer abschließenden grotesken Bemerkung zum Bartwuchs: My Beard I had once suffer'd to grow till it was about a Quarter of a Yard long; but as I had both Scissars and Razors sufficient, I had cut it pretty short, except what grew on my upper Lip, which I had trimm'd into a large Pair of Mahometan Whiskers, such as I had seen worn by some Turks, who I saw at Sallee; for the Moors did not wear such, tho' the Turks did; of these Muschatoes or Whiskers, I will not say that they were long enough to hang my Hat upon them; but they were of a Length and Shape monstrous enough, and such as in England would have pass'd for frightful. (Defoe 1719/1983: 150).
Hier dominiert ganz das visuelle Element der erzählerischen Imagination in seiner Kontrastierung mit den alltäglichen Seh-Gepflogenheiten des zivilisierten England. Das präzise, jedoch gleichzeitig auch ironisch überhöhte Erscheinungsbild aus dieser Textpassage wurde zu einer Quelle, aus der Buchillustratoren von Robinsonaden über Jahrhunderte hinweg ihre Imaginationskraft speisen konnten. Einhundertunddreißig Jahre nach Veröffentlichung von Defoes Roman wird in Charles Dickens' Erzählung Hard Times das Erscheinungsbild einer Stadt beschrieben. Dabei spielen bereits andere, über das rein Visuelle hinausgehende sinnliche Einflüsse wie Geräusche und Gerüche eine Rolle: It was a town of red brick, or of brick that would have been red if the smoke and ashes had allowed it; but, as matters stood it was a town of unnatural red and black like the painted face of a savage. It was a town of machinery and tall chimneys, out of which interminable serpents of smoke trailed themselves for ever and ever, and never got uncoiled. It had a black canal in it, and a river that ran purple with ill-smelling dye, and vast piles of building full of windows where there was a rattling and a trembling all day long, and where the piston of the steam-engine worked monotonously up and down, like the head of an elephant in a state of melancholy madness. (Dickens 1854/1988: 65).
Im Vergleich der beiden Textstellen ließen sich viele Veränderungen im Erscheinungsbild des Romans feststellen. So belegen etwa die zunehmende Gewandtheit des Stils, die komplexeren Strukturen und die größere thematische Vielfalt, aber auch die elaborierteren bildhaften Vergleiche, die Dickens nutzt, eine beeindruckende Entwicklung dieser literarischen Gattung. Doch das Ziel beider Beschreibungen ist das gleiche: ein Streben nach größtmöglicher Genauigkeit, die auch beim Leser ein exaktes, der Vorstellung des Autors nahekommendes Abbild des jeweiligen Gegenstands hervorrufen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um eine Beschreibung handelt, die der Phantasie entsprungen ist, wie das wohl bei Defoe angenommen werden darf, oder, wie in Dickens' Fall, um eine, die einen plastischen, realistischen Eindruck der Industriestadt Preston in Lancashire in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts vermittelt. Daß diese Art von Beschreibung zu einem nahezu unabdingbaren Bestandteil des Erzählens wurde, hatte handfeste Gründe, die in der Entstehungsgeschichte des Ro-
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mans und in bestimmten Prämissen der Aufklärungszeit zu suchen sind. Auf den bürgerlichen Charakter des Romans, der sich in Abgrenzung vom aristokratischen Kunstgeschmack herausbildete, wurde bereits oben verwiesen. Während der Zeit der Aufklärung wurde das Verhältnis von Sehen und Erzählen in den Romanen vorrangig auf jene abbildende Komponente hin festgeschrieben. Diese Funktionszuweisung bestand im Hinblick auf die Erzähltexte nahezu ungebrochen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fort, wobei auch Ausnahmen wie Laurence Sterne oder Emily Bronte zu berücksichtigen sind. Kein anderes Medium, das sich auch massenhaft verbreiten ließ, konnte zu jener Zeit das Beschreibungs- und Genauigkeitsbedürfnis besser befriedigen. Sowohl dem Holzschnitt als auch der Kupferstecherei waren quantitative und qualitative Grenzen gesetzt. Erst die Lithographie und wenig später die Photographie, die zwei visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts, stellten eine Alternative zur Dominanz der gedruckten Romantexte mit ihren Beschreibungen dar. Das war aber nur der Anfang einer visuellen Revolution, deren volle Wucht in diesem Jahrhundert spürbar wird.3 Bevor diese Medienrevolution, die sich keinesfalls von heute auf morgen vollzieht, in das Zentrum des Interesses rückt, sollen noch einmal die drei entscheidenden Punkte angeführt werden, die zur Festschreibung des Verhältnisses der Modi Sehen und Erzählen im englischen Roman der Aufklärungszeit und des frühen 19. Jahrhunderts maßgeblich beigetragen haben: 1.
Die lawinenartig anwachsende und unangefochtene Dominanz geschriebener Texte als Massenmedium zur Verbreitung von Informationen, zu didaktischen Zwecken und zur Unterhaltung, wobei dies angesichts der herrschenden Bildungsverhältnisse und Buchpreise in relativer Abhängigkeit von den jeweiligen sozioökonomischen Gegebenheiten der Zeit gesehen werden muß.
2.
Zwischen den Medien, wie etwa Malerei und Poesie, um Termini des 18. Jahrhunderts zu verwenden, wurde eine relativ klare Funktionsteilung festgeschrieben, die aus antiken Vorgaben heraus entwickelt und in der Aufklärung neu aufgegriffen wurde. Als Beispiel kann Lessings Schrift Laokoon: oder die Grenzen der Mahlerey und Poesie gesehen werden, die eine weite europäische Wirkung hatte.4
3
Walter Benjamin hat diese Entwicklungslinie weitergezeichnet: "Wenn in der Lithographie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm." (Benjamin 1977: 11).
4
"Wenn es wahr ist, daß die Mahlerey zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebraucht, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Räume, diese aber artikulirte Töne in der Zeit; wenn unstreitig Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch
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Auch die sensualistische Tradition im englischen Denken und Philosophieren eines John Locke müßte hier erwähnt werden, da sie zum vorherrschenden Beschreibungsdrang anspornte. 3.
Eine Situation, die in enger Beziehung zum ersten Punkt steht und die im weiteren als textuell-narrativ geprägte Denkpraxis bezeichnet werden soll, dominierte die Gesellschaft. Sie hatte sich durch die vorrangige Wissensvermittltung und den Kommunikationsaustausch in Form gedruckter Texte etabliert und zwingt heute dazu, vor allem in den geisteswissenschaftlichen Gebieten, die auf uns überkommenen grand narratives5 kritisch zu überprüfen.
Alle drei genannten Sachverhalte sind heute, im Zeitalter von Film, Fernsehen, Computern, CD und Internet, in dieser strikten Form nicht mehr gegeben oder haben begonnen, sich zu wandeln und aufzulösen, selbst wenn derzeit prophezeit wird, daß auch in naher Zukunft noch immer 80% der editierten Schriften und Informationen als Druckerzeugnisse zugänglich sein werden. Aus literaturhistorischer Sicht haben die angeführten Momente zur Festschreibung eines Verhältnisses beigetragen, in dem das Sehen, als unabdingbarer Bestandteil in Erzähltexten, vorrangig auf die genaue Detailbeschreibung beschränkt blieb und nachdrücklich der Gesamtstrategie des Romantexts untergeordnet, also kontrollierbar war. Da dieses Verhältnis über einen langen Zeitraum hinweg relativ stabil gewesen ist, wurde es letztlich als ein konstituierender Bestandteil des Romans schlechthin betrachtet. Das Aufbrechen des Verhältnisses hatte denn auch zur Folge, daß die Frage nach dem Fortbestand des Romans als literarische Gattung gestellt wurde. Als ein Beleg, der den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Wandel im Verhältnis von Sehen und Erzählen im Roman aufzeigt, kann das aufschlußreiche Vorwort gelten, das Henry James seinem Werk The Golden Bowl aus dem Jahre 1904 vorangestellt hat. Der Bezugspunkt ist zwar relativ spät gewählt - das Vorwort läßt sich erst in der New York - Edition von James' Werken finden, die 1909 bei Charles Scribner erschien - doch bleibt zu bedenken, daß zu jener Zeit der Cinematograph noch eine relativ neue Erfindung war und daß die Photographie gerade erst ihren Siegeszug in den Zeitungen angetreten hatte. In seinem Vorwort äußert sich James zu einem Dutzend dekorativer Illustrationen, die Eingang in seinen Roman gefunden hatten. Dabei handelt es sich um Reproduktionen von Photos, die Alvin Langdon Coburn von Straßen, Plätzen und Ansichten Londons gemacht hatte. James beginnt seine Über-
nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen." (Lessing 1893/1968: 94/95). 5
Jean-François Lyotard hat in mehreren Schriften auf die Notwendigkeit einer kritischen Dekonstruktion tradierter narratives im postmodernistischen Kontext verwiesen (vgl. dazu Lyotard 1984: 22; 37 sowie 1990: 49-53).
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legungen, indem er darauf verweist, daß jeder Autor eines Textes illustrative Ansprüche ("that is producing an effect of illustration") habe; so auch er, und zwar mit Mitteln, die dem Text selbst innewohnen. Dabei fühlt er sich bedrängt - James gebraucht das bildhafte Verb elbowed - von einem anderen, konkurrierenden Prozeß. Worauf er hinauswill, wird deutlich, wenn er sich ausdrücklich gegen eine Tendenz verwahrt, die er als picture book-quality bezeichnet "that contemporary English and American prose appears more and more destined, by the conditions of publication". Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, fährt er fort: Anything that relieves responsible prose of the duty of being, while placed before us, good enough, interesting enough and, if the question be of picture, pictorial enough, above all in itself, does it the worst of services, and may well inspire in the lover of literature certain lively questions as to the future of that institution. (James 1909/1985: 23).
Das Wesen eines jeden literarischen Erzähltextes besteht James zufolge in der Ablehnung unmittelbarer, eindeutiger Bilder, die er immediate images nennt. Den Illustrator oder Photographen, dem er mit seinem Text zuvor den Boden kultiviert hatte, duldet James in seinem Garten nicht. Er plädiert für die Eigenständigkeit von dessen Medium. Wenn James trotzdem Reproduktionen als Illustrationen in seinem Roman zuläßt, so nur unter dem Vorbehalt, daß sie sich der Funktionsstrategie seines literarischen Erzähltexts unterwerfen - wie etwa die Abbildung eines beliebigen Londoner Geschäfts auf den Laden im Roman anspielt, in dem die goldene Schale erstmals auftaucht. Die Illustrationen deuten auf die ihnen eigene Art an. Sie beziehen aber nie Personen ein und stehen auch in keinem unmittelbaren Bezug zum Text. Sie sind für James einzig aufgrund ihrer discreetly disavowing emulation, ihrer diskreten Art, es nicht gleichtun zu wollen, akzeptabel. Zwei Dinge lassen sich aus James' Aussagen schlußfolgern: Die Zeiten, in denen sich literarische Erzähltexte auf ausgedehnte Detailbeschreibungen zur Produktion eines unmittelbaren Wirklichkeitsbildes stützen konnten, sind für ihn vorbei. Die weitgehende bildhafte Übereinstimmung, selbst die reproduzierende Detailbeschreibung realistisch-naturalistischer Prägung gliedert James tendenziell aus seinem Romaninventar aus. Der Akzent beginnt sich von der Genauigkeit hin zur Anspielung, zur Andeutung zu verlagern. Eine Entwicklung, die sich schon einige Jahre zuvor in der Malerei abzuzeichnen begann und an William Turner oder die französischen Impressionisten denken läßt. Das Zurücktreten einer detaillierten Reproduktion von Wirklichkeitsausschnitten mittels deskriptiver Passagen im Roman ist aber nicht mit einer Absage an den Wahrhaftigkeits- oder Authentizitätsanspruch zu verwechseln, wie das immer wieder im Tenor der Realismusdebatten der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts mitschwang. Theodor W. Adorno hat diese Streitfrage auf den Punkt gebracht: "Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft." (Adorno 1974: 43).
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Eine derartige Tendenz zur Anspielung läßt sich auch anhand der Entwicklung von James' eigenem Schreibstil erkennen, der sich von der traditionellen Schreibweise des 19. Jahrhunderts in den Anfangsjahren über eine an Emile Zola gemahnende Detailtreue zu einem obskuren Stil "of the manifold delicate things, the shy and elusive, the inscrutable and the indefinable" (James 1909/1985: 33) wandelte. Zweitens erkennt James mit seinem Hinweis, die Illustration "as a separate and independent subject of publication" (ebd.: 24) möge doch ihre Eigenständigkeit betreiben, einen Sachverhalt an, der darin besteht, daß die an Genauigkeit vom Roman nicht zu überbietenden Medien der Druckillustration und der Photographie der Erzählliteratur eins ihrer Gewächse abspenstig gemacht haben, das konsequenterweise fortan keinen Platz mehr im Garten des Schriftstellers finden kann. Die Absage an den einfachen Beschreibungsgestus im Roman brachte Gewinne und Verluste mit sich: Verluste im detaillierten akribischen Beschreiben von Oberflächenerscheinungen, Gewinn für das Experimentieren mit anderen, für das Sehen relevanten, Elementen der Erzählstruktur, Verfahren, die noch wenige Jahre zuvor einfach unverständlich geblieben wären. Vor allem wird das Verhältnis von Sehen und Erzählen im Erzähltext nunmehr nachhaltig und produktiv gestört, aufgestört. Es ist kein Zufall, daß um die Jahrhundertwende, insbesondere aber mit dem Modernismus, neue Möglichkeiten im Roman entdeckt werden, die ungestümes Experimentieren mit Erzählinstanzen, Erzählebenen, Zeitverhältnissen und Perspektiven zur Folge haben. Diese Ablösung, obwohl sie radikal vorangetrieben wurde, war wiederum kein Prozeß, der innerhalb weniger Jahre abgeschlossen war und dem sich alle Autoren von da an unterwarfen. Eine derartige Totalität würde lediglich den Wunschvorstellungen der Modernisten entsprochen haben, denn es gab vielgelesene Autoren wie John Galsworthy oder Arnold Bennett - nicht zu erwähnen die Flut von Trivial- und Unterhaltungsromanen - die im Stil des 19. Jahrhunderts weitergeschrieben haben. Das veranlaßte Virginia Woolf noch im Jahre 1924 zu einem entrüsteten Aufschrei und ließ sie die Abschaffung derartiger Konventionen und des dementsprechend entwickelten literarischen Apparats fordern: "for I knew that if I began describing (...) that vision to which I cling though I know no way of imparting it to you, would have been dulled and tarnished and vanished for ever." (Woolf 1950/1981: 106).
3.
VON DER VERSTÖRTHEIT ZUR AUFGESTÖRTHEIT
Wenn in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts neben der experimentellen auch weiterhin die realistische Schreibweise im Stil des 19. Jahrhunderts mit leicht modifizierter Detailbeschreibung existierte, so gab es doch kein Zurück mehr zu einer starren oder normativen Festschreibung des Verhältnisses von Sehen und Erzählen im Roman. Überlegungen wie die von Henry James oder der vehemente Protest von Virginia Woolf konstatieren eine Situation, in der dieses Verhältnis endgültig aus seiner sicheren realistisch-naturalistischen Verankerung gerissen ist, eine Verankerung, die
STEFAN WELZ es literarisch immer unproduktiver werden ließ. Der Roman wuchs nunmehr über seine einstige Gestalt als novel of manners und seine konstituierenden Bedingungen hinaus und konnte aufgrund struktureller Selbsterkundung in Wechselwirkung zu den neuen, modernen Medien wie z.B. dem Film treten. Und tatsächlich läßt sich vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren ein gegenseitiges Anregen zwischen der experimentellen Romantechnik und dem Film entdecken, sei es in der Schnittechnik, bei den Vorund Rückblenden, beim experimentellen Umgang mit der Zeit oder auch nur hinsichtlich des heute banal erscheinenden Fakts, daß die Erzähltechnik des stream of consciousness, also die Teilhabe an der inneren Gedankenwelt eines Menschen, sehr viel mit der im Film erst nach und nach perfektionierten Haltung des Schauspielers zu tun hat, ein Millionenpublikum zu ignorieren und den Eindruck zu vermitteln, als könnte der anonyme Zuschauer an den intimen Situationen anderer teilhaben, ohne selbst etwas von sich preisgeben zu müssen. Die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Veränderung im Verhältnis von Sehen und Erzählen ist nur ein Bestandteil eines umfassenderen Prozesses, den Walter Benjamin aufgezeigt hat: Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt. (Benjamin
1977: 14). Es ist keine neue Erkenntnis, daß wir uns inmitten dieses Prozesses, im Übergang von einem von Druckmedien hin zu einem von visuellen Medien dominierten Zeitalter befinden. Das Fernsehen spielt seit den sechziger Jahren eine entscheidende Rolle in diesem Prozeß. In den vergangenen fünfzehn Jahren ist der Computer hinzugetreten und derzeit ist die rasante Vernetzung der Welt in Form des Internets zu beobachten. Gibt das Fernsehen die Möglichkeit des massenhaften Filmkonsums und der Information in heimischer Privatsphäre, und zwar in einem quantitativen Umfang, der bisher unbekannt war, so ermöglicht das Internet perspektivisch den Zugang zu uneingeschränkter Informationsvielfalt per Tastatur und Bildschirm. Das Fernsehen als derzeit dominierendes Massenmedium hat zweifellos die Literatur und insbesondere den Roman auf die Plätze verwiesen. Das ließ vor allem in den sechziger Jahren Stimmen laut werden, die abermals den Tod des Romans konstatierten oder voraussagten. Andererseits rief dies aber auch viele Schriftsteller auf den Plan, in einer solchen Situation nach neuen Mitteln des Erzählens, nach der literarischen Nutzung von Fernseh-Sehgewohnheiten zu suchen. Davon konnte das Verhältnis von Sehen und Erzählen nicht unberührt bleiben. So haben Schriftsteller mit kürzeren Texten und einfacheren narrativen Sequenzen reagiert. Auch mit direkten thematischen Bezügen auf die neuen Medien, wie sich das vor allem in der US-amerikanischen Literatur der siebziger und achtziger Jahre beobachten läßt. Inzwischen gibt es die verschiedensten Kooperationsformen zwischen Erzähltexten und neuen Medien. Ein Beispiel für das Reagieren von Literatur auf die
WAYS OF SEEING UND DER ENGLISCHE ROMAN neuen Sehgewohnheiten soll das verdeutlichen. Das Zitat ist dem Roman Sexing the Cherry der englischen Autorin Jeanette Winterson entnommen, die als Jahrgang 1959 in die neue Medienwelt hineingeboren ist: We were out at sea. Grey waves with white heads. A thin line in the distance where the sky dropped into the water. There were no birds, no buildings, no people and no boats. A light wind ruffled us. Then we saw the sun. We saw the sun rising over the water and the light got louder and louder until we were shouting to make ourselves heard, and I saw the sun on Jordan's face, and the last glimmer of lanterns, and against the final trace of the moon a flight of seagulls that came from nowhere and seemed to be born of the sun itself. We stayed where we were in the rocking water until the night fishermen came in silent convoy. (Winterson 1990: 16).
Hier scheint es, als würden Bilder aus einem Film abgerufen, als ob jemand mit der Mouse auf Sonnenaufgang klickt. Obwohl das Geschäft der Bildimagination zum Großteil an das Fernsehen abdelegiert wurde, funktioniert die Erzählung. Die Beschreibung in diesem Roman erfolgt unter kluger Einbeziehung von elektronischen Bildern, die das visuelle Aufnahmevermögen vorgeprägt haben, was wiederum erst aufgrund einer Offenheit des Verhältnisses von Sehen und Erzählen im literarischen Erzähltext möglich wurde. Das alles läßt es heute abwegig erscheinen, den Roman in ein direktes Konkurrenzverhältnis zum Fernsehen setzen zu wollen. Und doch muß auch der Roman seine Interessen wahren, will er fortbestehen. Auch in den neunziger Jahren werden Romane geschrieben und zwar in wachsender Anzahl. Das erscheint gerade deshalb bemerkenswert, weil sich das literarische Spektrum verschoben hat, und noch weiter verschieben wird, zugunsten anderer Literaturformen wie etwa dem Sachbuch oder der Biographie. Trotzdem bleibt die narrative künstlerische Verarbeitung von Sinneseindrücken in Romanen attraktiv. Aus der thematischen Perspektive des Sehens und Erzählens sollen abschließend einige Aspekte angeführt werden, die dafür sprechen, daß sich auch in Zukunft unter den oben erwähnten achtzig Prozent an Druckerzeugnissen zahlreiche Romane befinden werden. Die Aspekte lassen sich mit Aktivität, Subversion und Unmittelbarkeit benennen. Das Fernsehen, so wie es heute als Massenmedium Verbreitung gefunden hat, ist ein auf weitgehend passiven Bilderkonsum ausgerichtetes Medium. Vielleicht wird es in nicht mehr allzu ferner interaktiver Zukunft bessere Möglichkeiten geben, aber vorerst hat der Zuschauer lediglich die Wahl zwischen verschiedenen fertigen ProgrammProdukten, die ihm dargeboten werden, oder dem Abschalten. Dagegen ist der Erzähltext, da er seit jeher eine aktive Rezeption verlangt, offener, unfertiger und verlangt ein Dazutun des Lesers, beläßt ihm eine Mündigkeit, die sich vor allem in einer freien Imagination zeigt. Wenn Einwände erhoben werden, daß - wie im Beispiel gezeigt diese Imagination ja vom Fernsehen geprägt sei, so sollte dabei nicht die Wirkung des Erzähltexts unterschätzt werden, der sich diese vorgefertigten Bilder einverleibt und
STEFAN WELZ sie dann verändert. Die Qualität des Offenen, des Unabgeschlossenen, teilweise Unaufgeklärten, Unbeantworteten stellen Erzähltexte heute bewußt aus. Beispiele dafür lassen sich von John Fowles und John Berger über Doris Lessing und Salman Rushdie bis Jeanette Winterson und vielen anderen Gegenwartsautoren nicht nur der englischsprachigen Literatur finden. Als zweiter Aspekt ließe sich eine Art von Subversivität anführen. Literatur heute verschreibt sich vielfach dem Anliegen, den modernen Menschen aus tradierten Sehzwängen zu befreien, die uns von einer prosperierenden, allgegenwärtigen Bilderindustrie auferlegt werden, einer Industrie, die es in diesem Umfang niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Trotzdem ist der Roman mit seiner seit einigen Jahrzehnten experimentell erkundeten Praxis der Perspektivvielfalt in der Lage, SehAlternativen im weitesten Sinne aufzuzeigen. Das beständige Sehen eines Gegenstandes aus immer neuen Blickwinkeln, kurz gesagt ein Perspektivenpluralismus, führt dazu, daß sich gerade auch die Sicht des Lesers auf sich selbst beständig verändert und relativiert. Darüber hinaus kann der Erzähltext die in den visuellen Medien reglementierte und beschnittene narrative Qualität - im Roman gibt es keine Werbeunterbrechung wieder in ihre Rechte einsetzen und den Druck der Einschaltquoten und anderer kommerzieller Überlegungen verringern. Heute werden durchaus wieder umfangreiche Romane gelesen, die das Standardmaß traditioneller Filmskripte von 125 Seiten übersteigen. Als Beispiele ließen sich J.R.R. Tolkien, Rosamunde Pilcher oder Stephen King anführen. Und noch immer nehmen viele Menschen lieber ein Buch als ihren Fernseher mit in die Ferien. Der Grad der Subversivität mittels wechselnder Perspektiven im Erzähltext muß realistisch eingeschätzt werden. Denn selbstverständlich gilt es anzuerkennen, daß die Allgegenwart und Dominanz der Bilder und visuellen Eindrücke, der tägliche Bilderterror, in zunehmendem Maße dazu führt, daß die narrative Formung junger Menschen heute anders erfolgt, nämlich mehr und mehr visuell-narrativ im Unterschied zur einstmals allein vorherrschenden textuell-narrativen Prägung. Auch Literatur bleibt nicht von derartigen Entwicklungen verschont, denn wer staunt nicht über den enormen Anteil an Büchern, Tagebüchern und Biographien, die erklärtermaßen auf der Basis von Fernseh- und Medienerfahrung ihrer Autoren und Autorinnen entstanden sind. Ein letzter Aspekt berührt wohl am unmittelbarsten die hier vorgetragene Problematik. Berger sagt in Ways ofSeeing: We never look at just one thing; we are always looking at the relation between things and ourselves. Our vision is continually active, continually moving, continually holding things in a circle around itself, constituting what is present to us as we are. (Berger 1972/1986: 9).
Dieser Beziehung, zwischen dem, was wir sehen und wahrnehmen, und uns selbst, scheint der Erzähltext mit seinem Spannungsverhältnis von Sehen/Wahrnehmen und Erzählen, in das wir uns aktiv einbringen können, entgegenzukommen. Der Bilderterror läuft aufgrund seiner ungeheuren quantitativen Ausmaße letztlich auf eine qualitati-
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ve Verarmung unserer unmittelbaren sensuellen Wahrnehmungsfähigkeit hinaus, nicht zuletzt deshalb, weil sich das Fernsehen in zunehmendem Maße auf sich selbst und nicht mehr verweisend auf eine Welt außerhalb seiner selbst bezieht. Hier scheint der Bezug zwischen Sehen und Erzählen, der dem Erzähltext konstituierend zugrunde liegt, eine Sehnsucht und Neugier nach Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit individueller Erfahrung wachzuhalten, wie es in diesem Maße bei den elektronischen Medien, die Erfahrungen und Sinneseindrücke technisch simulieren, kaum der Fall ist. Und da das Verhältnis zwischen den Modi Sehen und Erzählen ein niemals abgeschlossenes ist, läßt sich mit einigem Recht darauf hoffen, daß Erzähltexte auch in Zukunft auf neue Entwicklungen der Medien flexibel reagieren können und ihre hier angedeuteten Qualitäten behaupten werden.
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Catrin Gersdorf Universität Leipzig
SEHEN IN LITERATUR UND GESCHICHTE: PAUL AUSTERS ROMAN MOON PALACE (1989) Wenn ein Roman mit dem Satz beginnt: "It was the summer that men first walked on the moon" (Auster 1989: 1), liegt die Vermutung nahe, daß die Erzählung mit amerikanischer Geschichte zu tun haben wird. Wenn sich im nächsten Satz herausstellt, daß die Erzählinstanz ein Ich-Erzähler ist, dann darf erfahrungsgemäß erwartet werden, daß der Roman als fiktive Autobiographie die Urgründe individueller Indentität zu erkunden versucht. Wenn dann die Erinnerungen des Ich-Erzählers an seine Arbeit für einen vermutlich blinden alten Landschaftsmaler zwei der insgesamt sieben Kapitel des Romans einnehmen, kann mit Recht behauptet werden, daß das Sehen ein zentrales Motiv ist. Und schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß durch diese literarische Verknüpfung (nationale) Geschichte, (individuelle) Identität und Sehen erzählerisch in einen Zusammenhang gebracht werden sollen. Dieser Aufsatz macht es sich zur Aufgabe, die Funktionsweise des genannten Zusammenhangs als bedeutungsstiftendes Element im Schaffen des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster zu ergründen. Der 1989 erschienene Roman Moon Palace (dt. Mond über Manhattan) soll im Mittelpunkt der Lektüre stehen, die an zwei Aspekten des Werkes besonders interessiert ist. Erstens, auf der strukturellen Ebene und in der Tradition selbstreferentiellen, selbstreflexiven Schreibens behandelt der Roman das Verhältnis zwischen Sehen und Erzählen als grundlegende Elemente postmoderner Ästhetik. Und zweitens, auf der thematischen Ebene beleuchtet er die Bedeutung des Sehens für die Konstruktion individueller wie nationaler (amerikanischer) Geschichte.
1.
SEHEN ALS AGENS POSTMODERNEN ERZÄHLENS
Der Zusammenhang zwischen Sehen und Erzählen ist ein wiederkehrendes metafiktionales Motiv in den Romanen Paul Austers. Seinen literarischen Durchbruch erlebte der Autor mit der Veröffentlichung des ersten Teils der New York Trilogy im Jahre 1985. Der assoziationsreiche Titel City of Glass (Stadt aus Glas) signalisiert bereits Austers Interesse an der Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit, Durchschaubarkeit der außerhalb des menschlichen Bewußtseins exisitierenden Realität, die in diesem Falle urban definiert
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CATRIN GERSDORF
ist. In einer Analogie gleich zu Beginn des Romans, der enge Verwandtschaft zum Genre der detective novel aufweist, wird die Arbeitsweise des Schriftstellers mit der des Detektivs verglichen. Nicht anders als der Detektiv ist der Schriftsteller jemand, "who looks, who listens, who moves throught the morass of objects and events in search of the thought, the idea that will pull all these things together and make sense of them" (Auster 1988: 8). Der Detektiv als heimlicher Beobachter, als "private eye", wird unter der Hand von Paul Auster zum alter ego des Schriftstellers, nicht zuletzt deshalb, weil sich im private eye phonetisch natürlich auch das Ich verbirgt. Mag Paul Auster im Verlaufe des Romans die assoziativen Potenzen des Wortspiels auch ein wenig überdehnen, wenn der Ich-Erzähler und Krimi-Autor Quinn einen Anruf bekommt, der eigentlich für die Privatdetektei Paul Auster bestimmt ist, und wenn sich später herausstellt, daß es zwar einen Paul Auster gibt, dieser aber nicht Detektiv sondern Schriftsteller ist, so sind die eben zitierten Reflexionen einer dem Autor nah verwandten Romanfigur für unsere Zwecke dennoch äußerst aufschlußreich, liefern sie doch Anhaltspunkte für eine Poetik des Erzählens, die im Sehen wurzelt. Eine Geschichte (und an dieser Stelle möchte ich Geschichte zunächst einmal nur im Sinne von Störy und noch nicht im Sinne von history verstanden wissen) entsteht demnach durch die Überführung von Sinneswahrnehmungen (sehen, hören) in den Raum der Sprache, durch die Übersetzung eines Bildes, eines Klanges in einen Text, oder - noch anders ausgedrückt - durch die sprachliche Organisation und Interpretation von disparat wahrgenommenen Wirklichkeitsfeldern zu einer sinnstiftenden Geschichte. "The world enters us through our eyes", reflektiert der Ich-Erzähler in Moon Palace, "but we cannot make sense of it until it descends into our mouths" (Auster 1989: 122). Bild und Wort brauchen einander, um Sinn entstehen zu lassen. Der sinnvolle Text ist ebenso abhängig vom Wort wie vom Bild. Bereits in einem früheren Text, nämlich in The Invention ofSolitude (1982) wird Austers poetologisches Interesse am Sehen, Beobachten deutlich. Der autobiographische Erzähler A. erinnert sich an zwei Begegnungen mit dem französischen Dichter Francis Ponge. Die erste Begegnung fand im Hause von A.'s künftigen Schwiegereltern statt, die zweite wenige Jahre später auf einer Party. Zu A.'s Überraschung konnte sich Ponge noch sehr genau an das erste Zusammentreffen erinnern. Wie sich herausstellt, hat dies mit seinem offenbar photographischen Gedächtnis zu tun. A. begreift schließlich, daß es für Ponge keine Trennung gibt zwischen der Arbeit des Schreibens und der Arbeit des Sehens. Ponges 1967 erstmals veröffentlichter Roman Die Seife (1993) ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie ein alltäglicher Gegenstand durch die genaue, eingehende Beobachtung und durch die Übersetzung der Beobachtung in Sprache plötzlich eine Geschichte bekommt. Der folgende Auszug möge dies illustrieren: Betrachten wir also das Verhalten der Seife auf dem Grunde einer bestimmten Flüssigkeitsmenge, wenn ihr Herr sie aus Vergeßlichkeit oder Unaufmerksamkeit darin zurückgelassen hat. [...] Lieber als sich von den Wassern überrollen zu lassen, wie der Kiesel, wie natürliche Steine, schmilzt sie darin auf der Stelle. [...] Lieber saugt sie sich am Bo-
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den fest und - wie soll ich sagen? - ich möchte nicht sagen, daß sie ihre Seele aufgibt, denn es ist ihr ganzer Körper, den sie in ziehenden Schwaden, in dunstigen Streifen zerfließen läßt, die sich langsam winden und verschwinden. Ihr ganzer Körper gibt in langsam zerfließenden Schwaden seine Seele auf. Oder vielmehr gibt sie den Körper gleichzeitig mit der Seele auf, und wenn sie den letzten Atemzug tut, verschwindet im gleichen Augenblick die letzte Spur ihres Körpers. (Fonge 1993: 77/78).
Man möge sich nur einmal die Verfilmung dieser Szene vorstellen, und wird feststellen, daß das Bild von der allmählichen Auflösung der so schmählich vergessenen Seife seine Suggestivkraft erst durch die Sprache erhält. Andererseits würde der Text aber ohne die Verwurzelung der Beschreibung im genauen und sensiblen Hin-Sehen an poetischer Kraft verlieren. Und genau das ist für unseren Zusammenhang wichtig, denn der Text leistet ein zweifaches: er bildet die Seife in mehreren Perspektiven und Situationen ab und läßt so das Objekt im Text erscheinen; gleichzeitig vermittelt er aber auch die Fähigkeit des Autors, im wahrsten Sinne das zur Sprache zu bringen, was er sieht. "Kein Wort kann geschrieben werden, ohne zuvor gesehen worden zu sein", schreibt Paul Auster in seinem Versuch einer Annäherung an Ponges Poetik.1 Der Satz klingt paradox. Das Wort ist entweder klangliche oder geschriebene bzw. gedruckte Repräsentation einer Idee oder Vorstellung. Streng genommen muß ein Wort also geschrieben werden, bevor es wirklich gesehen werden kann. Seine Sichtbarkeit setzt den Akt des Schreibens voraus, ebenso wie seine Hörbarkeit den Akt des Sprechens voraussetzt. Nun ließe sich einwenden, daß man ja auch ein Wort vor seinem geistigen Auge sehen kann, und wenn jemand in einem Gespräch das Wort SEHEN sagt, haben viele vermutlich sogar die Buchstabenfolge s-e-h-e-n vor sich. Das passiert allerdings nur, weil wir in einer Schriftkultur leben. Ohne Schrift würde das gehörte Wort SEHEN ganz andere Bilder hervorrufen, ein Augenpaar etwa. Das symbolische Augenpaar ist aber kein Wort mehr im eigentlichen Sinne. Es ist Piktogramm. Und obwohl es potentiell die gleiche Funktion erfüllt wie das Wort - beide repräsentieren die Idee des Sehens als sinnlich-visuelle Wahrnehmung der Welt - gibt es doch auch einen wesentlichen Unterschied: die gedruckte oder geschriebene Buchstabenfolge s-e-h-e-n repräsentiert neben einer Idee nur den Klang des Wortes SEHEN, während das Piktogramm darüber hinaus auch noch einen Teil des Körpers symbolisch vertritt. Austers Satz darf also nicht wörtlich genommen werden. Vielmehr ist er eine Art Abkürzung auf dem gedanklichen Wege von der visuellen Erfahrung der Welt hin zur Rekonstruktion dieser Erfahrung in der Welt des literarischen Textes. Wichtig ist, daß über die Re-Investitur des Sehens als Vorbedingung für das Erzählen wieder ein Referenzverhältnis zwischen literarischem Text und außertextlicher Welt hergestellt wird.
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Paul Auster (1982: 138): "He realized that for Ponge there was no division between the work of writing and the work of seeing. For no word can be written without first having been seen, and before it finds its way to the page it must first have been part of the body, a physical presence that one has lived with in the same way one lives with one's heart, one's stomach, and one's brain."
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Genau dieses Verhältnis ist ja bekanntlich in der selbstreferentiellen postmodernen Literatur zugunsten des Prinzips der Intertextualität als eine Art demokratisch organisierte Kommunikation zwischen Texten in den Hintergrund gedrängt worden. Am deutlichsten hat dies m. E. der amerikanische Schriftsteller Raymond Federman in seinem 1976 erschienenen Aufsatz "Imagination as Pla(y)giarism" (Federman 1993: 48-64) auf den Punkt gebracht. Federman entwickelt hier den Gedanken, daß sich jeder Schriftsteller zunächst einmal als Leser in einer Vielzahl von literarischen, philosophischen, historischen, politischen, künstlerischen, alltäglichen Diskursen bewegt. Die Sprache wird zum Spiel-Raum, die Lektüre ihrer Codes zur Bedingung für die Teilnahme am Spiel. Dem Schreiben geht demnach in erster Linie das Lesen voraus und nicht das Sehen. Wenn etwas gesehen wird, dann höchstens der andere Text. Nun ist natürlich auch Paul Auster ein Schriftsteller, der mit anderen Texten spielt. Seine Romane leben von einer Vielzahl direkter, thematischer sowie auch struktureller Zitate vom Alten Testament über die Philosophie Descartes', Pascals, Nietzsches bis hin zu Cervantes, Dostojewski, Knut Hamsun und Kafka und den Klassikern der amerikanischen Romantik Poe, Emerson, Hawthorne, Melville. Die Anspielung auf andere Texte, ein wichtiger Aspekt der Intertextualität, darf als wichtiger strukturgebender Aspekt Austerschen Schreibens keineswegs unterschätzt werden. Ja, sie ist sogar in einem Maße textbestimmend, daß Kritiker bisweilen sarkastisch anmerken, von Lesern werde geradezu erwartet, alle Bücher zu identifizieren, die Auster gelesen habe (Indiana 1989: 48). Jedoch erweitert Paul Auster das postmoderne Spiel mit dem textuell Imaginären durch das Spiel mit dem visuell Imaginären. Das soll nun im folgenden am Roman Moon Palace genauer demonstriert werden. Paul Auster hat für seinen Ich-Erzähler Marco Stanley Fogg eine Situation ersonnen, die es ihm als Autor ermöglicht, eine im Sehen wurzelnde Poetik in die fiktive Autobiographie seiner Figur einzuschreiben. Das hängt eng mit Foggs oben erwähntem Job bei einem blinden alten Maler zusammen, der zunächst als Thomas Effing in die Geschichte eingeführt wird. Schon bei der ersten Begegnung erscheint Effing dem Erzähler als eine recht merkwürdige Figur. "Everything about him was walled off, remote, sphinxlike in its impenetrability" (Auster 1989: 99), beobachtet Fogg. Ohne Zweifel hat diese mysteriöse Undurchdringlichkeit mit den zwei schwarzen Augenklappen zu tun, die der alte Mann trägt, und die es Fogg unmöglich machen, visuellen Kontakt mit ihm aufzunehmen ("you could not even make visual contact with him", ebd.). Rückblickend kommt es Fogg "appropriate" (ebd.) vor, daß diese erste Begegnung am 1. November stattgefunden hat, an Allerheiligen also, dem Tag des Gedenkens an die Toten, die unbekannten Heiligen und Märtyrer. Der Ort des Geschehens ist nicht weniger unheimlich, er erinnert an die Schauplätze viktorianischer Schauerromane. Fogg befindet sich in "one of those enormous West Side apartments with long corridors, sliding oak partitions between rooms, and ornate moldings on the walls" (ebd.: 100), und er hat Schwierigkeiten, im Halbdunkel eines dichten viktorianischen Wirrwarrs ("a dense, Victorian clut-
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ter", ebd.) Gegenstände wie Bücher, Bilder, kleine Tische und Teppiche zu erfassen. Mit dieser erzählerischen Verknüpfung von (möglicher) Blindheit und einer der Schauergeschichte entlehnten unheimlichen Atmosphäre evoziert Auster eine der Urängste menschlicher Existenz: die Angst vor dem Verlust des Gesichtssinns und die damit zusammenhängende Angst vor Orientierungslosigkeit und Realitätsverlust. Der folgende Dialog greift dieses Motiv (Blindheit) auf und variiert es zu der dem Gespräch innewohnenden Frage, ob dem Sehen zwangsläufig das Erkennen und Verstehen der Welt folgt. Foggs Antwort auf Effings ein wenig pompös klingende Frage "Are you a man of vision?" (ebd.: 102) - deren deutsche Übersetzung übrigens etwas nüchterner als "Haben Sie Sehvermögen?" daherkommt - Foggs Antwort also ist so nebulös wie sein Name: '"I used to think I was, but I'm not so sure anymore.'" (ebd.). Effing, den diese Antwort nicht zufrieden stellt, fragt weiter: '"When you see a thing before your eyes, are you able to identify it?'" - "'More often than not, yes'", (ebd.) antwortet Fogg noch recht sicher, aber im nächsten Atemzug schränkt er bereits ein, daß es manchmal ziemlich schwierig werden kann, beispielsweise Männer von Frauen auf der Straße zu unterscheiden, weil beide Geschlechter lange wie kurze Haare tragen, so daß ein kurzer Blick oft nicht genügt. Die deutsche Übersetzung verwischt hier einen wichtigen Wechsel der Referenzebenen der beiden Dialogpartner. Im Englischen lautet Effings Frage "When you see a thing before your eyes, are you able to identify it" (Hervorh. d. A.). Effing erkundigt sich also eindeutig nach Foggs Fähigkeit, Dinge/Objekte zu identifizieren. Der zweite Teil von Foggs Antwort bezieht sich nun aber ganz offensichtlich auf einen anderen Wirklichkeitsbereich. Die beiden Männer sprechen von verschiedenen Dingen. Während Foggs Antwort sein Interesse an der Erkennbarkeit von Identitäten und Ideologien hinter kulturellen Codes verrät, basiert Effings Frage auf dem alten philosophischen Grundinteresse nach der Wahrnehmbarkeit und Erkennbarkeit der materiellen, gegenständlichen Welt. Diese im Dialog sichtbar werdende Differenz signalisiert nicht nur einen Paradigmenwechsel der Philosophie von modernen hin zu postmodernen Fragestellungen. Sie ist auch noch in anderer Hinsicht aufschlußreich. Dazu muß erwähnt werden, daß sich Fogg nie ganz sicher ist, ob Effing tatsächlich blind war oder nicht. Auch der Abstand von ca. zwanzig Jahren zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit hat die Zweifel nicht ausgemerzt. Schon bei der ersten Begegnung bietet Fogg selbst mehrere Bedeutungen für das gesehene Zeichen Augenklappe an: völlige Blindheit, partielle Blindheit, körperliche Deformation, Schutz nach einer Operation oder einfach nur Lichtempfindlichkeit. "When it comes right down to it", faßt er zusammen, the only thing I know for certain is that you are wearing black patches over your eyes. I can state that they are there, but I don't know why they are there. [...] It often happens that things are other than what they seem, and you can get yourself into trouble by jumping to conclusions. (1989: 103).
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Daneben beobachtet Fogg immer wieder für einen Blinden seltsame Gesten: einmal scheint es ihm, als ob ihn Effing mit seinem Blick fixiere, ein anderes Mal putzt Effing seine Brille. Und während Fogg erfährt, warum und seit wann Effing im Rollstuhl sitzt, bleibt die Ursache seiner Blindheit im Dunkeln. Überdies erinnert der alte Mann Fogg einmal daran, nie etwas als sicher hinzunehmen, "especially when you're dealing with a person like me" (ebd.: 111). Zieht man nun all die von Auster sorgsam verstreuten Anspielungen zusammen und behält dabei im Auge, daß wir es nicht mit einem omnipräsenten Erzähler zu tun haben, dann ist das Einzige, was wir genau wissen, daß Effing sich weigert, die Welt mit eigenen Augen zu betrachten. Die Augenklappen sind dann das Zeichen dieser Verweigerung, seine Blindheit kann als Metapher für seinen radikalen Zweifel an der unmittelbaren Erkennbarkeit der dinglichen Realität mittels des Gesichtssinns gelesen werden. So gesehen erweist Paul Auster mit diesem Dialog einem irischen Geistlichen und Philosophen des 18. Jahrhunderts seine Reverenz. Die Rede ist von George Berkeley, nach dem die bekannte Universitätsstadt an der Westküste der Vereinigten Staaten benannt ist. Sein Name taucht an einer Stelle des Romans sogar direkt auf. Fogg findet eines Tages in seinem Zimmer - er wohnt zu diesem Zeitpunkt bei Effing - drei Bücher über amerikanische Geschichte, darunter ein Buch mit dem Titel Bishop Berkeley and the Indians aus dem Jahre 1947. Viel mehr als der Titel wird nicht erwähnt. Auf Anfrage von Effing, ob er die Bücher gelesen habe, antwortet er lediglich, daß er ihm bis dato völlig unbekannte Informationen erhalten habe, so über Berkeleys sogenanntes Bermuda-Projekt (eine nie verwirklichte Idee zur Gründung eines College zur Ausbildung indianischer und weißer Missionare für die Kolonien) und über seinen zweieinhalbjährigen Aufenthalt in Rhode Island. Der beste Teil des Buches sei jedoch der, in dem Berkeleys Lebenserfahrungen mit seinen philosophischen Arbeiten zur Wahrnehmung in Verbindung gebracht werden. Sie sind, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, das Fundament der Austerschen Poetik des Erzählens. Berkeleys Philosophie des Sehens wurde erstmals im Jahre 1709 unter dem Titel Essay Towards a New Theory of Vision veröffentlicht. Berkeley war als Geistlicher angesichts der zunehmenden Verbreitung einer von den Naturwissenschaften geprägten Weltsicht beunruhigt über die Gefahr für den Glauben, die er davon ausgehen sah. Gegen die Lehren eines Descartes und eines Leibniz, die mit den Mitteln des naturwissenschaftlich gebildeten Verstandes und mit Hilfe mathematischer und physikalischer Formeln die Wirklichkeit Gottes zu erfassen versuchten, hält Berkeley daran fest, daß der Wahrnehmung der Welt durch die Sinne2 eine mindestens ebenso große Bedeutung zukommt. Dabei ist er sich der Grenzen menschlicher Sinneswahrnehmungen durchaus bewußt; er ist weit davon entfernt, das Sehen oder das Hören gegenüber dem Denken zu privilegieren. Berkeley zielt darauf ab nachzuweisen, daß wir - wie es ein Interpret
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Berkeleys Interesse gilt vor allem dem Sehen, Hören, Tasten; der Geruchs- und der Geschmackssinn spielen bei ihm keine Rolle.
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formuliert - "den Dingen mancherlei ansehen, was wir unmittelbar und eigentlich gar nicht sehen können" (Kulenkampff 1987: 47). Eine dampfende Suppe sieht heiß aus, eine leere Pappschachtel leicht, ein bereiftes Dach kalt. Ebenso verhält es sich mit Gehörtem. In Modernisierung von Berkeleys Kutschenbeispiel ließe sich sagen, daß wenn ein Auto ohne Schalldämpfer die Straße entlangfährt, wir eigentlich nur ein recht unangenehmes Geräusch hören. Trotzdem sagen wir, daß wir ein Auto ohne Schalldämpfer hören, weil wir erfahrungsgemäß das Geräusch mit dem defekten Auto verbinden. Berkeley zieht aus seinem Beispiel zwei Schlußfolgerungen: a)
Sehen, Hören, Tasten sind Wahrnehmungsweisen, die jeweils unterschiedliche Ideen3 von einem Objekt, einem Körper erzeugen und daher auf unterschiedliche Realitäten verweisen. Im 49. Satz der New Theory of Vision von 1709 heißt es: [I]f we take a close and accurate view of the matter, it must be acknowledged that we never feel and see one and the same object. That which is seen is one thing and which is felt is another. [...] The true consequence is that the objects of sight and touch are two distinct things. (Berkeley 1709/1926).
b)
Attribute wie heiß und kalt können nur mittelbar sinnlich wahrgenommen werden. Wir sehen, daß eine dampfende Suppe heiß ist und ein bereiftes Dach kalt, weil die Erfahrung dem Auge assistiert. Der neunte Satz illustriert das an folgendem Beispiel: [F]or instance, the passions which are in the mind of another are of themselves to me invisible. I may nevertheless perceive them by sight; though not immediately, yet by means of the colours they produce in the countenance. We often see shame or fear in the looks of a man, by perceiving the changes of his countenance to red or pale. (ebd.).
Und damit sind wir zurück bei Foggs Blick auf den mit Augenklappen versehenen Effing. Nun ist es aber durchaus interessant, daß Effing zwar den Blick auf die Welt verweigert, aber seine "Blindheit" durch die Sprache zu substituieren versucht. Schließlich engagiert er Fogg für drei ganz bestimmte Aufgaben. Fogg verdient seinen Lebensunterhalt damit, daß er Effing vorliest, ihm auf gemeinsamen Spaziergängen die Gegenstände beschreibt, die er sieht, und schließlich diktiert Effing Fogg seine eigene Todesanzeige in Form einer hundertseitigen Autobiographie. "My relationship with you will be composed of words" (Auster 1989: 104), gibt er Fogg zu verstehen. Aber dieser
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Unter Idee versteht Berkeley "any immediate object of sense" (Berkeley 1709/1926: Satz 45), d.h. eine Idee im Berkleyschen Sinne ist der konzeptionelle Abdruck eines Gegenstandes im Bewußtsein. Die Analogie zur Fotografie ist hilfreich für das Verständnis: Ahnlich wie sich das Licht, das ein Körper ausstrahlt oder reflektiert, in den Film einprägt, prägt sich die Idee von einem gesehenen, gehörten, ertasteten Körper ins Bewußtsein ein.
