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German Pages 379 [380] Year 2015
Liturgie und Literatur
Lingua Historica Germanica
Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Band 10
Liturgie und Literatur Historische Fallstudien Herausgegeben von Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger und Stephanie Seidl
ISBN 978-3-11-037759-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040182-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040206-3 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung:CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die in diesem Band versammelten Beiträge nehmen verschiedene Formen der Relation von Liturgie und Literatur in den Blick. Als historische Fallstudien stammen sie vor allem aus dem Bereich der mediävistisch germanistischen und romanistischen Literaturwissenschaft, greifen aber exemplarisch auch in das 18. und 19. Jahrhundert aus. Sie thematisieren einen – wie Hugo Kuhn sagen würde – ‚Faszinationsbereich’, der Hans Unterreitmeier in seiner Tätigkeit als akademischer Lehrer und Forscher seit vielen Jahren besonders wichtig ist. Das vorliegende Buch ist ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger, Stephanie Seidl
Inhaltsverzeichnis Cornelia Herberichs, Norbert Kössinger, Stephanie Seidl Liturgie und Literatur. Eine Einleitung | 1 Ernst Hellgardt Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 23 Stephanie Seidl In-Eins-Setzungen. Zur Ästhetik und Funktionalität von Bamberger Glaube und Beichte | 47 Christine Glaßner, Karl Heinz Keller Heinrichs Litanei. Neue Befunde zu Überlieferung und Funktion | 63 Norbert Kössinger Legenden und Liturgie. Beobachtungen zu Alberts Ulrichslegende | 91 Gerhard Wild Gegengesänge. Bedingungen und Möglichkeiten einer Absorption liturgischer Rede auf der iberischen Halbinsel | 111 Helga Unger Interaktion von Gott und Mensch im Legatus divinae pietatis (Buch II) Gertruds der Großen von Helfta. Liturgie – Mystische Erfahrung – Seelsorge | 133 Claudia Händl Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen in Italien und Deutschland und ihre Liedproduktion: Komparatistische Überlegungen zur Kommunikationsstruktur der sogenannten Geißlerliturgie und zu verwandten Liedern | 167 Jan-Dirk Müller Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie | 213
VIII | Inhaltsverzeichnis Cornelia Herberichs Plädoyer für den Mercator. Zur hermeneutischen Funktion der Salbenkauf-Szene in bildlichen Darstellungen des Mittelalters, im lateinischen Osterspiel sowie im Osterspiel von Muri | 235 Andreas Erhard Laien und Liturgie. Zur liturgischen Seite des volkssprachigen Gebetbuches Cgm 4701 aus der Bibliothek der Laienbrüder des Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram im 15. Jahrhundert | 287 Ulrich Johannes Beil Pervertierte Liturgie. Medialität und Inszenierung in Schillers Der Geisterseher | 323 Albrecht Juergens Metamorphosen des Liturgischen. Friedrich Schillers ‚ästhetischer Katholizismus‘ (am Beispiel der Maria Stuart) | 355 Wilhelm Vossenkuhl Gott im Kultus. Anmerkungen zu Hegels Religionsphilosophie | 365
Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl
Liturgie und Literatur Eine Einleitung
‚Liturgie und Literatur‘ – der Titel unseres Sammelbandes vereint Begriffe, die in verschiedener Hinsicht unvereinbar erscheinen: Die religiöse Verbindlichkeit des Kultes auf der einen und die Freiräume literarischer Sprachkunst auf der anderen Seite lassen es a prima vista angemessener erscheinen, von einem zeitlichen Nacheinander als von einem symbiotischen Miteinander zu sprechen. In diesem Sinne haben Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung historische Entwicklungen vom ‚Kult zur Kunst‘ aspektreich untersucht und herausgearbeitet. Durchaus zu Recht wurden dabei die Dynamiken literarischer wie ikonographischer Traditionen im Spätmittelalter als Prozesse der Herauslösung und Autonomisierung von Kunst als eigenes Teilsystem und als Etablierung eines spezifischen Diskurses beschrieben.1 Zugleich aber wurde auch immer wieder von liturgie- wie von literaturwissenschaftlicher Seite ins Gedächtnis gerufen, dass ‚Liturgie und Dichtung‘ in vielfältiger Weise, in ihrem konstitutiven Bezug auf Sprache und Hermeneutik, Gemeinsamkeiten teilen und zahlreiche Bezüge untereinander aufweisen.2 Sowohl aus anthropologischer wie auch aus theologischer und ästhetischer Perspektive sind gemeinsame Ursprünge und performative Aspekte eingehend aufgearbeitet worden. 3 Die Herausbildung dieser unterschiedlichen Ansätze, nämlich Liturgie und Literatur entweder als Teilbereiche eines großen systematischen Zusammenhangs oder aber sie als kategorial voneinander zu trennende kulturelle Praktiken aufzufassen, lassen sich nicht zuletzt auf heterogene Begriffstraditionen zurückführen. Um in die Lektüre der in diesem Sammelband vereinten Beiträge einzuleiten, erscheint es deshalb angebracht zu betonen, dass das Begriffspaar ‚Liturgie und Literatur‘ keineswegs klar definierte Gegenstandsbereiche benennt; beide Termini sind bekanntermaßen sehr vielschichtig, insbesondere, wenn man sie in historischer Perspektive in den Blick nimmt. Auch das so schlicht wirkende ‚und‘, das im Titel beide Begriffe miteinander verbindet, versteht sich durchaus nicht von selbst. Zunächst zum Begriff Liturgie: Um einzugrenzen, was Liturgie jeweils bezeichnen kann, gilt es, verschiedene Reichweiten dieses Konzeptes voneinander zu unterscheiden: Gemeint sein kann zunächst „vor allem die Messe, die im engsten und besonderen Sinne als L[iturgie] bezeichnet wird.“ 4 In weiteren – historisch jeweils unterschiedlichen – Gebrauchszusammenhängen umfasst der Begriff aber auch || 1 Vgl. dazu Quast 2005, Belting 2004, Kiening 1992. 2 Vgl. die pointierte Zusammenfassung von Gotzen & Rupp 1965, S. 213‒223. 3 Vgl. das zweibändige Kompendium Liturgie und Dichtung 1983 sowie immer noch Stroppel 1927. 4 Gotzen & Rupp 1965, S. 212.
2 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl zahlreiche andere Formen des Gottesdienstes, der gemeinschaftlichen Feier und des Gebets.5 In diesem Sinne benennt der sich erst im neuzeitlichen Diskurs endgültig festigende Terminus Liturgie die „Gesamtheit der gottesdienstl[ichen] Handlungen der chr[istlichen] Kirche“.6 Der heutige wissenschaftliche Begriffsgebrauch suggeriert damit eine Einheitlichkeit, die es in früheren Epochen wie etwa dem Mittelalter weder auf der Ebene der Bezeichnung7 noch auf der Ebene der historischen Praxis gab: Denn diese war geprägt durch eine Vielfalt unterschiedlicher liturgischer Texte, Gesänge und Riten, die in hohem Maße durch eine regionale, zeitliche und institutionelle Flexibilität gekennzeichnet sind.8 Die mittelalterliche Kultur kennt damit eigentlich zahlreiche Liturgien im Plural, bis sich schließlich gegen Ende des Mittelalters allererst eine „recht einheitl[iche] L[iturgie]“ etabliert.9 Aber auch dann bleiben Varianzen durchaus möglich.10 Neben der offiziellen institutionalisierten Liturgie steht seit jeher auch ihre Ausstrahlung in den privaten Bereich. Hierbei gilt es, die historische Variabilität in der Ausdifferenzierung von privater und gemeinschaftlicher Partizipation zu vermessen. Gerade die Öffnungen ins Private haben zu einer Vervielfältigung liturgischer Praktiken und Medien geführt, die historische Konjunkturen kennt: Breviere, Gebetbücher oder Andachtsbilder bieten Gelegenheit für den privaten Nachvollzug der Liturgie außerhalb des Kirchenraumes, im Rahmen von Wallfahrten, Prozessionen oder dem häuslichen Beten der ‚Tagzeiten‘ etwa.11 Der Prägekraft der Liturgie, ihrer immensen kulturellen Ausstrahlung in verschiedene gesellschaftliche Bereiche, kann man deshalb nur mit einer interdisziplinär wie kulturhistorisch ausgerichteten Herangehensweise gerecht werden. Das Liturgische beeinflusst nämlich Strukturen, Praktiken und Semantiken auch in nichtreligiösen Kommunikationszusammenhängen und in unterschiedlichen sozialen Kontexten:12 Rituale des Rechts und der Macht (Lehnsübergabe, Bußakt, deditio) lehnen sich an die Praktiken der Liturgie an.13 Spielregeln für die Repräsentation von Herrschaft bedienen sich liturgischer Zeichensysteme; Zeremonialhandlungen der Feudalkultur wie beispielsweise höfische Feste, Schwertleiten,14 Begrüßungsze-
|| 5 Siehe dazu genauer Angenendt & Müller 2000, S. 489. 6 Häußling 1991, Sp. 2026. 7 Zeitgenössische lateinische Begriffe sind officium, opus Dei, ministerium oder servitium (vgl. dazu Gotzen & Rupp 1965, S. 212 und Angenendt & Müller 2000, S. 490). 8 Kraß 2000, S. 491f. Vgl. dazu auch allgemein Adam & Haunerland 2014, Kap. 2.3.: Die abendländische Liturgie im Mittelalter. 9 Häußling 1991, Sp. 2028. 10 Heinz 1997, Sp. 982. 11 Kraß 2000, S. 491f. 12 Angenendt & Müller 2000, S. 490. 13 Dörrich 2002, S. 34‒38, Althoff 1997, S. 121 (zur deditio). 14 Bumke 1986, Bd. 1, S. 330‒334.
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remonien (adventus) und Krönungsrituale15 werden symbolisch überhöht durch offene und verdeckte Bezüge zur Liturgie. Die Literatur als Repräsentation zweiter Ordnung kann derartige Übertragungen wiederum abbilden und zugleich reflektieren.16 So wenig klar umgrenzt ein historisch angemessener Begriff von Liturgie ist, so wenig handelt es sich allerdings auch in der Rede von Literatur um einen festumrissenen Gegenstandsbereich, der sich ohne weiteres transhistorisch definieren ließe: Auch hier haben wir es mit einem in seinen systematischen und historischen Facetten schillernden Terminus zu tun.17 Man hat für die Vormoderne mit Recht geradezu davon gesprochen, dass wir hier auf „Texte vor dem Zeitalter der Literatur“18 treffen. Dafür lassen sich im Vergleich von Vormoderne und Moderne, wenngleich dieser hier plakativ ausfallen muss, gute Gründe anführen: Moderne Literatur zeichnet sich, so das heutige wissenschaftliche Verständnis, im Unterschied zu ihren vorgängigen Ausprägungen durch ein Set an Merkmalen aus, zu dem spätestens seit der Goethezeit die Stichworte ‚Originalität‘ und ‚Autonomieästhetik‘ zählen. Dies sind bekanntermaßen Kategorien, die sich nicht ohne weiteres auch auf vormoderne Literatur übertragen lassen, weder auf die europäische Tradition der lateinischen Literatur, noch auf ihre volkssprachigen Ausprägungen.19 Im Mittelalter differenziert sich in diesem Sinne zum einen keine völlig eigenständige Systemstelle ‚Literatur‘ aus,20 zum anderen besteht noch kein eigenes Instrumentar zu ihrer Analyse und Interpretation.21 Es ist nicht zuletzt aus diesem Grund äußerst problematisch, über mittelalterliche Literatur allein im Sinne von ‚Dichtung‘ oder ‚Poesie‘ zu sprechen. Die Forschung zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters trägt diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass sie sich von vornherein nicht auf das beschränkt, was man als ‚Höhenkammliteratur‘ oder als ‚belles lettres‘ bezeichnen kann. In den vergangenen Jahrzehnten manifestiert sich dieses Verständnis darin, dass man grundsätzlich konzeptionell mit einem „erweiterten Literaturbegriff“22 arbeitet. Dieser umfasst nicht allein jene Zeugnisse, welche zur poetischen Textpro-
|| 15 Kölzer 1980, Sp. 170f., Brühl & Lück 2008, Sp. 1549f. 16 In einer Reihe von Studien hat Horst Wenzel solche Übertragungen ins Medium der Literatur analysiert; stellvertretend und für Literaturhinweise siehe Wenzel 1998. 17 Vgl. im Überblick Weimar 2000. 18 So der Untertitel von Kiening 2003. 19 Vgl. dazu die prägnanten Überlegungen zur Situierung mittelalterlicher Literatur zwischen Gebrauchszusammenhang und ästhetischer Dimension in Müller 2007, v.a. S. 281‒291. Zu Konzepten von Medialität, Autonomie und Fiktionalität s. die Studie von Glauch 2009. 20 Strohschneider 2001, S. 9‒13. 21 Vgl. Haug 1992 und Kiening 1992. 22 Ruh 1985, S. 266, s. dazu auch Kuhn 1980.
4 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl duktion gehören, sondern die mittelalterliche Schriftproduktion als Ganze: litteratura meint dann also ganz wörtlich alles ‚in Buchstaben Gebrachte‘.23 Wie wertvoll diese (Neu-)konzeption ist, zeigt sich nun gerade, wenn man das mittelalterliche Verhältnis von Liturgie und Literatur vermessen will, wie es der Titel des vorliegenden Bandes vorschlägt.24 Das vermeintlich unscheinbare und bezeichnet dabei sowohl ein Komplementär- als auch ein Spannungsverhältnis, verweist auf Berührungspunkte ebenso wie auf Gegensätze, impliziert Abgrenzungsstrategien und zugleich gemeinsame ästhetische Potentiale. Für eine produktive Beschreibung dieser komplexen Relation gilt es zunächst, verschiedene Formen ebenso wie verschiedene Funktionen im Zusammenspiel von Liturgie und Literatur zu differenzieren. In funktionaler Hinsicht lassen sich heuristisch zwei Perspektiven einander gegenüberstellen: Es besteht „eine[] grundsätzliche[] Differenz zwischen einer Dichtung, die sich der Liturgie bedient, und einer Dichtung, die der Liturgie dient, die diese [sc. die Liturgie] expliziert und propagiert.“25 Diese Differenzierung ermöglicht es allererst, die vielschichtigen Wechselverhältnisse beschreibbar zu machen und zu zeigen, inwieweit das breite Spektrum an Funktionalisierungs-, Metaphorisierungs- und Kommentierungsmöglichkeiten stets beide Seiten bereichert und zudem das jeweils gängige Verständnis von Liturgie und Literatur sogar verändern kann. Im Folgenden kann nur ein erster Einblick in die mannigfaltigen Formen der Verschränkung beider Perspektiven gegeben werden, der sich außerdem auf die Bezüge zwischen liturgischen und volkssprachig-deutschen literarischen Traditionen beschränken muss.26 Als Literatur im Dienste der Liturgievermittlung sind insbesondere jene frühen deutschsprachigen Schriftzeugnisse zu werten, welche die Bedeutung geistlicher Texte vermitteln und das Verständnis religiöser Praktiken den Lateinunkundigen gegenüber sichern sollten. Dazu zählen beispielsweise volkssprachige Priestereide, || 23 Repräsentativ für diese ‚neue‘ Auffassung von mittelalterlicher Literatur (und ihrer Erforschung) ist etwa die Konzeption der zweiten Auflage des Verfasserlexikons, vgl. dazu Müller 2007, S. 282. 24 Dies betont schon Unterreitmeier 1990. S. 72f.: „Die mediaevistische Forschung tut gut daran, die Praemissen modernen Literaturverständnisses mit zu bedenken, wenn sie die geschichtlichen Umrisse einer Dichtung begreifen will, die ohne die Distanz einer autonomen Subjektivität Repräsentation und Propaganda im Dienst der Liturgie sein will.“ 25 Unterreitmeier 1990, S. 74. 26 Das Wechselverhältnis zwischen Liturgie und lateinischer Dichtung ist ungleich komplexer, besteht hierbei doch gerade kein Gefälle zwischen der heiligen Sprache des Gottesdienstes und derjenigen der literarischen Textproduktion, was die reziproke Übernahme von Gestaltungsmitteln, Strukturen oder ganzer Gattungen deutlich vereinfacht. Vgl. dazu als einen ersten Überblick Gotzen & Rupp 1965, S. 213‒220. – Im Folgenden wird nur exemplarisch und punktuell auf weiterführende Literatur verwiesen. Um die Fußnoten zu entlasten, wird darauf verzichtet, für alle erwähnten literarischen Gattungen detailliert die relevante Forschungsliteratur anzugeben, welche diese Texte in liturgischer Perspektive aufgearbeitet hat; verwiesen sei auf die Auswahlbibliographie dieser Einleitung (S. 17–21) und generell auf die einschlägigen Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft und im Lexikon für Theologie und Kirche (3. Aufl.).
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Taufgelöbnisse, Beichttexte, Credo- oder Vaterunser-Übersetzungen sowie auch Psalterbearbeitungen und -kommentierungen. Durch diese Texte wird nicht nur Liturgie institutionalisiert und in ihrer Geltung stabilisiert; aus diesen Formen der Liturgievermittlung resultieren wiederum entscheidende Entwicklungsschübe für die Volkssprache, gerade bezüglich der Differenzierung und Erweiterung ihres Wortschatzes: Ihre litteratura im engsten Sinne, nämlich ihr Vokabular, wird ganz wesentlich durch die Berührung mit dem Kult erweitert.27 Doch nicht nur der sprachliche Ausbau der lingua theodisca, sondern auch die Entstehung literarischer Formen in ihr, wie beispielsweise der deutschsprachigen Hymnendichtung oder der Predigtliteratur, verdankt sich in wichtigen Aspekten der Liturgie. An der Entwicklung einzelner Gattungen, wie der Geschichte der Legenden oder jener des Geistlichen Spiels, lassen sich Prozesse der Verselbständigung sinnfällig beobachten. Entstanden in enger Anknüpfung an liturgische Funktionen, werden in der Volkssprache Freiräume der Ausgestaltung ausgeschöpft: In Legenden und Legendenromanen werden höfische und religiöse Erzählmuster verknüpft28 und teilweise bis hin zur romanhaften Erzählung von sogenannten ‚Papierheiligen‘ ausgebaut (wie in der Vita des ‚Sünderheiligen‘ Gregorius29); das volkssprachige Geistliche Spiel löst im Spätmittelalter das lateinische ab30 und bezüglich der Ausgestaltung von Szenen weltlichen Inhalts verringert sich auch der Abstand zur Gattung der Fasnachtsspiele.31 Angesichts dieser Prozesse der Ausdifferenzierung darf jedoch nicht aus dem Blickfeld geraten, dass die ursprünglichen pragmatischen Funktionen dieser Gattungen auch dann durchaus nicht vollends gelöscht sind. Als religiöse Literatur stehen sie trotz ihrer partiellen Autonomisierung weiterhin in engem Bezug zur Liturgie und reflektieren diese Funktionalität teilweise auch textintern: Im Legendenroman Gregorius etwa erscheint das an liturgische Rituale gemahnende Klagen des Protagonisten als individualisierte Memorialpraxis.32 In den Geistlichen Spielen bleiben liturgische Gesänge auch in Spielen mit zahlreichen ‚weltlichen‘ Szenen konstitutiv.33 Um die literaturgeschichtlichen Prozesse und Gattungstransformationen angemessen zu beschreiben, sind deshalb neben der Beobachtung von Autonomisierungstendenzen zugleich die Kontinuitäten zu betonen: die Formen der Rückbindung, Veränderung und Reflexion in Bezug auf das Liturgische.
|| 27 Siehe grundlegend zu diesem Phänomen Eggers 1986, S. 111147. 28 Seidl 2012. 29 Heiligkeitskonzepte werden reflektiert jenseits der pragmatischen Funktion der Legende, grundlegend dazu Strohschneider 2000. 30 Vollmann 2004. 31 Moser 2009; Linke 2001. 32 Zur Gattungsproblematik siehe Feistner 1995, S. 145. 33 Vgl. zum Innsbrucker Osterspiel den Beitrag von Jan-Dirk Müller in diesem Band.
6 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl So kann zu bestimmten Zeiten, unter spezifischen frömmigkeitsgeschichtlichen Bedingungen Literatur beispielsweise auch komplementär zur Liturgie fungieren, indem sie etwa Freiräume zur Privatlektüre schafft. Auf besonders faszinierende Weise vermag in der Mystik das Medium der Literatur gemeinschaftliche Rituale des Gottesdienstes funktional zu ergänzen, indem in enger Verbindung zu den Vermittlungsleistungen der institutionalisierten Liturgie intensivierte und imaginierte Formen der Heilsvermittlung hinzutreten. In Paradoxierungen der ‚vermittelten Unvermitteltheit‘ kann Literatur selbst derart zu einem Heilsmedium werden, dass sie die Abhängigkeit und Anknüpfung an liturgische Praktiken dabei dennoch nicht verleugnet.34 Die sprachschöpferische Leistung der Mystik, die sich vielfach aus der Reflexion dieser liturgiekomplementären Funktionalität ergeben hat, gab darüber hinaus der Sprachentwicklung des Deutschen im Hoch- und Spätmittelalter weitere wichtige Impulse. Die produktive Beziehung zwischen Liturgie und Literatur ist jedoch nicht auf religiöse Gattungen beschränkt. In motivischen und strukturellen Einflüssen spiegelt sich auch in der ‚weltlichen‘ Literatur ein dynamisches Verhältnis, welches sich mit der Begriffsdichotomie von Sakralisierung und Säkularisierung nicht zureichend typologisieren ließe.35 Feste Grenzen sind gerade nicht zu definieren, vielmehr kann die Aufmerksamkeit lediglich auf reziproke Bezüge zwischen liturgischen und im engeren Sinne literarischen Mustern, Strukturen und Semantiken gerichtet werden, die in den unterschiedlichen Erzähltraditionen und Gattungen je anders eingesetzt bzw. verhandelt werden. Interferenzen von Liturgie und Literatur finden sich dabei auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die im Folgenden exemplarisch umrissen seien: Festtage des liturgischen Kalenders können als zeitliche Markierungen die Handlung epischer Texte strukturieren oder, dies trifft besonders in der Lyrik zu, als Bildspender fungieren.36 Auch räumliche Strukturen, die mit dem Liturgischen in
|| 34 Vgl. Theisen 1990 und 2000; Siehe hierzu auch den Beitrag von Helga Unger in diesem Band. 35 Vgl. zu dieser Problematik grundlegend Köbele & Quast 2014. 36 In den Artusromanen wird dem erzählten Geschehen eine besondere Bedeutung zugeschrieben, indem es in den Ablauf des Kirchenjahres integriert (das Maienfest am Artushof findet z.B. an Pfingsten statt, die Königskrönung Erecs im Chrétienschen Erec-Roman an Weihnachten) oder mit liturgischen Festtagen verglichen wird (die Versöhnung mit Laudine ist für Iwein der Ostertag; in Blanscheflurs Augen liegt Riwalins fröiderîcher ôstertac [Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 925], auch im Minnesang existiert der Topos). In der laikalen Liedkunst kann die Exzeptionalität der Minnedame anhand der Herausgehobenheit eines Kirchenfestes imaginiert werden (vgl. Reinmar, MF 170,1). In Wolframs Parzival wird der Weg des Protagonisten besonders eng an die liturgische ‚Heilszeit‘ angebunden, wie Unterreitmeier 1990, S. 75f. ausführt. Auch die zentrale Szene auf der Gralsburg wird mit ihren Anklängen an die Liturgie (womöglich ist hier die byzantinische Messliturgie formgebend, vgl. Burdach 1938, S. 129; generell zur Gralsinszenierung bei Wolfram Mertens 2003, S. 51‒82) besonders ausgezeichnet. Zu Hartmanns Iwein als „Versuch der Wiederholung der Heilsgeschichte“ vgl. Unterreitmeier 1995, hier S. 82.
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Verbindung stehen, erweisen sich als bedeutungstragend für die mittelalterliche Adelsliteratur, indem sie z.B. die Handlung sequentialisieren und/oder in besonderem Maße relevante Ereignisse als Schwellensituationen und Grenzüberschreitungen zwischen profanem und sakralem Raum erzählbar machen.37 Elemente der Liturgie können jedoch auch dergestalt in literarische Traditionen einfließen, dass hochkomplexe Bezüge entstehen, welche auf mehreren Ebenen für die Sinnstiftung der Texte wie für ihre Geltungssicherung zentral sind. So können Elemente der liturgischen Eucharistiefeier nicht nur die Narration strukturieren und das erzählte Geschehen legitimieren,38 sondern auch, etwa durch die Inszenierung von Funktionsäquivalenzen zwischen liturgischem Gemeinschaftshandeln und identitätsstiftender Textlektüre, den Status von Literatur selbst verhandeln.39 Selbst die zahlreichen Liturgie-Parodien des Mittelalters, wie etwa die lateinischen ‚Spieler-‘ und ‚Säufermessen‘, zeugen nicht nur von einer profunden Kenntnis der parodierten Prätexte, sondern auch von der möglichen Personalunion von Liturgikern und Literaten.40 Die kirchliche Stellung von deren Verfassern und die theologische Rückbindung der parodierenden Praxis belegen,41 dass die satirischen und kritischen Tendenzen dieser Texte gerade nicht dazu veranlassen sollten, ein ‚gegen‘ zwischen unsere titelgebenden Begriffe zu setzen, sondern an dieser Stelle das spannungsvolle ‚und‘ zu belassen. Der Befund dieses letzten von uns angeführten Beispiels mag besonders deutlich vor Augen führen, dass das Verhältnis von Liturgie und Literatur nicht per se dichotomisch gefasst werden kann. Für die theologische wie auch für die philologische Forschung bedeutet dies, dass nur in konkreten Fallbeispielen, in der genauen Lektüre der Texte und in umsichtigen Analysen der Kontexte dieses weite Feld ausgemessen werden kann.
|| 37 Nur einige wenige Beispiele seien hier erwähnt: Eine der bekanntesten und folgenreichsten Streithandlungen in der mittelalterlichen Epik, der Königinnenstreit des Nibelungenliedes, trägt sich nicht zufällig auf der Schwelle des Münsters zu (vgl. dazu Müller 1998, S. 321: „Als Friedensbezirk kontrastiert das Gotteshaus mit dem Streit, der sich anbahnt“). Im Herzog Ernst findet die schlussendliche Reintegration des Protagonisten in seinen Herrschaftsverbund im Bamberger Münster im Rahmen der Weihnachtsmesse statt und ist somit „in einen religiösen Rahmen eingebettet, der dem politischen Rahmen eine sakrale Legitimität verleiht“ (Dörrich 2002, S. 135). 38 Dies ist im Rolandslied der Fall: „Viermal erzählt der Text davon, daß die Gottesstreiter die lebensspendenden Sakramente empfangen. Viermal leitet das liturgische Handeln die gewaltsamen Kämpfe ein“ (Oswald 2004, S. 287). Zugleich vergegenwärtigt der Text durch seine Einbezüge der Abendmahlshandlungen den Opfertod Christi und legitimiert dadurch die Heidenkämpfe (vgl. Oswald 2004, S. 289). 39 Auch wenn die Analogien des Tristanprologs Gottfrieds zur Eucharistie umstritten bleiben (vgl. dazu Wachinger 2002, bes. S. 246f.), so wird doch „mit der Metapher von der geistlichen Speise […] auf jeden Fall eine religiöse Denkform eingespielt, die vivifizierende Wirkung des Gotteswortes auf das Wort der Literatur übertragen.“ (Huber 2013, S. 46). 40 Vgl. zu den Liturgieparodien in jüngerer Zeit Romano 2009 und Cardelle de Hartmann 2014. 41 Bayless 1996, S. 12f.
8 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl Dies sucht der vorliegende Band zu leisten, indem er exemplarisch Felder der Verflechtung vorstellt und verschiedene Formen der Relation von Liturgie und Literatur in den Blick nimmt. Die Reihenfolge der Beiträge im vorliegenden Band folgt im Sinne der historischen Ordnung der Chronologie der zeitlichen Entstehung der behandelten Texte. Die folgenden Zusammenfassungen der Beiträge möchten diese Fallstudien vorab allerdings unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten hinsichtlich der in ihnen verhandelten Wechselbezüge von Liturgie und Literatur vorstellen und dabei zugleich andeuten, wie sich dieses Spannungsfeld systematisch ordnen und auf neuer Grundlage aufarbeiten ließe. 42
1 Liturgie in der mittelalterlichen Handschriftenkultur Drei exemplarische Fallstudien thematisieren auf unterschiedlichen Ebenen das Phänomen liturgischer Texte im Kontext mittelalterlicher Manuskriptkultur. Die erste sichtet die althochdeutsche und altsächsische Literatur hinsichtlich liturgischer und kanonistischer Überlieferungszusammenhänge (HELLGARDT), die zweite untersucht ein spätmittelalterliches Gebetbuch als Beispiel für den Zusammenhang von Laien und Literatur (ERHARD) und die dritte beschreibt schließlich im Blick auf eine Gattung diachron das Verhältnis von deutschsprachigen Legenden und Liturgie (KÖSSINGER).
Ernst Hellgardt: Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) Die ältesten Texte in deutscher Sprache sind in den seltensten Fällen als eigenständige Bücher überliefert. Die großen bibelepischen Werke, wie der altsächsische Heliand oder das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg, stellen hier Ausnahmefälle dar, die sich quantitativ nicht einmal ansatzweise mit der weiteren althochdeutschen und altniederdeutschen Textüberlieferung decken. Der ‚Normalfall‘ ist vielmehr, dass deutschsprachige Bestandteile als „Gast-Text[e]“ (Hellgardt, S. 27) in lateinische Handschriften inseriert und auf je eigene Weise integriert werden. ERNST HELLGARDT geht diesen ‚Gästen‘ in fremden Kontexten nach und fragt zunächst nach systematischen Aspekten der Aufzeichnungspraxis deutschsprachiger Texte, wobei er insbesondere Bedarf, Aufzeichnungsort und (Wieder-)Auffindbarkeit hervorhebt. || 42 Wir danken Marina Reichert B.A. (Universität Konstanz) für die Hilfe bei den Korrekturarbeiten an diesem Beitrag.
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Durch eine Sichtung der deutschsprachigen Textüberlieferung von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts kommt er zu der Beobachtung, dass Deutschsprachiges häufig in liturgische (Sacramentare oder Codices für den privaten Frömmigkeitsgebrauch) sowie kanonistische Handschriften (Canones-Sammlungen, Kapitularien) eingetragen wird. Die deutschsprachigen Texte, die hier ihre neue Heimat finden, repräsentieren dabei ein durchaus breites Spektrum an Texttypen, auch wenn einzelne Typen, wie Beichten oder Segensformeln, durchaus mehrfach belegbar sind. Eine gesonderte Fallstudie widmet HELLGARDT dem berühmten Fuldaer Sacramentar aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und der darin enthaltenen deutschen Fuldaer Beichte (A).
Andreas Erhard: Laien und Liturgie. Zur liturgischen Seite des volkssprachigen Gebetbuches Cgm 4701 aus der Bibliothek der Laienbrüder des Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram im 15. Jahrhundert Laien und Liturgie? Beides schließt sich für das Mittelalter in mehrfacher Hinsicht eigentlich von vornherein aus. Schon allein von der Sprache her gibt es eine hermeneutische Barriere, die dem Nachvollzug der Heiligen Messe eine wichtige Dimension nimmt und man könnte allein auf dieser Grundlage vermuten, dass der mittelalterliche Messbesuch vielfach eine starke ‚präsentische‘ Dimension besaß, also gar nicht so sehr auf ein Wort-für-Wort-Verständnis der priesterlichen Handlungen ausgelegt war. ANDREAS ERHARD beschreibt dieses sich vor allem im Hoch- und Spätmittelalter immer stärker manifestierende „Verlangen nach einem umfänglicheren Begreifen [...] liturgischen Betens“ (ERHARD, S. 290). Sein Beispiel ist ein deutschsprachiges Gebetbuch aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, das von Laienbrüdern im Regensburger Benediktinerkloster St. Emmeram benutzt wurde und heute als Cgm 4701 in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt wird. ERHARD leistet hier zunächst paläographische und kodikologische Grundlagenarbeit, indem er eine Beschreibung des Codex – seiner äußeren und inneren Anlage und Geschichte – bietet und ihn in den Kontext des erhaltenen Bestands der St. Emmeramer Büchersammlung einordnen kann. Liturgie als Lebensform von Laien! Darum geht es auf eine Formel gebracht im zweiten Teil der Untersuchung, die sich nun ausgewählten liturgischen, paraliturgischen und liturgiebegleitenden Elementen im Cgm 4701 zuwendet. Schon allein von den Texttypen her, die hier aufgegriffen werden, wird deutlich, auf wie vielfältige Weise Liturgisches zu einem ganz selbstverständlichen Bestandteil laikalen Lebens werden kann. ERHARD greift vier systematische Aspekte des St. Emmeramer Gebetbuchs heraus, die er einer eingehenden Analyse unterzieht: die Sterbendenfürsorge und das Totengedächtnis (am Beispiel der sieben Bußpsalmen mit der Allerheiligenlitanei und dem Totenoffizium), die Bereiche der Anamnese und Epiklese (anhand der O-Antiphonen, Hymnen und Suf-
10 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl fragien), die Marienverehrung und Christusgebete der Handschrift sowie einen die Messliturgie begleitenden Gebetszyklus.
Norbert Kössinger: Legenden und Literatur. Beobachtungen zu Alberts Ulrichslegende Legenden und Liturgie stehen ursprünglich in einer untrennbaren Relation zueinander. Sie sind in ihrer Rückbindung an das tägliche Heiligengedenken der Kirche im Mittelalter ‚Kalender-Texte‘ par excellence. Der Beitrag thematisiert im Blick auf die frühe Legendenüberlieferung in deutscher Sprache (z.B. Georgslied oder Ratperts Galluslied) die Beobachtung von Prozessen der Lockerung von konkreten liturgischen oder paraliturgischen Gebrauchszusammenhängen. Ein Musterbeispiel für den neuen Status von Legenden in der Zeit um 1200 ist die Ulrichslegende Alberts, die als reine Übersetzung ihrer lateinischen Vorlage nicht adäquat charakterisiert werden kann. Eine Textanalyse und ein Blick auf die Textüberlieferung im Cgm 94 zeigen vielmehr den Status dieses Textes in einem Zwischenbereich von Liturgie und Literatur: Hinsichtlich der Vergemeinschaftung in der Überlieferung steht die deutschsprachige Vita im Kontext einer regelrechten Sammlung von Ulrichtexten, die gleichermaßen Liturgisches wie Nichtliturgisches umfasst und der durch die hinzugefügten Bilder auch ein gewisser Status zugeschrieben wird. Auf der Textebene belegt dagegen das spezifische Modell von Autorschaft (inbesondere das Akrostichon im Prolog) die angesprochene Zwischenstellung.
2 Grenzfälle des Liturgischen Nach der Relation von Liturgie und Literatur im Mittelalter zu fragen, impliziert nicht nur, weniger von einem Abgrenzungs- als von einem Wechselverhältnis auszugehen, sondern auch, ein modernes Literarizitätsverständnis zu reflektieren und es mit seiner mittelalterlichen Konzeptionalisierung abzugleichen. Als wichtiges Kriterium erweist sich dabei die Funktionsgebundenheit mittelalterlicher Texte, wie es die drei Fallstudien zeigen, die allesamt Grenzfälle des Liturgischen beleuchten: Das Textensemble von Bamberger Glaube und Beichte (SEIDL) vermittelt anhand seiner komplexen sprachlichen Gestaltung grundlegende Glaubenssätze des Christentums, Heinrichs Litanei (GLAßNER / KELLER) problematisiert durch die Ausbildung zweier deutlich unterschiedlicher Versionen eine Differenzierung von Gebrauchstext und literarischer Form. Gertruds von Helfta Legatus divinae pietatis schließlich bezieht seine literarische Gestaltungskraft gerade aus liturgischen Formen (UNGER).
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Stephanie Seidl: In-Eins-Setzungen. Zur Ästhetik und Funktionalität von Bamberger Glaube und Beichte Schon im frühen Mittelalter entstehen im Kontext der Reformbestrebungen Karls des Großen erste deutschsprachige Glaubensbekenntnisse und Beichttexte. Diese können der außerliturgischen seelsorgerischen Unterweisung dienen, durchaus jedoch auch im Gottesdienst Verwendung finden. Sie werden, so zeigen es die Überlieferungskontexte dieser Textformen, etwa in den ordo sermonis aufgenommen und sichern dabei das Textverständnis der lateinunkundigen Laien. Die starke funktionale Gebundenheit dieser Gebrauchstexte kann indes schon im Laufe des 11. Jahrhunderts mit Literarisierungsprozessen einhergehen: Die nun entstehenden Sündenklagen lehnen sich thematisch an die Beichttexte an, nutzen zugleich jedoch rhetorischen Schmuck und poetische Gestaltungsmittel. Ähnliches lässt sich für das Bamberger Glaube und Beichte genannte Textensemble feststellen, dessen außergewöhnliche sprachliche Kreativität in der Forschung häufig zugleich als Ästhetisierungs- wie als Autonomisierungstendenz beschrieben worden ist. Der Beitrag von STEPHANIE SEIDL knüpft daran an, will die Gleichsetzung von Literarisierung und Entfunktionalisierung jedoch kritisch hinterfragen. Anhand von Bamberger Glaube und Beichte zeige sich vielmehr, inwiefern gerade sprachliche Komplexität und der Einsatz poetischer Mittel den heteronomen Status eines Textes markieren können.
Christine Glaßner / Karl Heinz Keller: Heinrichs Litanei. Neue Befunde zu Überlieferung und Funktion Als stark formalisierte Bittgebete sind Litaneien schon im Mittelalter ein fester Bestandteil der Liturgie: Das Kyrie Eleison ist Teil der Messfeier wie des Stundengebets, die Allerheiligenlitanei wird beispielsweise bei der Ostermesse oder in der Weiheliturgie gemeinschaftlich gebetet. Anrufungslitaneien prägen den meditativen Charakter von Andachten und Prozessionen. Der Beitrag von CHRISTINE GLAßNER und KARL HEINZ KELLER nimmt mit Heinrichs Litanei einen volkssprachigen Text in den Blick, dessen Inhalt wie Struktur deutlich an den lateinischen liturgischen Litaneien, v.a. an der Allerheiligenlitanei, ausgerichtet ist. Zugleich zeigt sich an ihm exemplarisch, wie fließend die Übergänge zwischen Latinität und Volkssprache, zwischen liturgischem Gebrauchskontext und poetischer Aktualisierung gerade im Frühmittelalter zu denken sind. Überliefert ist Heinrichs Litanei nämlich in zwei Fassungen, die zwar beide der Ordnung der lateinischen Allerheiligenlitanei folgen und deren charakteristische fünf Rufe als Inserate in den deutschen Text aufnehmen, sich in der Ausgestaltung der lateinischen Vorbilder jedoch merklich unterscheiden. Die um etwa 500 Verse längere Bearbeitung S erscheint als „bewusst gestaltete[s] Artefakt“ (GLAßNER / KELLER, S. 77), während die ältere Fassung G den Gebrauchstextcharakter beibehält. Eine Unterscheidung von liturgischem Ge-
12 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl brauchstext einerseits, geistlicher Dichtung andererseits legen auch die Selbstbeschreibungen der beiden Versionen nahe: G bezeichnet sich als gibet, S dagegen als getihte. Dass eine solche Ausdifferenzierung jedoch Fragen nach der Textfunktion nicht vorschnell auf die poetisierte Fassung beschränken darf, zeigen GLAßNER und KELLER, indem sie anhand einer detaillierten Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferungssituation wie der sozialgeschichtlichen Kontexte neue Spuren für die Entstehung von G verfolgen.
Helga Unger: Interaktion von Gott und Mensch im Legatus divinae pietatis (Buch II) Gertruds der Großen von Helfta. Liturgie – Mystische Erfahrung – Seelsorge Welche bedeutsame Rolle die Liturgie für die Mystik sowohl als konkrete Erfahrung wie auch als literarische Form spielt, wird im Beitrag von HELGA UNGER deutlich, in denen sich die Autorin Texten Gertruds der Großen von Helfta widmet. Im Spannungsfeld des ‚mystischen Sprachproblems‘, der Unmöglichkeit, unmittelbar erfahrene Gotteserkenntnis in die Mittelbarkeit der Sprache zu überführen, werden Gertruds Erfahrungsberichte von Unger in vielschichtige Bezüge zur Liturgie gestellt: So wird ersichtlich, dass die Liturgie für die Biographie Gertruds, für ihre religiösen Erfahrungen und nicht zuletzt auch für die Versprachlichung der mystischen Erlebnisse eine nicht zu überschätzende Rolle spielt. Es verschränken sich in ihrem Werk mithin literarische Produktions- und Rezeptionsprozesse mit liturgischen Formen der Zeitstrukturierung, der Memoria und des Gotteslobs. Die Feier der Eucharistie ebenso wie einzelne, im liturgischen Jahr herausgehobene Messen, wie etwa die Weihnachtsmesse, gewinnen eine weit über die liturgische Situation hinausreichende Bedeutung, wenn sie sowohl Anstoß für mystische Erfahrungen und Visionen als auch für literarische Berichte dieser Ereignisse werden. Gerade für letztgenannten Prozess changieren bei Gertrud Praktiken der Allegorisierung und Metaphorisierung zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit auf eine Weise, denen sich – wie UNGER ebenfalls deutlich macht – die Lesenden des Legatus divinae pietatis seit vielen Generationen kaum zu entziehen vermögen.
3 Liturgie und Geistliches Spiel Geistliche Spiele situieren sich auf besonders intrikate Weise auf einem schmalen Grat zwischen Liturgie und Literatur. Dieser insofern als hybride zu bezeichnenden Gattung sind zwei Beiträge gewidmet, die einerseits die Funktionen des Liturgischen (MÜLLER), andererseits die Funktionen nichtbiblischer Motive (HERBERICHS) für das volkssprachige Spiel in den Blick nehmen.
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Jan-Dirk Müller: Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie JAN-DIRK MÜLLER unternimmt eine grundlegende Neubewertung liturgischer Lieder und lateinischer Texte im Kontext der volkssprachigen geistlichen Spiele, indem er für eine präzise und überlieferungsnahe Analyse der jeweiligen Einbettung der Lieder plädiert. Fragen nach textuellen Abhängigkeiten und Filiationen der Gesänge, die bislang im Zentrum der Forschung standen, werden so erstmals mit weiteren notwendigen Aspekten ergänzt: Indem MÜLLER den konkreten intertextuellen Beziehungen zwischen liturgischen Texten und volkssprachigen Spielen nachgeht, wird in seinem Beitrag das erstaunliche Spektrum möglicher Funktionalisierungen ersichtlich, die schon innerhalb eines einzigen Spiels zu differenzieren sind. Am Beispiel des Innsbrucker Osterspiels entfaltet MÜLLER exemplarisch, unter welchen Perspektiven wirkungsästhetisch und handlungsfunktional orientierte Beschreibungsmodelle ansetzen können: Die lateinischen Gesänge werden im Spannungsfeld verschiedener Funktionen verortet, ihre Leistung für die Theatralisierung, für die Modulation verschiedener Grade von Mimesis, für die Herstellung und Durchbrechung narrativer Kohärenz beschrieben. Die Spezifik der volkssprachigen Passagen profiliert MÜLLER demgegenüber, indem er an ihnen Strategien der Kohärenzbildung, aber auch Prozesse der Emotionalisierung und Individualisierung der agierenden Figuren herausarbeitet.
Cornelia Herberichs: Plädoyer für den Mercator. Zur hermeneutischen Funktion der Salbenkauf-Szene in bildlichen Darstellungen des Mittelalters, im lateinischen Osterspiel und im Osterspiel von Muri Der Figur des Mercators im Geistlichen Spiel widmet sich CORNELIA HERBERICHS. Die germanistische Diskussion der Salbenkauf-Szenen hat in jüngerer Zeit vor allem die komischen und parodistischen Dimensionen dieser Spielabschnitte hervorgehoben. Demgegenüber rekonstruiert HERBERICHS in interdisziplinärer Perspektive weitere hermeneutische Potentiale dieser Szene. In ihrem Beitrag wird die bereits in der theologischen Exegese des biblischen Osterberichts angelegte Polyvalenz des Salbenkaufs vor Augen geführt. Dieser konnte sowohl als Zeugnis der Frömmigkeit wie auch als Zeichen des törichten Unglaubens der Frauen ausgelegt werden. In der Analyse verschiedener bildlicher Darstellungen des Ostergeschehens rekonstruiert HERBERICHS visuelle Strategien, mittels derer diese Szene jeweils in Beziehung zur Angelophanie am Grab gestellt wird. In Fallstudien zu lateinischen Osterfeiern und spielen werden sodann dramatische Texte nach analogen Strategien der paradigmatischen Verknüpfung innerhalb der Gesamtstruktur der Spiele befragt. Exemplarisch wird abschließend am Osterspiel von Muri dargelegt, dass mit Augenmerk auf struk-
14 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl turelle Aspekte und semantische Prozesse auch in deutschsprachigen Osterspielen wichtige hermeneutische Potentiale dieser Szene ausgemacht werden können.