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Satz bezeichnet nicht nur die Beziehung zwischen Fogg und Effing, sondern auf einer Metaebene auch die zwischen Schriftsteller und Leser, wobei Fogg in dieser Beziehung die Funktion des Schriftstellers zukommt, der das, was er sieht, so in Wörter und Sätze zu verwandeln sucht, daß die Sprache die "Blindheit" überwindet. Es geht dabei nicht um das Problem der Abbildbarkeit von Realität durch Sprache, sondern darum, ob der gesprochene oder geschriebene Text "a springboard for the imagination" wird, wie es Paul Auster in einem Interview einmal genannt hat (Auster 1993: 304), oder ob der Text sich gleichsam wie eine Mauer um die Wirklichkeit aufbaut, dem Leser den Blick darauf versperrt und ihn sozusagen "blind" macht. In Analogie zu Berkeleys Theorie des Sehens kann also die Transformation eines Gegenstandes in einen Text als Form vermittelten Sehens verstanden werden. Das Erzählen wird in diesem Prozeß zu der Erfahrung, die den gesehenen Objekten Bedeutung gibt. In seiner Zeit bei Effing durchläuft Fogg einen Lernprozeß, an dessen Ende er tatsächlich zu einem "man of vision" wird, zum Co-Autor dreier verschieden langer Versionen von Effings Leben. Wie sein Vorgänger Pavel Shum, so ist schließlich auch Fogg potentiell "a master of the poetic phrase, a peerless inventor of apt and stunning images, a stylist whose words could miraculously reveal the palpable truth of objects" (Auster 1989: 121). Dieser Prozeß ist jedoch ohne die in den ersten drei Kapiteln erzählte Vorgeschichte nicht begreifbar. Im New York der politisch, sozial und kulturell nervösen späten sechziger Jahre, in einer Zeit, in der das öffentliche Bewußtsein sich vollkommen auf äußere Aktionen gerichtet hat, entschließt sich Fogg mit einer nihilistischen Geste, die an Nietzsche wie Hamlet gleichzeitig gemahnt, sich der Welt zu verweigern. Beim Gedanken an "scholarships, loans, work-study programs" (ebd.: 20) wird er von "a jolting attack of nausea" (ebd.) gepackt, und er entschließt sich, gelockt von der Vorstellung einer totalen Finsternis, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen: "I would turn my life into a work of art, sacrificing myself to such exquisite paradoxes that every breath I took would teach me how to savor my own doom." (ebd.: 21). Marco Stanley Fogg läßt sich von seinen Freunden nur noch mit den Initialen seiner beiden Vornamen ansprechen, die im Englischen zugleich auch die Abkürzung für das Wort "Manuskript" sind. Zurückgezogen in sein Zimmer und jede Kontaktaufnahme mit der Welt verweigernd (das Telefon wird herausgezogen, das Klopfen an der Tür nicht beantwortet), beginnt er die ungeordnete Lektüre der symbolträchtigen Anzahl von 1492 Büchern, die er von seinem Onkel geerbt hat und die er nach dem Lesen verkauft. Nach und nach befreit er sich nicht nur von seiner Erbschaft, sondern von all seinem ohnehin spärlichen Hab und Gut und landet schließlich obdachlos im Central Park. Seine Verweigerungshaltung geht schließlich so weit, daß er seinen sozialen wie körperlichen Fall nicht als solchen anerkennt. Demütigungen und Hunger werden zu "spiritual initiations" (ebd.: 61), die am Ende "a higher stage of consciousness" (ebd.) ermöglichen. In weniger überschwenglichen Stimmungen interpretiert er seinen Zustand als "a challenge to the American way" (ebd.) und redet sich ein, er sei "an instrument of sabotage" (ebd.). Schließlich mag selbst der Park als Obdach-Ersatz das heftig ins Wanken geratene "equilibrium between the inner and outer" (ebd.: 58)
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nicht mehr aufrechtzuerhalten. Eine Krankheit wird zum Sprung über den Abgrund, doch kurz vor dem Aufprall wird er von seinen Freunden Kitty Wu - in die er sich bald darauf heftig verliebt - und David Zimmer gefunden und gerettet. Nach seiner Rekonvaleszenz in Zimmers Wohnung findet er schließlich den Job bei Effing und kehrt damit in die - wenngleich auch immer noch recht merkwürdige - Realität sozialer Beziehungen zurück. Foggs geistige Rehabilitierung beginnt jedoch erst, als er seine Aufgabe bei Effing nicht mehr als Last, sondern als Übung betrachtet. Er erkennt, daß die wahrnehmbare Welt in ständiger Veränderung begriffen ist, daß selbst ein so vertrautes Ding wie ein Hydrant sich mit dem Einfallswinkel des Lichtes oder mit einem vorbeigehenden Passanten ändert. In dem Bemühen, den gesehenen Gegenstand dennoch sprachlich zu fassen, spricht er viel zu schnell. Fogg resümiert: "I was piling too many words on top of each other, and rather than reveal the thing before us, they were in fact obscuring it, burying it under an avalanche of subtleties and geometric abstractions." (ebd.: 123). Er entdeckt, that the more air I left around a thing, the happier the results, for that allowed Effing to do the crucial work on his own: to construct an image on the basis of a few hints, to feel his own mind traveling toward the thing I was describing for him. (ebd.).
Das führt ihn schließlich zu der Einsicht, daß seine Aufgabe nicht eine ästhetische, sondern eine moralische ist ("I no longer saw it as an aesthetic activity but as a moral one", ebd.). Auf der Figurenebene des Romans hat Auster mit Foggs Reflexionen dessen Reifeprozeß sichtbar gemacht. Fogg fühlt sich Effing schließlich soweit moralisch verpflichtet, daß er seine Verantwortung für den Spielraum der Phantasie des anderen und also für dessen geistige Autonomie akzeptiert. Am Ende ist er sogar bereit, dem sterbenden Effing durch die Manipulation des Kalenders dazu zu verhelfen, daß er, Effing, an dem von ihm selbst vorhergesagten Termin stirbt. In einer Art Gegenströmung lösen sich allerdings die Beziehungen zu den beiden anderen wichtigen Bezugspersonen auf. Seinen Freund Zimmer trifft er erst viele Jahre später als etablierten Akademiker und Familienvater zufällig auf der Straße wieder. Nach einem kurzen Gespräch verlieren sie sich wieder aus den Augen. Und die Beziehung zu Kitty Wu löst er, weil er deren Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch nicht akzeptieren will. Auf der poetologischen Metaebene des Romans indes läßt Foggs Reifung vom nihilistischen Ästhet zum ethisch verantwortlichen Sprachkünstler eine optimistischer stimmende Interpretation zu. Auster zeigt nämlich, daß die von der Öffentlichkeit immer wieder reklamierte demokratische Verantwortung der Literatur in der Gesellschaft nicht allein in ihren Themen zu suchen ist, sondern auch in ihren Formen und Strukturen, von denen letzten Endes abhängt, ob ein Text zur Vorschrift (im doppelten Sinne) oder zur Voraussetzung dafür wird, daß Leserinnen und Leser bei der Rückkehr aus dem Buch in die außertextliche Wirklichkeit diese neu, anders, kritischer oder auch gelassener, humorvoller sehen.
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Durch die mittels der Figurenkonstellation Fogg-Effing fiktionalisierte Verankerung des Erzählens im Sehen gelingt es Paul Auster, die Beziehung zwischen literarischem Diskurs und nicht-diskursiver Wirklichkeit neu zu definieren und die Selbstreferentialität und Selbstreflexivität postmoderner Texte als ethisches Dilemma zu problematisieren.4 Der nun folgende Abschnitt widmet sich einem anderen wichtigen Interessenbereich der Postmoderne, nämlich dem Zusammenhang zwischen Literatur und Geschichte. Präziser formuliert, soll im Folgenden die Austersche Variante der postmodernen Herausforderung des Objektivitätsanspruchs von Geschichte und Geschichtsschreibung genauer betrachtet werden.
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SEHEN ALS AGENS DER GESCHICHTE
Bekanntermaßen basiert Geschichte traditionell auf genealogischen Prinzipien, d.h. sie macht Zeit durch die erzählerische Archivierung von Generationsfolgen sichtbar. Anders gesagt, Genealogie und Chronologie sind zwei bedeutende Ordnungsprinzipien innerhalb der Geschichtsschreibung. Das galt bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein auch für den Roman. Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich Paul Auster der traditionellen Form des Romans als fiktiver (Auto-)Biographie bedient. MS Fogg, der Ich-Erzähler, erinnert sich an eine Kette von Ereignissen, die er rückblickend als den Anfang seines Lebens beschreibt, und deren Chronologie er in einer Art erzählerischem Zeitraffer gleich im ersten Abschnitt des Romans zusammenfaßt: It was the summer that men first walked on the moon. I was very young back then, but I did not believe there would ever be a future. I wanted to live dangerously, to push myself as far as I could go, and then see what happened to me when I got there. As it turned out, I nearly did not make it. Little by little, I saw my money dwindle to zero; I lost my apartment; I wound up living in the streets. If not for a girl named Kitty Wu, I probably would have starved to death. I had met her by chance only a short time before, but eventually I came to see that chance as a form of readiness, a way of saving myself through the mind of others. That was the first part. From then on, strange things happened to me. I took the job with the old man in the wheelchair. I found out who my father was. I walked across the desert from Utah to California. That was a long time ago, of course, but I remember those days well, I remember them as the beginning of my life. (1989: 1).
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Leider wird dieser metafiktionale Versuch einer Kritik der Postmoderne dadurch geschmälert, daß sie unter der Hand traditionelle patriarchale Geschlechterrollen festschreibt. Fogg, der Mann, trägt Verantwortung für Effings geistige Lebendigkeit, während für den Haushalt des alten Herrn und für die Mahlzeiten eine Frau verantwortlich zeichnet. Und nicht nur das, sie bekommt auch noch den Namen jenes Philosophen, der im Jahre 1741 einen Aufsatz unter dem Titel Of the Delicacy of Taste and Passion veröffentlicht hat. Effings Haushälterin und Pflegerin heißt Rita Hume. Wie sich erkennen läßt, wäre eine ausführliche feministische Lektüre des Romans durchaus wünschenswert, muß allerdings an anderer Stelle erfolgen.
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Im Zeitalter postmodernen Erzählens ist es nicht verwunderlich, daß ein Autor mit einer solchen narrativen Geste den plot (also die äußere Romanhandlung) als strukturgebendes Element des Romans entmachtet. Auch ist es nicht unbedingt innovativ, wenn ein Ich-Erzähler in einem bedeutenden historischen Ereignis wie der Mondlandung den Ausgangspunkt für die (Re-)Konstruktion seiner eigenen Lebensgeschichte findet und der Roman auf diese Weise die fiktive Biographie zum Modell für das Verständnis von Geschichte macht. Wie sich jedoch im Verlaufe des Romans herausstellt, läßt sich nicht eindeutig verifizieren, ob die Mondlandung tatsächlich stattgefunden hat. Anders als sonst in der Geschichte gibt es für dieses historische Ereignis nur eine verschwindend kleine Anzahl von Augenzeugen. Wie andere seiner Zeitgenossen wohnt Fogg der Landung auf dem Mond vor dem Fernsehapparat bei. Wenn im englischen Original dafür das Verb "to witness" verwendet wird, ist dies mehr als eine sprachlichen Konventionen geschuldete Beiläufigkeit. Im Medienzeitalter ist Augenzeugenschaft eine Art optische Täuschung: sie ist nämlich nicht mehr unmittelbar an die Präsenz des Augenzeugen bei einem Ereignis gebunden, sondern - in diesem Falle - an die Präsenz vor einem Apparat, der das Ereignis durch die Ausstrahlung elektronisch erzeugter Bilder medial repräsentiert. Das Bild übernimmt die Funktion des Augenzeugen, und es codiert gleichzeitig die Vorstellung von neuentdeckten Territorien bei den Betrachtern des Bildes. Die Glaubhaftigkeit solcherart vermittelter Geschichte wird dann später in einem Gespräch, dem Fogg beiwohnt, angezweifelt. Die durch das Fernsehen übertragene Mondlandung - so das Urteil - sei ein ideologischer Trick, "a television extravaganza staged by the government to get our minds off the war" (ebd.: 37). Selbst eine weniger skeptische, weniger zynische Betrachtung der historischen Bedeutung der Mondlandung kann nicht umhin, die ideologische Einbindung dieses Vorgangs in den nationalen amerikanischen Diskurs anzuerkennen. Die Übertragung der Mondlandung wird durch die feierliche Rede des Präsidenten abgerundet, der das Ereignis als "the greatest event since the creation of man" (ebd.: 31) zelebriert und damit für Amerika jene gottgleiche Position in der Weltgeschichte reklamiert, die in der imperialen Ideologie des Manifest Destiny ihren Ursprung hat. Die ideologische Einbindung des Visuellen bzw. Visionären in die Konstruktion einer nationalen amerikanischen Identität ist nun allerdings keine Erfindung des Medienzeitalters, sondern ein wiederkehrendes Motiv in der amerikanischen Geschichte, wie sie aus europäischer Sicht erzählt wird. Der Roman setzt sich damit auseinander. Ihr Ebenbild findet die amerikanische Geschichte in der Figur des Entdeckers, und sie beginnt mit der Illusion des Seefahrers Christopher Columbus, der bei seiner Ankunft in der Karibik im Jahre 1492 überzeugt war, Indien bzw. China erreicht zu haben. Columbus sah, was er sehen wollte, nicht das, was tatsächlich da war. Folgt man der amerikanischen Literaturhistorikerin Myra Jehlen, dann geht der historische Vorgang der Kolonisierung der "Neuen Welt" eng einher mit der Verschriftlichung dessen,
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was die Kolonisatoren taten, sahen, erlebten (Jehlen 1994: 15). Dem Sehen folgt der Text und dem Text der historische Vorgang der Inbesitznahme fremden Territoriums. Doch mit welchen visuellen Codes blickt der Entdecker auf das unbekannte Land? Und welche Visionen haben ihn vorangetrieben? Es ist bekannt, daß die Entdeckungsreisen der Renaissance ohne das Handels- und Machtinteresse des Bürgertums und ohne die wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Entwicklungen jener Zeit undenkbar gewesen wären. Weniger bekannt, aber für die Problematik dieses Aufsatzes umso bedeutsamer ist indessen die These der Renaissancehistorikerin Pauline Moffitt Watts, die Columbus als apokalyptischen Visionär beschreibt. In einem 1985 im American Historical Review veröffentlichten Aufsatz legt Watts dar, daß das mathematisch-physikalische Interesse der Renaissance die aus dem Alten Testament überlieferten apokalyptischen Prophezeiungen nicht verdrängt, sondern ihnen im Gegenteil neuen Antrieb gegeben hat. Gemäß der judeo-christlichen Eschatologie geht der Erlösung der Menschheit von allen Sünden das Ende der Welt voraus, und dem Ende der Welt geht die Christianisierung der gesamten Menschheit voraus. Für Pauline Watts liegt darin ein wichtiges Motiv für die Entdeckungsreisen der europäischen Renaissance: "Columbus and his contemporaries sought to discover and play out their historical roles in a cosmic drama they perceived as inexorably unfolding from the moment that Adam and Eve had been expelled from the Garden of Eden." (Watts 1985: 79). Es liegt also nahe, daß der visionäre Blick des die Geschichte vorantreibenden Entdeckungsreisenden durch das in Texten archivierte geographische, kosmologische, ikonographische, technologische und geschichtliche Wissen seiner Zeit gespeist wurde. Der so formierte Blick wird zum Agens der Geschichte. Mit anderen Worten, das Sehen dient dem historischen Vorgang der Eroberung fremden Territoriums, und es erweist sich damit als ein wichtiges Instrument für die Konstruktion historischer Realität. Das Paradigma des geschichtsträchtigen Blickes bestimmt die narrative Struktur von Mooti Palace ebenso wie die thematische Struktur. Beim Anblick des Restaurants mit dem Namen Moon Palace beispielsweise produziert Foggs Bewußtsein ein assoziatives Bild der amerikanischen Geschichte, in dem scheinbar so unzusammenhängende Ereignisse in Verbindung gebracht werden wie die Schiffsreise von Columbus und der Mondflug. Das Apollo-Projekt führt gedanklich zu Apollo, dem antiken Gott der Musik. Das wiederum läßt Fogg an seinen Onkel Victor denken, der mit einer Jazz-Band namens "Moon Men" den amerikanischen Westen bereist. Die Vorstellung vom amerikanischen Westen evoziert die Geschichte der Kriege gegen die Indianer, das wiederum erinnert an den Krieg in Indochina. Die Vorstellung von modernen Kriegen führt zurück in den amerikanischen Westen, genauer gesagt in die Wüsten von Utah und Nevada, die als Testfelder für Atomexplosionen benutzt wurden und deren durch Bombenkrater gezeichnete Topographie an die Mondoberfläche erinnert. Zwischen all diesen "Clusters of wild associations" (Auster 1989: 32) entdeckt Fogg "secret correspondences" (ebd.: 33), die symbolisch durch den ikonographisch-mythologischen Charakter des Mondes getragen werden. Je mehr sich Fogg auf das Assoziationsspiel
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einläßt, desto näher glaubt er sich dem Verständnis für einige fundamentale Wahrheiten über die Welt ("the more I opened myself to these secret correspondences, the closer I feit to understanding some fundamental truth about the world", ebd.). Die Ordnung der Geschichte (jetzt im doppelten Sinne von Erzählung und Historiographie) folgt demnach nicht dem Prinzip kausaler Chronologie, sondern dem Prinzip der rhizomatischen Verknüpfung ikonographischer Einheiten. Das Bild tritt gleichberechtigt neben den Text als Metapher für Geschichte; das (synchrone) Sehen ergänzt das (diachrone) Lesen als ihr Konstruktionsprinzip wie als Methode der Geschichtsaneignung. Durch die Anleihe auf ein Instrumentarium der Lyrik, nämlich die alliterierende Verknüpfung der Namen der drei Hauptfiguren des Romans mit dem Philosophen Berkeley und dem amerikanischen Maler Blakelock, synchronisiert Paul Auster darüber hinaus die metafiktionale (Verwurzelung postmodernen Erzählens in einer Philosophie des Sehens) und strukturelle Ebene (Erzählen als assoziative Verknüpfung von Sprachbildern) seines Romans mit der thematischen Ebene. Wie sich herausstellt, ist Effings eigentlicher Name Julian Barber. Seinem Sohn Solomon, der als erwachsener Mann Historiker wird, ist der abwesende Vater lediglich bekannt als "a painter, a specialist in landscapes who had gone on many travels for his art" (ebd.: 250). Der Roman hat jedoch schon vor dieser biographischen Reminiszenz das für die US-amerikanische Nationalgeschichte bedeutsame Thema der Westexpansion, also der imperialen Eroberung weiter Teile des nordamerikanischen Kontinents im 19. Jahrhundert, eingeführt. In seinem Zimmer findet Fogg die schwarz-weiße Kopie eines der Bilder aus der Serie The Course of Empire (1836), "a visionary saga of the rise and fall of the New World" (ebd.: 108) an der Wand. Der Maler des Originals heißt Thomas Cole (18011848) und war eine der zentralen Figuren der sogenannten Hudson River School. Eine viel bedeutendere Funktion im Roman hat allerdings das Bild eines anderen Malers aus dem 19. Jahrhundert. Effing/Barber schickt Fogg eines Tages in das Brooklyn Museum, damit er sich dort ein Bild des beinahe völlig vergessenen Landschaftsmalers Ralph Albert Blakelock (1847-1919) ansieht, das den Titel Moonlight trägt und aus dem Jahre 1885 stammt. Auf dem Weg zu diesem Bild fallen Fogg die Namen von Frederic Edwin Church (1826-1900) und Albert Bierstadt (1830-1902) auf, die mit ihren grandiosen Landschaften, dramatischen Szenen und detaillierten Porträts für die malerische Inventarisierung des amerikanischen Westens verantwortlich zeichnen. Dieser kunsthistorische Kontext läßt Fogg zunächst beim Anblick von Moonlight, einer friedlichen Landschaft im Halbdunkel des Mondlichts, enttäuscht sein. Doch bei längerer Betrachtung dämmert ihm, daß das Bild nicht als mimetisches Abbild einer fernen Landschaft im Mondschein zu betrachten ist. Vielmehr sieht Fogg in der Gleichfarbigkeit zwischen Himmel und Erde und hinter der idyllischen Stimmung einer bukolischen Szenerie die romantische Empörung des Malers über die vertane Chance, auf dem "neuen" Kontinent das Para-
CATRIN GERSDORF dies zurückzuerobern. Das Bild, so Foggs abschließende Erkenntnis sei "not a landscape, it was a memorial, a death song for a vanished world" (ebd.: 139). Die genaue Betrachtung des Bildes und die Decodierung seiner Symbolstruktur läßt Fogg eine bislang unentdeckte Seite an Effing/Barber erkennen: die des romantischen Visionäre, der sich hinter der Fassade des zynischen Kommentators der Gegenwart verbirgt. Innerhalb der Bedeutungsstruktur des Romans leistet diese Episode aber auch noch etwas anderes. In der Chronologie steht sie vor dem Beginn der autobiographischen Erzählung Effing/Barbers, an deren Niederschrift sich Fogg im vierten Kapitel erinnert. In diesem Kontext wird das Bild zum Ausgangspunkt für Effing/Barbers Geschichte. Und dessen (Lebens-)Geschichte wiederum ist eng verknüpft mit der Geschichte des technologischen Fortschritts (symbolisiert durch Erfinder wie Tesla, Westinghouse und Edison bzw. durch die Entdeckung der Elektriziät und des Wechselstroms und durch die World Columbia Exposition in Chicago 1893) sowie mit der Geschichte der Westexpansion, auf die unter anderem durch Ereignisse wie die Hayden Expedition in das Yellowstone Gebiet von 1871 angespielt wird. An dieser Expedition hat auch der Landschaftsmaler Thomas Moran (1837-1926) teilgenommen, der Mann also, der den Amerikanern mit seinen Bildern den Blick in den Westen des Kontinents eröffnet hat. Für den Historiker William H. Goetzman löste die Arbeit der expeditionsbegleitenden Maler das populäre Interesse am amerikanischen Westen aus. In seiner 1966 erstmals erschienenen und 1993 neu aufgelegten Geschichte der Westexpansion schreibt er: [...] Moran was a colorist and a romantic whose gigantic canvases, along with those of Albert Bierstadt, did much to create the legendary West of vivid contrasts and enormous expanses that became appealing to the succeeding generation of nature lovers and tourists who came in the wake of the public surveys. [...] He painted, quite literally, the sublime psychological reality of the West, in which if a mountain was larger than life, a cloud formation somewhat overdramatic, and the rainbows seemd artificial, still it all added up to a portrayal of the impact of the magnificent scenery on those who were viewing it for the first time. Like the paintings of Bierstadt and Church, Moran's canvases called up in the viewer inner feelings of the sublimity of nature and the inconsequence of man. (Goetzmann 1993: 503f.).
Der Roman äußert sich über die Bedeutung von Morans Bildern für die amerikanische Geschichte weniger ehrerbietig. Um Morans Instrumentalisierung für den ikonographischen Diskurs der Nationalgeschichte deutlich zu machen, bedient sich Auster der Stimme Effing/Barbers: The first painting of the Grand Canyon was by Moran, it's hanging in the Capitol building in Washington; the first painting of Yellowstone, the first painting of the Great Salt Lake Desert, the first paintings of the canyon country in southern Utah - they were all done by Moran. Manifest Destiny! They mapped it out, they made pictures of it, they digested it into the great American profit machine. Those were the last bits of the continent,
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the blank spaces no one had explored. Now here it was, all laid out on pretty pieces of canvas for everyone to see. The golden spike, driven right through our hearts! (Auster 1989: 149).
Aus der Sicht des Romans nimmt die Geschichte dieser Region also gar ihren Ausgangspunkt in Morans Bildern, ganz ähnlich wie Effing/Barbers Geschichte ihren Ausgangspunkt in Blakelocks Bild findet. Historiographie und (fiktive) Biographie sind durch ihren strukturellen Parallelismus miteinander verwandt; die Geschichte eines Malers wird zur Folie für die imperiale Geschichte, die sich des Bildes (und damit des Sehens) als eines wichtigen Instruments zur Vermittlung der Idee des Fortschritts und der Ideologie des Manifest Destiny bedient.5 Interessant ist nun in diesem Zusammenhang, daß Paul Austers Roman die Malerei und das Sehen als Dreh- und Angelpunkt eines kritischen Kommentars der Geschichte benutzt. Wie in postmodernen historischen Romanen nicht unüblich, suggeriert der Autor eine Begegnung zwischen dem authentischen Thomas Moran und dem fiktiven Julian Barber alias Thomas Effing. Die Bilder Blakelocks, so Effing/Barber gegenüber Fogg, hätten in ihm die Idee wachgerufen, den Westen zu bereisen, und Thomas Moran habe ihn schließlich dazu überredet, die Reise tatsächlich auch anzutreten. Der junge Julian Barber, des überschwenglichen Glaubens an den technischen Fortschritt ebenso überdrüssig ("Fuck Edison and his goddamned lightbulb", ebd.: 131) wie der bedingungslosen Hingabe der New Yorker Kunstszene an den europäischen Modernismus ("Mechanical abstraction, the canvas as the world, intellectual art - I saw it as a dead end", ebd.: 150), macht sich nach dem Vorbild Morans auf in den Westen. Seine Expedition, auf der ihn ein Geologiestudent begleitet, der dabei ums Leben kommt, gerät zu einer Travestie der topographischen Expeditionen des 19. Jahrhunderts. Die Landschaften des Westens, die der koloniale Blick von Moran und seinen Zeitgenossen noch chiffrierte als "blank spaces no one had explored" (ebd.: 149) und die derselbe Blick in der Folge zum Urbild der Weite des Raums und der Bedeutungslosigkeit des Menschen sublimierte, haben am Anfang des 20. Jahrhunderts ihre historische "Unschuld" verloren. Dem Blick der "Entdecker" sind die Bilder gefolgt, den Bildern ist die Geschichte gefolgt, der Geschichte die Folklore, die das tragische Schicksal der Donner Party zum Symbol der tödlichen Gefährlichkeit des Westens hat werden lassen. Effing/Barber kann im Westen nicht mehr den leeren, geschichtslosen Raum sehen, von dem die Bilder seines väterlichen Vorbildes Moran erzählen. Für ihn, der einer anderen Generation angehört, ist der Westen "a boneyard of oblivion, a giant cemetery" (ebd.: 154). Der leere, weite Raum hat sich zur "Confusion Range" (ebd.: 155) verändert, die Geschichte der Expansion hat ihre Spuren hinterlassen, die nun ebenso in die Landschaft eingeschrieben sind wie die ruinösen
5
In seinem als Einleitung zu The West as America: Reinterpreting Images of the Frontier, 18201920 veröffentlichten Aufsatz Ideology and Image: Justifying Westward Expansion (1991) geht William H. Truettner ausfuhrlich auf die soziale und politische Funktion der Malerei in diesem Abschnitt der US-amerikanischen Geschichte ein.
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Spuren indigener Kulturen. "To see it is to make it vanish" (ebd.: 157), lautet Effing/ Barbers Kommentar zu dem Versuch, die Landschaft des Westens durch den Blick des Malers im Bild fixieren, historisieren zu wollen. Seiner (vermeintlichen) Blindheit wird dadurch eine weitere metaphorische Dimension hinzugefügt. Sie läßt sich als eine exzentrische Form der Kritik an der Tradition der Aufklärung lesen. Diese Interpretation erscheint weniger willkürlich, wenn man bedenkt, daß das englische Wort für Aufklärung "Enlightenment" ist. Nach dem Austerschen Prinzip der assoziativen Verknüpfung von ikonographischen Struktureinheiten werden die Bedeutungsfelder um Begriffe wie "light", "lightbulb", "enlightenment", "seeing", "blindness" in einen bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht. Auster äußert sich aber nicht nur zu der landschaftszerstörenden Macht des (technischen) Fortschritts und seiner geschichtstreibenden Visionen. Er stellt zugleich auch eine andere aufklärerische Konstruktion auf den Prüfstand, nämlich die des autonomen Künstlersubjekts, das lange Zeit als modellhafter Gegenentwurf zur Figur des politisch wie ökonomisch abhängigen Staatsbürgers galt. Der Roman inszeniert Efflng/Barber zunächst als autonomen Künstler (durch eine Millionenerbschaft ist der junge Maler ökonomisch tatsächlich unabhängig), der es sich entgegen gängiger Trends erlaubt, amerikanische Landschaften zu malen. Die Bilder, die er während seines einsiedlerischen Aufenthalts in einer Höhle malt, werden zwar nicht in den Dienst einer nationalen Ideologie gestellt, aber schließlich - Ironie der Geschichte - vom Fortschritt überschwemmt. Als Fogg mit einer Reise in den Westen den Wahrheitsgehalt von Effing/Barbers Geschichte überprüfen will, kann er die Höhle nicht finden - vermutlich, weil sie vom Wasser des Lake Powell, einem der größten Stauseen Nordamerikas, bedeckt wurde. Mit diesem Gleichnis spricht der Roman einen weiteren Aspekt des Zusammenhangs von Sehen und Geschichte an, auf den hier abschließend kurz verwiesen werden soll. Wie gezeigt wurde, hat das Sehen Effing/Barbers Geschichte zwar vorangetrieben, vermag sie aber nicht zu legitimieren. Auster varriiert hier das philosophische Problem der Erkennbarkeit der dinglichen Realität und stellt die nachträgliche Erkennbarkeit der historischen Realität, wie sie von der traditionellen Historiographie wie vom Geschichtstourismus gleichermaßen reklamiert wird, vehement in Frage. Das heißt allerdings nicht, daß es für den Schriftsteller keinen Zugang zu historischer Wahrheit gibt. Im Gespräch mit Kitty Wu und Solomon Barber fragt sich Fogg, ob es jemals möglich sei herauszufinden, ob es die Höhle in der Wüste, in der Julian Barber alias Thomas Effing für ein Jahr gelebt und gemalt hat, tatsächlich gegeben habe und ob es folglich jemals möglich sei, den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte zu überprüfen. Kittys Reaktion: "Of course he was telling the truth... . His facts might not always have been correct, but he was telling the truth." Und Fogg stimmt ihr zu: "I'm afraid so... . Even if there wasn't an actual cave, there was the experience of a cave. It all depends on how literally you want to take him." (ebd.: 267). An einer anderen Stelle des Romans hat Paul Auster - wie eingangs erwähnt - den Zusammenhang zwischen Sehen und Erzählen so formuliert: "The world enters us through our eyes, but we cannot make sense of it until it descends into our mouths."
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(ebd.: 122). Die Sichtbarkeit von Geschichte, so das Credo des Romans, ist eine Funktion des Erzählens, und das Erzählen funktioniert nicht ohne den Blickkontakt mit der außertextlichen Realität.
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m Julika Griem Universität Stuttgart
ZWISCHEN OBERFLÄCHE UND TIEFE: VEXIERBILDER DES FERNSEHENS IN ZEITGENÖSSISCHEN AMERIKANISCHEN ERZÄHLTEXTEN 1.
VORBEMERKUNGEN
Das Thema "Sehen in der Literatur" eröffnet literaturwissenschaftlicher Betrachtung ein verführerisches und verwirrendes Panorama. Man fühlt sich aufgefordert, zu Piatons Schattenbildern und zu Petrarcas Gipfelblick zurückzugehen. Man denkt - um die Vielfalt der Möglichkeiten auf englischsprachige Beispiele einzuengen - an die Augen der Geliebten in Shakespeares Sonetten, an Richardsons Schlüssellochperspektive, an die 'Schule des Sehens', durch die Austens und Eliots Liebende gehen müssen, um durch soziale Konventionen verschlüsselte Gefühle lesen zu lernen. Man erinnert sich an Poes Poetik des schiefen Blicks, an Sherlock Holmes Röntgenaugen und an die rhetorischen Nebelzonen, durch die Joseph Conrad seine Helden und Leser schickt, um sie 'sehend zu machen'. Man verliert sich in den Interieurs Oscar Wildes und Edith Whartons, verweilt bei den Farben der Blumen in Virginia Woolfs Texten und der Farbe des Geldes in Fitzgeralds The Great Gatsby. Man erkennt schließlich auch, wie ein europäisch-amerikanischer Kolonialismus ganze Literaturen unsichtbar gemacht hat, so daß Autoren wie Toni Morrison, Wole Soyinka und Salman Rushdie "Spiele im Dunkeln" spielen mußten, um gesehen zu werden (vgl. Morrison 1992). Auch in theoretischer und konzeptioneller Hinsicht präsentiert sich das "Sehen in der Literatur" als unübersichtliches Feld. Das Thema führt in das Dickicht jener Dialektik von Bild und Wort, deren spannende und gespannte Verhältnisse Philosophie und Ästhetik immer wieder neu als epistemologisches 'Drama' inszeniert haben: Bilder sind nicht bloß eine spezielle Art von Zeichen, sie sind vielmehr so etwas wie ein Schauspieler auf der Bühne der Geschichte, eine Gestalt oder ein Charakter von legendärem Status in einem historischen Zusammenhang, der den Geschichten entspricht und an ihnen beteiligt ist, die wir uns über den Gang unserer Entwicklung erzählen: einer Entwicklung von Geschöpfen, die 'nach dem Bilde' eines Schöpfers geschaffen sind, zu Wesen, die sich selbst und ihre Welt nach ihrem eigenen Bilde schaffen. (Mitchell 1990: 18).
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Das Überdenken tradierter Gewißheiten und Denkmuster ist ein Teil der Geschichte unserer Bildvorstellungen, die Mitchell und andere zu schreiben begonnen haben. So haben sich nach einem "linguistic" und einem "iconic turn" im Denken des 20. Jahrhunderts Worte und Bilder von absoluten Wesensunterscheidungen entfernt und aufeinanderzubewegt: Bilder werden heute nicht mehr als evidente Abbildungen, sondern als kulturelle Konstrukte untersucht; sie werden nicht allein einfach und unschuldig gesehen, sondern sie können und müssen auch wieder gelesen, entziffert, gedeutet werden. Texte wiederum, und gerade jene der Philosophie und der 'harten' Wissenschaften, müssen mit Bildern operieren, um Fakten zu Plausibilitäts- und Wahrheitsangeboten zusammenschweißen zu können. Der Sinn von Bildern wie von Texten, so scheint es heute, wird weniger aufgefunden und freigelegt als vielmehr hergestellt: Er ergibt sich, wie in der Figur der Metapher, durch Übertragung, durch Kategoriensprünge und ein Zusammenzwingen desjenigen, was keinesfalls immer zusammengehört hat. 1 Die Historisierung unserer Bildvorstellungen hat auch die Einsicht zutage gefördert, daß sich der neuzeitliche Hegemonieanspruch des Visuellen einer Unterdrückung und Funktionalisierung anderer Sinne verdankt. So ist uns heute bewußt, daß gerade jene klassischen Mythen, die allein vom Sehen zu erzählen scheinen, auch mit anderen Sinnen zu tun haben: Zu Narziß gehört die gern vernachlässigte Nymphe Echo, zu Odysseus' Listen der Gesang der Sirenen, zur Blendung Oedipus' der Hinweis auf Teiresias, der durch seinen geschärften Hörsinn zum blinden Propheten wird. Gegen die Inthronisierung des Sehens als 'Königssinn der Aufklärung' argumentierten im 18. Jahrhundert schon Rousseau in seinem Emile und Herder in seiner Schrift Über den Ursprung der Sprache. An ihre Plädoyers für den Tast- und den Hörsinn knüpfte auch die Konjunktur des Körpers und seiner sinnlichen Vielfalt in der Kulturtheorie der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts an. Das Nachdenken über das Sehen und die Bilder in der Literatur muß sich vor diesem Hintergrund als Teil einer Geschichte der Hierarchien und Synthesen begreifen, die immer wieder neu zwischen einzelnen Sinnesleistungen und Künsten errichtet werden; es muß den vielen Variationen der Laokoon-Problematik mit einem Instrumentarium nachspüren, welches erlaubt, nicht allein den Intermedialitäten der traditionellen Hochkünste, sondern auch denen neuerer Medien und durch diese popularisierter Gattungen gerecht zu werden.2 Über das Fernsehen als ein "Sehen in der Literatur" ist in diesem historischen Kontext noch nicht sehr gründlich nachgedacht worden. Dies hat nicht nur mit der relativen Jugend des Mediums, sondern auch damit zu tun, daß es seinen 'Sitz im Leben' auf eine sehr viel 'unsichtbarere' Weise eingenommen hat als beispielsweise der Film. Anders als dieser zeichnet sich das Fernsehen durch seine Unauffälligkeit
1
Einen zentralen Beitrag hat Mitchell mit seiner Iconology Überblick bietet Boehm (1994).
(1986) geliefert; einen guten
2
Zur Intermedialität als Forschungsprogramm vgl. Wolf (1996).
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und Anpassungsfähigkeit aus: Die kleine Mattscheibe bildet einen anderen perzeptiven Rahmen, eine andere Spiegelfläche und ein anderes Fenster zur Welt als die große Leinwand des Kinos. Während dieses schon in den zwanziger Jahren einen mächtigen kulturellen Apparat ausgebildet hatte, entwickelt sich das Fernsehen erst nach dem zweiten Weltkrieg zum Massenmedium. Und auch als solches ist es eben gerade kein 'Lichtspieltheater', sondern höchstens Heimkino. Auch wenn der Popcorn essende Kinozuschauer sich auf einen ersten Blick kaum vom erdnußgefütterten couch potato zu unterscheiden scheint, so 'vergessen sich' beide doch auf unterschiedliche Weise: Unterliegt der Kinozuschauer im dunklen Kinosaal weiterhin der sozialen Kontrolle eines öffentlichen Raums, so weiß sich der Fernsehzuschauer in seinem Wohnzimmer unbeobachtet. Als das Fernsehen in den fünfziger Jahren seinen Siegeszug beginnt, präsentiert es sich deswegen auch nicht als öffentliches Spektakel, sondern als Möbelstück, das sich möglichst unauffällig in die bestehenden Wohnzimmerlandschaften einfügen sollte: Es ist nicht überlebensgroß, sondern alltagsgerecht; es überwältigt nicht, sondern bietet sich als tragbarer Mitbewohner und Familienmitglied an. Im deutschen Sprachgebrauch führt diese Domestizierung und Anthropomorphisierung des Fernsehens so weit, daß der "Fernseher als Rezipient" mit "dem Fernseher als Apparat" zusammenfällt (Hachmeister 1993: 842): Wir haben uns mittlerweile offensichtlich so sehr an dieses Medium gewöhnt, daß es zu einem "angewachsenen Fernseher" geworden ist (Elsner/Müller 1988: 392). Während die alltägliche Erfahrung suggeriert, daß unser Wahrnehmungsapparat das 'Fern-Sehen' längst internalisiert hat, haben Medientheoretiker darauf hingewiesen, daß sich mit dem Fernsehen als erstem weitverbreiteten elektronischen Medium das Verhältnis von Sehen und sehendem Körper verändert. So entwirft z.B. Vivian Sobchack in Anlehnung an Fredric Jamesons einflußreiche Geschichtsphilosophie moderner Medien ein Szenario elektronischer Medienrezeption, in dem sich Körper und Körpererleben zu verflüchtigen scheinen: Dieses System verkörpert den Zuschauer/Benutzer in einer räumlich-dezentrierten, zeitlich unterdeterminierten und gleichsam 'körperfreien' Sphäre [...] Die elektronischen Medien werden [...] nicht als eine geschlossene und gestalthafte Projektion erfahren, sondern eher als eine disperse Übertragung [...] Entkörperlichung ist eine wesentliche Wirkung des elektronischen Raums. (Sobchack 1988: 425).
Wie andere postmoderne Medientheoretiker skizziert auch Sobchack einen kulturellen und gesellschaftlichen Prozeß, in dessen Verlauf die Körper und in diesen begründete Identitäten immer leichter und flexibler zu werden scheinen: Sie verflüchtigen sich von Tiefen an Oberflächen; sie definieren sich nicht mehr über Originale, sondern über Kopien, sie bauen auf Simulation statt auf Authentizität und organisieren ihre Wahrnehmungen nicht mehr referentiell, sondern intertextuell - an einem "Ort des Spielens und Ausspielens, wo Handlungen nicht mehr 'zählen', sondern 'verrechnet werden'" (Sobchack 1988: 426). Während manche Fürsprecher neuer elektronischer Kommunikationsformen die 'Unsichtbarkeit' von Körpern und Identitäten im Datennetz
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als Ausdruck demokratischer Freiheit und sozialer Mobilität begrüßen, sieht Paul Virilio - in skeptischerer Weise - die Zukunft in elektronischen "Sehprothesen" wie militärischen Suchsystemen und neuartigen Blindenbrillen. Hatte schon das Fernsehen versprochen, Fernes und Unsichtbares sichtbar zu machen, indem es dieses näher bringt, so stehen wir für Virilio nun vor der "unerhörten Erfindung eines Sehens, das ohne Sehen auskommt, das allmählich den Menschen in seinen Fähigkeiten, Wirklichkeit wahrzunehmen, zu ersetzen vermag" (Virilio 1991: 13).
2.
BLAUES ZWIELICHT: LITERARISCHE FERNSEHBILDER ZWISCHEN INTIMITÄT UND ÖFFENTLICHKEIT
Wo immer Literatur sich als Anwältin des "Menschen in seinen Fähigkeiten, Wirklichkeit wahrzunehmen" begreift, tritt sie dem Fernsehen gern skeptisch gegenüber. Gerade wenn literarische Texte antreten, Defizite aufzudecken, Kulturverfall zu beklagen oder das Recht des Körpers bzw. des Geistes einzufordern, gilt es allerdings im Auge zu behalten, daß Literatur, die sich als anthropologischer Kommentar zur Medienentwicklung begreift, immer auch von dieser beeinflußt, inspiriert oder gar in sie verstrickt ist. In Sachen Fernsehen macht es sich europäische Literatur häufig recht einfach. So fordert z.B. der Erzähler in Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht gleich zu Beginn dazu auf, sich von der verachteten Ablenkung abzuwenden: Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: "Nein, ich will nicht fernsehen!" Heb die Stimme, sonst hören sie's nicht: "Ich lese! Ich will nicht gestört werden!" Vielleicht haben sie's nicht gehört bei all dem Krach; sag's noch lauter, schrei: "Ich fang gerade an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen!" (Calvino 1986: 7).
Wo tatsächlich Fernsehbilder in einen Text 'hineingeraten', lassen diese - wie z.B. in Botho Strauß' Roman Die Widmung - zumeist einen schalen Nachgeschmack von Leere und Sinnlosigkeit zurück: Der Fernsehschirm strahlte unentwegt auf ihn ab. Solange noch keine Sendungen liefen, starrte er das Testbild an, gerade so, als sei es ein Vexierbild, das man auf etwas anderes hin durchschauen müsse. Zu jeder vollen Stunde hörte er die gesprochenen Nachrichten. Abends streifte er dann, wie immer, durch die Programme, im ruhelosen Wechsel zwischen Ost und West, bemüht, von keiner Sendung den Faden zu verlieren. (Strauß 1977: 125).
Strauß' Text beansprucht hier, das Geflimmer und Geschwätz des Fernsehens zu durchschauen, indem er konstatiert, daß das Testbild nicht zu durchschauen ist. Der Konjunktiv des Erzählers zeigt, daß das Fernsehbild eben gerade kein Vexierbild,
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sondern ein Trugbild ist: Es gibt weder Rätsel auf noch bietet es neue Perspektiven; es bleibt grundlos und eröffnet höchstens einen Abgrund hintergrundloser Welten.3 Auch in der amerikanischen Literatur finden sich viele Beispiele für eine kulturkritische Sicht auf das Fernsehen. So beginnt John Gardners Roman October Light mit einer Salve von Schüssen, die ein wütender Puritaner auf den Fernseher seiner Schwester abgibt: That was one reason that in the darkness behind him the television gaped like a black place where once a front tooth had hung. He'd taken the twelve gauge shotgun to it, three weeks ago now, for its endless, simpering advertising and, worse yet, its monstrously obscene games of greed, the filth of hell made visible in the world: screaming women, ravenous for refrigerators, automobiles, mink coats, ostrich-feather hats; leering glittering-toothed monsters of ceremonies — for all their pretty smiles, they were vipers upon the earth, those panderers to lust, and their programs were blasphemy and high treason. He couldn't say much better for the endless, simpering dramas they put on, now indecent, now violent, but in any case an outrage against sense. So he'd loaded the shotgun while the old woman, his sister, sat stupidly grinning into the flickering light [...] and without a word of warning, he'd blown that TV screen to hell, right back where it came from. (Gardner 1977: 3f.).
Da die amerikanische Literatur allerdings länger mit einem potenten Fernsehen vertraut und ihren populärkulturellen Quellen weniger entfremdet ist, zeigen gerade neuere Texte auch, daß Literatur im Fernsehzeitalter nicht allein in der splendid isolation traditioneller Kulturkritik überleben kann: "... one at some point confronts television, which seems at once everywhere and nowhere, substance and shadow, defining our cultural moment and distracting us from it" (Simmons 1997: 1). So inszenieren viele amerikanische Erzähltexte ab 1960 - anders als Botho Strauß - das Fernsehen tatsächlich als Vexierbild: Sie entwerfen Fernsehbilder, die sich nicht auf einen ersten Blick durchschauen lassen, sondern erst einmal betrachtet und wiedergelesen werden wollen; sie zwingen ihre Leser, diese Bilder länger 'anzuschauen' als ein reales Fernsehbild und machen damit das Unsichtbare des Fernsehens ein wenig sichtbarer.4 Viele dieser Texte können das Fernsehen auf ungewohnte Weise in unser Blickfeld rücken, weil sie daran erinnern, daß nicht allein die Bilder, sondern auch die Töne des Fernsehens die "perspective" und die "voice" amerikanischer Prosa beeinflusst haben. So scheint sich z.B. der autobiographische Erzähler in Norman Mailers Armies
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Strauß ist als einer der emphatischsten Fernsehkritiker der deutschen Literatur hervorgetreten: "Wenn man nur aufhörte, von 'Kultur' zu sprechen, und endlich kategorisch unterschiede, was die Massen bei Laune hält, von dem, was den Versprengten (die nicht einmal eine Gemeinschaft bilden) gehört, und das (sie!) beides voneinander durch den einfachen Begriff der Kloake, des TV-Kanals für immer getrennt ist" (Zit. in Hachmeister 1993: 848); zu weiteren Fernsehbildern der deutschen Literatur vgl. Japp (1996).
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Zum Unsichtbaren bzw. 'blinden Fleck' des Fernsehens vgl. auch Weber (1994).
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of the Night (1968) seine Aufgabe mit einer Dokumentarfilmkamera zu teilen (Mailer 1968: 133), während die Texte William Gaddis' das Fernsehen als Quelle fingierter Mündlichkeit nutzen, als stimmliches Material jener vielschichtigen Partituren aus "Sprachmüll", die Gaddis vor allem in seinem Roman J.R. (1971) zu einem genialen "voiceprint" Amerikas komponiert hat. Auch in dem Roman Carpenter's Gothic (1985) tragen gerade die Geräusche eines laufenden Fernsehers dazu bei, die Phantasien und Ängste einer frustrierten Ehefrau auf unmerkliche Weise in eine Medienwelt übergehen zu lassen: His head dropped there, left her face ashen over his shoulder in the light playing up the glistening strain of his back from the screen where a demoniac laugh, low, suppressed, and deep, came uttered it seemed at the very keyhole of the chamber door. As she gazed, the unnatural sound was reiterated, and she knew it came from behind the panels. As though her first impulse was to rise, and her next to cry out, something gurgled and moaned, and steps retreated up the gallery toward the third story staircase. The door came open under her trembling hand and there was a candle burning just outside, left on the matting in the gallery where the air was quite dim, as if filled with smoke. Something creaked', it was a door ajar and the smoke rushed from it in a cloud. Within the chamber tongues of flame darted round the bed: the curtains were on fire: the very sheets were kindling. In the midst of blaze and vapour Orson Welles lay stretched motionless, in a deep sleep. [H.d.V.] (Gaddis 1985: 55).
Die Grenzverwischung dieser Passage verdankt sich unbestimmten Personalpronomina und einer ambivalenten Deixis: Die Geräusche des Films scheinen durch das Haus der Fernsehenden zu wandern, und auch als das Fernsehen als Quelle des "gothic effect" durch die Nennung des Namens "Orson Welles" preisgegeben wird, hat es immer noch auf unheimliche Weise den Anschein, als habe sich der Schauspieler zwischen die beiden Romanfiguren in ihr Ehebett geschoben. Gaddis' Roman führt in dieser Passage exemplarisch vor, was das Fernsehen für postmoderne Autoren der sechziger und siebziger Jahre interessant gemacht hat: Als "ontological pluralizer" (McHale 1992: 125) und neues Vehikel literarischer mise-enabymes bot dieses Medium die Möglichkeit, epistemologische Verwirrung zu stiften. Nicht nur in Gaddis' Carpenter's Gothic ist die Intimsphäre der amerikanischen Nation ein beliebter Schauplatz solcher durch experimentelle Erzählweisen ausgelösten Verunsicherung: Hier ließ sich besonders gut illustrieren, wie mit der wachsenden Popularität des Fernsehens "Distanzmechanismen zerstört, öffentliche und private Sphären vermischt" und Wirklichkeitsauffassungen verändert wurden (Hachmeister 1993).5 So läßt Don DeLillo in seinem Roman Libra (1988) Präsident Kennedy allnächtlich durch die Ehebetten hingerissener Fernsehzuschauerinnen flanieren, und in Robert Coover's Erzählung The Babysitter (1969) werden die Wahrnehmungseindrücke eines zappenden Teenagers und die sexuellen Wunschvorstellungen eines Familienvaters und einiger 5
Zu der Frage einer fernsehbedingten Veränderung von öffentlichem und privatem Leben vgl. exemplarisch Meyrowitz (1985).
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halbwüchsiger Verehrer so montiert, daß nicht mehr zu entscheiden ist, was an diesem Abend eigentlich geschehen ist. Thomas Pynchon treibt diese durch das Fernsehen ausgelöste Verwirrung auf einen komödiantischen Höhepunkt, wenn er in einer berühmt gewordenen Szene aus seinem Roman The Crying of Lot 49 (1967) eine erotische Begegnung vor laufendem Fernseher inszeniert, in der das Medium den Akt stimuliert und strukturiert. Die Dinge geraten hier buchstäblich in Bewegung, als der Anwalt Metzger mit der Protagonistin des Romans, Oedipa Maas, einen Film ansieht, bei dessen Ausstrahlung offensichtlich die Rollen vertauscht wurden. Metzger kann die chaotische Szenenfolge rekonstruieren, weil er in eben diesem Film als Kinderstar mitgewirkt hat, und beginnt mit Oedipa ein Spiel, in dem diese für jede falsche Prognose über den Ausgang des Films ein Kleidungsstück ablegen muß. Die bereits komische Doppelung von Kinderstar und Liebhaber sowie Oedipas Idee, der drohenden Entblößung durch das Übereinanderziehen möglichst vieler Kleidungsstücke entgegenzuwirken, setzt schließlich eine durch zahlreiche Pannen, Ablenkungen und Werbepausen unterbrochene Verführung in Gang, in der die sexuelle Erregung beider Partner durch den Rhythmus des Fernsehens orchestriert wird: So it went: the succession of film fragments on the tube, the progressive removal of clothing that seemed to bring her no nearer nudity [...] Now and then a commercial would come in [...] Oedipa would scowl back, growing more and more certain [...] that they among all possible combinations of new lovers had found a way to make time itself slow down. [...] She may have feilen asleep once or twice. She awoke at last to find herself getting laid; she'd come in on a sexual crescendo in progress, like a cut to a scene where the camera's already moving. [...] Her climax and Metzger's, when it came, coincided with every light in the place, including the TV tube, suddenly going out, dead, black. (Pynchon 1967/1979: 27).
Am hinausgezögerten Höhepunkt dieser Szene zeigt sich indessen, daß auch viele komische Darstellungen einer vom Fernsehlicht beleuchteten Intimsphäre apokalyptisch flackern. Die tote, schwarze Dunkelheit am Ende des von Pynchon geschilderten Aktes erinnert an die schwarze, zahnlose Stelle, die der zerschossene Fernseher in Gardners October Light hinterlassen hat, und symbolisiert die epistemologische Dunkelheit, in der Oedipa sich befindet, weil sich ihre eigene Geschichte gerade nicht rekonstruieren läßt wie die deplazierten Szenen des Fernsehfilms. Mit Untertönen paranoider Verschwörungs- und Weltuntergangsphantasien versehen auch andere Texte der sechziger und siebziger Jahre ihre komischen Darstellungen entfesselten Fernsehkonsums. So bebildert z.B. das Fernseh-Szenario, vor dem John Updike in Rabbit Redux (1972) seinen Protagonisten und dessen Ehefrau in eine neue erotische Dimension vorstoßen läßt, die historischen Ereignisse als eine zerschossene und lebensfeindliche Mondlandschaft: Janice stands in front of the television set, the screen green ashes, a dead fire. [...] To help them see when darkness comes, she turns on the set without sound, and by the bluish flicker of module models pantomiming flight, of riot troops standing before smashed
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JULIKA CxRTEM supermarkets, of a rowboat landing in Florida having crossed the Atlantic, of situation comedies and western melodramas, of great grey momentary faces unstable as quicksilver, they make love again, her body a stretch of powdery sand, her mouth a loose black hole, her eyes holes with sparks in them, his own body a barren landscape lit by bombardment, silently exploding images no gentler than Janice's playful ghostly touches, that pass through him and do him no harm. (Updike 1972: 69f.).
In all diesen fernsehbeleuchteten erotischen Schlüsselszenen rückt nicht allein die Sphäre der Öffentlichkeit erregend nahe an die Betten der Nation. Verführerisch wie auch bedrohlich erscheint hier vor allem, daß sich neue Formen des Zusammenspiels von menschlichem Körper und Maschine ergeben, die auch Leben und Tod auf eine stimulierende und neuartige Weise verkoppeln.
3.
UNSCHULDIGE BLICKE? FERNSEHENDE KINDER BEI RICHARD FORD UND DON DELILLO
Auch in Thomas Pynchons 1990 erschienenem Roman Vineland läßt sich noch einmal nachlesen, daß das Fernsehen in den sechziger und siebziger Jahren als Requisit sexueller Stimulation genutzt wurde. Pynchon bilanziert in diesem fernsehgesättigten Text die Geschichte der Studentenrevolte als Mediengeschichte und läßt beispielsweise seine Heldin Frenesi Gates, Frontfrau eines radikalen Filmkollektivs mit einer politisch unkorrekten Vorliebe für Männer in Uniformen, in Vorspielen für ihre verhängnisvolle Affäre mit einem faschistoiden Regierungs-Agenten zu alten Polizeiserien masturbieren. In Szenen wie dieser entzaubert Pynchon nicht nur die sexuellen und politischen, sondern auch seine eigenen literarischen Experimente der sechziger und siebziger Jahre so nachhaltig, daß Kritiker diesen Roman als Offenbarungseid gelesen haben, mit dem sich einer der versiertesten Diagnostiker amerikanischer Populärkultur an das Fernsehen verkauft zu haben schien. Die in Vineland auf die Spitze getriebene Entzauberung und Banalisierung findet sich in vielen Romanen und Erzählungen der achtziger Jahre. In der perfektionierten Fernseh-Demokratie der Reagan-Ära scheint sich die experimentelle Euphorie der vorangegangenen Jahrzehnte abgenutzt zu haben. Für eine jüngere Generation von Autoren, die, anders als die postmodernen 'Gründerväter', mit dem Medium aufgewachsen sind, ist das Fernsehen kein Fremdkörper mehr, sondern selbstverständlicher Teil der Lebenswelt. Die metafiktionalen Verwirrspiele und die ästhetischen Effekte der ehemals neuartigen Intermedialität von Fernsehen und Literatur haben sich erschöpft. Das Fernsehen scheint nun allenfalls als allgegenwärtiges Requisit eines wiedererstarkenden
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Realismus ("new realism") zu taugen, dem seine Kritiker vorwerfen, durch präsentisches Erzählen sowie minimalistisch-'flache' Weltentwürfe und Charaktere einer auch durch das Fernsehen bedingten Geschichtsvergessenheit zu huldigen.6 Auch in den sogenannten neo-realistischen Romanen und Erzählungen Raymond Carvers, Bobbie Ann Masons, Richard Fords, Frederick Barthelmes und anderer finden sich allerdings - wenn auch oft erst auf einen zweiten Blick - intermediale Vexierbilder, die davon zeugen, daß Literatur sich weiterhin mit dem Medium Fernsehen auseinandersetzt und dabei auf unterschiedliche und manchmal überraschende Darstellungs- und Argumentationsmuster zurückgreift. Daß gerade Texte, denen man unterstellt hat, sich an die Bildwelten einer Fernseh- und Konsumgesellschaft verloren zu haben, darüber reflektieren, wie Literatur angesichts der massiven Konkurrenz von elektronischen Medien wirken kann, läßt sich exemplarisch an Richard Fords Erzählung Rock Springs zeigen. Ford läßt in diesem Text einen kleinen Jungen die Mattscheibe eines Fernsehers mit einem Spielauto beschädigen, "making a Scratch that no one watching the screen could miss" (Ford 1987: 15). In dieser unspektakulären Szene verbirgt sich ein verstecktes literarisches Vexierbild des Fernsehens, das die von Sobchack und anderen diagnostizierte Verflachung elektronischer Bildwelten umkehrt: Während die elektronischen Bewegungsimpulse des Fernsehens dem Bildschirm keine Dimension mehr "ein-schreiben", sondern nur seine Oberfläche "be-schreiben" (Sobchack 1988: 426), erscheint der Kratzer wie ein Zeichen, das sich dem Fernsehbild nicht nur einschreibt, sondern es sogar zu überschreiben vermag. Als solche 'Überschreibung' kann die kindliche Kratzspur auf der Mattscheibe als Allegorie der Literatur im Fernsehzeitalter gelesen werden: als Bild dafür, welche Spur die Literatur in der Medienwelt der achtziger Jahre hinterlassen kann. Wo Spuren hinterlassen werden, entsteht Geschichte (vgl. auch Assmann 1996). Wenn Ford - entgegen kulturkritischer Visionen vom fernsehbedingten "Verschwinden der Kindheit" - gerade ein Kind jene Spur produzieren läßt, die das Fernsehbild überschreibt, so verweist dies auch auf eine Kindheit der Literatur: Die Kratzspur wirkt archaisch wie eine Höhlenzeichnung und scheint eher als ein gedruckter Text in der Lage, den 'flow' der elektronischen Bilder und die endlose Abfolge der Sendungen und Programme zu überdauern. Der Kratzer des Kindes scheint somit nahezulegen, daß die Literatur dem Gedächtnisverlust des Fernsehzeitalters entgegenwirken kann, wenn sie sich auf ihr eigenes Gedächtnis und dessen frühe Ausprägungen besinnt. Fords versteckte Allegorie zeigt allerdings auch, daß literarische Texte durch eine Hommage an die Tradition der Schrift dem Fernsehzeitalter nicht entkommen können: Denn als ebenso störende wie unauslöschliche 'Gravur' der spiegelnden Mattscheibe ist die Spur des Kratzers Teil einer Kippfigur, eines Spiels von Vordergrund und Hintergrund, das - je nach Fokussierung - auch das Fernsehbild immer wieder ins Spiel bringt.
6
Fluck (1992) und Simmons (1997) führen eine differenziertere Anwendung der phänomenologischen Metaphorik von Oberfläche und Tiefe auf den "new realism" vor. Zur neo-realistischen Kurzgeschichte vgl. auch Karlsson (1990).
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Ein ähnliches televisuelles Vexierbild wie in Fords Erzählung findet sich in Don DeLillos Roman White Noise (1986). Auch hier berührt ein kleiner Junge unvermittelt die Mattscheibe eines laufenden Fernsehers: Als Wilder, der Sohn des Protagonisten Jack Gladney, plötzlich seine Mutter auf dem Bildschirm erkennt, hinterläßt er seinen Handabdruck auf der staubigen Mattscheibe, als wolle er ihr Bild durch seine Berührung 'bannen' (DeLillo 1986: 105). Sehr viel expliziter als in Fords Erzählung wird in dieser Szene ein Kind (mit dem sprechenden Namen Wilder) als Versuchsperson in einem literarischen Medienexperiment eingesetzt. Wenn Jack Gladney seinen Sohn, der ohne Fernsehen aufwachsen soll, an anderer Stelle als "wild child, a savage plucked from the bush, intelligent and literate but deprived of the deeper codes and messages that mark his species as unique" (ebd.: 50) beschreibt, wird deutlich, wie hier die kindliche Wahrnehmung als tabula rasa eingesetzt wird: Kinder sind die unschuldigen Wilden der Mediengesellschaft, die - zumindest in einem frühen, 'unverbildeten' Alter - auf das Fernsehen so aufschlußreich reagieren wie Eingeborene auf die Grammophone der Kolonisatoren. So ist es kein Zufall, daß in der Szene, in der die Gladneys plötzlich und unvorbereitet ihre Ehefrau und Mutter Babette im Fernsehen sehen, auch ein quasi ethnologischer Beobachter anwesend ist, der die Reaktionen der fernsehenden Familie protokolliert. Mit Jack Murray hat DeLillo eine frühe und hellsichtige Parodie eines Professors für cultural studies geschaffen. Murray unternimmt Exkursionen in Supermärkte, philosophiert über die meist-photographierte Scheune in Amerika, forscht über den Zusammenhang von Unabhängigkeitstag und Autounfällen und versucht, dem medienkritischen Gladney beizubringen, wieder wie ein Kind fernzusehen (ebd.). Daß diese populärkulturellen Lektionen die Wahrnehmung der Gladneys beeinflussen, zeigt sich, als die Familie gebannt auf das Bild Babettes starrt und die für diesen Roman typische Mischung aus medialer Bedrohung und Verheißung einen kritischen Punkt zu erreichen scheint: It was the picture that mattered, the face in black and white, animated but also flat, distanced, sealed off, timeless. It was but wasn't her. [...] Waves and radiation. Something leaked through the mesh. She was shining a light on us, she was coming into being, endlessly being formed and reformed as the muscles in her face worked at smiling and speaking, as the electronic dots swarmed. We were being shot through with Babette. Her image was projected on our bodies, swam in us and through us. Babette of electrons and photons, of whatever forces produced that grey light we took to be her face. [...] I tried to tell myself it was only television — whatever that was, however it worked — and not some journey out of life or death, not some mysterious separation. (DeLillo 1986: 104f.).
Auch in dieser Passage konstruiert DeLillo auf einen ersten Blick jene kindlichstaunende Perspektive auf das Fernsehen, die der ethnographische Beobachter Murray seinen "Versuchspersonen" verordnet hatte. Gladney und seine Familie wirken wie Angehörige einer primitiven Gesellschaft, in der Repräsentationen animistisch belebt
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erscheinen: Wenn das Fernsehbild Babettes zugleich anwesend und abwesend, lebendig und tot wirkt, scheint ein magisches Potential bildlicher Repräsentation wiederhergestellt. Es hat zunächst den Anschein, als versuche Gladney, diesen animistischen Effekt zu entzaubern. Sein wissenschaftliches Vokabular suggeriert, daß sich die magisch wirkende Erscheinung Babettes auf physikalische Grundprinzipien reduzieren läßt: "waves and radiation", "electronic dots", "electrons and protons".7 Gleichzeitig inszeniert DeLillo in dieser Szene aber eine Sehweise, die die Pose des wissenschaftlich-durchdringenden Blicks durchkreuzt: Vage Formulierungen wie "something leaked" und "whatever forces" erzeugen einen unheimlichen Effekt, der dadurch verstärkt wird, daß Gladney das Fernsehbild seiner Frau gerade nicht zu durchschauen vermag, sondern das Gefühl hat, als werde er von ihrem Bild wie von Röntgenstrahlen durchschossen. Mit dieser Beobachtung lösen sich die Körpergrenzen des fernsehenden Ehemannes und seiner im Fernsehen gezeigten Frau in beunruhigender Weise auf. Gladney erfährt diese Auflösung sowohl als mystische Verschmelzung als auch als "mysterious Separation", als bedrohliche Zersetzung. Durch die kalkulierte Kombination aus wissenschaftlich-präzisem und verdunkelndem Vokabular verkörpert das Fernsehen in dieser Szene zugleich eine atmosphärische Gefahr wie auch ein spirituelles Potential. Babette erscheint wie eine fleischgewordene Dosis einer ominösen Strahlung, aber auch wie ein Wunder: wie eine televisuelle Vision aus jenem Reservoir quasi-religiöser Offenbarungen, welche Gladney auch in den Werbeslogans und Fernseh-Jingles vermutet, die er seine Kinder im Schlaf wiederholen hört (DeLillo 1986: 155). Wenn sich die Familie in dieser Szene um den Fernseher wie um einen Altar versammelt, wirkt Babette nicht zufällig wie eine televisionäre Madonna. Henry Adams hatte in seinem berühmten Kapitel The Virgin and the Dynamo noch die Symbole von Jungfrau und Dynamo gegenüberstellen können, um den historischen Abgrund zwischen den Kräftefeldern von Mittelalter und Moderne zu illustrieren. DeLillo entwirft in seinem Roman achtzig Jahre später eine 'Tele-Ikone', ein säkularisiertes elektronisches Heiligenbild, aus dem sich die Materialität des Fernsehzeitalters gerade nicht mehr herauslesen läßt.
4.
BLINDES SEHEN: RAYMOND CARVERS AUFKLÄRUNG ÜBER DAS FERNSEHEN
Während in DeLillos Roman der durchdringende Blick auf die Mattscheibe das Fernsehen mit zwiespältiger Bedeutung auflädt, fungiert das Medium in den Texten Raymond Carvers zumeist als blindes Fenster, das allenfalls einen Ausblick in eine sinnentleerte Welt bietet. Carvers Erzählungen sind minimalistisch genannt worden, weil sie, anders als die Texte Hemingways, nicht mehr versprechen, daß unter der
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Zum naturwissenschaftlichen Vokabular des Romans vgl. auch Beer (1996: 181f.).
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Oberfläche der Dingwelt rettende Sinnüberschüsse und Einsichten lagern, sondern stattdessen die ganze Dürftigkeit entfremdeter und fremdbestimmter Leben an die Oberfläche treiben und den Lesern den short-story-typischen Trost einer plötzlichen Wendung, eines "glimpse" auf ein besseres oder zumindest authentischeres Leben verwehren. 8 Daß das Fernsehen zur Grundausstattung dieses minimalistischen Laborversuchs gehört, zeigen die Erzählungen Preservation (Carver 1984) und Why Don't You Dance (Carver 1989b). Während das Fernsehgerät in der ersten Geschichte alle noch verbliebene Lebenskraft eines arbeitslosen Mannes aufzusaugen scheint, kehrt Carver in Why Don 't You Dance das Leben eines ebenfalls gescheiterten Protagonisten von innen nach außen: Nach der Trennung von seiner Frau hat dieser seine gesamte Habe in den Vorgarten gestellt, um sie zu verkaufen. Inmitten dieser absurden Kulisse verlassener Intimität sitzt der Mann auf dem Sofa und trinkt. Der Fernseher läuft auch im Vorgarten, denn der Mann hat ihn mit Hilfe eines Verlängerungskabels angeschlossen, das wie eine letzte Nabelschnur zu seinem vorherigen Leben erscheint. Als ein junges Paar vorbeikommt, das sich für die Möbel interessiert, gerät die Interaktion zwischen diesen beiden zu einer deprimierenden Wiederholung des gescheiterten Lebens, das der "yard sale" dokumentiert: Während das Mädchen ihren Freund in das Ehebett ziehen will und schließlich mit dem älteren Mann tanzt, setzt sich ihr Freund vor den Fernseher und trinkt. Vor dem Hintergrund solcher Fernseh-Szenen wirkt es überraschend, wenn Carver in der Erzählung Cathedral (Carver 1984) das Medium weniger als Emblem gescheiterter, sondern eher als Vehikel gelingender Kommunikation einsetzt. Cathedral handelt davon, wie sich das monotone Leben eines Ehepaars durch den Besuch eines blinden Freundes ändert. Obwohl auch hier der Ehemann zunächst das Fernsehen einschaltet, um sich der Konversation zu entziehen, eröffnet sich in diesem Text jedoch gleich zu Beginn ein vielfältigeres psychologisches und kommunikatives Szenario als in den meisten anderen Erzählungen Carvers. Im Verlauf des Textes kommen sich vor allem die beiden Männer näher. Der diese Entwicklung auslösende Wendepunkt ereignet sich, als der Ehemann und Ich-Erzähler zum zweiten Mal das Fernsehen einschaltet, weil das Gespräch zu versickern droht. Während die Ehefrau die Geste ihres Mannes als Affront gegen den Blinden deutet, erklärt dieser überraschenderweise, daß er zwei Fernsehgeräte besitzt, am liebsten Farbfernsehen schaut und sogar erkennt, daß sich auch seine Gastgeber einen Farbfernseher angeschafft haben. Die ungewohnte Situation, mit einem Blinden fernzusehen, stört sowohl die Fernseh-Routine des Erzählers wie auch die televisuelle Ikonographie von Carvers Erzählungen: Anders als in den oben erwähnten Texten ergibt sich in Cathedral ein Fernsehabend der besonderen Art, der nicht einlullt, sondern Augen öffnet. Das deutet sich bereits dadurch an, daß die beiden Männer nicht "your run-of-the-mill TV fare" (Carver 1984: 222),
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Zur Metapher des "glimpse" vgl. Carver (1989: 26), Brown (1989/90: 132) und Clarke (1990). Zu Hemingway als Vergleichsgröße vgl. Brown (1989/90: 131f.), Clarke (1990: 108ff.) und Fluck (1992: 70ff.).
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sondern ein englisches Bildungsprogramm über europäische Kathedralen sehen, das den Erzähler zunächst überhaupt nicht interessiert. Eine weitere verfremdende Störung der Fernseh-Routine ergibt sich, als dem Erzähler bewußt wird, daß sein Gast nicht fernsieht, sondern -hört: He was leaning forward with his head turned at me, his right ear aimed in the direction of the set. Very disconcerting. Now and then his eyelids dropped and then they snapped open again. Now and then he put his fingers into his beard and tugged, like he was thinking about something he was hearing on the television. (Carver 1984: 222).
Diese ungewohnte Fernseh-Situation setzt zwischen den beiden Männern ein nahezu philosophisches Gespräch über die Rezeption von Fernsehbildern in Gang, in dem der Blinde seinen sehenden Gastgeber ein Sehen über das Fernsehen hinaus lehrt. Carver strukturiert diesen fast parabelartigen Erkenntnisprozeß durch zwei unterschiedliche Modelle der Bilderzeugung und Bildbeschreibung. So stehen zunächst jene Fernsehbilder im Mittelpunkt, die allein der Erzähler sehen kann und die ihn dazu veranlassen, seinem blinden Gast eine Kathedrale näher zu beschreiben. Da ihn aber Kathedralen im Grunde nicht interessieren und das Gespräch durch den Rhythmus des Sprechers und der Fernsehbilder dominiert wird, gelingt es ihm nicht, dem blinden Mann das Bild und die Idee einer Kathedrale zu vermitteln: "I wasn't getting through to him" (ebd.: 225). Weil sich durch Beschreibung keine Verständigung ergibt, schlägt der Blinde vor, gemeinsam eine Kathedrale zu zeichnen. Als der Ehemann zögerlich beginnt, legt der Blinde seine Hand auf die Hand seines Gastgebers und folgt deren zeichnender Bewegung. Zwischendurch folgt er mit seinen Fingern den Linien des Kugelschreibers auf dem groben Papier und legt dann seine Hand wieder auf die Hand des Zeichnenden. Nachdem sich für ihn durch diesen Akt gemeinsamen Zeichnens zum ersten Mal das Bild einer Kathedrale ergibt - das Fernsehprogramm ist längst beendet -, fordert er den Sehenden auf, seine Augen zu schließen und blind weiterzuzeichnen. Diese Annäherung an die Wahrnehmungsweise des Blinden vermittelt dem Erzähler eine Epiphanie, die Carvers andere Erzählungen konsequent vermeiden: "It was like nothing else in my life up to now" (ebd.: 228). Carvers narrative Gegenüberstellung von televisuellem Wahrnehmungsbild und gezeichnetem Vorstellungsbild legt eine eindeutige Wertung nah: Während die im Fernsehen gezeigten Kathedralen auch durch die Beschreibung des Sehenden für den Blinden nicht als Idee und inneres Bild faßbar werden, eröffnet sich durch die gemeinsam angefertigte Zeichnung ein Imaginationsraum, der auch die Verständigung der beiden Männer beflügelt. Carver knüpft mit dieser erzählten Überwindung des Fernsehens durch eine Zeichnung an den aufklärerischen Diskurs über die Blindheit an. Dieser wurde im 17. Jahrhundert durch das sogenannte Molyneux-Experiment inspiriert, das viele Philosophen beschäftigt und ein großes Interesse an öffentlichen Star-Operationen nach sich gezogen hat. In dem nach einem englischen Arzt benannten Gedankenspiel wurde darüber spekuliert, ob ein Blindgeborener, der durch Tasten gelernt hat, einen
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Kubus von einer Kugel zu unterscheiden, nach einer Operation, die ihn sehend gemacht hat, die beiden Gegenstände allein durch den Sehsinn unterscheiden und richtig bestimmen kann. 9 Carvers Erzählung lehnt sich allerdings vor allem an Diderots 1749 erschienene Lettre sur les aveugles und eine 33 Jahre später veröffentlichte Addition an, die den theoretischen Spekulationen über die Arbeitsteilung und Synchronisierbarkeit der Sinne sowie dem praktisch-medizinischen Interesse eine poetologische Wende gab. Ähnlich wie die Erzählung Carvers ist auch Diderots Schrift über die Blinden zweischrittig strukturiert: Während im Mittelpunkt der Lettre der blinde Mathematiker Nicolas Saunderson steht, geht es in dem Nachtrag um die erblindete Mélanie de Salinac. Wie in Cathedral verwandelt auch bei Diderot der zweite Blick auf die Blindheit einen Mangel und eine Behinderung in ein Potential und eine erkenntniskritische Metapher. Schien schon der Mathematiker Saunderson, wie Carvers Blinder, der mit seinem Finger die Linien auf dem Papier verfolgt, in der Lage, 'mit seiner Haut zu sehen', so erhält die blinde Frau Züge einer "Allegorie der Poesie", in welcher der "Mythos vom blinden Visionär" für die romantische Imagination wiederaufersteht (Utz 1994: 380). Carvers Erzählung erinnert schon allein durch den langen Bart des blinden Besuchers an Teiresias und seine romantischen Nachfahren. Der blind fernsehende Gast in Cathedral läßt sich aber auch deswegen als Allegorie literarischer Imagination deuten, weil die Erzählung nicht nur dem Protagonisten, sondern auch dem Autor Carver ein Offenbarungserlebnis verschafft hat. Während der Ich-Erzähler am Ende das Gefühl hat, daß sich Wohnzimmer und Haus auf nie gekannte Weise öffnen ("I didn't feel like I was inside anything"), notiert Carver später, daß ihm mit dieser Erzählung ein entscheidender Durchbruch gelungen sei: "There was an opening up when I wrote that story" (Carver 1989a: 204). Vor diesem Hintergrund läßt sich das gemeinsam gezeichnete Bild der Kathedrale nicht allein als ideales Vorstellungsbild, sondern auch als Schreibszene lesen. Aus diesem Blickwinkel wäre die zeichnerische Kooperation von Blindem und Sehendem auch ein poetologisches Offenbarungserlebnis, in dem nicht, wie so häufig, das 'face-to-face' mündlicher Kommunikation, sondern das 'hand-on-hand' der gemeinsamen Zeichnung Unmittelbarkeit und Verständigung signalisiert: eine Art zu schreiben, die gerade nicht den einsamen, von seinem Werk entfremdeten Autor, sondern Körperlichkeit und Gemeinschaft suggeriert; nicht ein fertiges, fremdgewordenes Schriftprodukt, sondern einen gemeinsamen Akt handwerklich anmutender Kooperation. Carver kombiniert somit seinen Rückgriff auf die romantische Tradition mit dem Appell an ein handwerkliches Ethos, das, wie bereits Ruskins und Morris' Reflexionen über Kathedralen, solipsistischen Individualismus um eine gemeinschaftliche Komponente ergänzt. Diese Kombina-
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Zum Topos des Blinden in Aufklärung und Romantik siehe auch Manthey (1983: 193-209), Paulson (1987) und Utz (1994).
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tion macht die Erzählung Cathedral zu einem optimistischen Schlußstein der gleichnamigen Sammlung, deren andere Erzählungen - wie eine Kathedrale ohne Gläubige allein vom Verlust jeglicher Gemeinschaft erzählen.10
5.
SERIENMÖRDER: DIE GEWALT DES FERNSEHENS BEI BRET EASTON ELLIS, STEPHEN WRIGHT UND THOMAS PYNCHON
Für Raymond Carver schaffte die traditionsbildende Funktionalisierung des Mediums Fernsehen in Cathedral einen Durchbruch, der seiner minimalistischen Poetik eine neue Perspektive eröffnete. In einigen Texten jüngerer amerikanischer Autoren scheinen sich die perfekten Illusionsräume immer potenterer Medienwelten hingegen nur noch mit Gewalt durchbrechen zu lassen. So lesen wir beispielsweise in Bret Easton Ellis' Skandal-Roman American Psycho (1990) von einem zwanghaft fernsehenden Wallstreet-Banker namens Bateman, dessen grauenerregende Morde von dem zynischen Chor täglicher Talk-Show-Rituale instrumentiert werden. Den Mittelpunkt von Batemans Wohnung, die im zweiten Kapitel vorgestellt wird, bildet eine innenarchitektonische Installation, eine Medien- und Wohnlandschaft, mit der Ellis' Text die Psyche und Taten des Protagonisten antizipiert: Over the marble and granite gas-log fireplace hangs an original David Onica. It's a sixfoot-by-four-foot portrait of a naked woman, mostly done in muted grays and olives, sitting on a chaise longue watching MTV, the backdrop a Martian landscape, a gleaming mauve desert scattered with dead, gutted fish, smashed plates rising like a sunburst above the woman's yellow head, and the whole thing is framed in black aluminum steel. The painting overlooks a long white down-filled sofa and a thirty-inch digital TV set from Toshiba; it's a high-contrast highly defined model plus it has a four-corner video stand with a high-tech tube combination from NEC with a picture-in-picture digital effects system (plus freeze-frame); the audio includes built-in MTS and a five-watt-per-channel on-board amp. A Toshiba VCR sits in a glass case beneath the TV set; it's a super-highband Beta unit and has built-in editing function including a character generator with eightpage memory, a high-band record and playback, and three-week, eight-event timer. (Ellis 1990: 24f.).
Ellis führt in dieser Passage den Markenfetischismus seines Protagonisten sowie den Beschreibungsfetischismus seines eigenen Textes vor. Er läßt seinen Ich-Erzähler zudem ein Gemälde beschreiben, das die Requisiten seiner psychotischen Veranlagung präsentiert. Die nackte fernsehende Frau in einer apokalyptischen Landschaft steht als 'Standbild' für Batemans einzige Möglichkeit, sich sexuelle Befriedigung zu ver-
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Zur narrativen Konstruktion und Dekonstruktion von Gemeinschaft in Cathedral vgl. Kennedy (1995).
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schaffen: für den Zwang, bereits medial vermittelte gewalttätige Szenen - beispielsweise aus Alan Pakulas Film Body Double - nachzustellen und in immer gewalttätigeren Variationen zu reinszenieren. Die von Videokameras und Filmlampen assistierten Tötungsorgien verschaffen Bateman eine wahnhaft gespaltene Erfahrung von Körperlichkeit: Sie degradieren einerseits die gefolterten Frauen zu bloßen "body doubles" seiner Imagination und ermöglichen ihm andererseits allein in dieser gesteigerten Gewaltanwendung ein Bewußtsein seiner eigenen Körperlichkeit. Batemans fortschreitende Depersonalisierung und Persönlichkeitsspaltung läßt sich vor allem aus Motivketten herauslesen, die Ellis gelegentlich in dem monomanischen Redefluß seines Textes aufscheinen läßt. Als einer der wichtigsten symbolischen Orte dieses impliziten Kontrapunktes zu der Stimme des Ich-Erzählers dient das Porträt der nackten Fernseherin über dem Kamin. So bemerkt der Protagonist gegen Ende des ersten Drittels des Romans, daß sich direkt über dem Bild ein Riß in der Wand gebildet hat. Da Bateman dieser Riß auffällt, als er sich in eine Talk-Show über Kindermörder vertiefen will, ergibt sich eine doppelte Bildstörung: Der Riß lenkt nicht nur von dem Gemälde ab, das Batemans Wahn eine Gestalt und einen Rahmen verleihen soll, sondern unterbricht auch den televisuellen Bilder- und Wortestrom, den er sich täglich zuführt, um seinen Gewaltphantasien Nahrung zu verschaffen. Daß sowohl das Bild der fernsehenden Frau wie die tatsächlichen Fernsehbilder auch dazu dienen, den Riß in Batemans Leben zuzudecken, deutet Ellis mit einem Wörtspiel an, welches sich ebenfalls als verdeckter Kommentar lesen läßt. Wenn Bateman sich zweimal eine Talk-Show ansieht, in der "girls who trade sex for crack" auftreten (1990: 181, 389) geht es hier um eine doppelte Tausch- und Ersatzhandlung: Diese Mädchen tauschen Sex für das Rauschgift Crack, doch sie dienen Bateman zugleich - wie sein Gemälde - als pornographische Abziehbilder, die den "crack"- den Riß - in seinem Leben überdecken sollen. Ellis versetzt seinen Text allerdings mit einigen Indizien dafür, daß die Fassade, die Batemans Psychose noch vor der Außenwelt verbirgt, brüchig wird. So konfrontiert er seinen Protagonisten im Waschraum einer Diskothek mit einem weiteren Riß in der Wand: [...] I stare into a thin, web-like crack above the urinal's handle and think to myself that if I were to disappear into that crack, say somehow miniaturize and slip into it, the odds are good that no one would notice I was gone. No ... one ... would ... care. In fact some, if they noticed my absence, might feel an odd, indefinable sense of relief. (Ellis 1990: 226).
Dieser zweite Riß eröffnet einen der seltenen Einblicke in ein mögliches zweites Ich Batemans, ein Ich, das momenthaft erkennt, was es tut. Ellis illustriert diesen Spalt in der ansonsten fast hermetisch geschlossenen pathogenen Selbstwahrnehmung des Protagonisten auch grammatikalisch: Die drei Pausen in dem Satz "No ... one ... would ... care." durchbrechen für einen Moment die Fassade, die Batemans Redezwang ansonsten aufrechterhält.
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Kurz nach dieser Szene stellt Ellis mit Hilfe der hier skizzierten Motivkette ein weiteres Symptom für Batemans fortschreitende Dekompensation aus. Als dieser eine Freundin in seine Wohnung mitnimmt, betrachtet sie das Gemälde im Wohnzimmer und macht ihn darauf aufmerksam, daß es verkehrt herum aufgehängt sei. Diese Bemerkung erweist sich als fatal: Sie führt Bateman nämlich vor Augen, daß das Gemälde keinen Riß mehr zu überdecken vermag, weil es - als 'verkehrte' Version der dargestellten gegenständlichen Szene wie auch des Phantasmas - die wahnhafte Wirklichkeitsverkennung seines Besitzers offenkundig macht. Es liegt in der Logik von Batemans Wahn, daß er seine Besucherin für diese unfreiwillige Einsicht büßen läßt. Da Ellis seine Leser bis zu diesem Punkt gezwungen hat, das Gemälde mit Batemans Augen zu sehen, läßt der Text nach diesem Perspektivenwechsel stellvertretend auch die Leser büßen: Wenn Bateman in einer der widerwärtigsten Szenen des Romans seine Besucherin foltert und tötet und damit auch jene Leser bestraft, die das Bild plötzlich mit ihren Augen sehen, scheint an dieser Stelle jene Komplizenschaft von Protagonist und Autor auf, die viele Kritiker von Ellis' Roman entsetzt registriert haben. Was dieses Buch vollends deprimierend macht, ist aber wohl die Tatsache, daß der Riß, der Durchblick, den der Text dem Protagonisten und den Lesern momenthaft eröffnet, am Schluß wieder geschlossen wird. So sitzt Bateman in der letzten Szene wie gewohnt mit anderen Bankern in einer Bar und sieht fern. Als er beginnt, sich als typischen Repräsentanten des späten 20. Jahrhunderts zu beschreiben, zeichnet sich ab, daß er, im Trubel Manhattans, unbeachtet wie Poes Brief auf dem Kaminsims, weiter morden wird. Das Einzige, was Ellis' Text dieser pervertierten Normalität entgegenhält, ist die Leuchtschrift über der Tür zur Toilette: "THIS IS NOT AN EXIT" (1990: 399). Stephen Wrights Roman Going Native (1994) dehnt Ellis' Schreckensvision einer von Film-, Fernseh- und Videobildern illuminierten und mitverursachten Wahnwelt aus. Auch dieser Text liefert das Psychogramm eines Serienmörders, der zugleich ein zwanghafter Fernsehzuschauer ist: Er schildert die todbringende Fahrt eines Familienvaters, der sich unvermittelt aufmacht, um seine vorher nur televisuell befriedigten Phantasien in grausame Taten umzusetzen. Wright schickt seinen Protagonisten auf eine Odyssee durch ein Amerika, in dem die Wellen und Partikel blindlings ablaufender Fernsehbilder sich in einsame Möbel einfräsen und erwachsene Menschen mit der Selbstvergessenheit fernsehen, mit der Kinder sich schlafen legen; eine Welt, in der Hochzeitskapellen wie raffinierte Installationen der Medienkunst ausstaffiert sind und Hotelbesucher durch Löcher in der Wand aufgenommen werden, um später unwissentlich als Akteure in Sex-Videos aufzutauchen. Im vorletzten Kapitel des Romans zeigt sich, daß nicht allein die amerikanische Provinz, sondern der gesamte Globus von amerikanischer Populärkultur kolonisiert ist. Um diesen Befund zu illustrieren, schickt Wright zwei Repräsentanten Hollywoods auf eine Flußreise nach Borneo, die zu einer anspielungsreichen Variation der Suche nach dem Herzen der Finsternis gerät. Wright spart in seiner postmodernen ConradParaphrase nicht mit ironischen Pointen: So flackert im Eingeborenen-Stammhaus am Ziel der Reise nicht mehr das Zwielicht exotistischer Projektionen, das bei Conrad noch
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die Mördergrube im Herzen der imperialistischen Zivilisation erhellt, sondern ein Videoschirm, auf dem unter dem Beifall der Dorfbewohner Jack Nicholson in Tim Burtons Film Batman II zu sehen ist. In Wrights Roman sind jene geographischen Grenzen endgültig verwischt, die bei Conrad zumindest noch imaginierte Ausbrüche aus der europäischen Zivilisation ermöglichen: Da der amerikanische Medienimperialismus längst die Wildnis erobert hat, scheint kein Anderes mehr auf, für das es sich die massenkulturelle Bilderwelt zu durchbrechen lohnte. Und wo kein Weg mehr in fremde Regionen führt, bleibt auch kein Rückweg in die Geschichte. Ganz im Sinne kulturkritischer Diagnosen der Fernsehkultur inszenieren Ellis' und Wrights Romane tatsächlich eine kulturelle Amnesie: Konnte sich schon der Protagonist von American Psycho nicht mehr an die Fernsehshows seiner Kindheit erinnern (Ellis 1990: 345),11 so läßt Wright seine Borneo-Reisenden eben gerade nicht den modernistischen Prätext ihrer Fahrt - Conrads Heart ofDarkness - erkennen, sondern fortwährend Filme wie John Hustons African Queen und Francis Ford Coppolas Apocalypse Now zitieren.12 So wenig wie diesen beiden Reisenden ist auch dem gesichts- und geschichtslosen Protagonisten von Going Native ein Einblick oder gar Rückweg in die Tradition vergönnt. Hatte Wright schon seine beiden Borneo-Touristen auf falschen Fährten zu einem Offenbarungserlebnis geführt, das nur noch die Pointe der Unauthentizität bereithielt, so läßt er auch die Odyssee seiner Hauptfigur Wylie auf der intertextuellen Spur Joseph Conrads ins Leere laufen. In einem Kapitel, dessen Titel "This is not an Exit" den letzten Satz von American Psycho zitiert, schildert Wright, wie sein Protagonist seine Zeit in einem Dämmerzustand zwischen Fernsehen, Fitness-Studio und mißlingenden väterlichen Regungen verbringt. In dieser Situation scheint Wrights Text seinen psychotischen Protagonisten mit einer letzten Reminiszenz an Conrad kurieren zu wollen. Als Wylie wieder einmal allein in der luxuriösen Villa am Strand fernsieht, schleicht sich in die Beschreibung seiner fortgeschrittenen Persönlichkeitsstörung eine Metapher, die aus der maritimen Welt der Romane Conrads entliehen ist: Wylie glaubt sich auf einer "correct mission" und das "solid ship" und seine "impeccable rivets" zitieren das englische Arbeitsethos, mit dem Conrad die Kapitäne seiner Romane ausstattete, damit sie in verführerischen und verstörenden Regionen Haltung bewahren konnten (Wright 1994: 296). Was für Wright, in Anlehnung an Conrads vormodernes Arbeitsethos, zu funktionieren scheint, bleibt allerdings seinem Protagonisten versagt. Als Wylie sich am Ende des Romans noch einmal in seinen alten Ford Galaxie setzt, bricht der Text endgültig mit der Illusion, daß der Mann mit den leeren grauen Augen zumindest auf der Brücke dieses alten Schlachtschiffes der Kapitän seines Lebens ist. Wrights literarisches
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Zur Verschleierung von historischen Bezügen zu den sechziger Jahren vgl. Irmer (1993).
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Den Zusammenhang von Intertextualität und Medienproblematik bei Wright habe ich ausführlicher abgehandelt in Griem (1997).
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road movie scheint an dieser Stelle zum Stehen zu kommen, weil sein Held seiner mörderischen Lebensreise ein freiwilliges Ende bereiten will. Doch Wylies Leben kommt ebensowenig an sein Ende wie das abendliche Fernsehprogramm: All he wanted now was to come to a stop, but even here, in the dark confinement of this garage, the Galaxie was moving on beneath him. Beyond the windscreen the darkness that had appeared to be so inflexible, so monolithic, was moving, too, it teemed, it swarmed with minute specks of light, just as the fires of the day dance with specks of dark, and now it was all he could see, this nervous ballet between ground and being, the eternity of noise rushing trapped between channels. There was no self, there was no identity, there was no grand ship to conduct you harmlessly through the uncharted night. There was no you. There was only the Viewer, slumped forever in his sour seat, the bald shells of his eyes boiling in pictures, a biblical flood of them, all saturated tones and deep focus, not one life-size, and the hands applauding, always applauding, palms abraded to an open fretwork of gristle and bone, the ruined teeth fixed in a yellowy smile that will not diminish, that will not fade, he's happy, he's being entertained. (Wright 1994: 305).
Verglichen mit der in American Psycho geschilderten sinnlosen Gewalt gegen andere stellt dieser Selbstmord schon fast einen Lichtblick dar, denn Wylies Aggression richtet sich am Ende allein gegen sich selbst. Auch sein Freitod gewährt allerdings keine Gnade, sondern Folter. War die Finsternis, die Wrights Touristen in Borneo gesucht hatten, längst von Kodak, Sony und Hollywood erleuchtet, so wird die von Wylie ersehnte Finsternis von einem weißen Rauschen gestört. Wurden die exotistischen Träume der Borneo-Reisenden vom Joker Jack Nicholson verlacht, so wird Wylie am Ende des Romans zu seinem eigenen Joker: zu einem Zombie, einem Untoten, der die postmoderne Vervielfältigung von Identitäten nicht mehr als Befreiung von alten Rollen erfahren kann. Dieser Joker taugt nicht mehr als Emblem einer fröhlichen Postmoderne: Er ist ein Wiedergänger, ein ebenso verzweifelt wie sinnlos archaischer Rächer, der wie ein wandernder Jude der Mediengesellschaften verkündet, das wir uns zu Tode amüsieren werden. Das letzte Wort in diesem literarischen Fernsehbilderbogen soll indessen nicht den medialen Endzeitvisionen Ellis' und Wrights, sondern einem Fernsehbild gewährt werden, das als ironischer Kommentar zu der in American Psycho und Going Native vorgeführten Rhetorik und Ästhetik gewaltsam scheiternder Durchbrüche gelesen werden kann. Dieses Bild findet sich gleich zu Beginn von Thomas Pynchons Roman Vineland. Pynchon läßt hier den Marihuana-geschädigten Althippie Zoyd Wheeler durch eine Fensterscheibe springen. Diese Scheibe ist allerdings vorher von einem Fernseh-Team präpariert worden, damit Zoyd nicht verletzt wird, so daß ihm der nur scheinbar wahnwitzige Sprung seinen monatlichen Sozialhilfe-Betrag für psychisch Kranke und dem lokalen Fernsehsender die wöchentliche Klein-Katastrophe beschert. Pynchon führt in dieser Szene nicht nur eine Parodie des klassischen Repertoires von Action-Filmen, sondern auch eine epistemologische und medientheoretische Metapher vor. Wie die Fenster und Spiegel in vielen anderen Texten dient auch hier die Glasscheibe als Modellfigur für die Frage, wie sich Wahrnehmung und Erkenntnis
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konstituieren. Da Pynchon seinen Roman als Geschichte der amerikanischen Fernsehkultur konzipiert hat und Zoyds Fenstersturz als exklusiv produziertes und permanent wiederholtes Fernsehereignis geschildert wird, lassen sich Metapher und Medium, Scheibe und Mattscheibe in dieser Eröffnungsszene direkt aufeinander beziehen. Zoyds Fenstersturz läßt sich, wie Martin Klepper vorgeschlagen hat, als "symbolische Neurose" der postmodernen Fernsehkultur lesen: Als Schein-Durchbruch durch eine Schein-Fläche, die nicht mehr als epistemologische Trennwand von Vordergrund und Hintergrund, Oberfläche und Tiefe fungiert, sondern eine Gesellschaft ins Bild setzt, in der Schmerz zu Unterhaltung, Einmaligkeit zu zwanghafter Wiederholung, Geschichte zum Spektakel degradiert sind (Klepper 1995: 213ff.). Aus diesem Blickwinkel symbolisiert der Sprung durch die präparierte Scheibe eben nicht mehr das Vordringen in tiefere Schichten einer Persönlichkeit bzw. Gesellschaft oder die Durchbrechung konventionalisierter Sehweisen. Zoyds Fenstersprung führt keine Desillusionierung vor, sondern stellt eine perfekte Inszenierung der Fernsehindustrie augenzwinkernd aus: eine Inszenierung, die jene "Vernichtung von Tiefe" demonstriert, die viele Medientheoretiker und Kulturkritiker dem Medium Fernsehen zugeschrieben haben.13 Vergleicht man allerdings Pynchons Roman mit denen von Ellis und Wright, so läßt sich diese Entzauberung der Metapher des Durchbruchs nicht nur negativ deuten. Denn während die beiden jüngeren Autoren ihre Leser bzw. Protagonisten für die konstatierte Unmöglichkeit bestrafen, die Scheinwelt der Medien zu durchbrechen, gibt der Text von Vineland seiner jungen Heldin Prairie durchaus die Chance, in die Tiefe der amerikanischen Fernsehgesellschaft vorzudringen. Insofern reflektiert Vineland die Denk- und Darstellungstradition einer modernistischen Tiefenhermeneutik und nimmt Entwürfen wie denen Ellis' und Wrights ihr gewalttätiges Pathos. Vor diesem Hintergrund macht es einen entscheidenden Unterschied, daß Pynchon ein Mädchen die amerikanische Medienkultur und -geschichte erkunden läßt. Als Auftakt zu Prairies historischer Mission markiert der Fenstersturz zu Beginn des Romans nicht nur die ironische Brechung einer Poetik des Durchbruchs, sondern auch eines korrespondierenden Initiationsmodells: die in Vineland geschilderte Reise erzählt nicht mehr von dem Durchbruch in einen anderen, aufgeklärteren Zustand, sondern deutet an, daß diese narrative Struktur einem männlichen Selbstfindungsideal entstammt, mit der sich nur ein Teil der verschlungenen Mediengeschichte Nordkaliforniens erzählen ließe.14 Aus diesem Blickwinkel bildet die Fensterscheibe, die gleich zu Beginn von Vineland als metaphorische Mattscheibe fungiert, eine Fläche, die zugleich verdunkelt und erhellt. Sie ist ein Beispiel für die paradoxe Denkfigur der "deep surface", die Simmons als charakteristisches Merkmal der literarischen Funktionalisierung von Massenkultur
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Vgl. Jameson 1991: 1-54, bes. 6; Klepper 1995: 210ff.; Simmons 1997: 1-21.
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Zum historiographischen Projekt des Romans vgl. Hinds/Wall (1992), Robberds (1995) und das Sonderheft von Critique 32 (1991).
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und insbesondere Fernsehen beschrieben hat (Simmons 1997: 1-21): Kein Durchbruch zu einer Offenbarung mehr, aber ein Ereignis, das uns zum Nachdenken über die Vexierbilder unserer Medienkultur veranlaßt; ein Sinnbild jener 'abgründigen Oberflächen', die die amerikanische Literatur ihrer Auseinandersetzung mit dem Fernsehen verdankt.