4 Liturgische Rezeptionen Die Differenzsetzung zwischen „einer Dichtung, die sich der Liturgie bedient, und einer Dichtung, die der Liturgie dient“,43 erweist sich gerade dann als besonders produktiv, wenn sie unterlaufen wird, wenn die Seiten des Gebenden und des Nehmenden nicht mehr klar zu unterscheiden sind und stattdessen vielschichtige Wechselbeziehungen in den Blick geraten. Dies illustriert zum einen der Beitrag von GERHARD WILD, der die Möglichkeiten der Absorption liturgischer Rede auf der iberischen Halbinsel untersucht. CLAUDIA HÄNDLS Aufsatz, der ebenfalls kulturelle Grenzüberschreitungen und Differenzen thematisiert, arbeitet zum anderen heraus, wie die volkssprachigen Geißlerlieder Kommunikationssituationen des Liturgischen zugleich imitieren wie auch ausdifferenzieren.
Gerhard Wild: Gegengesänge. Bedingungen und Möglichkeiten einer Absorption liturgischer Rede auf der iberischen Halbinsel Die von GERHARD WILD ausgewählten Beispiele verdeutlichen, dass die komplexen Austauschprozesse zwischen der muslimischen und der christlichen Kultur, Architektur und Literatur zu ambivalenten Sinnaufladungen beitragen können. Im Fall der illuminierten Handschriften des Beatus-Kommentars zur Johannesapokalypse führt die Aufnahme von Stilelementen maurischer Sakralbauten in das Bildprogramm der Manuskripte zu einer „freiwillige[n] Selbstkolonialisierung ästhetischer Spielräume“ (Wild, S. 115), die zeitgenössische Kritik erfährt, zugleich indes den islamischen Habitus in den Dienst der christlichen Heilslehre stellt. Semantische Ambivalenzen ergeben sich auch beim Kurzschluss von liturgischer und literarischer Rede im engeren Sinne – und dies sowohl im inner- wie im interreligiösen Rahmen: Die arabische Liebeslyrik bedient sich liturgischer Sprache und produziert dabei parodistische, teils sogar blasphemische Effekte, indem sie etwa Formulierungen des Korans oder des islamischen Glaubensbekenntnisses konnotativ ausbeutet. Ähnliche Mehrdeutigkeiten lassen sich auch für die altportugiesische Dichtung beschreiben, wenn einem Frauenloblied die Strukturmuster von Hymnen eingeschrieben werden oder ein Marienlob rhetorische Elemente der Troubadourdichtung aufgreift. Überdeutlich wird die Komplexität liturgisch-literarischer Grenzüberschreitungen schließlich am Beispiel der arabischen zéjel-Strophe: Ur|| 43 Unterreitmeier 1990, S. 74.
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sprünglich eine Form arabischer erotischer Lyrik, wird sie am kastilischen Hof Alfons‘ X. für geistliche Dichtung zweckentfremdet, während zeitgleich in der portugiesischen weltlichen Lyrik, wenngleich auch in einem singulären Fall, diese ‚Liturgisierung‘ der Strophenform bereits reflektiert wird.
Claudia Händl: Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen in Italien und Deutschland und ihre Liedproduktion: Komparatistische Überlegungen zur Kommunikationsstruktur der sogenannten Geißlerliturgie und zu verwandten Liedern CLAUDIA HÄNDL widmet sich in ihrem komparatistischen Beitrag den zeitgenössischen chronikalischen Berichten, die von den Geißlerbewegungen – einem so ambivalenten wie faszinierenden Phänomen der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte – zeugen. Die Strömung, die in verschiedenen Teilen Europas eine enorme Wirkung entfaltete, besaß trotz übergreifender Gemeinsamkeiten doch jeweils ihre kulturelle Spezifik, die es für die Interpretation der Berichte zu berücksichtigen gilt. In ihrer Studie zu den italienischen und deutschen Geißlerliedern und zur Geißlerliturgie konzentriert sich HÄNDL auf die inszenierten Kommunikationssituationen der lyrischen Texte. Ihre textnahen Interpretationen machen augenfällig, dass die italienischen Lieder aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive betrachtet erstaunliche Übereinstimmungen mit den deutschsprachigen Liedtexten aufweisen, obgleich ein konkreter textgenetischer Einfluss nahezu ausgeschlossen werden kann. Die wohlkalkulierten Strategien der Legitimierung und Autorisierung nimmt HÄNDL als Anlass, Fragen hinsichtlich der Autorschaft dieser Texte aufzuwerfen, die auch für die künftige Beschäftigung mit den Geißlerliedern von weitreichender Bedeutung sein dürften: So stellt HÄNDL für den Leis im Chronicon Hugos von Reutlingen die These zur Diskussion, dass der literarisch wie musikalisch beschlagene Chronist um der Anschaulichkeit des Geißlerzuges willen den Text selbst verfasst, zumindest aber literarisch bearbeitet haben könnte. Im Licht dieser These wird die kommunikative und rezeptionsästhetische Funktion der schriftlich aufgezeichneten Lieder im Kontext der chronikalischen Berichte, in einem Spannungsfeld von literarischen und liturgischen Autorisierungsstrategien, neu zu diskutieren sein.
5 Reflexionen des Liturgischen um 1800 Während mittelalterliche Texte, so zeigt es die Mehrheit der in diesem Band versammelten Beiträge, zumeist zwischen einer liturgischen Funktionalisierung und einer poetischen Neugestaltung oszillieren, ist dies bei der neuzeitlichen Literatur gerade nicht (mehr) der Fall: Paradebeispiele für eine „Dichtung, die sich der Litur-
16 | Cornelia Herberichs / Norbert Kössinger / Stephanie Seidl gie bedient“, sind dabei Friedrich Schillers Der Geisterseher (ULRICH JOHANNES BEIL) und Maria Stuart (ALBRECHT JUERGENS). Dass sich auch der (religions-)philosophische Diskurs des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen des Kultus auseinandersetzt, zeigt der abschließende Beitrag von WILHELM VOSSENKUHL.
Ulrich Johannes Beil: Pervertierte Liturgie. Medialität und Inszenierung in Schillers Der Geisterseher ULRICH JOHANNES BEIL bietet in seinem Beitrag eine Neuinterpretation von Schillers Der Geisterseher. Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet der kulturhistorische Kontext dieser frühen gothic novel, inbesondere Kants Träume eines Geistersehers. In seiner Textanalyse konzentriert sich BEIL in erster Linie auf Aspekte der Medialität. Der Kernpunkt ist dabei die Episode der Geisterbeschwörung. Schiller entwirft hier eine „eindrucksvolle multimediale Inszenierung“ (BEIL, S. 332), geradezu ein „hochmoderne[s] Medienspektakel“ (BEIL, S. 348), das – bei allen Unterschieden im Detail – wohl ganz bewusst „an die katholische Altar-Mensa und die entsprechende Eucharistiefeier“ (BEIL, S. 333) angelehnt ist. Es handelt sich um eine ‚pervertierte Liturgie‘ mit Transsubstantiation und Realpräsenz, mit „Andenken, Auferstehung, Kommunion und Vergegenwärtigung“ (BEIL, S. 335). Dass dabei auch eine Reihe technischer Medien (wie zum Beispiel die Laterna magica) zum Einsatz kommen und Medien im Text insgesamt als eine religiöse Strategie Verwendung finden, führt Beil dazu, den Geisterseher als „Roman über Medien“ (BEIL, S. 347) zu verstehen. Die Episode der Geisterbeschwörung ist in diesem Sinne „als ‚metapoetisches Gleichnis‘ zu lesen, das des Autors eigene poetologische Spannung von Verhüllung und Auflösung, Magie und Rationalität reflektiert.“ (BEIL, S. 349)
Albrecht Juergens: Metamorphosen des Liturgischen. Friedrich Schillers ‚ästhetischer Katholizismus‘ (am Beispiel der Maria Stuart) Elemente des Liturgischen werden im Fall von Schillers Maria Stuart völlig in den Dienst der literarischen Inszenierung gestellt und mit einer neuen, einer ästhetischen Funktion versehen. ALBRECHT JUERGENS beschreibt dies im Titel seines Beitrages als Metamorphosen des Liturgischen. Schiller greift aus der katholischen Liturgie die Sakramente der Buße und der Eucharistie heraus und kombiniert beide im siebten Auftritt des fünften Aufzuges als Zeichen einer „ultimativen Versöhnung [Marias] mit dem Himmel und Apotheose“ (JUERGENS, S. 361). War diese Szene in der Schiller-Forschung über lange Zeit v.a. als Darstellungsmöglichkeit der inneren Entwicklung Marias gelesen worden, kann JUERGENS zeigen, dass es sich dabei keineswegs um einen „unmotivierten Ausbruch ins Sakramentale“ (JUERGENS, S. 359) handelt. Über ein System von kleinteiligen Vorverweisen arbeitet Schiller auf die
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Abendmahlsszene hin und entwirft dabei einen ‚ästhetischen Katholizismus‘, dessen Sakramentenlehre verfügbar gemacht wird für eine rein literarische Funktionalisierung. Das bereits vor der Uraufführung der Maria Stuart vom Weimarer Herzog geäußerte Unbehagen über die dramatische Inszenierung eines sakramentalen Aktes zeigt jedoch, dass zumindest auf der Rezipientenseite ein Restbestand jener liturgischen Präsenzstiftung stehen bleiben konnte, der im Modus der theatralen Aufführung nur schwer kontrollierbar war.
Wilhelm Vossenkuhl: Gott im Kultus. Anmerkungen zu Hegels Religionsphilosophie WILHELM VOSSENKUHL zeigt in seinem Beitrag, welche Rolle der im Kultus präsente Gott im Rahmen der Religionsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels spielt. Das Gottesbild Hegels ist dabei gerade nicht das eines „Gottes der Philosophen“ (VOSSENKUHL, S. 365), sondern das eines „nicht endlichen Wesen[s]“, dem der Mensch „auf endliche Weise“ (VOSSENKUHL, S. 366) näherkommen möchte. Dazu gibt es bei allen Erkenntnisgrenzen nach Hegel unterschiedliche Möglichkeiten: Die menschliche Fähigkeit, das Absolute zu denken und zu reflektieren auf der einen Seite, die „gläubige Andacht“ (VOSSENKUHL, S. 366) auf der anderen Seite, den innigen, beiderseitigen und von tiefer Spiritualität geprägten Zusammenschluss des Menschen mit Gott in kultischen Formen. Nur auf diese Weise kann letztlich „Gott in der Andacht des einzelnen Subjekts anwesend sein und dieses Subjekt in Gott gleichzeitig geborgen sein“ (VOSSENKUHL, S. 366). Damit ist ein Gedanke angesprochen, der auch bei Hegel zum Gedanken einer mystischen unio hinführt. Aufgefangen werden kann das Subjekt in seiner Innerlichkeit dabei in dem, was der Protestant Hegel schließlich als vom Wirken des Heiligen Geistes geprägte Gemeinde bezeichnet.
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Ernst Hellgardt
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) 1 Sprache im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ‚Von Natur aus‘ ist Sprache schriftlos. Wie findet eine Sprache von solcher ‚Naturform‘ aus zur Schriftlichkeit? Meist ist es der Fall – und nur ein solcher soll hier näher betrachtet werden –, dass sich schriftlose Sprecher durch Vermittlung von Schriftnutzern einer anderen Sprache als ihrer eigenen beeinflussen lassen. Sie erfahren, dass es die Möglichkeit schriftlicher Sprachaufzeichnung und gegebenenfalls auch einen entsprechenden Bedarf gibt. Wenn dieser Einfluss also von Sprechern einer anderen Sprache ausgeht, wird es im Übergang der eigenen Sprache zur Verschriftlichung auch nötig sein, eine Kompetenz in der anderen Sprache zu erwerben, anders als beim Kind, das die Schriftkundigkeit für eine Muttersprache erlernt, wenn diese bereits schriftkulturellen Status hat. Im Übergang zur Schriftlichkeit einer noch schriftlosen Sprache ist beim Einflussgeber also Zweisprachigkeit vorauszusetzen, beim Einflussnehmer ist sie mindestens zu erstreben. Im Vollzug des Übergangs zur Schriftlichkeit findet also auch ein sprachlicher Übersetzungs-, ein Kulturtransfer statt, an dem beide, der gebende und der nehmende Teil beteiligt sind. Und da Schriftnutzung auf beides angelegt ist, auf Lesen und Schreiben, werden auch die händischen Techniken und materiellen Ressourcen für das Schreiben und den Umgang mit Geschriebenem von der Vorbildkultur übernommen, erlernt, in geeigneter Weise angepasst oder weiterentwickelt werden müssen. Entsprechendes wird über die technische und materielle Ebene hinaus auch auf der intellektuellen in vieler Hinsicht geschehen, etwa im Hinblick auf Grammatikalisches und Stilistisches. Grundsätzlich müssen wohl mindestens so umständlich, wie es hier angedeutet ist, die Bedingungen des Übergangs einer bloß mündlich existierenden Sprache zu ihrer Verschriftlichung rekonstruiert werden. Und im Prinzip nicht anders kann man sich auch beim Deutschen den Vollzug des Übergangs von seiner ‚natürlichen‘, rein mündlichen Existenzform zur Schriftlichkeit vorstellen. Die fremde Sprache war hier einerseits das Latein der Bibel vor dem Hintergrund ihrer hebräischen Sprachund jüdischen Kulturtradition und andrerseits das Latein der christlichen Spätantike vor dem Hintergrund sowohl seiner biblischen als auch seiner klassisch lateinischen Sprach- und mittelmeerischen Kulturwelt.
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2 Althochdeutsche Texte in lateinischen Handschriften Im Folgenden geht es in diesem weiten Horizont speziell und paradigmatisch um die Aufzeichnung deutscher, d.h. hier althochdeutscher und altsächsischer Texte in lateinischen und im Fall dieser Untersuchung im Besonderen in liturgischen und kanonistischen Trägerhandschriften. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Texte geringen, d.h. nicht bandfüllenden Umfangs. In der germanistischen Fachliteratur traf man früher öfters auf die Auffassung, dass die Verschriftung althochdeutscher Texte, besonders der kleineren, überhaupt und tendenziell eher zufällig und okkasionell, je nach sich bietender Gelegenheit geschehen sei. Man betrachtete das so verstandene Verfahren auch wohl als Zeichen für die geringe Wertschätzung oder gar pragmatische Bedeutungslosigkeit der so aufgezeichneten Texte. Dies soll für den Einzelfall nicht grundsätzlich bestritten werden. Wichtiger für das Verständnis einer entstehenden Schrifttradition und -kultur werden aber Fälle sein, für die sich zeigen lässt, dass sie so nicht verstanden werden müssen. Ich unterstelle also im Prinzip planmäßige, wenn auch manchmal vermutlich unterschiedlich erfolgreiche Strategien je eigener Art für die Aufzeichnung althochund altniederdeutscher Texte in lateinischen Trägerhandschriften und gelegentlich auch und sogar in deutschen. Grundsätzlich erwäge ich drei miteinander verflochtene Aspekte, unter denen sich die Aufzeichnungen vollziehen. Diese Aspekte sollen historisch und regional für das Deutsche dieser Zeit und zeitlich noch weit darüber hinaus gelten und dies unter der bereits bezeichneten Bedingung des geringen Umfangs der Texte. Der eine, der pragmatische Aspekt betrifft den Aufzeichnungsbedarf: Für welche Art von Texten wurde überhaupt Bedarf unterstellt (oder auch: für welche nicht)? Zum anderen geht es gleichsam ‚verlegerisch‘ vom Schreiber als Schriftproduzenten aus gedacht – gemeint ist hier nicht oder höchstens ausnahmsweise der Textautor – um den Aspekt des Aufzeichnungsortes, d.h. um die materiellen Voraussetzungen für die Aufzeichnung: Wo finde ich überhaupt den Platz auf dem Pergament für einen Text, dessen Aufzeichnung ich für wünschenswert erachte? Zum dritten geht es im Zusammenwirken mit diesen beiden Aspekten für den je aktuellen Bedarfsfall um die Frage der Heuristik, d.h. der (Wieder-)Auffindbarkeit bereits niedergeschriebener deutscher Texte an einem gegebenen Aufzeichnungsort; das ist aus der Sicht des Nutzers sozusagen der bibliothekarische Aspekt. Aus der Sicht des Schreibers kommt es dabei darauf an, den der Sache nach möglichst gut passenden Aufzeichnungsort für den Text zu nutzen, um seine (Wieder-)Auffindbarkeit zu gewährleisten.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 25
3 Aspekte der Aufzeichnungspraxis deutschsprachiger Texte 3.1 Der Bedarf Der Bedarf kann nur aus dem, was aufgezeichnet wurde, erschlossen werden. Es gilt der trivial klingende Satz: Was aufgezeichnet wurde, dafür gab es einen Bedarf; er wurde vom Schreiber oder seinem Auftraggeber mindestens unterstellt. Der Umkehrschluss: Was in schriftlicher Aufzeichnung nicht vorliegt, dafür gab es auch keinen Bedarf, und deshalb wurde es nie aufgeschrieben, gilt natürlich, wie zu allen Zeiten, nur mit vielen Einschränkungen. Vieles, das einmal niedergeschrieben war, wird schon in der frühen Überlieferungsgeschichte aus Gründen, die mit dem Bedarf nichts zu tun haben, verloren gegangen sein. Und es mag Vieles schon früh auch deshalb nicht mehr erhalten sein, weil dafür irgendwann kein Bedarf mehr vorlag, für nutzlos gewordene Texte aus dem Verwaltungswesen etwa. Wieder Anderes dürfte aber tatsächlich nie oder nur ausnahmsweise niedergeschrieben worden sein. Hierzu gehört z.B. zu großen Teilen die volkssprachliche Überlieferung der Volksrechte und hierzu gehört größtenteils die vorliterarische Dichtung in der Volkssprache. Dass solche Texte durchaus auch einmal volkssprachlich verschriftet werden konnten, ist immerhin in einigen Ausnahmefällen belegt. Sie sind neben sekundären schriftlichen Bezeugungen vorliterarisch mündlicher Texte wichtig als Primärbelege dafür, dass es solche Texte überhaupt und tatsächlich gegeben hat. Wichtig sind ihre seltenen Verschriftungen vor allem aber auch, weil sie konkretere Vorstellungen davon vermitteln können, wie solche Texte in ihrer mündlichen Existenzform etwa organisiert gewesen sind bzw. geklungen haben mögen. Aber neben den wenigen Aufzeichnungen hat ihre angestammte ‚natürliche‘ Existenzform, die der Mündlichkeit, wie man wiederum aus sekundären schriftlichen Bezeugungen weiß, noch lange neben und zugleich mit der etablierten Schriftkultur fortbestanden. Der Bedarf, der an den Texten der mündlichen Tradition fortbestand, wurde weiterhin durch mündliche Überlieferung gedeckt. Die Schriftkundigen konnten daran teilhaben, und für die Schriftunkundigen gab es einfach keinen Bedarf, der schriftlich hätte gedeckt werden können, schlicht deshalb eben nicht, weil die Nutzer dieser Texte in der Regel schriftunkundig waren. Warum solche Texte aber ausnahmsweise dennoch verschriftet wurden, das ist von besonderem überlieferungsgeschichtlichen Interesse und bedarf in jedem Einzelfall einer besonderen Untersuchung.
26 | Ernst Hellgardt
3.2 Der Aufzeichnungsort Wenn ich einen Text aufschreiben möchte, wie mache ich das? Die Texte, um die es hier geht, waren alle nur kurz. In den heutigen Ausgaben überschreiten sie kaum den Umfang einer Druckseite, bleiben sogar meist deutlich dahinter zurück. Sie sind auch kaum von der Art, dass es Sinn gehabt hätte, sie zu Sammlungen zusammenzufassen, die dann ein volkssprachliches Büchlein oder wenigstens eine Lage innerhalb des Buches gefüllt hätten. Aufzeichnung auf einzelnen Blättern wäre eine Möglichkeit gewesen. Die überlieferten Kurztexte, um die es hier geht, sind aber meist ‚Gebrauchstexte‘ und von der Art, dass die Erfüllung ihrer Gebrauchsfunktion wesentlich an den Ort ihrer Aufzeichnung gebunden war. Und Aufzeichnungen solcher Texte auf losen Blättern wären für den Gebrauch auch deswegen wenig geeignet gewesen, weil sie als Einzelblätter nicht zuverlässig aufbewahrbar und deshalb vom Verlust sehr bedroht gewesen wären. Tatsächlich ist Derartiges auch nicht erhalten. Es ist allenfalls bezeugt als Entwurfsform für – eher lateinische – Texte, die zur Abschrift an anderer Stelle bestimmt waren, nicht zur Aufbewahrung. So bleibt, wenn man den Erhalt der Texte sichern wollte, zum einen die Möglichkeit des Eintrags in bereits bestehende Handschriften, die damit zu ‚Trägerhandschriften‘ für sekundäre Eintragungen wurden. Ihre Haupttexte waren fast durchweg lateinisch, denn mit deutschen Texten gefüllte Bücher gab es zunächst so gut wie gar nicht und auch später nur selten. Wenn es sie gab, dann wurden auch sie gelegentlich als Trägerhandschriften für sekundäre deutsche (auch lateinische) Eintragungen genutzt. Man konnte also schauen, wo sich in den lateinischen Büchern unbeschriebener Platz fand, den man nachträglich nutzen konnte. Dafür fanden sich, wenn die Handschriften (wie gewöhnlich) mit einiger Großzügigkeit gestaltet waren, am Anfang, am Ende, an den Innenseiten der Einbanddeckel und an inhaltlich markanten Stellen im Buchinneren ganz oder auch nur teilweise unbeschriebene Seiten als Beschreibraum; solche Einträge bezeichne ich als primäre, planmäßige Inserate. Notfalls konnte man auch auf die oberen, unteren, linken und rechten Seitenränder des Schriftspiegels der lateinischen Texte ausweichen, wenn diese nicht schon für lateinische Beschriftung vorgesehen waren. Hier spreche ich von planmäßig sekundären, nachträglichen Inseraten. Wo man an solchen Stellen deutsche Eintragungen antrifft, sind diese natürlich immer nachträglich. Aber es gab zum anderen doch auch die Möglichkeit, eine lateinische Handschrift von vornherein so einzurichten, dass zwischen ihren lateinischen Texten an bestimmten Stellen Raum für das Inserat deutscher Texte planmäßig reserviert wurde. Der weitere Begriff ‚Trägerhandschrift‘ ist in diesem besonderen Fall durch den engeren Begriff ‚Inserathandschrift‘ spezifiziert. Als Überlieferungsorte belegen Inserathandschriften prinzipiell ein deutlicheres Bewusstsein für die Funktionalität ihrer deutschen Inserate am Ort der Eintragung als die Trägerhandschriften. Aber auch für diese steht mit der Tatsache der Nachträglichkeit ihrer deutschen Eintragungen nicht von vornherein geringere Funktionali-
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 27
tät oder gar Disfunktionalität fest. Im Übrigen gibt es natürlich auch die Kombination von Träger- und Inserathandschriften. Vom Aspekt des Aufzeichnungsortes ergibt sich nach alledem, dass die Aufzeichnung deutscher Texte in lateinischen Träger- oder Inserathandschriften unter den Bedingungen der frühen Verschriftlichung kurzer deutscher Texte ein gleichsam natürlicher Vorgang ist. Über die Funktionalität der so aufgezeichneten deutschen Texte ist allein mit dieser Aufzeichnungsweise prinzipiell noch gar nichts gesagt. Sie kann im Einzelfall, der jedes Mal gesondert zu analysieren ist, oft sogar als Zeichen für ein besonderes Funktionalitätsbewusstsein der Schreiber solcher Eintragungen gedeutet werden.
3.3 Die Heuristik oder die Frage der (Wieder-)Auffindbarkeit Wenn ich für die Aufzeichnung eines kurzen deutschen Textes eine Träger- oder Inserathandschrift suche, werde ich mich fragen, welche unter den mir zur Verfügung stehenden oder geplanten Handschriften für gerade diesen Text materiell und von ihren Hauptinhalten her sachlich als gleichsam erwünschter Gastgeber am besten geeignet ist und an welcher Stelle dieser Handschrift ich meinen Gast-Text platzieren kann und am günstigsten platziere. Denn davon hängt maßgeblich seine (Wieder-)Auffindbarkeit für den Benutzer ab. Wenn ich sie möglichst gut gewährleisten will, bin ich natürlich davon abhängig, was für welche vorhandenen oder entstehenden Handschriften mir zur Verfügung stehen und wie sie jeweils materiell angelegt und kodikologisch im Einzelnen gestaltet sind. Nicht immer wird sich ein optimal passender Ort finden lassen, Kompromisse werden nötig sein. Auch die Frage der Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit desjenigen, der den Text einträgt oder die Eintragung plant, spielt eine Rolle. Und davon unabhängig mag sich auch manchmal die innere Beziehung, die der Schreiber zwischen einer Gasthandschrift und dem ihr anvertrauten Gast gesehen hat, für heutige Erwartungen und Vorstellungen als nicht oder nur schwer nachvollziehbar darstellen. Aber das wäre ein Problem für uns Heutige; für den mittelalterlichen Schreiber oder Leser sollte man es nicht unterstellen. Methodisch ist also davon auszugehen, dass jeder in eine Träger- oder Inserathandschrift eingetragene Kurztext der Sache nach sinnvoll an seiner Stelle angebracht ist. Freilich ist das idealtypisch gedacht. Tatsächlich lässt sich ja die Möglichkeit willkürlicher oder auch nur mehr oder weniger sorgloser Eintragungen nicht leugnen, bei denen sich der Schreiber gar keine besonderen Gedanken gemacht hätte und einfach irgendwie willkürlich verfahren wäre. Solche Fälle sind methodisch unzugänglich und also uninterpretierbar. Wo sie auftreten, käme es darauf an, sie eindeutig als solche auszugrenzen, damit sie von weiterer methodischer Untersuchung ausgeschlossen werden dürfen. Solange das nicht möglich ist, muss man diese Fälle als erklärungsfähig, wenn auch bis auf weiteres unerklärt
28 | Ernst Hellgardt gelten lassen. Hier liegt dann freilich, solange noch irgendein Sinn unterstellbar erscheint, die Versuchung zu gewagten Interpretationskonstruktionen gefährlich nahe.
4 Texttyp und Handschriftentyp Die germanistischen Ausgaben der Kleintexte, um die es hier geht, bieten meist nur mit großer philologischer Akribie in der Wiedergabe ihres Wortlauts die althochdeutschen Texte, aber oft nur mit sehr dürftigen Angaben zu ihrer Überlieferung und deren näheren Umständen.1 Die allenfalls üblichen, jedoch mehr oder weniger pauschalen Hinweise auf die Überlieferungs- oder Aufbewahrungsorte können so als bloße Quellenbelege missverstanden werden. Die Texte selbst werden dann isoliert von ihrem Überlieferungszusammenhang wahrgenommen und unter Umständen reduziert auf ihre Qualität als ‚Sprachdenkmäler‘. Für ein historisches Verständnis ihrer Funktion kann aber die sorgfältige Rekonstruktion der Überlieferungszusammenhänge wichtige Aufschlüsse eröffnen. Orientiert an den Funktionstypen der Texte habe ich für die deutschen Zaubersprüche des zehnten bis 13. Jahrhunderts und für die deutschen Beichten des 8. bis 12. Jahrhunderts versucht, ihre überlieferungsgeschichtlich typischen lateinischen Trägerhandschriften zu ermitteln. Dabei hat sich ergeben, dass der jeweils eine Texttyp (Zauberspruch oder Beichte) schwerpunktmäßig durch bestimmte Handschriftentypen, aber nicht ausschließlich durch einen einzigen überliefert wird. 2 Man kann die Frage auch umgekehrt stellen, wenn man statt vom Texttyp vom Typus der lateinischen Trägerhandschrift ausgeht: Welche Art von Trägerhandschrift erweist sich als typisch für die Aufnahme deutscher Kleintexte bestimmter Art in nachträglicher oder als Inserat geplanter Aufzeichnung? Oder: Nach was für Büchern wird der Schreiber Ausschau halten, wenn er einen deutschen Kleintext in einer für ihn passenden Trägerhandschrift unterbringen will bzw. bei welchem Handschriftentyp ergibt sich das Interesse an der Aufnahme deutscher Texte und gegebenenfalls was für welcher?
|| 1 So z.B. das gängige Althochdeutsche Lesebuch von Wilhelm Braune in vielen Auflagen. Reichhaltigere, aber doch extrem knappe Angaben bei Steinmeyer 1916/1963 und Wadstein 1899. 2 Hellgardt 1997 und Hellgardt 2003; Haeseli 2011. – Zum Komplex der Beichten für die spätere Zeit (13. und 14. Jh.) vgl. nun auch Bruchhold 2010.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 29
5 Liturgische und kanonistische Handschriften: Übersicht und Fallstudie Die Durchsicht der Handschriftenbeschreibungen in Elias von Steinmeyers Kleineren althochdeutschen Sprachdenkmälern und in Elis Wadsteins Kleineren altsächsischen sprachdenkmälern hat gezeigt, dass liturgische und kanonistische Handschriften oder Textsammlungen mit einem liturgischen oder kanonistischen Schwerpunkt hier eine auffallende Rolle spielen. Nicht selten ist kanonistisches und liturgisches Material auch in einem Band zusammengefasst. Insbesondere Poenitenzialschrifttum, in dem es um Regelungen für Buße und Beichte geht, erscheint nicht nur in kanonistischen Sammlungen, wo man es zunächst erwartet, sondern auch in liturgischen, besonders in Sacramentaren/Pontificalien. Die kanonistischen und liturgischen Handschriften haben dies gemeinsam, dass sie für den Gebrauch eines Klerikers, insbesondere für den des Bischofs oder Erzbischofs bestimmt sind, und so darf man dies dann auch für die gegebenenfalls in ihnen enthaltenen deutschen Texte annehmen. Für den Typ des Sacramentars oder Pontificale ergibt es sich am klarsten und per definitionem, dass es hier normalerweise der Bischof oder Erzbischof ist, in dessen Gebrauch diese Bücher waren. Nicht weniger deutlich verweisen auch die kanonistischen Sammlungen auf ihre Verwendung in bischöflicher oder erzbischöflicher Hand. Als ‚Sendhandbücher‘ sind sie im Besonderen dazu bestimmt, von den Bischöfen/Erzbischöfen auf der Visitationsreise durch die Pfarreien ihrer Diözese oder auf ihrer Reise zur Synode mitgeführt zu werden. So belegt es z.B. die Vorrede zu Reginos von Prüm Libri duo de synodalibus causis et disciplinibus ecclesiasticis, deutsch auch Sendhandbuch des Regino von Prüm betitelt. Regino hat das Werk für Erzbischof Hatto von Mainz (891– 913) zusammengestellt und empfiehlt es ihm als praktisches Reisehandbuch, wenn er die reichen Bestände seiner Bibliothek unterwegs nicht zur Hand (in praesentiarum) hat: […] quia vestra sapientiae supereminens celsitudo in disponendis rebus publicis assidue versatur, fortassis onerosum videtur, ut plurima conciliorum volumina semper vobiscum longe lateque deferantur, idcirco manualem codicillum vestrae dominationi direxi, ut illum pro enkyridion habeatis, si quando plenitudo librorum vestrorum in praesentiarum non est. „Aber weil Eure an Weisheit überragende Exzellenz ständig in der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten unterwegs ist, erscheint es vielleicht beschwerlich, dass sehr viele Konzilienbände immer weit und breit mit Euch herumgetragen werden. Deshalb habe ich Eurer Herrlichkeit dieses handliche Büchlein zukommen lassen, damit Ihr es als Handbuch bei Euch habt, wenn einmal die Gesamtheit Eurer Bücher nicht verfügbar ist.“3
|| 3 Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, S. 20f.
30 | Ernst Hellgardt Und auch die Sacramentare bzw. Pontificalia müssen nicht nur im Gebrauch an der Residenz der Bischöfe gedacht werden; auch sie können zur Reiseausstattung der Bischöfe/Erzbischöfe gehört haben. Wenn sich bei der Frage nach den typischen Überlieferungsorten der Zaubersprüche und der Beichten zwar Schwerpunkte in bestimmen Handschriftentypen ergeben haben, nicht aber Ausschließlichkeit eines einzigen überliefernden Handschriftentyps, so wird bei den Kleintexten, die in liturgischen und kanonistischen Handschriften überliefert sind, das entsprechend Umgekehrte zu erwarten sein. Die Trägerhandschriften je eines Typs werden nicht nur je einen Texttyp transportieren und der gleiche Texttyp kann in Handschriften verschiedenen Typs aufgenommen sein. Dennoch zeichnen sich auch hier gewisse Affinitäten der Zuordnung von überliefernden Handschriftentypen zu bestimmten Texttypen ab. Zunächst stelle ich in drei Tabellen eine knapp annotierte Liste von liturgischen und kanonistischen Handschriften zusammen, in die entsprechende althochdeutsche Texte aufgenommen sind. Die Positionierung der althochdeutschen Texte in ihnen wäre in jedem Fall genauer zu analysieren, wo dies ausnahmsweise nicht schon geschehen ist. Erfasst sind hier nur Handschriften bis zum 11. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert verändert sich für die dann schon frühmittelhochdeutschen Texte die Überlieferungstypologie zwar nicht grundlegend, jedoch so weit, dass für sie eher eine eigene Darstellung sinnvoll wäre.4 Im Anschluss daran soll der Überlieferung der Fuldaer Beichte exemplarisch nach ihrem Fuldaer Original in der heute Göttinger Handschrift (A) eine etwas ausführlichere Betrachtung gewidmet werden.5
|| 4 Von hier an erscheinen Predigthandschriften als Überlieferungstyp besonders des Texttyps ‚Glaube und Beichte‘. 5 Eine entsprechende Untersuchung der vaticanischen Parallelhandschrift (C) wäre nötig, kann hier aber nicht geboten werden. Das Gleiche gilt für einen Vergleich mit den übrigen Handschriften des Fuldaer Sacramentars, die keine ordines paenitentiales und daher auch keine (deutschen) Beichten enthalten.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 31
5.1 Liturgische Handschriften Tab. 1: Sacramentare6 Buchtyp Sacramentar
Text Lorscher Beichte St. Nr. 46
Art des Eintrags primäres planmäßiges Inserat Abbildung s. PadRep
Provenienz Datierung Aufbewahrungsort Lorsch 9. Jh., Rom, BAV, Pal. Lat. 4. Viertel 485, fol. 2r–3v
Fragment eines Ordo Vorauer ad dandam paeniten- Beichte tiam innerhalb eines St. Nr. 47 Sacramentars
primäres planmäßiges Inserat Abbildung s. PadRep
Vorau
9. Jh., Ende
Sacramentar
Fuldaer Beichte A St. Nr. 48
primäres planmäßiges Inserat Abbildung s. Hamilton Frontispiz
Fulda
10. Jh., Göttingen, S+UB, 2° 3. Viertel Cod. Ms. theol. 231, oder etfol. 187r/v was später
Sacramentar
Sächsische Beichte St. Nr. 45
primäres planmäßiges Inserat Abbildung s. PadRep
Essen, 10. Jh., Frauenstift spät
Zwei zusammengebundene Sacramentare
Reichenauer sekundäres planReichenau 10. Jh., Beichte mäßiges Inserat, Nachspät St. Nr. 51 trag beim Zusammenbinden der beiden Sacramentare auf deren letzter und erster Seite Abbildung s. PadRep
Wien, ÖNB, Cod. 1815, fol. 13v–14r
Sacramentar
Fuldaer Beichte C St. Nr. 48
primäres planmäßiges Inserat
Fulda
um 1020
Rom, BAV, Cod. Vat. lat. 3548, fol. 35v–35r
Druck
[Fuldaer Beichte B St. Nr. 48]
gedrucktes GelehrtenZitat
Fulda
Druck Brouwer 1612, S. 158f.
München, BSB, Signatur: 999/4 Hist. pol. 740a online lesbar
Sacramentar
Kölner Tauf- handschriftliches Gegelöbnis 1 lehrten-Zitat ZfdA 71 (1934), S. 125
Köln, St. Cäcilien
10. Jh., Ende
Köln, Historisches Archiv, Chroniken und Darstellungen Bd. 74, fol. 314r/v und Bd. 75, fol. 321r/v
Sacramentar
Fränkisches handschriftliches Zitat Taufgelöbnis B St. Nr. 4
Speyer, Dom
Druck, Goldast 1606
BSB Signatur 2 Germ. g. 37, hier S. 174
Straßburg, N- und UB, ms. 2540 (früher L germ. 515.4°), fol. 1rb–vb
Düsseldorf, UB/LB, Ms. D 2, fol. 204ar– 205v
|| 6 Für alle Einzelinformationen der Tabelle darf auf das Paderborner Repertorium der deutschsprachigen Textüberlieferung des 8. bis 12. Jhs. (http://www.paderborner-repertorium.de/) verwiesen werden. Im Folgenden abgekürzt als PadRep.
32 | Ernst Hellgardt Tabelle 1 zeigt, dass Sacramentare ein bevorzugter Ort für planmäßige, kontextintegrierte Inserate von althochdeutschen Beichten waren.7 Die Lorscher, die Sächsische sowie die Fuldaer Beichte (Handschriften A und C) integrieren den Text je in einen Ordo ad dandam paenitentiam. Die Handschriften und Texte der Fuldaer Sacramentare wurden ausführlich von Palazzo und Hamilton behandelt,8 Handschrift A auch von Honemann in einem besonderen Artikel mit Schwerpunkt der Untersuchung auf der Miniatur einer Beichtszene, die hier erhalten ist.9 Für die Lorscher und die Sächsische Beichte kann auf die genaueren Kontextanalysen ihrer Handschriften von Foerste und Staiti verwiesen werden.10 Im Kontext eines Ordo ad dandam paenitentiam steht auch die Vorauer Beichte, die nur fragmentarisch im Fragment einer Träger- bzw. Inserathandschrift überliefert ist. Aus der Textsymbiose von Beichte und Bußordo kann man schließen, dass es sich auch in diesem Falle um das Fragment eines Sacramentars handelt. Denkbar wäre jedoch auch die Herkunft des Fragments aus einer kanonistischen Handschrift. Doch enthält sonst keine der kanonistischen Handschriften mit althochdeutschen Texten (s.u.) eine Beichte. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Übergang von liturgischer zu kanonistischer Thematik gerade im Bereich des Pönitenzialwesens fließend ist. Wenig sicher beruht Brouwers Druck von 1612 (Fuldaer Beichte B) auf einem Sacramentar, das dann jedenfalls fuldischer Herkunft wäre. Bei dem Druck handelt es sich natürlich nicht um einen zum liturgischen Gebrauch bestimmten Text, sondern um ein aus frömmigkeitsgeschichtlichem Interesse motiviertes Zitat. Unter den gewandelten Bedingungen frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit wiederholt sich hier die Inserattechnik der frühmittelalterlichen Texteintragungen. Der Vorgang wird noch in drei weiteren Fällen zu beobachten sein.11
|| 7 Zu anderen auf eigene Weise charakteristischen Buchtypen, in denen althochdeutsche Beichten Aufnahme fanden, s. Hellgardt 2003, S. 82–87 (Predigthandschriften vornehmlich des 11. und 12. Jhs.) und S. 89–90. 8 Palazzo 1994 widmet sich hauptsächlich der Ikonographie und der Liturgie des Fuldaer Sacramentars, Hamilton 2001, S. 136–150 untersucht das Sacramentar besonders als Quelle pönitentialer Praxis. 9 Honemann 1995; zur Interpretation des Bildes s. auch Palazzo 1994, S. 97–98 und Bruchhold 2010, S. 70–72. Der die Beichte entgegennehmende Kleriker ist hier mit dem Pallium ausgezeichnet und demnach als Erzbischof zu verstehen. Die Diskussion um das Bild rechnet aber damit, dass in Fulda unter bestimmten Umständen auch dem Abt erzbischöfliche Kompetenzen zustanden, dass man also den Dargestellten als Fuldaer Abt interpretieren könne. Einfacher ist vielleicht die Erklärung, dass die Göttinger Handschrift als Vorlage-Exemplar für Abschriften gedacht war, die man auf Bestellung erzbischöflicher Auftraggeber in ‚erzbischöflicher‘ Form zu kopieren gedachte. 10 Zur Sächsischen Beichte Foerste 1950, S. 9–14 (vgl. auch Gallée 1894, S. 120–126 und Wadstein 1899, S. 123–126); zur Lorscher Beichte Staiti 1995. 11 Vgl. u. zur Fuldaer Beichte und zum Kölner und zum Fränkischen Taufgelöbnis.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 33
In den Fällen von Fulda A und B haben wir sehr repräsentativ ausgestattete Prachthandschriften. Die Essener hält zwar kein so hohes, aber doch ein gutes Gebrauchsniveau ein. Interessant ist der Fall der Reichenauer Beichte. Beim Zusammenbinden zweier Sacramentarhandschriften wurden beide sozusagen zugleich um die althochdeutsche Beichte ergänzt (vgl. die Angaben in Tab. 1). Nur zwei althochdeutsche Texte, die nicht Beichten sind, begegnen in Sacramentaren. In beiden Fällen sind es Taufgelöbnisse, das Kölner Taufgelöbnis 1 aus dem Kölner Kloster St. Caecilien und das Fränkische Taufgelöbnis B. Von beiden Stücken sind die Handschriften verloren. Für den Kölner Text ist jedoch ausdrücklich bezeugt, dass er in einem Sacramentar stand.12 Das Fränkische Taufgelöbnis B ist überliefert als handschriftliche Zitat-Notiz des Mainzer Professors für Kirchenrecht und Altertumskundlers Dionysius Campius (Kampen) in einem Exemplar des zweiten Bandes von Melchior Goldasts Rerum Alamannicarum scriptores, Frankfurt 1606, S. 174 (unterer Rand) in der Bayerischen Staatsbibliothek, München.13 Die Notiz steht hier unter Goldasts Abdruck von Alemannischem Glauben und Beichte (St. Nr. 67) und ist mit folgenden Worten kommentiert: „Interrogatio fidei habet Spirae in Bibliotheca Cathdr. in scamno 8°.“14 Dass es sich bei der verlorenen Handschrift um ein Sacramentar handelte, liegt nach dieser Kennzeichnung wohl nahe. Campius wird die Handschrift, deren genauen Aufbewahrungsort er angibt, persönlich gesehen haben, wohl während eines dienstlichen Aufenthalts beim Reichkammergericht in Speyer.15
|| 12 „[...] in perveteri manuscripto [!] membranaceo codice (liber ritualis est Ecclesiae, quam vulgo vocant Agendam) Basilicae Caecilianae apud Agrippinensem Coloniam.“ „[...] in einer alten Pergamenthandschrift eines Kodex’ (es ist ein kirchliches Rituale, das man gewöhnlich Agenda nennt) der Basilika der Caecilia bei Köln.“ Nach Frenken 1934, S. 125–127 (Nr. 3). Der Text ist zitiert in einer handschriftlich erhaltenen Geschichte Kölns von Stefan Broelmann (1551–1622), zu diesem s. Ennen (1876). 13 Signatur: 2 Germ. g. 37. In den derzeit (20.08.2013) online verfügbaren Exemplaren des Werkes in der BSB finden sich Campius‘ Eintragungen nicht. Die Zuschreibung des Zitats an Campius ergibt sich aus Eintragungen auf dem Titel und dem Vorder- wie Hinterdeckel des Trägerbandes; dazu Maßmann 1839/1969, S. 28f. und Faksimile der Beilage IIIb dort. Zu Dionysius Campius vgl. Ranieri 1997 und eine Kurzbiographie bei Ottermann/Steinmetz 2011, S. 59–64. 14 Faksimile von Campius‘ Zitat des Taufgelöbnisses bei Maßmann 1839/1969, Beilage IIIa. 15 Dazu Maßmann 1839/1969, S. 28f.
34 | Ernst Hellgardt Tab. 2: Handschriften anderen liturgischen Typs16 Buchtyp Sammlung von Gebeten, Messen, Litaneien, Exorzismen, Benediktionen
Text Art des Eintrags Mainzer Beichte primäres planSt. Nr. 49 mäßiges Inserat
Provenienz Mainz St. Alban? Klingenmünster?