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Elmar Schenkel Universität Leipzig
VISION UND TELEVISION: ÜBER DIE LITERARISCHE ANTIZIPATION DES FERNSEHENS 1. VORSPIEL IN DER HÖHLE In den letzten fünfzig bis hundert Jahren hat die Menschheit eine Augenkrankheit ergriffen, von der die Optiker eigentlich profitieren könnten. Die Menschen sind extrem weitsichtig geworden. Sie können bis in Details erkennen, was auf dem Tisch in einer bestimmten Straße in München steht, welche Schuhe ein bestimmtes Mannequin auf dem Laufsteg in New York trägt, welche Zahndefekte eine englische Prinzessin, welche Muttermale ein Playboy in Australien mit sich herumträgt. Dieser Weitsichtigkeit entspricht die Unkenntnis über die möglicherweise grausamen Dinge, die sich in der eigenen Küche abspielen, die Verschwommenheit, mit der man die Nachbarin oder den Arbeitskollegen noch zur Kenntnis nimmt. Diese Weitsichtigkeit können wir mit einem Wort griechisch-lateinischer Herkunft bezeichnen: Television. Fernsichtige gab es in jeder Kultur - es waren aber einzelne, durch Rituale geläuterte Wesen, Schamanen, Medizinmänner, Heilerinnen, die dank übernatürlicher Begabung und Training sehr weit schauen konnten und eben Visionen hatten. Im Folgenden möchte ich die Spur dieser Visionen aufnehmen und zeigen, wie sie sich in der Neuzeit zunehmend in Technik verwandeln. Der Doppelsinn des Wortes zeigt solche Übergänge ebenso an wie der des Wortes Medium. Was also ist das Verhältnis von Vision und Television, von Sehen und Fernsehen oder von Traum und Schauspiel? Unser tiefster deutscher Denker, der bayrische Schamane Karl Valentin, hat auch dieses Thema mit aller Deutlichkeit angesprochen. Die Rede ist von seinem Monolog Im Gärtnertheater. Valentin geht mit seiner Mutter ins Theater, "ich weiß nicht mehr genau, war es gestern, oder war's im vierten Stock?" Es geht da einiges drunter und drüber, man zieht ihnen die Sessel weg und ruft dauernd "Setzen!" hinter ihnen, so daß sie sich bis zum Schluß in der Kniebeuge hinbuckeln müssen und ihnen die "Hax'n weh getan habn". Außerdem hatten sie alte Theaterzettel für "Lohengrün" und nicht für den "Bruder Straubinger", der heute gegeben wurde, und drum ist auch kein Schwan dahergekommen "sondern anstatt dem Schwan ist eben der Bruder kommen, der Straubinger". Kurz und gut, eine einzige Enttäuschung. Zuhaus legen sie sich ins Bett.
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ELMAR SCHENKEL Wie wir in der Früh aufwachen, hat uns die ganze Nacht vom Theater geträumt, habn wir das ganze Theaterstück im Bett gsehn, wissen's, wie uns das Geld gereut hat für die zwei Billetten, wir haben uns aber verschworen, daß wir nie mehr ins Gärtnertheater gehen, außer wir sind den Tag vorher im Bett gelegen. (Valentin 1978: 26-28).
Zwei Lehren können wir hieraus ziehen - Träume sind billiger zu haben als Theater oder Kino und sie können sie gar ersetzen, wenn man das richtige Programm eingeschaltet hat. Heute, siebzig Jahre nach Valentin, legen wir uns nicht ins Bett, sondern gucken uns den Kinofilm, das Theaterstück Zuhause an. Aber das tieferliegende Problem ist dies: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Vision (Bett) und Vorstellung (Theater)? Wir leben in einer völlig revolutionierten Bildwelt, in der es immer schwieriger wird, Innen und Außen zu unterscheiden. Über fünfzig Fernsehkanäle versuchen, Abend für Abend unser Innenleben zu einem öffentlichen Territorium zu machen, das Öffentliche und Kommerzielle in unsere eigenen Träume zu verwandeln. Ich frage mich, ob uns die Mediengeschichte, die zu dieser Überflutung durch Bilder seit dem Beginn von Kino und später Fernsehen führte, Aufschluß geben kann darüber, warum es so gekommen ist. Mediengeschichte ist auch Literaturgeschichte, denn im schriftlichen Wort wurden Stationen und Reaktionen auf Visualität festgeschrieben. Das Wort, die Fiktion als Ausdruck einer nie ganz festgelegten vorgestellten Bildlichkeit hat darüber hinaus die Möglichkeit, in unbekannte Territorien vorzustoßen oder das Neue vorzubereiten. Daher die Frage präzisiert: Wie wird die neue Welt der bewegten und projizierten Bilder durch die Literatur antizipiert? Wie bei aller Technik muß man annehmen, daß die Natur des Menschen sie in sich enthält und es der Geschichte bedarf, sie herauszulassen. Wenn Hammer und Schere Verlängerungen des Armes und der Finger sind, dann ist das Fernsehen im zentralen Nervensystem vorgebildet, das ebenfalls in der Lage ist, Bilder zu erzeugen, die allerdings nur innen gesehen werden, zum Beispiel in Träumen oder Vorstellungen. Um Bilder zu sehen, bedarf es zunächst der Dunkelheit, dann eines Lichtstrahls, eines Wechselspiels von Hell und Dunkel. Also ist es nicht abwegig, auf der Suche nach den ersten Lichtspielen in die Höhlen von Altamira und Lascaux hinabzusteigen - wahre Dunkelkammern, in denen Farben und Licht erprobt wurden - oder noch weiter, an den Anfang der Bibel, wo Gott in die Dunkelkammer des Weltalls Licht einfallen ließ. Die Höhle jedenfalls, in der die Menschen die meiste Zeit verbracht haben (vermutlich einige hunderttausend Jahre lang), ist jener dunkle Raum, jene camera obscura, in der Bilder erzeugt wurden, um zu unterhalten, erzählte Bilder oder gemalte Bilder. Es ist daher kein Zufall, daß Piaton seine berühmteste philosophische Demonstration in einer Höhle vorführt, die uns Heutige erschreckend genau an unsere FernsehWohnhöhlen erinnern muß. Im 7. Buch der Politeia heißt es: Stelle dir nämlich Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Gingang habe, Menschen, die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich sitzenbleiben und nur vorwärts schauen, aber links und
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rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen; das Licht für sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen; zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über die sie ihre Wunder zeigen. (Piaton 1969: 249).
Neben dem Ort ist von Interesse, daß die Herrschaften von Jugend an gefesselt sind, unbeweglich in eine Richtung schauen und daß hinter ihnen gespensterhafte Wesen aufund abgehen. Auf der Mauer werden Bilder von anderen lebenden Wesen oder Statuen hin- und hergetragen. Piaton dient die Szene zur Veranschaulichung der Ideen. Die Schattenbilder an den Wänden bilden die Realität für die Höhlenbewohner, die Urheber der Schatten dagegen sind nicht zu sehen. Nach Piaton ist die Höhle also eine Illusionsmaschine, die die Gefesselten mit sekundärer Realität abspeist. Die eigentliche Realität - d.h. die Ideen - sehen sie nie oder sie werden von ihr geblendet. Die Illusion ist aber erst deshalb möglich, weil Bewegung ins Spiel kommt. Nicht das starre Standbild vermag Illusionen auszulösen, sondern das bewegte. Die Bewegung wird nicht unmittelbar aufgeführt als Theaterstück, sondern projiziert. Die Projektion erlaubt es mir, vom Gegenstand wegzuschauen, mit dem Gegenstand im Rücken in der entgegengesetzten Richtung dessen Abbild zu betrachten. Ich muß mich also von der Wirklichkeit abwenden, um ihr Bild sehen zu können. Aufgrund der medialen Situation gilt also: Ich sehe nur, wenn ich wegsehe. Piaton geht noch weiter, wenn er betont, daß die Leute Statuen und dergleichen mit sich herumtragen. An die Wand werden also nicht einfach Bilder von Menschen oder Objekten geworfen, sondern Bilder von Bildern. Das führt dazu, daß ich kaum noch unterscheiden kann zwischen Toten oder lebendigen Bildquellen und daß so meine Täuschung verdoppelt wird.
2.
ZUR GESCHICHTE DER PROJEKTION
Bewegung, Projektion und tertiäre Realität sind drei Elemente eines Übertragungszusammenhangs, den gut 2500 Jahre später das Fernsehen technologisch nachbilden wird. Piatons Fernbedienung war noch etwas unvollkommen, aber außer der Technik enthält sie die wichtigsten Komponenten der medialen Situation. Die Tatsache, daß in späteren Jahrhunderten Menschen immer wieder mit dunklen Kammern und Lichtstrahlen experimentierten, davon fasziniert waren, Bilder zu erzeugen, deutet auf ein anthropologisches Grundbedürfnis, das man beschreiben könnte als ständig wiederkehrenden Versuch, die Einbildungskraft nach außen zu wenden, sie äußerlich in Apparaten und Lichtspielen sichtbar zu machen. Wenn Marshall McLuhan mit seiner These recht hat, die Medien seien Ausstülpungen des menschlichen Nervensystems, dann handelt es sich bei diesen Versuchen um eine technische Rekonstruktion von Prozessen der Sinneswahrnehmung.
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Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert waren es insbesondere zwei Apparate, die zur Bilderzeugung dienten: Laterna Magica und Camera Obscura. Bei der Camera Obscura fällt ein Lichtstrahl durch eine Linse in einen dunklen Raum und wirft die Außenwelt als Schattenbild an die Wand. Bei der Laterna Magica dagegen wird Licht durch eine bemalte Glasscheibe an die Wand geworfen. Das erste erhaltene Bild einer solchen Projektion stammt aus dem Jahre 1420 (Buddemeier 1982: 234). Hier sieht man Mönche einen Teufel an die Wand malen, genauer: werfen, eine Schreckensgestalt, die sicherlich pädagogische Zwecke verfolgte, aber gleichzeitig Elemente des Horrorfilms vorwegnimmt. Das Medium hat hier unter anderem die Funktion, Schauer und Frösteln zu erzeugen, Zustandsveränderungen dramatischer Art. Oder wie es ein Historiker der Laterna Magica ausdrückt: "Zwar ist nicht genau zu sehen, wie diese Projektion technisch ermöglicht wurde, doch unzweifelhaft scheint, daß man eine Gestalt der Finsternis zum Gegenstand des frühen Lichtbilds wählt." (Ranke 1982: 13). Schon Vitruv erwähnte Möglichkeiten, mit Hilfe von Spiegeln Geister auf der Bühne erscheinen zu lassen. Dem Benediktiner Johannes Tritheminus gelang es, dem Kaiser Maximilian den biblischen König David mit Braut und einige antike Helden vorzuspiegeln. Agrippa v. Nettesheim schreibt: Es gibt gewisse Spiegel, durch die man in der Luft, auch ziemlich entfernt von den Spiegeln, beliebige Bilder hervorbringen kann, welche von unerfahrenen Leuten für Geister oder die Schatten Verstorbener gehalten werden, während sie doch nichts anderes sind als leere, von Menschen hervorgebrachte, allen Lebens entbehrende Spiegelbilder, (zit. nach Peuckert 1956: 73).
Die Verstrickung von Technik, Wissenschaft und Magie ist also bis in die Renaissance hinein noch fundamental. Magie und Naturphilosophie sind noch nicht differenziert. 1558 veröffentlichte Giovanni Battista della Porta seine Enzyklopädie Magiae naturalis, in deren viertem Buch er seine optischen Experimente vorstellte. Deila Porta hat wohl die erste Kinovorführung ohne Film gemacht, als er Leute in eine Camera Obscura setzte und vor der Lichtöffnung Schauspieler und als wilde Tiere verkleidete Kinder paradieren ließ - wie Piatons Gaukler. Die Zuschauer waren zutiefst bestürzt und bezichtigten Deila Porta der Magie - eine Reaktion, die an die berühmte Lokomotive von 1895 erinnert, die die Brüder Lumière im Film auf die Zuschauer zurasen ließen. Ein weiterer Erfinder, der sich auf Horror spezialisierte, war der geniale Jesuit Athanasius Kircher. An einem Pfingstfest schleppte er mit Gehilfen riesige Schalltrichter auf einen Berg. Von dort traten sie als Engelschor auf und sangen Litaneien, die man in acht Kilometer Entfernung hören konnte. "Mehr als zweitausend Dorfbewohner folgten dem himmlischen Ruf und brachten den anmaßenden Engeln Gaben dar." (Zajonc 1994: 126). Das Medium hatte auch bei Kircher im 17. Jahrhundert noch pädagogische Funktionen, auch im Sinne der Gegenreformation, die der Jesuit kräftig betrieb:
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Es ist aber diese Vorstellung der Bilder und Schatten in finstern Gemächern viel förchterlicher als die so durch die Sonne gemacht wird. Durch die Kunst könten gotlose Leute leichtlich von Begehrung vieler Laster abgehalten werden, wenn man auff den Spiegel des Teufels Bildniss entwürffe und an einen finstern Ort hinschlüge. (Ranke 1982: 17).
Ende des 17. Jahrhunderts aber finden sich weitere Funktionen für das Medium. 1677 ist die Rede von "schönen Stunden", die die Laterna Magica erlaubt, indem sie die "Augen trefflich erlustigen" kann, Himmel, Hölle, "Jägereyen/ und eine gantze Comedie/ mit allen schönen Farben" an eine weiße Wand wirft (Ranke 1982: 19). Robert Hooke, der große Wissenschaftler der Royal Society, der als einer der Ersten mit dem Mikroskop arbeitete, versprach 1668: "Handlungen und Bewegungen von Menschen, Tieren, Vögeln usw., deren Verschwinden in einer Wolke, ohne daß sie wieder erscheinen, nachdem die Wolke fort ist. Überhaupt alles, was wir sehen, kann dargestellt werden." (ebd.). Im Gegensatz zu Mikroskop und Teleskop, die das Feld des Sichtbaren erweitern (sie zeigen, was wir nicht mit bloßem Auge sehen können), wird hier das Sichtbare also nur vervielfacht. Die Bewegung tritt immer mehr in den Vordergrund. Der Abbé Nollet berichtet 1736 von den bewegten Bildern des Holländers Muschenbroek: "eine Windmühle mit umlaufenden Flügeln, ein Frauenzimmer, das sich im Vörbeygehen neiget, einen Bauer, der Käse frisset, und die Kinnbacken beweget [...]" (Buddemeier 1982: 236). Im 18. Jahrhundert beginnen Unterhaltung und Pädagogik die religiöse Motivation abzulösen. Durch den Orientkult lebt das Schattenspiel auf, das ursprünglich aus Java stammt, und verbindet sich mit Lichtbildprojektion. Ein besonderer Gag sind die Nebelmaschinen, mit denen Gespenster in Wolken erscheinen und verschwinden können. Geisterbeschwörungen erhalten so einen realistischen Anstrich, zum Beispiel bei Projektionen auf Friedhofsmauern, wie sie im Jahre 1825 beschrieben wurden. Die Aufklärung betont die Belustigung und Unterhaltung (Ranke 1982: 23), um so dem Medium seine magischen Qualitäten zu nehmen. Zugleich diente dieses zur Visualisierung der neuen Wissenschaften - Astronomie, Physik, Geologie. Im 18. Jahrhundert finden sich auch erste Ansätze der Einbindung der Laterna Magica in Gesamtkunstwerke, so bei Servandoni, der 1738 in Paris seine "spectacles d'optique" inszenierte. 1781 eröffnete Jacques de Loutherbourg in London sein Eidophusikon, eine komplizierte Kombination aus Malerei und Technik. Er konnte die Morgendämmerung über London zeigen, Mondlicht auf dem Mittelmeer oder eine Feuersbrunst - alles von Musik begleitet. Das Bürgertum sehnte sich nach exotischen Landschaften und einer umfassenden sinnlichen Befriedigung, die vor allem das Panorama und Diorama lieferten. 1822 eröffnete der Erfinder der Photographie Daguerre ein berühmtes Diorama in Paris, d.h. eine Folge von Bildern in einem dunklen Schacht (ebd.: 25). Einer der bekanntesten Schausteller nach der französischen Revolution war Robertson mit seinen Phantasmagorien, der geschickt Vergrößern und Verkleinern von Bildern nutzte, um die Annäherung oder Entfernung anzudeuten. Robertson spezialisierte sich auf Geisterbeschwörungen wie auf physikalische Experimente. Der Stuttgarter
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Mechanikus Enslen produzierte mittels komplizierter Spiegeleinstellungen gar ein optisches Ballett. Daß die Laterna Magica Vorläufer unseres Overhead Projektors und mithin ein didaktisch wertvolles Instrument war, zeigt sich schon daran, daß der Missionar und Forscher Dr. Livingstone eine Laterna mit ins finsterste Afrika nahm, um die Eingeborenen zu belehren und zu amüsieren (ebd.: 1982: 44). Interessant ist auch die Gestalt des Wiener Zauberkünstlers Ludwig Döbler, der unter anderem in England praktizierte - Lewis Carroll führt ihn als Dobler auf und auch Goethe erwähnt ihn - und von dort verbesserte Techniken mitbrachte. 1853 zeigte er Bilder, die Bewegungsphasen sekundenschnell zeigten, so daß der Eindruck von bewegten Bildern entstand. 1876 hielt die Illusionstechnik auch bei Wagner Eingang. Im Ring der Nibelungen projizierte man Wotan und dessen reitenden Töchter gegen den Rundhorizont (ebd.: 47). 1892/93 wurden erstmals Lichtbilder in der Universität eingesetzt, und zwar im Fach Kunstgeschichte bei Hermann Grimm. "Die Professorenschaft war außer sich, empört. Man hielt das für [...] eine Profanation der geheiligten Räume. 'Theatervorstellungen mit Laterna magica!' rief man." (Max Osborn, zit. nach Ranke 1982: 53). Soweit einige Phasen der Vorgeschichte von Film und Fernsehen. Interessant ist, daß die Laterna Magica von der Struktur, aber auch von Inhalt und Funktion her Elemente der späteren Medien vorwegnimmt. Das visuelle Medium geht in vieler Hinsicht parallel mit dem Medium Literatur; zumindest besteht eine Affinität der Funktionen Belehrung, Unterhaltung und Schauer. Zwischen Zauberlaterne und Fernsehen gibt es jedoch noch einen gewichtigen Unterschied: die Entfernung von Bildquelle und Bildempfang. Die Überwindung von Entfernung bei der Nachrichtenübermittlung ist so alt wie die Menschheit. Erst Ende des 19. Jahrhunderts aber treffen Nachrichtentechnik und bewegte Bilder so zusammen, daß sich aus den vielen Technologien ein neues Medium bildet. Das Fernsehen, im Gegensatz zum Film, arbeitet damit, daß Räume überbrückt werden und die Übertragung annähernd in Echtzeit geschieht. Frühe Systeme solcher Übertragungen sind Trommel, Feuer, Signallampen und Kanonenkugelbriefe; die letzteren waren weniger erfolgreich. Der schon erwähnte Robert Hooke gab 1684 die erste technische Beschreibung einer optischen Signalkette namens Semaphoren, und zwar unter dem Titel "Mittel zur Mitteilung der eigenen Gedanken über weite Entfernungen" (Flichy 1994: 21). Nun, die eigenen Gedanken waren nicht die privaten, sondern die Gedanken, die sich der Staat über seine Untertanen machte. Die optische Telepathie wurde besonders wichtig in den französischen Revolutionskriegen. Claude Chappe, ein Physiker, wollte den Staat von der Notwendigkeit eines ganzen Netzes überzeugen. Chappes Semaphor arbeitete mit schwenkbaren Signalarmen und optischen Gläsern. Zwar wurde der Flügeltelegraph bald durch den elektrischen Telegraphen ersetzt, aber jetzt war die Idee des Netzes geboren, eines Kommunikationssystems, das wie ein Wasserleitungsnetz angelegt war (ebd.: 57). Die Eisenbahn brachte das elektrische Nachrichtennetz mit sich. Schluß war mit Flügelarm und Brieftaube. Eine weitere Nachrichtenbeschleunigung wurde durch die Börse notwendig. Das Zeitalter der elektrischen
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Depeschen brach an, auch wenn man in dieses mit großem Mißtrauen eintrat (Flichy 1994: 84ff). 1 Während bei der Telegraphie Kodierung und Dekodierung notwendig sind, ist dies beim Telefon anders. Töne werden direkt in elektrische Impulse umgewandelt und diese wiederum zurück in Schall. Auch Bilder können übertragen werden durch Zerlegung in Punkte (Fax) oder ein Lochscheibensystem. Zerlegen und Zusammensetzen bilden das Prinzip der Übertragung. Christoph Asendorf schreibt: "Zwischen 1844 und 1884 ist ein komplettes Ensemble der Kommunikationstechnologie entstanden, Übertragungstechniken für Informationen, Töne und Bilder. Grundlage all dieser Verfahren ist, daß Eingaben zerlegt und mittels elektrischer Impulse über potentiell beliebige Entfernungen transportiert werden." (1989: 22). Die Übertragung von Nachrichten über große Räume ist ein politisches und militärisches Erfordernis und findet sich daher als utopische Forderung mit dem Beginn der Nationalstaaten und der Überseemächte. So ist es kein Zufall, daß es magische Kräfte Prospero, dem Herrn der Insel von Shakespeares Tempest (1611) erlauben, ein kommunikatives System zu errichten und so die Ziele seiner Herrschaft zu erreichen. Hier ist noch magisch erklärt, was wenig später in der Utopie von Shakespeares Zeitgenossen Francis Bacon zur neuzeitlichen Technik wird - die Manipulation von Schall, Licht und Bildern. In seiner epochalen Schrift Nova Atlantis beschreibt Bacon eine Insel im Pazifik, auf der der Tempel Salomons (Bensalem) wiedererbaut ist; seine Religion ist das Programm der Neuzeit. Der Tempel steht für das Experiment und die Theorie. In einzelnen Häusern des Tempels werden mit den menschlichen Sinnen Versuche angestellt. So gibt es auch Häuser des Sehens: Insbesondere belassen wir uns auch mit allen Verstärkungen der Lichtstrahle, so daß wir das Licht auf weite Entfernungen aussenden und seine Stärke am Ort des Auftreffens so sehr erhöhen können, daß man bei dieser Beleuchtung auch die feinsten Linien und Punkte unterscheiden kann. [...] Wir können ferner nahe Objekte in großer Ferne und entfernte in der Nähe erscheinen lassen, haben es also in der Hand, nach Belieben Entfernungen vorzutäuschen. (Bacon 1926: 69f.).
3.
FRÜHGESCHICHTE VON LITERATUR UND FILM
Die Fernübertragung von Bildern und Nachrichten ist wesentlicher Bestandteil des Projekts der Moderne, wenn wir dieses als ein Projekt der Expansion und Verdichtung von Kommunikation, aber auch als Herausbildung übergreifender kommunikativer Ein-
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Flichy berichtet von Widerständen bei Abgeordneten in Frankreich: man könne die Drähte nicht so gut bewachen wie die alten Flügelstationen. Der Staat fürchtete sich vor schnellen Verschwörungen und subversiven Informationssystemen; aus demselben Grund wurde in Preußen das Drais'sche Laufrad verboten (1994: 79).
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heiten - wie etwa Nationen - verstehen wollen. Um das Fernsehen zu konstituieren, müssen mindestens zwei Technologiestränge zusammengefügt werden: • die Bildtechnik: Foto und Film konvergieren zur bewegten Bildkette • die Fernübertragung: Transport von Information mittels Zerlegung und Wiederaufbau. Literatur und Kunst hatten sich frühzeitig mit diesen Phänomenen beschäftigt. Frühe Regisseure wie D. W. Griffith oder Eisenstein haben immer wieder an ihre literarischen Vorläufer erinnert, die in ihren Werken filmische Techniken vorwegnahmen (Paech 1988: 45ff). Griffith war der erste, der das cross cutting im Film (Enoch Arden, 1908) nutzte, d.h. eine Montage von zwei Bildern, die als parallel zu verstehen sind: Eine Frau schaut aufs Meer und im nächsten Bild sieht man den Geliebten als Schiffbrüchigen. Griffith schreibt zu dieser Technik der Parallelmontage: Ich habe die Idee eingeführt [...], aber es war keineswegs meine eigene Idee. Ich habe sie in den Werken von Dickens gefunden. Er war immer mein Lieblingsautor gewesen, und indem ich seine Werke gelesen habe, wurde ich von der Wirksamkeit dieses Verfahrens des switching-off überzeugt, (zit. nach Paech 1988: 48).
Sergej Eisenstein hat diesen Gedanken vertieft in seinem Aufsatz Dickens, Griffith und wir (1944). Nach Eisenstein hatte Dickens nicht nur die Parallelhandlung praktiziert, sondern den Film in seiner Gesamtheit - Methode, Kameraführung, Bewegungsstudie usw. - vorweggenommen. Dickens' Romane sind sprachliche Filme aus der Zeit vor dem Kino; das begründet ihren Massenerfolg. Das Montieren - so Eisenstein weiter wird aber deshalb zur dominanten Technik, weil es die neue Dynamik der kapitalistischen Gesellschaftsform reflektiert: Narrative und soziale Strukturen bedingen einander (Paech 1988: 50). Dickens ist nicht der einzige Autor, der montiert. Berühmt ist die Szene einer Landwirtschaftsausstellung in Flauberts Madame Bovary, bei der sich das künftige Liebespaar näher kommt. Hier verflechten sich die Sprache der Liebe und die Sprache des Kommerzes und der Banalität in einer Überkreuz-Montage. Thomas Hardy - auch ein Autor, der dem Film in seinen Romanen viele visuelle Möglichkeiten gegeben hat montiert in Jude the Obscure eine Todesszene mit einem Festkonzert, Zitate aus dem Buche Hiob mit Hurrageschrei. Weitere filmische Techniken wie Schwenk und close-up lassen sich leicht in der Literatur finden, sie entstammen letztlich auch der intentionalen Struktur des Bewußtseins und der Funktionsweise des menschlichen Auges. Aber es gibt filmische Phänomene, die schwerer zu erfassen sind, weil sie uns zwingen, aus unserer anthropologischen Verankerung herauszutreten. Zunächst einmal ist dies das Prinzip der Illusion, auf dem der Film wie auch das Fernsehen basieren. Wir wissen alle, daß das menschliche Auge so gebaut ist, daß es pro Sekunde nur eine
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gewisse Anzahl Bilder unterscheiden kann. 24 Bilder präsentiert uns der Film pro Sekunde, um die Illusion der Bewegung zu erzeugen. Das Fernsehbild ist bekanntlich aus Punkten zusammengesetzt, die wiederum Auge und Gehirn so täuschen, daß sich blitzschnell erkennbare Gestalten bilden, wenn genügend Information durch die Kombination der Punkte gegeben wird. Beide Verfahren beruhen auf Überlistung unserer anthropologischen Konstitution. Wir werden mit Raum- und Zeitmustern konfrontiert, die uns wie aus einer anderen Skala entgegentreten, Welten, die eben dem unbewaffneten Auge nicht mehr kommensurabel erscheinen. Ähnliches gilt für die Belichtungszeit bei der Photographie. Wie Götz Großklaus gezeigt hat, werden die anfänglich bis zu acht Stunden langen Belichtungszeiten schon wenige Jahre nach der Erfindung der neuen Technik stark verkürzt. Der Drei-Sekunden-Takt für die Wahrnehmung von Augenblicksgestalten wird 1840 im technischen Medium erreicht. Ab 1870 wird die menschliche Wahrnehmungsspanne radikal unterschritten mit Belichtungszeiten von 1/1000 sec. bei Marey und Muybridge (Großklaus 1995: 16). Der Film ermöglicht des Weiteren die Umkehrung des Zeitpfeils. Beim Rückspulen kann ich Vorgänge rückwärts ablaufen lassen. Das erkannte man sehr früh als Mittel der Absurdität und Phantastik. In einem ihrer frühesten Filme, Le mur (1895), zeigen die Brüder Lumière die Zerstörung einer Mauer. Kaum ist diese zu einem Schutthaufen geworden, da erhebt sie sich wundersamerweise wieder. Die Umkehrung des Zeitpfeils konnte in der Literatur nicht vom Realismus oder Naturalismus bewerkstelligt werden - Unumkehrbarkeit der Zeit und ihrer Kausalketten bildet ja die wichtigste Säule dieser literarischen Richtung. Die Technik verdankt sich vielmehr dem Geiste des Nonsense, und der wiederum scheint in den entstehenden Technologien eine imaginative Resonanz zu finden. Die Umkehrung der Zeit findet sich erstmals in Verbindung mit einer Maschine, die ohnehin eng mit dem sich entwickelnden Medium Film verwandt ist: der Eisenbahn. Adalbert von Chamisso reagierte im Gegensatz zu manch anderen Poeten der Zeit mit Neugier auf die ersten Bahnfahrten. In seinem Gedicht Das Dampfroß wird die Eisenbahn zur Zeitmaschine. Ein Ritter besteigt das eiserne Pferd und kann durch die überhohe Geschwindigkeit in die Vergangenheit zurückreisen. Ein Transportmittel der Zukunft wird paradoxerweise zu einem Medium des Vergangenen, das wie ein Film zurückgespult werden kann: "Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, / Von Gestern zu Gestern zurück sie geschraubt, / Und schraube zurück sie von Tag zu Tag, / Bis einst ich zu Adam gelangen mag" (Chamisso 1982: 75f.). Die neue Bewegungstechnik hat demnach nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis zum Raum, sondern auch auf die Wahrnehmung der Zeit. Das zeigt sich an den späteren Geräten, die seit H. G. Wells' berühmter Erzählung unter dem Namen Zeitmaschine in die Literatur eindrangen. Sie und ihre Vorläufer haben eine Affinität zu filmischen Techniken. Der Tscheche Jakub Arbes stattete 1877 in der Erzählung Das Gehirn Newtons ein Gerät, das schneller als das Licht fliegt, mit einer optischen Vorrichtung aus, mit der die Vergangenheit (als früher ausgesandtes Licht) sichtbar
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gemacht werden kann. Die eben erwähnte Zeitmaschine von Wells schließlich erschien im Jahr des Films und der Röntgenstrahlen - 1895. Alle drei Ereignisse lenken den Blick auf die Sichtbarmachung des bisher Unsichtbaren. Das Röntgenbild deckt das Innere des lebendigen Körpers auf; der Film hält die Vergangenheit visuell fest; die Zeitmaschine dagegen macht andere Schichten des zeitlichen Universums sichtbar. Zu Beginn von Wells' Erzählung werden die theoretischen Möglichkeiten des Zeitreisens diskutiert. Die Zeitmaschine bleibt räumlich an einem Ort stehen, den sie nur vertikal auf der Zeitachse durchquert. Daher die Frage: Warum haben wir die Maschine nicht letzten Donnerstag gesehen als wir hier waren und eigentlich immer wenn wir hier waren? Die Antwort lautet: Die Maschine ist nicht unsichtbar, aber sie ist so schnell, daß sie unter der Wahrnehmungsschwelle liegt: '"It's presentation below the threshold, you know, diluted presentation'" (Wells 1984: 15). Der anwesende Psychologe unterstützt das Argument mit dem stroboskopischen Effekt, indem er das Phänomen mit den Speichen eines Spinnrads oder einer Kugel vergleicht, die aufgrund ihrer Geschwindigkeit nicht mehr gesehen werden. Hier wird eben die Wahrnehmungsschwelle - die Trägheit des Auges - angesprochen, auf der die illusorischen Bewegungsbilder des Filmes basieren. Die eigentliche Zeitreise wird zu einem filmischen Spektakel, wo Techniken wie Zeitlupe und Zeitraffer zum Zuge kommen. Geschwindigkeit, Schwindel und Verschwinden bedingen sich - so wie sich der Film sehr schnell mit rasanten Eisenbahnfahrten und Verfolgungsjagden anfreundete, um Vertigogefühle im Zuschauer zu erregen. Das Zeitreisen löst äußerst unangenehme Emotionen aus: [...] of a helpless headlong motion! I felt the same horrible anticipation, too, of an imminent smash [...]. I saw the sun hopping swiftly across the sky, leaping it every minute, and every minute marking a day. [...] I was already too fast to be conscious of any moving things. The slowest snail that ever crawled dashed by too fast for me [...]. I saw trees growing and changing like puffs of vapour, now brown, now green; they grew, spread, shivered, and passed away. I saw huge buildings rise up faint and fair, and pass like dreams. (Wells 1984: 28f.).
Was hier die Maschine besorgt, erledigt in einer weiteren Geschichte von Wells, The New Accelerator (1901), eine Droge, allerdings mit einem Unterschied. Bei der Zeitmaschine vergeht pro Minute ein Tag, bei weiterer Beschleunigung ein Jahr. Während das Subjekt also zeitlich in seinem anthropologischen Rahmen bleibt, fliegt die Außenwelt immer schneller vorbei; deshalb altert oder verjüngt der Zeitreisende auch nicht ungewöhnlich. In The New Accelerator dagegen ist es umgekehrt. Hier wird die Zeit im Subjekt beschleunigt, während die Außenwelt immer langsamer wird, bis sie geradezu erstarrt. In einer Sekunde passiert daher unendlich viel für den, der diese Droge nimmt. Er könnte z.B. keine Filme mehr genießen, da sein Auge nicht mehr träge genug wäre und alles in Zeitlupe sehen würde. Mit dieser Droge wird somit das anthropologische Wahrnehmungsgefüge unterlaufen. Der Mensch kann nun Dinge tun, die zuvor nur von technischen Geräten wie der Kamera oder dem Filmprojektor ge-
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leistet wurden. Man kann daher diese Droge auch als technologisches Implantat ansehen, als Vorläufer einer Mensch-Technik-Prothese, wie sie später Marshall McLuhan beschreiben sollte. In beiden Geschichten experimentiert Wells mit Zeitkonzepten, die die alte vertraute Welt auflösen, sei es durch Beschleunigung oder Verlangsamung. Es ist wohl kein Zufall, daß der Plan der ersten filmischen Umsetzung von Literatur 1895, gleich nach Erscheinen von The Time Machine entstand. Der englische Filmpionier Robert Paul beantragte ein Patent für eine Zeitmaschinenshow: A novel form of exhibition whereby the spectators have presented to their view scenes which are supposed to occur in the future or in the past, while they are given the sensation of voyaging upon a machine through time [...] the mechanism consists of platforms for the spectators, with an opening which is directed towards a screen upon which the views are presented.( zit. nach Christie 1994: 28).
Literarischer Text und Medium - hier noch ein Medienensemble - sind wie prädestiniert füreinander. Das Patent konnte leider nicht verwirklicht werden, aber etwas Ahnliches finden wir heute an vielen Vergnügungsstätten der Welt - Zeitkapseln fliegen bei Madame Tussaud, am Londoner Tower und in den Disneylands dieser Welt.2 Die Rückwärtswendung des Zeitpfeils findet sich auch in einer technisch inspirierten Phantastik. Der unübertroffene Vertreter dieser Richtung war der Oxforder Mathematiker Lewis Carroll. Seine Alice-Bücher sind voller Zeitparadoxien, die die Einstein'sche Raumzeit vorwegnehmen. In seinem späten Roman Bruno and Sylvie (1888) tritt ein Professor auf, der mit einer magischen Uhr die Zeit zurücklaufen lassen und damit auch Vorgänge rückwirkend verändern kann, zumindest in der Theorie. In Alice führen paradoxe Zeitformen dazu, daß zuerst die Strafe kommt und dann das Verbrechen. Hier entstehen mitten in der viktorianischen Zeit unter der Hand Kafkasche Labyrinthe.
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MAGIE UND MEDIUM
Daß Magie und Technik in ihrer Erscheinungsform sehr nahe beieinanderliegen, wenn nicht die letztere gar aus der ersten hervorgegangen ist, dokumentiert ein Roman von Jules Verne sehr deutlich und eindrücklich: Le château des Carpathes (1892). Der Ort ist nicht zu weit entfernt von jenem Transsylvanien, das sechs Jahre später seinen Siegeszug durch die Literatur antreten wird mit Bram Stokers Dracula. In einem verfallenen Schloß wohnen ein morbider Graf und sein Wissenschaftler. Der Graf ist immer noch unsterblich verliebt in eine Sängerin, die einst vor seinen 2
Egon Friedeil schrieb eine Fortsetzung zu The Time Machine (postum erschienen unter dem Titel Die Rückkehr der Zeitmaschine, 1946) und wies daraufhin, daß die Zeitmaschine, sofern sie langsam fliegt, sich hervorragend für den Film eignet.
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Augen bei einem Konzert auf der Bühne starb. Zusammen mit seinem Techniker baut er sich ein Medienensemble auf, das zwei Dinge bezweckt: erstens die visuelle und akustische Auferstehung der geliebten Sängerin La Stilla in einem Hologramm mit Tonkonserve; zweitens die Kontrolle des Dorfes unterhalb des Schlosses durch Technik, das heißt durch telefonische Überwachung, Erzeugung von Stimmen und ähnliche Praktiken. Die Absicht besteht darin, ungebetene Gäste fernzuhalten, die das phantastische Spektakel auf dem Schloß stören könnten. Das Medienensemble enthält auch so etwas wie Bildtelefone: "Elles pouvaient même se voir dans des glaces reliées par les fils grâce à l'invention du téléphone" (Verne 1979: 214). Die technische Projektion von Bildern dient hier psychologischen Bedürfnissen - der Liebe und der Furchterregung, die man allerdings auch politisch deuten könnte. Der Überwachungsstaat moderner Diktaturen ist hier ebenso angedeutet wie das Schloß Kafkas. Vernes Projektion hat folgende Funktionen mit den Medien Film, Fernsehen und Foto gemeinsam: Vergangenheit wird konserviert; der Betrachter macht sich zum Objekt vergangener Zustände und Gefühle. Die Vergangenheit bekommt Zugriff auf die Gegenwart. Wie in den frühen Zauberlaternen, den Panoramen, Dioramen und Camerae Obscurae, wie in den Kinos und am Bildschirm heute sind Schaudern, Angst und Erotik die wichtigsten Anreize für das Hinschauen. Jules Vernes Wissenschaftler im Karpatenschloß, wie schon Athanasius Kircher und sein Engelschor, sind gleich unseren nächtlichen Fernsehprogrammen darauf aus, das Land mit Phantasmen der Angst und der Erotik zu überziehen, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit auszulöschen - die einen, um sich vor Eindringlingen zu schützen, die anderen, um Gaben zu erzwingen, Gaben, die heute auch Einschaltquoten heißen. Der folgende Abschnitt aus Jules Vernes Roman könnte mühelos das Programm von RTL 2 oder Pro 7 zur prime time beschreiben: Cette nuit-là, la machinerie d'Orfanik, qui était toujours prête à fonctionner, produisit une série de phénomènes purement physiques, de nature à jeter l'épouvante sur le pays environnant: cloche tintant au campanile de la chapelle, projection d'intenses flammes, mélangées de sel marin, qui donnaient à tous les objets une apparence spectrale, formidables sirènes d'où l'air comprimé s'échappait en mugissements épouvantables, silhouettes photographiques de monstres projetées au moyen de puissants réflecteurs. (Verne 1979: 217).
5.
VERSCHIEBUNG DES SICHTBAREN
Ein anderer Aspekt der neuen medialen Möglichkeiten wird in einer bemerkenswerten Kurzgeschichte von H. G. Wells behandelt. Am 28. März 1895 erschien in The Fall Mall Budget "The Remarkable Case of Davidson's Eye." Der Ingenieur Sidney Davidson arbeitet in einem technischen Labor und hat einen Unfall während eines Gewitters - vermutlich ein Blitzschlag in einen Elektromagneten. Das erste vernünftige Wort, das ihm einfällt, ist "Waves" - gemeint sind die Meereswellen, wenngleich die
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Konnotation 'elektromagnetische Wellen' mitschwingt. Von nun ab lebt er einige Wochen in einer zweiten Welt - er erzählt vom Schiff, das vom Blitz getroffen wurde, von Sturm und Schiffbruch, nennt Namen, sieht Dünen und Strände. Das Labor existiert für ihn nicht mehr, die reale Umgebung wird überlagert von der Welt der Südsee. Er ist völlig hilflos, stößt sich an allen Gegenständen und stürzt über die trivialsten Dinge. Eine Fahrt durch London ist ihm, als ginge er durch die Dünen einer Insel. Die Erfahrung wird von seiner Umwelt als Psychose abgetan. Nach einiger Zeit kehrt die Realität stückweise in seine visuelle Wahrnehmung zurück und verdrängt die Welt der Südseeinseln. Zwei Jahre später stellt sich heraus, daß tatsächlich zur Zeit von Davidsons Unfall ein Schiff an den Antipoden vom Blitz getroffen wurde. Details über Namen und Personen stellen sich als richtig heraus. Es war also keine Halluzination, sondern eine Art Fern-Sehen, extreme Weitsichtigkeit, wenn man so will, und elektrisch induziert dazu. In der Erzählung versucht ein Professor Wade eine Erklärung, indem er sich auf das Konzept der vierten Dimension bezieht, die seit etwa 1880 lebhaft diskutiert wurde (vgl. Schenkel 1993). Die Theorie ist aus heutiger Sicht interessant, weil sie von einem gekrümmten Raum ausgeht: "[...] two points might be a yard away on a sheet of paper, and yet be brought together by bending the paper round" (Wells 1958: 182) - eine Konzeption, die Einstein etwa zehn Jahre später in die Physik brachte. Raum und Zeit haben ihre Absolutheit verloren; der Raum ist nicht homogen, sondern es gibt einen "kink in space" (ebd.). Wie auch immer die Erklärung hier sei, es bleibt die Möglichkeit festzuhalten, "to live visually in one part of the world, while one lives bodily in another" (ebd.). Eine bessere Definition des Fernsehens habe ich bislang nicht gefunden. Der Erzähler meditiert denn auch über "the oddest possibilities of intercommunication in the future, of opening an intercalary five minutes on the other side of the world, or being watched in our most secret operations by unsuspected eyes" (Wells 1958: 174). Die Raumkrümmung oder das elektromagnetische Feld erzeugen hier eine Diskrepanz zwischen Mensch und Umgebung; das Globale verdrängt das Lokale. Der Raum wird im Fernsehen radikaler noch vernichtet als durch die Eisenbahn, mit der dieser Prozeß begonnen hatte, der idealiter in der Bilokalität oder Multilokalität des Individuums enden muß, wenn Materie in Information verwandelt ist (Schivelbusch 1977: 38f.). So wie der Raum schwindet oder unerwarteten Faltungen unterliegt, wird die Welt gleichzeitiger, ein Prozeß, der Halluzinationen und andere optische Täuschungen hervorbringen muß. Die Interferenzen zwischen Raum und Zeit werden unübersichtlicher und erreichen extreme Komplexitäten. Die Welt wird zum Vorspiel für eine virtuelle Welt, in der der Möglichkeitsraum wächst. Interessant ist die Antwort Davidsons auf die Behauptung seiner Kollegen, er könne zwar hören und fühlen, aber nicht sehen. Die Sache sei aber schlimmer als Blindheit: "It seems to me," sagt Davidson, "that I see too much" (Wells 1958: 177). Davidson bewegt sich in einer virtuellen Welt, die extrem informationshaltig, aber entmaterialisiert ist: "He said it was very funny the way in which the penguins used to waddle
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right through him, and how he seemed to lie among them without disturbing them." (ebd.: 178). Daß neue visuelle Medien die Sichtbarkeit vermehren, ist vielleicht ihr wichtigstes Kriterium. Der Horizont dehnt sich aus, jedoch wird vieles auch unsichtbar, so die unmittelbare Umgebung Davidsons, das Labor. Vielleicht gibt es ein Gesetz der Erhaltung der Quantität des Sichtbaren. Der Eintritt eines neuen Mediums in die Kultur jedenfalls bringt zunächst einen Schub des Neuen, der als bedrohlich empfunden wird. Mikroskop und Teleskop haben Welten in den Umkreis des menschlichen Auges geholt, die nicht mehr kommensurabel scheinen. Man denke an die Spukgeschichte des irischen Amerikaners Fitz-James O'Brien (1828 - 1862) mit dem Titel The Diamond Lens, in der der Erzähler sich durch einen Mord und den Raub eines Riesendiamanten des absoluten Mikroskops bemächtigt. Er versenkt sich in die gasförmigen Wälder, flüssigen Lichtungen und farbigen Wüsten eines Wassertropfens, bis ihm eine weibliche Gestalt von reinster Schönheit entgegentritt, ein Animalculum. Er verliebt sich in dieses und möchte die Grenze zwischen Medio- und Mikrokosmos überschreiten, doch da stirbt das Wesen vor seinen Augen - der Wassertropfen ist verdampft. Zurück bleibt ein verrückter Mikroskopiker. Während bei O'Brien in eine mikroskopische Parallelwelt ferngesehen wird, hat Wells in der Kurzgeschichte The Crystal Egg einen Kristall parat, in dem sich abbildet, was gerade auf dem Mars geschieht. Der Kristall ist aber nicht einfach ein Teleskop, denn er funktioniert in beide Richtungen. Den Marsmenschen dient er nämlich als Fernsehsender über Dinge, die sich in London tun; sie haben ihrerseits einen entsprechenden Kristall: "It was not dream-like at all; it produced a definite impression of reality, and the better the light the more real and solid it seemed. It was a moving picture [...]" (Wells o.J.: 293). Nicht jeder sieht gleich gut in diesem Bildschirm, so wie Jugendliche mehr von Videoclips haben als Ältere; das Medium ist unterschiedlich nutzbar: "[...] what was a view to Mr. Cave was a mere blurred nebulosity to Mr. Wäce" (ebd.). Der Erzähler schließt: "I believe the crystal on the mast in Mars and the crystal egg of Mr. Cave's to be in some physical, but at present quite inexplicable way en rapport [...] No theory of hallucination suffices for the facts." (ebd.: 300). Zusammenfassend läßt sich sagen: Das Fernsehen erscheint in seiner frühen Phase oft als eine Form der Hypnose, wie auch schon McLuhan feststellte (McLuhan 1973: 123). Das neu entstehende Medium fixiert den Blick. Jules Vernes Graf setzt diese Qualitäten bewußt zur Irreführung seiner realen oder eingebildeten Verfolger und Konkurrenten ein. Die Ton-Bilder erzeugen tranceähnliche Zustände und appellieren an Obsessionen. Sie vermitteln - wie bei Davidson - eine schizoide Einstellung zur Wirklichkeit und führen oft zu einer Sucht, wie bei Fitz-James O'Briens Mikroskoper oder Wells' Mr. Cave. Das Medium ist in dieser frühen historischen Phase Droge und Hypnose in einem. Es führt eine Erstarrung des Blickes herbei, die nach dem Muster von Mimikry die Totenstarre vorwegnimmt. Sergej Eisenstein sagte 1930 in einem
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Vortrag in Paris über den Film: "Wir haben entdeckt, wie wir den Zuschauer zwingen können, in einer bestimmten Richtung zu denken." (zit. nach Buddemeier 1987: 256). Die frühen Reaktionen auf neue visuelle Medien nehmen vorweg, wozu sich die Medienforschung erst heute mühsam durchgekämpft hat, zu der Erkenntnis nämlich, daß Film und Fernsehen Willen und Denken so besetzen können, wie wir es aus der Hypnose kennen. Der Medienhistoriker Heinz Buddemeier schreibt dazu: Bewußtsein und Denken treten zurück wie im Schlaf. Zugleich sind Augen und Ohren weit geöffnet wie am Tage. Etwas ganz Widernatürliches wird erreicht: wir sind passiv und willenlos und zugleich gegenüber der Sinnenwelt weit geöffnet. (1987: 264).
Mit anderen Worten: Film und Fernsehen führen wie die Laterna Magica "die Zuschauer in einen Zustand zurück, den man als mythisches Bewußtsein bezeichnen könnte" (ebd.: 248). Nicht umsonst heißt übrigens der Besitzer des Kristalls in Wells' Geschichte Mr. Cave. Der Name bringt uns zurück an den Anfang: zu Piatons Höhle mit ihren Schatten und gefesselten Gestalten. Denn auch die neu entstehenden Medien haben dies gemeinsam: Sie fesseln, und zwar im doppelten Sinne, als Faszination ebenso wie als Ursache von Abhängigkeit. Die frühen Reflexionen des Fernsehens in der Literatur zeigen, daß mit dem neuen Zuwachs an Sichtbarkeit eine Erstarrung der Wahrnehmung gefürchtet wird. Mit Marshall McLuhan könnte man diese Angstphantasie auf die Erkenntnis zurückfuhren, daß Menschen mit Stress konfrontiert werden: "In the physical stress of superstimulation of various kinds, the central nervous system acts to protect itself by a strategy of amputation or isolation of the offending organ, sense or function." (McLuhan 1973: 52). Mit anderen Worten, das neue Medium droht mit der Anästhesie des betroffenen Sinnesbereichs. Dies gilt zumindest für die Phase, in der die neuartige Technologie nicht domestiziert ist, d.h. von den Nutzern noch keine entsprechenden Wahrnehmungstechniken entwickelt worden sind, möglicherweise, weil jede neue Entwicklung auch als Verlust gedeutet wird.
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Jürgen Kramer Universität Dortmund
BLICKE IM FILM, BLICKE IM KINO ÜBERLEGUNGEN ZU ALFRED HITCHCOCKS REAR WINDOW (1954) [...] surreal slasher at the eyeball's murderous gaze [...] Jules Smith [...] the systematic organization of the visual field in these films [directed by Alfred Hitchcock] truly stages an enunciation of the gaze, a place for the one who looks. Raymond Bellour
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BLICKE, POSITIONEN
In meinem Essay möchte ich Alfred Hitchcocks Film Rear Window (dt. Das Fenster zum Hof) aus dem Jahre 1954 vorstellen und - in Verbindung damit - eine Reihe von theoretischen Überlegungen zur Filmanalyse diskutieren, wie sie in den letzten zwanzig Jahren im Zusammenspiel von Semiotik und Psychoanalyse entwickelt worden sind. Hitchcocks Rear Window eignet sich für dieses kombinierte Vorgehen deshalb so besonders gut, weil die Filmhandlung die zentrale Figur in einer Situation plaziert, die wie der französische Regisseur François Truffaut in einem seiner bekannten Interviews mit Hitchcock bemerkte (Truffaut 1975: 212) - in vielen Momenten der eines Kinobesuchers gleicht: Der Fotoreporter L. B. Jefferies, genannt Jeff (James Stewart), der durch ein Bein in Gips zur Untätigkeit gezwungen ist, beobachtet aus Langeweile das Verhalten seiner Nachbarn auf der anderen Seite des Hofes hinter seiner Wohnung in Greenwich Village. Seine Beobachtungen drängen ihm den Verdacht auf, daß einer seiner Nachbarn, Lars Thorwald (Raymond Burr), seine Frau umgebracht hat, aber es gelingt Jeff nicht, seine Freundin Lisa Freemond (Grace Kelly) und seinen Freund, den Detektiv Thomas J. Doyle (Wendeil Corey), von der Richtigkeit seines Verdachts zu überzeugen. Als Lisa schließlich Indizien findet, die Jeffs Verdacht bestätigen, entdeckt der Mörder, daß er beobachtet wird, und versucht, den Fotografen zu töten. Jeff wird im letzten Augenblick gerettet, aber während der Rettungsaktion bricht er sich sein anderes Bein (vgl. Truffaut 1975: 211).
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Diese Handlungskonstellation bot Hitchcock - wie er selbst meinte - die Möglichkeit, "einen vollkommen filmischen Film zu machen. Da war der unbewegliche Mann, der nach draußen schaut. Das ist das erste Stück des Films. Das zweite Stück läßt in Erscheinung treten, was der Mann sieht, und das dritte zeigt seine Reaktion. Das stellt den reinsten Ausdruck filmischer Vorstellung dar, den wir kennen" (zit. in Truffaut 1975: 211). Und gleichzeitig ist dies (wie bereits angedeutet) eine - wenn auch nur vorläufige - Beschreibung unserer Situation im Kino, wenn wir einen Film anschauen. Wir sind - im Guten wie im Bösen - im mehrfachen Wortsinn 'gefesselt': an einen Sitz in einem dunklen Raum und an einen Fluß von Bildern, die eine (oder mehrere) Geschichte(n) erzählen; wir schauen 'nach draußen', d.h. auf etwas 'außerhalb' des Kinoraumes, auch wenn wir vielleicht eher das Gefühl haben, wie Voyeure durch ein Schlüsselloch zu starren; und wir reagieren auf vielfältige Art und Weise auf das, was wir sehen: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, begeistert, gelangweilt, gerührt, erschrocken - oder irgendwo zwischen diesen Extremen. Aber woher rührt diese Lust am Schauen? Warum ist sie so weit verbreitet? Hitchcock war sich darüber klar, daß er in seinem Film, sagen wir einmal provisorisch, eine 'Leidenschaft' darstellte - und damit einem spezifischen Bedürfnis seiner Zuschauerinnen und Zuschauer entgegenkam: Ich wette, daß von zehn Leuten, wenn sie am Fenster gegenüber eine Frau sehen, die schlafen gehen will und sich auszieht, oder auch nur einen Mann, der sein Zimmer aufräumt, daß von zehn Leuten neun nicht anders können als hinschaun. Sie können nicht wegsehen und sagen: "Das geht mich nichts an." Sie könnten die Läden schließen. Aber nein, das tun sie nicht, sie schauen hin so lange wie möglich. (Truffaut 1975: 212).
Und mit genau dieser Haltung lädt uns Hitchcock in seinen Film Rear Window ein: Nachdem die Filmtitel gewissermaßen 'über' eine Theatermetapher 'gelaufen' sind an einem dreiteiligen Fenster, dem Fenster zum Hofe, werden nacheinander die Jalousien hochgezogen -, beginnt die eigentliche Filmhandlung mit einer Kamerafahrt aus dem Inneren des Raumes auf das Fenster zu, die in dem Augenblick endet, in dem Fensterrahmen und Filmausschnitt zusammenfallen, also eine Identität zwischen dem Blick aus dem Fenster und dem Blick auf die Leinwand hergestellt ist. Wer immer in dem Zimmer ist, ist sozusagen 'bei uns' im Zuschauerraum, bzw. umgekehrt: wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, haben das Zimmer, aus dessen Fenster wir schauen, betreten. Scheinbar 'ganz natürlich' - aber eben gar nicht natürlich, sondern von der Kamera gelenkt - schweift unser Blick über den Hof, die dem Fenster gegenüberliegenden Häuser mit ihren Fenstern, Balkons und Terassen und landet schließlich wieder innerhalb 'unseres' Fensters auf dem schweißnassen Gesicht des schlafenden Fotoreporters Jefferies. Dann werden uns weitere Einzelheiten der 'Hofgesellschaft' gezeigt, ein Blick aufs Thermometer informiert zudem über die extreme Hitze, die herrscht, schließlich kommen wir wieder bei Jeff an - und diesmal können wir auch sein Gipsbein mit der Aufschrift Here lie the broken bones ofL. B. Jefferies sehen.
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Anschließend schwenkt die Kamera in das Innere des Raumes, um uns anhand von Utensilien und Fotos über Jeffs Beruf aufzuklären. In dieser Eingangssequenz - man könnte sie als einen (erweiterten) establishing shot bezeichnen - finden sich die drei Blicke, um die es in diesem Film (wie in vielen anderen) geht. Da sind erstens die Blicke der Charaktere: In unserem Film geht es hauptsächlich um den Blick des Protagonisten aus dem Fenster. (Natürlich schaut er auch die Personen an, die seinen Raum betreten, und wird von ihnen angeschaut, aber das ist - in diesem Film - sekundär.) Da ist zweitens der Blick der Kamera bzw. des Regisseurs, der sie ausrichtet: dieser Blick identifiziert sich zum Teil mit den jeweiligen Blicken der Charaktere (z.B. im Schuß-Gegenschuß-Verfahren), zum Teil distanziert er sich von ihnen und verschafft uns durch diese Distanz(ierung) nicht unbedingt «//-wissende, aber doch mehr-wissende Über- bzw. Einblicke, die den Charakteren versagt werden.1 Da ist drittens unser Blick: der Blick der Zuschauerinnen und Zuschauer, die wir uns mal mit den Charakteren (wieder im Schuß-GegenschußVerfahren), mal mit der Position des Mehr-Wissens (der Position des Regisseurs) identifizieren - auf jeden Fall aber genötigt sind, in bzw. zu den verschiedenen BlickBeziehungen eine Position zu finden, mit ihnen umzugehen, um sie zu verstehen. In der folgenden Sequenz werden verschiedene Dimensionen des Schauens thematisiert und diskutiert: Zum einen führt Jeff ein Gespräch mit seinem Verleger, aus dem nicht nur hervorgeht, wie er zu seinem Gips gekommen ist - der sich lösende Reifen eines Autorennwagens, den er fotografiert hat (wir konnten das Foto bereits sehen), hat sein Bein getroffen -, sondern in dessen Verlauf auch klar wird, daß Jeff seit sechs Wochen nichts anderes tun kann, als aus dem Fenster sehen, was ihn, der ein männlich-abenteuerliches Leben liebt, tödlich langweilt. Er sagt: "Wenn Sie mich nicht aus diesem Sumpf der Langeweile herausholen, werde ich etwas ganz Schlimmes tun - zum Beispiel heiraten ...". Daß dies wirklich etwas Schlimmes für ihn wäre, weil es (in seinen Augen) zur Aufgabe seiner Unabhängigkeit führen würde, wird aus der folgenden Diskussion zwischen ihm und seinem Verleger deutlich. Etwas später erscheint Stella, die Krankenschwester, die ihn massiert und versorgt. Sie kommt hinzu, als er aus dem Fenster schaut, nennt ihn gleich einen "Spanner" und sagt, früher hätte man den Leuten für so etwas die Augen ausgestochen. Und sie fügt hinzu: "Wir sind doch ein Volk von Spannern geworden. Die Leute sollten mal, statt bei anderen ihre Nase 'reinzustecken, vor ihrer eigenen Haustür kehren." Sie prophezeit Jeff "Ärger" - und das gleich mehrfach. Wir sehen und verstehen: Jeff ist Fotoreporter, also jemand, der - als Profi hinschaut, der - wegen seines Berufes, den er (wie wir in seinem Gespräch mit Stella erfahren) mehr als seine attraktive Freundin liebt - Menschen und ihr T\in unter der
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So weiß Jeff lange Zeit nicht, was wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, wissen, weil die Kamera es uns gezeigt hat: Lars Thorwald, den Jeff verdächtigt, seine Frau ermordet zu haben, hat seine Wohnung morgens gegen 6.00 Uhr mit einer schwarz gekleideten Frau verlassen was Jeff nicht sehen konnte, weil er schlief.
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Perspektive einer (möglichen) 'Geschichte' wahrnimmt. Stella, die von sich meint, sie habe 'gesunden Menschenverstand', während Jeff ihre Ratschläge ironisch als Zitate aus dem Reader's Digest von 1939 entlarvt, hält dies für gefährlich und 'unnatürlich'; deshalb versucht sie, Jeff davon zu überzeugen, daß eine Heirat mit Lisa das Beste für ihn sei. Aber auch Stella zeigt in ihrer Kritik eine gewisse Ambivalenz, und es dauert nicht lange, da schaut sie mit Jeff und Lisa genauso fasziniert w i e diese auf das sich entwickelnde Drama - und wir mit ihr und ihnen.
2. SCHAULUST Woher rührt diese Schaulust? Abhandlungen zur Sexualtheorie
Sigmund Freud schreibt in der ersten seiner (1905):
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Als normales Sexualziel gilt die Vereinigung der Genitalien in dem als Begattung bezeichneten Akte [...]. Doch sind bereits am normalsten Sexualvorgang jene Ansätze kenntlich, deren Ausbildung zu den Abirrungen führt, die man als Perversionen beschrieben hat. Es werden nämlich gewisse intermediäre [...] Beziehungen zum Sexualobjekt, wie das Betasten und Beschauen desselben, als vorläufige Sexualziele anerkannt. Diese Betätigungen sind einerseits selbst mit Lust verbunden, andererseits steigern sie die Erregung, [allerdings sollten sie] normalerweise auf dem Wege zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden. (Freud 1989, Bd.V: 60). Bei d i e s e n Perversionen unterscheidet Freud nun zwei Arten: "a) anatomische Überschreitungen der für die geschlechtliche Vereinigung bestimmten Körpergebiete" und "b) Verweilungen bei den intermediären Relationen zum Sexualobjekt" (ebd.). In Bezug auf die Letzteren führt er aus: Ein gewisses Maß von Tasten ist wenigstens für den Menschen zur Erreichung des normalen Sexualzieles unerläßlich. Auch ist es allgemein bekannt, welche Lustquelle einerseits, welcher Zufluß neuer Erregung andererseits durch die Berührungsempfindungen von der Haut des Sexualobjekts gewonnen wird. Somit kann das Verweilen beim Betasten, felis der Sexualakt überhaupt nur weitergeht, kaum zu den Perversionen gerechnet werden. Ähnlich ist es mit dem in letzter Linie vom Tasten abgeleiteten Sehen. Der optische Eindruck bleibt der Weg, auf dem die libidinöse Erregung am häufigsten geweckt wird und auf dessen Gangbarkeit [...] die Zuchtwahl rechnet, indem sie das Sexualobjekt sich zur Schönheit entwickeln läßt. [...] Ein Verweilen bei diesem intermediären Sexualziel des sexuell betonten Schauens kommt in gewissem Grade den meisten Normalen zu [...]. Zur Perversion wird die Schaulust [...], a) wenn sie sich ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbindet [...], c) wenn sie das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, verdrängt, (ebd.: 66). In den (zehn Jahre später entstandenen) Vorlesungen
zur Einführung
in die
Psycho-
analyse (1916-17) schreibt Freud ergänzend, "daß dem Sexualleben der Normalen nur
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selten der eine oder andere perverse Zug abgeht", und fügt noch hinzu, "daß das Wesentliche der Perversionen nicht in der Überschreitung des Sexualzieles, nicht in der Ersetzung der Genitalien, ja nicht einmal immer in der Variation des Objektes besteht, sondern allein in der Ausschließlichkeit, mit welcher sich diese Abweichungen vollziehen und durch welche der der Fortpflanzung dienende Sexualakt beiseite geschoben wird" (Freud 1989, Bd. I: 317-318). 2 Wie 'passen' nun diese Überlegungen zur Schaulust zur Handlung unseres Filmes? Für Jeff hat seine Schaulust, die sich nicht - wie bei einem 'klassischen' Voyeur - auf Genitalien oder sexuelle Handlungen richtet, sondern auf andere 'erregende' Bilder verschoben wird, das normale Sexualziel i.o.S. zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend verdrängt. Dafür gibt es auch einen realen Grund, der zudem noch sehr symbolträchtig ist: sein gebrochenes Bein ist bis zur Hüfte in Gips. Nach Freuds Meinung werden manifeste Perversionen "in manchen Fällen dadurch provoziert oder aktiviert, daß einer normalen Befriedigung des Sexualtriebes allzu große Schwierigkeiten gemacht werden, infolge vorübergehender Umstände oder dauernder sozialer Einrichtungen." (ebd.: 306). Mehr noch; Freud fährt fort: Wenn es richtig ist, daß die reale Erschwerung oder die Entbehrung einer normalen Sexualbefriedigung bei Personen perverse Neigungen zum Vorschein bringen, die sonst keine solchen gezeigt hatten, so muß bei diesen Personen etwas anzunehmen sein, was den Perversionen entgegenkommt; oder wenn Sie so wollen, sie müssen in latenter Form bei ihnen vorhanden sein, (ebd.: 306-307).
Und davon könnte bei Jeff ja durchaus die Rede sein, verweisen sein Beruf als Fotoreporter und seine Vorliebe für abenteuerliche Fotoexpeditionen doch deutlich auf seine Schaulust. Vielleicht war ja der Unfall eine Folge seiner Schaulust? Freud unterscheidet (1910) im seelischen Leben der Menschen grob zwei Gruppen von Trieben: die "der Gewinnung sexueller Lust" dienenden Sexualtriebe und die für 2
Auch in der Kulturgeschichte ist ein Zusammenhang zwischen dem Sehen und der Sexualität beobachtet worden: So hat zum einen Hartmut Böhme den "Aufstieg des Auges" als zentrales Sinnesorgan des Menschen seit der Antike und die - damit einhergehende - "charakteristische Verschiebung der erotischen Energie [...] vom Genital aufs Auge" (Böhme 1988: 223f.) beschrieben und zum anderen Norbert Elias in seinen Studien zum Prozeß der Zivilisation die steigende Bedeutung angemerkt, "die das Auge mit der wachsenden Affektdämpfung als Vermittler von Lust" (Elias 1969, Bd. II: 406) seit Beginn der frühen Neuzeit erlangt hat. Das läßt sich von den Texten der Vorsokratiker über die griechischen Tragödien bis zu Nikolaus von Cusa, einem deutschen Philosophen, Wissenschaftler und Theologen des 15. Jahrhunderts (1401-64), mit seinem "Amare tuum est videre tuum." (zit. bei Bozovic 1992: 161), ja, bis zu unserem Film, in dem Bing Crosby, Nikolaus von Cusa übersetzend, "To see you is to love you" singt, belegen. Und wenn es noch eines weiteren Beispiels bedarf: In Casablanca sagt Rick (Humphrey Bogart) viermal zu der Frau, die er liebt (Ingrid Bergman): "Here's looking at you, kid" - was unzulänglich, aber im Sinne meiner Argumentation richtig mit "Ich schau dir in die Augen, Kleines" übersetzt wurde -, aber kein einziges Mal "Ich liebe dich" oder etwas Ahnliches.
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die "Selbsterhaltung des Individuums" verantwortlichen "Ichtriebe" (Freud 1989, Bd. VI: 209-210). Diese Triebe geraten oft in Interessenkonflikte und fechten sie auch untereinander aus. Als Jeff das aufregende Foto des sich vom Rennwagen lösenden Reifens schoß - und zwar unter Lebensgefahr, wie wir aus dem Foto und seiner Verletzung schließen können -, da dominierte offensichtlich der Lustgewinn versprechende Trieb den lebenserhaltenden, sonst hätte Jeff nicht fotografiert, sondern sich in Sicherheit gebracht. Daß sein Bein bei dem Unfall gebrochen wurde, empfindet Jeff zwar als unverdiente Strafe, beraubt ihn der Unfall doch seiner Möglichkeiten umherzugehen, zu reisen - und dabei zu schauen und zu fotografieren -, verändert aber nicht seine psychische Struktur: Anstatt (wie Stella ihm rät) "vor der eigenen Türe zu kehren", d.h. sich selbst mal zum Zentrum seiner Beobachtungen zu machen, hält er nach anderen (ihm in seiner behinderten Position möglichen) 'Aufregungen' Ausschau. Seine vorläufige - symbolische - Kastration (das gebrochene Bein anstelle eines verletzten Auges) versteht er nicht als Warnung, sondern sie dient ihm nun - ganz im Gegenteil als reale Unterstützung seiner Verdrängung des eigentlichen Sexualziels. Und diverse Versuche seiner Freundin Lisa, ihn zu diesem (d.h. zu ihr) zurückzuführen, sprich: ihn zu verführen, scheitern kläglich. Bezeichnenderweise sagt Jeff einmal zu Lisa, als sie ihn küßt, er sei "nicht gerade völlig abwesend", aber genau das ist das Problem: Sein Körper sitzt zwar im Rollstuhl, aber sein Blick (und damit sein Interesse) ist über Lisas Schulter auf die gegenüberliegende Wohnung gerichtet. Lisa setzt sich zwar mehrfach in Jeffs Blickfeld (z.B. auf die Fensterbank) und später erklärt sie sein Verhalten für krankhaft, ja, dreht sogar den Rollstuhl vom Fenster weg - vergeblich. Sie versucht, durch Variation der Kleidung (vom Pariser Modellkleid bis zum Negligé), wechselnde Frisuren, Umarmungen und Liebkosungen bzw. Diskussion und Streit seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - ebenfalls ohne Erfolg. Erst in dem Augenblick, als sie sich seine Perspektive, seinen Blick auf die Dinge zu Eigen macht, gewissermaßen 'in seine Geschichte einsteigt', gerät sie auch in Jeffs Blickfeld.3
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Lisa hat 'gute Gründe', in Jeffs Phantasie 'einzusteigen': Als sie dies tut, sieht sie in das Schlafzimmer der Thorwalds, in dem Thorwald gerade einen großen Schrankkoffer mit einem Seil verschnürt. Vielleicht identifiziert sich Lisa ja nicht mit der (möglicherweise) in dem Koffer steckenden Leiche von Frau Thorwald, sondern mit dem den Koffer verschnürenden Mann: So 'sicher' wie der seine Frau hat, so 'sicher' möchte sie Jeff haben. Und indem sie in Jeffs Phantasie einsteigt, sichert sie ihn sich. Mehr noch: Hat sie zunächst versucht, ihm seine Phantasie auszureden und sich selbst an deren Stelle zu setzen, und ist sie sodann in seine Phantasie eingestiegen, so kombiniert sie später beide 'Methoden', wenn sie (mit Jeff) Thorwald über- und (dadurch und außerdem) Jeff ver- führen will. Nur die von Doyle, dem Detektiv, recherchierten Daten stimmen nicht mit Jeffs und Lisas 'Theorien' (=Phantasien) überein. So bietet sich Lisa - wieder einmal - als realen Ersatz an; das eigentliche Sexualziel soll die Perversion ersetzen: In der folgenden Sequenz sehen wir Jeffs Gesicht in Nahaufnahme; er trinkt, hält aber seinen Cognacschwenker so vor dem Gesicht, daß man nur sein rechtes Auge sehen kann, das nach einem kurzen Augenblick fokussiert und größer wird; gleichzeitig läßt er langsam das Glas sinken - was den Effekt hat, als ob er leicht, ganz leicht, den Kopf hebt. Nach dem folgenden Schnitt auf Lisa im Negligé wissen wir, was wir gesehen haben:
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Kommt uns dies nicht durchaus bekannt vor? Welche 'Störungen' beseitigen wir, wenn wir unserer Schaulust im Kino frönen wollen? Wir begeben uns in einen Raum mit weichen Sesseln, die - nebeneinander stehend - auf eine Leinwand ausgerichtet sind. Bevor der Film beginnt, ertönt oft ein Gong, das Licht erlöscht langsam, ein Vorhang öffnet sich, die Gespräche verstummen, das Papierrascheln hört - hoffentlich auf. Wir setzen uns zurecht und warten auf die ersten Bilder, die ersten Töne. Wir ärgern uns über alles, was uns ablenkt - insbesondere verspätete Kinobesucherinnen und -besucher, die sich (möglicherweise) über unsere Füße stolpernd, aber vor allem uns zeitweise die Sicht versperrend, ihren Platz suchen. Wir sind voller Erwartungen, Wünsche und Phantasien in Bezug auf das, was wir jetzt sehen werden. Wir sind bereit zu lachen und zu weinen, zu trauern und zu kämpfen, vor allem aber zu träumen ... Und weil dieser Kontext, der deutlich regressive Züge trägt, unsere Lust am Schauen, die aus Erlebnissen der frühen Kindheit rührt, aktiviert, lassen wir uns in eine - und nicht nur eine, sondern viele - Geschichten hineinziehen - allerdings nur unter der Bedingung, daß sie auf irgendeine Art und Weise an unsere Wünsche und Phantasien anknüpfen.
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PHANTASIEN, WÜNSCHE, INSZENIERUNGEN
Welche Vorgänge bieten sich nun Jeffs (eingeschränktem) Blick, und - noch wichtiger welche wecken sein Interesse? Im Grunde handelt es sich bei allen um mißlingende Paarbeziehungen : von dem älteren Ehepaar, das Kopf an Fuß schläft und sich nur noch in der gemeinsamen Trauer über den getöten Hund findet, über die drei alleinstehenden Frauen, von denen die eine bis an den Rand des Selbstmords geht, über das junge Ehepaar, dessen Ehe am Ende des Films (also nach ein paar Tagen) in Frage steht, bis hin zu den Thorwalds, auf deren Schicksal sich Jeffs Blicke besonders konzentrieren. Was fesselt ihn an den Thorwalds? Vielleicht ist es nicht auf den ersten Blick ersichtlich - Jeff selbst merkt es auch gar nicht, obwohl die Wohnung direkt gegenüber, auf derselben Ebene liegt -, aber die Situation der Thorwalds spiegelt - allerdings: verkehrt - seine und Lisas. Hitchcock zu Truffaut: "Ja, [...] es gibt hier [...] Symmetrie [...]. Auf der einen Seite das Paar Stewart-Kelly, er mit dem Bein in Gips, während sie sich frei bewegen kann, und auf der anderen Seite des Hofes die kranke, ans Bett gefesselte Frau, deren Ehemann kommt und geht." (Truffaut 1975: 212-214). Aber das ist noch nicht alles. Man könnte hinzufügen, daß beide Invaliden die Opfer ihres Partners bzw. ihrer Partnerin werden: Thorwald bringt seine Frau um, und Lisa macht sich, nachdem sie 'in Jeffs Geschichte eingestiegen' ist, für ihn so unentbehrlich, daß
einen - einäugigen - Blick, der für eine Erektion steht. Das wird mehr als bestätigt durch den folgenden Dialog: "Lisa: Was sagst du dazu? Jeff: Oh, ich ... Lisa: Ich werde die Frage anders stellen. Jeff: Danke! Lisa: Gefällt's dir? Jeff: Ja, es gefällt mir."
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er sie am Ende 'zur Belohnung' nur heiraten kann; tatsächlich und im übertragenen Sinne erkämpft sie sich den Ehering. Aber die Geschichte entwickelt sich ja zunächst viel komplizierter: Als Lisa, nachdem Jeff sie zuvor Stella gegenüber als für ihn "zu vollkommen" charakterisiert hatte, zum ersten Mal auftritt, erscheint sie als wahre Traumgestalt. Ihr Gesicht 'schwebt' gewissermaßen auf ihn zu, und sie küßt ihn. Offensichtlich sollen wir, die wir uns in Jeffs Position befinden, uns von diesem 'Traum' von einer Frau 'wachgeküßt' fühlen. Lisa will mit Jeff feiern, daß er nur noch eine Woche den Gips tragen muß, und sie verspricht: "Ich werde für eine Woche sorgen, die du nie vergißt." Sie hat etwas zu essen und zu trinken mitgebracht, aber vorher möchte sie Jeff noch ihre Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmackhaft machen: Er solle seinen Job bei dem Magazin, für das er fotografiert, aufgeben und sich (als Modefotograf) selbständig machen; sie könne ihm durch ihre Verbindungen genügend Aufträge verschaffen. Aber Jeff will nicht. Daraufhin kümmert sich Lisa - zunächst einmal - um das Essen. Während sie sich in der Küche zu schaffen macht, blickt Jeff aus dem Fenster und sieht, kommentiert bzw. verhält sich zu vier Szenen, die für das Verständnis seiner Person und der folgenden Handlung von entscheidender Bedeutung sind: Zunächst fällt sein Blick auf die einsame Frau in der Wohnung unter den Thorwalds. Zu Bing Crosbys "To see you is to love you" bereitet sie (wie Lisa) ein Essen für zwei Personen vor, spielt die Gastgeberin, prostet ihrem - allerdings nur imaginären - Gast zu und Jeff prostet ihr von seinem Fenster aus zurück. Als Lisa aus der Küche kommt und die Situation von Miss Einsames Herz kommentiert, sieht Jeff nicht sich und seine Reaktion auf die Frau, sondern vergleicht deren Situation mit Lisas: So, behauptet er, könne es ihr nie gehen, sie werde immer genügend Verehrer haben. Sodann werden Jeffs und Lisas Blicke auf die Wohnung von Miss Torso, der Ballettänzerin, gelenkt. Lisa bedauert sie, weil sie so vielen Verehrern gerecht werden muß, die sie alle nicht liebt. Während Jeff unterstellt, daß sie sich einfach den reichsten heraussuchen wird, bezieht Lisa Miss Torsos Situation auf sich: nicht das Geld, sondern die Liebe ist für sie entscheidend. Anschließend, nach einem kurzen Blick auf das (geschlossene) Fenster, hinter dem das junge Ehepaar seine Hochzeitsnacht verbringt, sehen wir (mit Jeff, denn Lisa ist wieder in der Küche) in die Wohnung der Thorwalds: Der Mann kommt nach Hause, begrüßt seine Frau, die im Bett liegt, und bringt ihr etwas zu essen. Danach geht er zum Telefon. Seine Frau steht aus dem Bett auf, schleicht ihm nach, belauscht und 'ertappt' ihn: "Mit wem telefonierst du?" Thorwald legt auf. Seine Frau lacht hysterisch - ganz offensichtlich vermutet sie, daß ihr Mann eine Freundin/Geliebte hat. Schließlich schweift Jeffs Blick zu dem Apartment eines Songschreibers, aus dem Musik kommt. In dem Apartment befindet sich - neben dem Songschreiber - ein Mann, der eine Uhr (allerdings: linksherum) aufzieht: Alfred Hitchcock, der Regisseur des Filmes (vgl. dagegen Stam/Pearson 1983: 138). Als Lisa mit dem Essen hereinkommt und die - romantische - Musik bewundernd kommentiert, macht Jeff jede ihrer Be-
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merkungen lächerlich: Die folgende große Auseinandersetzung zwischen den beiden kündigt sich an. Diese verschiedenen Szenen spiegeln den Protagonisten bzw. das zentrale Paar in ihren entscheidenden Facetten: Jeffs Zurückprosten zu Miss Einsames Herz zeigt, welche Beziehung mit einer Frau er leben kann: eine auf Distanz. Lisas Identifikation mit Miss Torso zeigt uns ihr Leben außerhalb von Jeffs Apartment: umworben, aber ohne Liebe. Der Konflikt der Thorwalds antizipiert den zwischen Lisa und Jeff: zusammenleben, ja oder nein? Und in der nur einmal kurz zu sehenden Figur des Regisseurs werden diese Stränge zusammengeführt: Das sind die Akteure und ihre 'Symptome'; paßt auf, jetzt - gleich - passiert's. Die folgende Auseinandersetzung zwischen Jeff und Lisa ist eher ein ritardando: Sie verdeutlicht noch einmal, was wir - im Grunde - schon wissen: Zwei unterschiedliche Lebenspläne kollidieren; eine Trennung ist angesagt, weil Jeff sich nicht ändern will und von Lisa denkt, daß sie sich nicht ändern kann. Aber Jeff kann sich weder binden noch trennen - er möchte alles so lassen, wie es ist: unverbindlich. Und obwohl Lisa hiermit in keiner Weise einverstanden ist, führt auch sie nicht den Bruch herbei. Als sie sich kurz darauf "für eine lange Zeit" (d.h. bis "frühestens morgen abend") verabschiedet hat, fällt Jeffs Blick auf die Fenster der Thorwaldschen Wohnung: Die Jalousien sind heruntergelassen. Kurz darauf - die Kamera ist auf Jeffs Gesicht gerichtet - hört man einen nichtlokalisierbaren Schrei. Irgendwo, so scheint es, ist ein 'Bruch' vollzogen worden. In den nächsten beiden Sequenzen beobachtet Jeff das nächtliche Kommen und Gehen Thorwalds. Er verschläft (wie bereits erwähnt), daß Thorwald gegen 6.00 Uhr morgens seine Wohnung mit einer schwarz gekleideten Frau verläßt. Danach sehen wir Jeff wieder, als ihn Stella (wie jeden Morgen) massiert. Die Sequenz beginnt mit einem Blick in bzw. über den Hof. An den Fenstern der Thorwaldschen Wohnung sind (wie in der vergangenen Nacht) die Jalousien heruntergelassen. Stella massiert Jeff. Er berichtet ihr von seinen nächtlichen Beobachtungen, dem Kommen und Gehen Thorwalds mit seinem großen Musterkoffer. Im Folgenden werden nun zwei 'Theorien' entwickelt: a)
Stella vermutet, daß Thorwald seine Frau verläßt. Das ist ihre 'Theorie'. Für Stella, die am Beginn der Handlung ihren Mann und sich selbst als "milieugeschädigte Außenseiter" bezeichnet hat, bedeutet die Ehe das Ende der sozialen Marginalität: Wer keine Familie hat, kann immerhin eine gründen. Ihr Trauma, d.h. die ihr Leben bestimmende Struktur, ist der Verlust sozialer Bindungen. Ihr Phantasma, d.h. das, was es ihr ermöglicht, mit diesem Trauma zu leben, ist ihre (wie sie sagt) glückliche Ehe. Aber ihre Verlustangst ist ihr 'Einstieg' in die von Jeff beschriebenen Vorgänge. Und ihre Phantasien 'entwickeln sich' in Bezug auf die Handlungen des Mannes.
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JÜRGEN KRAMER Bei Jeff ist das anders: Ihn interessiert nicht so sehr das Gehen und Kommen von Thorwald, sondern das Verschwinden von dessen Frau. Das ist auch, nach dem, was wir bisher über Jeff in Erfahrung gebracht haben, nicht weiter erstaunlich: Er hat - aus Gründen, die im Dunklen bleiben - Schwierigkeiten, sich auf enge, verbindliche Beziehungen mit Frauen einzulassen. Er hält sie sich lieber vom Leibe, auf Distanz. Gerade jetzt fällt ihm das aber aus verschiedenen Gründen schwer. Zum einen ist Lisa besonders attraktiv und unbedingt darauf aus, ihn zu heiraten, zum anderen ist er immobil: Er kann beispielsweise nicht irgendwelche beruflichen Verpflichtungen ins Feld führen, ja, er kann nicht einmal (z.B vor ihr) weglaufen. Ist es da verwunderlich, daß Jeff sich dafür interessiert, ja, daß ihn die Frage fasziniert, auf welche Weise - ob auf schreckliche oder vorbildliche ist in diesem Zusammenhang egal - sein Nachbar seine Frau losgeworden ist? So entsteht Jeffs Theorie, die sich am Verschwinden der Frau entzündet.
Wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, bekommen also - zusätzlich zu dem, was wir selbst sehen - zwei verschiedene 'Theorien', die das Gesehene erklären wollen. Nur: diese 'Theorien' sind in Wirklichkeit Phantasieproduktionen. Wie ist das zu verstehen? In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse schreibt Freud: Wie Sie wissen, wird das Ich des Menschen durch die Einwirkung der äußeren Not langsam zur Schätzung der Realität und zur Befolgung des Realitätsprinzips erzogen und muß dabei auf verschiedene Objekte und Ziele seines Luststrebens - nicht allein des sexuellen - vorübergehend oder dauernd verzichten. Aber Lustverzicht ist dem Menschen immer schwergefallen; er bringt ihn nicht ohne eine Art Entschädigung zustande. Er hat sich daher eine seelische Tätigkeit vorbehalten, in welcher all diesen aufgegebenen Lustquellen und verlassenen Wegen der Lustgewinnung eine weitere Existenz zugestanden ist, eine Form der Existenz, in welcher sie von dem Realitätsanspruch und dem, was wir "Realitätsprüfung" nennen, frei gelassen sind. [...] es ist kein Zweifel, daß das Verweilen bei den Wunscherfüllungen der Phantasie eine Befriedigung mit sich bringt, obwohl das Wissen, es handle sich nicht um Realität, dabei nicht getrübt ist. In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit vom äußeren Zwang weiter, auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet hat. (Freud 1989, Bd.I: 362-363).
Die Produkte dieser Phantasietätigkeit sind alles andere als eindimensional, im Gegenteil: sie sind vielgestaltig, flexibel und "schmiegen sich [...] den wechselnden Lebenseindrücken" (ebd., Bd. X: 174) des Menschen an. Die Phantasien unterscheiden sich dadurch, daß sie - überblickt man Freuds verstreute Bemerkungen zu diesem Thema (vgl. Laplanche/Pontalis 1973, Bd. II: 388394) - auf verschiedenen Ebenen (bewußt, unterschwellig/vorbewußt, unbewußt) angesiedelt sind: Da sind zunächst "die Tagträume, Szenen, Episoden, Romane, Fiktionen, die das Subjekt im Wachzustand ersinnt". Sodann verwendet Freud den Begriff 'unbewußte Phantasie', womit er, ohne es genauer auszuführen, offensichtlich "einen unterschwelligen, vorbewußten Tagtraum meint, dem sich das Subjekt hingibt und wovon es mehr oder weniger reflektiert Kenntnis nimmt" (ebd.). Schließlich ordnet Freud
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(insbesondere in der Traumdeutung) "Phantasien, die mit dem unbewußten Wunsch verbunden sind" (ebd.: 390), dem Unbewußten zu. Den Phantasien ist gemeinsam, daß es sich bei ihnen um "Szenarien" handelt, in denen das Subjekt "gegenwärtig" ist, zu denen "das Subjekt selbst gehört" und in denen "Vertauschungen der Rollen, der Funktionen möglich sind" (ebd.: 393; vgl. dazu insbesondere Freud 1989, Bd. VII: 231-254). Die "Hauptfunktion" einer Phantasie ist die sog. "Wunschinszenierung". Allerdings kann sich der - unbewußte - Wunsch nicht voll zur Geltung bringen, weil er auch in der Phantasie auf Grund seiner einmal erfolgten Verdrängung - abgewehrt wird, d.h. der Wunsch erscheint nicht als solcher, sondern i.d.R. in der Form eines Kompromisses. Anders ausgedrückt: In der Inszenierung des Wunsches ist "das Verbot in der Position des Wunsches immer gegenwärtig" (Laplanche/Pontalis 1973, Bd. II: 393). Was aber hat es mit diesem Wunsch, der da inszeniert wird, auf sich? Um das zu erläutern, bedarf es eines kurzen Ausflugs in die früheste Kindheit (vgl. Freud 1989, Bd. II: 538-541; Stam/Burgoyne/Flitterman-Lewis 1992: 127): Ein Baby hat physische Bedürfnisse - nach Nahrung beispielsweise -, die es durch Schreien kundtut. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse durch eine Bezugsperson bewirkt aber mehr als nur den Hunger zu stillen: das genußvolle Saugen an der Brust (bzw. der Flasche), die Gefühle, gehalten, gewärmt und liebkost zu werden, treten hinzu. Und dies alles fügt sich für das Kind in einem - halluzinierten, phantasierten, phantasmatischen - Gefühl des Geliebtwerdens zusammen. Die Erinnerung an diese Fülle, diesen 'Überschuß/-fluß' produziert das nie-enden-wollende menschliche Verlangen, sich diese Erfahrung immer wieder zu holen, d.h. zu wiederholen; aus ihr speisen sich im Grunde alle (bewußten wie unbewußten) Wünsche. Aber neben dem Genuß steht sein Verlust: Das Verlangen, geliebt zu werden, kann nicht in der (relativ einfachen) Weise befriedigt werden, in der Hunger oder Durst zu stillen sind. Aus dieser Diskrepanz zwischen der Befriedigung eines Bedürfnisses und dem unbefriedigten (und nicht zu befriedigenden) Verlangen nach Liebe entsteht das, was Lacan das Phantasma nennt. Das Phantasma ist, wie ich oben an Stellas 'Theorie' erläutert habe, was das je individuelle Trauma 'zudeckt' und uns dadurch ermöglicht, mit ihm zu leben. Es 'äußert sich' in Formen des Imaginären-. in Phantasien eben. Diese Phantasien stehen - nach Freud - in einem besonderen Verhältnis zur Zeit: Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht. (Freud 1989, Bd. X: 174).
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An Stellas Reaktion läßt sich dies gut demonstrieren; Jeffs Phantasie ist schwerer einzuordnen: der gegenwärtige Anlaß (sein Streit mit Lisa) ist deutlich, die Zukunftsorientierung (bloß nicht heiraten) auch, nur das (zugrunde liegende) infantile Erlebnis bleibt Gegenstand der Spekulation. Entscheidend für die Rezeption aber ist, wo wir - die Zuschauerinnen und Zuschauer - uns (lax formuliert) 'einklinken': Welche Phantasien entwickeln wir in bezug auf die Vorgänge, die uns gezeigt werden? Welche der von den Charakteren artikulierten Phantasien akzeptieren wir? Jeffs? Stellas? Lisas? Oder gar Doyles? Zudem: Welche Phantasien produzieren wir im Hinblick auf diese verschiedenen Phantasien bzw. die Personen, die sie entwickeln? An die vorangegangenen Überlegungen lassen sich drei weitere anschließen, die sich zum Teil aus dem bereits Gesagten ergeben bzw. es erweitern (vgl. Stam/ Burgoyne/Flitterman-Lewis 1992: 141-142). Erstens wird deutlich, daß Phantasien das Resultat einer Interaktion sind: in unserem Film zwischen den Charakteren und dem, was sie sehen; in jedem Film zwischen dem, was auf der Leinwand abläuft und den Zuschauerinnen und Zuschauern im Kino. Derjenige, der schaut, produziert die Phantasie und, indem er sie produziert, wird er gleichzeitig (über Prozesse der Projektion und Identifikation) durch sie konstituiert. (Extrem verkürzt könnte man sagen: Jeff projiziert seine Tötungswünsche auf Thorwald und identifiziert sich mit dessen Geschick, unentdeckt zu bleiben.) Zweitens stellt eine Phantasie nie eine reine Wunscherfüllung dar, sondern ist immer ein Kompromiß. (Jeff hält die Identifikation mit Thorwald nur aus, indem er ihn moralisch verurteilt und sich zu seinem Verfolger macht.) Drittens ist die Funktion der Phantasie (wie bereits ausgeführt) die "Wunschinszenierung". Oben habe ich den Akzent auf den "Wunsch" gelegt (und diesen näher erläutert), jetzt lege ich ihn auf die "Inszenierung". Denn darum geht es: In der Phantasie wird die Wunscherfüllung repräsentiert, aber nicht realisiert; der Wunsch bleibt erhalten, die Phantasie hilft lediglich, seine unmögliche Befriedigung ständig aufzuschieben. Darum gehen wir gern ins Kino, wenn wir gern ins Kino gehen - durchaus nicht alle tun das. Freud schreibt: "Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte." (Freud 1989, Bd. X: 173).
4.
BLICKE, MACHT
Es sind nun diese beiden Momente - die Lust am Schauen und das Phantasieren - zusammen, die unsere Blicke lenken - ob in der Realität oder im Kino. Hierzu zwei zentrale Beispiele. a)
Nach der Massage macht Stella Jeff darauf aufmerksam, daß jetzt die Jalousien der Thorwaldschen Wohnung hochgezogen seien. Sofort ist Jeffs Interesse erwacht. Thorwald ist zunächst in seiner Wohnung, genauer: seinem Wohnzimmer, zu sehen. (Das Schlafzimmerfenster ist immer noch zugezogen.) Dann tritt
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Thorwald ans Fenster. Jeffs Reaktion (zu Stella): "Kommen Sie! Kommen Sie! Zurück! Weg vom Fenster! Kommen Sie! Aus seinem Blickfeld! Der Mann sieht aus seinem Fenster 'raus, sehen Sie? Zurück, er bemerkt Sie sonst." Stella findet nichts dabei, gesehen zu werden, aber Jeff fährt fort: "Das ist kein normaler Blick. Das ist der Blick eines Mannes, der Angst davor hat, daß ihn jemand beobachtet." In diesem Augenblick zieht Thorwald seine Hände ruckartig aus den Hosentaschen - wie ein Cowboy, der seine Colts zieht... Aber der Gegenstand seines Unwillens, das Objekt seines Blickes ist nicht Jeff, sondern das Hündchen der Leute, die über ihm wohnen, das jetzt im Hof an seinen Blumen schnüffelt. Was geschieht hier? Ich möchte behaupten, daß vielen von uns Zuschauerinnen und Zuschauern zunächst nichts Besonderes an Thorwald auffällt, wenn wir ihn (wie Jeff und Stella) in seiner Wohnung bzw. am Fenster sehen können. Erst Jeffs Reaktion soweit wir sie uns zu eigen machen (und die Sequenz ist durch die Schnittfolge und Jeffs Dialog mit Stella darauf angelegt, daß wir das tun) - bringt uns dazu, Thorwalds Verhalten verdächtig zu finden. Das aber deutet darauf hin, daß das Verdächtige nicht in Thorwalds Verhalten, sondern in Jeffs (verdächtigendem) Blick liegt. Jeff, der sich von seiner Freundin trennen will und doch nicht kann, identifiziert sich (angezogen und gleichzeitig abgestoßen) mit seinem Nachbarn, von dem er annimmt, daß er sich seiner Frau bereits entledigt hat. Er unterstellt ihm, was er selber in Thorwalds Position fühlen würde. 4 Das heißt, der Blick, der Jeff in Thorwalds Blick aus dem Fenster begegnet, ist sein eigener. b)
Diese Szene findet ihre Wiederholung, Fortsetzung und Zuspitzung am Höhepunkt des Films: Jeff hat Thorwald telefonisch aus seiner Wohnung gelockt, damit Stella und Lisa nachsehen können, ob im Hof unter den Blumen, an denen der Hund geschnüffelt hatte, etwas vergraben ist. Als diese Suche ergebnislos verläuft, steigt Lisa über die Feuerleiter in Thorwalds Wohnung ein, um den Schmuck - insbesondere den Ehering - der verschwundenen Frau zu suchen. Thorwald, der kurz darauf zurückkehrt, entdeckt Lisa und nimmt ihr den Schmuck wieder ab. Als er handgreiflich wird, schreit Lisa um Hilfe ("Jeff!"), aber Jeff und Stella sind hilflos. Jeff kann kaum hinsehen, benutzt auch weder sein Fernglas noch sein Teleobjektiv, würgt sich selbst verzweifelt am Hals, verflucht Thorwald, ist ratlos ("Stella, was machen wir nur?"), da endlich kommt die Polizei - und sofort greift Jeff wieder zu seinem Teleobjektiv. Was er sieht (was wir sehen), ist, daß Lisa den Ehering gefunden und sich an die Hand gesteckt hat - sie zeigt ihn triumphierend vor, als wollte sie sagen "Wir haben gewonnen. Deine Phantasie war nicht (nur) eine Phantasie", vielleicht auch "Ich bin
4
Thorwald selbst fühlt etwas ganz anderes: Er streckt sich kurz darauf genüßlich und legt sich zu einem kurzen Schläfchen aufs Sofa.
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JÜRGEN KRAMER dir ebenbürtig. Jetzt kannst du mich nicht mehr abweisen, mich nicht mehr nicht lieben", mehr noch "Schau mal, ich habe schon einen Ring am Finger, ich bin so gut wie (mit dir) verheiratet."
Aber - und das ist der andere wichtige Aspekt dieser Szene - Thorwald bemerkt Lisas Gestikulieren; er schaut in die Richtung ihrer Gesten, errät den Zusammenhang und blickt voll in die Kamera: Wir, die wir uns in Jeffs Position befinden - wir schauen mit ihm durch sein Teleobjektiv -, fahren auch mit ihm erschrocken zurück. Thorwalds Blick kündigt Jeff den Tod an. Es ist nur folgerichtig, daß dieser sofort das Licht löscht, droht er selbst doch ausgelöscht zu werden. Jeffs folgende Versuche, sich zu verteidigen, den bei ihm eindringenden Thorwald mit seinem Blitzlicht zu blenden, ihn also gewissermaßen mit einem 'verstärkten' Blick zu bannen (und d.h. auch zu besiegen, zu kastrieren), mißlingen letztendlich. Aber auch Jeff muß nicht sterben; mit ein bißchen Glück bleibt es für ihn - wie wir in der Schlußsequenz sehen - bei einer abermaligen symbolischen Kastration; auch sein zweites Bein ist nun gebrochen. (Der Film könnte von vorne beginnen.) Zu einem weitergehenden Verständnis dieser Vorgänge will ich abschließend Überlegungen zur Problematik des Blicks bei Sartre und Lacan heranziehen. Jeff, der "Spanner" (wie Stella ihn nennt), der Voyeur, genießt seine Schaulust nicht nur aus den bereits dargestellten Gründen, sondern weil mit seinem Tun auch ein Gefühl der Macht verbunden ist. Er sieht die Leute in den anderen Wohnungen aus seiner Position, seiner Perspektive: Er kann ihnen 'Geschichten' zuschreiben, sie in seine Sicht der Dinge einbauen, Urteile über sie fällen. Dieses Gefühl der Macht wird erst in dem Augenblick bedroht, als er dem Blick eines anderen ausgesetzt ist: Der zunächst gefürchtete, später dann empfangene Blick Thorwalds konstituiert - wie Sartre schreibt - Jeffs "Ego für den andern inmitten einer Welt, die zum andern hin abfließt" (Sartre 1991: 471). Das heißt: "Der Blick, wie ihn Sartre auffaßt", - so schreibt Lacan (Lacan 1987: 90) - "ist der Blick, von dem ich überrascht werde - überrascht werde, insofern er alle Perspektiven und Kraftlinien meiner Welt verändert [...]." Und das trifft auf Jeff (wie wir gesehen haben) voll zu. Ob diese Erfahrung Jeff dauerhaft verändert, erfahren wir allerdings nicht. Lacan bezweifelt, daß die 'Verunsicherung' des Voyeurs, d.h. die Ahnung davon, daß er keineswegs das 'strukturierende Prinzip' des von ihm Angeschauten ist, erst mit dem "Blick in der Beziehung von Subjekt zu Subjekt, in der Existenz des andern als eines, der mich anblickt" (ebd.: 91) einsetzt. Für ihn beginnt sie viel früher - und das in einem dreifachen Sinne (vgl. Rose 1991: 193-194): Erstens dadurch, daß der Voyeur nicht das zu sehen bekommt, was er sehen möchte. In unserem Film ist das ganz deutlich: Jeff hat den Mord an Mrs Thorwald nicht gesehen. Zweitens dadurch, daß der Voyeur nicht der einzige ist, der schaut. Auch dies wird in Rear Window deutlich: die anderen Charaktere - sowohl inner- wie auch außerhalb von Jeffs Apartment - schauen ebenfalls, formen und formulieren ihre jeweilige, konkurrierende Sicht der Dinge.
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Drittens wird der Schauende in seiner zentralen, d.h. sich selbst zum Zentrum machenden, Perspektivierung dadurch erschüttert, daß er nicht vom Standpunkt des andern seinen eigenen Blick sehen kann. Dieser Sachverhalt würde - zumindest für uns als Zuschauerinnen und Zuschauer - da deutlich werden (können), wo wir sehen, daß auch Jeff das Objekt eines Blicks ist, ohne es zu merken. Aber gibt es so einen Blick in Rear Window! Ich denke, ja: Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß Alfred Hitchcock, der Regisseur, an einer der entscheidenden Stellen des Films - kurz vor dem Mord, um den sich alles dreht - selbst zu sehen ist. Mehr noch: Er schaut wenn auch nur ungefähr - in Jeffs Richtung. Es ist so, als wollte er sagen: "Schau du nur, schau du nur - aber ich lasse dich schauen." Und die Tatsache, daß er dabei eine Uhr linksherum aufzieht, mag das Moment des Unerklärlichen sein, das uns stutzen, auf diese ganz kurze Einstellung aufmerksam werden und sie verstehen läßt.