Datierung vor 962
Aufbewahrungsort Wien, ÖNB, Cod. 1888, fol. 33r–34r
Pönitentiale + Sammlung von Gebeten, Segens- und Beschwörungsformeln
Altbayerisches primäres plan(St. Emmeramer) mäßiges Gebet A (Beichte) Inserat St. Nr. 42
St. Emmeram? zumindest aus Regensburger Umkreis
9. Jh., wohl nicht nach der Jahrhundertmitte
Tepl, Prämonstratenserabtei, Historische Bibliothek b 9, pag. 182–186
Merseburg, Fuldaer Schriftheimat
9. Jh., 2. oder 3. Jahrzehnt
Merseburg, Domstiftsbibliothek Cod. 136, fol. 16r
Merseburg, Fuldaer Schriftheimat
Haupttext 9. Merseburg, DomJh., um die stiftsbibliothek Mitte; Gebets- Cod. 136, fol. 53r bruchstück 9. Jh., nach der Mitte
Handbüchlein zu Fränkisches Verständnis und Taufgelöbnis A Handhabung St. Nr. 4 des Mess- und Taufrituals
primäres planmäßiges Inserat
Missale 1
Merseburger sekundäres Gebetsbruchplanmäßiges stück [zur Eleva- Inserat tion des Messkelches] St. Nr. 84
Missale 2
Merseburger Zaubersprüche St. Nr. 52
sekundäres Merseburg, Inserat, wohl Schriftheimat nicht planmäßig unklar
10. Jh., 1. oder Merseburg, Dom2. Drittel stiftsbibliothek Cod. 136, fol. 85r
Tabelle 2 erfasst liturgische Handschriften, die keine Sacramentare sind. Auch hier wurden in zwei Fällen Beichten (Mainzer Beichte und Altbayerisches Gebet) aufgezeichnet. Diese beiden Handschriften repräsentieren mit ihrer Ausstattung ein bescheideneres Gebrauchsniveau. Auch nach ihren Inhalten scheinen sie eher für den privaten Frömmigkeitsgebrauch bestimmt, jedenfalls nicht für die offizielle Liturgie. Sehr merkwürdig sind die Einträge in der Merseburger Handschrift. Sie besteht aus fünf ursprünglich verschiedenen Handschriften. Das Fränkische Taufgelöbnis A gehört als planmäßiger Bestandteil zum Grundstock im ersten Teilband des Kodex‘ (9. Jh., 2. Viertel).17 Später, nach der Mitte des 9. Jahrhunderts, kam als planmäßige Randaufzeichnung das Gebetsbruchstück hinzu, wenig später als die Aufzeichnung des Trägertextes. Die Positionierung dieses Stückes in der Handschrift hat neuerdings mit aller kodikologischen Genauigkeit und liturgiewissenschaftlichen Kompetenz Mathias Henkel behandelt.18 Dem fünften, im 9. Jahrhunderts geschriebenen || 16 Für alle Einzelinformationen der Tabelle darf auf PadRep verwiesen werden. Zum Merseburger Gebetsbruchstück nun auch Henkel 2011. 17 Z.B. Bruchhold/Kössinger 2004, S. 94. 18 Henkel 2011.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 35
Faszikel des Kodex wurde nachträglich ein Blatt vorgebunden, das ursprünglich leer blieb und erst im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts zur Aufzeichnung der Merseburger Zaubersprüche genutzt wurde. Die Logik ihrer Platzierung ist nach wie vor umrätselt. Die Aufzeichnung von Texten des Typs Segen oder Zauberspruch in liturgischen Handschriften ist an sich gar nicht ungewöhnlich. 19 In diesem Fall, wo die Sprüche heidnische Gottheiten und Mythologeme beschwören, ist der Aufzeichnungsort aber doch auffallend. Vielleicht ist er von daher zu verstehen, dass die Merseburger Handschrift zu der Zeit, als die Sprüche in sie eingetragen wurden – lange nach ihrer ursprünglichen Entstehung – nicht mehr im offiziellen liturgischen Gebrauch verwendet wurde.20
5.2 Kanonistische Handschriften Tab. 321: Kanonistische Handschriften Buchtyp Dionysius, Canones
Text Sächsisches Taufgelöbnis St. Nr. 45
Art des Eintrags Provenienz Taufgelöbnis: primäres Fulda oder planmäßiges Inserat Mainz (St. Martin)
Indiculus superstitionum Wadstein Nr. 13
Indiculus: planmäßiger Nachtrag vom Hauptschreiber auf freiem Raum
Datierung Aufbewahrungsort 8. Jh., Rom, gegen Ende BAV Pal. Lat. 577 Taufgelöbnis: fol. 6v–7r Indiculus: fol. 7r–7v
Abbildung s. PadRep Dionysius, Canones
Exhortatio ad plebem christianam B St. Nr. 9
planmäßiges Inserat, Nachtrag vom Hauptschreiber, auf den letzten Blättern.
Freising, Domstift
Anfang 9. Jh., 805 fertiggestellt
München BSB clm 6244 fol. 144v–146r
bilingual: verso latein, recto deutsch Abbildung s. PadRep Dionysius, Canones
Exhortatio ad plebem christianam A St. Nr. 9
planmäßiges primäres Fulda, wahrschein- Kassel UB / LB Inserat Schrift aus lich 1.Viertel 4° Ms. theol. 24 dem Regens- des 9. Jh. burger Bereich bilingual, spaltig; Exhortatio eingeschaltet zwischen fol. 13v–15r die ‚Canones
|| 19 Dazu genauer Hellgardt 1997, S. 17–29. 20 Dazu Hellgardt 1997, S. 18–20. 21 Für alle Einzelinformationen der Tabelle darf auf PadRep verwiesen werden.
36 | Ernst Hellgardt Buchtyp
Text
Kasseler Glossen und Gespräche St/S. Nr. 932 Texte zum Adoptianismusstreit
Art des Eintrags Provenienz conciliorum‘ der Dionysio-Hadriana, einen ‚Ordo ad paenitentiam dandam‘ und ein Pönitentiale
Datierung
Aufbewahrungsort
Glossen und Gespräche fol.15r–17v
Abbildung s. PadRep
Fränkisches Gebet planmäßiges primäres Regensburg, St. Nr. 11 Inserat; aus der Vorla- St. Emmeram ge vom Hauptschreiber übernommenes Schlussgebet; zwischen zwei Kapitularien
821
München, BSB clm 14468, fol. 110r
9. Jh., 2. Viertel
Verdun, Bibliothèque publique Ms. 69, fol. 1v
bilingual (dt.>lat.) Abbildung s. PadRep Dionysius, Canones
Text aus dem Segensformel- / Zauberspruchbereich Literatur: s. PadRep
kanonistischpönitentiale Sammelhandschrift
nachträgliches nicht Moselregion planmäßiges Inserat, 3 Zeilen am unteren Rand des Blattes in dt.lat. Mischsprache Abbildung s. PadRep
Rheinfränkisches sekundär planmäßiges (Augsburger) Inserat auf ursprüngGebet lich freier erster Seite St. Nr. 18 bilingual
Augsburg, Dombibliothek, aus Lothringen
nach 880 München, BSB bzw. clm 3851, im Jahr 882 fol. 1r
Abbildung s. PadRep Dionysius, Canones
Contra vermes (Gang ut nesso) St. Nr. 67a
sekundäre Nachträge Mainz, auf der letzten Seite, dann Köln wohl nicht planmäßig
Spurihalz St. Nr. 65
Abbildung s. PadRep
kanonistische Klerikereid A SammelSt. Nr. 13 handschrift
planmäßiges Inserat, Freising, wohl Vorlage für Hs. B Domstift
Klerikereid B St. Nr. 13
planmäßig sekundärer Freising, Nachtrag auf freiem Domstift Raum, wohl Abschrift von Hs. A
Dionysius, Canones
Abbildung s. PadRep
Abbildung s. PadRep
9./10. Jh.
Wien, ÖNB Cod. 751, fol. 188v
10.Jh., 2. oder 3. Drittel
München, BSB clm 6241, fol. 100r
10. Jh., spät
München, BSB clm 27246, fol. 91vb
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 37
Während die liturgischen Handschriften in Tabelle 1 und 2 abgesehen von den Merseburger Zaubersprüchen nur althochdeutsche Texte überliefern, die im liturgischen Gebrauch Verwendung finden konnten (Beichten, Taufgelöbnisse, Gebete), bietet die Übersicht über die kanonistischen Handschriften in Tabelle 3 erwartungsgemäß ein vielfältigeres Bild. Auch hier kommen Texte aus dem liturgischen Bereich zur Aufzeichnung: das Sächsische Taufgelöbnis und zwei Gebete: das Fränkische (St. Nr. 11) und das Augsburger (Rheinfränkische) (St. Nr. 18). Die beiden bilingualen Gebete zeigen von Haus aus ein sehr nahes Verhältnis zur Liturgie. Das gilt vor allem für das Augsburger Gebet. Die ihm zugrunde liegende lateinische Fassung ist bereits im Sacramentarium Gregorianum (Nr. 201,12) und im 9. Jahrhundert in verschiedenen Sacramentaren bezeugt, und das Gebet ist noch heute im liturgischen Gebrauch.22 Im Horizont kanonistischen Schrifttums ist es hier an seinem kanonistischen Aufzeichnungsort aufgrund seiner Bußthematik ‚rekontextualisiert‘, wie Christine Stridde ausführt.23 Das belegt für den Bereich der Bußpraxis einmal mehr die Übergänglichkeit von Kanonistik und Liturgik. Für das unmittelbar an eine Abschrift der Admonitio generalis Karls des Großen angeschlossene Fränkische Gebet in Otfridversen argumentiert sie ähnlich,24 während Masser es weniger spezifisch an dieser Stelle als „passende Abschlussformel eines Schreibers, der seine Arbeit beendet hat“, versteht und annimmt, es sei das aus einer Vorlage übernommene Schreibergebet.25 Dieses Stück fällt im Besonderen auch dadurch auf, dass es anders als das Augsburger Gebet die ungewöhnliche Übersetzungsrichtung vom Deutschen zum Lateinischen ausdrücklich durch ein id est am Ende der deutschen bzw. vor der lateinischen Fassung angibt. Der Kodex BAV, Pal. lat 577 ist eine der wichtigsten Sammlungen kanonistischer Texte aus früher Zeit. Eine ausführliche Beschreibung und Charakterisierung der Handschrift mit erschöpfenden Analysen ihrer Inhalte und Besprechung der einschlägigen Forschungsgeschichte bietet Chiara Staiti. 26 Man hat die Handschrift gelegentlich als ein bischöfliches Visitationsbuch charakterisiert, das man sich vielleicht in der Hand des angelsächsischen Missionars und späteren Mainzer Erzbischofs Lul (780–786) vorstellen könne.27 Natürlich ist das Sächsische Taufgelöbnis als Text anzusehen, der in der Liturgie Verwendung finden konnte. Noch näherhin dürfte er im Gebrauch der angelsächsischen Festlandmission, insbesondere der Sachsenmission unter Karl dem Großen vorzustellen sein. Dafür spricht nicht nur seine altenglisch-altsächsische Sprachmischung, es sprechen dafür besonders seine || 22 Sacramentarium Gregorianum (1971/1979/1982); Masser 2013b, S. 255f. mit Verweis auf Jungmann 1962, S. 271–281. 23 Stridde 2011, S. 426–428. 24 Stridde 2011, S. 428, Anm. 29. 25 Masser 2013a, S. 86. 26 Staiti 2003. 27 Dazu Staiti 2003, S. 337 mit Bezug auf Machielsen 1961a, S. 506–511.
38 | Ernst Hellgardt Nennungen angelsächsisch-germanischer Gottheiten, denen der Bekehrte abschwören soll. Die Positionierung des Taufgelöbnisses in dieser kanonistischen Handschrift lässt sich gut als Stück verstehen, das – so stellt Machielsen es sich vor – ein Bischof wie Lul auf der Visitationsreise den Pfarreien seines Sprengels, insbesondere denjenigen des noch heidnischen oder erst frisch bekehrten Sachsens zum Gebrauch vermittelte oder das er als Missionar auch zur eigenen Verwendung zur Hand haben wollte.28 Dass es im Zusammenhang lateinischer Kanonistik hier in der Volkssprache aufgezeichnet werden musste, ergibt sich selbstverständlich daraus, dass seine Adressaten als illiterate Sprecher der Volkssprache zu denken sind. Der gleich an das Taufgelöbnis anschließende Indiculus superstitionum, das „Kleine Verzeichnis religiös-abergläubischer Bräuche“ ist nun ein kanonistischer Text im eigentlichen Sinne. Man hat ihn sogar geradezu als ein Kapitular bezeichnet,29 von dem vielleicht nur das Inhaltsverzeichnis erhalten ist, während seine einzelnen Kapitel nicht mit abgeschrieben wurden. Mit seiner Auflistung heidnischer, wenn auch nicht immer oder unbedingt germanisch- oder sächsischheidnischer Bräuche, die auszumerzen seien, steht der ‚Indiculus‘ ganz passend im Zusammenhang kanonistischer Rechtstexte. Seine wenigen volkssprachlichen Wörter sind als pagan-religiöse Fachtermini zu verstehen, die ins Lateinische nicht übersetzbar waren. Aus der Nachbarschaft des Indiculus mit dem ihm unmittelbar vorangehenden Taufgelöbnis ließe sich auch die Motivation für dessen Aufzeichnung speziell an dieser Stelle erschließen. Die Exhortatio ad plebem christianam, dieser pastoral-paränetische Text, den man auch als älteste deutsche Predigt bezeichnen kann, fügt sich mit ihrer Ermahnung an die Paten, ihren Patenkindern das Glaubensbekenntnis (wohl auf Deutsch und) auswendig beizubringen, ganz natürlich in ihre beiden kanonistischen Handschriften ein, wenn man etwa an einen Verwendungszweck des Stücks als Taufpredigt denkt, wie sie der Bischof auf der Visitationsreise den Pfarreien seines Sprengels als Muster mitgebracht haben könnte. In der Kasseler, aus Fulda stammenden, aber in Regensburg geschriebenen Handschrift steht die Exhortatio unmittelbar vor den Kasseler Glossen und Gesprächen, die als sprachliche Hilfe für einen romanischen Sprecher im Bayerland gedacht sind – mit den bekannten, bayerischlokalpatriotischen Stoßseufzern des Dolmetschers: Stulti sunt ... Romani. Sapienti sunt .. Paioari.
tole sint .. uualha, spahe sint .. peigira.
Dumme (Leute) sind ... die Welschen. Weise (Leute) sind .. die Bayern.30
|| 28 Die Kritik, die Bischoff 1971, S. 109–111 an Machielsens Thesen übt, betrifft paläographische, nicht die Fragen des Gebrauchs der Texte; vgl. dazu Machielsen 1961b und Machielsen 1962. 29 Machielsen 1962; Schmidt-Wiegand 1983, Sp. 376–378. 30 Nach St/S 3, S. 13.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 39
Der kanonistische Kontext, in dem das Glossen- und Gesprächsbüchlein hier steht, scheint auf einen italo-romanischen Kleriker zu verweisen, der im Bayerland unterwegs ist und kanonistisches Wissen anzuwenden hat. Den pragmatischen Ort des Klerikereids im kanonistischen Handeln des Freisinger Bischofs haben Heike Johanna Mierau und Stefan Esders für beide Handschriften des Textes – besonders auch hinsichtlich des Problems seiner Volkssprachigkeit – in aller Ausführlichkeit untersucht.31 Die eine der beiden Handschriften, den clm 27246, bezeichnet Günter Glauche aufgrund ihres Formats und ihrer Ausstattung dem Verwendungszweck nach geradezu als „Reisemessbuch im Taschenformat“ 32, wenn auch insofern ungenau, als es sich hier eigentlich nicht um ein Messbuch, sondern um eine Art Reise-Sendhandbuch im Sinne Reginos (s. o.) handelt. Ein paar Bemerkungen erübrigen zu den beiden Texten aus dem Segensformel/Zauberspruchbereich. Näher behandelt habe ich die Frage nach der Aufzeichnungstypologie der Sprüche Contra Vermes (St. 67 A) und Spurihalz (St. 65) in der Wiener Handschrift 751 anlässlich meiner überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung zu den deutschen Zaubersprüchen.33 Typische Aufzeichnungsorte für solche Texte sind normalerweise liturgisch-homiletische, medizinisch-pragmatische und Handschriften aus dem Bereich von Schule und Gelehrsamkeit,34 letztere mit Haeseli wohl besser zu bezeichnen als wissensvermittelnde oder wissenskompilierende Handschriften.35 Kanonistische, als solche aber nicht klar konturierte Handschriften als Aufzeichnungsort von Zauber- und Segensformeln habe ich unter 42 Stücken nur in vier Ausnahmefällen gefunden.36 Typisch scheint dann die nachträgliche marginale und zumindest in unseren beiden Fällen wohl nicht planmäßige Aufzeichnung zu sein.
5.3 Zum Fuldaer Sacramentar Vornehmster, wenn auch nicht ausschließlicher Überlieferungsort der deutschen Beichten sind Handschriften vom Typ des Sacramentars (s. Tab. 1).37 Eine besondere Rolle spielt hier das Fuldaer Sacramentar, das gemäß mittelalterlicher Bibliotheksheimat aus verschiedenen – wohl stets bischöflichen – Orten in mindestens sechs || 31 Esders/Mierau 2000. 32 Glauche 2011, S. 316. 33 Hellgardt 1997, S. 46–47. 34 Hellgardt 1997, S. 17. 35 Haeseli 2011, S. 63 und öfter. 36 Hellgardt 1997, S. 46; außer Contra vermes und Spurihalz noch die viel späteren Stücke des Münchener Wurmsegens (bald nach 1290) im clm 8023 und des Millstätter Blutsegens (12. Jh., früh) im Cod. 1705 der ÖNB, Wien. Zu diesen beiden Hellgardt 1997, S. 14 (Nr. 19) und S. 16 (Nr. 39) sowie im Einzelnen S. 47f. 37 Bischoff 1971, S. 103; zu den anderen, typischen Überlieferungsverbünden Hellgardt 2003.
40 | Ernst Hellgardt Fuldaer Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts erhalten ist.38 Man hat die Handschriften in Fulda offenbar auf Bestellung bischöflicher Zentren produziert. In zwei dieser Exemplare ist die althochdeutsche Fuldaer Beichte (St. Nr. 48, Handschrift A und C) eingetragen. Nur diese beiden Handschriften des Fuldaer Sacramentars enthalten Texte zum Bußritual.39 Der Textzeuge A steht in einer kostbaren, heute in Göttingen aufbewahrten, reich und prächtig bebilderten Prachthandschrift.40 Datiert wird sie auf ca. 975,41 und sie darf als das Original des Fuldaer Sacramentars angesprochen werden.42 Einst war es im Besitz von Matthias Flacius Illyricus, der es in Fulda aufgefunden haben wird.43 Aus ihm übernahm Flacius die Beichte in seine 1571 herausgebrachte editio princeps von Otfrids Evangelienbuch, wo sie zum ersten Mal gedruckt und auch interlinear mit einer frühneuhochdeutschen Übersetzung versehen ist.44 Handschrift C der Fuldaer Beichte ist der Vaticanus latinus 3548 der Biblioteca Apostolica Vaticana. Auch er, datiert auf das erste oder zweite Viertel des 11. Jahrhunderts, ist als Prachthandschrift konzipiert.45 Die mittelalterliche Bibliotheksheimat ist unbekannt.46 Schließlich enthalten noch Christoph Brouwers Fvldensivm Antiqvitatvm Libri IIII, gedruckt im Jahre 1612 zu Antwerpen, als späten Textzeugen B die Fuldaer Beichte. Brouwer war von 1601–1613 Rektor des Jesuitenkollegs in Fulda. Vorlage war hier wieder eine inzwischen verlorene Fuldaer Handschrift, die Brouwer in „Fuldensis ecclesiae monumentis“ gefunden hat.47 Die Annahme liegt nahe, dass auch diese Handschrift ein Fuldaer Exemplar des Fuldaer Sacramentars war. In beiden Handschriften, welche die deutsche Beichte überliefern, in der Göttinger und in der Vaticanischen, steht das Stück im Rahmen eines Ordo ad dandam paeni-
|| 38 Richter/Schönfelder 1912, S. X–XIV; vgl. Hamilton 2001, S. 137, Anm. 3. Palazzo 1994, S. 4–9 (zu Paläographie und Datierung); vgl. zu den einzelnen Handschriften des Sacramentars auch die einschlägigen kodikologischen, bibliotheksgeschichtlichen, paläographischen, liturgie- und ikonographiegeschichtlichen Analysen und Bibliographien des Katalogs bei Palazzo 1994, S. 183–231. – Zu den mittelalterlichen Bibliotheksheimaten der einzelnen Exemplare des Fuldaer Sacramentars, die anscheinend stets bischöflichen Bibliotheken angehört haben (u. a. Hamburg/Bremen, Bamberg, Würzburg) s. Hamilton 2001, S. 138, Anm. 8. 39 Hamilton 2001, S. 137. 40 Ausführliche Katalogbeschreibung: Die Handschriften in Göttingen 1893, S. 440–442; ferner Palazzo 1994, S. 187–192. Edition: Richter/Schönfelder 1912. 41 Richter/Schönfelder 1912, S. X. 42 Hamilton 2001, S. 138; Palazzo 1994, S. 136. 43 Hartmann 2001, S. 222; zur weiteren Geschichte der Handschrift Palazzo 1994, S. 188. 44 Hellgardt 1992, S. 268; Bruchhold/Kössinger 2004, S. 93–95. 45 Richter/Schönfelder 1912, S. XII–XIII; Palazzo 1994, S. 199–203. 46 Hamilton 2001, S. 138, Anm. 8 vermutet, dass die Handschrift (mindestens) bis ca. 1049 in Fulda blieb. 47 Steinmeyer 1916/1963, S. 329; Brouwer 1612, S. 158f.; zu Brouwer s. Ries 1955.
Althochdeutsche Texte in liturgischen und kanonistischen Handschriften (8.–12. Jh.) | 41
tentiam. Um die Position der Beichte im gesamten Sacramentar zu bezeichnen, beschreibe ich das näher am Beispiel der Göttinger Handschrift. 48 Der erste Hauptteil des Sacramentars verzeichnet hier, aufgereiht nach dem liturgischen Kalender von Weihnachten bis zum vierten Advent die Texte, die an den jeweiligen Wochen- und Festtagen in die Feier der Messe aufgenommen werden sollen oder können (Nr. 3–300). Auch die Texte, die während dieser kalendarischen Zeitspanne in die Messfeiern an den Tagen der Heiligen aufzunehmen sind, werden hier mit erfasst. Man spricht von einer Vermischung des Temporale und des Sanctorale.49 In diese Feiertagsserie des liturgischen Jahreszyklus sind für den Aschermittwoch zwei Bußordines eingereiht: ein sehr ausführlicher Ritus für die jährliche paenitentia privata seu annualis (Nr. 55)50 und gleich anschließend ein kurz gehaltener für die paenitentia publica, der nur die Abweichungen vom voranstehenden Ordo verzeichnet (Nr. 56). Bestandteil beider Ordines, von denen nur der erste dramaturgisch breit ausgestaltet ist, sind (kurz zusammengefasst) zum einen vorbereitende Fragen des Priesters zur Beichtwürdigkeit des Pönitenten, zum andern ein Katalog von Fragen des Priesters, welche Sünden der Pönitent bekennt. Danach ist die Leerstelle für die eigentliche, hier nicht ausformulierte Beichte vorgesehen: „suscipias eius confessionem […] confiteatur omnia peccata sua quae recordari potest“ („nimm seine Beichte ab […] er soll all seine Sünden bekennen, derer er sich erinnern kann“) und zum dritten schließlich folgt ein sehr knappes, lateinisches Allgemeinbekenntnis des Pönitenten, das mit seiner Bitte um Rat und Fürbitte des Zelebranten endigt. Nach festgelegten Devotionsbezeugungen des Pönitenten erlegt ihm der Priester nun die angemessenen Bußleistungen auf. Der Ablauf des Ritus stellt sich bis zu diesem Punkt also so dar: – vorbereitende Fragen – Sündenerfragung – Leerstelle für die (volkssprachige) Beichte – kurzes, lateinisches Allgemeinbekenntnis – Auferlegung der Bußleistung Im Anschluss an diesen Teil des Rituals, der offenbar an einem Ort außerhalb der Kirche zu denken ist, erhebt sich der Priester von seinem Sitz und beide, Priester und Pönitent, begeben sich in die Kirche. Dort kommt das Ritual des Ordo nach umfangreichen Gebetsleistungen, einem Offizium, einer Antiphon und einer ab|| 48 Eine vergleichende Betrachtung der übrigen Handschriften des Fuldaer Sacramentars, besonders des Vaticanischen Exemplars wäre nötig (vgl. o., Anm. 5). Zu den Bußordines der Fuldaer Sacramentare im Besonderen s. Hamilton 2001, S. 138–144 (Ordo A), S. 144 (Ordo B) und S. 144–145 (Ordo C nach der jetzt vaticanischen Handschrift des Sacramentars). 49 Hierzu Palazzo 1994, S. 124–131. 50 Ordo A bei Hamilton 2001, S. 138–144.
42 | Ernst Hellgardt schließenden Messe ans Ende. Dieser Bußordo für Aschermittwoch ist nur der erste Teil des Bußvollzugs. Er dient nur der Vorbereitung auf die Rekonziliation des Büßers am Gründonnerstag. Entsprechend ist an späterer Stelle des Sacramentars für den Gründonnerstag (Nr. 101) ein ausführlicher Ordo für die Rekonziliation des Büßers vorgesehen, in dem die Beichte natürlich keine Rolle spielt. Soviel zum ersten, hier nur sehr knapp referierten Teil des Sacramentars nach der Göttinger Handschrift. Der zweite Hauptteil umfasst dann die in die Messfeier aufzunehmenden Texte für Votivmessen, wie sie zum einen zu Ehren der Trinität, des Heiligen Geistes und verschiedener Heiliger, zum andern für verschiedene Personen und Personengruppen sowie aus den unterschiedlichsten Anlässen gefeiert werden (Nr. 301–435). Es folgt nun in einem iunctura genannten umfangreichen Anhang eine Reihe von Texten, die sich auf Votivmessen zum Gedächtnis Verstorbener unterschiedlichen Standes und Ranges und bei unterschiedlichen Anlässen dieses Zusammenhangs beziehen (Nr. 439–466). Den Schluss dieser Gruppe bilden Texte für Votivmessen bei Taufe, Hochzeit und Reinigungsriten (Nr. 467–477). All diese Texte werden also nicht kalendarisch bestimmten Tagen im Ablauf des liturgischen Jahres zugeordnet, sondern bestimmten Anlässen, wie sie sich für die Messfeier jederzeit ergeben können. Vorgeschaltet vor die Reihe der Votivmessen für Verstorbene steht nun wieder ein Ordo ad dandam penitentiam more solito (Nr. 437). Zwar ordnet ihn die Rubrik in Übereinstimmung mit dem Zusatz more solito der Feria IIII. infra Quinquagesimam zu, dem Aschermittwoch also, doch dürfte das darauf zurückzuführen sein, dass er an diese Stelle des Sacramentars mitsamt seiner hier eigentlich nicht passenden Rubrik aus einer Vorlage kopiert wurde, in der er im kalendarischen Zusammenhang stand. In diesen Bußordo ist nun der deutsche Text der Fuldaer Beichte inseriert (S. 281–284). Gerahmt aber ist der Ordo selbst durch zwei Stücke: Vor ihm steht ein Bitt- und Fürbittgebet des Priesters, mit dem er sich für einen Krankenbesuch vorbereitet (Nr. 436), und nach dem Bußordo folgt ein Ordo zur Krankenölung (Nr. 438). In diesem Kontext wird also deutlich: Das Sacramentar stellt den Bußordo samt seiner deutschen Beichte hier für die Verwendung bei der Seelsorge für Kranke und Sterbende zur Verfügung. Der Ritus des Bußordos entspricht, wie schon die Rubrik erwarten lässt, demjenigen des ausführlichen Aschermittwoch-Ordos im ersten Teil des Sacramentars bis zum Allgemeinbekenntnis ziemlich genau: – vorbereitende Fragen – Leerstelle für die (volkssprachige) Beichte – kurzes, lateinisches Allgemeinbekenntnis Insbesondere die Leerstelle zur Ablegung des Beichtbekenntnisses nach den Vorbereitungsfragen des Priesters und vor dem Allgemeinbekenntnis ist in der Textfolge am analogen Ort vorgesehen. Für die persönliche Beichte und das Allgemeinbekenntnis ist ausdrücklich vorgesehen, dass der Konfitent sie selbst spricht: „Sacerdos inquirat eum diligenter et faciat eum confiteri delicta sua [sc. das (ausgesparte)
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persönliche Bekenntnis]. Et tunc demum faciat ei [Schreibfehler für eum wie o.] dicere: Multa sunt domine peccata mea […] [sc. das Allgemeinbekenntnis].“ „Der Priester soll ihn sorgfältig befragen und ihn veranlassen, seine Vergehen zu bekennen … Und dann schließlich lasse er ihn sagen: ‚Zahlreich sind, Herr, meine Sünden […]‘.“Aber nun folgt auf das Allgemeinbekenntnis erst auf neuer Seite (fol. 187) unter einer bildlich dargestellten Beichtszene die – deutsche Fuldaer Beichte, die man im Parallellauf zum Bußordo im ersten Teil des Sacramentars nicht hier, sondern schon vorher als Auffüllung der Leerstelle für die volkssprachige Beichte vor dem Allgemeinbekenntnis erwarten würde. Im entsprechenden Ordo der vaticanischen Handschrift ist diese ‚richtige‘ Reihenfolge eingehalten.51 Während zuvor aber auf das Allgemeinbekenntnis die Zumessung der Bußleistung und die Riten des anschließenden Kirchgangs vorgesehen sind, folgt hier auf fol. 186v nun erst nach der Aufforderung zur (ausgesparten) persönlichen Beichte und nach dem daran anschließenden Allgemeinbekenntnis auf der folgenden Seite fol. 187r oben zunächst die bildliche Darstellung einer Beichtszene und dann unter der Rubrik Incipit confessio auf derselben Seite der deutsche Text der Fuldaer Beichte, den man eigentlich an der Leerstelle zwischen den Vorbereitungsfragen und dem Allgemeinbekenntnis erwarten würde. Der Grund für diese Verschiebung wird darin liegen, dass auf der vorherigen Seite das Bild und der deutsche Beichttext an der Stelle, zu der beides gehört, nicht mehr unterzubringen gewesen wäre. Irritierend ist, dass der deutsche Beichttext nach Anweisung des Ordo nicht vom Konfitenten selbst, sondern vom Priester gesprochen werden soll. Man hat das so zu deuten versucht, dass mit der Rezitation des deutschen Beichttextes durch den Priester für den Konfitenten dieser nun, nachdem er bereits persönlich gebeichtet hat, noch zusätzlich an Vergehen erinnert werden soll, deren Bekenntnis er in seiner persönlichen Beichte vielleicht vergessen hat. Das kann aber kaum überzeugen, denn der deutsche Beichttext zählt fast alle nur denkbaren Vergehen auf, darunter ein so schweres wie Mord, von dem man nicht leicht annehmen wird, dass der Beichtende es vergessen hätte. Im Anschluss an den deutschen Beichttext und nach der Formel „Post confessionem dicatque sacerdos […]“ ist dann im Ordo an dieser Stelle des Sacramentars kein Ortswechsel von Priester und Konfitent vorgesehen und keine weiteren Riten im Kirchengebäude, sondern nur noch Besegnungen des Pönitenten durch den Priester, unter ihnen die Ablassformel: „Indulgeat tibi dominus omnia peccata tua praeterita praesentia et futura.“ Der Ordo schließt also mit der Rekonziliation des Kranken bzw. Sterbenden. Er ist – im Widerspruch zu der Rubrik des Stückes – hier also nicht verstanden als kalendarische Eröffnung des Bußvollzugs am || 51 Vgl. die Ausführungen von Hamilton 2001, S. 144–145 zu diesem bei ihr Ordo C genannten Stück.
44 | Ernst Hellgardt Aschermittwoch mit dem Ziel der Rekonziliation am Gründonnerstag, das für den Kranken wohl als nicht mehr erreichbar angesehen ist. Auf die mit den Riten zu Besuch und Bußerteilung eines Kranken/Sterbenden eröffnete iunctura zu den Votivmessen folgt im Fuldaer Sacramentar schließlich noch eine lange Reihe von Benediktionen (Nr. 478–512) und noch einmal eine Serie von Votivmessen für besondere Anlässe (Nr. 513–530). Ein frühmittelalterlicher Kleriker, der in dem umfangreichen Werk des Fuldaer Sacramentars A die deutsche Beichte für den regulären und normalen Beichttermin – more solito – am Aschermittwoch finden wollte, musste als Praktiker im Umgang mit Handschriften des Sacramentars schon über eine beträchtliche Versiertheit verfügen, um den Text an seiner atypischen Aufzeichnungsstelle aufzuspüren und seine im Kontext des Ordo ad dandam paenitentiam wegen des Bildes verschobene Platzierung im Gebrauch des Ordo zu verstehen. Die an dieser Stelle im Fuldaer Sacramentar A systematisch überhaupt unpassende, auf den Aschermittwoch bezogene Rubrik ist aber ein Indiz dafür, dass das Stück auf einer Vorlagenstufe am systematisch ‚richtigen‘ Platz im kalendarischen Hauptteil des Sacramentars gestanden hat. Damit sei an die einführenden Bemerkungen diese Beitrags angeknüpft.
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Stephanie Seidl
In-Eins-Setzungen Zur Ästhetik und Funktionalität von Bamberger Glaube und Beichte
1 Literaturgeschichtliche Verortung Die Sammelhandschrift Clm 4460 enthält in ihrem zweiten, ursprünglich selbstständig überlieferten Faszikel einen Text, den die Forschung als „Kunstgebilde mit ästhetischem Anspruch“ charakterisiert1 und dem sie „ungewöhnliche sprachschöpferische Kraft“2 sowie eine „hohe literarische Qualität“3 zugesprochen hat. Diese euphorischen Würdigungen verwundern durchaus, gelten sie doch nicht Gottfrieds Tristan oder Konrads Goldener Schmiede, sondern einem frühmittelalterlichen Textensemble bestehend aus einer Credoübersetzung und einem Beichtformular, das nach dem früheren Aufenthaltsort der Handschrift Bamberger Glaube und Beichte genannt wird.4 Der gegen Ende des 11. oder am Anfang des 12. Jahrhunderts entstandene Text5 reiht sich in eine bereits 300 Jahre währende Tradition volkssprachiger Übertragungen von Grundlagentexten des Christentums ein, die in engem Zusammenhang mit der karolingischen Bildungs- und Kulturpolitik stehen. Die in der admonitio generalis formulierte Aufforderung an die Geistlichen, die für die Seelsorge besonders relevanten (lateinischen) Texte (Gebete, Taufgelöbnisse, Beichtformeln) nicht nur korrekt wiederzugeben, sondern auch im richtigen Wortlaut an die Laien zu vermitteln, hatte zugleich die ersten Übersetzungen dieser Texte in die deutsche Volkssprache befördert. Denn es lag in der „Logik der Entwicklung, daß die Forderung nach Verständnis (intellegere) der christlichen Hauptstücke im Bereich der theodisken gentes auch zu volkssprachigen Formen führte.“6 Die dabei || 1 Vollmann-Profe 1986, S. 62. 2 McLintock 1978, S. 596. Eine Auflistung dieser und weiterer Beurteilungen der Qualität des Textes bei Diehl 2011, S. 348. 3 Pörnbacher 1969, S. 100. 4 Ein ins 15. Jh. zu datierender Eintrag auf fol. 1r (Conv. Bamb. Ord. Pred.) belegt, dass der Kodex zu dieser Zeit im Bamberger Dominikanerkloster aufbewahrt wurde; dort können jedoch zumindest die ersten beiden Teile der Handschrift, die ins 11. bzw. beginnende 12. Jh. datiert werden, nicht entstanden sein, da der Konvent erst zu Beginn des 14. Jh.s gegründet wurde (vgl. dazu Petzet & Glauning 1911, Tafel XVII sowie die Angaben des Paderborner Repertoriums unter http://www.paderborner-repertorium.de/14572 [letzter Zugriff am 23.04.2014]). 5 Diehl 2011, S. 347 vermutet: „wahrscheinlich zum Ende des 11. Jahrhunderts entstanden“, Bruchhold 2010, S. 46 dagegen geht vom „12. Jahrhundert“ aus. 6 Haubrichs 1988, S. 280.
48 | Stephanie Seidl entstehenden Übersetzungen christlicher Basistexte scheinen in ihren unterschiedlichen Gebrauchskontexten dem gleichen Ziel, der seelsorgerischen Unterweisung, gedient zu haben: Sie hinterlassen […] den Eindruck, daß sie samt und sonders für die Schule, für die Priesterausbildung und als Unterlagen der seelsorgerischen Praxis entworfen wurden. Lerntexte für den Gebrauch der Gläubigen scheinen nicht erhalten.7
Aus diesem Kontext deutscher religiöser Gebrauchstexte interessieren im Folgenden zwei kleinere Textformen, Beichtformular und Glaubensbekenntnis, die im Laufe der Entwicklung des frühmittelalterlichen Bußwesens in einen engen Zusammenhang rücken: Die sich nun durchsetzende sog. Privatbeichte8 wird „zu einem komplexen Ritus [werden], in dem Befragung, Bekenntnis und Absolution eingebettet sind in Gebete des Priesters, […] [gefolgt oder auch vorbereitet] schließlich auch von der Rezitation des Credo durch den Gläubigen.“ 9 Wie das kanonische Bußritual kann auch die Privatbeichte öffentlich und kollektiv im Rahmen der liturgischen Messfeier (etwa am Aschermittwoch) stattfinden – ‚privat‘ „meint für die[se] Form der Buße, also auch der Beichte, [somit] in erster Hinsicht nicht den Gegensatz zu ‚öffentlich‘, sondern den zu ‚kanonisch‘“.10 Der das Bußritual regelnde ordo enthält dabei bereits ab dem Frühmittelalter anstelle von oder zusammen mit lateinischen Formeln auch volkssprachige Textbestandteile.11 Die handschriftlichen Überlieferungskontexte der deutschen Beichten des 9. bis 12. Jahrhunderts, die Hellgardt umfassend untersucht hat, bestätigen das direkte Zusammenspiel lateinischer und volkssprachiger Textelemente in den frühmittelalterlichen Beichtriten: Den prominentesten Überlieferungstyp stellen lateinische liturgische Handschriften, etwa Sakramentare, dar, in die die deutschen Beichttexte (zumeist planmäßig) eingetragen worden sind.12 Für einen Untertypus dieses liturgischen Überlieferungsmodus lässt sich die Einbindung der deutschen Beichttexte in die Liturgie wie auch ihre Verbindung mit dem Glaubensbekenntnis sogar näher konkretisieren: Einige Predigthandschriften kombinieren Credo und Beichttext im
|| 7 Haubrichs 1988, S. 293. 8 Die Privatbeichte ergänzt die kanonische Buße (paenitentia publica), die durch Konzilsbeschlüsse geregelt war und normalerweise nur einmal im Leben eines Gläubigen vor dem Bischof abgelegt werden konnte. Beeinflusst wurde die Herausbildung der Privatbeichte wohl durch die auf Wiederholbarkeit ausgelegten Beicht- und Bußpraxen der Mönchsgemeinschaften, die auf die Laiengesellschaften übertragen wurden. Vgl. zu den frühmittelalterlichen Veränderungen im Bereich der Bußpraxis Hellgardt 2003, S. 65‒72, außerdem Pörnbacher 1969, S. 102, Haubrichs 1988, S. 300f., Bruchhold 2010, S. 19‒24. 9 Haubrichs 1988, S. 302. 10 Hellgardt 2003, S. 69. 11 Vgl. dazu Schulze 1997, Hellgardt 2003, S. 68f., Bruchhold 2010, S. 21. 12 Hellgardt 2003, S. 76‒80.
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Rahmen des ordo sermonis;13 dabei können Glaubensbekenntnis und Beichte als rein deutschsprachiges, planmäßiges Textensemble angelegt sein, 14 aber auch komplexere Verbindungen mit der lateinischen Tradition eingehen: Im Fall von St. Galler Glaube und Beichte 2 folgt das volkssprachige Credo auf eine lateinische, nachträglich mit einer deutschen Interlinearversion angereicherte Beichtpredigt, das althochdeutsche Glaubensbekenntnis wird zusätzlich durch eine kurze deutsche Beichtformel abgeschlossen.15 Der Status der deutschen Credo- und Beichttexte ist, gerade da jeder Text hinsichtlich seiner Einbindung in die lateinischen Kontexte zu untersuchen bliebe, ein spannungsvoller: Die Verbindung von Glaubens- und Schuldbekenntnis bewirkt nämlich eine Nachahmung des Tauf- bzw. des sakramentalen Beichtritus, ohne freilich die Würde und Verbindlichkeit der beiden Sakramente zu erreichen. Aus dieser Zwischenstellung […] erklärt sich auch die Textgestalt der hierher gehörenden Denkmäler: Sie sind offener für Varianten als die eigentliche Liturgie […], aber doch in Aufbau und Formelgut so eng miteinander verwandt […], dass man sie in ihrer Mehrzahl als rituelle Gebrauchstexte bezeichnen muss.16
Als solche ‚Gebrauchstexte‘ sind sie literaturgeschichtlich jedoch nicht weniger bedeutsam: Sie machen gerade auf Prozesse aufmerksam, die bezeichnend sind für einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel, der sich um die Mitte des 11. Jahrhunderts vollzieht und der das Verhältnis des Einzelnen zu Gott wie auch zur Gesellschaft neu austariert.17 Eine „allgemein feststellbare[] Tendenz der Verinnerlichung“18 manifestiert sich in den mit dem Beichtritus verbundenen Textsorten gerade in besonderem Maße: Finden sich in den frühen Texten vermehrt Bestrebungen, die Schuldhaftigkeit des Einzelnen zu objektivieren, etwa indem eine Vergleichbarkeit von Vergehen und Sühneleistung anhand von Bußkatalogen geschaffen wird,19 zeigt sich ab dem 11. Jahrhundert eine beinahe gegenläufige Entwicklung: „Der Schwerpunkt [des] privaten Bußverfahrens, der zunächst deutlich auf der äußeren Satisfaktionsleistung lag, verschob sich nach der Jahrtausend|| 13 Hellgardt 2003, S. 82‒87. 14 Dies ist beispielweise der Fall bei den Handschriften Wien, ÖNB Hs. 2681 (Wessobrunner Glauben und Beichte 1), St. Gallen, Stiftsbibliothek Hs. 338 (St. Galler Glauben und Beichte 3) oder München, BSB Cgm 39 (Benediktbeurer Glauben und Beichte 3), vgl. dazu den Überblick bei Hellgardt 2003, S. 83‒85. 15 Vgl. dazu Sonderegger 1980, Sp. 1040. 16 Vollmann-Profe 1986, S. 57. 17 Die Zeit „um und nach 1050 [erweist sich] als eine Epochengrenze, wobei die neue Epoche schlagwortartig als ‚Erwachen zum Selbst‘ charakterisiert werden könnte: Erfahrung des Selbst als differenzierten Teils des Ganzen, Erfahrung der Fähigkeit zu eigenem Urteil, eigenem Handeln, eigener Freiheit und damit auch zur Distanzierung von dem, was bisher unbezweifelt und unangefochten gegolten hatte“, so etwa Vollmann-Profe 1986, S. 20. 18 Bruchhold 2010, S. 20. 19 S. dazu den kurzen Überblick bei Bruchhold 2010, S. 20.
50 | Stephanie Seidl wende hin zum Sündenbekenntnis und der ihm zugrunde liegenden Reue des Beichtenden“.20 Diese Verschiebung hin zu einer ‚Verinnerlichung‘ der eigenen Erlösungsbedürftigkeit spiegelt sich auch in der Gattungsgeschichte der deutschen Literatur: Die neu entstehenden deutschsprachigen Sündenklagen, die an die Thematik und teilweise auch an die Struktur der Beichten anschließen, reflektieren als „Untertypus lyrischer Produktion“21 die generelle Sündhaftigkeit des Menschen, ohne, wie die Beichttexte im engeren Sinne, an formale Stereotypen und inhaltliche Vorgaben gebunden zu sein.22 Der komplexe Aufbau wie die rhetorische und poetische Ausschmückung dieser deutschen Sündenklagen macht eine Verwendung im Rahmen der liturgischen Messfeier unwahrscheinlich, als „religiöse[] Dichtung[en]“23 sind sie vielmehr Erbauungstexte für ein religiös wie literarisch interessiertes Publikum. Exemplarisch zeigt sich bereits anhand dieses kurzen literaturgeschichtlichen Überblicks über die frühmittelalterlichen Beichttexte und Sündenklagen, dass sich das Verhältnis von Liturgie und Literatur24 nicht als Dichotomie beschreiben lässt, sondern dass es vielmehr als Skala zu denken ist, zwischen deren Polen ‚liturgischer Gebrauchstext‘ einerseits und „Kunstgebilde mit ästhetischem Anspruch“25 andererseits jeder Einzeltext neu zu verorten bleibt. Dass diese Skala für die frühmittelalterlichen Texte indes nicht schon als deckungsgleich gedacht werden darf mit jener von ‚Funktionalität‘ einerseits, ‚Autonomisierungstendenzen‘ andererseits, will ich nun anhand von Bamberger Glaube und Beichte näher ausführen.