BIBLIOGRAPHIE Böhme, Hartmut. (1988). Natur und Subjekt. Frankfurt/M. Bozovic, Miran. (1992). "The Man Behind his Own Retina", in: Slavoj Zizek (ed.). Everything You Always Wanted to Know about Lacan (But Were Afraid to Ask Hitchcock). London/New York, S. 161-177. Elias, Norbert. (1969). Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische undpsychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Bern/München. Freud, Sigmund. (1989). Studienausgabe. 9 Bde. und 1 Ergänzungsbd. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt/M. Lacan, Jacques. (1987). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim/Berlin. Laplanche, J./J.-B. Pontalis. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bde. Frankfurt/M. Rose, Jacqueline. (1991). Sexuality in the Field of Vision. London/New York. Sartre, Jean-Paul. (1991). Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek. Stam, Robert/Roberta Pearson. (1983). "Hitchcock's Rear Window. Reflexivity and the Critique of Voyeurism", in: Enclitic 7, 1: 136-145. Stam, Robert/Robert Burgoyne/Sandy Flitterman-Lewis. (1992). New Vocabularies in Film Semiotics: Structuralism, Post-Structuralism and Beyond. London/New York. Truffaut, François. (1975). Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München.
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Jan Jirousek Universität
München
VERBAL-VISUELLE BEZIEHUNGEN AUS SEMIOTISCHER SICHT (METAGENETISCHES MODELL) 1. INTERMEDIALITÄT UND SEMIOTIK D i e (verbal-visuelle) Intermedialität, die man als Wechselbeziehung zwischen Äußerungen 1 verstehen kann, bei denen unterschiedliche Wahrnehmungskodes vorliegen, läßt sich in der gesamten Kulturgeschichte verfolgen. Sie betrifft alle Kunstformen und -gattungen und vollzieht sich - unter Berücksichtung der zeitlich (historisch) und räumlich (z.B. kulturtopographisch und sozial) bedingten Variabilität ihrer Erscheinungsformen a)
sowohl im Rahmen ein und derselben Äußerung (strukturintern): Verbaläußerungen (im weiteren nur VA) 2 und Bildäußerungen (im weiteren nur BA); 3
1
Unter "Äußerung" verstehe ich Produkt wie auch Mittel des Kommunikationsaktes, das im Rahmen eines oder mehrerer Zeichensysteme als organisierte Menge von Zeichen/Zeichenelementen realisiert wird, die durch ein materielles Kontinuum jeder beliebigen Art manifestiert werden kann. Äußerung (Kommunikat) heißt 'Text in weiterem Sinne' und bezieht sich auf alle Kunstformen. Sie kann in einer zeitlich/räumlich beendeten/abgeschlossenen oder in einer sog. unbeendeten/offenen (und syntaktisch indeterminierten) Gestalt vorhanden sein.
2
Unter "Verbaläußerung" verstehe ich ein im Zeichensystem der Verbalsprache als organisierte Menge seiner Zeichen/Zeichenelemente realisiertes Produkt und Mittel des Kommunikationsaktes, das durch Stimme (mündlich bzw. synthetisch) oder schriftlich (durch visuell-graphische Aufzeichnung, jedoch auch z.B. durch Blindenschrift) manifestiert und auditiv, visuell evtl. taktil/haptisch perzipiert wird.
3
Unter "Bildäußerung" verstehe ich ein im Zeichensystem der visuellen (bildlichen, ikonischen) d.h. nonverbalen Kodes als organisierte Menge seiner Zeichen/Zeichenelemente realisiertes Produkt und Mittel des Kommunikationsaktes, das visuell manifestiert und perzipiert wird, und zwar nicht ausschließlich nur in der Funktion der Aufzeichnung eines anderen Zeichensystems (wie z.B. als Schrift in der Sprache, Noten in der Musik oder auch das Flaggenalphabet oder die Gestik der Taubstummensprache).
m
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b)
ist als unmittelbare Komponente der jeweils gegebenen Äußerung vorhanden (vgl. z.B. Allegorie, Collage, skripturale Malerei oder visuelle Poesie);
c)
als auch außerhalb eines solchen Rahmens (strukturextern): VA und BA treten in gegenseitige Relation als selbständige Äußerungen/"Texte" (hier handelt es sich um einen umfangreichen Bereich, der praktisch alle denkbaren Möglichkeiten der verbal-visuellen Beziehungen umfaßt, seien diese durch die Präsenz der VA und BA oder allein durch die gemeinsame Realität beider Medien begründet).
Dabei geht es um Beziehungen gar nicht nur zwischen den Themen und Motiven, sondern auch zwischen den Strukturen und evtl. Programmen der jeweiligen Äußerungen. Unter 'Relationen der VA und BA' verstehe ich also alle struktur- wie auch kontextrelevanten Beziehungen zwischen den jeweiligen Äußerungen und deren Klassen/Typen. Ihre Untersuchung ist vor allem mit folgenden Fragen verbunden: In welchem Verhältnis befinden sich VA und BA untereinander, wie realisieren sich VA/BA in BA/VA und wie lassen sich derartige Wechselbeziehungen auf der Systemebene, d.h. die Relationen zwischen den verbalen und bildlichen Systemen, verfolgen bzw. klassifizieren.
1.1. Genetisches Modell der Semiose Die Intermedialitätserscheinungen - und damit auch die Relationen der VA und BA wie deren Systemvoraussetzungen - kann man (ähnlich wie jedes andere Phänomen) von einem funktionellen oder einem genetischen Standpunkt aus kategorisieren. Ihr deklariert relationaler Charakter bekräftigt bei ihrer Untersuchung die Effektivität einiger Kategorialmodelle, die auf den Prinzipien der Korrelation und Prozessualität konstituiert sind. Ein solches Modell bietet uns die Universal-Kategorienlehre von Charles Sanders Peirce4, die bekanntlich ein triadisches System darstellt: Die Kategorien der "firstness"5, der "secondness"6 und der "thirdness"7 bilden als "drei Stufen der Komplexität
4
C. S. Peirce (1931-35, 1958/1974-79): insbes. 1.300 ff., 1.369-1.372, 1.376-1.378, 1.430; (1973): 40-94/41-95; (1983): 54-63, 121-138; (1986): 191f., 345-347, 431-436; (1990): 109112, 133-138, 148-155, 156-165, 266-271, 433f. (Anm. 131).
5
Diese erste Kategorie erklärt Peirce als "feeling"/"quality"/"presentness"; es entspricht ihr der Modus der Möglichkeit. "Firstness" allein bedeutet noch nicht die Existenz (die die Interaktion und demzufolge die "secondness"-Kategorie betrifft), obwohl sie als Möglichkeit vorhanden ist, d.h., daß sie "nicht Nichts" ist (Peirce 1983: 57).
6
Die zweite Kategorie erklärt Peirce als "experience"/"reaction"/"struggle", als eine Konfrontation mit den existierenden Objekten, mit den harten Tatsachen ("hard facts"), als Erlebnis,
VERBAL-VISUELLE BEZIEHUNGEN
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des Seins" gemeinsam ein relationales Kontinuum, in dem sie als seine Dimensionen betrachtet werden können. Das heißt, daß die Kategorie der "firstness" in der "secondness" und beide dann in der "thirdness" beinhaltet sind. Die triadische Relation impliziert dann anstatt des (in der Semiotik bis zum Überdruß wiederholten) linearen oder flächenmäßigen triadischen Modells ein räumliches, (drei-)dimensionales Modell, dem die "thirdness" weitere Relationen - ad infinitum - vermittelt und dadurch auch eine Prozessualität/eine Zeitdimension verschafft. Auf dieser Basis wird das Zeichenmodell aufgebaut, in dem die erwähnten Universalkategorien die Struktur der Zeichenrelationen bedingen. Als erstes Korrelat ("firstness") gilt hier der Zeichenträger/das Zeichen allein, das zweite ist das Objekt ("secondness") und das dritte heißt der Interprétant des Zeichens (als sein "thirdness"), wobei jede von diesen Kategorien wiederum eine triadische Relation bedeutet, je nachdem, ob sich das erste, das zweite oder das dritte Korrelat auf den Träger/das Mittel des Zeichens, auf sein Objekt oder auf seinen Interpretanten bezieht, mit anderen Worten: ob die Relation eine Möglichkeit, eine aktuelle Existenz oder eine Gesetzmäßigkeit repräsentiert (Peirce 1983: 122) bzw. eine Qualität, ein (aktuelles, existierendes) Objekt oder einen Typus/eine Klasse darstellt. In Bezug auf den Zeichenträgerldas Zeichen-Mittel ("representamen" bzw. "artefakt") handelt es sich um folgende Kategorien: • • •
Quali-Zeichen als Bezeichnung der (Gefühls-)Qualität, die den Charakter des Zeichens bestimmt; Sin-Zeichen als Bezeichnung eines aktuellen/vorhandenen/existierenden Dinges/ Ereignisses in seiner Singularität, Individualität und Identität; Legi-Zeichen als gesetzmäßige, rein konventionelle Äußerung, die fähig ist, wiederholt zu werden, Repliken zu machen, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren.
In Bezug auf das (dyadische) Zeichenobjekt, und "danach, ob die Relation des Zeichens zu seinem Objekt darin besteht, daß das Zeichen an sich selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat, oder ob sie in einer existentiellen Relation des Zeichens zu jenem Objekt
Erfahrung (nicht Empfindung) des Widerstandes und der Anstrengung, die aus dem Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, aus der Aktion und Reaktion folgt. "Secondness" bezeichnet eine aktuelle Singularität und es entspricht ihr der Modus der "Wirklichkeit"/"Existenz". 7
Die dritte - und in der gesamten Hierarchie die "höchste" - Kategorie erklärt Peirce als "thought"/"representation"/"reasoning"/"laws", die zwischen "firstness" und "secondness" vermittelt. Ihre Eigenschaften heißen Kontinuität und Universalität und ihr entspricht der Modus der Notwendigkeit.
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JAN JIROUSEK
besteht, oder in seiner Relation zu einem Interpretanten" (Peirce 1983: 123), unterscheidet man folgende Kategorien: •
•
•
Ikon als eine bildliche oder schematische Darstellung des Objekts; es ist ein Zeichen des (oder auch nur eines) qualitativen Aspekts/Merkmals, das es mit dem bezeichneten Objekt gemeinsam hat8; Index als Hinweis auf das Objekt aufgrund eines kausalen (Ursache und Folge betreffenden) und/oder eines nexalen (Raum und Zeit betreffenden), d.h. existenten, Zusammenhangs (die Indexikalität ist also durch die - wahrscheinliche Existenz des Objekts, nicht durch die des Interpretanten bedingt), der zur Bestimmung singulärer Gegenstände dient (Index und sein Objekt haben einen individuellen Charakter [Peirce 1983: 65, 156f.]), wobei es von fakultativer Bedeutung ist, ob der Zusammenhang mit dem Objekt einer natürlichen, einer künstlichen oder einer rein "geistigen" Natur ist (Peirce 1985: 163f.); Symbol als eine konventionelle (d.h. durch eine allgemeine Regel oder eine generalisierende, universalisierende Tendenz bedingte) Objektrelation, die eine Art/ eine Klasse/einen Typus des Objekts denotiert.
In Bezug auf den Zeicheninterpretanten und je nachdem, ob das Zeichen die Möglichkeit/"firstness", die Wirklichkeit/"secondness" oder die Notwendigkeit/"thirdness" repräsentiert, werden folgende Kategorien unterschieden: •
•
•
8
Rhema als Begriff, d.h. ein einfaches/substitutives Zeichen (z.B. der Ausdruck "ist rot"), das nicht abgeschlossen, nicht "vollzogen", nicht "ausgeführt" ist (eine "einfache Repräsentation" ohne selbständige Teile, eine "leere Form, aus der, wenn jede Leerstelle mit einem Eigennamen besetzt ist, eine Aussage wird" [Peirce 1990: 115]); Dicent als "Satz"/"(Quasi-)Proposition"/"Aussage", als "abgeschlossenes" Zeichen, das über einen wirklichen Sachverhalt informiert und wahr oder falsch sein kann ("doch für seine Wahrheit oder Falschheit keine Gründe liefert", als "ein Repräsentamen, das kein Argument ist, das aber selbständig anzeigt, welches Objekt es zu repräsentieren beabsichtigt" [Peirce 1973: 182f.]); Argument als "rational überzeugendes Zeichen", das logisch - nicht empirisch "wahr" ist, als Aussage über ein allgemeines Objekt, die aus einem gesetz- oder regelmäßigen Zusammenhang als "wahr" ableitbar ist, wobei die Prämissen als "erwiesen" gelten, und als "ein Repräsentamen, das selbständig zeigt, welchen Interpretanten es zu determinieren beabsichtigt." (ebd.).
Als dieses Merkmal kann auch allein die Voraussetzung einer gemeinsamen Realität gelten, wobei die "Realität" hier "alles, was wirkt" bedeutet und damit sowohl die existenten Dinge/Ereignisse als auch die Begriffe und Vorstellungen, Imaginationen umfaßt.
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Dieses als "genetisch" bzw. "generativ" bezeichnete Modell verfolgt konsequent Max Bense. Er geht von den materiellen Elementen der Signale als einer emitierenden Quelle aus, auf die die semiotischen Apperzeptionen im wahrnehmenden Bewußtsein aufgrund eines Schemas reagieren, nach dem die gegebenen Signale zu Zeichen werden: zuerst in Gestalt der "Mittel" (der Zeichenträger), dann in der Beziehung zum Objekt und schließlich als vollständige Zeichen in Bezug auf den Interpretanten. Die generative Ordnung "Repertoire der Elemente Mittelbezug Objektbezug -• Interpretantenbezug" (Bense 1967: 12) wird von Bense weiter formalisiert: a) b)
relational: Z[eichen]R = R[elation] (M[ittel], 0[bjekt], Ifinterpretant]) ordinal: Z[eichen]R[elation] = R[elation] (l[ = "firstness"], 2[="secondness"], 3[="thirdness"]),
so daß folgendes Schema einer "vollständigen triadisch-trichotomischen Zeichenrelation" entsteht: ZR = R (M (Qu, Sin, Leg), O (Ic, In, Sy), I (Rhe, Die, Arg)) bzw. ZR = R (1. (1., 2., 3.), 2. (1., 2., 3.), 3. (1., 2., 3.)). (Bense 1976: 13).
1.2. Genese und Metagenese Doch jede Erscheinung (und jede Äußerung) kann man unter zwei Sichtweisen empfinden, feststellen und bewerten, die in entgegengesetzen Richtungen 'verlaufen', genauer gesagt positioniert sind: nämlich vom genetischen und vom metagenetischen Standpunkt aus. Walter Alfred Koch hält die Genese und die Metagenese für zwei Tendenzen der Evolution: "die Metagenese ist ja nur eine Fortsetzung der Genese innerhalb einer Totalgenese. Dabei sind beide Komponenten der Totalität, Genese und Metagenese gleichermaßen real." (Koch 1986a: 145). Während die Genese (Prinzip: evolutio) eine jede Existenz in ihrem natürlichem Kontinuum bedeutet und damit auch das Objekt der Reflexion wird, stellt die Metagenese ( Prinzip: cognitio) den Versuch um eine Rekonstruktion der Genese dar und vertritt damit ihr interpretierendes Subjekt, das selbst einen prozessuellen Charakter hat. Denn die Interpretation ist nicht statisch: Sie ist selbst eine (der reflektierten Genese gegenübergestellte) Genese. Im Rahmen der Metagenese heißt das "primum evolutionis" das Endziel, während den Ausgangspunkt das "secundum (ultimum) evolutionis" darstellt; im Rahmen der "reinen" Genese ist das "primum cognitionis" das "secundum" bzw. "ultimum", während das metagenetische "secundum" ("ultimum") ein genetisches "primum" ist; eine Verwechslung dieser beiden Pole, d.h. des Standpunktes der Logik mit dem der Evolution, oder auch des Interpretierenden mit dem Interpretierten bedeutet dann einen "metagenetischen Fehlschluß" (Koch 1986b: 62f.), der allerdings eine typische (wenn nicht gerade notwendige) Er-
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scheinung der Metagenese ist und der sich aus ihrem doppelten Charakter ergibt: nämlich der Metagenese als einer Tendenz, die der Genese entgegengesetzt ist, und als einer Tendenz, die sich gleichzeitig als eine Fortsetzung der Genese auf einer anderen, auf einer Meta-Ebene ihrer Kontinualität, Identität und Totalität - in derselben Richtung wie die Genese - bewegt. Es zeigt sich also, daß auch die erwähnte Verwechslung als Element der Komplexität der Genese betrachtet werden kann, und daß der metagenetische Aspekt eigentlich auch Bestandteil eines genetischen Rahmens bzw. einer Evolutions-Spirale ist. Aufgrund der Verknüpfung des genetischen mit dem metagenetischen Standpunkt wurde eigentlich das gesamte genetische/generative Kategorialmodell wie auch das erwähnte Zeichenmodell aufgebaut. Die "firstness", die "secondness" und die "thirdness", wie auch die diesen Kategorien entsprechenden Zeichenkorrelate treten in der gegebenen Reihenfolge in die Totalität der Genese als Resultate beider Perspektiven ein, wobei allein die Reflexion der Semiose und damit auch der Erkenntnisprozeß in einer umgekehrten, d.h. metagenetischen Reihenfolge verlaufen: nämlich von der dritten zu der ersten Kategorie. So entsteht ein metagenetisches Modell der Semiose, das sich als ein Spiegelbild des generativen Modells verhält bzw. in einer umgekehrten Hierarchiefolge geordnet wird, das jedoch in der Tat ein Zeichen bzw. ein Metazeichen des genetischen/generativen Modells ist. Als Ausgangspunkt wird hier die Interpretantenfunktion aktiviert, die zeichenkonstitutiv wirkt9; diese zeichenimmanente Funktion schafft über jedes gegebene Zeichen ein neues Zeichen, ein Metazeichen; und dieses Metazeichen verfügt (dank der Interpretantenfunktion) über die Fähigkeit - bezogen eigentlich immer noch auf das gleiche Objekt, das der Gegenstand seines Objektzeichens ist -, auch andere Funktionen und alle Elemente des Objektzeichens (d.h. auch die Funktionen seines Objekt- und Mittelbezugs) zu bedeuten, zu semantisieren, zu reflektieren. Durch diese Interpretantenfunktion erhalten also die Elemente und ihre Relationen einen Zeichencharakter, und damit auch ihre Metaebene, von der aus sie nicht nur repräsentativ, sondern auch autorepräsentativ, autoreflektiv und autoreferentiell wirken. Wenn wir also die Wechselbeziehungen zwischen den Zeichen und ihren Elementen verfolgen, so verfolgen wir gleichzeitig die Entwicklung der Reflexion dieser Beziehungen, die sich in der "Totalität" der Evolution auch als Autoreflexion verhält, welche eben in der metagenetischen Reihenfolge verläuft. Die zeit- und raumbedingte Evolutionsdynamik wie auch der relationale Charakter der Intertextualität und Intermedialität (als Wechselbeziehungen zwischen den Zeichen und ihren Elementen) läßt sich durch das metagenetische Semiosemodell folgendermaßen darstellen:
9
Vgl. Peirce' Definition des Zeichens: "Ein Zeichen oder Repräsentanten ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interprétant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interprétant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende." (1983: 64; vgl. auch 1986: 424-427; Betonung C. S. P.).
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VERBAL-VISUELLE BEZIEHUNGEN Wenn gilt, daß a)
dann kann man b) feststellen, daß im metagenetischen Modell die 1., 2. und die 3. Korrelationsgrade in einer umgekehrten Hierarchiefolge als in dem genetischen Modell geordnet sind, also im Sinne des folgenden Schemas (x bezeichnet die Kategorien nach der Logik der Genese, x' die Kategorien nach der Logik der Metagenese): 1.' = 3., die in 2.' beinhaltet ist (die eine Meta-Ebene der 2. ist, deren Bestandteil auch die 1. ist), wobei die 3.' der 1. entspricht (ist ihre Meta-meta-Ebene) und gleichzeitig auch die 2.' und die 1.' beinhaltet. Die 2.' bezieht sich dementsprechend auf 2., doch sie basiert auf der 1.' ( = 3.), wobei die 2. auf der 1. ( = 3.') begründet ist.
2.
METAGENETISCHES MODELL DER VERBAL-VISUELLEN INTERMEDIALITÄT
So kann man auch den Prozeß der Beziehungen zwischen VA und BA effektiv mit Hilfe eines metagenetischen Semiosemodells darstellen, das m.E. für die gesamte Intermedialitätsproblematik von Bedeutung ist. Bei der Kategorisierung der Intermedialitätsbeziehungen gehe ich von der Existenz der gegebenen Medien aus. Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Existenz ein Seinsmodus der "secondness" ist, und daß in ihr also auch ihre Möglichkeit - als Modus der "firstness" - beinhaltet ist. Das bedeutet, daß auch jedes Merkmal der Transformation von BA in VA (und vice versa) ohne einen expliziten Bezug auf eine konkrete Äußerung, d.h. ohne einen aktuellen Hinweis auf die Quelle einer solchen Transformation, genauso eine Erscheinung der Relation zwischen VA und BA ist, wie jeder klare Bezug auf konkrete und existente VA und BA. Im Allgemeinen kann man von der Koexistenz der VA und BA sprechen, die durch die Präsenz oder die Erinnerung der Relation der VA und BA gegeben ist - und die ich wie folgt differenziere.
2.1. Konventionale Koexistenz (K 1.) Das Verhältnis des Mediums A zu Medium B (die Koexistenz der VA und BA) reflektiert die Legitimität beider Medien, indem es denk- und wissenssystembezogene interpretative Funktionen aktiviert, die im gegebenen Kontext und in gegebener Situation gelten. D.h., die VA und die BA verhalten sich als Bestandteile eines (mehr oder weniger) einheitlichen Wertsystems und dadurch scheinen sie in ihrer medialen
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Funktion wie auch in ihren gegenseitigen Relationen von diesem System ableitbare Größen zu sein (obwohl sie in Wirklichkeit mit diesem System auch interagieren). So zeigen auch ihr jeweiliger Stellenwert (in dem gegebenen Wertsystem) und ihre Wechselbeziehungen eine starke Tendenz zur Universalität und zur festen Hierarchisierung, bzw. sie werden als universal betrachtet und ihre Hierarchie zueinander fest definiert. Man kann von einer konventionalen Koexistenz der Medien (der VA und der BA) sprechen. Diese Art der Relation liefert die notwendigen!in gegebenem Fall die 'gesetzmäßigen' Systemvoraussetzungen für eine Intermedialität. Die Merkmale der K 1. lassen sich - unter der metagenetischen Perspektive - nach dem Bezug auf den Interpretanten, auf das Objekt und auf den Träger/das Mittel in folgender Weise differenzieren: a)
Die Merkmale der K 1. der VA und BA verhalten sich im Interpretantenbezug (d.h. in Bezug auf eine metagenetische 1.') als Argument (K 1.1.): Es geht um eine (metagenetisch begründete) Bestätigung der System-Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten. Solche Merkmale können wir z.B. in der Kunst des Mittelalters verfolgen: wenn ein bestimmtes ikonographisches Programm sowohl für die Literatur als auch für die bildende Kunst gilt (die "Kreuzigung Christi", das "Jüngste Gericht" usw.).
b)
Die Merkmale der K 1. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf das Objekt (d.h. auf die metagenetische 2.') dicentisch/als Proposition (eines Arguments) (K 1.2.). Es geht um eine konkrete (metagenetisch begründete) Aussage der (nicht über die) System-Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten: wenn z.B. sowohl in VA wie in BA eine weibliche Person im blauen Gewand (im Rahmen eines ikonographischen Programms) die "Hl. Maria" bedeutet.
c)
Die Merkmale der K 1. der VA und BA verhalten sich im Bezug auf den Träger/ das Mittel der Zeichenrelation (betrifft die metagenetische 3.') als Rhema (eines Dicents/einer Proposition) (K 1.3.) bzw. sie werden rhematisch formuliert. Es geht um eine (metagenetisch begründete) Prädikation der System-Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten, z.B. die blaue Farbe als Zeichen der "Treue".
2.2. Kooperationale Koexistenz (K 2.) Das Verhältnis des Mediums A zu Medium B (die Koexistenz der VA und BA) reflektiert die Realität beider Medien, indem es die objektbezogenen, referentiellen Funktionen aktiviert (die allerdings an die im gegebenen Kontext und in gegebener Situation geltenden epistemischen Systeme gebunden sind). D.h., die VA und die BA verhalten sich als Objekte zueinander und dadurch scheinen sie in ihrer medialen Funktion wie auch in ihren gegenseitigen Relationen durch ihre Referentialität (durch
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ihren "objektiven" Wert) definiert zu sein. Dies bedingt auch ihre gegenseitige ("objektive") Hierarchisierung. Man kann von einer kooperationalen Koexistenz der Medien (der VA und der BA) sprechen. Diese Art der Relation liefert die wahrscheinlichen Systemvoraussetzungen für eine Intermedialität. Die Merkmale der K 2. lassen sich - unter der metagenetischen Perspektive - nach dem Bezug auf den (referierten) Interpretanten, auf das (referierte) Objekt und auf den (referierten) Träger/das (referierte) Mittel folgenderweise differenzieren: a)
Die Merkmale der K 2. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf den referierten Interpretanten (d.h. auf eine metagenetische 1.') als Symbole (K 2.1.): Es geht um eine (metagenetisch begründete) Bestätigung der referentiellen Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten, z.B. eine VA vermittelt bzw. beurteilt/ bewertet die Bedeutung/den Sinn der referierten BA ("kostbares Gemälde", "verschlüsselte Botschaft"), oder eine BA reflektiert den Interpretanten einer VA (Karikatur-Illustrationen zu satirischen Texten).
b)
Die Merkmale der K 2. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf das referierte Objekt (betrifft die metagenetische 2.') als Indizes (K 2.2.): Es geht um eine (metagenetisch begründete) Aussage der referentiellen Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten, z.B. eine VA teilt mit/benennt ein konkretes Objekt der BA (Beschreibung des Bildes: "Auf einer öden Küste stirbt in Einsamkeit ein Mann im schwarzen Ordenskleid..."), oder die VA gibt Hinweis auf die BA durch die Erwähnung verschiedener Daten: des Titels, des Autors, der Entstehungszeit, des Ortes der BA usw.; bzw. eine BA weist auf die "Realien" der VA hin (karikierte Gestalten zu einzelnen Texten, die mit Eigennamen betitelt sind).
c)
Die Merkmale der K 2. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf den referierten Träger des Zeichens (betrifft die metagenetische 3.') als ikonische Relationen (K 2.3.): Es geht um eine (metagenetisch begründete) Prädikation der referentiellen Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten, z.B. VA beschreibt die Elemente bzw. die Gestaltung und Beschaffenheitsmerkmale des Trägers einer BA, ohne sie damit in Bezug auf ihr Objekt und auf ihren Interpretanten weiter zu semantisieren, ohne sie (in gegebenem Moment) zu bedeuten (Beschreibung der Faktur des Bildes: "Es war ein gewissermaßen unwillkürlicher Pinselstrich, als das Bild gemalt wurde"). Eine BA reflektiert den Träger einer VA auf die Art, daß sie einige (mindestens eines) von seinen Elementen, genauer gesagt mindestens eines von den syntaktischen Merkmalen der VA übernimmt, indem sie dies - nach den mimetischen Prinzipien - darstellt (sie weist in diesem Sinne Merkmale eines Portraits, eines Genrebildes, einer Historienmalerei, einer Illustration usw. auf): z.B. karikierte Gestalten, die die Initialbuchstaben der Eigennamen "nachahmen", "illustrieren".
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2.3. Koproduktive Koexistenz (K 3.) Das Verhältnis des Mediums A zu Medium B (die Koexistenz der VA und BA) reflektiert die Virtualität beider Medien, indem es die auf Mittel/Träger bezogenen Funktionen aktiviert (die allerdings an die im gegebenen Kontext und in gegebener Situation geltenden epistemischen Systeme gebunden sind). D.h., die VA und die BA verhalten sich zwar als Objekte zueinander, die sich aber gegenseitig - interaktiv realisieren, d.h. auch rekonstruieren oder generieren, und zwar in allen dazu fähigen Elementen des jeweiligen Mediums; in ihrer medialen Funktion wie auch in ihren gegenseitigen Relationen scheinen sie durch ihre Fähigkeit, zeichenkonstitutiv zu wirken, definiert zu sein. Dies bedingt auch ihre Hierarchie; d.h., daß sie sowohl zu einer gegenseitigen Abhängigkeit/Bedingtheit wie auch zur Unabhängigkeit bzw. zur Parataxe tendieren (was komplex betrachtet allerdings zugunsten der Tendenz zur Abschaffung jeglicher Hierarchien zwischen den Medien aussagt). Man kann von einer koproduktiven Koexistenz bzw. von einer nicht nur deklarierten, sondern auch durchgeßhrten (performativen) Interaktion der Medien (der VA und der BA) sprechen, deren Erscheinungen alle Merkmale der jeweiligen Medien semantisieren und instrumentalisieren (können). Diese Art der Relation liefert die/(im gegebenen Fall) alle möglichen Systemvoraussetzungen für eine Intermedialität. Die Merkmale der K 3. lassen sich - unter der metagenetischen Perspektive - nach dem Bezug auf den Interpretanten, das Objekt und den Träger/das Mittel folgenderweise differenzieren: a)
Die Merkmale der K 3. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf den Interpretanten (betrifft die metagenetische 1.') als Legi-Zeichen (K 3.1.), indem sie ihre Träger in deren Legitimität nicht nur manifestieren, sondern auch mitkreieren, d.h. sie realisieren einen Typus der Äußerung, die verbale wie auch visuelle Kodierung erlaubt. Es geht um eine (metagenetisch begründete) Bestätigung der Material-Bedingtheit der gegebenen Relationsdaten, z.B.: V\/BA übernimmt/ transformiert ein Element der BA/VA auf diejenige Weise, daß sie gleichzeitig eine ("neue") Gattung/ein ("neues") Genre mitkreiert (literarische/bildnerische Collage, das "Bildgedicht" im tschechischen Poetismus u.ä.).
b)
Die Merkmale der K 3. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf das Objekt (betrifft die metagenetische 2.') als Sin-Zeichen (K 3.2.), indem sie ihre Träger in ihrer Singularität nicht nur manifestieren, sondern auch mitkreieren, d.h. sie realisieren ein Exemplar der Äußerung, die verbale wie auch visuelle Kodierung erlaubt. Es geht um eine (metagenetisch begründete) Aussage der Material-Bedingtheit gegebener Relationsdaten, z.B.: VA vermittelt ihren Referenten/ihr Objekt durch eigene graphische, d.h. visuelle Möglichkeiten und übernimmt somit einige semantisch relevante Realisierungsverfahren der BA (Aktivierung/Signifikation der graphischen Gestalt der Schrift, der Druckfarbe u.ä.). Eine BA
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nimmt einige Verfahren der VA auf, indem sie zur Repräsentierung ihrer Objekte Einheiten der VA direkt präsentiert (vgl. Inschriften auf kubistischen Bildern oder VA in Bild-Collagen). c)
Die Merkmale der K 3. der VA und BA verhalten sich in Bezug auf den Träger/das Mittel (betrifft die metagenetische 3.') als Quali-Zeichen (K 3.3.), indem sie ihre Träger in ihrer Qualität nicht nur manifestieren, sondern auch mitkreieren, d.h. sie realisieren Eigenschaften einer Äußerung, die verbale wie auch visuelle Kodierung erlaubt. Es geht um eine (metagenetisch begründete) Prädikation der Materialbedingtheit gegebener Relationsdaten, z.B.: VA aktiviert durch die eigene graphische Manifestierung die Visualität, so daß sie gleichzeitig zu einer BA wird bzw. die Eigenschaften einer BA bekommt; sie kann dabei ihren "ursprünglichen" semantischen Status behalten (vgl. visuelle Poesie) oder ihn 'entleeren' bzw. dekomponieren/dekonstruieren (vgl. verschiedene Erscheinungen des sog. Aktionismus); BA übernimmt die Qualitäten der VA, so daß sie zu einer VA wird (skripturale Malerei, einige Erscheinungen des Konzeptualismus).
3.
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Wie bereits in 1.2. erwähnt wurde, gilt auch für das metagenetische Modell die Regel, daß seine erste Kategorie/Dimension in der zweiten und beide in der dritten anwesend sind, so daß die Basis der K 3. die K 2. (und K 1.) und die der K 2. die K 3. bilden.10 Das heißt auch, daß die dominierende Orientierung auf die Referentialität sowie auch auf die Qualität des Mediums nicht nur auf die bestehenden Konventionen reagiert (z.B. dadurch, daß sie diese negiert), sondern daß sie neue Konventionen produziert. Im Rahmen des metagenetischen Modells habe ich versucht, die Eigenschaften der Zeichensysteme der VA/BA darzustellen, die das Funktionieren der VA/BA-Relationen ermöglichen. Diese 'Eigenschaften' sind jedoch räumlich und zeitlich variabel aufgrund einer gegenseitigen Bedingtheit mit den jeweils dominierenden epistemischen Systemen. Demzufolge erklären die Kategorien, die hierarchischen Grade des metagenetischen Modells, nicht nur die notwendigen, die wirklichen/wahrscheinlichen und die möglichen Systemvoraussetzungen für eine Intermedialität, sondern auch ihre konkreten Inhalte: Im Falle der K 1., wo das Postulat der VA/BA-Relationen die Legitimität der Korrelate ist, dominiert die Vorstellung von einer Überordnung des Systems seinen Objekten/Elementen gegenüber. Alles soll ein Bestandteil, eine möglichst feste Komponente eines Universums, evtl. ein Artefakt seines 'Subjekts' sein. Den Ausgangs10
Demnach wäre auch folgendes Schema - einer idealtypischen ('vollständigen') Koexistenz der VA und BA - möglich (vgl. 1.): Koexistenz der BA und VA = K (K 1. (K 1.2., K 1.3., K 1.3.), K 2. (K 2.1, K 2.2., K 2.3.), K 3. (K 3.1., K 3.2., K 3.3.)).
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punkt bedeutet hier der Mythos, und das Ideal liegt in einem (metagenetischen) 'Zentrismus' bzw. einem 'Transzendentismus', von dem sowohl die Existenz wie auch die Hierarchie aller Phänomene ableitbar ist. Über- und Unterordnung eines Mediums einem anderen gegenüber wird durch das Verhältnis zu diesem Realitätsmodell - in dem die Realität selbst eine Realität der Symbole ist - diktiert. Im Falle der K 2., wo das Postulat der VA/BA-Relationen die Realität/Existenz der Korrelate ist, dominiert neben der Vorstellung von einer Überordnung des Systems die Vorstellung von einer Dualität dieser Realität (Subjekt-Objekt, Kultur-Natur, Dichtung-Wahrheit, Traum-Wirklichkeit, Bezeichnendes-Bezeichnetes u.ä.). Auch hier liegt das Ideal in einem 'Zentrismus' (und in der diesem 'Zentrismus' entsprechenden Perspektivität, Mimetik, Narrativität u.ä.), der jedoch durch Konfrontation mit der sog. "objektiven Realität" immer wieder, ständig überprüft wird. Die Bedeutungsparameter der Zeichen- bzw. Mediensysteme, wie auch die Fähigkeiten ihrer gegenseitigen Relationen, werden dann (metagenetisch) durch ihre Referentialität, d.h. durch ihre denotative Funktion bestimmt. So werden auch Bedeutungsstrukturen der gegebenen Medien determiniert und aus diesem Grunde/auf dieser Grundlage ihre Differenzen betont. Im Rahmen der VA/BA-Relationen äußern sich diese Determinanten z.B. in der Artikulation von unterschiedlichen Leistungen der Signifikation (vgl. Titzmann 1988): a)
Wo die Aussage einer BA erst durch die Zuordnung bestimmter semantischer (und im verbalen System verfügbarer) Merkmale vermittelt wird, kann die Aussage einer VA in dieser unmittelbar gegeben sein: D.h., daß eigentlich die 'Aussage' selbst nur in ihrer verbalen Kompetenz betrachtet wird.
b)
Wo BA nur Aussagen über räum- und zeitbestimmte singuläre Größen vermitteln, können VA über ganze Klassen dieser Größen berichten: D.h., daß die Fähigkeit der Abstraktion oder der Generalisierung und der Prozessualisierung bzw. Temporalisierung der verbalen Kompetenz zugesprochen wird.
c)
Um - unter den gegebenen Kommunikabilitätsbedingungen - aussagekräftig zu bleiben, kann eine BA nicht durch ihre eigenen, sondern durch verbal bestimmte Merkmale weiter gegliedert werden, während die VA dazu über eigene Gliederungsmittel verfügt: D.h., daß die Kodebildung der verbalen Kompetenz zugesprochen wird.
Dieser privilegierte Status der Verbalität (nach dem Motto: "Es gibt kein Denken ohne Sprache", wobei unter "Sprache" natürlich die Verbalsprache gemeint ist), dieser 'Logozentrismus', in dessen Rahmen die (verbal realisierte) Referentialität für "das Maß aller Dinge" gehalten wird, wird jedoch durch die Konfrontation mit der authentischen Wirklichkeit in seiner universalen Kompetenz relativiert: Die Authentizität eines bezeichneten und bedeuteten Dinges oder Ereignisses 'entweicht' ständig seiner
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Erfassung. Es zeigt sich, daß im Rahmen eines solchen Systems die VA über bestimmte Qualitäten der BA nicht verfügen oder diese nicht vertreten können: a')
eine VA kann eine tatsächliche Präsenz einer BA nicht hervorrufen (man kann z.B. sagen, daß ein Bild oder eine Gestalt auf einem Bild schön ist, doch die VA ist nicht imstande, diese Schönheit präsent zu machen);
b') die VA verletzt bzw. hebt die Singularität und damit die Authentizität der BA auf; c')
die BA verfügt über Merkmale, die Kraft ihrer Wirkung auch die verbalen Kodes mitbestimmen. - Deshalb kann man in diesem Zusammenhang von einer kooperationalen Koexistenz der VA und der BA sprechen.
Diese Widersprüche und die mit ihnen zusammenhängenden Probleme führen zur Autoreflexion, Autoreferentialität und Autorepräsentativität der Medien im Falle der koproduktiven Koexistenz, in der das Postulat der VA/BA-Relationen - neben der Legitimität und der Referentialität - die Virtualität der Korrelate ist. Neben der Vorstellung von einer Relevanz des Systems und von der Dualität der Realität, in einer Oszillierung zwischen den 'Zentrismen' und den 'positiven' Werten wird zu einer dominierenden Systemkonstituente die Möglichkeit. Von der Argumentierung mit Hilfe von Gesetzen/Gesetzmäßigkeiten oder mit Hilfe von Beobachtungen der empirischen Wirklichkeit erweitert sich das Interesse in einem bedeutsamen (und bedeutungsbildenden, d.h. auch in einem systemkonstituierenden) Maße in Richtung auf die Mittel/die Träger der Zeichen selbst. Der Objektivierungsprozeß wird zu einem Mediatisierungsprozeß, und die Problematik der positiven Entitäten verlagert sich auf die Problematik der "Funktionen". Es ist kein Zufall, daß sich die Äußerungen der koproduktiven Koexistenz insbesondere in der Ära der historischen Avantgarde entfalten und artikulieren; sie beziehen sich auf die Denkmodelle der Poly-/Multi- bzw. Aperspektivität, der Anti-Mimetik u. ä. Die Wechselbeziehungen zwischen VA und BA weisen hier eine Tendenz auf, die Grenze zwischen ihren (eingebürgerten) Zeichensystemen zu relativieren, wie auch ihre institutionalisierten Differenzierungsmerkmale auszugleichen - und es ist nur legitim und durch das metagenetische Modell erklärbar, daß diese Tendenzen von entgegengesetzen Tendenzen begleitet werden, von Tendenzen, die wiederum die Spezifika der jeweiligen Medien betonen. Die dritte Dimension des metagenetischen Modells nähert sich in diesem Sinne dem Ausgangspunkt des genetischen/ generativen Modells. Nicht ganz willkürlich habe ich im Zusammenhang mit den Kategorien der verbalvisuellen Beziehungen einige Beispiele aus verschiedenen Kulturepochen erwähnt. Denn das Modell der intermedialen Relationen entspricht auch einigen Entwicklungstendenzen in den Künsten; und es ist kein Zufall, daß man gerade die in der metagenetischen Folge letzterwähnte, mit Autorepräsentativität verbundene koproduktive Koexistenz in der Moderne und insbesondere in der Avantgarde nachweisen kann.
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m Barbara Körte Universität Tübingen
LANDSCHAFTSPERSPEKTIVEN IN ANGLOKANADISCHER LYRIK1 1.
EINLEITUNG
Es gehört zu den Allgemeinplätzen der kanadistischen Literatur- und Kulturwissenschaft, daß die Erfahrung Kanadas wesentlich durch die Konfrontation von Mensch und natürlicher Umwelt geprägt ist. Landschaft ist ein Hauptsujet anglokanadischer Kunst und Literatur seit ihren 'Anfängen' im 19. Jahrhundert, wobei eine dominante Note der künstlerischen Darstellung die Furcht des Menschen vor einer überwältigenden Natur ist. Northrop Frye, ein Doyen nicht nur der kanadischen Literaturwissenschaft, hat diese Erfahrung in einer vielzitierten Formulierung aus seiner Conclusion zu Carl F. Klincks Literary History of Canada wie folgt umschrieben: "The traveller from Europe edges into it like a tiny Jonah entering an inconceivably large whale ... to enter Canada is a matter of being silently swallowed by an alien continent." (Frye 1971: 217). Die Folge ist fur Frye eine 'Garnisonsmentalität', mit der sich der Mensch von der bedrohlichen Umwelt abzuschotten versucht. Die auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin Margaret Atwood sah noch in den frühen 70er Jahren die Kanadier in einem Kampf ums Überleben befangen und betitelte ihren thematischen Führer durch die kanadische Literatur programmatisch als Survival (Atwood 1972). Natürlich muß man aber das kanadische Verhältnis von Mensch und Natur bzw. Mensch und Landschaft differenziert sehen. Kanada ist flächenmäßig das zweitgrößte Land der Erde; es erstreckt sich in fast 10 Millionen Quadratkilometern über den nordamerikanischen Kontinent und bietet somit ein breites geographisches Spektrum: von den Atlantikprovinzen im Osten über das waldreiche Gebiet um die großen Seen in Ontario, die Prärien und die Berglandschaften der Rocky Mountains bis zur pazifischen Westküste mit Resten uralter Regenwälder. Positive Erfahrungen der natürlichen Umwelt sind in diesem Spektrum grundsätzlich ebenso angelegt wie negative und die kanadische Landschaftskunst zeichnet keineswegs immer nur ein düster-bedrohliches Bild. So läßt etwa das Gemälde Autumn Foliage (Herbstlaub) von Tom Thomson aus
1
Teile dieses Beitrags basieren auf früheren Arbeiten der Verfasserin, die in der Bibliographie verzeichnet sind.
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dem Jahre 1916 die Natur in warmen, kräftigen Farben des Indian Summer erstrahlen (Abb. in Reid 1988: gegenüber 141). Andererseits ist Kanada unbestreitbar ein Land, dessen Natur und Geographie furchteinflößende Aspekte haben. Es ist, abgesehen von einem Streifen entlang der Grenze zu den USA, nur sehr dünn besiedelt (ca. 90% des Landes sind nicht permanent bewohnt). Man kann sich in seiner Weite verlieren, und seine Leere vermag Menschen gar in den Wahnsinn zu treiben. Ein Gedicht Margaret Atwoods trägt den bezeichnenden Titel Progressive Insanities ofa Pioneer. In seiner Längserstreckung hoch in den lebensfeindlichen, polaren Norden ist Kanada ein Land, in dem der Mensch ganz konkret vom Kältetod bedroht ist. Es ist diese Seite der kanadischen Naturerfahrung, die die künstlerische Auseinandersetzung mit Landschaft nachhaltig geprägt hat, wie im Folgenden anhand englischsprachiger kanadischer Gedichte gezeigt werden soll. 2 Im Mittelpunkt steht dabei speziell die Frage, wie Landschaft in diesen Texten 'gesehen' wird, unter welcher Perspektive also Landschaft erscheint. Bevor wir uns den Spezifika der kanadischen Landschaftsschau zuwenden, sind daher einige Bemerkungen zum Begriff der Perspektive und der besonderen Relation von Landschaft und Perspektive angebracht.
2.
PERSPEKTIVE UND LANDSCHAFT
Literaturwissenschaftliche Perspektivenbegriffe sind in erster Linie auf mentale Sehweisen gerichtet: Sie fragen, wie Subjekte in einem Text die Welt wahrnehmen, entsprechend ihrer kognitiven und emotionalen Veranlagung sowie ihrer kulturellen Determiniertheit.3 Perspektive im visuellen Sinn ist natürlich in kunstgeschichtlichen Untersuchungen von großer Bedeutung, wurde in der Literaturbetrachtung bislang jedoch vernachlässigt. Dies ist zum Teil darin begründet, daß Bilder, die in Worten vermittelt werden, oft nicht so prägnant sind wie Bilder, die gezeichnet, gemalt oder photographiert wurden. Aber auch Texte können eine sehr ausgeprägte Visualität haben - mit oder ohne Perspektivierung, d.h. eine spezifische Art und Weise, in der sich der im
2
Für die Darstellung kanadischer Landschaftswahrnehmung in anderen Gattungen der kanadischen Literatur vgl. auch Stanzel (1991) und Tippett/Cole (1977).
3
Dies ist zumindest die Verwendungsweise, die sich in der Erzählforschung durchgesetzt hat. Untersuchungen zur Perspektive in der Lyrik differenzieren demgegenüber oft nicht klar zwischen Sprechen und Wahrnehmen als verschiedenen Vermittlungsfunktionen des Textes. Vgl. etwa eine Definition von W. J. Keith (1980: 8): "I focus my attention here on essentially poetic perspective involving the relation, in both physical and emotional terms, between the poet and the natural world in which he finds himself. Does he present himself directly or create a separate persona for his purpose? Do we look through the protagonist's eyes or is he presented as himself a part of the landscape? Is the narrator an observer or a participant? A native or an outsider? A teacher or a learner?"
LANDSCHAFTSPERSPEKTIVEN
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Text geschilderte optische Wahrnehmungsakt vollzieht und in der das 'Bild' gesehen wird: von einem bestimmten Standpunkt, aus einem bestimmten Sehwinkel, aus einer bestimmten Distanz oder auch mit einer perspektivischen Verzerrung.4 Wo eine visuelle Perspektive sich im literarischen Text manifestiert, kann sie wesentlich zu dessen Sinnangebot beitragen. 'Sinnhaft' ist eine visuelle Perspektive dadurch, daß sie eine mentale Sehweise indiziert. Auch in der Kunstgeschichte beruhen Auffassungen von der Zeichenhaftigkeit der Perspektive auf deren Verbindung mit einem 'geistigen' Signifikat. So ist z.B. für Erwin Panofsky die Perspektive in der Malerei eine 'symbolische Form' im Sinne Ernst Cassirers, "durch die 'ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird'" (1927: 268).5 Gerade für Landschaft liegt eine Analyse der Perspektive im mental-visuellen Doppelsinn nahe, denn ohne eine bestimmte Sehweise gibt es keine 'Landschaft'. Nicht jeder Ausschnitt eines natürlichen Terrains wird als 'Landschaft' aufgefaßt. Vielmehr konstituiert sich Landschaft erst dort, wo das wahrnehmende Subjekt einen Naturbereich als landschaftliche Einheit auffaßt. Der Literaturwissenschaftler Eckhard Lobsien betont das konstruktivistische Moment des Landschaftsbegriffs in Geographie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Alltagssprache: Landschaft liegt nicht einfach vor uns [...], sie wird vielmehr erst zu den Bedingungen einer besonderen Orientierung konstituiert, sie erschließt sich in Abhängigkeit von bestimmten beschreibbaren Leistungen eines historischen Bewußtseins. Bereits ein Blick in die Begriffsgeschichte lehrt, daß mit Landschaft immer Natur in einer besonderen Perspektive gemeint ist. (1981: 4).6
Die Wahrnehmung von Landschaft erfolgt also immer aus einer bestimmten "Verstehensdisposition" (Raible 1979), die abhängig ist von individueller Veranlagung, aber auch von einem kulturspezifischen Voraussetzungssystem, das ästhetische Vor-Bilder und Konventionen ebenso umfaßt wie Ideen, Werte und Normen. So betont auch der Kulturgeograph Yi-Fu Tuan (1974: 6): "[l]andscape [...] is a construct of the mind" (vgl. auch Bermingham 1989; Fabricant 1985; Williams 1973).
4
Auf den Unterschied zwischen Visualisierung im Allgemeinen und perspektivierter Visualisierung weist auch Alan Spiegel (1976: 33) hin: "It is important to remember that this special kind of visualization - visualization through perspective - is not synonymous with literary visualization in general."
5
Für die Assoziation visueller Perspektiven mit kultur- und epochenspezifischen Mentalitäten vgl. auch Abels (1985) und Goldstein (1988).
6
Vgl. zur Landschaft als Konstrukt aus der Perspektive eines Subjekts u.a. auch Ritter (1974). Vgl. ferner die Auffassung einiger Kunsthistoriker, nach der erst mit Aufkommen der Raumperspektive überhaupt eine Landschaftsmalerei angenommen werden könne, etwa bei Eberle (1980).
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Landschaftswahrnehmung ist aber nicht nur eine Frage von Sehweise im übertragenen, mentalen Sinn, sondern setzt auch eine bestimmte visuelle Sehweise voraus. Dies betont u.a. die Definition von 'landscape' im Oxford English Dictionary, "a view or prospect of natural inland scenery, such as can be taken in at a glance from one point of view". Dabei hat auch das Sehen mit dem körperlichen Auge eine Kulturgeschichte, und mit dem Wandel von Sehgewohnheiten ändern sich Landschaftsbilder (vgl. Caws 1981; Manthey 1983; Kleinspehn 1989; Weisrock 1990).7 Das 'Sehen' von Landschaft ergibt sich also aus der Verflechtung vieler Variablen; es ist eingebunden in das gesamte Diskursfeld einer Kultur, und Landschaftswahrnehmung und -darstellung hat somit eine wichtige kultursemiotische Dimension.
3.
KANADISCHE PERSPEKTIVEN
Betrachtet man die besonderen Perspektiven, unter denen kanadische Künstler kanadische Landschaften 'konstruiert' haben, muß man seinen Blick zunächst auf europäische Landschaftsvorstellungen richten. Das heutige Kanada ist zunehmend multiethnisch und multikulturell; in seiner Literatur und Kunst finden die Stimmen und Sehweisen außereuropäischer Migranten und der Ureinwohner in immer größerem Maß Ausdruck. Was aber Landschaftskanst betrifft, ist diese noch immer stark durch Traditionen geprägt, die von europäischen Migranten in die ehemalige britische Kolonie importiert wurden. Die Bildkunst der kanadischen Ureinwohner, der Indianer und der Inuit, ist zwar durch ihren starken Bezug zum natürlichen Kosmos und zu Naturmythen geprägt, aber Landschaften, wie sie aus europäischer Sicht vertraut sind, finden sich erst in jüngerer Zeit und auch dann noch verhältnismäßig selten.8 Inwieweit heute, angesichts eines stark wachsenden Anteils asiatischer Migranten, die bedeutenden asiatischen Traditionen der Landschaftskunst die Darstellung kanadischer Landschaften affizieren, wurde m.W. noch nicht untersucht. Meine Hauptfrage ist also, wie sich anglokanadische Dichter seit dem 19. Jahrhundert mit einem europäischen Erbe der Landschaftsschau auseinandergesetzt haben - und zwar einem Erbe, das auch im literarischen Text eine ausgesprochen visuelle Dimension hat. Die heute noch prägenden Sehmuster für Landschaft bildeten sich in Europa im Verlauf des 18. Jahrhunderts heraus und haben vor allem in ihrer romantischen 'Sinnhaftigkeit' überlebt. In der Landschaftsästhetik dieser Zeit waren neben dem 'Malerischen' (vgl. Hussey 1927) zwei Begriffe von zentraler Bedeutung: das 'Schöne' und das 'Erhabene'. Um das starke Gefühl des Erhabenen hervorrufen zu können, mußten
7
Das 'Erlernen' des Horizontsehens ist eine Seherfahrung im 18. Jahrhundert, deren Evolution Koschorke (1990) untersucht.
8
Vgl. zur darstellenden Kunst der kanadischen Ureinwohner den umfangreichen und reich bebilderten Band von Hoffmann (1988).
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Landschaften eine ehrfurchteinflößende und überwältigende Ausstrahlung haben und (jedenfalls nach der Theorie Burkes9) im Menschen einen ästhetisch ansprechenden, lustvollen, da nicht aus wirklicher Bedrohung hervorgehenden Schrecken auslösen. Zu einem solchen Effekt tragen u.a. Sehweisen bei, die Landschaften in besonderer Größe, Weite oder Tiefe erscheinen lassen. Berge wirken aus der Untersicht besonders massiv und beeindruckend; die Weite und Tiefe einer Landschaft dagegen offenbart sich vor allem aus der Überschau von einem erhöhten Blickpunkt. Gerade letztere Perspektive, mit einem englischen Begriff als prospect bezeichnet, ist in der englischen Landschaftsmalerei und -lyrik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung und wurde zum dominanten visuellen Format der ästhetischen Landschaftswahrnehmung und -darstellung überhaupt (vgl. Hunt 1976). Vor allem in der Romantik erfuhr der prospect die Zuweisung einer transzendentalen Bedeutung: Er wurde zum Signifikanten einer Mensch-Natur-Beziehung, die Landschaft als Äußerung des Göttlichen und des Unendlichen faßte. So markiert im letzten Buch von William Wordsworths autobiographischem Gedicht The Prelude der Blick vom Gipfel des Snowdon in eine mondbeleuchtete Wolkenlandschaft den Höhepunkt der Entwicklung der dichterischen Einbildungskraft, die in der Natur das Göttliche zu schauen vermag: A hundred hills their dusky backs upheaved All over this still ocean; and beyond, Far, far beyond, the solid vapours stretched, In Headlands, tongues, and promontory shapes, Into the main Atlantic, that appeared To dwindle, and give up his majesty, Usurped upon far as the sight could reach. (Wordsworth 1985: 258, Z. 43-49).
Solche Landschaftsperspektiven und die mit ihnen verknüpften Bedeutungen also waren es, die Europäer nach Kanada trugen - selbst dorthin, wo sie auf eine natürliche Umwelt stießen, die sich mit den Landschaften, an denen die Sehmuster entwickelt worden waren, kaum vergleichen ließ. So hielten die Mitglieder von Sir John Franklins Expeditionen zur Entdeckung der Nordwestpassage (die letzte endete mit dem Tod aller Beteiligten) sogar in der polaren Eiswüste nach vertrauten europäischen Landschaftsformaten Ausschau und benutzten diese Formate in ihren Berichten und Zeichnungen (vgl. MacLaren 1984; Belyea 1990). Ein derartiger Import europäischer Sehschemata ist nicht nur für Kanada spezifisch, sondern für alle ehemaligen britischen Kolonien, und überall in diesen Kolonien kam es zu Spannungen zwischen den importierten Schemata und den für europäische Augen zumindest partiell fremden Landschaften. Wie die europäischen Sehweisen an die außereuropäischen Landschaften adaptiert wurden (oder
9
Zentrale Auszüge aus Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) finden sich mit deutscher Übersetzung bei Pache (1983: 230-240).
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auch nicht), war allerdings unterschiedlich.10 Für die kanadische Adaption prägend war die bereits angesprochene Tatsache, daß die Natur und Geographie Kanadas für europäische Augen häufig bedrohliche Seiten annahmen - und zwar eine echte Bedrohlichkeit, die nicht nur ästhetischen Schrecken hervorrief. Die Kulturwissenschaftlerin Gaile McGregor hat untersucht, wie die Furcht vor dem Land die Handhabung der Perspektive in kanadischer Landschaftsmafera beeinflußt hat. Obwohl die kanadischen Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich an europäischen Mustern orientierten und somit auch zahlreiche Landschaftsbilder aus der Überschau hervorbrachten, ist die Grundtendenz ihres Werks doch 'anti-panoramatisch': Selbst bei Bildern mit erhöhtem Blickpunkt liegt der Akzent der Bildkomposition eher auf dem Vorder- als auf dem Hintergrund; der Hintergrund vieler Bilder ist durch Nebel und Wolken verhangen, oder der Blickpunkt ist relativ niedrig, so daß der Ausblick in die Landschaft nur begrenzt möglich ist (McGregor 1985: 16-18). Allein im Blick auf eine 'zivilisierte', unter Kontrolle gebrachte Landschaft scheint die Weitsicht für eurokanadische Augen erträglich, wie z.B. in Robert Whales Gemälde General View of Hamilton (1853) (Abb. bei Reid 1988: 76). Hier weisen im Bildvordergrund menschliche Figuren aus einem Wald hinaus auf die Landschaft um die Stadt Hamilton; der überschauende Blick wird also klar auf das gelenkt, was der Mensch in der ursprünglichen Wildnis bewirkt hat. Parallele Tendenzen der Perpektivenhandhabung sind in der anglokanadischen Landschaftsiftc/ziwrtg zu beobachten. Auch in der Siedlerlyrik, die vor der kanadischen Konföderation des Jahres 1867 entstand, erfährt das aus Europa importierte Schema der Überschau eine Umsemantisierung im Rahmen der Pioniermentalität. Die Siedlungsgeschichte Kanadas ist, wie sich auch in Whales Gemälde andeutet, eng mit der Erfahrung der Waldwildnis verbunden, die sich dem kolonialen Streben als Hindernis entgegenstellt. Im Gedicht The Rising Village (1834) von Oliver Goldsmith (in Brown/Bennett 1982: 42-54) - einem Großneffen des gleichnamigen angloirischen Autors - machen Dichte und Dunkelheit der Wälder den Siedlern zunächst ein Überblicken der Umgebung unmöglich: "the lonely settler sees / His home amid a wilderness of trees" (ebd.: 43, Z. 59f.). In der Baumwildnis scheint es keine Perspektive zu geben. Die 'wilde' natürliche Umgebung wird erst dann zur 'Landschaft', wenn der Siedler den Wald gerodet hat. Erst damit kann der Mensch nämlich in eine Beziehung zum Land treten und sich Perspektiven schaffen - in einem visuellen
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Zur australischen Landschaftserfahrung vgl. etwa Carter (1987) sowie Bonyhady (1985). Zur Übertragung europäischer Sehformate auf US-amerikanische Landschaften vgl. u.a. Tanner (1987) und Boime (1991). Mit dem Landschaftsbild im amerikanischen Roman beschäftigt sich Nelson (1993).
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wie in einem zeitlichen Sinn, denn das durch- und überschaubare Land bietet dem Siedler eine Zukunft. Das Wort prospect im folgenden Zitat aus Goldsmiths Gedicht ist in genau diesem räumlich-zeitlichen Doppelsinn zu verstehen:11 His perils vanished, and his fears o'ercome, Sweet hope portrays a happy peaceful home. On every side fair prospects charm his eyes, And future joys in every thought arise. (Brown/Bennett 1982: 44f., Z. 111-114).
Das Positive der sich hier im prospect darbietenden Landschaft beruht auf der Tatsache, daß - wie in Whales General View of Hamilton - eine ÄTwtarlandschaft geschaut wird, nicht die ursprüngliche, bedrohliche Waldwildnis. Auch wenn gegen Ende des Gedichts eine weite Überschau geschildert wird, handelt es sich um eine Landschaft, die deutliche Spuren des zivilisatorischen Fortschritts (im europäischen Verständnis) zeigt: How sweet it is, [...] To gain some easy hill's ascending height, Where all the landscape brightens with delight, And boundless prospects stretched on every side, Proclaim the country's industry and pride, (ebd.: 51f., Z. 4 4 3 ^ 5 0 ) .
Dies ist keine romantische Landschaftsschau in der europäischen Tradition, die sich durch Unendlichkeit als solche angezogen fühlt. Der "boundless prospect" scheint nur deshalb positiv, weil er dokumentiert, daß der Siedler die Landschaft fleißig unter seine Kontrolle gebracht hat. Die erste bedeutende Gruppe anglokanadischer Dichter sind die sogenannten Confederation Poets, deren Hauptwerke um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden, in kolonial-epigonaler Manier aber noch weitgehend durch die englische Romantik beeinflußt sind. In Bliss Carmans Morning in the Hills (Atwood 1982: 45) z.B. findet das Ich des Gedichts im Blick über eine Landschaft, ganz in der romantischen Tradition, spirituellen Trost. Von erhöhtem Blickpunkt offenbart sich ihm eine Großartigkeit, die den Glauben an eine gottgeschaffene und -durchdrungene Welt wiederherstellt: "Surely some God contrived so fair a thing / [ . . . ] / Wondrous and Fair and Wise! It must be so." (ebd.) Der Ausblick in die Landschaft scheint damit auf den ersten Blick ganz in Einklang mit dem europäisch-romantischen Seh-Format zu stehen. Auf-
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Vgl. zu diesem Doppelsinn von prospect auch Pratt (1985: 124f.) zum imperialen Erobererblick der Briten in Afrika: "The eye 'commands' what falls within its gaze; [...] In scanning prospects in the spatial sense - as landscape panoramas - this eye knows itself Va be looking at prospects in the temporal sense - as possibilities for the future, resources to be developed, landscapes to be peopled or re-peopled by Europeans."
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fallig ist allerdings die genaue Bestimmung des Blickpunktes, von dem aus die Überschau erfolgt: "My forest cabin half-way up the glen" (ebd.). Die Landschaft wird ausdrücklich nicht von dem höchstmöglichen Punkt überblickt, sondern von einer Position aus halber Höhe, von der man das Land gut überschauen kann, ohne dessen Details (im Folgenden die verschiedenen Baumarten und eine Straße) aus dem Blick zu verlieren: Hemlock and aspen, chestnut, beech, and fir Go tiering down from storm-worn crest and ledge, While in the hollows of the dark ravine See the red road emerge, then disappear Towards the wide piain and fertile Valley lands.(ebd.).
Der Geologe Jay Appleton (1975) hat eine Theorie der Landschaftserfahrung aufgestellt, die er als prospect-refuge theory bezeichnet. Die Einstellung eines Menschen zu einer Landschaft hängt danach von dem Maß ab, in dem ihm diese Landschaft als idealer Lebensraum erscheint - als Lebensraum, der sowohl Möglichkeiten des Überblicks (prospect) als auch der Zuflucht (refuge) bietet. Appleton ist zu Recht dafür kritisiert worden, daß seine Theorie den historischen und kulturellen Wandel der Landschaftswahrnehmung nicht berücksichtigt. Betrachtet man prospect und refuge jedoch als Konzepte, deren Wertschätzung und Bedeutung je nach Kultur variieren, hat der Ansatz durchaus Erkenntniswert. Europäisch-romantische Landschaftsdarstellungen zeichnen sich mit Appletons Terminologie durch ein hohes prospect-Potential aus. Die Landschaftsüberschau in kanadischer Lyrik (und Malerei) tendiert dagegen zu einem höheren Anteil von refuge-Elementen. Der Betrachter in Carmans Gedicht ist nahe genug am Boden, um dessen Zufluchtsmöglichkeiten, z.B. die schutzbietenden Bäume, im Blick zu behalten, und auch die Wahrnehmung selbst erfolgt von einem Zufluchtsort: Das Ich weiß seine schützende Hütte hinter sich. In der anglokanadischen Literatur bleibt die Beziehung des Menschen zu Natur und Landschaft ein dominantes Thema bis in die jüngste Zeit, wobei sich die Einstellung zur Landschaft in ihren Grundzügen weiterhin oft negativ präsentiert. Sehen und visuelle Perspektive spielen auch in der modernen Erkundung des Mensch-LandschaftsVerhältnisses eine wichtige Rolle. In vielen Gedichten drückt sich jetzt aber die Überzeugung aus, daß sich das Land mit seinen gewaltigen Dimensionen gar nicht erst in den Griff einer Perspektive bringen läßt - eine 'kanadische' Erfahrung, die sich mit der allgemeinen Tendenz moderner Kunst zur Aperspektivität verbindet.12 Programmatisch gibt z.B. Margaret Avison einem ihrer Gedichte zur kanadischen Landschaftserfahrung den Titel Perspective (1940) (Gustafson 1984: 219f.), wobei sie auf einen ganz bestimmten Perspektivenbegriff der Malerei zurückgreift. Die Nennung 12
Aperspektivität wird hier als ausdrücklicher Gegensatz zur Perspektivität verwendet: als signifikantes Abweichen oder Überwinden der Perspektive. Zum kulturhistorischen Konzept des Aperspektivismus in der Moderne vgl. Gebser (1949).
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von Andrea Mantegna am Textanfang und -ende markiert die (italienische) Renaissance als Bezugsrahmen für das Gedicht. Die lineare Zentralperspektive der Renaissancemalerei faßte das Bild als planen Durchschnitt durch die Sehpyramide auf, deren Ausgangspunkt das menschliche Auge ist. Dessen Gegenstück im Raum des Bildes ist der Fluchtpunkt, in dem die Linien der perspektivischen Konstruktion zusammenlaufen (vgl. Kemp 1990). Der Kunsthistoriker Erwin Pänofsky hat die Künstlichkeit dieser Art der Perspektive hervorgehoben, die von zwei wesentlichen Voraussetzungen ausgeht: [...] zum Einen, daß wir mit einem einzigen und unbewegten Auge sehen würden, zum Andern, daß der ebene Durchschnitt durch die Sehpyramide als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes gelten dürfe. In Wahrheit bedeuten aber diese beiden Voraussetzungen eine überaus kühne Abstraktion von der Wirklichkeit. (1927: 260).
Diese Künstlichkeit erweist sich nicht zuletzt darin, daß die Maler der Renaissance zur Konstruktion der Zentralperspektive auf Hilfsmittel wie den Glastafelapparat oder den Netzrahmen zurückgriffen, wie z.B. Albrecht Dürer in seiner Unterweysung der Messung (1525) bildlich festgehalten hat. Der Raum ist in einer solchen perspektivischen Konstruktion der menschlichen Ratio unterworfen; das perspektivische Bild ist, mit den Worten Bernhard Schweitzers, "ein Stück Welt, welches das Auge fest in den Griff bekommt" (1953: 20), ein Stück Welt, das der menschliche Verstand vermißt und erobert. Die Zentralperspektive der Renaissance steht damit konzeptuell in engem Zusammenhang mit der Kartographie, die ebenfalls eine räumliche Gegebenheit auf eine flache Oberfläche projiziert und dazu ein geometrisches Netz als Bezugsrahmen wählt (vgl. Edgerton 1975). Die Kartierung und Vermessung des Landes zählt zu den Topoi auch noch der modernen anglokanadischen Literatur (vgl. McGregor 1985: 348-353); sie ist Ausdruck des Strebens, die räumliche Masse und Leere Kanadas durch rationale Kategorien 'in den Griff zu bekommen, sie auf ein menschliches Maß zurechtzustutzen. Auch Verweise auf Perspektive, insbesondere in ihrem Renaissanceverständnis, sind in diesen Zusammenhang einzuordnen. Solche Versuche rationaler Landnahme sind jedoch - zumindest in der Auffassung vieler kanadischer Schriftsteller - zum Scheitern verurteilt. In Avisons Perspective (Gustafson 1984: 219f.) ist es das angeredete Du, das der Weite der kanadischen Landschaft mit perspektivischen Gesetzen zu Leibe rückt, dort Fluchtlinien und -punkte zu sehen vermag: We stand beholding the one piain And in your face I see the chastening Of its small tapering design That brings uppunkt. (ebd.: 219).
Für das Ich des Gedichts stellt diese Sehweise eine Zügelung der Landschaft dar; sie verkrüppelt den Raum ("cripples Space"), preßt das Land in optische Schemata: "to press out dwindling vistas from / The massive flux" (ebd.: 220). Die Begrenztheit die-
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ses Wahrnehmungsmusters wird durch das deutsche Wort punkt für den Fluchtpunkt noch unterstrichen, denn zumal in seiner Stellung am Satzende betont dieses Wort die Endlichkeit auch der Landschaftserfahrung. Der Grund für den beschränkenden Perspektivismus des Du wird in dessen Angst vor dem Land gesehen: "The fear has eaten back / Through sockets to the caverns of the brain" (ebd.: 219). Das Ich des Gedichts dagegen ist mutig genug, das Land nicht-perspektivisch zu sehen, nicht-rational, mit den 'Augen' der Imagination. Wo bei den englischen Romantikern die mentale, imaginative Wahrnehmung noch Korrelate in visuellen Perspektiven fand, ist diese Wahrnehmung bei Avison mit visueller Aperspektivität verbunden - die Augen des Ich entschlüpfen dem Hilfsgitter perspektivischer Konstruktion: "These eye-balls, that have somehow slipped / The mesh of generations since Mantegna." (ebd.). In der Sehweise des Ich ist das Perspektivgesetz zusammenlaufender Linien ungültig; das Ich reist auf Zugschienen, die sich in der Ferne nicht treffen. Auch die Kategorien von Vorder- und Hintergrund des Landschaftsbildes verlieren ihren Sinn, denn das Ich vermag in unrealistischer Tiefenschärfe Hintergründe ebenso deutlich wahrzunehmen wie Vordergründe; selbst die Grashalme am Horizont erscheinen ihm in irrealer Schärfe - und bewirken eine starke emotionale, nicht rationale Reaktion, die das Du nicht teilen kann: You are not pierced By that great spear of grass on the horizon? You are not smitten with the shock Of that great thundering sky? (ebd.: 219).
Im Zusammenhang mit der perspektivisch 'unmöglichen' Sehweise des Ich ist die Auffassung des Kunsthistorikers Norman Bryson erhellend, daß die Zentralperspektive, trotz all ihrer Künstlichkeit (vgl. Pänofsky 1927), in der westlichen Malerei ein Sehformat vorgab, das den Betrachter anhielt, ein Bild als Wirklichkeitsabbildung zu interpretieren (Bryson 1981: 20). In der Lyrik Margaret Avisons verbietet es die Verletzung der Perspektive, die Landschaft bloß 'realistisch' zu sehen. Die Bedeutung und Größe der kanadischen Landschaft, so das Gedicht Perspective, erschließt sich erst in der Transzendenz 'normaler', 'realistischer' Sehformate. Die hier skizzierten Beobachtungen zur visuellen Perspektive in der Landschaftslyrik sind sicher nicht nur kanadaspezifisch. Eine spezifisch 'kanadische' Qualität in der Handhabung dieser Perspektiven ist allerdings das in vielen Gedichten (und Gemälden) festzustellende 'Problem', europäischstämmige Wahrnehmungsweisen für Landschaft mit der natürlichen Umgebung Kanadas in Einklang zu bringen. Europäische Perspektiven können den Landschaften Kanadas offenbar nicht völlig gerecht werden; die Landschaften der neuen Welt bedürfen (auch) neuer Sehformate. In jedem Fall führt gerade die Inkompatibilität von kanadischer Landschaft und traditioneller europäischer Sehweise jedoch die Konstrukthaftigkeit jeder Landschaftswahrnehmung deutlich vor Augen.
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m Monika Ritzer Universität Leipzig
DIE TATSACHEN DER WAHRNEHMUNG. ZUR RELATION VON NATURWISSENSCHAFT UND LITERATUR IM REALISMUS AM BEISPIEL VON HERMANN HELMHOLTZ UND CONRAD FERDINAND MEYER 1.
WAHRNEHMUNG UND ANSCHAUUNG Unter allen Sinnen des Menschen ist das Auge immer als das [...] wunderbarste Erzeugnis der [...] Naturkrafit betrachtet worden. Dichter haben es besungen [...]; Philosophen haben es als Maasstab für die Leistungsfähigkeit organischer Kraft gepriesen und Physiker haben es als das [...] Vorbild optischer Apparate nachzuahmen gesucht. Die [...] Bewunderung [...] ist [...] wohl zu begreifen, wenn man an seine Leistungen denkt [...] und an den Reichtum von Anschauungen, die es uns zuführt. (Helmholtz 1884a: I, 238f.).
Dazu kommt die fundamentale Bedeutung des Auges für die Lebenspraxis; denn die "Sicherheit und Genauigkeit", mit der es die Gegenstände beurteilt, bildet ja die wesentliche "Grundlage für alle unsere Handlungen". Vor allem diese Effektivität überzeugt uns letztlich auch von der "unmittelbaren und vollkommenen Wahrheit und Treue" unserer Weltbild wie Weltverhältnis begründenden Gesichtsbilder - eine Überzeugung, die "durch keine [...] Einwürfe der Philosophie oder Physiologie erschüttert wird". Dürfen wir uns also wundern, wenn "sich die Meinung feststellte", unser Auge sei ein vollkommenes Instrument zur Erfassung der Welt? (ebd.). Der hier, wenn auch mit ersten leisen kritischen Untertönen, das Hohe Lied auf das Organ menschlicher Wahrnehmung singt, ist nicht Künstler, sondern Naturwissenschaftler: Hermann von Helmholtz (1821-1894), Mediziner, Physiker, Physiologe und Denker - einer jener für das 19. Jahrhundert so charakteristischen Allround-Forscher, die dem Zeitgeist der nachidealistischen Generation in ihrem die Disziplinen übergreifenden Systemwillen ebenso Rechnung tragen wie in ihrem latent weltanschaulichen Interesse, das ganz bewußt die traditionell philosophischen Themen in die neuen naturwissenschaftlichen Untersuchungen einbezieht. Für beides aber gewinnt gerade die Lehre vom Sehen eine Schlüsselfunktion. Denn nicht nur, daß die Wahrnehmungsanalyse "fundamentale Wichtigkeit [...] für fast alle anderen Zweige der Wissenschaft hat"; "sinnliche Wahrnehmung liefert ja [...] den Stoff zu allem menschlichen Wissen [...], die Grundlage für alle Thätigkeit des Menschen gegen die Aussenwelt hin", ihre Ergebnisse enthalten somit weitreichende Konsequenzen für den Gesamtbereich des
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menschlichen Bewußtseins von Welt. Die Analyse des Wahrnehmungsaktes in seiner mittlerweile erkannten Komplexität verlangt auch ihrerseits einen interdisziplinären Forschungsansatz. Helmholtz sieht daher hier 1868 schlechthin das "Grenzgebiet, wo [...] Natur- und Geisteswissenschaften wechselseitig in einander greifen" (ebd.: 236f.). Diese Korrespondenz beruht auf konkreten Voraussetzungen und besaß von jeher bewußtseinsgeschichtliche Signifikanz.1 Seit der Antike gehört die Lehre vom Sehen zu den wissenschaftlich wie philosophisch relevanten Gebieten, weil hier objektive Gegebenheiten (Licht, Dinglichkeit, Optik und Organbau) ebenso ins Spiel kommen wie subjektive Kapazitäten (Intellektualität, Rezeptivität, Spektrum der Perspektivik) - und weil jede Bestimmung dieser Faktoren wie ihrer Priorität stets zugleich auch eine Aussage über die "Wahrheit", über Geltung und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung impliziert, die letztlich auf die historisch jeweiligen Grundsatzentscheidungen zu Weltverhältnis und Wirklichkeitsbegriff zurückreicht. Daß die Erkenntnis oder Theorie des Sehens von daher eine gewisse Spannung zwischen "natur"- und "geisteswissenschaftlichen" Erklärungsmodellen birgt, setzen wir zumindest ab dem 18. Jahrhundert voraus - vollzog sich dort doch im Progreß der Wissenschaft erstmals eine Ablösung sachbezogener "Wahrnehmung", auf die eine idealistisch orientierte Kultur sogleich mit der Proklamation einer "intellektuellen Anschauung" reagierte, die den subjektiven Momenten (Synthese, Bildung, Kreativität) neues Gewicht verlieh. Das eklatante Beispiel dieser Kontroverse bietet Goethes verbissen geführter Feldzug gegen die szientistische Farbenlehre Newtons, die für ihn einer "freien", naturphilosophisch geprägten Ansicht von Licht und Auge als primär nach geistigen Gesetzen - wie z.B. der Komplementarität - funktionierenden Phänomenen entgegensteht.2 Wie wenig der prinzipielle Konflikt dadurch allerdings aufzuhalten war, zeigt der vier Jahrzehnte jüngere Schopenhauer, wenn er in seinem 1816 publizierten Aufsatz Über das Sehn und die Farben die Wahrnehmungstheorie Goethes gerade deshalb wieder aufgreift, weil er die dort enthaltenen weltanschaulichen Voraussetzungen nämlich die "feste Überzeugung" von den "intellektuellen Formen" aller Wahrnehmungsakte (Schopenhauer 1980: III, 195f.) - seiner, wie er meint, nun wieder zunehmend szientistisch orientierten Zeit erneut ins Gedächtnis rufen will. Und er bekräftigt Überzeugung wie Absicht nochmals nachhaltigst, als bewußtseinsgeschichtliche Veränderungen kurz nach der Jahrhundertmitte eine zweite Auflage seiner Schrift ermöglichen. Jetzt nämlich, 1855/6, scheint der "Streit zwischen Materialisten und Spirituali-
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Vgl. hierzu auch Lindberg (1994: 112ff.). - Zur Geschichte des Wahrnehmungsbegriffs vgl. Hamlyn (1961).
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Goethe (1982: 317). Konsequent beginnt das Vorwort zum didaktischen Teil der Farbenlehre mit einer zeitgemäß dialektischen Darstellung der universellen "Natursprache", die es "auf die Farbenlehre anzuwenden" gilt (ebd.: 316). - Zu den theoretischen Voraussetzungen von Goethes und Newtons Farbenlehre vgl. Kratz (1992: 158ff.).
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sten" eskaliert3; Schopenhauer verbindet seine intellektualistische Wahrnehmungstheorie daher mit einer gezielten Polemik gegen die "überhandnehmende Rohheit" der philosophischen "Plattköpfe", die den apriorischen und daher subjektiven Anteil der menschlichen Erkenntnis [...] ohne Umstände ab[...]leugnen; während zugleich andererseits einige Chemiker und Physiologen ganz ehrlich vermeinen, ohne alle Transzendentalphilosophie das Wesen der Dinge ergründen zu können und demnach mit dem unbefangensten Realismus täppisch Hand anlegen: sie nehmen eben das Objektive unbesehn als schlechthin gegeben, und es fällt ihnen nicht ein, das Subjektive in Betracht zu ziehn, mittels dessen allein jenes dasteht. (1980: III, 195f.). 4
Es scheint, als hätte man hier ein Beispiel für den Kampf gegen jenen "naiven Realismus", auf den man den Wirklichkeitsbegriff des postidealistischen 19. Jahrhunderts so gern verkürzt. Doch wurde im Blick auf Helmholtz schon deutlich, daß Schopenhauers spätidealistische Frontstellung zwischen naturwissenschaftlichem und philosophischem Wahrnehmungsbegriff eine Unvermittelbarkeit der Positionen konstruiert, die der bewußtseinsgeschichtlichen Situation um und nach der Jahrhundertmitte weder in der Wissenschaft noch, wie zu ergänzen ist, in der Literatur ganz gerecht wird. Wie der Rekurs auf Helmholtz zeigen kann, stellt sich die Wahrnehmung von Welt weder als ein "unbefangenst realistisches" noch als ein autonom "subjektives" Geschehen dar. Und entsprechend tragen zum Verständnis des Wahrnehmungsaktes sowohl die mit modernster Experimental- und Meßtechnik physikalische Gegebenheiten erfassende Naturwissenschaft wie auch die "geistige" Voraussetzungen erschließenden Kulturdisziplinen bei. Was an der Analyse des Sehens zwischen etwa 1845 und 1875 interessiert, ist gerade die - mit den Jahren unterschiedlich interpretierte - Korrespondenz der Disziplinen und entsprechend die Korrespondenz der Wirklichkeitsbereiche. Von hier aus erschließt sich nämlich die Komplexität des zeitgenössischen Wahrnehmungsbegriffs, der wiederum für den Literaturhistoriker zum Verständnis des als speziell "poetisch" verkannten Realismus der Jahrhundertmitte beitragen und zugleich die Veränderungen zwischen der ersten (Stifter, Keller) und der zweiten Generation der Realisten (hier speziell Meyer) als - bewußtseinsgeschichtlich bedingte - Modifikationen der Wahrnehmung innerhalb einer als realistisch klassifizierbaren Erkenntnistheorie beschreibbar machen kann.
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Vgl. Schopenhauers späteren Zusatz zu seiner für die Zweitfassung geschriebenen Vorrede.
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Schopenhauers Position in diesem Streit ist allerdings differenzierter als die zitierte Polemik verrät. In seiner Analyse des Sehakts unterscheidet er nämlich - gemäß der an Empirie wie Idee orientierten Restaurationszeit - zwischen physischen und mentalen Phänomenen, wenngleich er letzteren die eigentliche Bedeutung zuerkennt.
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SEHEN HEISST VERSTEHEN - DIE REALISTISCHE DOKTRIN
Ausgangspunkt der Wahrnehmungsanalyse ist - in der Wissenschaft wie in der Literatur um die Jahrhundertmitte - eine Kritik der Anschauung, die im Prinzip sowohl die Theorie visueller Unmittelbarkeit wie die Theorie subjektiver Produktivität einer Revision unterzieht, wobei sich die Argumentation je nach Stoßrichtung der Kritik unterschiedlich akzentuiert zeigt. Wissenschaftsintern geht es zunächst um eine Korrektur der empiristischen Theorie, wie sie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschte.5 Helmholtz' Ekloge auf die "Wahrheit und Treue" des menschlichen Gesichtssinns verriet ja bereits eine gewisse Nostalgie: Jene quasi "naive" Betrachtungsweise wäre zu revidieren, wonach "die fertige Wahrnehmung eines vorliegenden äußeren Dinges als ein durch den Sinn unmittelbar gegebenes und weiter nicht zu analysierendes Ganzes" gilt (Helmholtz 1884a: I, 235f.). Und zwar geschieht diese Revision - zugleich mit deutlich antispekulativer Tendenz - im Blick auf die "Tatsachen der Wahrnehmung", die Helmholtz in einem späteren Essay demonstrativ in den Titel setzt:6 Die wirkliche Untersuchung der optischen Leistungen des Auges, wie sie in den letzten Jahrzehnten betrieben worden ist, hat [...] eine sonderbare Enttäuschung herbeigeführt, [...] wie sie durch die Kritik der Thatsachen ja auch manchem anderen [...] Wunderglauben schon bereitet worden ist. (ebd.: 239f.).
Drei Gebiete - Physik, Physiologie und Psychologie - trugen in Helmholtz' jüngster Vergangenheit und tragen noch zu dieser "Kritik der Tatsachen" bei. Die Physik weist nach, daß das Auge, obgleich im Bau "eine natürliche Camera obscura" (ebd.: 370), in seiner optischen Qualität zur exakten Abbildung gar nicht ausreicht. Störfaktoren wie Farbenstreuung, Gefäßschatten oder Astigmatismus lassen nämlich erkennen, daß bereits den "Sinneswerkzeugen", wie Helmholtz betont, die "mechanische Vollkommenheit" für jene vermeintlich "treuen und genauen Eindrücke" fehlt (ebd.: 260).7 Die
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Hörz/Wollgast verweisen auf die Tradition des (wissenschaftlich orientierten) französischen Materialismus, der in seiner Erkenntnistheorie, auf Locke zurückgreifend, die Gegenstände mit den Abbildern im Denken gleichsetzte. So haben die intellektuellen Funktionen, nach La Mettrie, keine selbständige Bedeutung, sondern sind Modifikationen von "Markgewebe, auf das die im Auge abgebildeten Gegenstände wie von einer Laterna magica zurückgeworfen werden" (Helmholtz 1971: XXIXf.). (Vgl. hierzu Comtes Kritik in Anm. 8.)
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Die Thatsachen der Wahrnehmung. Rede, gehalten zur Stiftungsfeier der Friedrich-WilhelmUniversität zu Berlin am 3. August 1878, veröffentlicht zuerst: Berlin 1879.
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Das natürliche Auge weist so eine Fülle von Unregelmäßigkeiten auf, die bei einer künstlichen Camera obscura störend wären. Aber sie halten sich in solchen Grenzen, daß die dadurch bewirkte Ungenauigkeit der Bilder unter gewöhnlichen Bedingungen nicht allzu sehr ins Gewicht
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Physiologie weist nach, daß die sinnliche Anschauung zudem jeder Unmittelbarkeit entbehrt. Während nämlich die ältere Physiologie von der direkten Lichteinwirkung auf die Nervensubstanz der Netzhaut ausging, wies die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Johannes Müller, Helmholtz' Lehrer, systematisierte Sinnesphysiologie die durchgängige Vermitteltheit des Sehakts nach.8 Was wir eigentlich realisieren, sind Wirkungen: Wir nehmen die Außenwelt erst dadurch wahr, daß die durch äußere Eindrücke in unseren Sinnesorganen hervorgebrachten Veränderungen über die Nerven zum Gehirn geleitet werden, wo sie zu Bewußtsein kommen und zu Objektvorstellungen verbunden werden; "zum Sehen wird die Lichtempfindung erst", indem wir sie durch Koordination der Impulse zu einem "Verständnis" verarbeiten (ebd.: 379f.). Physiologische Basis der Wahrnehmung ist also eine Erregung der Nerven, deren spezifische Wirkung ausschließlich von dem betreffenden Sinnesorgan abhängt.9 So kann die Lichtempfindung im Auge auch durch andere Agenzien, wie mechanischen Druck oder elektrischen Strom, erregt werden; folglich basiert sie nicht auf der Lichteinwirkung selbst, sondern auf dem Nervensystem (ebd.: 267f.). 10 Diese Erkenntnis führte zu Müllers wissenschaftsgeschichtlich folgenreicher Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, 11 die sein Schüler Helmholtz unter anderem zur Klärung der Rezeptionsprozesse beim Farbensehen heranzog.12 Fundamental für die Wahrnehmungsanalyse aber
fällt. Daß die Fehler selbst sich in unserer Wahrnehmung nicht bemerkbar machen, liegt nach Helmholtz vor allem an den steten Bewegungen des Auges. 8
Ein Reflex dieser Veränderungen findet sich in Comtes Cours de philosophie positive (183042): "Noch vor kurzem meinte man, das Sehen dadurch erklärt zu haben, daß die Wirkung des Leuchtens der Körper auf der Netzhaut des Auges Bilder hervorbringe, welche die Gestalten und Farben der äußeren Gegenstände wiedergäben." Die Physiologie habe zu Recht kritisiert, daß es bei solcher Passivität eines zweiten Auges bedürfe, das die gespiegelten Bilder sähe. (Comte 1974: 11). - Zur Bedeutung der Physiologie vgl. Baatz (1989: S. 357-378). Zu Helmholtz vgl. die knappe Darstellung bei Schulisch (1982).
9
Helmholtz verweist hier u.a. auf die Untersuchungen von du Bois-Reymond, eines weiteren bekannten Müller-Schülers, zur elektromotorischen Wirkung.
10
Umgekehrt empfinden wir die Sonnenstrahlen als Licht oder als Wärme, je nachdem, welcher Teil des Nervensystems affiziert wird.
11
Vgl. Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns (1826).
12
Prinzipiell basiert, was wir Farbe nennen, für Helmholtz auf der Rezeption unterschiedlicher Licht-Wellenlängen; nur ist die Zahl der von uns wahrnehmbaren Farbunterschiede viel kleiner, als die der uns von der Außenwelt zugesandten Gemische von Lichtstrahlen (vgl. Helmholtz 1884: 271). Helmholtz erklärt sich diesen Umstand mit Hilfe der durch das Müllersche Gesetz spezialisierten Farbentheorie Thomas Youngs: mit der Hypothese nämlich, "dass die Verschiedenheit der Farbempfindung nur darauf beruht, ob die eine oder andere Nervenart relativ stärker afficirt wird. Gleichmässige Erregung aller drei giebt die Empfindung von Weiss" (ebd.: 280).
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war die damit verbundene Einsicht in die "subjektive" Qualität, die der Wahrnehmung schon im Bereich purer sinnlicher Anschauung eignet und diese in zweierlei Weise prägt: zum einen durch die Diskrepanz, die Nicht-Übereinstimmung von Gegenstand und Gesichtsbild, zum andern durch die Organisationsleistung des Rezeptionsmediums. "Subjektiv" klingt allerdings etwas zu "geisteswissenschaftlich". Denn genau genommen stellt sich die Wahrnehmung für Helmholtz als ein höchst verwickeltes Geschehen dar, in dem sinnesphysiologische und (mehrheitlich nicht-bewußt verlaufende) psychisch-mentale Vorgänge - wie Aufmerksamkeit, Konzentration etc. - zusammenwirken. Hier wäre dann eben die Psychologie gefordert, die allerdings, wie Helmholtz moniert, dafür noch nicht das nötige Rüstzeug bietet. (Helmholtz' zeitweiliger Assistent und Mitarbeiter Wilhelm Wundt versucht, diese Lücke durch eigene Arbeiten, wie die Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, zu schließen.) Tatsache ist für Helmholtz jedenfalls, daß die "Wahrnehmungen äusserer Objekte" zugleich "psychische Thätigkeiten" voraussetzt. Ja, die Forschung hat bereits ein immer umfangreicheres Gebiet solcher "psychischen Vorgänge" erschlossen - von den Nervenerregungen im Gehirn bis zu den Vorstellungen im Bewußtsein -, "deren Resultate schon in der scheinbar unmittelbarsten sinnlichen Wahrnehmung verborgen liegen" (ebd.: 235f.). Damit aber stellt sich auch für den Naturwissenschaftler Helmholtz unweigerlich die Frage nach der Objektivität der Wahrnehmung. Ist es denn, lautet sein kognitives Resümee, diesen Thatsachen gegenüber nun noch möglich die [...] Voraussetzung festzuhalten, dass die Qualität unserer [...] Gesichtsempfindungen ein treues Abbild sei von entsprechenden Qualitäten der Aussendinge? Offenbar nicht, (ebd.: 284).
So scheint auch die wissenschaftliche Kritik der Anschauung in eine klare Absage an den von Schopenhauer geschmähten "unbefangsten Realismus" zu münden. Zeitgenossen vermuteten daher in Helmholtz' Schrift Über das Sehen (1855), die kurz nach der 1854 veranstalteten Neuausgabe von Schopenhauers Abhandlung erschien, gar ein Plagiat (Helmholtz 1971: XXV). Doch stellt sich die Sachlage eben wissenschaftlich sehr viel komplexer dar; die Frage nach dem Weltanschauungswert dieser Wahrnehmungskritik kann daher zugleich den Erkenntniswert einer interdisziplinär vorgehenden Bewußtseinsgeschichte deutlich machen. Denn Helmholtz' Theorie von der Medialität der Wahrnehmung zielt nicht bloß auf die "subjektive" Alternative, sondern auf ein physische und psychische Momente koordinierendes Modell, das in der realistischen Literatur der Zeit durchaus eine Entsprechung findet. Kritik an der ungebrochenen Abbildfunktion des Auges formuliert bereits der 1852 gehaltene Habilitationsvortrag13 Über die Natur der menschlichen Sinnesempfin-
13
Nachdem er sich Ende der 40er Jahre zunächst mit dem Energieerhaltungssatz beschäftigt hatte, "entdeckte" Helmholtz 1851 eher nebenbei den heute noch gebräuchlichen Augenspiegel, was wiederum sein Interesse auf die Wahrnehmungsvorgänge lenkte.
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düngen. Heimholte will mit seinen Forschungsergebnissen, wie er im Brief an den Vater etwas mißverständlich schreibt, die Grundansicht Fichtes empirisch darstellen (ebd.: XII). Das heißt: Es geht ihm um die Akzentuierung der apriorischen Bedingungen in der sinnlichen Wahrnehmung; neben dem eher biographisch bedeutsamen Fichte14 steht daher vor allem Kant für diese Argumentationstendenz. Demgemäß zeigt die Physiologie der Sinne auf dem Wege der Erfahrung - wie Helmholtz dann in Über das Sehen feststellt -, welchen Anteil die (als angeboren vorausgesetzte) "Organisation des Geistes" an unseren Vorstellungen hat (Helmholtz 1884: I, 379). Dieses Interesse an der Präzisierung der subjektiven Voraussetzungen gehört aber nur insofern in den Kontext des von Schopenhauer für die 50er Jahre beschworenen "Spiritualismus", als Helmholtz, wie gesagt, gewisse Einseitigkeiten der jüngsten Vergangenheit durch die Abklärung beider, der empirischen und der geistigen, Momente in der Wahrnehmung korrigieren will. Der Kontext seiner Wahrnehmungskritik wäre also genauer die (durchaus zeittypische) doppelte Frontstellung gegen die beiden Extrempositionen Spätidealismus und Empirismus - der Restaurationszeit, die das Sehen entweder als Akt der Kreation oder als Abbildung, in jedem Fall aber als Übereinstimmung von Wahrnehmung und Gegenstand begriff. Von daher wird verständlich, daß sich Helmholtz' "kantisch" die intellektuellen Bedingungen erschließende Kritik zunächst ganz explizit gegen die "neuere Philosophie" in Gestalt Hegels und Schellings wendet, die von der "Identität der Natur und des Geistes" ausgeht und damit die "Gesetze des Geistes auch zu Gesetzen der Wirklichkeit" macht (ebd.). Gegen diese Vereinnahmung der Natur durch einen spekulativen Idealismus reagiert Helmholtz zeitlebens empfindlich und kontert sie, entsprechend anti-spekulativ, durch den wissenschaftlichen Blick auf die "tatsächlichen" Voraussetzungen15 - wobei er sich in beidem als Zeitgenosse eines zunehmend realistischen Jahrhunderts erweist. Wenn er daher immer wieder die "Gegenwart äusserer Objekte" als die bei Hegel und Schelling nicht vorausgesetzte " Ursache" der Wahrnehmung betont, so finden wir hier den Reflex der für die erste Jahrhunderthälfte fundamentalen Änderung im Begründungsdenken: "Grund" ist auch im Fall der Wahrnehmung nicht mehr der Geist, sondern die Natur. Andererseits aber - und hier zeigt sich wieder die zweite Stoßrichtung der Kritik - billigt Helmholtz dieser "äußeren Ursache" nicht mehr als die
14
Helmholtz war mit Fichtes Sohn befreundet und befaßte sich daher mit den Schriften des Vaters.
15
Helmholtz' Aversion gegen die spekulative Naturphilosophie gilt der Priorität des Geistes im Weltbild wie in der Methodik: "Kants Philosophie beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Kenntnisse durch das reine Denken zu vermehren, denn ihr oberster Satz war, dass alle Erkenntniss der Wirklichkeit aus der Erfahrung geschöpft werden müsse" (1884: I, 368). Die Kritik an jeder Form von Idealismus, der die Anschauung dem Geist unterwirft und den "Einfluß, den das Wirkende auf die Wirkung hat, vernachläßigt", wird im Handbuch der Optik (1867) mit Nachdruck wiederholt (Helmholtz 1971: XXXI).
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Funktion eines "Wirkungs"-Phänomens zu (ebd.: 395).16 Wenn er (mit Müller) die Nervenleistung und die psychisch-geistigen Akte herausstellt, "welche die Lichtempfindung in eine Wahrnehmung der Aussenwelt verwandeln" (ebd.: 391),17 so wendet er sich damit gleich nachdrücklich gegen die empiristischen Tendenzen in der an Fakten und Daten orientierten Naturwissenschaft der Restaurationszeit, die in der ersten Euphorie (oder auch Phobie) dem Sinnlichen wie den Sinnen Absolutheit zumaß. Kognitives Ergebnis von Helmholtz' Wahrnehmungsanalyse ist daher gerade die Synthese der in Naturphilosophie und Empirismus divergenten äußeren und inneren Momente: So wird für ihn "durch die angeführten Tatsachen sehr augenscheinlich ans Licht gestellt", "dass die Art unserer Wahrnehmung ebenso sehr durch die Natur unserer Sinne, wie durch die äusseren Dinge bedingt ist" (ebd.). Gerade diese in der Wahrnehmung "tatsächlich" nachgewiesene Wirkungsrelation zwischen Subjekt und Objekt aber entspricht sehr genau dem Erkenntnisbegriff, den wir in der realistischen Literatur der Jahrhundertmitte, theoretisch expliziert wie praktisch umgesetzt, wiederfinden. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die beiden großen Bildungsromane der Mittfünfziger Jahre - Kellers Grüner Heinrich und Stifters Nachsommer -, die beide, nicht zufällig im Zusammenhang mit einer Art Wahrnehmungstheorie, die Interaktion von Natur und Geist, objektiven und subjektiven Phänomenen zum Programm erheben. Als Gottfried Kellers Grüner Heinrich an der Universität das theoretische Fundament zur Überwindung seines gegenstandsvergessenen und unsinnlichen "Spiritualismus" erhält, sind es gerade die - in der Wahrnehmungslehre der Zeit erstmals erkannten - Wirkungszusammenhänge zwischen "Licht" und "Sehnerv" einerseits, Gesichtssinn und Bewußtsein andererseits, die ihn von einem Objekt und Subjekt, Materie und Geist umgreifenden "Kreislauf' überzeugen (Keller 1985: II, 672f.). Damit zeigt sich der Sehakt den bewußten Funktionen des Menschen korreliert;18 wie Helmholtz verbindet Keller den Rekurs auf die natürlichen Voraussetzungen mit dem Nachweis einer Partizipation der geistig-subjektiven Faktoren. Insofern korrespondiert Heinrichs (für den Bildungsprozeß fundamentale) Überwindung des "Spiritualismus" eine ebenso explizite Abkehr von "materialistischen" Tendenzen, die Keller - unter Bezugnahme auch auf die zeitgenössische Anthropologie (Henle, Moleschott) - anläßlich von Heinrichs Uni16
Es ist mit dem Auge wie mit allen anderen Sinnen: "Wir nehmen nie Gegenstände der Aussenwelt unmittelbar wahr, sondern wir nehmen nur Wirkungen dieser Gegenstände auf unsere Nervenapparate wahr." (1884: I, 395).