2 Altes und Neues Ich beginne mit dem zweiten Teil des Textensembles, der Bamberger Beichte, deren Anfang und Schluss von Bittgebeten markiert werden, deren Zentrum jedoch aus einem sogenannten Sündenkatalog26 besteht. Sündenkataloge finden sich bereits in den karolingischen Beichtformularen, auch hier sind sie meist gerahmt von Reuebekenntnissen und Absolutionsbitten. Es handelt sich insgesamt um stereotype Formeln, die an die entsprechenden Verwendungskontexte angepasst werden konnten: „Von Kasuistik und Streben nach Vollständigkeit geprägt, registrierte [der Sün|| 20 Bruchhold 2010, S. 20, vgl. dazu auch Pörnbacher 1969, S. 104‒106. 21 Vollmann-Profe 1986, S. 56. 22 Vgl. zur Gattungsausbildung der Sündenklage Vollmann-Profe 1986, S. 56‒60. 23 Vollmann-Profe 1986, S. 58. 24 Gemeint ist hier ein engerer Literaturbegriff, der sich auf Redeformen bezieht, die sich, etwa durch ihre sprachliche oder formale Gestaltung oder durch ihren Geltungsanspruch, deutlich von Alltagskommunikation unterscheiden. 25 Vgl. Anm. 1. 26 Für die früheren Texte mit Sündenkatalogen vgl. Haubrichs 1988, S. 303.
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denkatalog] – oft in wahren Kaskaden von Begriffen – Tat-, Wort- und Unterlassungssünden“.27 Die Bamberger Beichte übernimmt den formelhaften Aufbau früherer Beichttexte, geht im Umfang der Sündenaufzählung jedoch weit über diese hinaus. Anstelle der üblichen sieben oder acht sind es nun neun Hauptsünden,28 die den pura confessio genannten zweiten Teil des Textes gliedern. An ubermuote (117‒132)29 und ùppigiu guotlichi (133‒141) schließen sich nîd (142‒148), sunthaftiu ûnfroude (149‒152), trâgheit (153-59) und zôrn (160‒168) an, die von scazgîrida (169‒185), gîtigi ùberézzines (186‒198) und schließlich aller slahte huor (199‒209) komplettiert werden. Somit strukturiert sich der Beichtteil in diesem und längsten Abschnitt entlang der Hauptsünden superbia (Hochmut), vana gloria (Prahlerei), invidia (Neid), tristitia (Trauer), acedia (Trägheit), ira (Zorn), avaritia (Habgier), ventris gluvies (Gefräßigkeit) und luxuria (Wolllust).30 Jede der Kategorien ist sodann mit einer Vielzahl von thematisch zugehörigen Sünden und Verfehlungen aufgefüllt, deren Auflistung auf größtmögliche Vollständigkeit abzielt. Wortneuschöpfungen dienen dazu, sämtliche vorstellbaren Sünden einer bestimmten Kategorie auch benennbar zu machen.31 Ich zitiere als Beispiel die vorletzte der aufgeführten Hauptsünden, die Völlerei: Ich bin sculdig in gîtigi uberézzines, úbirtrinchinnis, in ungivágide, in unginuhte, in unsubrigheite, in unmezzigheite und an úberwônide aller wunneluste und áller der wolon des gilústigan joh des gírigan lîchamen, in wirtscheften, in vehelîcher satiheite, in scántlîcher spiungo der girigûn ubervulli, in aller slahte geilisungo unde wolelîbe und in werltwûnne und in áller slahte unrehter vroude, in huohe, in spotte, in állen úngibâriden, in unzuhte, in virchrônide, in lúgiságilon, in lúgispéllen, in huorlieden, in állen scántsângen, in hônreden mánigen, in uppispîlen, in wunnespîlen, in tumbchosen, in jagides lússami, in áller wérltminno unde mîn selbes, in gotis hazze und an siner widerhori, in allen mînen sinnen, an mînemo gisune, an mîner gihôride, in mînemo stánche, in mînemo smácche, in mîner bruoride, an der unbiháltini heiliger vastun unde kiuscer mézhafti unde bin dâ mite scúldig áller wérltlichi. (186‒198) („Ich habe gesündigt in der Überfülle des Überessens, Übertrinkens, in der Unersättlichkeit, in der Überfülle, in der Unsauberkeit, in der Unmäßigkeit und in der übermäßigen Pflege aller Wonnelust und alles Wohlbehagens des lustvollen und gierigen Leibes, in Gelagen, in viehischer Sättigung, in schändlichem Ausspeien der gierigen Überfülle, in aller Art von Üppigkeit und Wohlleben und in der Weltlust und in aller Art unrechter Freude, in Hohn- und Spottreden, in allem Überdruss, in der Unanständigkeit, in der Geschwätzigkeit, im Erzählen von Lü-
|| 27 Haubrichs 1988, S. 303. 28 McLintock 1978, Sp. 594. 29 Alle Zitate aus Bamberger Glaube und Beichte nach Mühlenhoff & Scherer 1892, S. 298‒307. 30 Vgl. dazu Bruchhold 2010, S. 46 mit Anm. 36, McLintock 1978, Sp. 594. Zur Entwicklung der Hauptlasterlehre vgl. die Zusammenfassung in Pörnbacher 1969, S. 109. 31 Es finden sich mehr als 50 Negationsbildungen, die die Nichteinhaltung von Tugenden bzw. das Fehlen von positiven Eigenschaften benennen (z.B. Z. 133 undeumuoti, „Undemut“), vgl. dazu Diehl 2011, S. 354, Anm. 39.
52 | Stephanie Seidl gen und Märchen, in Buhlliedern und Schandgesängen, in manchen Hohnreden, in übermütigen Spielereien, in Wonnespielen, in dummem Gerede, in der Lust am Jagen, in der Liebe zur Welt und mir selbst, in Gotteshass und in Ungehorsam an ihm, mit allen meinen Sinnen, mit meinem Sehsinn, mit meinem Hörsinn, mit meinem Geruchssinn, mit meinem Geschmackssinn, mit meinem Tastsinn, in der Nichteinhaltung des heiligen Fastens und der keuschen Mäßigung und deshalb bin ich schuldig an aller Weltlichkeit.“)32
Dieser kurze Textausschnitt kann bereits verdeutlichen, was für die pura confessio im Ganzen zutrifft: Der Beichtkatalog überbietet andere Vertreter dieser Textsorte zwar an Detailreichtum und in der Anzahl der aufgeführten Laster, steht jedoch dennoch klar in der Tradition der frühmittelalterlichen Beichttexte, in welchen Tendenzen zur möglichst vollständigen Auflistung denkbarer Sünden durchaus auch schon manifest werden (beispielsweise in der Lorscher Beichte33 vom Ende des 9. Jahrhunderts). Der erste Teil des Textensembles, der Bamberger Glaube, setzt sich dagegen eindrucksvoll von anderen Credoübersetzungen des Frühmittelalters ab. Die Vera Fides beginnt durchaus traditionell mit einer Abschwörungs- und Demutsformel und einer Bitte um göttlichen Beistand: nu hilf aber, du vile gnâdiger hêrre, al mîn ungloube („Nun aber hilf mir, Du äußerst gnadenreicher Herr, im Kampf gegen all meinen Unglauben“, 4f.). Im folgenden Abschnitt beschäftigt sich der Text dann ausführlich mit dem Konzept der Trinität; er lehnt sich dabei – so hat es die Forschung schon früh erkannt –34 an das Pseudo-Athanasianische Glaubensbekenntnis (Quicumque-Credo) an, in welchem, im Gegensatz zum Apostolischen Credo, der Trinitätsgedanke neben der Inkarnation eine herausragende Rolle spielt. Während das apostolische Glaubensbekenntnis sowohl im klösterlichen Leben wie auch in der Unterweisung der Laien zum Einsatz kam,35 war die Auseinandersetzung mit dem theologisch komplexeren Athanasianum überwiegend den Priestern vorbehalten.36 Volkssprachige Übertragungen sind deshalb nur spärlich vorhanden – als eines der wenigen frühmittelalterlichen Zeugnisse lässt indes der Weißenburger
|| 32 Die Übersetzung der Sünden und Verfehlungen folgt den Vorschlägen von Schulze 1914, S. 112‒114. 33 Dazu Masser 1985. 34 Barbian 1964, S. 60, McLintock 1978, Sp. 594, jetzt Diehl 2011, S. 351. 35 Kommentierungen, Interlinearversionen und volkssprachige Übersetzungen des apostolischen Credo verweisen häufig auf einen schulischen Kontext, in dem das Glaubensbekenntnis an die Novizen vermittelt und für den späteren Gebrauch im monastischen Gottesdienst wie in der Laienfürsorge eingeübt wurde, vgl. dazu Haubrichs 1988, S. 289. 36 „Schon früh hatte die bischöfliche Pastoralgesetzgebung für den Priester gefordert, daß er nicht nur das apostolische Credo, sondern auch das dem Kirchenvater Athanasius (†373) zugeschriebene, ausführliche und erläuternde Glaubensbekenntnis […] auswendig beherrsche und verstehe“ (Haubrichs 1988, S. 289f.).
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Katechismus eine Beschäftigung mit dem Athanasianum erkennen.37 Es handelt sich dabei um eine sehr enge Übersetzung des lateinischen Textes, wie der folgende Vergleich einiger Abschnitte zeigt:38 Fides autem catholica haec est, ut unum deum in trinitate et trinitatem in unitate veneremur, neque confundentes personas neque substantiam separantes.39
Alia est enim persona patris, alia filii, alia spiritus sanctus.40 Increatus pater, increatus filius, increatus et spiritus sanctus; immensus pater, immensus filius, immensus spiritus sanctus; aeternus pater, aeternus filius, aeternus spiritus sanctus: et tamen non tres aeterni, sed unus aeternus, sicut non tres increati nec tres immensi, sed unus increatus et unus immensus.41
Gilauba allichu thisu ist, thaz einan got in thrinisse endi thrinisse in einnissi eremes, Noh nigimisgente thio gomoheite noh thea cnuat citeilente. Andher ist giuuisso gomaheiti fateres, andher sunes, andher thes heilegen geistes […]. Ungiscaffan fater, ungiscaffan sun, ungiscaffan endi ther heilogo geist; ungimezzan fater, ungimezzan sun, ungimezzan ther heilogo geist; Euuig fater, euuig sun, euuig heiligo geist: Endi thoh nalles thri euuige, uzzar einer ist euuiger, So nalles thri ungiscaffene noh thri ungimezzene, uzzar einer ist ungiscaffaner endi einer ungimezzener.
Das Bamberger Credo dagegen setzt die Vorgaben des lateinischen Textes wesentlich freier um und gibt folgende Beschreibung der Trinität: An der heiligun trînemmide gloub ich und êren unde giho vasto eina gótelichun ebenselbêwigun éinselbwesenti, und an der éinun gotelichun ebenselbêwigun éinselbwesendi glóub ich und êren unde giho vasto mit ungiscéidener ebenselbglîche die vile heiligun trînemmede. Ich gloube die heiligun trîbinemmede an demo ungisceidenen einwesente an einandera unvirwehsellichi unde uncisaminegemisciliche. […] Den got gloub ich unerrahlichen, unmezmichilen,
|| 37 Der Weißenburger Katechismus umfasst eine Sammlung katechetischer und liturgischer Texte; darunter finden sich neben einer lateinischen Credointerpretation volkssprachige Versionen des apostolischen wie auch des athanasianischen Glaubensbekenntnisses, s. dazu Haubrichs 1988, S. 290f. und Masser 1999. 38 Beide Texte nach Steinmeyer 1971, S. 31. 39 „Dies ist aber der katholische Glaube, dass wir den einen Gott in der Dreifaltigkeit und die Dreifaltigkeit in der Einheit verehren, ohne die Personen zu vermengen und ohne die Wesenheit zu trennen.“ 40 „Eine andere nämlich ist die Person des Vaters, eine andere die des Sohnes, eine andere die des Heiligen Geistes.“ 41 „Unerschaffen ist der Vater, unerschaffen der Sohn, unerschaffen auch der Heilige Geist, unermesslich ist der Vater, unermesslich der Sohn, unermesslich der Heilige Geist, ewig ist der Vater, ewig der Sohn, ewig der Heilige Geist. Und dennoch sind es nicht drei Ewige, sondern ein Ewiger, wie auch nicht drei Unerschaffene und nicht drei Unermessliche, sondern ein Unerschaffener und ein Unermesslicher.“
54 | Stephanie Seidl ebenselbgaginwartigen, unendigen, olanglichen allen in aller stéteglich, ân aller stet bivanginheit ebenselbwesentan. (8‒11) („Ich verehre und glaube an die heilige Dreifaltigkeit und bekenne mich völlig zu einer einzigen göttlichen gleichselbstewigen Einselbstwesenheit, und an die eine göttliche gleichselbstewige Einselbstwesenheit glaube ich und verehre sie und ich bekenne mich völlig zur der sehr heiligen Dreifaltigkeit mit ihrer ungeschiedenen Gleichselbstgleichheit. Ich glaube an die heilige Dreieinigkeit in Form einer ungeschiedenen Einwesenheit, untereinander unverwechselbar und unzusammengemischt. […] Ich glaube an Gott als den unermesslichen, unmessbargroßen, gleichselbstgegenwertigen, sich überall erstreckenden und doch nirgends verfangenen Gleichselbstseienden.“)
3 Ästhetik und Funktionalität Gerade im Vergleich mit der Credo-Übersetzung des Weißenburger Katechismus wird augenfällig, dass der Bamberger Glaube nicht nur die klare Struktur des Athanasianum auflöst, sondern auch auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung völlig neue Wege geht. Gerhard Diehl hat alleine für die oben zitierte Passage folgende Hapax legomena identifiziert, anhand derer der Verfasser das Konzept der Trinität in „umkreisenden Annäherungen“42 zu fassen sucht: einselpwesende (9f.), ëbenselbêwec (9, 10), ëbenselpgelîche (11), einwesende (13), unverwechsellîche (14), unzesamengemischelich (14), ëbenselpgegenwertec (19), unmezmichele (19), ëbenselbwesende (21).43 Es handelt sich bei den insgesamt „über 20 nur im Bamberger Glauben vertretenen Neuschöpfungen […] ausschließlich um Komposita und deutlich überwiegend um Substantive bzw. Adjektive“;44 die Wortneubildungen im Abschnitt über die Trinität erweisen sich dabei als deutlich komplexer als jene im nachfolgenden Beichtspiegel, in dem überwiegend Negativbildungen zum Einsatz kommen.45 Die sprachliche Kreativität, die der Verfasser von Bamberger Glaube und Beichte zeitigt, hat zu unterschiedlichen Erklärungsansätzen geführt, die teilweise auch den Status des Textes zu problematisieren suchen. Diehl geht in der jüngsten Untersuchung zur Sprache von Bamberger Glaube und Beichte von folgenden Prämissen aus: Die „eigenständige sprachliche Gestalt“ des Textes46 resultiere aus dem Versuch des Verfassers, „Trinität nicht nur zu denken, sondern auch in seiner Muttersprache zu formulieren.“47 Da der deutschen Volkssprache um 1100 nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Darstellung der Drei|| 42 Diehl 2011, S. 354. 43 Ich gebe wie Diehl 2011 die jeweiligen Grundformen an. 44 Diehl 2011, S. 349. 45 Vgl. dazu oben, Anm. 31 46 Diehl 2011, S. 347f. 47 Diehl 2011, S. 349.
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einigkeit zur Verfügung gestanden hätten, habe sich der Verfasser gezwungen gesehen, „sprachschöpferisch tätig zu werden“,48 um den gewählten Redegegenstand sprachlich vermitteln zu können. Dabei entstünden „geradezu sprachspielerische[] Versuche immer feinerer Nuancierungen von Begriffen“, die jedoch „für die fachtheologische ebenso wie die alltägliche religiöse Unterweisung oder den Pfarralltag den genaueren, terminologischen Festlegungen anderer Prägung“ 49 unterliegen.50 Noch deutlicher hatte vor Diehl schon Vollmann-Profe das Bamberger Textensemble im Jenseits ritueller Gebrauchsliteratur verortet. Sie sieht darin, wie eingangs schon zitiert, ein „Kunstgebilde mit ästhetischem Anspruch“,51 das aus dem „Bemühen um die Literarisierung von Gebrauchstexten“52 hervorgehe, Anstöße etwa aus der Liturgie erfahre, diese jedoch in literarische Formen umwandele.53 Es handle sich hierbei, gerade weil uns „literarische Formen gegenübertreten, […] um Neuentwicklungen, die erst in frühmhd. Zeit auftreten.“54 Mit dem Stichwort der ‚Neuentwicklungen der frühmittelhochdeutschen Zeit‘ lässt sich Vollmann-Profes Argumentation an eine These Kienings anschließen, die er im Rahmen seiner Überlegungen zu ‚Ansätze[n] literarischer Reflexion‘ im frühen Mittealter formuliert hat.55 Seine Untersuchung selbstreflexiver Passagen frühmittelhochdeutscher geistlicher Dichtungen kommt dabei zu dem Schluss, dass bereits diese tastenden Versuche zu dem Prozeß [gehören], der über reflexionslose heilsgeschichtliche Basisunterweisung hinausführt, zu den Freiräumen, die sich die neu einsetzende Literatur des ausgehenden 11. und des 12. Jahrhunderts, was Stoffe, Stil und Deskriptionstechnik angeht, erobert.56
|| 48 Diehl 2011, S. 351. 49 Diehl 2011, S. 354. 50 Dies zeigt Diehl überzeugend anhand des Wessobrunner Glaubens, einer höchstwahrscheinlich für einen Nonnenkonvent angefertigten Bearbeitung des Bamberger Credo, in welchem die sprachlich wie theologisch komplexen Ausführungen zur Trinität gerade fehlen, vgl. dazu Diehl 2011, S. 354f. und allgemein zur Wessobrunner Version McLintock 1978, Sp. 594. 51 Vollmann-Profe 1986, S. 62. 52 Vollmann-Profe 1986, S. 61. 53 Für den Text Himmel und Hölle, der dem Verfasser von Bamberger Glaube und Beichte zugeschrieben wird und mit diesem gemeinschaftlich überliefert ist, stellt Vollmann-Profe fest: „Vergleichen wir jedoch die erhaltenen ‚echten‘ Predigten aus frühmhd. Zeit mit Himmel und Hölle, so erkennen wir sofort die Andersartigkeit dieses Produkts. Dort rechtschaffene, bisweilen schwerfällige Übersetzungsprosa, hier Kunstprosa der preziösesten Form mit Alliterationen, Reimen, Assonanzen und vor allem einer sich geradezu überschlagenden Fülle kleinster paralleler Satzglieder“ (Vollmann-Profe 1986, S. 61). 54 Vollmann-Profe 1986, S. 62. 55 Kiening 1993, wiederaufgenommen in leicht überarbeiteter und gekürzter Form in Kiening 2003, S. 113‒129. 56 Kiening 1992, S. 409.
56 | Stephanie Seidl Dabei wird das theologische System durch Interferenzen mit dem literarischen aufgebrochen. Indem Literaturfähigkeit und Literarizität ineinandergreifen, erscheinen auch grundsätzliche Fragen nach autonomer Sinnkonstitution im Medium der Literatur am Horizont.57
Kiening kann anhand der von ihm untersuchten Texte somit erste ‚Autonomisierungstendenzen’ schon im Feld der geistlichen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts fassen, in einer Zeit also, in der die Entstehung des Bamberger Textensembles zu verorten ist. Fragen ließe sich nun, ob die „ungewöhnliche sprachschöpferische Kraft“58 des Bamberger Credo sich in diese Entwicklung einordnen lässt: Haben wir mit diesem Text ein frühmittelalterliches Beispiel dafür, dass die in Kienings Beispielen sich vor allem in selbstreflexiven Textpassagen manifestierende Tendenz frühmittelalterlicher Texte, sich literarische Freiräume zu erobern, auch auf der Darstellungsebene selbst stattfindet? Haben wir damit einen ähnlichen und frühen Fall vorliegen wie bei Konrads Goldener Schmiede, deren geblümter Stil nicht nur den Gegenstand des Textes auszeichnet, sondern auch dessen Künstlichkeit und poetische Qualität ausstellt?59 Die Überlieferungssituation könnte einen solchen Autonomisierungsschub tatsächlich bestätigen: Bamberger Glaube und Beichte sind, wie eingangs schon erwähnt, unikal in einer heute in München aufbewahrten Sammelhandschrift überliefert, die aus vier ursprünglich separaten Teilen besteht. Der zweite Teil tradiert Bamberger Glaube und Beichte zusammen mit einer wohl vom gleichen Verfasser stammenden Abhandlung namens Himmel und Hölle,60 welche die Wonnen des Paradieses und die Schrecken der Hölle unter Zuhilfenahme komplexer sprachlicher Mittel schildert. Somit stehen das Bamberger Glaubensbekenntnis und die Beichte gerade nicht im für diese Texttradition typischen Überlieferungskontext etwa eines Sakramentars, sondern sind, vergesellschaftet mit einem weiteren Text mit ähnlicher Thematik und sprachlicher Qualität, als schmales Einzelfaszikel angelegt worden. Ein liturgischer Verwendungskontext wird daher auch aufgrund der Überlieferungslage nur schwer anzunehmen sein; der Überlieferungsbefund spricht vielmehr für eine „private, das heißt nicht im Rahmen der offiziellen gottesdienstlichen Predigt“61 erfolgte Lektüre. Konzipiert man nun das Verhältnis von Liturgie und Literatur für das Mittelalter als skalierbares, lassen es die bisher angeführten Forschungspositionen zu, Bam|| 57 Kiening 1992, S. 448. 58 McLintock 1978, Sp. 596. 59 Dazu Hübner 2007. 60 Vgl. dazu McLintock 1983 und oben, Anm. 53. 61 Bruchhold 2010, S. 463. Pörnbacher 1969, S. 114, dagegen hält eine Verwendung innerhalb der Liturgie, z.B. als Formel der sog. ‚Offenen Schuld‘ oder als Reuegebet der Gemeinde, durchaus vorstellbar. Allein der Umfang des Textensembles wie auch seine sprachliche Komplexität macht dies m. E. jedoch unwahrscheinlich.
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berger Glaube und Beichte zumindest mittig auf einer solchen Skala zu verorten; man könnte auch weitergehen und jedenfalls das Credo in Richtung des Literarischen verschieben. Es handelt sich aufgrund seiner auffälligen sprachlichen Qualität um geistliche D i c h t u n g , deren Entstehung beispielsweise rezeptionsgeschichtlich begründet werden kann: Dem ‚einfachen‘ Mann genügte der religiöse Akt der formelhaften ‚Beichte‘ in der Gemeinde; die kleine Schicht von Laien aber, die an religiöser Literatur interessiert waren, fanden das, was sie suchten, im Bereich der lateinischen Poesie. Dies ändert sich in unserer Periode [in der Phase frühmittelhochdeutscher Literatur, Anm. St.S.]. Wohl kaum deswegen, weil die Lateinkenntnisse der adeligen Führungsschicht zurückgegangen wären, sondern viel eher deswegen, weil das Verlangen nach verfeinerter Kultur, sei sie nun religiöser oder sprachlicher Art oder beides zusammen, sich nach unten ausgebreitet hatte in Schichten hinein, die zwar nur der Volkssprache mächtig waren, nunmehr aber Bedürfnisse entwickelten, die früher nur in der allerobersten Spitze der laikalen Führungskreise anzutreffen gewesen waren.62
Das „Anwachsen der [volkssprachigen] Literarizität im Laufe des 12. Jahrhunderts“63 lässt sich im Generellen also durchaus als Verselbstständigung ursprünglich rein zweckgebundener (z. B. liturgischer) Rede beschreiben. Liturgie wird zu Literatur. – Gilt diese Annahme indes auch für Bamberger Glaube und Beichte? Will diese „glanzvollste Wortfuge […] in die eigentliche Literaturgeschichte hineinführ[en]“? 64 Für eine mögliche Antwort trete ich einen Schritt zurück und setze Literarizität nicht mit Autonomisierung gleich, verbuche sprachliche Komplexität nicht sogleich als Ästhetisierungsversuch. Konkreter möchte ich folgendermaßen argumentieren: 1. Die poetisch wirkende sprachliche Qualität v.a. des Credoteils resultiert vorrangig aus der innovativen Kraft der hier eingesetzten Wortneuschöpfungen, die den Text deutlich von anderen volkssprachigen Credo-Bearbeitungen absetzen; dies gilt auch noch dann noch, wenn man, wie Diehl es überzeugend getan hat, darauf hinweist, dass die verwendeten Neologismen sich durchaus an einige lateinische Formen des Athanasianum anlehnen65 und auch auf begrenzte Wortbildungsmittel zurückgreifen (produktiv ist mit sechs Fällen etwa die Form ëben zum „Ausdruck der Identität des dreieinigen Gottes“ 66). 2. Anders als Diehl sehe ich die Notwendigkeit dieses Einsatzes von Hapax legomena jedoch nicht darin begründet, dass die religiöse Lexik, die zur Beschreibung der Trinität im Althochdeutschen bzw. im Frühmittelhochdeutschen zur Verfügung stand, noch zu begrenzt gewesen wäre. Diehl selbst führt vier Synonyme auf, die bereits im Althochdeutschen zur Benennung der Trinität Verwendung fin|| 62 Vollmann-Profe 1986, S. 58. 63 Kiening 2003, S. 116. 64 So Wilhelm Scherer in seiner Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert (Berlin 1883, S. 27), zitiert nach Pörnbacher 1969, S. 101. 65 Diehl 2011, S. 352. 66 Diehl 2011, S. 352.
58 | Stephanie Seidl den konnten: drischeit, drivalt, drînisse und drinissede.67 Auch für die im Athanasianum besonders hervorgehobene unermessliche Gleichrangig- und Gleichewigkeit der trinitarischen Personen stellt schon das Althochdeutsche angemessene Adjektive bereit (z.B. ëbenêwig („gleichewig“),68 ëbenhêr („gleichehrwürdig“)69, unerrahhôtlîh („unermesslich“)70 . Der mangelnde Ausbau der frühmittelhochdeutschen Sprache kann somit nicht der Grund für die Wortschöpfungen im Bamberger Credo sein. 3. Stattdessen schlage ich vor, weniger die Wortbedeutung der Neologismen, als vielmehr ihre Wortbildungsmittel selbst in den Blick zu nehmen. In der oben zitierten Passage aus dem Credo finden sich, wie schon erwähnt, folgende Neologismen: einselpwesende (9f.), ëbenselbêwec (9, 10), ëbenselpgelîche (11), einwesende (13), unverwechsellîche (14), unzesamengemischelich (14), ëbenselpgegenwertec (19), unmezmichele (19), ëbenselbwesende (21).71 Mit Ausnahme von einwesende und unverwechellîche lassen sich alle weiteren Neuschöpfungen dieses Abschnittes in drei zugrundeliegende Einzelbestandteile zerlegen, die zu einer Neubildung verschmolzen worden sind. Ich führe lediglich drei Beispiele an, die dies verdeutlichen: ëben72 + selb + êwec = ëbenselbêwec, ein + selp + wesende = einselpwesende, un + zesamen + gemischelich = unzesamengemischelich. Sie alle folgen dem Prinzip: 3 = 1. Gerade also zur Beschreibung der Dreieinigkeit kreiert der Verfasser Wortmaterial, in welchem drei Einzelbestandteile zu einer Einheit verschmelzen. Der Gegenstand des Textes, die gleichzeitige Dreiheit und Einheit der göttlichen Personen im Trinitätsmodell, spiegelt sich somit geradezu auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung. Die Einzelbestandteile der Hapax legomena bleiben, gerade da dieselben Wortbildungsmittel wiederholt zum Einsatz kommen, in ihrer ursprünglichen Bedeutung erkenn- und verstehbar, bilden zugleich jedoch ein neues Wort, dessen Bedeutung mehr ist als nur die Summe der drei Ausgangselemente. Diese werden in-einsgesetzt zur Beschreibung der In-Eins-Setzung der göttlichen Personen im Konzept der Trinität.73 Dabei geht es jedoch gerade nicht darum, dass der Verfasser „in besonderem Maße sprachschöpferisch tätig [wird], um […] ‚einem Thema gerecht zu werden […],
|| 67 Diehl 2011, S. 350 mit Verweis auf Fuß 2000, S. 170. 68 Diehl 2011, S. 350, Fuß 2000, S. 351. 69 Diehl 2011, 350. 70 Fuß 2000, S. 171. 71 Ich gebe wiederum die von Diehl 2011 rekonstruierten Grundformen an. 72 Die Kombination von ëben mit weiteren Adjektiven oder auch Substantiven ist die produktivste Art der Wortneubildung in Bamberger Glaube und Beichte, vgl. dazu Diehl 2011, S. 352f. 73 Stützen lässt sich diese These dadurch, dass sich die meisten der Wortneubildungen tatsächlich im Abschnitt über die Trinität finden (vgl. auch Diehl 2011, S. 349).
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das alle Begriffe übersteigt‘.“ 74 Im Gegenteil holt er das Thema seines Textes gerade in die sprachliche Gestaltung hinein, passt somit die Darstellungsebene weitestgehend an den Redegegenstand an. Hier schafft sich der Text keine literarischen Freiräume, sondern funktionalisiert literarische Redeformen. 4. Ähnliches lässt sich auch für den auf die Beschreibung der Trinität folgenden Abschnitt des Glaubensbekenntnisses sagen, der bisher noch kaum Interesse der Forschung gefunden hat – zeitigt er doch auch kaum etwas der poetischen Gestaltungskraft des Anfangs. Es geht in diesem Passus um die Darstellung der zugleich menschlichen wie göttlichen Natur Christi. Der Verfasser geht von der Inkarnationslehre aus, die auch das Quicumque-Credo behandelt, greift dann aber auf die Struktur wie den Inhalt des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zurück, um die einzelnen Stationen des Erdendaseins und der passio Christi detailreich auszuweiten. Wenn es im Apostolicum schlicht heißt: passus sub Pontio Pilato, crucifixus, mortuus, et sepultus,75 so berichtet das Bamberger Credo wesentlich ausführlicher: Ich gloubo daz er vone Juda sînemo jûngeren virrâten wart, vone den Judon givangen wart, gibunden wart, gispûen wart, gihalsslagot wart, bivíllit wárt, an des crûcis galgan ginegelit wart und ér an dere mártire irstarb. (48‒50) („Ich glaube, dass er von Judas, seinem Jünger, verraten wurde, von den Juden gefangen wurde, gebunden wurde, bespuckt wurde, geschlagen wurde, gegeißelt wurde, an den Kreuzesgalgen genagelt wurde und er an diesem Martyrium starb.“)
Diese Tendenz zur Konkretisierung und zum Auserzählen findet sich auch schon vorher, wenn die Lebensgeschichte Jesu wiedergegeben wird: Ich gloubo daz der haltente Christus an dîrre werlte lebeta als ein ander mennisco, âz tránc slief hungerota dursta douita weinota suízta unde arbeitennes muodeta und er nihie nigisundota. (36-39) („Ich glaube, dass der erlösende Christus in dieser Welt lebte wie ein jeder andere Mensch, aß, trank, schlief, Hunger und Durst empfand, verdaute, weinte, schwitzte und beim Arbeiten ermüdete und er hier doch nie sündigte.“)
Geht es hier darum zu zeigen, dass Gott alla mennisclicha natura („von ganz menschlicher Natur“, 29) sei, dann arbeitet der Verfasser mit Techniken der Veralltäglichung, etwa dadurch, dass durch eine Aneinanderreihung76 elementarer menschlicher Bedürfnisse (wie essen, trinken, schlafen, schwitzen, arbeiten, ermü|| 74 So Diehl 2011, S. 351 in Rückbezug auf McLintock, David R. (1974): Himmel und Hölle: Bemerkungen zum Wortschatz. In: Leslie Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff, Roy Wisbey: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur, Berlin, S. 83-102, das angeführte Zitat auf S. 101. 75 „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“. 76 Der komplex verschachtelte Satzbau des ersten Teiles ist hier zugunsten parataktischer, zumeist asyndetischer Reihungen aufgegeben worden.
60 | Stephanie Seidl den) eine Art Biographie Jesu entsteht, die eine Annäherung an den Alltag des Rezipienten durchaus ermöglicht. Heilsgeschichte wird in eine Kurznarration überführt, wird buchstäblich als Geschichte erzählt. Auch hier prägt der Redegegenstand die Darstellungsebene. 5. Lässt sich dieser Befund nun auch auf den Beichtteil ausweiten? Ich denke schon. Die Struktur und konzeptionelle Anlage der pura confessio habe ich oben bereits zu beschreiben versucht; auffällig ist daran vor allem die überbordende Detailliertheit, mit der jede Hauptsünde mit allen nur erdenklichen Untersünden bzw. Verfehlungen aufgefüllt wird. Diese beziehen sich teils ganz allgemein auf menschliche Defizienz, teils auf Verfehlungen gerade des Adels, teils aber auch auf solche, die nur den geistlichen Stand betreffen können,77 eine Aufrechnung mit einem bestimmten Zielpublikum des Textes ist gerade deshalb nicht möglich. Am Ende des Beichtteils betont der Verfasser: wande mîner súndon unde mîner meindâtône, der ist disiu wérlt vol, die sint leidir úber méz, uber alla dûsent zala, úber ménniscen gidanc, uber engiliscan sín (233‒235). („Die Welt nämlich ist voll von meinen Sünden und meinen Verfehlungen, diese übersteigen leider alles Maß, die Tausendzahl, die menschliche Vorstellungskraft und den Verstand der Engel.“)
Es ist die (text-)logische Konsequenz aus dieser Aussage, dass auch die Aufzählung der Sünden im Beichtteil alles Bekannte übersteigen muss, über das bisher Gesagte und Sagbare hinausreichen muss. Dies geschieht mithilfe von Wortneuschöpfungen. Ich fasse die bisherigen Ergebnisse der Analyseschritte eins bis fünf an dieser Stelle nochmals zusammen: In der Beschreibung der Trinität finden sich gehäuft Neologismen, die dem Text eine Komplexität zuweisen, die ihn von anderen deutschen Credoversionen deutlich abhebt. Die Darstellung der menschlichen Natur Gottes reiht die traditionellen Bestandteile des apostolischen Symbolum narrativ aneinander. Der Beichtspiegel schließlich nutzt wiederum Neologismen, in diesem Fall, um die unermessliche Zahl der Sünden und Verfehlungen auch sprachlich darstellbar zu machen. In den verschiedenen Textteilen zeigt sich der Verfasser somit je anders bemüht, seine Darstellungsweise möglichst eng an den Darstellungsgegenstand anzunähern. Spricht er über Trinität, so versucht er, das Konzept der In-Eins-Setzung von Einheit und Dreiheit sprachlich durch Hapax legomena nachzubilden. Seine Schilderung der Inkarnation zeigt die Menschlichkeit Gottes in Form einer Aneinanderreihung von Verben, die grundlegende menschliche Tätigkeiten bezeichnen. Der Beichtteil spiegelt die Unermesslichkeit menschlicher Sündhaftigkeit, indem er den || 77 Die Lust, Jagen zu gehen (jagides lússami, 194), etwa kann in einem laikal-adeligen Umfeld kaum als Sünde gedeutet werden, sehr wohl jedoch bezüglich des Klerus.
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konventionellen Wortschatz zur Benennung menschlichen Vergehens um eine Vielzahl an Begriffen erweitert. Gerade im ersten Teil, in der Beschreibung der Trinität, produziert die sprachliche Gestaltung des Textes Effekte, wie sie auch in poetischen Texten als Marker von außeralltäglichen Kommunikationssituationen zum Einsatz kommen – dies wird der Grund dafür gewesen sein, dass dem Bamberger Glauben und Beichte der Status eines ästhetischen Kunstgebildes zugesprochen worden ist. Die von mir vorgenommenen Analysen und die dazu formulierten Thesen möchten dem Textensemble seine sprachliche Kreativität und Innovativität nun keinesfalls absprechen. Ich plädiere indes dafür, sprachliche Komplexität und Künstlichkeit nicht sogleich mit einem Kunstanspruch zu verrechnen. Es geht dem Verfasser m. E. gerade nicht darum, sich bzw. seinem Text künstlerische Freiräume zu schaffen, sondern vielmehr darum, den Gegenstand seiner Rede durch diese einfangen zu können. Dadurch wird nicht Literarizität ausgestellt, sondern allererst hergestellt. Sie ist, in einem weiten Sinne, Gottes-Dienst.
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Christine Glaßner und Karl Heinz Keller
Heinrichs Litanei
Neue Befunde zu Überlieferung und Funktion
1 Positionen der Forschung Die germanistische Forschung der letzten beiden Jahrhunderte hat, wenn man die übrige volkssprachliche Literatur der frühmittelhochdeutschen Zeit zum Maßstab nimmt, Heinrichs Litanei zwar weniger intensiv beachtet und zum Gegenstand ausführlicher Erörterung gemacht, wohl aber wurde der Text zwischen 1837 und 1970 viermal zum Druck gebracht.1 Dies wird in erster Linie dem Umstand geschuldet sein, dass die Litanei in zwei Fassungen in den Handschriften G 2 und S3 auf uns gekommen ist, während die religiösen, volkssprachlichen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts sonst überwiegend unikal überliefert sind.4 Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Textfassungen und ihrer Textträger zueinander hat, der besonderen Überlieferungssituation wegen, auch deshalb die Forschung seit Friedrich Vogt,5 wenngleich unterschiedlich intensiv, jedoch stetig beschäftigt. Ganz dem 19. Jahrhundert verhaftet, der Lachmannschen Methode verpflichtet, sucht Vogt den „richtigen Text“,6 die ursprünglichere Gestalt und gibt der älteren Handschrift G als der, die den besseren, kürzeren Text trägt, den Vorzug gegenüber der jüngeren Handschrift S7 mit ihrem an wenigen Stellen gekürzten, ansonsten aber erheblich erweiterten Text der Litanei. Noch Friedrich Maurer befand 1970, „daß G die ur-
|| 1 Maßmann HL, S. 216‒237 nach Handschrift G; Hoffmann HL, S. 43‒63 nach Handschrift S; Kraus HL, S. 28‒62 synoptisch nach G und S; Maurer HL, S. 128‒251 synoptisch nach S und G. 2 Graz, Universitätsbibliothek, Cod. 1501, 70r‒105r (Sigle G). 3 Straßburg, Seminarbibliothek, Cod. C. V.16.6. 4o, 9r‒13v (verbrannt); in der Literatur nach dem Vorbesitz aus der Bibliothek der Jesuiten in Molsheim (Elsass) auch ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ genannt (Sigle S). 4 Vgl. dazu die Zusammenstellung der anonymen und mit Autornamen tradierten Werke bei Hellgardt 1998 und ihre im Handschriftencensus (http://www.handschriftencensus.de) verzeichnete Überlieferung. 5 Vogt 1874, S. 108‒146. Der eingehende Lesartenvergleich beider „recensionen“ (S. 109) nimmt S. 115‒130 in Anspruch, mit dem Zwischenergebnis, dass „in den meisten fällen die Gräzer hs der Straßburger gegenüber den richtigen text hat. [...] Trotzdem blieben doch immer einige fälle übrig, wo kein zweifel sein konnte, dass S den ursprünglicheren text repräsentierte“ (S. 124). 6 Vogt 1874, S. 124. 7 Handschrift S tradierte auf fünf Blättern (9r‒13v) 1468 Verse, Handschrift G überliefert auf 36 Blättern (70r‒105r) 952 Verse.
64 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller sprünglichere Fassung bietet“,8 während Ernst Hellgardt im Jahr 2009 wertneutral die „ältere, sprachlich österr. Fassung“ in G der „jüngeren, sprachlich westmitteldt. (ripuarischen?) Bearbeitung“ in S an die Seite stellt.9 Neben den Fragen zum Aufbau10 und Stil der Dichtung11 und den hauptsächlich in Literaturgeschichten, Lexika und Handbüchern verbreiteten nahezu konvergenten literarischen Wertungen12 haben die Forschung zuvorderst Probleme beschäftigt, welche um Fragen der Datierung und Lokalisierung von beiden Textträgern und dem einen Werk in mehreren Textfassungen kreisen. Somit hat die germanistische Forschung weniger die Frage nach dem Autor, nach lateinischen Quellen, als jene nach dem Auftraggeber und weiteren Rezipienten in den Vordergrund gerückt. Die fünf Rufe der lateinischen Allerheiligenlitanei gliedern den Aufbau der Litanei, voraus geht ein Gebet an Gott Vater. Mit dem Ruf Kyrie eleyson („Herr erbarme Dich“, V. 36) setzt die Litanei mit der Anrufung der Trinität ein, sie endet nach der Hinwendung an Christus, Christe audi nos („Christus erhöre uns“, V. 92) im Ruf an den Heiligen Geist: Miserere nobis („Erbarme Dich unser“, V. 130). Orate pro nobis („Bittet für uns“, V. 636) beschließt zunächst die Anrufung der Heiligen nach der in der lateinischen Allerheiligenlitanei vorbestimmten Ordnung. Damit endet der erste || 8 Maurer HL, S. 124. Und fährt fort: „Ob Teile der Zusätze von S auf den Dichter zurückgehen, scheint mir noch unentschieden.“ 9 Hellgardt 2009, S. 180. 10 Wir geben hier zur Gliederung der Litanei nach der Allerheiligenlitanei die Rubriken der Hs. G, gefolgt von der Standortangabe und dem nachfolgenden Vers nach der Zählung bei Maurer. LETANIA 70r V. 1; De sancta Maria 75r V.131; De angelis 82v V. 335; De sancto Iohanne baptista 84v V. 383; De apostolis 88r V. 506; De martyribus 90v V. 557; De confessoribus 92r V. 587; De virginibus 93v V. 637; De omnibus sanctis 95r V. 705; Communis 102r V. 869. 11 Freytag 1982, S. 146: „Stilistisch steht die Litanei dem frühmhd. Gebet, auch der Sündenklage, nahe. Sie ist aber besonders in den an Christus (67‒92), Maria (131‒334) und Johannes den Täufer (383‒506) gerichteten Abschnitten stärker bildhaft und gebraucht ursprünglich allegorische Metaphern als Antonomasien [Umschreibungen] für Christus und Maria und für den Sündenstatus bzw. die Befreiung von der Sünde. Der Wunsch, den Adressaten in möglichst vielen Funktionen anzusprechen, führt den Betenden in der rhetorischen Form der frequentatio zu immer erneuten metaphorischen Variationen des Namens, z.B. Christi (67‒92). Dagegen bleiben die Gebetsteile, die sich den andern Heiligen zuwenden, weitgehend unbildlich. Dies beruht wohl auf der Legende als Quellentext für die einzelnen Heiligenanrufungen und ihrem Stilideal des sermo humilis, dem die Allegorie wesentlich fremd ist.“ – Ehrismann 1922, S. 174f.: „Der Stil ist der eines Gebetes, der unmittelbare Ausdruck innerer Erhebung [...]. Ganz erfüllt ist der Flehende von seiner Verworfenheit und seiner Heils- und Hilfsbedürftigkeit. [...] Sehr frei ist die Rhythmik, es wechseln kurze mit überlangen Versen.“ 12 Hellgardt 1988, S. 111: „Auf dem obersten Niveau der deutschen geistlichen Dichtung des 12. Jahrhunderts (steht) Heinrichs Litanei-Gedicht“. – Hellgardt 2009, 180: „Das dt. Gedicht selbst entwickelt dann aber, weit über Ansätze in der mlat. Dichtung hinaus, aus dem liturg. Typ ein eigenständiges, neuartiges u. literarhistorisch einmaliges poetisches Gebilde.“ – Knapp 1994, S. 461: „In jeder Hinsicht gewichtiger ist ein anderer Beitrag [gegenüber der Mariensequenz von Seckau], den Seckau zur deutschen geistlichen Dichtung des 12. Jahrhunderts geleistet hat: die Litanei“.
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Teil der lateinischen Allerheiligenlitanei. Der zweite Teil beginnt mit den deprecationes,13 das Gebet an Christus mündet in die Bitte um Erhörung: Te rogamus audi nos (V. 868), womit im dritten Teil die supplicationes14 eingeleitet werden. Gisela Vollmann-Profe hat das Vorgehen des Litanei-Dichters wohl treffend als „ausschmückende bzw. auskürzende Paraphrase eines vorgegebenen liturgischen Grundtextes“15 bezeichnet. Bei der poetischen Umsetzung kann sich der Dichter sicher der Vor-Bilder bedient haben, wie sie die lateinische Literatur in den Jahrhunderten vorher zur Ausgestaltung der Liturgie der Messfeier16 und des Stundengebets,17 aber auch in den versifizierten Litaneien selbst,18 wenngleich auf ungleich kunstvollere Weise, hervorgebracht und bereitgestellt hat. Vergeblich wird man vermutlich nach der einen lateinischen Vorlage suchen, es lassen sich, wie in Robert Stroppels älterer Arbeit19 im Vergleich mit der Litaniae a sanctis patribus constitutae20 demonstriert, vor allem im Bereich der Fürbitten in Hs. S 21 nur minimalste Übereinstimmungen allgemeiner Art in den Formulierungen finden. Man hat, will es uns scheinen, in der germanistischen Forschung versäumt, die je andere literarische Situation und ihre Bedingungen, unter der beide Fassungen der Litanei entstanden sind, genauer in den Blick zu nehmen. Diese Verschiedenar-
|| 13 So werden die Bitten, die um die Abwehr von Unheil und Bösem flehen, genannt. 14 Als supplicationes werden Fürbitten um Gutes bezeichnet. 15 Vollmann-Profe 1994, S. 117. 16 Vor allem die im Band AH 49 edierten Tropen zum Proprium missae, zu den je nach Fest wechselnden Teilen der Messe (Introitus, Epistel, Graduale bzw. Tractus, Offertorium und Communio [vgl. AH 49, S. 5]), besonders jene im jeweiligen Abschnitt zu den Festen der Heiligen, die in der Litanei angerufen werden, wären bei der Suche nach den lateinischen Vorbildern zu berücksichtigen. 17 In Frage stünden hier die altüberlieferten Sequenzen und Hymnen, wie sie zu den Heiligenfesten erklangen. 18 Z.B. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 27, p. 3: [Letania beatae Mariae Virginis] O Maria deitatem/ caritatem bonitatem/ trinitatem ora pro nobis […]. ([Litanei an die selige Jungfrau Maria] „O Maria, übermenschliches Wesen, Liebevolle, Herzensgütige, bei der Dreieinigkeit bitte für uns […]“). Druck: AH 31, Nr. 208 (12. Jh.); Hrabanus Maurus: Versus more litaniae facti Arbiter omnitenens, rerum tu summe creator,/ Aspice de superis omnipotens genitor [...]. („Nach dem Muster einer Litanei verfasste Verse: ‚Alles beherrschender Richter, Du, höchster Schöpfer der Dinge, allmächtiger Vater, schaue von den Höhen […]‘“). Coetus apostolicus, Christi comitatus honestus,/ Tu precibus nobis limina pande poli./ Claviger aethereus Petrus […] („Kreis der Apostel, Gefolgschaft Christi voller Ehren, Du, durch die Gebete, reiß auf die Tore zum Himmel für uns. Schlüsselträger des Himmels, Petrus […]“). Druck: PL 112, Sp. 1630A‒1632A; MGH Poetae 2, S. 217. – Lateinische Allerheiligenlitanei-Dichtungen des späteren Früh- und des früheren Hochmittelalters hat Stotz 1972, S. 43f. aufgezählt und den Bau der sieben Dichtungen kurz (S. 44‒47), Ratperts Ardua spes mundi („Erhabene Hoffnung, Du, für die Welt“) (Übersetzung: Stotz 1972, S. 40) breit besprochen (S. 36‒70). 19 Stroppel 1927, S. 127‒128. 20 Druck: PL 138, Sp. 889‒898. 21 Maurer HL, S. 234‒246 (V. 1349‒1439).
66 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller tigkeit zeigt sich bereits im Gegensatz, hier (in Hs. G) Autornennung,22 dort (in Hs. S) tritt der Urheber in die Anonymität zurück. Zur literarisch-liturgischen Form des Gebets (in G) gehört der Name nicht nur, weil „die Nennung im Rahmen einer Gebetsanrede an Gott geschieht“,23 die Form des schriftlich Aufgezeichneten24 verlangt bzw. verträgt eher die Anonymität, auch als Gestus der Bescheidenheit, aber auch im mittelhochdeutschen Sinn des (sowieso) Bescheidwissens im Kreis der Rezipienten dieses geistlichen Textes. Trotz der Selbstnennung des Autors bleibt seine Person verborgen. Alles, was man faktenbasiert wissen kann, beschränkt sich darauf, dass der Dichter während des 12. Jahrhunderts im bairisch-österreichischen Sprachraum als Geistlicher gewirkt hat, wenngleich die Forschung, sieht man von den älteren Vorschlägen Diemers und Vogts ab,25 im Wesentlichen durch Ernst Hellgardt26 vorangetrieben, auch in der Frage nach dem Autor Heinrich das Augenmerk auf die Chorherrenstifte Seckau und St. Florian gelenkt hat. Zwei Annahmen begründen Hellgardts Argumentation, dass nämlich die gesamte Handschrift G im Augustinerchorherrenstift Seckau entstanden, d.h. genauer dort geschrieben sei und zweitens, dass der Dichter Heinrich selbst jene im Auftrag des Abtes Engelbrecht27 entstandene Zwischenstufe verfasst habe, jenes Engelbrecht (Engelbert), || 22 Maurer HL, S. 249 V. 938‒944 G der selben gnaden la niht bisten/ dinen scalch Heinrichen,/ der vil harte einlichen/ sich dar uf giflizzen hat,/ swer mit sinne dizze gibet verstat,/ swelhe gnade er da mit erwerve,/ daz er der teilnumftich werde. („Verwehre deinem Knecht Heinrich diese Glückseligkeit nicht, der seine ganze Kraft darauf verwendet hat, dass derjenige, der mit Verstand diese Gebete erfasst, der gleichen Gnade teilhaftig werde.“). Maurer HL, S. 248 V. 1456‒1460 S: Daruz nela nit besten/ den orthabe dirre getihte/ daz wir von gesihte zu gesihte/ bescowen dich selben/ in der himeliscen selden. („Schließe den Urheber dieses schriftlich aufgezeichneten Kunstwerks mit ein, damit wir von Angesicht zu Angesicht dich in himmlischer Glückseligkeit schauen.“). 23 Hellgardt 1998, S. 68. 24 Maurer HL, S. 248 (V. 1457) den orthabe dirre getihte („den Urheber dieses hier schriftlich Aufgezeichneten“). 25 Diemer 1849, S. XVI, setzt Heinrich, den Dichter der Litanei mit Heinrich von Melk gleich, demzufolge wäre unser Dichter ein Sohn der Frau Ava. – Vogt 1874, S. 129, sieht in Heinrich den Schreiber der Litanei. 26 Vor allem in den Publikationen Hellgardt 1988, S. 103‒130, bes. S. 115‒124 zur Hs. Graz 1501 (G) und zur Litanei; Hellgardt 1998, S. 67‒70, zur Selbstnennung des Autors, und Hellgardt 2009. 27 Die Nennung des Auftraggebers überliefert nur Hs. S, Maurer HL, S. 207 V. 888‒890: unde gedenke des zu vorderis,/ durh des gebot du hie genant bis,/ des abbit Engelbrehtis („Des Abtes Engelbrecht vor allem gedenke, auf dessen Auftrag hin Du [Koloman] hier gepriesen wirst“). – Die ältere Forschung hat um die Person des Auftraggebers eine breitere Debatte geführt und verschiedene Lösungsvorschläge zur Identität des Abtes (Propstes) Engelbrecht unterbreitet: Sie reichen vom Prälaten von St. Pölten des 11./12. Jh.s (Diemer 1849, S. XVI), über den Abt des Benediktinerklosters Obernburg in der Untersteiermark (bezeugt 1173, Roediger 1876, S. 339) bis zum Propst des Augustiner Chorfrauenstifts Pernegg im nördlichen Niederösterreich (bezeugt nach der Mitte des 12. Jahrhunderts, Leitzmann 1927, S. 79). Die meisten Befürworter fand der von Vogt 1874, S. 143 vorgeschlagene und von Ernst Hellgardt bevorzugte praepositus Engelbertus des Augustiner Chorherrenstifts St. Florian.
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den Hellgardt – wie schon Vogt – im Propst des Stifts St. Florian sieht, der dieses Amt zwischen 1172 und 1203 innehatte. Erst diese beiden Annahmen ermöglichen die vorsichtige Äußerung: „Seckauer Chorherren des Namens Heinrich lassen sich im Verbrüderungsbuch und Nekrolog dreimal nachweisen. Setzt man voraus, daß einer dieser Heinriche der Verfasser der Litanei war, so hätte Engelbert dessen Dichtung in erweiterter Form nach St. Florian gebracht.“28 Fritz Peter Knapp übernimmt die Positionen Hellgardts in weit bestimmterer Form in seine Literaturgeschichte, indem er schreibt: „Engelbrecht wird also die Litanei Heinrichs von Seckau nach St. Florian gebracht haben“.29 Die Antwort auf die Frage nach der Lokalisierung der Hs. G, als Teil des seit Eichler30 unbestritten zur Bibliothek des Chorherrenstifts Seckau gehörenden Handschriftenbestands,31 wird bestimmt durch eine von Eichler in einer späteren Publikation nicht klar genug gezogenen Differenzierung des Provenienzbegriffs,32 der deutlich zwischen Bibliotheks-, Schreibheimat und erstem Vorbesitz zu unterscheiden hat.33 Bis auf Ernst Hellgardts im Jahr 1988 erschienene Publikation, in der das Chorherrenstift Seckau als wirkliche Schreibheimat der Litanei erachtet wird,34 weil in Gerold von Eppenstein, dem zweiten Propst von Seckau (Regierungszeit 1196‒1216),35 der Schreiber der Litanei „mit gutem Grund“ zu vermuten sei,36 haben || 28 Hellgardt 1988, S. 123. 29 Knapp 1994, S. 461. 30 Eichler 1909. 31 Zuvor hatte Schönbach den Bestand einiger „Breviarien“ dem Stift St. Lambrecht in der Steiermark zugewiesen (Schönbach 1876). 32 So auch Csanády 2008, S. 12. 33 Unter der Überschrift „Lateinisch-deutsches Gebetbuch einer Seckauer Nonne“ präsentierte Eichler 1909, S. 16 die Handschrift Graz, Universitätsbibliothek, Ms 1501 (Hs. G) so: „Man nahm bisher an, daß die Handschrift aus St. Lambrecht stamme, doch ergibt sich im Zusammenhalt mit anderen Handschriften der Grazer Universitäts-Bibliothek, daß sie einst dem Nonnenkloster Seckau gehörte.“ Mit dem Hinweis in Eichler 1918, S. 54f. „Beim Durchforschen der genannten Handschriften werden wir in die Behandlung der deutschen Sprache in einem nordsteirischen Kloster während der späteren Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts eingeführt“ wird insinuiert, dass zumindest für alle deutschen Texte als Schreibheimat das Seckauer Stift (der Nonnen) anzunehmen sei. 34 Zur Textgenese formuliert Hellgardt 1988, S. 122 freilich: „Für keinen der [deutschen] Texte ist die Entstehung in Seckau selbst gesichert, doch ist das Gegenteil nur einmal, im Falle von Arnolts Juliane, nachweisbar. Alle Texte sind nur aus Seckau überliefert, wieder mit einer Ausnahme, nämlich der Litanei Heinrichs, die auch in der um 1187 datierten ‚Straßburg-Molsheimer Sammelhandschrift‘ enthalten ist, jedoch in der jüngeren, erweiterten Fassung S. So ist auch für dieses Stück die Annahme der Entstehung in Seckau möglich.“ 35 Allmer 2005, S. 505 nennt zu 1140 VII 20 unter den sechs Erstbesiedlern der Neugründung aus Salzburg auch Gerold von Eppenstein, während der Gründungsbericht des Stiftes Seckau aus dem 14. Jahrhundert nur Wernherus und Leupoldus als von St. Rupert in Salzburg geschickte Brüder nennt (Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Cod. 334, fol. 1 [Druck: UB Steiermark, 269 Nr. 259]). 36 Hellgardt 1988, S. 114 mit Anm. 29: „Als Schreiber [der Litanei in G] vermutete Fank mit gutem Grund, wie es scheint, den nachmaligen zweiten Propst von Seckau, der sich als Seckauer Schreiber
68 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller zuvor Friedrich Maurer und sein Schüler Karl-Ernst Geith, sowie Edgar Papp und Hartmut Freytag37 eine die Provenienzverhältnisse differenzierende Aussage in Zusammenhang mit G vermieden, sondern mehrdeutig und offen formuliert. Zum generellen Problem, ob Seckau als Schreibheimat der romanischen Handschriften aus der Frühzeit des Augustiner Chorherren- und Chorfrauenstiftes gelten kann, hat in einer jüngst vorgelegten Grazer theologischen Dissertation über einige so genannte Seckauer Nonnenbreviere Thomas László Csanády zeigen können, dass alle von Hellgardt 1988 behandelten und dort aufgelisteten Handschriften des 12. Jahrhunderts38 wahrscheinlich nicht in Seckau entstanden sind 39 ‒ mit Ausnahme von Hs. G (Ms 1501), da diese sich außer in den Gebetsteilen einer liturgiewissenschaftlichen Behandlung entzieht. 40 Csanády zusammenfassend wird man von den meisten untersuchten Codices bzw. von einzelnen Faszikeln der Frühzeit sich vorstellen können, sie seien „in verschiedenen Klöstern der Passauer Diözese bzw. des Großraums der Salzburger Kirchenprovinz“ entstanden und als Importe nach Seckau gelangt.41 Seit der ersten Ausgabe der Litanei durch Hoffmann von Fallersleben galt Ms 1501 (G) als eine Handschrift des 12. Jahrhunderts, eine erste Präzisierung durch Vogt führte, da dieser die Entstehung der Litanei nach 1150 ansetzte, in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts,42 die – wenngleich weiter eingeengt – bis heute gilt. Wesentliche Bedeutung erlangte die Datierung durch Karl Uhlirz, wurde sie doch im Rahmen des Tafelwerks der Monumenta palaeographica mit einer Beschreibung und einem Abbild der Schrift publiziert.43 Seine Datierung der Handschrift jedoch scheint weniger dem paläographischen Befund, als vielmehr seinen Ausführungen || im dritten Viertel des 12. Jhs. ansetzen läßt.“ – Bei Fank 1967, S. 31 aber heißt es unsicherer: „Man darf annehmen, daß obige Eintragung [in Graz UB Ms. 1119] 222v (Abb. 43) schon aus früherer Zeit stammt und Gerold etwa im dritten Viertel des 12. Jhs. vielleicht den ersten Teil des Nonnenbreviers [Graz UB Ms. 1119] geschrieben hat; seine Schrift erinnert an die Schrift der Deutschen Litanei der Hs. G 1501, Bl. 70r‒104r.“ 37 Maurer HL, S. 124: „[Hs. G] […] aus Seckau stammend […]“; Geith 1968, S. 117: „aus dem Frauenkloster des Augustinerchorherrenstiftes Seckau stammt […]“; Papp 1981, Sp. 662: „aus Seckau“; Freytag 1986, S. 145: „die aus dem regulierten Augustinerchorherrenstift Seckau in der Steiermark stammende Handschrift 1501 […]“. 38 Hellgardt 1988, S. 103 mit Tabelle. 39 Csanády 2008, S. 480 mit Tabelle, unter der Rubrik Entstehung: Seckau nicht wahrscheinlich. 40 Csanády 2008, S. 74 erwähnt Hs. G, 105r‒112r als Träger parallel in Graz, Universitätsbibliothek, Ms 1550, 67r‒73r überlieferter deutscher, der sog. Seckauer (früher St. Lambrechter) Gebete. Während Schönbach 1876, S. 173 die Überlieferung in Ms 1550 aus dem 2. Viertel des 13. Jh.s (vgl. http://www.handschriftencensus.de/1408, 20.11.2013) als Abschrift von Ms 1501 ansieht, geht Wilhelm 1914/16, S. 191 und ihm folgend Hellgardt 1988, S. 115 von einer gemeinsamen Vorlage des 12. Jh.s aus. 41 Csanády 2008, S. 488. 42 Vogt 1874, S. 108, S. 142. 43 Uhlirz 1913b, Tafel 7a.
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zur Datierung der Textgenese der Litanei verpflichtet,44 was schon Karl-Ernst Geith bemerkte.45 Zur paläographischen Beschreibung im Schriftvergleich zieht Uhlirz die undatierte St. Florianer Hs. XI 14 bei, mit dem Ergebnis einer Datierung der Niederschrift für G zwischen 1150 und 1170. Dieses Ergebnis, das sich in der Argumentation ganz auf die prosopographischen Daten des Florianer Propstes Engelbrecht zurückbezieht, hat bis heute den Rahmen für die Datierung von G vorgegeben und maßgeblich bestimmt.46
2 Eine ‚Neubewertung‘ der Überlieferung 2.1 Graz, Universitätsbibliothek, Ms 1501 (G) Die ausführlichste und zuverlässigste Beschreibung dieser Handschrift hat KarlErnst Geith vorgelegt,47 wie eine Autopsie, die sich zuallererst auf den zweiten Teil der Handschrift konzentrierte, im Juli 2013 erwiesen hat. 48 Ernst Hellgardt steuerte mehrfach Beobachtungen zu G bei.49 Die kodikologischen Daten: Pergament, 134 Bl. Buchblock: (160‒162) x (115‒120)
|| 44 Uhlirz 1913b, zu Tafel 7a. Wir zitieren die vollständige Passage: „Da zudem das Gepräge der Schrift der Annahme Vogts, dass die Litanei um 1170 in St. Florian entstanden und von da die kürzere Fassung nach Steiermark gelangt sei, nicht zum besten entspricht, wird man in der vorliegenden Hs. am ehesten eine von dem Verfasser selbst angefertigte oder veranlasste Niederschrift erblicken dürfen. Da auch Seckau Chorherrnstift war, konnte leicht eine Abschrift nach St. Florian gelangen, wo auf Geheiss des Propstes Engelbrecht (1172‒1203) der recht wohl als Abt bezeichnet werden konnte (vgl. A. Czerny, Das älteste Totenbuch des Stiftes St. Florian im Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 56, S. 273, 300) eine Überarbeitung, möglicherweise von dem Dichter selbst vorgenommen wurde, von der sich bis 1870 eine in einem Kloster des westlichen Mitteldeutschland angefertigte Abschrift erhalten hat. Demnach wäre Entstehung der vorliegenden Reinschrift in Seckau zwischen 1150 und 1170 anzunehmen.“ 45 Geith 1965, S. 121: „Ausgehend von einer Datierung von Heinrichs Litanei wird die Eintragung dieser Dichtung in die vorliegende Handschrift [G] von Uhlirz in die Jahre zwischen 1150 und 1170 gesetzt.“ 46 Datierungen der Hs. G: Geith 1965, S. 121: 1150‒1170; Maurer 1970, S. 124: nach 1160; Hellgardt 1988, S. 114: 3. Viertel 12. Jh.; Knapp 1994, S. 461 folgt Hellgardt 1988. 47 Geith 1965, S. 114‒120, ohne die Ausführungen zur Juliana-Legende. 48 Wir danken Frau Ute Bergner und Herrn Dr. Thomas Csanády (Universitätsbibliothek Graz, Sondersammlungen) für die erfahrene freundliche Unterstützung. 49 Hellgardt 1988, S. 114ff., passim.
70 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller moderne Bleistiftfoliierung: 1‒134. In Teil II (70‒134) eine zweite moderne, ältere Foliierung in Bleistift (70r‒133r): 1‒64. Lagen: Teil I (1‒69): 2.IV16 + (IV + 1)25 + 2.IV41 + II45 + 3.IV69; Teil II (70‒134): 4.IV101 + (IV + 1)110 + 3.IV134. Schriftraum I: 120 x 85; II:110 x (80‒90) , einspaltig. Zeilen I: 15; II: 13. Hände des 12. Jh.s: Teil II (70r‒104v) spätkarolingische Buchminuskel einer Hand; (105r‒129v; 131v; 132v‒133) mehrere, überwiegend ungeübt und ungelenk schreibende Hände. Vernähte Pergamenteinrisse in Teil I, in Teil II: Bl. 104, 107, 125, 131. Die fünfte Lage des zweiten Teils bestand ursprünglich regulär auch aus vier Doppelblättern und umfasste nach der heutigen Blattzählung die Blätter 102 bis 110 in dieser Abfolge: 102 103 104 x*/y* 108 109 110, dessen Mittelblatt der Lage (x*/y*) verloren gegangen ist,50 mit den ursprünglich leeren Blättern 108, 109 und 110. Mit den Ergänzungen des Doppelblatts 105/107 und des Einzelblatts 106/106 discissum ist der heutige Zustand der fünften Lage hergestellt, mit der Abfolge der Blätter: 102 103 104 105 106/106disc. 107 108 109 11051 Der Befund erlaubt es, innerhalb des zweiten Teils von G in Bl. 70r‒110v einen ursprünglich eigenständig existierenden Faszikel zu erkennen, dessen letzte drei Blätter (jetzt Bl. 108‒110) leer waren. Dieser Faszikel enthielt mit höchster Wahrscheinlichkeit auf Bl.70r‒x*r den gesamten Text von Heinrichs Litanei aus der Feder dessen, der heute Bl. 70r‒104v schreibt, mitsamt den, wenn man jetzt den Codex auf Bl. 105r aufschlägt, von anderer, jüngerer Hand nachgetragenen vier Schlussversen. Dass eine jüngere Hand ab 105r, Zeile 5 die damals leeren Blätter 108‒110 über die Lagen- und Faszikelgrenze Bl. 110/111 hinaus mit den Seckauer Gebeten (früher St. Lambrechter Gebeten) beschreibt, hat die Erkenntnis, dass in G eigentlich ursprünglich der Text der Litanei als Einzelüberlieferung vorliegt, verstellt und erschwert. Wie Karin Schneider bemerkt, hat die „spätkarolingische Buchminuskel des 11. und 12. Jahrhunderts [...] über weite Zeiträume ihren Gesamtaspekt kaum verändert“,52 so dass nur an wenigen Formen der Buchstaben eine Entwicklung in ihren Erscheinungsformen zu beobachten ist, die eine relative Datierung erlauben. Dazu gehören „das a, dessen Schaft sich aus der früheren Schräglage senkrecht aufgerichtet hatte und den Bogen überragte; das runde d [...] war neben der aufrechten Form [...] im 12. Jahrhundert bereits im Gebrauch, ebenso wurde das runde s neben der Langform meist in Auslautstellung verwendet; anlautend ersetzte v nach und nach das ältere || 50 Näheres dazu siehe unten S. 80. 51 Die Unterstreichungen verweisen auf die Ergänzungen. Die Doppelblätter 102/108, 103/109, 104/110 bestehen aus Pergament gleicher, festerer Qualität, während die ergänzten Blätter sich ungleich dünner (Rasuren?) anfühlen. 52 Schneider 1987, S. 9.
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u.“53 Um genauere Ergebnisse zu erhalten, ist ein Schriftvergleich mit – wenn möglich – datierten bzw. datierbaren Schriften vonnöten, die sowohl im Gesamteindruck als auch in einzelnen Erscheinungsformen von Buchstaben und Ligaturen in hohem Maß übereinstimmen sollten. Wir vergleichen das Schriftbild in Graz, Universitätsbibliothek, Ms 1501, 70r ff. 54 (G) mit dem der Handschrift München, Universitätsbibliothek, Cim. 19 (2o Cod. ms. 28)55, der sog. Biburger Bibel (Altes Testament), von drei Schreibern 1147 im Auftrag des Salzburger Erzbischofs Eberhard I. (1147‒1164), davor (1133‒1147) Abt von Biburg, dort geschrieben.56 Zum Schriftvergleich wird die Schrift der Haupthand B herangezogen.57 a: Die ältere, schräggeneigte Form des Schaftes ist fast aufgerichtet, nur noch schwach geneigt: Hs. G, 70v Z. 1 champh, han, inphangen; ‒ Cim. 19, 137ra Z. 3 (sex)ta. 137rb Z. 6 ciuitatem; 137rb Z. 8 sacerdos. d: Die ältere Form des langen d geht in die runde Form über. In beiden Handschriften kommt offenbar äußerst selten ein rundes d vor. Langes d: G, 70r Z. 2 dem, des; Z. 7 du; ‒ Cim. 19, 137ra Z. 3 cecidit; Z. 7 iordanem; Z. 8 occidentem. Rundes d: G, 77r Z. 3 doch; ‒ Cim. 19, 137ra Z. 26 balaad. s: älteres, langes s: ſ entwickelt sich zu kurzem s, am Schaft des ſ befindet sich mittig der Anstrich. ſ: G, 70r Z. 1 ſcowaere; Z. 2 deſ můtiſ. 74r Z. 5 deſ; ‒Cim. 19, 137ra Z. 1 ſuas; Z.1 ſorte. – s58: G, 74r Z. 1 vviſtůmis; Z. 4 des; Z.5 libis; Z. 6 ſtigis; ‒ Cim 19, 137ra Z. 3 pars; Z. 22 ſors. m, n: Schlussschaft nach links gebogen; -m, -n mit waagrechtem Schlussstrich auf der Zeile. G, 70r Z.2 dem; Z. 4 uersperren; Z. 5 giwerren; Z. 8 machen; Z. 9 cefleischlichen ſachen; ‒ Cim. 19,137ra Z. 1 cognationem; Z.7 terminus; Z. 11 meridiem; Z. 12 iordanum, ortum. h: Schaft des Bogens nach links gebogen, auf der Zeile endend. G, 70r Z. 4 mach, nicht; Z. 7 dehein; Z. 8 mich; ‒ Cim. 19, 137rb Z. 6 habitauit; 137ra Z. 4 heleph et helon. || 53 Schneider 1987, S. 9f. 54 Digitalisat im Internet: http://143.50.26.142/digbib/handschriften/Ms.1400-1599/Ms.1501/index5.html, 20.11.2013. 55 Müller 2011, Tafelband Abb. 6; Digitalisat im Internet unter Keimelion, Cim. 19: http://epub.ub.uni-muenchen.de/10935/1/Cim._19.pdf, 20.11.2013. 56 Siehe Müller 2011, Textband 4. 57 Müller 2011, Tafelband: Abb. 6 (München, Universitätsbibliothek, 2o Cod. ms. 28, 137r). 58 Rundes s kommt in G (Ms 1501, 70r‒104v) nur sporadisch vor.
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g: rundes g, geschlossene Schlaufe: G, 70r Z. 2 ſagiraere; Z. 5 giwerren, manege; ‒ Cim. 19, 137ra cognationes; Z. 9 egredietur; Z. 16 magdahel. Im deutschen Text in Handschrift G, 70r‒104v kommt außer der st- noch ae-Ligatur vor. Die im ursprünglich selbstständigen Faszikel in G: 70r‒110v von Bl. 70r‒104v schreibende Hand kann nach paläographischem Befund nach Vergleich mit dem 1147 datierten Cim. 19 begründet vor der Mitte des 12. Jahrhunderts angesetzt werden.59
2.2 Straßburg, Seminarbibliothek Cod. C. V. 16.6. 4o (verbrannt), sog. ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ (S) Eine zweite Überlieferung von Heinrichs Litanei in einer etwa um ein Drittel längeren Fassung (1468 Verse gegenüber 950 in der Grazer Handschrift60) befand sich in der sog. ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ (Straßburg, Seminarbibl., Cod. C. V. 16.6. 4°), die 1870 beim Brand der Straßburger Bibliothek zerstört wurde.61 Dorthin war sie etwa 1820 aus dem Jesuitenkolleg im elsässischen Molsheim gelangt. Dank eines Gesamtabdrucks des Codex aus dem Jahr 1837 durch Maßmann62 wissen wir um dessen Inhalt Bescheid: Er enthielt drei vollständige, frühmittelalterliche deutsche Texte ([Bl. 1va‒9rb] Der arme Hartmann: Rede von deme heiligen gelouben; [Bl. 9rb‒13va] Heinrich: Litanei; [Bl. 13vb‒29ra] Straßburger Alexander) und den Anfang des Pilatus (Bl. 29ra‒30va). Die Schreibsprache ist sicher westmitteldeutsch, jedoch ist eine genauere Zuordnung umstritten. Eine detaillierte Schreibsprachenuntersuchung zur Handschrift steht noch aus, wenn auch die Einschätzung Schröders, der die Entstehung des Codex im moselfränkischen Sprachgebiet als wahrscheinlich ansieht,63 von der Forschung am häufigsten rezipiert wurde.64 Schröder vermutet wohl auch richtig, dass die Handschrift „auf ein reicheres Pro|| 59 Uhlirz hatte auch die St. Florianer Vergleichshandschrift XI 14 in die Mitte des 12. Jh.s datiert (Uhlirz 1913a), worin ihm der Kunsthistoriker Kurt Holter folgte (Holter 1988, S. 61). Hingegen spricht sich Friedrich Simader ebenfalls aus kunsthistorischer Sicht für eine Datierung dieser Vergleichshandschrrift „um 1140/1150“ (Simader 2004) bzw. für das 2. Viertel 12. Jahrhundert aus (Simader 2002, S. 11 und Simader 2007, S. 343). 60 Für den Textvergleich ist am besten die Ausgabe von Kraus zu benützen, die die beiden Überlieferungen im Paralleldruck bietet (Kraus HL, S. 28‒62). 61 Vgl. den Eintrag im Handschriftencensus: http://www.handschriftencensus.de/3680, 20.11.2013. Dort findet sich auch die maßgebliche Literatur. 62 Maßmann HL. 63 Schröder 1926, S. 159. 64 Zur Forschungsdiskussion über die Schreibsprachenbestimmung vgl. Mackert 2001, S. 155.
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gramm und einen sehr viel größeren Umfang angelegt“65 war, denn ein geplanter Umfang von nur 30 Blättern wäre für eine Handschrift dieser Größe und Zeilenzahl höchst ungewöhnlich. Vielleicht blieb sie, ebenso wie die Grazer Handschrift, lange Zeit ohne Einband. Das könnte sowohl den Verlust des äußeren Doppelblatts der zweiten Lage als auch ihren fragmentarischen Zustand an sich erklären. „Wir dürfen vielmehr annehmen, daß der geplante umfangreiche Sammelkodex noch eine mindestens gleich große Anzahl größerer Dichtungen umfassen sollte“, 66 so Schröder, dessen Bedauern über den Verlust der Vorlagen und des Gesamtprogramms der Handschrift man sich auch heute noch anschließen muss. Wie die Litanei, ein sicher im bairisch-österreichischen Raum entstandener Text, nach Westmitteldeutschland gelangte, ist bisher völlig ungeklärt. Vor wenigen Jahren konnte Christoph Mackert durch die Entdeckung eines 1828 publizierten Faksimiles des Beginns des Alexander (Bl. 13vb)67 auch die bisher nur lückenhaften kodikologischen Angaben zur Handschrift ergänzen: Straßburg, Seminarbibl., Cod. C. V. 16.6. 4°: noch 30 Blätter (Bl. nach 8 und 14 [äußerstes Doppelblatt der zweiten Lage] verloren), Pergament, Blattgröße: 290‒300 x 210 mm, Schriftraum: 235‒240 x 150‒160 mm, zwei Spalten, 56 Zeilen, Verse nicht abgesetzt, Reimpunkte.68 Das wichtigste Ergebnis von Mackerts Untersuchung ist jedoch die nun durch die Abbildung überzeugend belegbare Korrektur der Datierung der Handschrift in das erste bis zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.69 Bis dahin galt nämlich als communis opinio der Forschung die von Maßmann nach einer mit dem Jahr 1187 versehenen Randnotiz vorgenommene Datierung in oder um dieses Jahr,70 jedenfalls noch ins 12. Jahrhundert. Festzuhalten ist damit jedenfalls, dass die bisher angenommene Zeitspanne von der Niederschrift der Grazer Handschrift, für die wir ja eine Datierung noch vor der Mitte des 12. Jahrhunderts annehmen, und der Niederschrift der ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ auf etwa ein dreiviertel Jahrhundert auszudehnen ist.
|| 65 Schröder 1926, S. 151. 66 Schröder 1926, S. 152. 67 Natalitia 1828, nach S. 44 (Die Publikation ist nun auch online verfügbar: http://www.mdz-nbnresolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10973715-0). Die Schwarzweiß-Abbildung wurde von Mackert 2001, nach S. 146 nachgedruckt. 68 Mackert 2001, S. 151f. Hier wiedergegeben nach dem Eintrag im Handschriftencensus (vgl. oben Anm. 61). 69 Ins Spiel gebracht wurde diese Datierung bereits aufgrund der sprachlichen Formen von Schröder 1926, S. 150. 70 Maßmann HL, VII und bereits davor (Nachweise siehe Mackert 2001, S. 156 Anm. 54).
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3 Folgerungen Wir besitzen also zwei Textzustände unter dem Titel Letania71 bzw. Litanie72, in zwei ein dreiviertel Jahrhundert voneinander getrennten Niederschriften, deren zeitliche und räumliche Distanz sich unterschiedlich niederschlägt und auswirkt. In der Schreibsprache verschieden,73 repräsentieren sie sprachgeschichtliche Entwicklungen: urstende74 z.B. kennt S nicht, verwendet an anderer Stelle dafür ufstande.75 Prägnant differenzieren sich beide Texte in der eigenen Bewertung als gibet76 und getihte.77 Während der ältere im Gebrauchshorizont der Liturgie bleibt, den eigentlichen Gedanken der Buße verfolgt, wie er sich im Vollzug der Litanei im Offizium mit dem Beten der Bußpsalmen78 verbindet und offenlegt, nimmt sich der jüngere, umfangreichere Text , indem er getiht, schriftliche Aufzeichnung genannt wird, zunächst bescheiden zurück. Will man, was möglich, im orthabe dirre getihte,79 den (anonymen) Urheber (Schöpfer) dieses (kunstvoll) Gereimten sehen, würde es diese späte(re) Fassung in die Nähe eines bewusst gestalteten Artefakts rücken und somit einer mittelbaren liturgischen Gebrauchssphäre entheben. Zwischen den Text der Litanei in G und jener in S mit wenigen Auslassungen, jedoch mit vielen Erweiterungen gegenüber der in G überlieferten Fassung, wird man aus überlieferungs- und textgeschichtlicher Sicht wohl mehrere Zwischenstufen zu setzen haben, die, in ca. 75 Jahren zwischen Österreich/Bayern und dem westmitteldeutschen Raum entstanden, bis heute als verloren gelten können.80 Die umfangreichsten Erweiterungen in S betreffen die ähnlich wie in G gestalteten Anrufungen der Heiligen: des Evangelisten Johannes (V. 618‒661), die irrtümlich unter die Confessores gereihten Märtyrer Blasius (V. 746‒805) und Columban [= Coloman] (V. 806‒897), sowie Nikolaus (V. 898‒947), Aegidius (V. 948‒977), Margarete (V. 1005‒1035) und Maria Magdalena (V. 1096‒1242). Wenn man die Anpassungen und || 71 Handschrift G, 70r. 72 Handschrift S, 9rb. 73 G: bairisch-österreichisch; S: westmitteldeutsch. 74 G: Maurer HL, 237 V. 839. 75 S: Maurer HL, 221 V. 1161. – ûfstandunge ist im 13. Jh. im Niedersächsischen belegt bei Brun von Schönebeck. 76 G: Maurer HL, 251 V. 945 Dizze gibet heizzit letanie; S: Maurer HL, S. 248 V. 1461 Diz heizit die letania; G: Maurer HL, S. 189 V. 530 vernim daz gibet ersetzt S durch vernim waz dir biete (Maurer, HL, S. 188 V. 593). G: Maurer HL, S. 249 V. 942 Swer mit sinne dizze gibet verstât fehlt S. 77 S: Maurer HL, S. 198 V. 702 zu allir diner getihte; S: Maurer, HL, S. 248 V.1457 den orthabe dirre getihte. 78 In der Zählung der Vulgata die Psalmen 6, 31, 37, 50, 101, 129 und 142. 79 S: Maurer, HL S. 248 V. 1457. 80 Nach Vogt 1876, S. 128 entsteht eine Zwischenstufe auf Veranlassung des Abtes Engelbrecht durch den Dichter des Originals der Litanei, das mit „manche(n) Änderungen und kleine(n) Zusätzen“ in G repräsentiert ist, während die Zwischenstufe in der Sprache der Hs. S vorliegt.
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Änderungen im Verlauf der Textgeschichte der lateinischen AllerheiligenlitaneiDichtung, die Peter Stotz am Beispiel von Ratperts Ardua spes mundi darlegt, und deren Deutung81 auf die beiden Fassungen der Litanei überträgt, dass nämlich der Wille, die jeweils örtlich verehrten Heiligen zu berücksichtigen, die Addition, auch in gereimter Form, gleichsam notwendig machte, liegt es nahe, in den in S gegenüber G erweiterten Textpassagen Spiegelungen verschiedener Schichten solcher Adaptationen zu sehen. Freilich gilt es dabei zu berücksichtigen, dass die dichtere Überlieferung in mehreren Textträgern, ihre in den Handschriften durch Rubriken bezeugte liturgische Verwendung82 die Zuordnung zur Funktion dieser lateinischen Dichtung gegenüber derjenigen der volkssprachlichen Litanei vereinfacht. Weder der Übergang von der älteren Funktion des Gebets in G zu einer, sich vielfältigen Funktionen öffnenden, geistlichen Dichtung hin, lässt sich in der Textgestalt, wie sie S tradiert, in unterscheidbaren Stufen evidenzbasiert83 nachvollziehen, noch wird es oft gelingen, die Verehrung der angerufenen Heiligen einzelnen Orten ihres Kults bestimmt zuordnen zu können. Dem steht schon die Vielzahl an Diözesan-, Kloster-, Kirchenund besonders die bis nach der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstehenden Altarpatrozinien im Wege. Wir vermerken dazu, ohne eine Schlussfolgerung ziehen zu wollen, für Seckau die Weihe eines Maria Magdalenen- und Margareten-Altars für die Jahre vor 115284 bzw. nach 1197 III 19,85 sowie für das Stift Admont, Blasius, anfangs zusammen mit Maria, als Klosterpatron. Im Falle des hl. Coloman - schon früh hat die Forschung vor Vogt diese Konjektur86 angebracht – lässt sich das Zentrum seiner Verehrung eindeutig festmachen. Denn der zeitnaheste, Historizität beanspruchende Bericht über die Passio Cholomanni am Ende des siebten Buches im Chronicon Thietmars von Merseburg zum Jahr 1018 liefert chronikalisch knapp nicht nur die wesentlichen Teile des für die Märtyrerlegende typischen Erzählmusters, sondern bindet durch den Bericht vom
|| 81 Stotz 1972, S. 66: „Wie wir sehen, fühlte man mancherorts das Bedürfnis, den namhaftesten Märtyrern der Kirche die örtlich besonders verehrten beizugesellen. Das bedeutet nicht ‚Verunechtung‘ von Ratperts Dichtung; was Dreves etwas abschätzig ‚Zersungenheit‘ des Liedes nennt [AH 50, 239], ist einfach Zeugnis lebendigen liturgischen Gebrauchs – über den sich Ratpert gefreut hätte. So wie man in die Litaneitexte in Prosa überall örtlich wichtige Heilige einsetzte, so tat man es eben auch hier, nur mußte man die Anrufungen in Verse gießen.“ 82 Stotz 1972, S. 64f. 83 Es fehlen dazu überlieferte Zwischenstufen. Einer sprachgeschichtlichen Untersuchung der Textgestalt in S könnte es gelingen, Schichten der Entwicklung freizulegen. 84 Allmer 2005, S. 509. Erzbischof Eberhard I. von Salzburg (1147‒1164) weihte den Altar der Margaretenkapelle. 85 Roth 1984, S. 226. 86 Vgl. Vogt 1876, S. 140: Columban zu Coloman.
76 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller Begräbnis des Heiligen den Kult an Melk.87 Zwischen der Anrufung: Herre sancte Columban/ hilf dinen armen dienistman,/ einen offin sundere,/ daz ich ein nachvolgere/ dinen tugindin werde88 („O Herr, o heiliger Columban [= Coloman], hilf Deinem armen Ministerialen, einem Sünder gleich einem Zöllner, damit ich ein Nachfolger deiner Tugenden werde“) und der Bitte in den Schlussversen: daz si diner gute nach treten/ uze disen bitteren herban./ des bite wir dich, herre sancte Columban89 („Dass sie auf deiner Spur, aus diesem bitteren Aufruf zur Heerfahrt [= aus dieser bitteren Verpflichtung zum Kampf] heraus, nach deiner Vollkommenheit streben, darum bitten wir dich, o Herr, o heiliger Columban [= Coloman]“) bestimmen die Aussagen zur Nachfolge Christi in Gestalt der Nachfolge des Heiligen und zur Weltflucht im Wesentlichen die 84 Verse inhaltlich. Dass der Dichter des Coloman-Teils aus der Passio Sancti Cholomanni geschöpft hat, ist spätestens seit Roediger90 bekannt. Des Märtyrers Flucht aus der vertrauten Umgebung,91 sein Aufbruch zur Pilgerreise, do
|| 87 MGH SS. rer. germ. NS 9, S. 493: In Bawariorum confinio atque Mararensium quidam peregrinus nomine Colomannus ab incolis, quasi speculator esset, capitur et ad professionem culpae, quam non meruit, diris castigacionibus compellitur. Ille, cum se nimis excusaret pauperemque Christi se sic vagari affirmaret, in arbore diu arrida innocens suspensus est. Nam caro eius a quodam postea paululum incisa sanguinem fudit, ungues ac capilli crescebant. Ipsa quoque arbor floruit et hunc Christi martirem esse monstravit. Hoc marchio Heinricus ut comperit, corpus eiusdem in Mezilecun sepelivit. („An der Grenze zweier Gebiete, der der Baiern und Mährer, wird ein Fremder namens Colomann von den Bewohnern, als ob er ein Kundschafter wäre, aufgegriffen und zu einem öffentlichen Eingeständnis seiner Schuld, die er nicht verdiente, durch schreckliche Züchtigungen gedrängt. Als jener sich heftig rechtfertigte und bekräftigte, dass er als Armer um Christi willen herumzöge, wurde er an einem schon lange Zeit dürren Baum unschuldig erhängt. Danach aber begann sein von irgendjemanden durch einen geringfügigen Schnitt verletztes Fleisch zu bluten, Nägel und Haare wuchsen. Selbst der Baum erblühte, und dies zeigte, dass er ein Märtyrer Christi war. Als dies Markgraf Heinrich in Erfahrung brachte, ließ er den Leichnam in Melk bestatten“). 88 Maurer HL, S. 205, V. 806‒810. Derjenige, der um den Beistand Colomanns fleht, bezeichnet sich als dessen dienistman, dessen Ministerialen. Das Institut der Ministerialität im 10./11. Jahrhundert herausgebildet, liegt 1023/1025 bzw. 1061/62 bereits kodifiziert in den Hofrechten von Worms und Bamberg vor. offin ist hier mit publicanus, Zöllner übersetzt. In der Bibel werden peccator („Sünder“) und publicanus („Zöllner“) oft als Synonyma gebraucht. Vgl. dazu etwa Mt 9,10‒11. 89 Maurer HL S. 207, V. 895‒897. Das Institut des Heerbanns, als „Aufgebot der Freien zur Heeresfolge“ (Lexer Bd. 1, Sp. 1251) war im 12. Jh. auf die Ministerialen ausgedehnt. Es verweist das Wort herban auf den dienistman der Anfangsverse zurück. 90 Roediger 1876, S. 333f. 91 Maurer HL, S. 205f., V. 836‒844. Mit Sicherheit hat der Verfasser der Verse Swer min sulhe minne hat/ daz er vater unde muter lat/ sin wib unde sine kint,/ vnde di sine kunliche sint,/ sin hus vnde sin eigin,/ der wils in lon zeigen,/ da mite ih ime geldin wil./ ih geb im zeinzichstunt also uil/ zu deme ewige libe die Verse des Matthäusevangeliums Mt 19, 29 vor Augen gehabt: Et omnis qui reliquerit domum, vel fratres, aut sorores, aut patrem, aut matrem, aut filios, aut agros, propter nomen meum, centuplo accipiet, et vitam aeternam possidebit („Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern, Vater und Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird es hundertfältig wieder empfangen und das ewige Leben gewinnen.“).
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er uze sines uater lande/ vil gestorticliche irnande/ in daz sware ellende,92 die Standhaftigkeit des Märtyrers,93 sein jesusgleiches Sterben zwischen zwei Schächern,94 all die mitgeteilten Ereignisse und Charakterzüge finden sich im ältesten Teil der Passio Sancti Cholomanni wieder, so dass die in Handschrift S fixierte Verwechslung mit Columban sehr früh erkannt, und durch die Konjektur zu Coloman beseitigt werden konnte. Der Verfasser der Verse, die Colomans Weltflucht, seine Flucht aus der vertrauten Umgebung beschreiben und bewerten,95 hätte sich ebenso an dem Beginn der Praefatio zur Passio Cholomanni: Princeps apostolorum Petrus audiens a domino mundi contemptores centuplo remunerandos hic emolumento et in futuro vitam eternam possessuros cum Christo96 („Der Apostelfürst Petrus hörte vom Herrn, dass die Verächter der Welt hier hundertfach belohnt und in Zukunft das ewige Leben mit Christus besitzen werden“) orientieren können, indem er den Verächter der Welt (mundi contemptor) als einen, der alle Bindungen und allen Besitz aufgibt, in Kenntnis der Verse bei Matthäus 19,29 be- und umschreibt. Der älteste Teil, die Passio, wird in der Forschung als „wohl erst nach Mitte des XII. Jahrhunderts verfaßt“97 bezeichnet. Georg Waitz hat im knappen Vorwort zu seiner Edition dem Melker Abt Erchenfrid die Verfasserschaft für den älteren Teil der Passio abgesprochen und damit die Melker Haustradition in ihrer historischen Wirksamkeit außer Kraft gesetzt, jene Haustradition, die auf einem Eintrag in den Melker Annalen ‒ freilich einem Nachtrag des 14. Jahrhunderts – fußt,98 der als Vermutung formuliert lautet: tertius abbas huius loci, qui hystoriam sancti Colomanni dicitur dictasse99 („Der dritte Abt an diesem Ort habe, sagt man, die Geschichte des Hl. Coloman verfasst“). Jener dritte Abt des Benediktinerklosters Melk, Erchinfridus, lenkte die Geschicke der
|| 92 Maurer HL, S. 206, V. 848‒850 („Da er es wagte, aus seines Vaters Land kühn in die beschwerliche Fremde zu ziehen.“). Entspricht MGH SS. 4, S. 675, Z. 16 peregrinationis iter arripere („rasch zur Pilgerreise aufzubrechen“). 93 Maurer HL, 206, V. 871 sin mut was umbewegelich („standhaft war sein Wille“). Entspricht MGH SS. 4, S. 675, Z. 25 mentis sue constantiam viriliter corroborando („durch die erstarkte männliche Standhaftigkeit seines Willens“). 94 Maurer HL, 206 f., V. 876‒880 sin tot was gelich deme dinen,/ do lieze du wol scinen,/ wi lieb er dir were./ zwiscen zwein scachere/ wart er irhangen also du selbe („Sein Tod glich dem Deinen, dadurch hast Du deutlich erkennen lassen, wie lieb er Dir war. Zwischen zwei Schächer, wie Du selbst, wurde er erhängt.“). Entspricht MGH SS. 4, S. 675, Z. 37/38 duobus latronibus suspensis cum eo („mit zwei zusammen mit ihm gehängten Räubern“). 95 Siehe Anm. 91. 96 MGH SS 4, S. 675, Z. 1‒2. 97 Lhotsky 1963, S. 203. Diese Datierung ist abhängig von Admont, Cod. 412. 98 MGH Necr. 5, S. 554, zum 17. Mai ist Erchenfrids Tod vermerkt: Kal. XVI. [Iunii] Erchinfridus abbas nostri coenobii obbiit. Es folgt der oben zitierte Nachtrag des 14. Jahrhunderts. Vgl. auch MGH SS. 9, S. 504, Zeile 26 mit Anm. 63. 99 MGH Necr. 5, S. 554.