17
Über die Natur dieser Vorgänge vermag Helmholtz allerdings vorerst wenig Definitives auszusagen; denn "leider finden wir bei den Psychologen keine Hilfe" (1884: I, 391).
18
Bevor er an der Universität Wissen über die physiologischen Zusammenhänge erwirbt, kann Heinrich bezeichnenderweise der Argumentation seines Malerkollegen Lys - eines in seiner weltschmerzlerischen Amoral typischen Zeitgenossen der Restaurationszeit -, daß "das Auge" quasi blind "der Kette der ewigen Naturgesetze [gehorcht und sich fügt]", nichts entgegensetzen (Keller 1985: II, 637).
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versitätsbesuch expliziert (IV, 2). Literarisch umgesetzt wird diese Synthese in einer Erzählweise, die das Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Faktoren poetologisch reflektiert. Keller veranschaulicht die Interaktion von Physis und Psyche nämlich in einem Bild - das fundamentale Nervensystem erscheint als "wahrer [...] Proteus, bald Gesicht, bald Gehör, bald Geruch, jetzt Bewegung und jetzt Gedanke und Bewußtsein", (zugleich eine Reminiszenz von Müllers Sinnesphysiologie) -, das, wie es im Roman heißt, symbolisch ist und doch zugleich vollkommen "aus dem Wesen des Gegenstandes" hervorgeht (ebd.: 677). So erhält das wissenschaftlich wahrnehmbare Geschehen im poetischen Bild, das sich ganz an dieser Wirklichkeit der Verhältnisse orientiert, eine menschliche Sinngestalt.19 Bei Adalbert Stifter steht die Kritik der Wahrnehmung von Beginn an im Zentrum des weltanschaulichen wie des ästhetischen Programms. So proklamieren bereits die Studien - über Differenzen bzw. Veränderungen im Erlebnisspektrum ihrer Helden {Hochwald10) oder über Strategien der Leserführung (Abdias2I) - eine Anschauungsform, die in ihrer Objektivität, d.h. Sachlichkeit und Sinnlichkeit, den naiven Anthropomorphismus des subjektiv-geistigen Weltbilds überwindet und von daher zur Erkenntnis der Dinge gelangt. Die Menschen "können [...] nichts betrachten, als in der Meinung, es sei für sie gebildet", heißt es im Hochwald (Stifter 1978ff.: 1.4, 268f.); sie verlieren sich daher in (mythischen oder spekulativen) Welt-Bildern, die ihnen Eigendynamik und Sinn der Wirklichkeit verstellen. Diese Kritik an der Subjektivität oder Anthropozentrik der Wahrnehmung, die zugleich den Blick öffnen soll für Eigenheit und Sinn der Realität, verbindet Literatur und Wissenschaft mit der zeitgenössischen Philosophie. Geht es bei Keller wie Stifter mit ethischer Tendenz um Gewinn und Erhalt der "Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen" (Keller 1985: II, 459), so sieht Auguste Comte - im Kontext seiner "positivistischen" Reform des menschlichen Weltverhältnisses - entsprechend in der "Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung" die "Grundbedingung jeder gesunden, wissenschaftlichen Theorie" (Comte 1979: 33).22 Denn - so formuliert es zur glei-
19
Zum Sehen u. a. in Kellers Grünem Heinrich vgl. auch die (leider durchgängig Freudianisch fixierte) Studie von Manthey (1983: 341-444). Zur Auseinandersetzung damit vgl. Niewöhner (1991: 17ff.).
20
So setzt Stifter die naturorientierte Perspektive des Waldbewohners Georg in Kontrast sowohl zum naturentwöhnten Blickpunkt der Zivilisationsflüchtlinge wie zum mythischen Weltbild der Landbevölkerung.
21
Durchgängig parallelisiert die Erzählung die (neutrale) Darstellung von Abdias' Schicksal mit den subjektiv irrigen Deutungen seiner fiktiven Umwelt und exemplifiziert damit die in der Einleitung proklamierte Entsubjektivierung der menschlichen Weltanschauung.
22
In diesen Kontext gehört auch die philosophische (Feuerbach) bzw. wissenschaftsinterne (Helmholtz u.a.) Kritik an den anthropomorphen Theoremen der frühen Naturwissenschaft, wie zum Beispiel der noch in Liebigs Chemischen Briefen spukenden "Lebenskraft".
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chen Zeit Ludwig Feuerbach im Kontext seiner "naturalistischen" Philosophie - "die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen"', sie unterscheiden daher nicht zwischen ihren "Einbildungen" und dem "Gegenstand": Die Vorstellung liegt dem ungebildeten, subjectiven Menschen näher, als die Anschauung, denn in der Anschauung wird er aus sich herausgerissen. (Feuerbach 1967: 97f.).
Nur diese bewußtseinsgeschichtlich forcierte Repression der imaginativ-emotionalen, Welt vereinnahmenden Subjektivität verleiht der objektiven "Beobachtung" in der realistischen oder positivistischen Erkenntnistheorie so großes Gewicht;23 um eine Exklusion des wahrnehmenden Individuums wie seiner Anschauungsformen geht es nicht. "Ihr seid ein Beobachter", sagt daher Mathilde im Nachsommer zu Risach; "Ihr empfangt also das Gefühl von den Gegenständen, und tragt es nicht in dieselben hinein." (Stifter 1987: 258). Wie wenig eine bloße sinnliche Anschauung der einzelnen Dinge für sich schon Geltung besitzt, thematisiert Stifter im Bildungsprozeß des Nachsommer. So erringt der Held zunächst durch naturwissenschaftliche Schulung die für die Erkenntnis der Realität nötige Objektivität. Doch bedarf es zum wirklichen Verständnis der Realität - wie etwa Heinrichs naive Aufnahme einer Theaterinszenierung zeigt oder auch seine Unkenntnis der Relationen zwischen Tierverhalten und Witterung - noch des Verständnisses der Zusammenhänge, das Erfahrung und Wissen von der Systematik der Natur ebenso einschließt wie die Einsicht in den Anteil, den das geistige Moment (in der Phylo- wie in der Ontogenese) an der Erfassung und Darstellung von Wirklichkeit besitzt. Erst derart gebildet, kann Heinrich dann auf seiner abschließenden Reise das "Sehen" mit dem "Begreifen" der Realität vereinen.24 Wie klar allerdings für die erste Generation der Realisten eine solch verständige Wahrnehmung Wesen und Sinn der Dinge erfaßt, zeigt noch einmal exemplarisch der Beginn von Stifters 1867 vollendeten Roman Witiko. Als der Held erstmals im fiktiven Gesichtskreis erscheint, tastet eine geradezu penibel visuelle Beschreibung Aussehen
23
Dem heutigen Begriffsgebrauch von Positivismus widersprechend, verwehrt sich auch Comte gegen die Verwechslung des "positiven Geistes" mit dem "Empirismus" der Restaurationszeit, d.h. einer an der unmittelbaren Gegebenheit wie an isolierten Fakten haftenden, also theoretisch wie praktisch unsystematischen Forschung (1979: 229). Dies belegt der volle Wortlaut der eben zitierten Passage: "Seitdem die ständige Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung einstimmig als erste Grundbedingung jeder gesunden, wissenschaftlichen Theorie anerkannt worden ist, hat eine fehlerhafte Interpretation oft dazu geführt, dieses große Denk-Prinzip zu mißbrauchen, um die wirkliche Wissenschaft zu einer Art unfruchtbarer Anhäufung zusammenhangloser Fakten entarten zu lassen, die kein anderes wichtiges Verdienst haben konnte, als das der Genauigkeit im Detail. Es ist also wichtig, recht zu verstehen, daß der echte positive Geist im Grunde vom Empirismus ebensoweit entfernt ist wie vom Mystizismus [ = Spekulation]" (ebd.: 33).
24
"Ich sah Völker und lernte sie begreifen, und oft lieben. Ich sah verschiedene Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen" (Stifter 1987: 709).
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und Bekleidung des noch unbekannten Reiters ab.25 Der Erzähler imitiert also die sinnlich-gegenständlichen Kategorien der Wahrnehmung, wobei die sinnlichen Daten freilich nach Möglichkeit durch objektives Wissen ergänzt werden: So ersieht der Verständige aus den "Spuren von Wetterschäden und ausgetilgten Flecken" des Leders Alter und die Behandlung des Materials (Stifter 1978ff.: 5.1, 16). Nur wo sich die Gegenstände der Wahrnehmung entziehen, endet die Erfassung der Wirklichkeit: So kann das von einer Kappe bedeckte Haar "nicht angegeben werden". Und: "Eine Art Mantel [...] war zusammengeschnürt an den Sattel geschnallt, weshalb man die Gestalt und das Wesen dieses Dinges nicht zu ergründen vermochte" (ebd.). Kehrt man diese Aussage ins Positive, so findet man hier ein wesentliches Moment der hochrealistischen Erkenntnistheorie komprimiert: Ist nämlich ein Gegenstand in seiner Gestalt wahrnehmbar, so erschließt die Wahrnehmung - Sachlichkeit vorausgesetzt - zugleich sein "Wesen" (Beschaffenheit, Funktion, Eigenheit). Erst diese weltanschauliche Prämisse von der Sinntransparenz der Realität macht den Wahrnehmungsakt in seiner Konvergenz von Sehen und Verstehen zu einem gültigen Medium der Welterfassung.
3.
ZEICHENWELTEN - DIE SPÄTREALISTISCHE DIVERGENZ VON BLICK UND URTEIL
Ein knappes Jahrzehnt später scheint die Relation von Welt und Mensch erschüttert: Auf Seiten der Wahrnehmung zeigt sich die Konvergenz von "Sehen" und "Begreifen" in Frage gestellt, auf Seiten des Wahrgenommenen die Entsprechung von "Gestalt" und "Wesen". Wir finden nun innerhalb der realistischen Literatur ein Wahrnehmungsverständnis, das zwar die Visualität der Welt wie die Radikalität der Beobachtung als Medium der Ding-Erfassung beibehält und damit auch die Kritik an mangelnder Objektivität - und das dennoch von beiden Seiten her Brüche in der Wahrnehmung thematisiert. Zu Beginn von Conrad Ferdinand Meyers historischem Roman Jürg Jenatsch präsentieren sich die Dinge nicht mehr in der gleichen Objektivität wie bei Stifter. Zunächst enthält schon die Beschreibung selbst deutlich Stimmungswerte: Die Berge erscheinen in ihrer Schroffheit "unheimlich". Dann wird die präzise Wahrnehmung des Zu-Beschreibenden durch einen raschen Wechsel der atmosphärischen Stimmungen beeinträchtigt: Teile der Landschaft, von der "Mittagssonne" in hellstes Licht getaucht, "leuchteten bald grell auf, bald wichen sie zurück in grünliches Dunkel" (Meyer 1958:
25
Es ritt "auf einem grauen Pferde, dessen Farbe fast wie der frische Bruch eines Eisenstückes anzuschauen war, ein Mann [...]. Der Mann war noch in jugendlichem Alter. Ein leichter Bart, welcher eher gelb als braun war, zierte die Oberlippe, und umzog das Kinn." Eine lederne Kappe saß "dergestalt auf dem Kopfe [...], daß sie alles Haar in ihrem Innern faßte, und an beiden Ohren [...] gegen den Rücken mit einer Verlängerung hinabging [...]. In den Achselhöhlen war ein Schnitt, daß der Mann den Arm hoch heben konnte, und daß man dann das Linnen seiner inneren Kleidung zu sehen vermochte." (Stifter 1978ff: 5.1, 15f.).
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X, 7). Und wie die Gegenstände in der Beleuchtung changieren, so variieren die Gesichtsbilder, ohne daß sich für den Blick ein ruhender Punkt ergäbe. Allerdings gibt es auch noch keinen Hinweis auf die für die Kunst der Jahrhundertwende typische Auflösung in bloße Impressionen.26 Der Erzähler hält vielmehr in der Art seiner Beschreibung dezidiert an der Faktivität und damit an der Erkennbarkeit der Wirklichkeit fest. So entspricht die Exposition der Figur einer visuell relativierten, doch prinzipiell verifizierbaren Sicht der Dinge: Endlich tauchte ein Wanderer auf. [...] Ein Bergbewohner, ein wettergebräunter Gesell war es nicht. Er trug städtische Tracht, und was er auf sein Felleisen geschnallt hatte, schien ein leichter Ratsdegen [...] zu sein. Dennoch schritt er jugendlich elastisch bergan, (ebd.: 8).
Wenige äußere Daten genügen dem Erzähler, um von der wahrgenommenen Gestalt auf das Wesen der Person zu schließen, wobei solches - mit Erfahrung wie Vermutung angereichertes - Schließen durch die leichten Widersprüche im Erscheinungsbild gefordert und zugleich erschwert scheint. Beide Momente setzen sich auf der Handlungsebene fort, wenn die Figur durch ihr Verhalten in den Verdacht der Spionage gerät. Die Unsicherheit der klassifizierenden Beschreibung ist mehr als ein initiales Spannungsmoment des Romans - sie hat im Werk Meyers Methode. Während der Autor einerseits noch einmal Figuren und Ereignisse ähnlich drastisch wie Stifter visualisiert, zeigt er andererseits durch die Form der Präsentation bereits, welche Schwierigkeiten sich der Wahrnehmung in den Weg stellen, und damit zugleich, durch welche Verhaltensformen (des Schließens, Urteilens usw.) die Wahrnehmenden diese Schwierigkeiten auszugleichen suchen. Im Gegensatz zu Keller und Stifter - mit denen Meyer gleichwohl die realistische Prämisse von der Bewußtseinstranszendenz der Realität teilt - stellt sich die Wahrnehmung somit nun als ein vielfältig bedingter und störanfälliger Vorgang dar, der entsprechende Reaktions- und Kompensationsmuster zeitigt. "Perspektivierung" oder "Subjektivierung" - Definitionen, wie sie bisher zur Klassifizierung der Spätformen realistischen Erzählens dienten - reichen zum Verständnis dessen nicht ganz aus. So mag der interdisziplinäre Rekurs auf die Wissenschaftsgeschichte den Blick für die Komplexität der Meyerschen Darstellung schärfen. Greifen wir daher noch einmal auf die Helmholtzsche Wahrnehmungstheorie zurück, die im letzten Jahrhundertdrittel ebenfalls eine Modifikation erfährt. Wie der Vergleich der kurz nach 1850 verfaßten Schriften mit den Veröffentlichungen ab Mitte der 60er Jahre erweist, unterliegt die Deutung der Medialität von Wahrnehmung gravierenden Veränderungen - was wiederum entscheidend zum Verständnis der beiden Phasen realistischer Literatur im 19. Jahrhundert beitragen kann. Daß keine "Gleichheit" zwischen "unseren Sinnesempfindungen" und den "wirklichen Eigenschaften der wahrgenommenen Körper" (Helmholtz 1884: I, 379) besteht,
26
Vgl. hierzu Asendorf (1989: S. 623-628).
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gehörte schon zu den Voraussetzungen der Jahrhundertmitte. Kein Realist verkennt je die Diskrepanz zwischen der Anschauungsform und der Beschaffenheit der Natur. Vielmehr bildet, so Feuerbach, die Unterscheidung "zwischen dem, was der Natur, und dem, was dem Menschen angehört" (Feuerbach 1975: IV, 240) ja gerade die Voraussetzung für eine unvoreingenommene und von daher unverstellte Sicht der Dinge. Doch impliziert die Wahrnehmungstheorie der Jahrhundertmitte, wie wir sahen, das Theorem von der Korrelation von Gegenstand und Wahrnehmung, bzw. bei Helmholtz von Wirkung und Ursache - eine Korrelation, die letztlich auf die für den Wirklichkeitsbegriff der Zeit charakteristische Vorstellung von einer ontologischen Systematik der Wechselwirkungen auch und gerade sinnlich-geistiger Funktionen zurückführt. In den späten 60er Jahren mehren sich nun, und zwar interdisziplinär, die Vorbehalte gegen eine solche Koordination. "Die Untersuchung der wirklichen Tatsachen" die Helmholtz in seinem zweibändigen Standardwerk mit dem Titel Handbuch der physiologischen Optik (1867) zusammenstellt -, ergibt für ihn nun eher den Anschein, als habe die Natur "jeden Traum von einer prästabilierten Harmonie der äusseren und inneren Welt zerstören wollen" (1884a: I, 294).27 Zwar zielt diese Kritik zunächst noch einmal auf idealistische oder materialistische "Hypothesen", die beide, wenn auch auf der Basis radikal unterschiedlicher Prinzipien, von einer Identität zwischen den Gesetzen des Geistes bzw. des Bewußtseins und denen der Natur ausgehen. Doch trifft die Kritik zugleich die Relationstheorie der Jahrhundertmitte, die Geist und Natur als koordiniert begriff. Ähnliche Veränderungen im Wirklichkeitsbegriff signalisiert in einem anderen Bereich der Naturwissenschaft das zweite thermodynamische Gesetz von Clausius, das die im ersten thermodynamischen Gesetz von Rudolf Mayer enthaltene Vorstellung von einer systematischen Wechselwirkung der Phänomene durch die Vorstellung von Entropie, also einer UnVerhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung, ersetzt.28 Das Ausmaß der Inkongruenz wird deutlich, wenn Helmholtz nun die differenzierten Vermittlungsformen der Wahrnehmung beschreibt. Die durch das Zusammenspiel von Lichteinwirkung und Nervensystem entstehenden Seh-Empfindungen fungieren nun nämlich als bloß bildmäßige "Zeichen" für die Beschaffenheit der äußeren Objekte29 27
Helmholtz wiederholt diese Formulierung in dem 1869 veröffentlichten Aufsatz Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft (1971: 178).
28
Helmholtz sieht hier einen Beleg, "daß gleiche Ursachen unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Wirkungen haben können" - ein Satz, den die Menschheit nur widerstrebend "an die Stelle der früher vorausgesetzen Gleichartigkeit von Ursache und Wirkung gesetzt hat" (1884a: I, 265).
29
Genau genommen handelt es sich dabei natürlich um Zeichen für die von den Objekten ausgehenden Wirkungen. Denn die Eigenschaften, die wir den Objektiven der Außenwelt zuschreiben, bezeichnen nur deren Wirkungen auf unsere Sinne; "überall haben wir es mit Wechselbeziehungen verschiedener Körper aufeinander zu tun" (Helmholtz 1910: III, 19). In dieser Be-
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Zeichen, "welche wir lesen gelernt haben" (1971: 180), indem wir sie, als Resultat unserer Organisation wie von individuellen oder gattungsgeschichtlichen Erfahrungen, mit Bedeutungen belegen und dann, mit gleichfalls erworbener "Sicherheit und Schnelligkeit des Eintretens bestimmter Vorstellungen bei bestimmten Eindrücken" (ebd.: 266), gebrauchen. Was wir in der Wahrnehmung erhalten, sind also nur Sinnesdaten, die wir erst durch physiologische oder mentale Transformationsprozesse zu Welt-Bildern verarbeiten. (Beispiel für eine primitive Form der Verarbeitung wäre schon die Entstehung des räumlichen Sehens aus zwei per se flächigen, unterschiedlichen Netzhautbildern.) So bilden wir insgesamt aus der primären "Perzeption" oder "Anschauung" - Helmholtz' Begriffe sind hier nicht ganz konsequent -, d.h. also aus der auf Sinnesempfindungen reduzierten Wahrnehmung, "Vorstellungen über die Existenz, die Form und die Lage äußerer Objekte" (1910: III, 3). Wesentlich ist nun aber die Art und Weise, wie sich diese Vermittlung von Wahrnehmungsdaten und Gesichtsbildern für Helmholtz darstellt. Sie geschieht nämlich durch einen Akt unwillkürlich ablaufender Interpretation, einen, wie Helmholtz formuliert, "unbewußten Schluß" vom gegenwärtigen sinnlichen Eindruck auf die zur Regel summierten Erfahrungswerte.30 Um den hierin enthaltenen Wirklichkeitsbezug zu akzentuieren, spricht Helmholtz auch in Anlehnung an die Logik John Stuart Mills von einem "Inductionsschluß": Das so entstehende Wahrnehmungsbild reflektiert zwar nur bedingt die Realität, aber es gründet auch nicht in einer wirklichkeitsfremden "Autorität", wie etwa den Gesetzen des Geistes.31 Helmholtz sucht vielmehr eine Mitte zwischen der Autogenität des Wahrnehmungsbildes und seiner Objektivität, indem er die bildenden Kategorien auf praxisbezogene Verhaltensformen - Erfahrung, Gewohnheit, Funktionalität usw. - zurückführt. 32
schränkung auf die gesetzmäßige Erfassung der Wirkungsrelationen liegt ein im Sinne Comtes "positivistisches" Verfahren. 30
Noch unsicher formuliert Helmholtz 1855, "dass die Vorstellung in uns urtheilt, schliesst, überlegt", um zu betonen, "dass diese Acte ohne unser Wissen vor sich gehen" und weder durch "unseren Willen" noch durch "bessere Ueberzeugung" modifizierbar sind (1884: I, 390). Der spätere Terminus "unbewußter Schluß" soll diese durch Erfahrung und Anpassung kollektivierte Unwillkürlichkeit der Denkprozesse zum Ausdruck bringen, die auf jeden "bei gegenwärtiger Wahrnehmung eintretenden neuen sinnlichen Eindruck" die "durch die früheren Beobachtungen eingeprägte Regel" anwendet (1971: 267).
31
Vgl. hierzu Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens (Helmholtz 1884:1, 323f.) sowie Helmholtz (1910): Wichtig ist für Helmholtz, daß der Vordersatz des Schlusses bei Mill "ein Satz [ist], der sich auf Wirklichkeit bezieht und also nur Resultat der Erfahrung sein kann" (1910: III, 23).
32
So stellen sich die "Tatsachen" zwar den Augen der Beobachter jeweils anders dar (Helmholtz 1910: III, 16), doch bleiben Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit durch die mental-psychische Natur wie die Form der Relation gewahrt: "Unsere Anschauungen und Vorstellungen sind Wirkungen, welche die angeschauten und vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und unser
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Die Uebereinstimmung zwischen den Gesichtswahrnehmungen und der Aussenwelt beruht also ganz oder wenigstens der Hauptsache nach auf demselben Grunde, auf dem alle unsere Kenntnis der wirklichen Welt beruht, nämlich auf der Erfahrung und der fortdauernden Prüfung ihrer Richtigkeit mittels des Experiments. (1884a: I, 330f.). Damit beschränkt sich der subjektive Faktor auf eine "Beurteilung" des Bildes unter d e m Aspekt "praktischer Zweckmäßigkeit", wie wir sie auch in anderen Lebensbereichen finden: in den Begriffsbildungen des Verstandes etwa, vor allem aber in der Komprimierung der Wirklichkeit zu typischen Anschauungsbildern, die sinnliche Phänomene mit festgelegten Bedeutungselementen verbinden und als solche in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine ebenso große Rolle spielen wie in der Kunst 33 - sind wir es doch geübt, so Helmholtz, vom perzipierten äußeren Erscheinungsbild der Menschen, ihren "Mienen, Gebärden und Sprechweisen", auf innere Zustände zu schließen (1910: 26). 3 4 Insofern wir hier also im Bereich der Wahrnehmung den "gleichen Charakter praktischer Zweckmäßigkeit" wie in den anderen Lebensbereichen finden, vermittelt uns die Analyse des Sehens - wie Helmholtz bezeichnenderweise feststellt - einen "tiefen Blick" in die Richtigkeit der Darwinschen Erkenntnisse. 35 Die Frage nach der "Wahrheit" der Wahrnehmung wird damit suspendiert. 36 Denn der "populären Mei-
Bewußtsein hervorgebracht haben." Jede Wirkung aber hängt ab von der Natur des Wirkenden wie von der Natur dessen, auf das gewirkt wird; beider Relation erfassen die Gesetze (ebd.: 17ff.). 33
Helmholtz sieht die Kunst geradezu auf dieser Form generalisierender Wahrnehmung begründet, den Künstler als idealen Beobachter, der unbewußt ein "Anschauungsbild des typischen Verhaltens der Objekte" erstellt. "Daß der Künstler Wahres erschaut hat, geht daraus hervor, daß es uns wieder mit der Überzeugung der Wahrheit ergreift, wenn er es uns an einem [...] Beispiele vorträgt. Er aber ist uns darin überlegen, daß er es aus allem Zufall und aller Verwirrung des Treibens der Welt herauszulesen wußte." (1971: 267).
34
"Eine Götterstatue würde mir nicht den Eindruck eines bestimmten Charakters, Temperaments, einer bestimmten Stimmung machen können, wenn ich nicht wüsste, daß die Art von Gesichtsbildung und Mienenspiel, welche sie zeigt, in den meisten oder in allen Fällen, wo sie vorkommt, jene Bedeutung hat." (1884a: I, 326).
35
Dieser Bezug zu Darwin ist, trotz Helmholtz' latenter Weltskepsis (vgl. Anm. 33), durchaus positiv gemeint. Bezugspunkt ist die Praxis der Wahrnehmung wie die praktische Vollkommenheit des Auges, dessen zahlreiche optische Fehler doch "den nützlichsten und mannigfaltigsten Gebrauch nicht unmöglich machen. [...] In dieser Beziehung läßt das Studium des Auges einen tiefen Blick in den Charakter der organischen Zweckmäßigkeit überhaupt thun", wie ihn neuerdings Darwin über die "fortschreitende Vervollkommnung der organischen Geschlechter in unsere Wissenschaft geworfen hat". Wir finden überall "den gleichen Charakter praktischer Zweckmäßigkeit" (1884a: I, 260).
36
Die Ergebnisse der Wahrnehmungsanalyse überholen, so Helmholtz, das "Grundproblem" der Vergangenheit: "Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? In welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?" (1971: 250).
218
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nung gegenüber, welche auf Treu und Glauben die volle Wahrheit der Bilder annimmt, die uns unsere Sinne von den Dingen liefern", bleibt ja nur noch ein "Rest von Ähnlichkeit" (1971: 255): Die Anschauung geht in Empfindungen und Vorstellungen auf, die nicht mehr als Zeichenfunktion besitzen; Wirklichkeit stellt sich dar nur im "Zeichensystem unserer Sinneseindrücke" (ebd.: 276). Doch impliziert dieses Ergebnis für Helmholtz weder Skepsis noch Resignation. Denn die Zeichen sind zwar nicht "gleichartig" mit dem Gegenstand; im Gegensatz zum "Abbild" brauchen sie also gar keine Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten aufzuweisen. Doch sind sie, als (gesetzmäßig funktionierende37) "Zeichen von etwas" - Bestehendem oder Geschehendem - auch kein leerer Schein", sondern eben die "Erscheinungsformen", in denen sich die Objekte den Sinnen, und im weiteren Sinn der Gesamtheit der menschlichen Auffassung präsentieren (ebd.: 255f.). Von daher hätte die umfassendere Frage nach den Konstituentien der menschlichen Weltanschauung bei der Analyse des Zeichensystems anzusetzen: bei der Genese der Zeichen aus dem Interesse des Subjekts etwa, oder bei den Gesetzen der Weltbildung. Helmholtz' Problem ist dies allerdings nicht mehr; im Kontext seiner Untersuchungen zur Optik können derart weltanschauliche Fragestellungen nur Begleitfunktion haben. Es bedarf der Kunst, um diese Konstituentien der Wahrnehmung zu erhellen. Kehren wir an diesem Punkt zu Conrad Ferdinand Meyer zurück. Während, wie gesagt, das "Sehen", als wesentlicher Bestandteil sinnlicher Wahrnehmung,38 in Meyers Texten zum primären Modus menschlicher Welterfassung avanciert,39 zeigt es sich andererseits immer weniger geeignet, die Funktion eigentlicher Wahrnehmung zu erfüllen. Denn was die Figuren sehen, stellt sich als ein ununterscheidbares Gemisch aus objektiven und subjektiven Voraussetzungen dar, dessen Realitätsgehalt fraglich bleibt. Ein Beispiel aus der Versuchung des Pescara:
37
Neben dem notwendigen Kausalschluß von der (Sinnes-)Wirkung auf das Vorhandensein einer äußeren Ursache garantiert für Helmholtz vor allem die Gesetzmäßigkeit der Relation zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmenden Objektivität. "Wir haben nicht nur wechselnde Sinneseindrücke [...], sondern wir beobachten unter fortwährender Tätigkeit und gelangen dadurch zur Kenntnis des Bestehens eines gesetzmäßigen Verhältnisses zwischen unseren Innervationen und dem Präsentwerden der verschiedenen Eindrücke." (1971: 271). So wären für jede "Beobachtungsweise" "bestimmt und unzweideutig die entstehenden Sinneseindrücke anzugeben" (ebd.: 265).
38
Vgl. hierzu den Beginn von Der Heilige. Die Versuchung des Pescara (Meyer 1962: XIII, 7ff.), wo die Beschreibung des Helden ganz über sinnliche, zunächst akustische, dann visuelle Phänomene aufgebaut wird.
39
In der Hochzeit des Mönchs bezieht Dante (als Erzähler) nur das äußere Erscheinungsbild für seine Charaktere aus der Realität der ihn umgebenen Personen, denn in deren "Innerem" kann er nicht lesen (Meyer 1961: VII, 12). Allerdings liest er insofern in den Mienen (seiner Figuren wie der Personen), als hier Geschehnisse gespiegelt erscheinen, die für einen imaginären Beobachter in der gegebenen Situation nicht direkt wahrnehmbar wären (vgl. ebd.: 75f.).
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War es die grelle Gewitterbeleuchtung oder die [...] Haltung der Herren [...], oder war es Viktorias erregte Einbildungskraft, sie sah und fühlte in der Grandezza der Reiter und Rosse [...] den Hohn [...] der [...] spanischen Weltherrschaft (1962: XIII, 183).
Die Protagonistin "sieht" diesen Hohn, weil die Angst vor der spanischen Hegemonie ihre Weltsicht prägt; doch heißt dies keineswegs, daß ihre augenblickliche Wahrnehmung kein fundamentum in re hätte. Vielmehr zeigt die Summierung dreier offenbar gleichwertiger Umstände durch den Erzähler, wie wenig sich diese Wahrnehmung einseitig auf objektive oder subjektive Faktoren festlegen läßt. Nur eines ist dabei gewiß: Die Wirklichkeit wird in der Wahrnehmung zu einem "Bild", in dem Ding und Perspektive auf eine kaum noch durchschaubare Weise konvergieren. So fängt sich die Sicht - und zwar der Figuren wie des Lesers - bei Meyer immer wieder in "Bildern", die, um mit Helmholtz zu sprechen, die bloße "Zeichenhaftigkeit" der Wahrnehmung akzentuieren. Prinzip dessen ist auf der Erzählebene schon der für Meyer typische szenische Aufbau der Texte, der die gattungsspezifische Unvermitteltheit des Dramas imitiert, um den Leser mit einer in ihrer bloßen Visualität provokativ bedeutungsoffenen Realität zu konfrontieren. Wie den handelnden Personen präsentiert sich die Realität so den "Augen" des Rezipienten als ein "Schauspiel",40 dessen Sinn sich auf eine semantisch komplexe Weise im Sichtbaren manifestiert und zugleich verbirgt. Ein bekanntes Beispiel für dieses Verfahren bietet der Beginn des Pescara, wo Meyer den Titelhelden über eine dialogisch vermittelte Bildnisbeschreibung exponiert, die dessen Charakter für die "forschenden" Figuren selbst so wenig "lesbar" werden läßt wie für den Leser.41 "Zeichenhaftigkeit" entsteht weiter auf der Handlungsebene dadurch, daß Meyer die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch Formen der Perspektivierung fixiert - durch konkrete Bedingungen wie Räumlichkeit (Verstecke etc.), Beleuchtung, Blickwinkel,42 oder durch spezifische Vermittlungsweisen wie den Bericht von "Augenzeugen" (Der Heilige) oder das Spiel mit der Fiktion (Die Hochzeit des Mönchs) - und hierdurch ihre Medialität deutlich werden läßt. So präsentiert sich die sinnliche Anschauung stets zu-
40
Dieser Inszenierung von fiktiver Realität entspricht die ausgeprägte Bühnen-Metaphorik ("Schauspiel", "Szene" u.a.) in den Texten selbst. Als Beispiel: Von der Menge gegen die Häuser zurückgedrängt, "sah er auf dem engen Platz ein Schauspiel, wie ein ähnliches nur erst einmal menschlichen Augen sich gezeigt hatte" (Meyer 1959: XI, 206).
41
Morone durchforschte (auf dem Gemälde) "mit angestrengtem Blicke das Antlitz des Pescara, und was er aus diesen starken Zügen heraus oder in dieselbe hinein las, gestaltete sich in dem erregten Manne zu heftigen Gebärden und abgebrochenen Lauten." (1962: XIII, 165).
42
Beispiele wären der Blick durch's Schlüsselloch in Die Hochzeit des Mönchs (1961: XII, 75) oder die Beobachtung Gustav Adolfs und seines Gesprächspartners durch den Pagen: "Daß sein Auge und abwechselnd sein Ohr jetzt die Spalte nicht mehr verließ, dafür sorgte der seltsame Inhalt des belauschten Gesprächs." (1959: XI, 197f.).
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gleich als Erscheinungs- bzw. Vorstellungs-"Bild"43 und verweist damit auf die unhintergehbare Spannung zwischen Wahrnehmung und Realität. Charakteristisch für den Realismus Meyers ist nun allerdings, daß dieses Aufgehen der Wirklichkeit im Schauen oder gar in der besonderen Perspektive noch nicht zu einer Aufhebung der Dinglichkeit im Bewußtsein führt, wie dies dann in den Erzähltexten der Jahrhundertwende, bei Hofmannsthal oder Schnitzler, der Fall sein wird. Meyer nimmt das Gesichtsbild zwar in einer weitaus radikaleren Weise als Stifter oder Keller in das Personspektrum des Wahrnehmenden zurück; doch sein Thema ist nicht die Subjektivität der Welt. Um Meyers ganz andere Intention zu verstehen, bedarf es einer Analyse der in den Texten dargestellten Wahrnehmungsakte, für deren Konstitution gerade Helmholtz den Blick schärfen kann. Das Wirklichkeitsverständnis der Meyerschen Figuren bildet sich nämlich recht genau nach den bei Helmholtz genannten Kategorien: durch die "Beurteilung" der sinnlichen Anschauung, durch den "Schluß" vom Sichtbaren (der Individuen wie der Situationen) auf den Sinn. So gehört der explizite Rückschluß vom äußeren Erscheinungsbild auf Zustand oder Absicht der Person, wie jeder Leser weiß, zu den Konstanten der Meyerschen Texte und ist als Methode der Welterfassung Figuren und Erzähler gemein. Diese Übereinstimmung zwischen fiktionsinterner Wahrnehmungsweise und Erzählpraxis zeigt schon, daß Meyer den Bezug zwischen den Sinnesdaten und dem zu erschließenden Sinn nicht in Frage stellt. Das Schließen der "Augenzeugen" korrespondiert, wie er zeigt, durchaus der prinzipiellen Ausdrucksqualität der Menschen und Dinge; topisch ist bei Meyer daher die Spiegelung des Gemüts wie der gemütaffizierenden Geschehnisse in Miene und Gebärde der Personen.44 Nur bleibt diese visuelle Signifikanz und damit die Lesbarkeit der Welt, trotz ihres prinzipiellen fundamentums in re, eben potentiell. Da die Wirklichkeit nun - im Vergleich mit der bei Stifter vorausgesetzten Entsprechung von "Gestalt" und "Wesen" - nur noch eine sehr komplexe Transparenz gewährt, ist auch Stifters Verbindung zwischen "Sehen" und "Begreifen" nicht mehr garantiert. Und zu dieser objektiven Beschränkung kommt natürlich noch ein zweites wichtiges Moment: Im Gegensatz zu der bei Keller noch proklamierbaren "Freiheit und Unbescholtenheit der Augen" zeigen sich die Meyerschen "Schlüsse" mit Notwendigkeit dem facettenreichen Wechselspiel von äußeren und inne-
43
Diese Bildqualität der Realität zeigt sich etwa, wenn Pfannenspiel in Gustav Adolfs Page "aus seinem Verstecke hervor [...] ein idyllisches Bild [erlauscht]" (1959: XI, 85). Auch Erinnerung oder Traum können diese Bildqualität gewinnen: So malt in Jürg Jenatsch Wasers "Seele" aus dem Gedächtnis "auf dem düsteren Hintergrunde des Julier [...] ein farbenlustiges Bild" (1958: X, 13).
44
"Entsetzen, Schreck, Erstaunen, Ärger, Zorn, ersticktes Gelächter, diese ganze Tonleiter von Gefühlen fand ihren Ausdruck in den Gesichtern der versammelten Zuhörer." (1959: XI, 117). Und die Entsprechung: "In den etwas abgespannten Zügen seines alten Zuhörers lesend, daß diesem der Einleitung zu viel [...] werde", schürzt Armbruster im Heiligen seine Erzählung (1962: XIII, 25).
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ren Impulsen unterworfen. Ähnlich wie bei Helmholtz werden sie bei Meyer daher zwar stets in ihrem Wirklichkeitsbezug erkennbar, zugleich aber auch in ihrer Charakter- wie situationsbedingten Relativität. Damit aber liefert die Anschauung nur noch bedingt verläßliche "Zeichen" von den Dingen. So ist festzustellen, daß sich die Wahrnehmung, obgleich noch immer ideales Medium der Welterfassung, bei Meyer nun von zwei Seiten als gebrochen darstellt. Zum einen widersetzt sich der Gegenstandsbereich: Menschen und Dinge hemmen selbst jede sachlich getreue Wahrnehmung, indem sie - durch Wandlungen oder "Vielgestaltigkeit", durch Verschlossenheit, unwillentliche oder willküre Persönlichkeitsveränderungen,45 oder auch durch bewußt eingesetzte "Blendwerke" wie Maske und Larve46 - ein ambivalentes, "rätselhaftes" (1958: X, 45), "undurchdringliches" oder gar "trügerisches Antlitz" zeigen (1962: XIII, 186, 169) und damit die zum Verständnis nötige "Geradlinigkeit" im Erscheinungsbild stören.47 Zum andern versagt der Akt der Wahrnehmung, weil er durch eine Fülle von Faktoren affiziert wird. Zu diesen Modifikationen gehören zunächst weitgehend "natürliche", durch Charakter, Geschlecht, Alter, Erfahrung und Lebenssituation bedingte Voraussetzungen, die sich unter dem Begriff des persönlichen "Standpunkts" subsumieren lassen:48 "Jeder der Anwesenden", heißt es in Gustav Adolfs Page, "zog seinen Schluß" aus der gemeinsam beobachteten Szene "und ergänzte den Satz [des Pagen] nach seiner Weise" (1959: XI, 213).49 Zu diesen Modiiikationen gehören weiter aber auch noch spezifisch subjektive Momente, die die latente Bedingtheit jeder Wahrnehmung bis zur eklatanten Deformation steigern. "Nach der eigenen Ge-
45
Beispiele wären der Mönch Astorre wie natürlich der Heilige, den des Königs Kabalen zum "Doppelsinnigen und Zweideutigen" machen (1962: XIII, 86).
46
"Schnellen Geistes wählte der Kanzler unter den Truggestalten und Blendwerken, über welche seine Einbildungskraft gebot, eine hinreichend wahrscheinliche und wirksame Larve, um sie seinem beweglichen Gebieter entgegenzuhalten" (1962: XIII, 153).
47
Vgl. das in Meyers Erzählungen ausgedehnte Metaphern-Feld um die Begriffe "krumm" und "gerade".
48
Es kommt, wie Meyer seinen naiven Armbruster sagen läßt, "beim Urteilen wie beim Schießen lediglich auf den Standpunkt an." (1962: XIII, 24) Entsprechend kann (in Gustav Adolfs Page) "das wildwüchsige Mädchen", das auf der Basis seiner schlimmen Lebenserfahrungen "jedes von einer faßlichen Leidenschaft verzogene Männerantlitz richtig beurteilte", aus der "veredelten menschlichen Miene" Gustav Adolfs "nicht klug" werden (1959: XI, 191).
49
In gleicher Weise demonstriert Wilhelm Raabe, ein anderer Spätrealist, die Bedingtheit jeder Beurteilung. So heißt es zu Beginn der Erzählung Zum wilden Mann: "Das Dorf besteht übrigens nur aus dieser einen Gasse; [...] und wer sie durchwanderte, steht gewöhnlich am Ausgange mehrere Augenblicke still, sieht sich um [...] und äußert seine Meinung in einer je nach dem Charakter, Alter und Geschlecht verschiedenen Weise." (Raabe: 1985: 13) - Zu Theodor Storms Technik der wechselnden Wahrnehmungssituationen vgl. Segeberg (1993: 286-301, insbes. 292).
222.
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mütsstimmung urteilend" 50 oder gar mit erregt "irren Sinnen", werden die Figuren über die "Wahrheit" von Blick und Urteil noch unsicherer, ja sie drohen jeden Halt in der Realität zu verlieren. 5 1 So schien Herzog Rohan "das Bild" von Jenatsch durch den "Haß Grimanis" "vergrößert und entstellt", während sein eigener "Edelmut" doch ein nicht weniger einseitiges Bild der Person zeichnet (1958: X , 135). 5 2 Im Vergleich mit solch emotional oder ideologisch bedingter "Verzerrung"53 kann der "Verstand" zwar die Gewähr für ein gewisses Maß an Sachlichkeit bieten; doch verbürgt auch er keineswegs prinzipiell schon Objektivität. D e n n zum einen zeigt sich das Licht des Verstandes durch die subjektiven Bedingungen notwendig begrenzt. 54 Zum andern tendiert die Ratio für Meyer stets zu einem nicht weniger problematischen "Scharfsinn": Indem der Rationalist "mit kalter Berechnung" die "Tatsachen [ . . . ] unerbittlich [verkettet]" (1958: X , 4 5 , 159), 5 5 "denkt" er sich Welt und Mensch in einer Weise "zurecht" (1962: XIII, 180), die ihrer natürlichen Dynamik und Flexibilität, ja ihrer Freiheit nicht gerecht wird und damit das Bild einer um ihrer idealen Momente beraubten "Wirklichkeit" erzeugt, w i e es für den Spätrealisten Meyer durchaus der modernen Zivilisation entspricht. 56
50
So glaubte die Herzogin in Jiirg Jenatsch, "nach der eigenen Gemütsstimmung urteilend, Lukrezia werde [...]. Aber es geschah nicht also." (1958: X, 117).
51
'"War das, konnte das die Wahrheit sein?' [...] 'Oder war es eine satanische Larve? [...]' So zweifelte [der Page] mit irren Sinnen und hämmernden Schläfen." (1959: XI, 209).
52
Deutlich wird diese Unsicherheit schon in der Beurteilung der Situation. So "sah" Herzog Rohan in Jenatschs "Ausdruck sprachlosen Schmerzes [...] die Teilnahme eines Getreuen [...], er ahnte nicht, welche Wandlung sich im Geiste des Bündners zu dieser Stunde vollzog" (1958: X, 174), weil solche Charakterbrüche seinem Menschenbild nicht entsprechen. Unter diesen Voraussetzungen müssen die Beurteilungen von Jenatsch' Person divergieren: '"Dieser Mensch erscheint mir unbändig und ehrlich wie eine Naturkraft', fügte [der Herzog] hinzu. 'Dieser Mensch berechnet jeden seiner Zornausbrüche und benützt jede seiner Blutwallungen!' erwiderte der Venezianer." (ebd.: 131) Beide Bilder haben einfiindamentum in re\ beide sind einseitig.
53
Es bedarf, wie Meyer im Heiligen einen Zeichner erläutern läßt, nur "einer kleinen Verzerrung" in der Darstellung, um ein Menschenantlitz in seinem Wesen völlig zu verändern (1962: XIII, 90).
54
Aus Angela Borgia (1966: XIV, 18): "Die Verhältnisse liegen vor Euch im Licht Eures scharfen Verstandes, aber dieser helle Tag reicht nur bis an den Schattenkreis, wo Eure Liebe zu Vater und Bruder beginnt." In Jürg Jenatsch haben die Ereignisse einen "dem Verstand der Frauen von Cazis undurchdringlichen Grund" (1958: X, 142).
55
Da aber jede Form von "Berechnung" "die menschliche Freiheit [vernichtet]", fallen Rationalismus und Fatalismus bei Meyer meist in einer Person zusammen (1958: X, 54).
56
Von der "eintönigen Starrheit und strengen Wirklichkeit" ist daher zeitkritisch die Rede. Und: "Was ist alles Wissen und Können der Welt ohne die Grundlage eines religiösen Gemütes!" (1958: X, 251).
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223
Zwei Aspekte prägen somit Meyers Wahrnehmungskritik. Prinzipiell gibt es für ihn durchaus noch einen objektiven Fluchtpunkt der Vorstellungsbilder - sei es in der "klaren Offenbarung" einer in ihrer Sinnfälligkeit "schönen" Welt, die in Meyers Briefen aufscheint;57 sei es im literarisch anvisierten Ethos einer "Gerechtigkeit", die den vitalen Subjektivismus des menschlichen Weltverhaltens eindämmt und damit eine sachgerechtere Sicht der Dinge möglich macht.58 Daher wird die visuelle Ambivalenz der Charaktere stets durch ein festes Motivgerüst aufgefangen;59 daher werden Perspektivik wie Divergenz der Urteile in seinen Texten stets durch Formen einer intentional objektiven Berichterstattung neutralisiert, die Borniertheit wie Relativität kenntlich macht.60 Doch im Gegensatz zum Hochrealismus scheint dieser Fluchtpunkt bei Meyer nun der Realität bereits tendenziell entrückt: Die "höchste Gerechtigkeit einer vollkommenen Menschenkenntnis" (1962: XIII, 199), wie sie etwa dem "alles untäuschbar durchblickenden Pescara" ein sicheres Urteil über Mitmenschen, politische Interessen und den Geschichtsverlauf ermöglicht (ebd.: 186), ist nur "außerhalb", am Rande oder gar jenseits des ewig trügerischen Lebens, erreichbar.61 Tod und Ewigkeit, Traum oder Kunst können von daher als transzendente Wahrnehmungsmodi fungieren. Im Leben aber - das auch für Meyer ganz das darwinistische Theorem von der Zweckorientiertheit aller Organismen bestätigt - herrscht unabdingbar ein "den Menschen und Dingen inwohnender Widerstand gegen gerechte, einen selbstsüchtigen Interessenkreis durchbrechende Lösungen" (1958: X, 158). Dieser Lebenspraxis bleiben, bei Meyer wie bei Helmholtz, auch und gerade die Akte der Wahrnehmung notwendig verknüpft. Während allerdings der Naturwissenschaftler diese "Auflösung des Begriffs der Anschauung in die elementaren Vorgänge des Denkens" als wesentlichen "Fortschritt" auf dem Weg zur Erkenntnis einer gesetz-
57
"Hier ist es so schön und still", schreibt Meyer aus dem Gebirge, "daß man die Räthsel des Daseins vergißt und sich an die klare Offenbarung der Schönheit hält", in der die "Linien, [...] die das Ganze leiten und zusammenhalten", erahnbar werden (Meyer 1908:1, 65).
58
"Ist es nicht, als ob ein tiefes und wahres Gefühl in seinem natürlichen und bescheidenen Ausdrucke aus dieser Welt des Zwanges und der Maske uns in eine zugleich größere und einfachere versetze [...]?" (1959: XI, 96).
59
So besitzen die divergierenden Urteile über Jenatsch, wie dann über den Heiligen, ein fiindamentum in re in dessen "vielgestaltigem Wesen" und daher "schwer zu beurteilendem Charakter" (1958: X, 251), der unterschiedliche Beurteilungen provoziert. "Was ist Wahrheit? Beides", heißt es im Pescara zur Unstimmigkeit zweier, notwendig "kurzsichtiger" Urteile (1962: XIII, 272).
60
Implikationen objektiver Wahrnehmung sind natürlich schon periphere Bemerkungen des Erzählers wie: Der Zürcher "fragte sich, ob diese Herzlichkeit echt sei"; doch "war [es] ihm nicht entgangen daß [...]" (1958: X, 101).
61
"Ich stand außerhalb der Dinge." (1962: XIII, 242). Ebenso lebensunfähig ist der junge Held in Leiden eines Knaben.
224
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mäßig stabilisierten Lebenswelt wertet (Helmholtz 1971: 279), drängt sich dem weltanschaulich engagierten Dichter hier die Dominanz jener "menschlichen Kategorien" auf, die allenthalben - als praktische Interessen wie als politische oder moralische Ideologismen - die Verworrenheit einer aufs "Eigne" und "Irdische" beschränkten Wirklichkeit bedingen.62 Hintergehbar ist diese Relativierung allerdings nicht mehr. Auch für den Dichter bleibt somit nur die literarische Kritik an einer Praxis der Wahrnehmung, die, wie zu zeigen war, durchaus den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die "Tatsachen" des Sehens entspricht.
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62
Wir alle sind, sagt Morone im Pescara, "Bewohner der Wirklichkeit, ein Kind der Helle, das [...] über das Ende hinaus nichts sieht als Larven und Schemen und [...] die riesigen Spiegelungen wieder dieses unsers eigenen und irdischen Daseins. Unter denen aber, welche mit dem Volke Gut und Böse glauben [...], wird [...] unversöhnlich gestritten über die beste Rüstung an jenem Tage der blasenden Posaune." (1962: XIII, 211).
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225
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