78 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller Mönchsgemeinschaft über lange vierzig Jahre,100 und besaß wohl ein – modern gesprochen – ausgeprägtes historisches Bewusstsein, denn in einem der ersten Jahre seines Abbatiats, dem Jahr 1123, wurde mit der Aufzeichnung des Grundstocks der Annales Mellicenses begonnen.101 Wenngleich ihm neuere Forschung, unverändert seit Georg Waitz, nur die Verfasserschaft für den an die Passio anschließenden Mirakelteil verhalten und zweifelnd zuerkennt,102 wird man in Abt Erchenfrid trotzdem einen Förderer des Coloman-Kults sehen dürfen, denn in den Annales Mellicenses wird das Martyrium des Heiligen in Stockerau, sein Begräbnis dort und jenes in Melk für die Jahre 1012, 1013 und 1014 vom Schreiber des Grundstocks der AnnalenHandschrift verzeichnet.103 Die Verse 887‒890 in der Handschrift S fordern Coloman/Columban auf: beujl vns gote mit deme gebete/ unde gedenke des zv vorderis,/ durch des gebot dv hie genant bis,/ des abtes engelbrechtis104 („Mit diesem Gebet, anempfehle uns Gott und gedenke zuvorderst dessen, durch dessen Auftrag du hier [im Gebet] angerufen wirst, des Abtes Engelbrecht“) und beziehen sich bei genauem Lesen auf den Auftraggeber allein der Verse 806‒897, des Gebets an Coloman. Es erstaunt nicht, dass in der in den Anfangsjahrzehnten des 13. Jahrhunderts im westmitteldeutschen, rheinfränkischen Sprachraum entstandenen ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ S als einzigem Träger der Überlieferung – weitab vom Kultzentrum Colomans – im Gebet stattdessen Columban angerufen wird.105 Die Konjektur Columban zu Coloman hat keine weiteren Konjekturen nach sich gezogen, weil zum einen die Datierungen von G und S seit dem Einsetzen germanistischer Forschung als nahezu unverrückbare Eckdaten feststanden, zum anderen an der Vorstellung, es handle sich bei der in S überlieferten Textform um eine, das gesamte Gedicht mit seinen ursprünglich 952 Versen in G umfassende, erweiterte Fassung eines Autors, festgehalten wurde. Erinnert man sich daran, dass in Vers 889 der Auftraggeber nur des Coloman-Teils angesprochen ist, dann wird man – des Kultzentrums Melk106 und des zeitnah zur Entstehung der Passio sancti Cholomanni regierenden Abtes Erchinfri|| 100 Von 1121‒1163 währte sein Abbatiat, diese Eckdaten sind in den Annalen belegt (MGH SS 9, S. 501, Z. 25: 1121 die Wahl Erchenfrids; MGH SS 9, S. 504, Z. 26: 1163 Erchinfridus Medilicensis abbas Hierosolimam proficiscitur („1163, der Melker Abt Erchenfrid bricht nach Jerusalem auf.“). 101 MGH SS 9, S. 501, Z. 32: 1123. Libellus iste scriptus est („1123 wurde dieses Buch geschrieben“). 102 Rep. font. 4, S. 370: Erchenfridus abbas Mellicensis †a. 1163. Auctor reputatur miraculorum s. Colomanni (BHL 1882). Lhotsky 1963, S. 203 „vielleicht vom Abte Erchanfried [...] selbst verfaßten Mirakelteil“. 103 MGH SS 9, S. 497, Z. 48‒52. 104 Maurer HL, S. 207. 105 Was schon früh als Fehler erkannt und verbessert wurde, vgl. oben Anm. 86. 106 Die Verbreitung des Coloman-Kultes war und ist, wenn man die Kirchen-, bzw. die Altarpatrozinien heranzieht, im Wesentlichen auf das heutige Gebiet von Nieder- und Oberösterreich als Kernland begrenzt. Im altbayrischen Gebiet, südlich der Donau, findet sich der Heilige an nachrangigen Altären, meist in Kapellen verehrt. Vgl. dazu die Kartenbeilage in: Niederkorn-Bruck 2012.
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dus wegen ‒ die Konjektur des abbit Engelbrehtis zu „des abbit Erchinfridis“107 begründet ins Auge fassen dürfen.108 Für die Datierung der Textgenese des ColomanTeils bedeutete dies, dass der Auftrag zur Abfassung vor das Jahr 1163, dem Zeitpunkt der zweiten Jerusalemfahrt Erchenfrieds, von der er nicht mehr zurückkehrte,109 zu setzen wäre. Wenn man mit dem gedenke des zv vorderis nicht bloß das Gedenken des Heiligen an den Menschen Erchenfried, sondern die Memoria an den Verstorbenen verbindet, hieße es, dass der Auftrag an den Verfasser des ColomanTeils wohl in die Zeit kurz vor Erchenfrieds Peregrinatio nach Jerusalem, die Abfassung des Gebets noch in das Jahr 1163 oder kurz danach fiele.
4 Zur Entstehung der Niederschrift der Letania in der Handschrift Graz, Universitätsbibliothek, Ms 1501 (G) Allen, die sich über längere Zeit mit Handschriften intensiv beschäftigt haben, ist das Phänomen getilgter Textpassagen durch Übermalung oder mittels Entfernung von Blättern vertraut. Unkenntlich gemacht, zuweilen gänzlich entfernt wurden in der Hauptsache zwei Kategorien von Eintragungen: Zum einen betrifft dies meist Einträge zur Besitz- und Buchgeschichte, zum anderen werden vor allem unliebsam gewordene Textpassagen, beleidigende, kompromittierende, unflätige Auslassungen einer manchmal auffälligen, bisweilen aber auch einer eher nicht in die Augen fallenden Zensur unterworfen. Nach der kodikologischen Analyse des zweiten Teils der Hs. G110 darf angenommen werden, dass innerhalb des heutigen zweiten Teils, ursprünglich in fünf Quaternionen, Bl. 70r‒110v mit den ursprünglich drei leeren Schlussblättern (108r‒110v) als eigenständiger Faszikel vorlag. Die heutige Störung des ursprüng-
|| 107 Zur Genitivendung -is (mitteldeutsch), -es (oberdeutsch) vgl. z.B. Nibelungenlied: II 24,4 des küenen Sîfrides lîp (Hs. B, St. Gallen Cod. 857, zitiert nach Reichert 2005, S. 45). – Lateinische Formen, Vokative kommen bei Anrufungen in der Litanei durchaus vor. 108 Mit dieser Konjektur hätte sich die Diskussion um die Identifizierung des Engelbrecht mit allen sich daran anschließenden Folgerungen, einschließlich derjenigen um die Titulatur, ob denn ein Propst auch Abt genannt werden könne, erledigt. 109 MGH 9, S. 504, Z. 26 1163. Erchinfridus Medilicensis abbas Hierosolymam proficiscitur („1163, Erchenfrid, der Abt Melks bricht nach Jerusalem auf“). Von dieser Reise ist er offenbar nicht mehr zurückgekehrt. Seine erste Jerusalemfahrt ist für das Jahr 1152 notiert: MGH 9, 504 Z. 10 Herchinfridus Medilicensis abbas Hierosolymam proficiscitur et reuertitur („Erchenfrid, der Abt Melks bricht nach Jerusalem auf und ist zurückgekehrt“). – Erchenfrids Tod ist im Necrologium Mellicense zum 17. Mai notiert. 110 Siehe oben S. 69‒72.
80 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller lich regulären Lagenaufbaus innerhalb der 5. Lage,111 zusammen mit der Beobachtung, dass der Schreiber der Litanei in Vers 949, vier Verse vor dem Ende der Dichtung, auf Bl. 104v abrupt seine Tätigkeit mit dem ersten Wort des viertletzten Verses des am Ende der Schlusszeile des Blattes dem Anschein nach einstellt, hat schon Karl-Ernst Geith veranlasst „anzunehmen, dass diese Verse [die vier Schlussverse] auf einem Bogen standen [dem Mittelblatt des ursprünglichen Quaternio], der von der Schreiberin der folgenden Passagen herausgenommen wurde. Die gleiche Schreiberin trug dann zu Beginn ihrer Eintragung [Bl. 105r] die Verse nach.“112 Es darf demnach als gesichert gelten, die Litanei habe in einer eigenständigen Abschrift von einer Hand existiert, bevor sie, noch im 12. Jahrhundert des Doppelblattes mit den vier Schlussversen der Dichtung beraubt, von jüngerer Hand des 12. Jahrhunderts ergänzt, wohl viel später in den heutigen Textverbund gelangte. Was freilich nach dem Schlussvers Qui uiuit in eternum folgte,113 wissen wir nicht, es könnte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit den Grund dafür geliefert haben, das ursprüngliche Mittelblatt der fünften Lage zu entfernen. Die Litanei eröffnet mit einem Gebet über 36 Verse, welches „Gottes Hilfe in dem Kampf, den die Tugenden und Sünden in der Seele des Betenden ausfechten“, 114 erfleht: Herzen scowaere/ vor dem des můtes sagiraere/ siniu tougen niene mach versperren,/ niecht la mir giwerren/ mine manige missitat!/ so newurde min niemer dehein rat./ du wellest mich feste machen/ der lib ist ze fleisclichen sachen/ weich unde vohaltich.115 All diese Bitten und Feststellungen können allgemeine Gültigkeit beanspruchen, die letzte freilich, der lib ist ze fleisclichen sachen/ weich vnde vohaltich zu Beginn der Dichtung erscheint ungewöhnlich und birgt im Verständnis des fleisclichen eine gewisse Problematik, auch daran zu erkennen, dass die um mehr als ein dreiviertel Jahrhundert jüngere Fassung in der ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘ S dafür die Lesart geistlichen116 setzt. In der paulinischen Theologie haben
|| 111 Siehe oben S. 70. 112 Geith 1966, S. 121 Anm. 1. – In der Hand, welche ab f. 105r schreibt, wollte Uhlirz 1913b die einer Frau erkennen, was aus den Schriftzügen nicht zwingend abzuleiten ist. Außerdem muss das Mittelblatt nicht vom Schreiber, bzw. der Schreiberin entfernt worden sein. 113 Der Umfang des möglichen Textes könnte sich, identische Anlage vorausgesetzt, auf maximal 48 Zeilen belaufen. 114 Knapp 1994, S. 462, was die Verse Maurer HL, S. 130‒131, V. 13‒17 thematisieren. 115 Maurer HL, S. 130, V. 1‒9 „Du, der Du in die Herzen (der Menschen) schaust, vor dem der Schrein der Seele seine Geheimnisse nicht verschließen kann, lass mir mein vielfaches Vergehen nicht zum Schaden gereichen! Sonst könnte mir nicht mehr geholfen werden. Du mögest mich standhaft machen. Der Leib ist nämlich fleischlichen Dingen gegenüber schwach, nachgiebig und [nach der Lesart S: ungehaldich] unstetig“. – Die Lesart in der Hs. G: ǒhaltich wird kaum dem bei Graff 1846, S. 893 belegten uohaltig entsprechen, das mit clivosus = „abschüssig, mühevoll“, bzw. abruptus = „abgründig“ zu übersetzen ist. 116 Maurer HL, S. 128, Vv. 8‒9 Der lib ist zu geistlichen sachen/ weich unde ungehaldich („Der Leib [hier: Der Mensch] ist gegenüber den auf Gott bezogenen Dingen nachgiebig und unstetig“).
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die Begriffe Leib und Fleisch große Bedeutung,117 beide stehen für das menschliche Leben in seiner Hinfällig- und Sündhaftigkeit. Leib und Fleisch sind mit der Sünde verbunden, in Rm 6,12 kommt die Verbindung des Leibes mit der Sünde, 118 in Rm 8,3 diejenige des Fleisches mit ihr zum Ausdruck.119 Im Brief an die Galater werden die Werke des Fleisches zuvorderst in der Unzucht, Unsittlichkeit, im ausschweifenden Leben erkennbar.120 Wollte man mit dem strengen Wortlaut der Verse 8‒9 freier, im Sinne der paulinischen Theologie verfahren, dann könnte man übersetzen: Der Mensch in seiner Hinfälligkeit ist bezüglich seiner irdischen Sündhaftigkeit schwach und kraftlos, so die Fassung G, während die jüngere Textfassung in S meinte, der irdische Mensch sei in seiner Hinwendung zu Gott schwach und ohne Ausdauer. Es scheint, dass der Text in G mehr als jener in S auf die irdische Sündhaftigkeit, besonders die concupiscentia carnis, abhebt.121 Die Litanei in der Fassung G erscheint als ein großes Gebet der Buße für mine manege missitat,122 („meine große Zahl schlechter Handlungen“), die ein jeder Christenmensch im Laufe seines Lebens anhäuft. Dieses Flehen nach dem Beistand der Heiligen in Gestalt der Litanei wurde noch vor der Mitte des 12. Jahrhunderts als eigenständige Existenz in einem einzigen Faszikel zu Pergament gebracht.123 In diesen Zeitraum, das Jahrzehnt vor 1150, fällt die Gründung des Chorherrenstifts Seckau, eingeleitet durch eine Traditio des Freien Adelram von Traisen-Waldegg aus dem Jahr 1140, in der dieser Besitzungen, die zu der der Hl. Jungfrau Maria geweihten Kirche gehören, in loco qui dicitur Uvstriz […] ut locus supra memoratus […] sub regula beati Augustini spiritualiter || 117 Siehe dazu näheres im Kapitel ‚Leib‘ und ‚Fleisch‘ bei Schlier 1978, S. 97‒106. 118 Rm 12,2 fordert der Apostel: Non ergo regnet peccatum in vestro mortali corpore ut oboediatis concupiscentiis eius („Daher soll die Sünde euren sterblichen Leib nicht mehr beherrschen, und seinen Begierden sollt ihr nicht gehorchen“). 119 Rm 8,3: Deus Filium suum mittens in similitudinem carnis peccati et de peccato damnavit peccatum in carne („Es sandte Gott seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches, das unter der Macht der Sünde steht, zur Sühne für die Sünde, um an seinem Fleisch die Sünde zu verurteilen“). 120 Gal 5,19‒21: manifesta autem sunt opera carnis quae sunt fornicatio inmunditia luxuria idolorum servitus veneficia inimicitiae contentiones aemulationes irae rixae dissensiones sectae invidiae homicidia ebrietastes comesationes et his similia quae praedico vobis sicut praedixi quoniam qui talia agunt regnum Dei non consequentur („Die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben. Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und ähnliches mehr. Ich wiederhole, was ich euch schon früher gesagt habe. Wer so etwas tut, wird das Reich Gottes nicht erben“). 121 In G wird die fleischliche Begierde noch zweimal angesprochen, in den Versen 123‒125 der Hl. Geist angerufen und gebeten: Mit dinem viure du irliuhte/ unt verbrenne die viuhte/ mennisclicher gluste („Heiliger Geist, mit deinem Feuer erleuchte [mach offenbar] und verbrenne den feuchten Schmutz menschlicher Begierde“). In den Versen 815, 823‒825 wird gebeten: erledige ... die daz fleisc huorlichin zunten,/ von tiuflichen scunten („die das Fleisch [den Leib] hurerisch in Brand stecken, befreie sie von den teuflischen Reizen“). 122 Maurer HL, S. 129, V. 5. 123 Vgl. dazu oben die kodikologischen und paläographischen Bemerkungen zur Hs. G.
82 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller canonicęque vivatur124 dem Salzburger Erzbischof Konrad I. übergibt. Sechs Monate später treffen im Juli 1140 sechs Salzburger Chorherren in Feistritz ein, 125 während der später verfasste Gründungsbericht im Codex 334, f. 1 des Steiermärkischen Landesarchivs in Graz nur von zwei Salzburger Chorherren, Wernher und Leopold, weiß, die cum aliis utriusque sexus religiosis personis aduenientibus feria sexta in festo sancte Margarete,126 die also zusammen mit anderen Religiosen beiderlei Geschlechts am Freitag, am Fest der Hl. Margarete (1140 VII 12) angekommen waren. Die Wahl des ersten Propstes Wernher, durch Bischof Roman von Gurk in sein Amt eingeführt, bestätigte Erzbischof Konrad I. von Salzburg in einer Urkunde des Jahres 1141,127 zwei Jahre später, 1143, bekräftigt Papst Innozenz II. die Übertragung der Propstei an einen geeigneteren Ort, nach Seckau.128 Mit den auf der Salzburger Metropolitansynode des Jahres 1146 bestätigten Stiftungen für Seckau129 endet die erste Phase der Klostergründung, die Grundsteinlegung und Weihe der Kirche am 16. September 1164130 durch Bischof Hartmann von Brixen schließen sie ab. Auf die Gründungsgeschichte des Augustinerchorherrenstifts Feistritz-Seckau fallen tiefschwarze Schatten zweier urkundlich bzw. liturgisch-historiographisch beglaubigter Missetaten von einiger Schwere. Als im Jahr 1140 der Salzburger Erzbischof Konrad I. die Stiftung eines Chorherrenstiftes S. Maria zu Feistritz durch den Edelfreien Adelram von Traisen-Waldegg bestätigt, erfahren wir als Begründung für die lobens- und erinnerungswerte Tat der Stiftung, sie erfolge zur Sühne mehrerer, von Adelram begangener, nicht näher beschriebener Vergehen.131 Im 1180 angeleg-
|| 124 UB Steiermark, S.186f. Nr. 179. Die Urkunde ist in Friesach, den 10. Januar 1140 ausgestellt. – in loco qui dicitur Uvstriz […] ‒ „am Ort, der Feistritz genannt wird […] damit der oben genannte Ort […] nach der Regel des seligen Augustinus mit geistlichem Leben gemäß der Regel erfüllt werde“. 125 Allmer 2005, S. 505. 126 UB Steiermark, S. 269 Nr. 259. Vgl. dazu auch Csanády 2009, S. 110 Anm. 3. 127 UB Steiermark, S. 213 Nr. 207. St. Lambrecht 1141 V 21. 128 UB Steiermark, S. 219 Nr. 211. Rom 1143 III 12. Innozenz bekräftigt: mutationem loci uestri qui dicitur Fǒstriz, in loco qui dicitur Secowe, que ab eiusdem fratris nostri discretione facta est, auctoritate apostolica confirmamus („den Wechsel eures Ortes Feistriz nach dem Ort Seckau, der in Einklang mit der Entscheidung unseres Bruders [des Erzbischofs von Salzburg] geschehen ist, bestätigen wir kraft apostolischer Autorität“). 129 UB Steiermark, S. 255‒257 Nr. 249 Hallein 1146 IX 27. Hier wird als Begründung der Stiftungen durch Adelram seine Kinderlosigkeit angeführt, cum non haberet liberos (S. 255). 130 Allmer 2005, S. 509. 131 UB Steiermark, S. 186 Nr.179. Friesach 1140 I 10: mandamus laudabile et memorabile factum cuivsdam uiri ingenui Adelram nomine qui ob impetrandam delictorum suorum ueniam et divinę pietatis gratiam de prediorum suorum hereditaria possessione diuinis obsequiis destinata ęcclesiam honori beatę dei genitricis Marię consecratam in loco qui dicitur Uvstriz cum omnibus ad eandem ęcclesiam pertinentibus […] principali ęcclesię Salzburgensis episcopatus […] tradidit („Wir geben die lobens- und erinnerungswerte Tat eines edelfreien Mannes namens Adelram bekannt, der, um Gnade durch göttliche Güte und Verzeihung seiner Vergehen zu erlangen, vom ererbten Besitz seiner Güter, den er für den Dienst an Gott bestimmt hatte, die zur Ehre der seligen Gottesmutter
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ten, im Verlauf des 12. Jahrhunderts kontinuierlich fortgesetzten und bis in das 14. Jahrhundert hinein sporadisch ergänzten Liber confraternitatum Seccoviensis132 findet sich unter den verstorbenen Adligen die Verwandtschaft des Gründers Adelram, die Eltern, seine erste Ehefrau Berhta, sein Bruder Walther und der von ihm, Adelram, getötete Verwandte Albero eingeschrieben.133 Wenngleich Tötungsdelikte bei Streithändeln in jener Zeit des Öfteren vorgekommen sein werden, stellen sie dennoch eine arge Missetat dar, was ein schwer belastetes Gewissen nach Sühne und Vergebung trachten lassen konnte. Es fällt auf, dass in der Aufzählung der Verwandten Adelrams zweite Ehefrau Richinza fehlt.134 Um 1130 hatte Adelram von Traisen-Waldegg Richinza von Perg, Tochter des Edelfreien Richard von Perg, Vogt des Augustinerchorherrenstiftes St. Florian,135 in zweiter Ehe geheiratet.136 Ein allzu freizügiger Umgang Adelrams mit dem Hochzeitsgut Richinzas hat diese im Jahr 1149 in Friesach vor König Konrad III. geführt: „Eine adelige Dame namens Richinza hat vor uns, [König Konrad], eine Klage eingebracht, sie sei durch unrechtmäßige Zuweisungen von Ländereien von seiten ihres Mannes Adelram ihres gesamtem Heiratsgutes beraubt worden“, lesen wir in einem am 15. Mai des Jahres ausgestellten Schiedsspruch.137 Darin ist festgesetzt, dass nur die Stiftungen, welche beide, eines Willens, gleichzeitig der Seckauer Kirche zukommen haben lassen, rechtsgül-
|| Maria geweihte Kirche im Ort Feistritz mit all dem dieser Kirche Zugehörigen […] dem Erzbischofssitz der Salzburger Kirche […] übergeben hat“). 132 MGH Necr. 2, S. 356, dort findet sich auch eine kurze Bemerkung über den Aufbau der Handschrift. Überliefert in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 511; Druck: MGH Necr. 2, S. 356 133 MGH Necr. 2, S. 387, 106, 8‒9 unter der Rubrik: Nobiles obierunt fratres nostri: Gerdrut mater Alrammi fundatoris, Hartnith pater, Berhta uxor, Albero ab eo occisus, Walther frater. – Naschenweng 2005, S. 44‒47 versucht eine Identifizierung jenes Albero, lehnt die von Zahn in die Forschung eingeführte Meinung, es handele sich bei dem Getöteten um Adalbero von Feistritz, ab, kann jedoch den von ihm favorisierten Albero von Offenberg auch nicht zweifelsfrei begründen. 134 Im Necrologium Seccoviense ist zum 7. Juli ihr Todestag verzeichnet. MGH Necr. 2, S. 417: Julii 7. nonis Reychza conversa fundatrix huius loci et soror nostra. 135 Nach Naschenweng 2005, S. 49 bekleidete Richard von Perg das Vogteiamt über St. Florian, dort ohne Nachweis. 136 Ein um 1130 datierbarer Eintrag im Kopialbuch des Stiftes Seckau aus dem 14. Jh. (Graz, Steirisches Landesarchiv, Cod. 334, f. 108, Druck: UB Steiermark, S. 142, Nr. 130) berichtet, dass Rudolf von Perg und seine Ehefrau ihrer Tochter Richinza und ihrem Ehemann Adelram im heutigen Oberösterreich gelegene Besitzungen übergeben haben, und zwar consentientibus duobus filiis […] filie sue Richinze eiusque marito Adelrammo de Waldekke potenti manu tradiderunt („mit der Zustimmung beider Brüder hat er seiner Tochter Richinza und deren Ehemann Adelram von Waldeck [die aufgeführten Besitzungen] mit waltender Hand, des Seinen mächtig, d.h. als freier Mann übergeben“). 137 UB Steiermark, S. 290 Nr. 279: nobilis quędam femina nomine Richinza quęrelam coram nobis deposuit a uiro suo Adelrammo nomine per iniustas delegationes omni coniugali dote se esse priuatam.
84 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller tig sind.138 Wenig später, nach dem 15. Mai 1149, kam man dieser Forderung nach, indem eine beidseitig beschlossene Stiftung, die offensichtlich den gesamten bisher für Seckau gestifteten Besitz umfasste, vor König Konrad III. und einigen Großen der Region errichtet wurde.139 Sowohl die Art und Form der Überlieferung als auch den Inhalt dieses für die Gründungsgeschichte des Stiftes wichtigen Stückes kann man in mehrfacher Hinsicht als merkwürdig und interessant bezeichnen. Der Bericht 140 über die Stiftung in Form einer Urkunde, allerdings ohne Ort und Datum, legt besonderes Gewicht auf die Bezeugung der Stiftung in langen Zeugenreihen. Er ist als „beschnittenes Einzelblatt aus einem Copialb[uch] des Klosters Seckau (12. Jhrh.)“,141 vom Hinteren Deckel eines Kammeramtsrechnungsbandes von Leoben aus dem Jahr 1581 abgelöst, der Form nach als Fragment im Steiermärkischen Landesarchiv Graz142 überliefert. Der Text weist – nach Zahn – im dritten Satzglied des Anfangssatzes eine lang hingezogene, durch Rasur des Pergaments entstandene Lücke auf, welche bereits Zahn durch eine parallele Überlieferung des gesamten Textes im Kopialbuch des 14. Jahrhunderts143 ergänzen kann. Die im Fragment getilgte, im Codex 334 tradierte Passage ab eo peccatis exigentibus dimissa sed postmodum diuina miseracione in sancta conuersacione conciliata enthält die brisante Nachricht, Richinza sei von ihm, Adelram, wegen begangener Sünden entlassen, d.h. geschieden, und gleichzeitig die harmonisierend frohe Botschaft, die beiden seien später aus göttlichem Erbarmen in heiligem Lebenswandel, durch den Eintritt in das Kloster, vereint. Während das Faktum der Scheidung in der regionalen Geschichtsforschung nahezu einhellig unwidersprochen blieb, entzündeten die angesprochenen Sünden Richinzas kontroverse Stellungnahmen, beflügelten besonders die Männerphantasien seit Zahns Veröffentlichung im Jahr 1889144 bis zu Naschenwengs Ausführungen im Jahr 2005 in Richtung Ehebruch.145 Fest steht, dass die Sünden Richinzas nirgendwo spezifiziert dokumentiert sind, dass die bloßen Fakten, Scheidung und Versündigung auf Seiten Richinzas als auch das von Adelram begangene Delikt des Totschlags das Stifterehepaar erheblich belasten.146 So nimmt es nicht wunder, wenn bereits im 12. Jahrhundert und später versucht || 138 UB Steiermark, S. 290 Nr. 279: traditionem quam diuina gratia uoluntate eorum coadunante ęcclesię Seccowensi pariter fecerunt, ratam iudicauimus. 139 UB Steiermark, S. 291 Nr. 280, dort 1149 V 15 datiert. 140 UB Steiermark, S. 292, dort vom Herausgeber als Notiz bezeichnet. 141 UB Steiermark, S. 292. 142 Diese Angaben beruhen – ohne Autopsie – auf den Ausführungen im UB Steiermark. Auch Naschenweng 2005, S. 50f., zitiert nach Zahn. 143 Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Cod. 334, f. 108. 144 Zahn 1889, S. 63. 145 Vgl. dazu die eingehende Erörterung bei Naschenweng 2005, S. 47‒55. 146 Weder über den Zeitraum der Scheidung, noch über den Zeitpunkt des Totschlags lassen sich genaue Daten beibringen. Der Adelram zur Last gelegte Totschlag muss vor 1140 geschehen sein, die Trennung von Richinza bis gegen 1149 gedauert haben.
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wird, die Erinnerung daran vergessen zu machen. Die Beweggründe für die Stiftung erfahren eine Umdeutung, wenn auf der Salzburger Metropolitansynode von 1146 als Grund die Kinderlosigkeit des Stifters angeführt wird;147 und wenn im undatierten Gründungsbericht die dort ursprünglich zu Wort gekommene Nachricht über die Scheidung Richinzas und ihrer sündhaften Verfehlungen getilgt wird, geschieht all dies, um das Stifterehepaar nach 1149 in einem helleren Licht erscheinen zu lassen.148 Kehren wir zur Litanei und ihrer Überlieferung in der Handschrift G zurück, erinnern uns an den selbstständig existenten, die Litanei enthaltenden Faszikel – und an das getauschte Mittelblatt in der 5. Lage.149 Alles, was mit Sicherheit über den Inhalt dieses getauschten Doppelblattes ausgesagt werden kann, ist, dass es die letzten vier Schlussverse von der Hand des Schreibers der Litanei enthalten haben muss, alles Weitere verbleibt im Hypothetischen. Nimmt man Nächstliegendes an, der Litanei sei ein Text gefolgt,150 der Näheres zur Entstehung der Abschrift dieses Gedichtes mitteilte,151 dann wäre es leicht vorstellbar, diese Nachricht hätte von der Gründungsgeschichte Seckaus, von den Verfehlungen des Stifterehepaars gehandelt. Dann aber könnte die Tilgung durch die Entnahme und den Ersatz des Doppelblattes in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als folgerichtige Handlung, soweit man die bona memoria an das Stifterpaar im Auge hatte, bewertet werden. Die Beischrift selbst könnte aus der Dedikation der Abschrift an die Stifter mit beigefügtem Gründungsbericht bestanden haben, der, später um brisante Details ergänzt, die Entnahme des Doppelblattes bewirkt haben konnte. || 147 UB Steiermark, S. 255 Nr. 249 Quapropter notum facimvs tam futuris quam presentibus, qualiter quidam nobilis homo Adelrammvs nomine de Fvstriz cum non haberet liberos, illud intendens psalmigraphi, Dominus pars hereditatis meę (Ps 15,5), heredem sibi Christum elegit atque […] in prefato loco congregationem fidelium fecit. („Deswegen machen wir allen zukünftig wie auch gegenwärtig Lebenden bekannt, dass ein gewisser Mann namens Adelram von Feistritz, da er keine Kinder hatte, indem er dem Psalmendichter nachstrebt: ‚Herr, Teil meines Erbes‘ [Ps 15,5], sich Christus als Herrn und Erben erwählt hat und […] am vorgenannten Ort eine Glaubensgemeinschaft errichten hat lassen“). 148 Seckau hat dem Stifterehepaar die memoria bewahrt. – Die Grablege der Stifter im Chor der Basilika von Seckau wurde 1964 geöffnet, die ossa fundatorum am 5. September des Jahres durch Erzabt Benedikt Reetz aus Beuron beigesetzt. – Im 15. Jh. findet sich in UB Graz Ms. 392, f. 187r ein Gebet aus der Totenmesse für den Gründer überliefert: Propiciare quesumus domine anime famuli tui Alrami et presta, ut qui de tuis donis in hoc loco pervigila auxi nomine tuo cottidiana preparauit obsequia , perpetua cum sanctis tuis perfrui mereatur leticia. Per dominum nostrum („Wir bitten Dich, o Herr, sei gnädig der Seele Deines Dieners Alram und schenke ihr, da sie, von Deinen Gaben überhäuft, Deinem Namen das tägliche Gotteslob gestiftet hat, die ewige Freude mit Deinen Heiligen. Durch unseren Herrn“). Zitiert nach Naschenweng 2005, S. 56. 149 Siehe oben S. 70. 150 Dieser Text hätte sich, unter der Voraussetzung eines gleichen, 13-zeiligen Seitenlayouts maximal über 47 Zeilen erstrecken können. 151 Was in späteren Zeiten in der handschriftlichen Überlieferung dem Kolophon zukommt.
86 | Christine Glaßner und Karl Heinz Keller Die Litanei in der Liturgie, wie die Litanei als Dichtung ist dem Gedanken der Buße verpflichtet, die „Sündenthematik […] steuert […] in der Regel ohnehin (den Gedankengang)“152 der Dichtung. Was läge näher als die Vorstellung, einer der Beichtväter hätte dem Stifterehepaar zum Eintritt Adelrams und Richinzas als Konversen in das Kloster vor dem Jahr 1150153 die Abschrift der Litanei in Form eines eigenständigen, vierzig Pergamentblätter starken Büchleins überreicht, und damit die vielleicht ältere, wohl außerhalb Seckau entstandene Dichtung 154 als das eingesetzt, als was sie sich selbst bezeichnet, als Gebet.
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Norbert Kössinger
Legenden und Liturgie Beobachtungen zu Alberts Ulrichslegende
1 Einführung Legenden sind ein konstitutiver Bestandteil des liturgischen Jahreszyklus der Kirche. Sie sind als predigthafte Texte der spätantiken und mittelalterlichen Heiligenverehrung – mehr als alle anderen literarischen Texttypen in Mittelalter und früher Neuzeit – eine echte „Kalender-Gattung“1, der zudem eine klar zuweisbare Funktion zugeschrieben wird: Die Basis dieser Literatur bildet der theologische Gedanke, daß Heiligkeit Christusförmigkeit bedeutet nach dem Vorbild der Patriarchen und Propheten des Alten Testaments, nach dem Vorbild der Apostel und Marias, der Märtyrer und Bekenner. Von diesem Vorbild sollte sich der Gläubige ergreifen lassen.1
Imitatio, die Nachahmung der Heiligen und Christi als Vorbilder, ist also das Stichwort für die Rezeption von Legenden, wie man sie sich idealiter denken darf. Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein, vor allem hinsichtlich seiner Implikationen auf Seiten der Textproduktion und Textüberlieferung von Legenden. Der Gattungsbegriff ‚Legende‘ selbst und seine Etymologie verweisen bekanntlich bereits darauf, dass es sich um „Texte, die man (vor-)lesen soll“2 handelt. Der Terminus bezog sich dabei ursprünglich auf Stücke, die für den Rahmen der liturgischen Lesung gedacht waren, unter denen sich bereits früh auch solche Texte finden, die explizit dem täglichen Heiligengedenken dienen sollen.3 Diese Form der tages- und liturgiegebundenen Heiligenmemoria prägt sich im Mittelalter so stark aus, dass sich bald und insbesondere im Gefolge der Legenda Aurea Jacobs von Voragine (1228/29–1298) unterschiedliche Typen der Sammlung von Legenden herausbilden, eben sogenannte Legendare, in denen Heiligenviten nach bestimmten Ordnungsprinzipien zusammengestellt werden, am häufigsten nach dem zyklischen Prinzip des liturgischen Kalenders. Dieser Buchtyp ist gerade für das Spätmittelalter auch in der Volkssprache quantitativ extrem dominant.4
|| 1 Unterreitmeier 1990, S. 87. 2 Kunze 2000, S. 390. 3 Vgl. Kunze 2000, S. 390. 4 Aus germanistischer Sicht dazu Williams 1986.
92 | Norbert Kössinger Im Fall der deutschsprachigen Legenden des Mittelalters gibt es vielfach starke Reflexe einer funktionalen Einbindung in Zusammenhänge, die man als liturgisch (oder zumindest als ‚paraliturgisch‘) bezeichnen kann. Als exemplarische Beispiele dafür nenne ich lediglich die beiden ältesten Texte, die in der germanistischen Forschung als Legenden angesprochen werden, das Althochdeutsche Georgslied sowie das Althochdeutsche Galluslied. Ohne hier die komplizierte Forschungsgeschichte zu diesen beiden Fällen nachzeichnen zu können, sei für das Georgslied festgehalten, dass es „ein memorierendes, die Kenntnis der Legende beim Publikum voraussetzendes, zur paraliturgischen Feier bestimmtes Lied [ist, N.K.], das eine bedeutende Kirche des Heiligen oder einen bedeutenden Reliquienort der Zeit um 900 voraussetzt.“5 Die Situierung des Liedes im Kontext der Translation von Georgsreliquien nach Prüm hat dabei viel für sich.6 Anders liegt der Fall beim Galluslied. Der althochdeutsche Text des St. Galler Mönchs Ratpert aus dem 9./10. Jahrhundert ist verloren; wir kennen das Lied lediglich in der etwa ein Jahrhundert jüngeren lateinischen Übersetzung Ekkeharts IV. von St. Gallen.7 Zu diesem Lied gibt es zudem einen Prolog Ekkeharts, der in drei voneinander abweichenden Versionen überliefert ist. Er sagt dort, er habe dieses carmen barbaricum („volkssprachige Lied“) übertragen, um seine schöne Melodie (tam dulcis melodia) auch in lateinischer Sprache erklingen zu hören.8 Das ursprüngliche volkssprachige Lied sollte dabei in laudi Sancti Galli dem Volk vorgetragen werden:9 Ratpertus monachus, Notkeri, quem in Sequentiis miramus, condiscipulus, fecit carmen barbaricum populo in laude sancti Galli canendum. Quod nos multo impares homini, vt tam dulcis melodia latine luderet, quam proxime potuimus, in latinum transtulimus. („Der Mönch Ratpert, Mitschüler Notkers, den wir in seinen Sequenzen bewundern, verfasste in der Volkssprache ein Lied, welches zum Lobe des heiligen Gallus dem Volke gesungen werden sollte. Dieses haben wir ihm [Ratpert] in keiner Weise ebenbürtig, damit eine so süße Melodie lateinisch erklingen würde, so gut wir dies konnten, in die lateinische Sprache übertragen.“)
Bei beiden Beispielen, Georgslied und Galluslied, handelt es sich also um sangbare Texte, die für bestimmte Anlässe der Verehrung dieser Heiligen produziert und zu diesen Anlässen vorgetragen wurden. Sie sind in Zusammenhang mit der kulti|| 5 Haubrichs 2013, S. 136. 6 Vgl. dazu Haubrichs 1971. 7 Vgl. Osterwalder 1982. Zu Ratpert vgl. Rädle 1989. 8 In Handschrift B liegt der Akzent (je nach Textverständnis des lateinischen memorię laberetur), darauf, dass sich Text gut dem Gedächtnis einpräge bzw. darauf, dass er nicht in Vergessenheit gerate. Vgl. Osterwalder 1982, S. 257f. 9 Ich folge damit dem Textverständnis von der Osterwalder, der mit guten Gründen die Auffassung, das Lied sei vom Volk vorgetragen worden, verwirft. Vgl. Osterwalder 1982, S. 83 Eine ausführliche Diskussion der drei Prologe bei Osterwalder 1982, S. 208–258.
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schen, eng an den liturgischen Kalender gebundenen Verehrung der Heiligen zu sehen. Die These, der ich im Folgenden nachgehen möchte, beruht auf der Beobachtung, dass sich die deutschsprachigen Legenden im diachronen Schnitt betrachtet punktuell grundsätzlich vom ‚Kalender‘, von liturgischen Kontexten und Praktiken lösen und in anderen Kontexten Verwendung finden können. Damit soll nicht einer ‚literarischen Autonomie‘ jüngerer legendarischer Texte das Wort geredet werden, sondern lediglich der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Legenden eben nicht mehr vollständig in den angedeuteten spezifischen funktionalen Zusammenhängen aufgehen müssen.10 Beispielsweise können sie im Zusammenhang von Geburtshilfe situiert sein.11 Manifest werden solche Prozesse der ‚Lockerung‘ nicht zuletzt im Umgang mit der Schwierigkeit, dass legendarisches Schreiben gegenüber dem heiligen Inhalt des Erzählten immer in einem ungleichen Verhältnis steht: „Im Verhältnis auf das Erzählte ist das legendarische Erzählen a priori durch ein unaufhebbares Geltungsdefizit gekennzeichnet.“12 Mit anderen Worten: Das, was in der Legende als vorbildhaftes imitabile erzählt wird, muss von seiner (Erzähl-)Form her in ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zum Erzählgegenstand selbst gebracht werden. Das heißt somit in der Konsequenz für die Perspektive der Bindung von Legenden an Liturgie: Je stärker sich ein legendarischer Text von seiner liturgischen Einbettung löst, desto nötiger erscheint es, das angesprochene ‚Geltungsdefizit‘ in irgendeiner anderen Weise aufzufangen. Die Modelle, die dafür in Legenden erzählerisch entwickelt werden, sind vielfältig, mehr oder weniger komplex und können auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein.13 Darstellen möchte ich das im Folgenden exemplarisch anhand der Ulrichslegende Alberts.14
|| 10 Es erweist sich auch in dieser Hinsicht die Rede von der Legende als ‚einfacher Form‘ als eine Illusion. Vgl. Köbele 2012. 11 Vgl. dazu am Beispiel von Priester Wernhers Driu liet und Jeans de Joinville Credo Curschmann 2008. 12 Strohschneider 2002, S. 117. 13 Die hier skizzierte Spannung gilt in noch weitaus höherem Maße für die sogenannten ‚höfischen Legendenromane‘ der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die sich nicht mehr – oder zumindest nicht mehr ohne weiteres – an den Heiligenkalender rückbinden lassen: Hartmanns Gregorius, Wolframs Willehalm, der Barlaam und Josaphat Rudolfs von Ems oder die Legenden Konrads von Würzburg (Silvester, Alexius, Pantaleon). Vgl. zu letzteren Köbele 2012. 14 Ich übergehe hier somit vollständig die reiche Tradition von Legenden in frühmittelhochdeutscher Zeit, die (nicht nur) in dieser Hinsicht eine gesonderte Untersuchung verdienen würde.
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2 Die Ulrichslegende Alberts Alberts Text entsteht „gegen Ende des 12. Jh.s“, also gleichzeitig mit großen Werken der höfischen Literatur, mit dem Nibelungenlied und mit den frühen Werken Hartmanns von Aue.15 Man hat die Ulrichslegende dabei bislang immer als Text beschrieben, der eine mehr oder weniger genaue Übertragung einer lateinischen Vorlage ins Deutsche darstellt, ohne weitere literarhistorische Wirkung. Karl-Ernst Geith hat diesen Sachverhalt in folgender Weise auf den Punkt gebracht: „Das isolierte Werk ist somit nur als Beispiel von Übersetzungsliteratur [...] von Interesse.“ 16 Der Text verweise, so Geith, im Kontrast zur höfischen Literatur „durch seinen Verfasser, seinen Gehalt und seine vermutliche Bestimmung auf eine ganz andere Möglichkeit der literarischen Produktion“17, die – so wiederum Geith – im monastischen Kontext zu suchen ist. Das ist vom Grundgedanken her sicher richtig, aber dennoch scheint mir Alberts Text mit dem Begriff „Übersetzungsliteratur“ allein noch nicht erschöpfend beschrieben zu sein.
2.1 Zur Überlieferung Ich beginne mit einer Beschreibung der Überlieferung:18 Alberts Ulrichslegende ist auf uns gekommen im Cgm 94 der Bayerischen Staatsbibliothek München, einer Handschrift, die aus zwei ursprünglich separaten Teilen besteht. Diese wurden zu einem nicht präzise näher bestimmbaren Zeitpunkt vereint (s. dazu unten S. 95f.).19 Der erste Teil der Handschrift beinhaltet die am Anfang und am Ende unvollständige lateinische Ulrichsvita in der Fassung des Berno von Reichenau (Bl. 1r–23v).20 Datiert wird dieser Teil auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. Der zweite Teil enthält in der Hauptsache die deutschsprachige Bearbeitung von Bernos Ulrichsvita durch Albert (Bl. 27r–76v), die abgesehen von dem Ausfall eines einzelnen Blattes nach Bl. 73v vollständig ist. Ihr vorangestellt sind als regelrechte „Titelbilder“21 zwei
|| 15 Vgl. im Überblick Geith 1978b und 1971, S. 1–21, zur Datierung der Textentstehung Geith 1978, das Zitat Sp. 116. Zu Ulrichslegenden allgemein vgl. Sauerteig 1973 und Seiler 1993. Die spätmittelalterlichen Ulrichslegenden sind ediert bei Hirsch 1915. 16 Geith 1978, Sp. 115f., das Zitat Sp. 116. 17 Geith 1971, Vorwort. 18 Ausführliche Beschreibungen der Handschrift bei Petzet 1920, S. 163–165 und bei Geith 1971, S. 1–6. Die Datierungen folgen Schneider 1987, S. 91f. Man vgl. darüber hinaus die Angaben im Handschriftencensus. Die Handschrift ist vollständig als Digitalisat verfügbar. 19 Vgl. Schneider 1987, S. 92. 20 Zu Berno vgl. Blume 2008. 21 Nach Kuder 1993, Legende zu Abb. 68 und Abb. 69, bei dem die mittelalterliche Ikonographie zum hl. Ulrich aufgearbeitet ist.
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ganzseitige, farbige Federzeichnungen (Bl. 26rv), die kodikologisch „ein in die erste Lage geheftetes Einzelblatt“22 sind; die deutschsprachige Ulrichslegende ist somit das einzige Beispiel für ein illustriertes volkssprachiges Heiligenleben aus der Zeit um 1200 überhaupt.23 Als Entstehungszeitpunkt für diesen Teil nimmt Karin Schneider das Ende des ersten Viertel des 13. Jahrhunderts an. Die Handschrift beinhaltet somit im Grundbestand die lateinische Ulrichsvita Bernos (Hand A, s. Übersicht in Tab. 1) und seine deutschsprachige Bearbeitung durch Albert (Hand B). Zu diesen Grundschichten kommen paläographisch drei Textschichten mit Nachträgen hinzu. Die chronologisch erste Nachtragshand (Hand E,) fügt auf Bl. 78r–80r in unmittelbarer zeitlicher Umgebung der Anfertigungszeit von Teil II der Handschrift das mystische Lied Vil werde sele, halt dich wert hinzu.24 Etwas später, um die Mitte des 13. Jahrhunderts nimmt eine zweite Hand (Hand D) weitere nachträgliche Inserate in der Handschrift vor. Diese Schreiberhand lässt sich mit einem konkreten Personennamen in Verbindung bringen, der für eine mögliche Lokalisierung und Datierung sowie für die Besitzgeschichte der Handschrift von einiger Relevanz ist. Sie nennt sich auf Bl. 80v am Ende einer „kurze[n] mystische[n] Betrachtung“ selbst: bit für die armen engelbirne daz si got bekere des ist not ir armen sele.25 Wer sich hinter dem Namen Engelbirn verbirgt, wissen wir nicht genau.26 Karin Schneider hat die Hand – wie erwähnt – der Mitte des 13. Jahrhunderts zugeschrieben und aufgrund der mitteldeutschen schreibsprachlichen Merkmale Augsburg als Schreibort ausgeschlossen.27 Der Besitzeintrag auf Bl. 26v am linken Seitenrand neben der Miniatur (Diz bvh horet in die closen zu sende Vlrihche, der ez hat der gebez in widere durh got) deute somit vielmehr auf eine (um 1300 erstmals bezeugte) Würzburger Ulrichsklause, eine geistliche Lebensgemeinschaft von Frauen. Daraus ist zum einen zu folgern, dass der Cgm 94 erst in späterer Zeit, vielleicht erst in der Neuzeit, nach Augsburg gekommen ist, wo er 1806 im Benediktinerkloster St. Afra und Ulrich unter den gedruckten Büchern wiederentdeckt wurde.28 Mittelalterliche Bibliotheksheimat in Augsburg lässt sich für den Codex nicht nachweisen.29 Zweitens – und das wurde noch nicht nachdrücklich genug heraus|| 22 Schneider 1987, S. 92f. Dieser wichtige Hinweis fehlt im Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften 2005, S. 311–313. Auf S. 311 wird zudem die lateinische Vita Bernos (Bl. 1–23) versehentlich Albert zugeschrieben. 23 Vgl. Curschmann 1999, S. 391. Vgl. auch die Angaben im Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften 2005, S. 313. 24 Theben 2010, S. 43 und S. 495f. 25 Nach Geith 1971, S. 5. 26 Vgl. Geith 1979. 27 Schneider 1987, S. 94f. 28 In den älteren Katalogen aus St. Ulrich und Afra ist die Handschrift nicht geführt. Zur Fundgeschichte vgl. Lebendiges Büchererbe 2003, S. 150–152. 29 Die Angaben von Wolf 2013, S. 46 sind weder hinsichtlich der Datierung noch der Lokalisierung dieser Handschrift auf dem neuesten Stand.
96 | Norbert Kössinger gestellt – finden sich Einträge der ‚armen Engelbirn‘ sowohl im älteren, lateinischen Teil der Handschrift mit Bernos Ulrichsvita als auch im jüngeren, deutschsprachigen Teil (s. Tab. 1). Das heißt, die beiden Teile des Codex müssen wohl zu dem Zeitpunkt, als die Engelbirn ihre Einträge in Handschrift vornahm, bereits vereint gewesen sein, oder – und das scheint mir noch wahrscheinlicher zu sein – die Engelbirn selbst hat an dem Prozess des Sammelns und Vereinens der beiden Teile mitgewirkt, in welcher Form auch immer. Dafür sprechen nicht zuletzt der erwähnte Besitzvermerk von ihrer Hand sowie die Bildüberschrift auf Bl. 26v. Vielleicht geht ja auch die Bebilderung überhaupt auf ihre Veranlassung zurück, so dass der Engelbirn gleichsam der Status einer Redaktorin zukäme, die für die überlegte Zusammenstellung der beiden Texte verantwortlich ist? Eine solche Einschätzung wird auch durch die Tatsache gestützt, dass sie den Text des Liedes auf Bl. 78r–70v durchgesehen und ergänzt hat.30 Alles zusammengenommen erscheint somit auch die in der Literatur geläufige Zuschreibung der deutschsprachigen Legende an einen Albert oder Adilbert von Augsburg an Gewicht zu verlieren und sollte nochmals unter den Prämissen der Erkenntnisse von Schneider einer Revision unterzogen werden.31 Auf Bl. 24rv (das entweder später ergänzt oder ursprünglich das vorletzte Blatt des früher unabhängigen ersten Teils der Handschrift bildete) stehen schließlich Teile der lateinischen Ulrichsliturgie (Reimoffizium für das Stundengebet am Festtag des hl. Ulrich). Sie werden von Petzet pauschal ins 14. Jahrhundert datiert.32 Diese Hand (C) erweitert somit – zu einem deutlich späteren Zeitpunkt – das Spektrum der Ulrichstexte im Cgm 94 um eine zentrale, nun dezidiert liturgische Facette. Hervorzuheben ist darüber hinaus das moderne Layout von Alberts Text, wie es sich im Cgm 94 darstellt, das als eine Form des Experimentierens mit neuen Formen der Aufzeichnung von volkssprachigen Versen zu verstehen ist: 33 Zunächst schreibt Hand B die Reimpaarverse in abgesetzten Versen, wobei jeweils der erste Vers durch eine links ausgerückte Majuskel gekennzeichnet ist, der zweite Vers des Reimpaars hingegen eingerückt ist. Dann geht der Schreiber für einen kurzen Abschnitt (Bl. 30v–33v) über zu einem Layout mit nicht abgesetzten Versen. Danach hält er sich ab Bl. 34r für den Rest des Textes an ein Layout mit gleichgewichteten abgesetzten Versen, ohne also die Paarigkeit der Verse durch ausgerückte Initalen bzw. eingerückte zweite Verse zu hierarchisieren. Diese Handschrift gehört somit (wohl als ältester erhaltener Fall) zu einer Gruppe von besonders ‚modernen‘ Codices mit deutschsprachigen, höfischen Texten der Zeit von 1215–1240, in der neue Formen || 30 Vgl. Geith 1979, Sp. 550. 31 Ich verzichte aus diesem Grund immer auf den vereindeutigenden Zusatz des Autornamen mit der Ortsangabe. Vgl. dagegen die Argumente von Geith 1971, 1978a und 1978b. 32 Petzet 1920, S. 164. Die lateinischen Sequenzen werden Abt Udalscal von Augsburg (gest. 1154) zugeschrieben und sind (außer den ersten beiden Strophen auf Bl. 24r) abgedruckt bei Schmeller 1844, S. 5. 33 Schneider 1987, S. 91f. sowie Palmer 2005, S. 87f. und S. 100.
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der Versaufzeichnung erprobt werden. 34 Der Cgm 94 fällt allerdings sowohl hinsichtlich der Textgattung (‚Legende‘) als auch der Stoffherkunft (keine Adaptation aus dem Französischen) auffällig aus der Reihe.35 Tab. 1: Schreiberhände, Inhalt und Datierung der Schreiberhände im Cgm 94 Schreiberhand Hand A
Inhalt Bern von Reichenau, Vita Udalrici (Bl. 1r–23v)
Datierung 2. Hälfte 12. Jahrhundert
Hand B
Albert, Ulrichsleben (Bl. 26–77)
Ende erstes Viertel 13. Jahrhundert
Hand C
Officium S. Udalrici (Bl. 24rv)
14. Jahrhundert
Hand D (= Engelbirn)
Randeintrag (Bl. 9r) Mitte 13. Jahrhundert Dicta-Sammlung (Gregor, Augustin, Bernhard, Paulus) (Bl. 25r–26r) Bildüberschrift und Besitzvermerk (Bl. 26v) Federprobe (Bl. 27r) Dicta-Sammlung, Fortsetzung (Bl. 77rv) Korrekturen/Ergänzungen (Bl. 78v und 79r) Mystische Betrachtung und Federprobe (Bl. 80v) Gebet und Federprobe (Bl. 81v)
Hand E
Vil werde sele, halt dich wert (Bl. 78r–80r)
1. Viertel 13. Jahrhundert
Illustrator
Zwei jeweils ganzseitige Illuminationen mit hl. Ulrich (Bl. 26rv)
1. Viertel 13. Jahrhundert
2.2 Offene Geheimnisse36 In der folgenden Textanalyse und -interpretation möchte ich nun in erster Linie auf eine Ebene abheben, in der sich Albert bemüht, Anschluss zu finden an neue Formen der Erzählkultur der Zeit um 1200, in ganz ähnlicher Weise, wie das offensichtlich von der Anlage des Textlayouts her versucht wird. Anführen ließen sich hierfür || 34 Palmer 2005, S. 87–91. 35 Vgl. Wolf 2008, S. 142f. mit Anm. 317. 36 Das Stichwort übernehme ich von Flood 1998.
98 | Norbert Kössinger mehrere Aspekte, auf die von der Forschung zu Alberts Ulrichslegende bereits in zureichendem Maße hingewiesen wurde. Zwei Aspekte verdienen noch einmal besonders hervorgehoben zu werden: Zum einen das Erzählmuster der Heiligenvita, an das in Alberts Text offensichtlich sprachliche und erzählstrukturelle Elemente heldenepischen Erzählens angelagert werden,37 zum anderen „vereinzelte, aus der höfischen Dichtung stammende Ausdrücke wie adamas (v. 249), amis (623), clâr (661), porte (924, 1531), gehiure (937), gezimieret (433), ors (928)“.38 Beides sind natürlich punktuelle Phänomene, mit denen sich ein neuer Status von Legenden nicht allein erklären lässt, die sich aber doch nicht ausschließlich im Blick auf die lateinische Vorlage Alberts erschließen und erklären lassen. Das eindrücklichste Beispiel, an dem sich das im Text erzählte Modell von Heiligkeit in Beziehung setzen lässt zu dem im Text repräsentierten Modell von Autorschaft, scheint mir die Betonung von Schweigegeboten zu sein, die wiederholt im Text begegnen. Zunächst einige Beispiele. Zuerst und in genauer Entsprechung zu seiner lateinischen Vorlage kommt ein solches Gebot vor im Zusammenhang der Prophezeiungen Wiboradas an Ulrich, die ihm eine glänzende Zukunft als Bischof voraussagt (V. 169–210). Seine Reaktion darauf:39 Sa do er daz uirnam ze sinen heimlichesten frivnden er do quam vnd sagete den selben diz virstoln vnd bat sie daz siez heten virholn. (V. 207–210) („Sobald er das vernommen hatte, ging er zu seinen vertrautesten Freunden und sagte es ihnen heimlich und bat sie, es geheim zu halten.“)
Die Vita Bernos hat an entsprechender Stelle: Haec auditu percipiens · ac mente pertractans · quibusdam qui sibi familiarius amicitiae causa adherebant secreto pandebat · Et ut interim silentio tegerent ammonebat · (Blume 2008, III, 17– 19)40 („Und$als$er$dies$vernommen$und$im$Herzen$erwogen$hatte,$offenbarte$er$sich$im$geheimen$ei9 nigen,$ mit$ denen$ er$ wegen$ ihrer$ Freundschaft$ vertrauteren$ Umgang$ pflegte.$ Und$ er$ ermahnte$ sie,$unterdessen$Stillschweigen$zu$bewahren.“)
Geschwätzigkeit hingegen wird vom Heiligen nicht gutgeheißen und führt in einem Fall sogar zur Erblindung des Betroffenen, wie an der Episode vom Priester Helrich deutlich wird. Während der Ostermesse erscheint während der Wandlung Gott
|| 37 Vgl. Hammer 2013. 38 Geith 1978, Sp. 115. 39 Alle Zitate folgen der Edition von Geith 1971. 40 Die Übersetzungen ins Deutsche folgen ebenfalls Blume 2008.
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sichtbar für manec man (V. 579). Helrichs Reaktion und die Folgen auf dieses Wunder: Do div messe wart volle braht ein prister Helrich des gedaht der hete in dem kore des gesanges gephlogen der begonde dem bisschoffe nach zogen vnd sagete vil vmbescheidenlichen daz. Do iach er [sc. Ulrich] · ez węre virswigen baz denne daz man ez in div oren sagete des volckes · daz ime niht behagete. Do daz der prister horte er schamete sich · vnd zestorte gar mit weinen sin gesiht. Niemer mer gesach er daz liht. (V. 580–591) („Als die Messe vorbei war, ging ein Priester namens Helrich, der im Chor gesungen hatte, dem Bischof hinterher und erzählte ihm es auf überaus törichte Weise. Da sagte er [sc. Ulrich], es bliebe besser verschwiegen, als dass man in die Ohren des Volkes sagt, was ihm nicht zukommt. Als der Priester das hörte, schämte er sich und verlor durch Weinen seine Sehkraft. Nie wieder konnte er sehen.“)
Bei Berno ist die Episode etwas ausführlicher und in einigen Details präziser vorgegeben: Expletis uero missarum sollemniis · quidam heilricus presbiter qui eo die cantoris officium agens tanto interfuit miraculo · sequens episcopum usque in cubiculum ad eius pedes cecidit · atque in presentia popularium personarum eandem uisionem minus caute explanauit · Cui uir dei · Melius inquit tibi esset tacere · quam talia in aures uulgi proferre · Mox ille rubore perfusus exiit · et in uistibulo cubiculi residens tantas lacrimas emisit · ut ex illarum suffusione cogeretur lucis huius dispendia sustinere · (Blume 2008, XII, 5–13) („Nachdem aber die Meßfeier beendet war, folgte ein gewisser Priester Heilricus, der an diesem Tag das Amt des Cantors versehen hatte und bei dem so großen Wunder anwesend gewesen war, dem Bischof bis in sein Gemach, fiel ihm zu Füßen und sprach in Gegenwart von Laien unvorsichtig von dieser Erscheinung. Ihm sagte der Mann Gottes: „Besser wäre es für Dich gewesen zu schweigen, als solches vor den Ohren des Volkes zu verbreiten.“ Da ging er, mit Röte überzogen, sogleich hinaus und setzte sich in die Vorhalle des Gemachs, wo er so viele Tränen vergoß, daß er durch die ausströmende Flut den Verlust seines [Augen]lichts ertragen mußte.“)
Weitere Passagen ließen sich anführen: Ulrichs Schweigegebot an die Zeugen eines Erscheinungswunders (V. 638–657), seine Teilhabe mit anderen Heiligen an den gotes tougen (V. 710), die er für sich behält bzw. lediglich heimlichen und tougenlichen (V. 720f.) seine Vertrauten/Verwandten teilhaben lässt, oder das Schweigegebot an seinen Kaplan bei der Überquerung der Wertach (V. 1114–1129). Im Rahmen dieser zuletzt genannten Episode wird nun das Vorbild offengelegt, dem Ulrich mit seinem restriktiven Verhalten nacheifert:
100 | Norbert Kössinger Sus wolte er nach dem meister streben der ouch sinen ivngern riet do er von dem berge schiet daz sie niemen solten kůnden die geschiht · vnze sie irfůnden sine ware vrstende an der siten vnd ander hende. („So wollte er seinem Meister nacheifern, der auch seinen Jüngern geraten hatte, als er vom Berg hinabstieg, dass sie niemandem die Geschehnisse sagen sollte, bis sie seine wahre Auferstehung an der Körperseite und an den Händen erkannten.“)
Dahinter steht theologisch das sogenannte Messiasgeheimnis im Neuen Testament, insbesondere die Geschichte von der Verklärung Jesu (Mk 9,2–10), an deren Ende ein bis zur Auferstehung befristetes Schweigegebot an die Jünger Jesu steht, das teils wörtlich in Alberts Text eingegangen ist:41 (9,8) et descendentibus illis de monte praecepit illis ne cui quae vidissent narrarent nisi cum Filius hominis a mortuis resurrexerit. („Während sie den Berg hinabstiegen, verbot er ihnen, irgend jemand zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei.“)
Ulrich wird hier also deutlich in die Nachfolge des jesuanischen Vorbilds gestellt, ein Musterbeispiel für imitatio Christi. Dieses Modell wird nun von der Ebene des Erzählgegenstandes auf eine poetologische Ebene übertragen. Die hierfür entscheidenden Textpassagen sind der Prolog und der Epilog, in denen Albert unabhängig ist von seinen beiden Vorgängern in lateinischer Sprache.42 Denn wie der Heilige die gotes tougen (V. 716) und die seines eigenen heiligmäßigen Wirkens bis in die Zeit nach seinem Tod bewahrt wissen möchte, so verschweigt auch der Autor der Legende in einer Bescheidenheitsgeste seinen eigenen Namen und den der geistlichen kint (V. 31), an die sich der Text primär richtet. Und doch stellt Albert seinen Namen gleichzeitig im Akrostichon des Prologs auf eine Weise aus (Abb. 1 und 2), die weit über eine bloße Namensnennung hinausreicht. Zudem gibt er seinen Rezipienten im Epilog den Schlüssel für die Dechiffrierung des Akrostichons mit an die Hand (die sich ja nur für ein lesendes oder wenigstens buchstabierendes Publikum erschließen kann). Ich zitiere zunächst den Anfang des Prologs: Alles des man beginnen sol daz enkan sich niht virenden wol
|| 41 Die Parallelstelle bei Berno ist wieder inhaltsidentisch. Vgl. Blume 2008, Kap. XXVIII. Zum Messiasgeheimnis aus exegetischer Sicht vgl. Gnilka 1994, S. 167–170. 42 Zur ganz eigenen Anlage der Vita Bernos vgl. das Widmungsschreiben an Abt Fridebold bei Blume 2008. Zu Gerhards Vita vgl. Berschin/Häse 1993.
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ez engebe got der helfe schin von der lieben milte sin. Lobes er eine werdicheit wil han · daz si nieman leit. Als uns der wissage seit der eren krone er eine treit. Beide ere vnd gewalt sin tugent div ist manichualt. stête · milte · lobesam vil uerre bekant ist sin nam. Er ist reine · sůze · gut er ist veste niht wanchelmut. Barmeherzicheit ist er vol vnd gedulticheit als er sol. Redelich vnd wůnnechlich niemen ist ime fůr war gelich. Tohte im iht mines herzen sin. mit allem vlize lobte ich in. Vber ein er ist rein deme richen vnd dem armen gemein. Sich ime ergit · sweme sunder nit ist daz herze uon minnen wit.
(„Alles, das man beginnen soll, kann nicht zu einem guten Ende gelangen, wenn nicht Gott ein sichtbares Zeugnis der Hilfe durch seine liebe Freigebigkeit gibt. In Bezug auf Lobenswürdigkeit will er allein das Ansehen haben. Das gereiche niemand anderem zum Nachteil. Wie uns der Prophet sagt, trägt er die Krone der Ehre allein. Was Ehre und Macht angeht: Seine Tugend ist vielfältig. Beständig, freigebig, lobenswürdig: Sein Name ist weithin bekannt. Er ist makellos, süß und gut. Er ist beständig, nicht unbeständig. Er ist voller Barmherzigkeit und Nachsicht, wie er es sein soll. Hinsichtlich Vernunft und Pracht ist niemand ihm gleich. Wäre ihm mein Herzenstrachten in irgendeiner Weise angemessen, dann würde ich ihn mit allem Nachdruck loben. Er ist ganz und gar rein, gleichermaßen für den Mächtigen wie für den Armen. Ihm ergibt sich, wem ohne Haß das Herz von Liebe weit ist.“)
Das Akrostichon sticht optisch durch die rubrizierten Initialen ins Auge (Abb. 1 und 2); sie sind in der Edition durch Fettdruck hervorgehoben. Die übrigen Versanfangsbuchstaben sind demgegenüber deutlich zurückhaltender gestaltet. Formal sind die acht Buchstaben des Namens in zwei Vierergruppen untergliedert. Die erste Gruppe besteht aus 4 x 4 Versen (A L B E, V. 1–16), die zweite aus 4 x 2 Versen (R T V S, V. 17–24), wobei der jeweils erste Vers (V. 17, 19, 21, 23) zusätzlich durch einen Binnenreim markiert ist.43 Offengelegt wird das Akrostichon nicht bereits an dieser Stelle, es folgen Bemerkungen zum Gegenstand der Erzählung (V. 25–30) und zu den Personen um deretwillen der Autor seine Geschichte, ein niuwez dinc (V. 36) erzählt, die geistlichen kint (V. 31), die aber ungenannt bleiben sollen:
|| 43 Vgl. Geith 1971, S. 81.
102 | Norbert Kössinger die liebisten bringent mih daran der ich nů niht nennen wil. Ir lob spar ich an daz zil da daz lob ane ende wert. Die des sich hie machent wert ich konde sie geloben vil wan daz ich ir niht virkoufen wil. (V. 38–44) („Diese Liebsten, die ich nun nicht nennen will, bringen mich dazu. Ihr Lob spare ich auf bis dorthin, wo das Lob ohne Ende währen wird. Die sich hier darum verdient gemacht haben, könnte ich sehr loben, aber ich will sie nicht preisgeben.“)
Die Parallelisierung zum Erzählgegenstand selbst fällt jedenfalls an dieser Stelle stark auf: Der Autor löst auf der Ebene dichterischer Produktion vorbildlich das ein, was Ulrich im Text von seinen Vertrauten fordern wird, wie es Jesus von seinen Jüngern eingefordert hat. Doch dabei belässt es der Autor nicht. Er findet im Epilog einen Weg, auf seinen eigenen Namen hinzuweisen, ohne diesen selbst im Text zu nennen. Nach einer ausführlichen Bitte um Gebetsgedenken seiner Rezipienten folgt schließlich der Hinweis auf das Akrostichon und seine Erklärung:44
Vraget$ir$wie$man$in$nenne ęͣ vͥ$
ich selbe in wol irkenne. 1560 Er ist ein vaz tůgende lęͣre. Ob er des niht węͣre wes mohte er vch denne gebiten? Div bosheit hat in lange geriten. Sie wirt da ze im sedelhaft 1565 siene virtribe denne uwers gebetes kraft. Lat schinen in uwer gůte sendet im der starken glůte Nwer minne einen koln so mac er sich vrostes irholn. 1570 Mit pater noster almůsen stozet im in den bůsen zeiget im ob ir milte sit got iv selbe daz lon git. Swer wizzen welle sinen namen 1575 der sol setzen ze samen an dem ersten blate die bůch staben die die roten uarwe haben. Ist iht wandelbêre daz getihte · oder kůnste lêre 1580 daz bezzere der ez kůnne; mir ein teil des lones gůnne || 44 Am Ende steht ein Mariengebet (V. 1584–1603).
Legenden und Liturgie | 103 habe er ouch mit mir teil sus wehsset vns der seilden heil. („Wenn ihr fragt, wie man ihn nennt: Ich kenne ihn selbst gut. Er ist ohne Tugenden. Wenn er das nicht wäre, worum könnt er euch dann bitten? Die Unbeständigkeit hat ihn lange geritten. Sie wird dort bei ihm sesshaft, wenn sie nicht die Kraft eures Gebets vertreibt. Lasst ihn eure Güte sehen, sendet ihm ein Stück Kohle von der starken Glut eurer Liebe. So kann er sich vom Frost erholen. Stoßt ihm mit Paternoster Almosen in die Brust, zeigt ihm, ob ihr freigebig seid. Gott selbst gibt euch den Lohn. Wer seinen Namen wissen will, der soll auf dem ersten Blatt die Buchstaben in roter Farbe zusammensetzen. Ist der Text in irgendeiner Hinsicht fehlerhaft oder kunstlos, dann soll es der, der es kann, verbessern. Gönnt er mir einen Teil des Lohnes, soll auch er mit mit Anteil daran haben. So wächst uns das Heil.“)
Das Akrostichon wird mit präzisen Angaben erläutert (Ort: erstes Blatt, Gestaltung: rote Farbauszeichnung), nachvollziehbar wird der verschlüsselte Autorname allerdings erst, wenn der Leser nun tatsächlich zurück an den Anfang der Legende blättert. Im Medium des mündlichen Vortrags bleibt dieses Spiel mit dem Namen nicht nachvollziehbar, das neugierig machen kann auf das Buch als Gegenstand und seinen Charme gleichfalls entfalten kann, wenn man auch genau weiß, wer als Autor hinter dem Text steht. Über diese religiöse, eng mit der Erzählung selbst verknüpfte Funktion dient das Akrostichon hier sicher auch dazu, „die Integrität und Echtheit eines Textes zu gewährleisten, d.h. ihn vor Einschüben, Auslassungen und Umstellungen zu schützen und die Autorschaft zu verbürgen.“45 Das gilt im vorliegenden Fall aber nur recht eingeschränkt für den Anfang des Prologs und wird vom Autor durch seinen Hinweis auf Heilspartizipation von späteren Korrektoren ausdrücklich als Möglichkeit des Eingriffs eingeräumt. Als Vergleichsbeispiel lässt sich auf die nur spät überlieferte, aber im zeitlichen Umfeld der Ulrichsvita Alberts entstandene Legende Heinrich und Kunigunde des Ebernand von Erfurt verweisen.46 Auch dieses Werk ist mit einem Akrostichon versehen, das in der einzigen erhaltenen Handschrift aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts allerdings wohl nicht ganz vollständig erhalten ist. Zudem ist es hier nicht auf einen bestimmten Textabschnitt begrenzt, sondern betrifft die Initialen der einzelnen, insgesamt 60 Textabschnitte, umfasst also die Legende als Ganze. Als Text ergibt sich folgendes: EBERNAND SO HEIZIN ICH: DI ERFURTERE IRKENNINT MICH: KEISIR VNDE KEISIRIN(NE).47 Auch Ebernand gibt seinen Lesern am Ende seines Textes den Schlüssel zur Auflösung mit an die Hand:48 4445 Nû hân ichz allez vollenbrâht. wan einez hân ich noch erdâht:
|| 45 Flood 1998, S. 375, der die Ulrichslegende nicht anführt. 46 Zu Autor und Werk vgl. zuletzt Lemmer/Gärtner 2012, S. 11–22. 47 Vgl. dazu Lemmer/Gärtner 2012, S. 11. 48 Bechstein (1860), V. 4445-4464. Die Übersetzung folgt Lemmer/Gärtner 2012, S. 127.
104 | Norbert Kössinger wil ieman frâgen mêre: ‚wer was der tihtêre?‘ ich enphlige mich niht nennen, 4450 geruoht ir mich erkennen enwelt irs niht erwinden, alsus muget irz vinden: ist der leser kluoc, hât er an kunste die gefuoc, 4455 er lese die houbtbuochstabe von êrst wan an daz ende herabe, darmite die verse erhaben sint. er ensî dan genzlîch ein kint, den namen vindet er lîhte, 4560 ez saget im daz getihte: die buochstabe machent wort von êrst biz an des endes ort: sus mag er vinden mînen namen, al muoz ich mich ein lutzel schamen. („Nun bin ich am Ende meines Werkes. Nur eines kommt mir noch in den Sinn. Sollte jemand fragen: ‚Wer ist eigentlich der Dichter?‘ Ich habe meinen Namen nicht genannt. Solltet ihr ihn wissen und nicht darauf verzichten wollen, könnt ihr ihn auf folgende Weise erfahren. Ein kluger Leser, der sich auf die Kunst versteht, schaue auf die Anfangsbuchstaben jeder ersten Kapitelzeile, und wenn er kein Kindskopf ist, kann er den Namen leicht finden. Die einzelnen Buchstaben, hintereinander gelesen, ergeben meinen Namen. Ich habe das ein wenig verschämt getan.“)
Das Akrostichon bei Ebernand erfordert gewiss einen höheren Aufwand bei seiner Entschlüsselung im Vergleich zu demjenigen Alberts. Durch seine Anlage kann es zudem eine Art textueller Sicherungsmechanismus für eine integre, vom Autor gewollte Überlieferung sein (die im Fall der einzigen erhaltenen Handschrift gestört ist). Der mitgegebene Schlüssel macht aber auch deutlich, dass es die Nennung nicht wie bei Albert in Verbindung mit dem Erzählgegenstand selbst gesehen werden kann. Dazu bildet der Bescheidenheitstopos in V. 4564 allein eine zu schmale Grundlage.
3 Fazit Helmut de Boor (und in seiner Nachfolge Karl-Ernst Geith) hat in seiner Literaturgeschichte die Entstehung der deutschen Ulrichslegende einem konkreten Anlass zugewiesen: So mag man die Legende mit den Ereignissen in Zusammenhang bringen, die dem Kult des heiligen Ulrich einen neuen Auftrieb gaben: dem Brand von Augsburg im Jahre 1183 und der Wiederauffindung der Gebeine des Heiligen im Jahre 1187. Vielleicht ist also auch dieses Gedicht
Legenden und Liturgie | 105 eine Propagandaschrift nach dem Brandjahr, um der Förderung des Wiederaufbaus zu dienen.49
Dieser konkrete Anlass ist sicher plausibel und gibt der Ulrichslegende einen (paraliturgischen) Rahmen, der mit denen von Georgslied und Galluslied vergleichbar ist. Nimmt man die Argumente ernst, die Karin Schneider zur Lokalisierung des Cgm 94 vorgetragen hat, wird man nicht umhin kommen, auch das Faktum der Textentstehung in Augsburg noch einmal neu zu bedenken. Die erhaltene Textüberlieferung sowie die textuelle Verfasstheit der Legende – und das wollte der vorliegende Beitrag exemplarisch deutlich machen – weisen unabhängig von solchen Spekulationen entschieden über diesen Horizont hinaus.
|| 49 de Boor 1960, S. 360f.
106 | Norbert Kössinger
Abb. 1: Anfang von Alberts Ulrichsvita (München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 94, Bl. 28r).
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Abb. 2: Anfang von Alberts Ulrichsvita (München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 94, Bl. 28v).
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Gerhard Wild
Gegengesänge Bedingungen und Möglichkeiten einer Absorption liturgischer Rede auf der iberischen Halbinsel1
1 Mozarabisch-asturisches Präludium Am Beginn der Literaturen der iberischen Halbinsel stehen der durch das Vordringen muslimischer Berber innerhalb kaum eines Jahrzehnts verursachte Zusammenbruch des Westgotenreiches und die Errichtung des Emirats von Córdoba durch den auf abenteuerliche Weise einer Palastrevolution in Damaskus entgangenen Umayyaden-Prinzen Abd ar-Rahman I. Dieser befiehlt in Sorge um sein Seelenheil vier Jahre vor seinem Tod den Bau der größten Moschee seiner Zeit, für die er Spolien aus der gesamten mediterranen Welt zusammentragen lässt. Das heute noch sichtbare Resultat dieser Bautätigkeit, die sich bis in die letzten Jahre des Kalifats von Córdoba kurz nach der Jahrtausendwende erstrecken wird, ist jener ‚Wald der tausend Säulen‘, den noch Karl V. als ‚Wunder‘ bezeichnete.
Abb. 1: Córdoba, Umayyadenmoschee.
|| 1 Ich danke ausdrücklich Herrn Léonce Lupette M.A. (Frankfurt am Main) für seine hilfreichen Anmerkungen bei der kritischen Durchsicht der folgenden Überlegungen.
112 | Gerhard Wild Dieses Bauwerk mit seiner in roten, weißen und schwarzen Marmorblöcken abgesetzten Bogenkonstruktion propagierte eine offenkundig so spezifisch syrischarabische Ästhetik,2 dass die Kunde selbst in den kulturell unterentwickelten Norden der Halbinsel gelangte, wie ein Blick in altspanische Codices zeigt, die in dem bis ins frühe 13. Jahrhundert von den ‚Ungläubigen‘ bedrängten Königreich Kastilien zwischen dem 9. und frühen 13. Jahrhundert entstehen: Es handelt sich um die exotisch anmutend illuminierten Handschriften jenes Kommentars, den der asturische Mönch Beatus von Liébana zur Offenbarung des Johannes etwa zu der Zeit verfasst hatte, da die spanische Expedition Karls des Großen militärisch scheiterte. In wenigstens einem der über dreißig heute noch erhaltenen Manuskripte, dem um 1220 in dem Benediktinerkloster Las Huelgas (Provinz Burgos) entstandenen sog. Morgan-Beatus,3 zeigt Folio 255 eine Darstellung des Gastmahls des Belsazar,4 wobei die Szene in einem Ambiente situiert ist, das offenkundig durch Beschreibungen von Abd ar-Rahmans Cordobeser Moschee inspiriert wurde. Das ‚syrische‘ Stilelement der farblich alternierenden Bögen findet sich u.a. auch in der Moschee des Emiratspalastes von Zaragoza (sog. Aljafería), und am Rande Córdobas in dem von Abd ar-Rahman III. im Jahr 929 in Auftrag gegebenen Lustschloss Medinat az-Zahra (Abb. 2). Offenbar hat die damit auf der iberischen Halbinsel zunächst in der Sakralarchitektur etablierte syrische Ästhetik auch auf bedeutenden Einfluss auf spätere muslimische Bauten der iberischen Halbinsel ausgeübt, so dass der Illustrator des Morgan-Beatus auf Folio 222 sogar das ‚himmlische Jerusalem‘ als Replik auf die große Moschee konzipiert hat. Nahezu gleichzeitig entsteht nur zehn Kilometer von Las Huelgas entfernt, südlich der kastilischen Hauptstadt Burgos, in dem Benediktinerkloster San Pedro de Cardeña, das zu diesem Zeitpunkt bereits Grabstätte der Familie des kastilischen Nationalhelden Rodrigo de Bivar ‚El Cid‘ war, ein Kreuzgang. Dieser ‚Claustro de los Martíres‘, der „Märtyrerkreuzgang“, weist dasselbe Schmuckelement der rot-weiß abgesetzten Arkaden auf, die außerhalb des maurischen Kulturraums der Iberoromania nicht zu finden sind (Abb. 3).
|| 2 Erst wesentlich später, nämlich unter dem Raydāfrans („Frankenkönig“) ), wie arabische Historiker Ludwig dem Heiligen nannten, erreicht diese Ästhetik auch Frankreich: In der im frühen 13. Jahrhundert errichteten Festung von Angers manifestiert sich mit den in dunklem Schiefer und hellem Tuffstein abgesetzten Mauern die Erinnerung an jene Bauten, die sich den Kreuzfahrern in Syrien darboten. 3 Jetzt: Pierpont Morgan Library, New York, Ms. M. 429. 4 Dan 5,1. Zur Aufnahme des alttestamentlichen Stoffes in mehrere spanische Manuskripte des Apokalypsenkommentars vgl. Klein 1976 und Williams 1977.
Gegengesänge | 113
Abb. 2: Medinat az-Zahra.
Abb. 3: Claustro de los Martíres.
Die Absorption solcher maurischer Stilelemente im christlichen Norden der iberischen Halbinsel ist übrigens auch lange bevor die sog. Reconquista durch den Sieg von Navas de Tolosa (1212) zu einer militärischen Erfolgsgeschichte wurde, kein Einzelfall. Genuin maurische Ausdrucksformen finden sich nämlich in weiteren Beatus-Handschriften. So erschienen maurische Hufeisenbögen in dem um 1047 wahrscheinlich in San Isidoro de León von einem gewissen Facundo gefertigten
114 | Gerhard Wild Beatus-Kodex5 und auf Folio 209 und Folio 233 einer um 1180 in San Pedro de Cardeña entstandenen Beatus-Handschrift. Bereits der Illustrator des Ende des 10. Jahrhunderts, also in der Spätphase des Kalifats, entstandenen Beatus von Urgell verfährt ebenso. Auch ein 1091 in Santo Domingo de Silos, einem von San Pedro de Cardeña nur 50 km entfernten Benediktinerkloster, entstandenes Beatus-Manuskript6 wartet mit mehreren Abbildungen auf, die christliche Thematiken in ein maurisches Ambiente stellen: Der Miniaturenmaler Petrus setzt nicht nur Christus, der Johannes durch einen Engel das Buch der Apokalypse übergeben lässt (Apok. 1,1), in einen Hufeisenbogen (fol. 18v), er umgibt selbst eine Abbildung der Kreuzesreliquie von Oviedo mit einem maurischen Bogen (fol. 3v). Auf Folio 134v eines 975 in dem westgotischen Kloster San Salvador de Távara (Provinz Zamora) vollendeten BeatusManuskripts7 ist gar ein siegreicher christlicher Ritter in maurischer Tracht abgebildet, und auf Folio 164 findet sich die hispanoarabische Bogenkonstruktion. Gemessen an der in dieser Hinsicht relativen Einheitlichkeit der Beatus-Handschriftengruppe überrascht freilich wesentlich mehr, dass selbst die Kanontafel der sog. Biblia Sacra Hispaliense8 (vollendet 988) und auch der hundert Jahre danach illuminierte Jungfräulichkeitstraktat des westgotischen Bischofs San Ildefonso 9 mit dem Architekturelement des Hufeisenbogens aufwarten. Offensichtlich handelt es sich bei dieser subversiv anmutenden Arabisierung des Kerns christlicher Kultur des iberischen Nordens um ein Phänomen der Habitualisierung,10 das sich ursprünglich einer Mangelsituation – dem Fehlen an eigenen geeigneten Vorbildern in den postlateinischen Idiomen der Halbinsel, in Architektur, Manuskriptgestaltung, ja selbst in der Musik11 – verdankt. Augenscheinlich ist auch die Wahl der christlichen Künstler durch ein System von Schemata geleitet, das dem Begriff des ‚Kunstwollens‘ mit einer Unwillkürlichkeit antwortet, die im Ambiente selbst gründet: „Cette intention objective, qui ne se réduit jamais à l’intention du créateur, est fonction de pensée, de perception et action que le créateur doit à son appartenance à une société, une époque et une classe.“ 12 Dabei ist dem Habitus, der sich dem Austausch mit der mozarabischen Kultur verdankt, von vornherein ideologische Ambivalenz einbeschrieben. Während we|| 5 Sog. Beato de Fernando I y doña Sancha, jetzt: Madrid, Biblioteca Nacional Cod. Vitr. 14-2. 6 London, British Library, Add. Ms 11695. 7 Girona, Kathedralarchiv Ms. 7. 8 Madrid, Bib. Nacional, Cod. Vitr. 13-1. 9 Florenz, Bib. Laurenziana, Ms. Ashb. 17. 10 Panofsky 1948. 11 Am vehementesten wurde aus literaturwissenschaftlicher Sicht die erstmals bei Schack 1865 formulierte These eines Einflusses der maurischen Poesie auf die Genese der Troubadourlyrik und des dolce stil’ nuovo von Nykl 1946 und den Herausgebern der Zeitschrift Al-Andalus, hier namentlich durch Emilio García Gómez und Évariste Lévy-Provençal, vertreten. 12 Bourdieu 1967, S. 162.
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nigstens fünf Jahrhunderten absorbieren die christlichen ‚Rechtsnachfolger‘ der unterlegenen Westgoten und mit ihnen die Statthalter der Kurie den kulturellen Habitus des siegreichen Islams einerseits selbst im sakralen Umfeld, also einem ideologischen Kernbereich. Die damit für mehrere Jahrhunderte praktizierte freiwillige Selbstkolonisierung ästhetischer Spielräume provozierte andererseits – freilich ohne nennenswerte Folgen – Kritiker wie den Cordobeser Theologen Alvarus Paulus, der etwa hundert Jahre nach Beatus’ Apokalypsenkommentar jene Faszination der maurisch-muslimischen Kultur als eine kulturellen Chimäre beklagt, der schon zu viele seine Glaubensbrüder erlegen seien: nonne omnes juvenes vultu decori, linguae deserti, habitu gestuque conspicui gentilicia eruditione praeclari, Arabico eloquio sublimati, volumina Chaldaeorum avidissime tractant, intentissime legunt, ardentissime disserunt, et ingenti studio congregantes, lata, constrictaque lingua laudando divulgant, ecclesiasticam pulchritudinem ignorantes, et Ecclesiae flumina de paradiso manantia, quasi vilissima contemnentes. Heu, proh dolor! linguam suam nesciunt Christiani et linguam suam non advertunt Latini, ita ut omni Christi collegio vix inveniatur unus in milleno hominum numero, qui salutatorias fratri possit rationabiliter dirigere literas. Et reperitur absque numero multiplex turba, qui erudite Chaldaica verborum explicet pompas.13 („Befassen sich nicht etwa alle Jünglinge von zierlichem Äußeren aufs Begierigste mit den Schriften der Chaldäer! Ihrer Sprache abtrünnig fallen sie durch Aussehen und Gesten auf, tun sich durch heidnische Bildung hervor und zeichnen sich im Arabischen aus, lesen es mit äußerster Genauigkeit, erörtern es mit Inbrunst, versammeln sich mit ungeheuerlichem Eifer, bringen es mit vereinter Zunge unters Volk. Ohne noch um kirchliche Schönheit zu wissen, verachten sie gleichsam aufs schäbigste den Fluss der Kirche, der aus dem Paradies entspringt. Oh, ach Schmerz! Christen kennen ihre Sprache nicht mehr und Lateiner erkennen die ihre nicht, ganz so, dass sich in der ganzen Gemeinschaft Christi unter Tausend kaum einer findet, der mit Verstand eine Grußbotschaft an seinen Bruder richten könnte. Auch findet sich unter ihnen eine bunte Schar, die Prozessionen in gepflegtem Chaldäisch abhält.“)
Tatsächlich nahm der arabisch-berberische Sprachraum zu diesem Zeitpunkt drei Viertel der iberischen Halbinsel ein und bewegte sich erst auf seinen kulturellen Höhepunkt hin, den mehr noch als die Blüte der Künste und Wissenschaften die Annahme der Würde des Kalifen, des ‚Beherrschers aller Gläubigen‘, durch Abd arRahman III. markieren sollte. Dennoch spricht aus den Worten des Cordobesers Álvaro eine offensichtlich tief empfundene Frustration, die bewusst auf ein Feindbild hinarbeitet, welches in ideologischer Hinsicht von seinen mozarabischen Glaubensgenossen offenbar überhaupt nicht geteilt wurde, zumal sie unter umayyadischer Herrschaft nicht nur die Möglichkeit zur Religionsausübung, zum Aufstieg in Staatsämter, sondern gar zur Heirat mit Muslimen genossen.14 Nicht kulturelle und religiöse, sondern wirtschaftliche Gründe, nämlich die Expansion des nordspanischen Feudalsystems über den engen christlichen Machtbereich hinaus, machten es || 13 AlvCordub, S. 535f. 14 Lévi-Provençal 1980, S. 95.
116 | Gerhard Wild in der Frühphase der Königreiche Asturien, León und Kastilien nötig, durch die ubiquitäre Visualisierung der Johannes-Apokalypse in der Deutung durch den asturischen Mönch Beatus das Bewusstsein von Marginalisierung und Unterlegenheit in militante Heilsvergewisserung umzuformen. Doch wie die Entstehung und Verbreitung der Beatus-Manuskripte demonstriert, haben sich auch die Christen im Norden Spaniens der Faszination der orientalischen ‚Chimäre‘ bis ins 13. Jahrhundert nicht entziehen können.
2 Maurisch-andalusisches Intermezzo Von der Erosion der militärisch-politischen Macht der Mauren, die ein Effekt von nach dem Tode des Umayyaden-Wesirs Almansur hervorbrechenden tribalen Konflikten auf der iberischen Halbinsel war, sind Künste und Wissenschaften mitnichten betroffen. Im Gegenteil scheint es, dass die Zersplitterung der maurischen Herrschaft in zeitweilig mehr als dreißig in Spanien heute als taifas ( !ﻣﻠﻜﺆ ﺋﻒ# )!ﻃﺆbezeichnete Duodezfürstentümer mit der militärischen auch eine kulturelle Konkurrenzsituation schuf, aus der erst später der kulturelle Mythos ‚alAndalus‘ als Biotop ästhetischer und intellektueller Experimente mit einer eindrucksvollen Vorreiterfunktion für die spätere europäische Geistesgeschichte 15 hervorging. So muss es auch nicht verwundern, dass die arabischsprachige lyrische Produktion der iberischen Halbinsel im Zeitraum vom 9. bis ins späte 15. Jahrhundert bislang kaum annähernd gesichtet, geschweige denn angemessen editorisch repräsentiert ist.16 Wenngleich nun die arabischsprachige Dichtung bereits in vorislamischer Zeit über ein während der kommenden neun Jahrhunderte virulentes Formenrepertoire verfügt, so scheint sie sich auch auf der iberischen Halbinsel zumal in der Phase des politischen Niedergangs erst unter dem Einfluss der Gestaltungskraft des Korans zu einem Ausdrucksmedium entwickelt zu haben. Auch hier liegt eine – ursprünglich linguistisch begründete – Mangelsituation zugrunde, da das Arabische in den isla|| 15 Erstmals bei Schack 1865. Vgl. ferner Hunke 1960 und 1976. Zur Literatur vgl. Nykl 1946 und Galmés de Fuentes 1978, zur Religionsgeschichte vgl. Monneret de Villard 1944 und SánchezAlbornoz 1981; zur Wissenschaftsgeschichte vgl. Hunke 1979 sowie neuerdings Belting 2009, AlKhalili 2012 und Freely 2012. 16 Vgl. dazu neuerdings die verdienstvollen Arbeiten von Teresa Garulo, hier stellvertretend v.a. ihr Abriss der maurisch-spanischen Literaturgeschichte in dem uns interessierenden Kontext des 11. Jh.s (Garulo 1998). Bereits in der Einleitung zu diesem nützlichen Buch beklagt die Autorin das Ende einer Epoche, in der in Andalusien alles möglich erschien: Unsere folgenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu eben der Frage, wie viel ideologischen und ästhetischen Pluralismus die Epoche der taifa-Dichter tatsächlich bereits lang vor den Heterodoxien der karnevalisierten Literatur der frühen Neuzeit hervorgebracht hat.
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misierten Territorien auf die seit dem 7. Jahrhundert durch die ersten Kalifen normierte Sprache des Korans zurückgreifen musste, die selbst in der Umayyadenzeit, als die syrische Varietät zum Standard des Arabischen wurde, von dem sprachlichbegrifflichen Repertoire des einen heiligen Buches profitiert. Wie der Norden Spaniens das Design der Mauren adaptiert, so habitualisierte die maurische Literatur der iberischen Halbinsel ihrerseits ein kulturelles Wissen, das im Koran wurzelt, um sich in einer späteren Phase ironisch über dieses zu erheben. Beispiele für diese (womöglich gar blasphemische) Usurpation genuin liturgischer Sprache finden sich zumal bei den Dichtern nach dem Zusammenbruch des Kalifats von Córdoba, wie bei dem im südportugiesischen Silves geborenen Ibn Ammar (1031‒1086) und seinem zeitweiligen Förderer al-Mu’tamid, dem letzten Stadtkönig der taifa Sevilla. Ibn Ammars poetisches Hauptgewicht lag auf der sog. qasida, einer bereits in vorislamischer Zeit produktiven Gattung arabischer panegyrischer Dichtung, die er ganz anders als sein individualistischer Zeitgenosse Ibn Zaydun vor allem als rhetorisch überzüchtete Zweckbotschaft17 verstand. Das Preisgedicht, das im Folgenden kurz betrachtet werden soll, ist in der ibero-maurischen Literatur wegen seiner auf den arabischen Buchstaben ra endenden Versschlüsse als Qasida auf ra bekannt geworden. In diesem Panegyrikum18 auf al-Mu’tamids Vater, König Muhammad alMu’tadid (†1069), bettet Ibn Ammar sein eigentliches Anliegen zunächst in die in der arabisch-andalusischen Dichtung dieser Epoche gängige Motivik des nächtlichen Trinkgelages im Herrscherpalast. Die mit Metaphern überladene Beschreibung konzentriert sich dann auf den von einem Fluss durchquerten Garten, dessen florale Pracht der Schönheit eines Brautgewandes gleicht. Erst jetzt würdigt Ibn Ammar den Herren dieses Gartens, dessen exuberante Fülle mit al-Mu’tadids herausragenden physischen wie moralischen Qualitäten korreliert. Dass unter den Eigenschaften des als besonders rücksichtslos gefürchteten Eroberers mehrerer maurischer Fürstentümer Mut, Entschlossenheit und Machtfülle genannt werden, ist im Rahmen traditioneller Panegyrik ebenso konventionell wie die Erwähnung seiner von dem Schmeichler eingeforderten Großzügigkeit angesichts eines höfischen Trinkgelages, bei dem durchaus muslimisch-andalusischer Gepflogenheit entsprechend der Wein in Strömen fließt. Überraschend ist dagegen die Verbindung dieser Großzügigkeit mit dem Terminus ( &ﻟﻜﻮﺛﺮal-kawthar), welches zunächst „Überfluss“ oder „Fülle“ bedeuten kann, aber zugleich der Name eines Paradiesflusses ist, der || 17 Etymologisch leitet sich die Bezeichnung der qasida von ﻗﺼﺪher, das „auf etwas abzielen, beabsichtigen, bezwecken, im Schilde führen“ heißt. 18 Emilio García Gómez hat das Gedicht 1940 im arabischen Original nebst Übersetzung ediert, nachdem er 1930 eine geringfügig abweichende später mehrmals nachgedruckte Version (García Gómez 1982, S. 70‒72) vorgelegt hatte. Es liegt ferner in portugiesischer Übertragung (Alves [1998], S. 148‒150) vor. Die neueste, französische Übertragung von Vuong & Mégarbané 2011, S. 122 (mit arabischem Text) ist unvollständig.
118 | Gerhard Wild im Koran lediglich an einer Stelle der Sure 108 genannt wird, die deswegen ihren Namen sura al-kawthar erhielt: ۡ َٰـﻚ َۡ ﺛﺮ َﻮ (ﻟﮑ ۡﻨ 'َ ۡﻄ َﻋ *ۤ ﻧﺎ ِﱠ & َ ﻚ َ" ۡ&ﻧ َﺤ ۡﺮ َ ﺼﻞﱢ ﻟِ َﺮﺑﱢ َ َﻓ ُ َﻮ ۡ(ﻻ َۡﺑﺘَ ُﺮ$ ﻚ َ َِ"ﱠ ﺷَﺎﻧِﺌ$ („Wahrlich, Wir haben dir Fülle des Guten gegeben; So bete zu deinem Herrn und opfere. Fürwahr, es ist dein Feind, der ohne Nachkommenschaft sein soll.“19 )
Wie der letzte Vers suggeriert, kann &ﻟﻜﻮﺛﺮals „Fülle, Überfluss“ auch als von Allah verliehenes Geschenk reicher Nachkommenschaft verstanden werden, das den Gläubigen über seine ungläubigen Widersacher hinaushebt. Weniger frei als in der obigen Übersetzung lautet der relevante erste Koranvers: „Ich habe Dir Überfluss gegeben“ oder aber: „Ich habe dir al-kawthar gewährt“. Dem in dem religiösen Text angesprochenen Propheten wird also je nach Lesart der Trank aus dem Paradiesfluss, durch den er künftig vor Hunger und Durst bewahrt wird, oder reiche Nachkommenschaft – und somit das Überdauern in deren Gedächtnis – verheißen. Auch aktuelle Koraninterpreten sind sich bei der Passage keineswegs hinsichtlich der Deutung einig. Der in der Koranexegese ebenso wie in Rhetorik wohl bewanderte Poet Ibn Ammar kreuzt offenkundig beide Lesarten, indem er unterschwellig durch den letzten Vers der Koranreferenz den Fortbestand der durch alMu’tadids Vater Abu ’l-Qasim ibn al-’Abbad begründeten Abbadidendynastie20 in den Raum stellt und dem Stadtkönig als Individuum über die im Koran schon angelegte Polysemie zugleich die Unvergänglichkeit des Paradieses in Aussicht stellt. Indes provoziert Ibn Ammar durch den Kontext seines Gedichts eine weitere Lesart, die beide Lesarten ins Zwielicht der Parodie rückt, da er auf die Sprechsituation seines Gedichts rekurriert, das ja zu Beginn ein Trinklied im Garten des Palastes war. Ist das Preisgedicht zugleich Trinklied, so wird der Palastgarten durch die Nennung des Paradiesflusses &ﻟﻜﻮﺛﺮvom weltlichen locus amoenus zum Paradies selbst, und umgekehrt der Paradiesfluss bzw. das Paradies zu einem rauschhaften, dionysischen Ort, an dem der Wein im Überfluss fließt.: !ﻧﺎ ﻣﻦ ﻧﺮ"! ﺑﺠﻨ! ﻟﻤﺎ ﺳﻘﺎﻧﻲ ﻣﻦ ﻧﺮ"! !ﻟﻜﻮﺛﺮ# ﻘﻨﺖ$%.21 („Ich weiß, dass ich im Paradies bin, wenn in Eurer Nähe der Paradiesfluss [oder: Überfluss] sich ergießt“ [Übersetzung, G.W.])
|| 19 Kor 632. 20 Vgl. Art. Abbadiden. In: Ronart (1972), S. 1‒3. 21 Ibn Ammar, S. 62.
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Emilio García Gómez überträgt in seiner versifizierten Übersetzung den Abschnitt folgendermaßen: „Ich weiß, dass ich mich im Paradies aufhalte, wenn an Euer Seite euer süßer Fluss von Großzügigkeiten strömt.“22 In seiner späteren spanischen Version lässt der große Hispanoarabist den islamischen Originalbegriff, um die Ambivalenz deutlich zu machen, jedoch leider kommentarlos stehen. 23 Auch ein späterer Übersetzer Ibn Ammars bemerkt die Ambivalenz der Passage.24 Der dreist-geniale Kunstgriff Ibn Ammars beruht in der Ausbeutung von semantischen Feldern, die in seiner Muttersprache angelegt sind, bzw. in der mutwilligen semantischen Verschiebung durch Synonyme. Das Arabische hält für „Garten“ vier etymologisch unterschiedliche Lexeme bereit – !( ﺟﻨdschannā), !( ﺑﺴﺘﺎbustān), ( ﺣﺪﺋﻘﺔhad’īqā), und schließlich !"# (rawdu), das der Dichter eingangs eher unverfänglich in seiner Gartenbeschreibung verwendet. Es wäre also möglich gewesen, wenigstens zwei Synonyme für das in der ersten Strophe genannte !"ﻟﺮ% (ar-rawdu) zu setzen. Indes verwendet Ibn Ammar in Vers 14 das eindeutig liturgisch konnotierte !( ﺟﻨdschannā) und steuert durch die Parallelisierung der semantischen Ketten {→Garten + Fluss → Überfluss } und {Herrscher + Reichtum → Großzügigkeit} auf eine dritte Kette {Palast + Wein → Paradiesfluss} zu, der in letzter Konsequenz eine blasphemische Überhöhung des Sevillaner Stadtkönigs alMu’tadid zu unterlegen ist. Im Rahmen einer am islamischen Denkgebäude orientierten Lektüre von Ibn Ammars qasida ist schließlich die Frage nicht als Spekulation von der Hand zu weisen, ob gar die kunstvolle Versstruktur des Textes als qasida auf das Phonem ra (!") womöglich ebenfalls in der (blasphemischen) Absorption einer dem Koran entnommenen Denkfigur beruht: Schließlich ist ra ( !") der erste Buchstabe des Etyms ﺣﻢ# (ra / ha / mim), aus dem unter anderem die beiden im islamischen Glaubensbekenntnis zuerst genannten Qualitäten Allahs ‒ ﺣﻤﻦ$ (rahman) = gnädig und ﺣ"ﻢ$ (rahīm) = barmherzig – abgeleitet werden. Als rahman bürgt Allah „ohne irgendwelche Anstrengung seiner Kreaturen für alles […], das zu ihrer Entwicklung und zu ihrem Fortschritt notwendig ist“.25 Die Qualität rahman wiederum gab der Sure 55 ihren Namen ()ﺳﻮ! &ﻟﺮﺣﻤﻦ, in der die Großzügigkeit Allahs – insbesondere sein Wirken als allwaltender Schöpfer – an seinen Taten im Kosmos exemplifiziert wird. Eine derartige Verfahrensweise, über das im Rahmen der qasiden-Dichtung standardisierte phonomorphe Wirkmuster des Versauslauts auf das heilige Buch zurückzuverweisen, scheint übrigens in der ibero-maurischen Lyrik kein isolierter Fall zu sein, verwendete doch zumal Ibn Ammars bedeutendster Riva|| 22 Ibn Ammar, S. 62 (Übers. G.W.) 23 García Gómez 1982, S. 71 (Übersetzung G.W.): „Wenn, an Eurer Seite, mir der kawthar Eure Großherzigkeit einschenkt, bin ich sicher, mich im Paradies zu befinden.“ 24 Alves 1998, S. 149 (Übersetzung G.W.): „Wenn mir an deiner Seite der himmlische Fluss, der sich aus deinem Wesen ergießt, dargeboten wird, bin ich gewiss, im Paradies zu sein.“ 25 Kor 136.
120 | Gerhard Wild le, der Cordobeser Liebeslyriker Ibn Zaydûn (1003-1070) in seiner bereits zu seinen Lebzeiten legendären qasida an-nun’īya den nicht minder symbolträchtigen Versschluss nun ( !).26 nun ist der letzte Konsonant im phonetischen System des Arabischen und spielt als leitendes Phonem der letzten Sure des Korans (Nr.114, sog. Sura an-Nās) eine strukturtragende Rolle. Ibn Zaydûns (etwa zeitgleich mit dem Werk Ibn Ammars entstandenes) Liebesgedicht qasida auf den Buchstaben nun handelt von der Verstoßung, die dem Dichter durch seine (durchaus reale) Geliebte, die Cordobeser Prinzessin Wallâda, als Quittung für seine grundlose Eifersucht widerfährt und die ihn den Reichtum wahrgenommener Wirklichkeit nur mehr als Absenz, Existenz mithin als Weltverlust erfahren lässt. Just in der letzten Sure des Korans wiederum endet jeder Vers auf die Lautstruktur !( ﻧﺎnās = Menschen, Leute, Menschheit) bzw. ein diese Struktur reflektierendes Wort (v. 5: ! ﺧﻨﺎdschannas = ﱠﺔ = ﺟِﻨdschanna = „Geistwesen“, aber, „der sich zurückzieht“, d.h. der Teufel; V. 7: ِ wie oben ausgeführt auch: „das Paradies“). Der Koran greift insofern die Struktur der altarabischen qasiden-Dichtung auf, um das heilige Buch in ein auf 7 Verse komprimiertes Glaubensbekenntnis zusammenzufassen. Ibn Zaydûn wiederum verweist in seinem Gedicht mit dem in allen 22 Versen durchgehaltenen Versschluss, in dem das Pronominalsuffix 1. Person Plural ( [ ﻧﺎna] = „wir, uns, unser“) mitklingt, zum einen auf die ‚fehlende zweite Hälfte‘ seiner emotionalen Existenz, zum anderen aber auf das Ende des heiligen Buches, das dem bedrängten Mensch ﱢ &ﻟﻨ "َ ِﺮ ُﺑ "ُﻮ َﻋ & = „Ich nehme meine Zuals Ausweg aus existentieller Not (!ﱠﺎ 27 flucht beim Herrn der Menschen“ ) das Gebet offeriert. Anders als die qasida Ibn Zaydûns, der auf Betreiben Ibn Ammars ins Exil gehen musste, entbehrt dessen Text nicht nur einer solchen ebenso existentiellen wie spirituellen Pointe, womöglich handelt es sich bei der quasida in ra gar um eine frivole Replik auf das Werk des Rivalen Ibn Zaydun. Wenngleich diese Koinzidenzen einmal an die auf der iberischen Halbinsel bis ins 17. Jahrhundert ebenso hitzig wie kunstvoll vorgetragenen Dichterstreitigkeiten denken lassen, so interessieren sie in unserem Kontext vor allem unter dem Blickwinkel einer etwa in Frage gestellten Orthodoxie. Ibn Zaydûns subtil-zurückhaltender Rekurs auf den Koran kann sich auf eine vierhundertjährige Praxis berufen und reflektiert damit die Habitualisierung einer Denkform im Alltag auf der iberischen Halbinsel. Demgegenüber geht der religiöse Habitus bei seinem dreisten (und deswegen wohl erfolgreicheren) Sevillaner Konkurrenten Ibn Ammar in der Parodie auf: Herrscherlob mit einem subtilen Hinweis auf den Fortbestand der noch jungen Dynastie zu verbinden, mag in der Epoche nach der Auflösung des Kalifats noch angehen. Kühner ist demgegenüber || 26 Eine französische Übertragung nebst Originaltext dieses bekanntesten Gedichtes der andalusischen Literatur bei Vuong & Mégarbané 2011, S. 100‒103. Der Originaltext nebst einer Versversion bei García Gómez 1940, S. 15‒40. Neuerdings liegt auch eine deutsche Übertragung von Georg Bossong unter dem Titel „Trennung und Treue“ vor, in: Bossong 2005, S. 63‒66. 27 Kor 635.
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bereits die auf den Angesprochenen bezogene Nennung des Paradiesflusses alkawthar, durch die der taifa-König al-Mu’tadid implizit mit dem Propheten parallelisiert wird, als dessen Nachfolger zumindest sich einst die seit einem Vierteljahrhundert ausgelöschte Umayyadendynastie verstanden hatte. Ein machthungriger Potentat, als der al-Mu’tadid von Historikern beschrieben wird, konnte sich jedenfalls durch beide Lesarten geschmeichelt fühlen. Wägt man die keineswegs spärlichen Nachrichten aus Ibn Ammars Leben ab, so stellt dessen blasphemisches Spiel mit literarischen Einschlüssen der muslimischen Liturgie in einem Gebrauchsgedicht keineswegs sein einziges Vergehen dar: Von seinem späteren Gönner al-Mu’tamid als Statthalter eingesetzt, hintergeht er diesen mehrmals, paktiert mit den christlichen Widersachern ebenso wie mit feindlichen taifa-Fürsten, bis ihm 1084 seine dichterischen Fähigkeiten zum Verhängnis werden und ihn sein einstiger Freund und Förderer im Kerker eigenhändig tötet.28 Durch die Koranreferenz die reale Situation einer Orgie im Palast von Sevilla mit der Glückseligkeit des Paradieses gleichzusetzen, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dieses spirituelle Konzept gegenüber der Sinnlichkeit des Diesseits abzuwerten. Den Genuss von Wein (um von anderen durch den Stadtkönig gewährten Annehmlichkeiten zu schweigen) dem verheißenen Jenseits vorzuziehen, wäre unter einem sittenstrengeren Herrscher einige Generationen früher ebenso als Blasphemie geahndet worden wie etwa drei Jahrzehnte später: Als der fundamentalistische Berber Jusuf ibn Tašufīn (1061-1106) zum einzig profilierten militärischen Kontrahenten der christlichen Könige im Norden aufsteigt und in den 1090er Jahren auf der iberischen Halbinsel die Almoravidendynastie errichtet, ist einer der zentralen, gar durch ein islamisches Rechtsgutachten begründeten Vorwürfe des asketischen Muslimfürsten, die taifa-Könige Andalusiens hätten sich „wegen Missachtung der koranischen Vorschriften ihrer Herrscherrechte für unwürdig“29 erwiesen. Ibn Ammars Umgang mit dem heiligen Wort mag ein Beleg dafür sein, wie frivol in den Palästen der Nachumayyadenzeit mit dem Wort des heiligen Buches verfahren werden konnte.
3 Kastilisch-galizischer Abgesang Wenn trotz zweier Berberinvasionen sich im Norden der iberischen Halbinsel das militärische Blatt zu Beginn des 13. Jahrhunderts aufgrund politischer Zwistigkeiten der Mauren wendet, so scheint dies die habituale Imprägnierung künstlerischer Leistungen zunächst kaum betroffen zu haben. Sind die maurischen Formen zunächst Anschauungsort einer Vision ideologischer Rekuperation, so werden sie im || 28 Art. Ibn ‘Ammar, Mohammed. In: Ronart 1978, S. 454f. sowie García Gómez 1940, S. 57ff. 29 Art. Jusuf b. Tašufīn. In: Ronart 1978, S. 584.
122 | Gerhard Wild Moment ihrer Habitualisierung zugleich automatisiert, um womöglich erst in der Konfrontation mit dem (ideologisch?) entgegengesetzten Prinzip erneut wahrnehmbar zu werden. Hierfür verlohnt ein Blick auf die sich seit dem späten 12. Jahrhundert konstituierende galizisch-portugiesische Literatur. Wenngleich die frühe portugiesische Literatur aufgrund enger dynastischer, kirchengeschichtlicher und militärstrategischer Beziehungen unter ebenso permanentem wie intensivem Einfluss der französischen Literatur steht, so offenbart sie doch gerade in ihren Kernbereichen immer wieder Spuren kultureller Substrate, die sich weder aus den kulturellen Beiträgen der seit 1093 beständig ihren Machtbereich erweiternden, in engem Kontakt mit Südengland und Nordfrankreich stehenden Casa de Borgonha, noch aus dem Wirken der seit 1144 ansässigen Zisterzienser und dem Kulturtransfer auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela erklären lassen.30 Sicherlich, den Mönchen von Alcobaça verdankt die portugiesische Literatur so eindrucksvolle Importe wie die altfranzösische Postvulgata-Queste del Saint Graal, ersterer die Förderung der Minnedichtung provenzalischer Provenienz. Gerade einige der portugiesischen Reperkussionen der Troubadourdichtung legen es indes nahe, dass literarische Vermittlung in dem um 1150 noch zur Hälfte unter maurischer Kontrolle stehenden Land nicht so eindimensional gedacht werden darf. Anders gesagt: Gerade weil die Lyrik der trovadores galaïco-portugueses verglichen mit den Erzeugnissen im Südwesten Frankreichs ein spätes Phänomen darstellt, das mit der Umbruchsituation der iberischen Reconquista koinzidiert, ist diese Dichtung nicht bloß als westliche Wiederaufnahme von Themen und Formen der über hundert Jahre älteren provenzalischen Texte zu sehen, sondern als ein neues Eigentliches, das ex negativo das eingangs skizzierte iberische Kulturproblem widerspiegelt. Anders als im kastilischen Norden, wo die Habitualisierung des maurisch-mozarabischen Dispositivs in den ersten Jahrhunderten vor allem durch die Bilder der Beatus-Illuminatoren manifest wird, erweist sich die Hybridie solcher Amalgamierungsprozesse im Westen der Iberoromania in nicht minder vehementer Ambivalenz, nun aber mit offenkundig umgekehrten Vorzeichen. Ein Beispiel hierfür ist die cantiga Par deus, ai dona Leonor von Rui Paes de Ribela, einem aus der Region um die Stadt Ourense stammenden galizischen Troubadour, der im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts urkundlich belegt ist und vermutlich an der Eroberung Sevillas durch ein von Ferdinand III. geführtes christliches Heer (1247) beteiligt war und dem 21 Lieder zugeschrieben werden. Par Deus, ai dona Leonor, gram bem vos fez Nostro Senhor! Senhor, parecedes assi tam bem que nunca tam bem vi; || 30 Lopes & Saraiva 2000.
Gegengesänge | 123 e gram verdade vos dig'i, que nom poderia maior: par Deus, ai dona Leonor, gram bem vos fez Nostro Senhor! E Deus, que vos em poder tem, tam muito vos fezo de bem que nom soub'El no mundo rem por que vos fezesse melhor: par Deus, ai dona Leonor, gram bem vos fez Nostro Senhor! Em vós mostrou El seu poder, qual dona sabia fazer, de bom prez e de parecer e de falar fez-vos, senhor: par Deus, ai dona Leonor, gram bem vos fez Nostro Senhor! Com'antr'as pedras bom rubi sodes, antre quantas eu vi, e Deus vos fez por mal de mi, que há comigo desamor: par Deus, ai dona Leonor, gram bem vos fez Nostro Senhor!31
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In der Übersetzung durch Carolina Michaëlis lautet das Lied:32 „Beim Himmel, Dona Leonor, große Gnade hat Euch der Herr erwiesen! So schön seid Ihr, wie ich nie Ähnliches gesehen habe. In Wahrheit, schöner zu sein wäre unmöglich. Beim Himmel, Dona Leonor, große Gnade hat Euch der Herr erwiesen! Auf der Welt gab es nichts, wodurch Gott Euch noch herrlicher hätte machen können. || 31 CA I, S. 383. 32 CA I, S. 384. Anders als die dort wiedergegebene Übersetzung folgt die obige Fassung dem strophisch-typographischen Aufbau des altportugiesischen Texts, behält jedoch die Eingriffe bei, die die Übersetzerin hinsichtlich der argumentativen Abfolge vornimmt. Die sich anschließende Analyse gibt aus Gründen der Textnähe unsere Übersetzung.
124 | Gerhard Wild Beim Himmel, Dona Leonor, große Gnade hat Euch der Herr erwiesen! Seine Macht hat er an Euch gezeigt. An Euch hat er gezeigt, was für eine Frau er schaffen kann. Herrin seid Ihr an Wert, Gestalt und Rede. Beim Himmel, Dona Leonor, große Gnade hat Euch der Herr erwiesen! Wie unter den Steinen der gute Rubin, so seid Ihr unter allen, die ich gesehen. Zu meiner Freude schuf er Euch, denn sehr freundlich ist er gegen mich. Beim Himmel, Dona Leonor, große Gnade hat Euch der Herr erwiesen!“
Für die Bekanntheit der hier diskutierten cantiga spricht, dass sie in immerhin zwei der drei bedeutenden altportugiesischen Liederhandschriften 33 ‒ mit einer folgenreichen Variante34 ‒ überliefert ist. Trotz gewisser Detailvorbehalte gegen die Übersetzungspraxis der Begründerin der lusitanistischen Troubadourforschung entlastet uns die Hilfsübersetzung von Carolina Michaëlis davon, dieses Lied im Einzelnen zu analysieren. Stattdessen soll auch hier die Frage einer hybriden Habitualisierung religiöser Denkformen und Aussagemodi im Zentrum stehen. Unschwer erkennbar handelt es sich um einen jener Texte, die aufgrund der eindeutig einem männlichen lyrischen Ich zuzuordnenden Sprecherrolle gemäß der (keineswegs konsistenten) Gattungsterminologie der Lusitanistik als cantiga de amor (im Gegensatz zum Frauenmonolog, der sog. cantiga de amigo) bezeichnet werden. Wenn das in allen vier Strophen thematisierte Lob weiblicher Schönheit zeittypisch unpersönlich bleibt, so ist das damit evozierte, auffällig uncharakteristische Frauenbild den altprovenzalischen Troubadours geschuldet. 35 Als Gattungskonstituente provenzalischer Abkunft ist auch in Rui Pais’ cantiga das ob weiblicher Schönheit in hyperbolischen Formeln ausgedrückte Staunen nicht unter dem Aspekt neuzeitlicher Individualität zu lesen, sondern unter dem Blickwinkel einer subtil gehandhabten Rhetorik, die im altportugiesischen Originaltext neben den standardisierten metrischen Mustern vor allem Klangfiguren und andere auf Äquivalenzmustern basierende Strukturen ausbeutet. Der so erzeugte Schematismus einer traditionellen Argumentationsstruktur erweist sich indes bei genauer Betrachtung (freilich nur vordergründig) als konventionell. Auch explizite Verweise auf liturgische Ausdrucksmodalitäten wie die anaphorisch wiederkehrende Apostrophe || 33 CA Nr. 198, in: CA I, S. 383f.; im sog. Cancioneiro da Biblioteca Nacional (=BN), Nr. 349. 34 Vgl. weiter unten. 35 Mölk 1982, S. 83.
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Par Deus könnte noch als alltagssprachliches Sediment erscheinen, das insbesondere Rui Paes auch in anderen cantigas ebenso gehäuft verwendet wie Hinweise auf die Gottgewolltheit der Schönheit der Frau und der Liebe des lyrischen Ichs.36 Als Lobgesang auf die angesprochene Dona Leonor nähert sich Rui Paes’ Lied indes durch eine repetitive Exaltiertheit auffällig dem Strukturmuster einer Hymne, wie sie u.a. in einer Reihe der Alfons X., also etwa eine Generation nach Rui Paes, zugeschriebenen Cantigas de Santa María vorliegen. Als Beispiel sei auf die cantiga 160 De loor de Santa María („Zum Lob der hl. Maria“) verwiesen, die, in ihrer metrischen, syntaktischen und rhetorischen Anlage wesentlich schlichter, mit einem vergleichbaren Verfahren der Strukturamplifikation37 operiert: Quen bõa dona querrá loar, lo' a que par non á Santa Maria. E par nunca ll' achará pois que madre de Deus foi ja, Santa Maria. Pois madre de Deus foi ja e virgen foi e seerá Santa Maria. E virgen foi e será por ende cabo del está Santa Maria. Por en cabo del está u sempre por nos rogará Santa Maria. U por nos lle rogará e del perdon nos gãará Santa Maria. E perdon nos gãará e ao demo vencerá Santa Maria. E o demo vencerá e nos consigo levará Santa Maria.38
|| 36 Z.B. Rui Paes’ Por Deus vos quero rogar, mia senhor (CA Nr. 186, in: CA I, S. 369; BN, Nr. 337). 37 Schlötterer, Art. Hymnus, S. 502. 38 CantSMaria Nr. 160: „Wer eine edle Frau will, soll die Unvergleichliche loben./ Und eine, die ihr gleicht, wird er nicht finden, die schon Gottes Mutter war./ Und als Gottes Mutter war und bleibt sie jungfräulich. / Und als Jungfrau wird sie an seiner Seite sein. / An seiner Seite, wo sie stets für uns bittet. / Indem sie für uns bittet, wird sie Vergebung für uns erlangen. / Und durch unsere Vergebung wird sie Satan besiegen. / Durch den Sieg über Satan wird sie uns mit sich emportragen.“ (Übersetzung: G.W.)
126 | Gerhard Wild Bemerkenswert ist an diesem Marienhymnus, dass er sich inhaltlich stellenweise so weitgehend der Troubadourdichtung annähert, dass Handschriften wie der hier zitierte Kodex Escurialense (T.I.1) Santa María durch den aus der weltlichen Liebeslyrik galizisch-portugiesischer Provenienz stammenden Terminus boa dona ersetzen.39 Rhetorische Prinzipien des Frauenlobs werden insofern zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung spätestens eine Generation nach Rui Paes – in der Epoche Alfons’ des Weisen ‒ in beide Richtungen austauschbar. Wie in einigen der alfonsinischen Marien-Hymnen stellen auf den ersten Blick die vier Strophen lediglich Variationen der zentralen Aussage dar, Gott habe in der angesprochenen Frau ein Werk von für ihn charakteristischer Einmaligkeit und Vollkommenheit hervorgebracht; auch dies ist einer der gängigen Topoi zumal iberoromanischer Mariendichtung.40 Der Kernaussage scheint der vollkommene Versbau in ebenso idealer Weise zu entsprechen wie die weiträumige, durch Unisonoreime erzeugte Binnenstruktur: Zwei superlativisch gedachte Komparative (maior, melhor, V. 6 und 12) steuern über das (etymologisch gesehen: ebenfalls komparativische) Epitheton für die Angesprochene (senhor, V. 18) den gängigen Genrefokus Begehren (amor, V. 24) an, dessen Ursache seit Platon bekanntlich Schönheit41 ist. So handelt denn auch Rui Paes nahezu ausschließlich von einer Schönheit, die in sinnlicher Erfahrung – vorzugsweise dem Sehen42 ‒ gründet. Vor dem Hintergrund der scholastischen Ästhetik, die sichtbare Schönheit lediglich als Ausdruck göttlichen Waltens (verbum Dei, sive sermo43) oder mit den Worten von Curtius als „Attribut Gottes“44 begreift, bliebe bei aller rhetorischen Kunstfertigkeit diese Tautologie ein hochmittelalterlicher Gemeinplatz, der den Nordwesten der iberischen Halbinsel mit ortsüblich kultureller Verspätung aus Frankreich erreichte, würde nicht die portugiesische Sprache des 14. Jahrhunderts in Verbindung mit der rigiden parallelistischen Struktur des Schönheitslobs auf eine latente Frage hindeuten. In der altportugiesischen Lyrik wird senhor geschlechtsneutral verwendet, steht hier zunächst, wo es für die das angesprochene Gegenüber eintritt, für dona Leonor. Allerdings bezeichnet senhor wie schon in der Hl. Schrift auch Gott. In einer Epoche, in der, mit Michel Foucault gesprochen, sich die Wörter noch nicht „über ihrer Zeichennatur verschlossen“ haben,45 eignet gerade lyrischen Texten – seien sie mauri|| 39 Filguiera Valverde 1985, S. 267. 40 Ausnahmen hierzu bilden die stärker ‚narrativ‘ angelegten Mirakeldichtung unter den Marienlieder Alfons‘ X. 41 Vgl. Wild 2010. 42 V. 4: Tam bem que nunca tam bem vi („Besseres sah ich nie”). V. 11: que nom soub’el no mundo rem („er wüsste nichts Besseres auf der Welt”). V. 17 f.: de parecer e de falar „nach Aussehen und Sprache” ). V. 21 f.: Com’antr’as pedras bom rubi sodes antre quantas eu vi. („Unter den Edelsteinen, die ich sah, seid Ihr der wahre Rubin.”) 43 Guillaume, De univ., II, S. XXVI. 44 Curtius 1948, S. 231. 45 Foucault 1980, S. 80.
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scher, provenzalischer oder galizisch-portugiesischer Provenienz ‒ ein sprachmagisches Moment, das in Analogien ruht, die auf noch im Gange befindliche Fixierungsprozesse zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verweisen. Die Iteration ist unter diesem Aspekt – und mit Blick auf die metrische wie rhetorische Brillanz der cantiga – nicht sprachliche Armut, sondern verdankt sich der Intention, Bedeutungskonstitution in phonetischen Prozessen wie Refrain, Reim und Alliteration auszuspekulieren. Die in den Handschriften noch nicht graphisch markierte Differenz46 von senhor und Senhor suggeriert dabei so stark die Eigenschaft der Äquivalenz, das die Bedeutung in der cantiga offenbar über das Possessivpronomen nostro vereindeutigt werden musste. Dass freilich die Vereindeutigung der Polysemie nicht restlos gelingen will bzw. soll, wird in Strophe III evident: de bom prez e de parecer e de falar, fez-vos senhor. („Durch Wert, Aussehen und Ausdrucksweise hat er [d.i. „der Herr“] Euch zur Herrin gemacht.“)
Da das Altportugiesische wie das klassische Latein mit sog. Nullsubjekten operiert (was im modernen Spanisch und Portugiesisch zum weitgehenden Ausfall der Subjektpronomina führt) ist Senhor in Vers 16 f. einerseits als maskulines Agens anzusetzen (fez-vos = „er hat euch gemacht“), anders erscheint es, in einem ebenso anzusetzenden, aber grammatisch noch nicht sichtbaren Femininum, als Objekt senhor. Es geht also um mehr als um eine für das Reimen ‚komfortable‘ phonetische Verbindung zwischen senhor, der Minneherrin, und Nostro Senhor, dem Allerhöchsten, und der ebenso iterativen Nennung von dona Leonor. Diese rückt die bislang in unserem Kommentar bewusst heruntergespielte Absorption liturgischer Ausdrucksmittel und Diskursfragmente (hymnischer Charakter, Anrufung Gottes, Betonung des göttlichen Waltens, an Marienlyrik erinnernder Edelsteinvergleich in V. 21) in einen zumindest ambivalenten Bereich. Die Pointe einer solchen Lesart der zentralen Aussage einer gemessen an den ersten Erzeugnissen der provenzalischen Lyrik ‚späten‘ cantiga wäre demnach die Attribution von heiligmäßigen Qualitäten an die angesprochene Person. Dass eine solch Lesart latent blasphemischer Hyperbolik intendiert sein könnte, ist im geistigen Umfeld der portugiesischen Troubadours keineswegs unwahrscheinlich: Zwei Generationen nach Rui Paes – in der Epoche des subversivsten der portugiesischen Troubadoure, des Königs Dinis von Portugal – wird mit A Demanda do Santo Graal derjenige epische Text ins Portugiesische übersetzt, der am vehe-
|| 46 Anders als Carolina Michaëlis und mehrere Generationen ihr nachfolgender Editoren haben die Schreiber von Ms. A und BN die semantische Differenz nicht durch Großschreibung markiert.
128 | Gerhard Wild mentesten gegen die lanceloteske Überhöhung der provenzalischen Minneideologie polemisiert.47 Dem zeitgenössischen Kopisten, der von Rui Paes’ cantiga eine Abschrift im Cancioneiro da Biblioteca Nacional gefertigt hat, scheint die Stilisierung der dona unangenehm gewesen sein, wie aus einer geringfügigen, aber folgenreichen Abweichung in den Versen 23f. sichtbar wird: e Deus vos fez por mal de, que há comigo desamor.48 („Und Gott meint es nicht gut mit mir, da mir gegenüber eine Abneigung besteht.“ [Hervorhebung und Übers. G.W.])
Es handelt sich nicht um die Nachlässigkeit eines Schreibers, sondern um einen bewussten Eingriff in die Argumentationsstruktur. In der Variante schlägt Frauenlob in eine Liebesklage um, die sog. coita de amor, durch die sich die cantiga aber in einen anderen Zweig der Gattungstradition einschreibt. Die Liebesklage mündet hier wie in einer Reihe thematisch vergleichbarer cantigas, die sich in allen drei altportugiesischen Liederhandhandschriften49 finden, in einer Infragestellung der eigenen Existenz, womöglich gar in eine Theodizee.50 Neuere Kommentatoren und Editoren haben sich hinsichtlich dieser Variante keineswegs einheitlich entschieden. Doch legt ein Vergleich mit dem Korpus der erhaltenen Lieder dieses Dichters die zuerst untersuchte Version des Cancioneiro de Ajuda nahe, da die meisten der Lieder Rui Paes’ zu einer ähnlichen Exaltiertheit wie Par deus, ai dona Leonor51 tendieren, seltener zu deren melancholischer Abtönung durch die Modalitäten in Gestalt der coita de amor. Allerdings hat Rui Paes die provenzalischen Konzepte des Frauenlobs und der Verzückung des lyrischen Ichs nicht einfach mit liturgischen Reminiszenzen an die Marienlyrik kombiniert. Denn das wohl im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts entstandene Gedicht offenbart neben vergleichbaren Habitualisierungen auch einen Griff in den Fundus der maurischen Literatur. Erkennbar bezieht sich Rui Paes hier nämlich auf die maurische Volksliedstrophenform des ﺟﻞ# (zéjel), die im 9. Jahrhundert von dem Andalusier Mucaddam ben Muafa entwickelt und in der mauri-
|| 47 Wild 1989. 48 Lissabon, Biblioteca Nacional Ms. (=BN), Nr. 349. 49 Vgl. beispielsweise Fernão Velhos cantigas Por mal de mi me fez Deus tant’amar oder Nostro Senhor, que eu sempre roguei. 50 Z.B. von Rui Paes’ Os que mui gram pesar virom, assi (CA, Nr. 196, BN, Nr. 347). 51 Ein Beispiel hierfür ist Rui Paes’ cantiga Tanto fez Deus a mia senhor de bem (CA, Nr. 192, BN, Nr. 343).
Gegengesänge | 129
schen Lyrik mit erstaunlicher formaler Konstanz bis ins 15. Jahrhundert verwendet wurde.52 Auffällig ist die Koinzidenz der arabischen Strophenform mit Rui Paes’ cantiga vor allem deshalb, weil sich im Korpus der altportugiesischen Troubadours kein vergleichbares Beispiel findet. Zwar nähern sich einige der Lieder des dichtenden Königs Don Dinis dem Reim- und Strophenschema an, doch ist die hier vorliegende Realisation der zéjel-Struktur in der weltlichen Dichtung in der hier vorliegenden Übereinstimmung ein Einzelfall. Auch hier lohnt sich wieder ein Blick in die parallel zu Rui Paes’ Lied kodifizierten Cantigas de Santa Maria, in denen die arabische Strophenform in Reinkultur und auf breiter Ebene eingesetzt wird, mehr noch: Der Einsatz des zéjel scheint einer – allerdings in dem Korpus nicht bis ins letzte – durchgehaltenen Systematik zu folgen: Unter den über 400 Liedern der Sammlung Alfons des Weisen ist mit wenigen Ausnahmen (wie dem oben zitieren Nr. 160) zumal jeder zehnte Text in der reinen zéjel-Form gehalten, die wiederum sämtlich Marienlauden (De loor de Santa Maria) darstellen. Bei Alfons X. ist das zéjel damit offenbar trotz seiner eindeutig maurischen Herkunft zur paraliturgischen Form habitualisiert. Im Kontext der altportugiesischen Troubadourdichtung war Rui Paes de Ribelas singulärer Zugriff auf diese zéjelStruktur im Vergleich dazu ein doppelter ‚Exotismus‘, da er die exaltierte Liturgisierung seiner cantiga in einer arabischen Dichtungsform betreibt, die zu diesem Zeitpunkt im Begriff war, bei den kastilischen Nachbarn ihre Habitualisierung im liturgischen Raum zu erfahren. Wenn sich das zéjel indes als neuerlicher Beleg einer Habitualisierung im liturgischen Kontext erweist, so verdankt sich diese nun nicht dem Mangel an schöpferischem Eigenpotential, sondern zwei ideologischen Gründen: Die kastilischen Eroberer bedienen sich der arabischen Volksliedform als ‚populärer‘ Form nicht mehr wie die Baumeister von San Pedro de Cardeña der syrisch-arabischen Schmuckelemente und die Beatus-Illuminatoren der der maurischen Bilderwelten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Vervielfältigung der illuminierten Beatus-Handschriften eben in derselben Epoche endet, in der Alfons die Strophenform der arabischen erotischen Lieder ins religiöse Formenrepertoire einpasst. Letzten Endes eignet dieser Anpassung des zéjel an die kastilische Mariendichtung wohl ein politischer Auftrag, nämlich Ausdruck zu sein für die siegreiche Kirche über die unterlegenen Andersgläubigen, was diese Aktivität am Hof Alfons des Weisen mit der zum Ende der Reconquista praktizierten Umwandlung von Moscheen in Kirchen vergleichbar macht. Zum andern verdankt sich diese Absorption wohl auch dem religiös begründeten Unwillen Alfons’ X., auf das ihm aus seiner Nebenbeschäftigung als Troubadour wohlbekannte weltliche Formenspektrum provenzalischer || 52 Zur Entstehung González Palencia 1945, S. 115‒126. Allein der Cordobeser Lyriker Ben Quzmán (1086‒1160) hinterließ eine Liedersammlung mit 193 zéjeles.
130 | Gerhard Wild Provenienz in der geistlichen Lyrik zurückzugreifen. Einer solchen Abwehrhaltung entspräche letztlich auch die von dem dichtenden Monarchen mitgetragene komplementäre Distribution in jene kastilischen frommen Lieder und die galizischportugiesische erotische Dichtung, die man den Kastiliern womöglich nicht zumuten wollte: Aber vielleicht eignet ja selbst dieser Habitualisierung in eine Varietät von poetischem Prestige, die das Galizische damals darstellte, und die kastilianisierende Aneignung des zéjel als einer poetischen Form der arabischen erotischen Dichtung keine geringere Ambivalenz als zwei Jahrhunderte zuvor in Sevilla.
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Helga Unger
Interaktion von Gott und Mensch im Legatus divinae pietatis (Buch II) Gertruds der Großen von Helfta Liturgie – mystische Erfahrung – Seelsorge
1 Kloster Helfta – Krone spiritueller Kultur und gemeinschaftlicher Frauenliteratur Das Frauenkloster St. Maria, 1229 von dem Grafen Burchard von Mansfeld und dessen Gattin Elisabeth von Schwarzburg als Tochterkloster des Halberstädter Zisterzienserinnenkonvents St. Jakob gegründet, zog 1258 nach Helpede/Helfta. Es war im 13. Jahrhundert ein Ort blühender Klosterkultur und intensiver Spiritualität. Die Äbtissin Gertrud von Hackeborn (1231/32-1291) sorgte für eine profunde Bildung der Nonnen, da sie in den weltlichen Wissenschaften auch die Grundlage für die religiöse Bildung sah.1 Der Ankauf und das Abschreiben von Büchern im eigenen Skriptorium bezeugen einen hohen Standard der Klosterbibliothek, was sich auch in dem Bildungsgrad Gertruds von Helfta spiegelt.2 Obwohl Frauen im Mittelalter der Zugang zu dem Studium der Theologie an Ordenshochschulen und Universitäten verwehrt war, erhielten Nonnen dennoch, wenngleich auf andere Weise, Zugang zu den Werken der Patristik und oft auch der Theologie des 12. und 13. Jahrhunderts. Nonnen wie Mechthild von Hackeborn oder Gertrud von Helfta gehörten zu einer „lateinischen Textgemeinde, die in der Heiligen Schrift, der Exegese und der Liturgie begründet war: Diese Kultur war bis in den Kern textorientiert.“3 Helfta markiert einen der Höhepunkte der Kultur religiöser Frauen, die aus einem breiten Strom von Mönchstheologie von der Vätertradition bis zur vorscholastischen Theologie schöpften und auf der Basis intensiver Frömmigkeit ihre Erfahrungen aufzeichneten oder zur Niederschrift mitteilten. 4
|| 1 Mechthild von Hackeborn, Das Buch der besonderen Gnade, S. 306. – Im Original: Studiose et hoc promovebat, ut puellae in liberalibus artibus proficerent, ita dicens, si studium scientiae deperierit, cum amplius divinam Scripturam non intellexerint, Religionis simul cultus interibit (Mechthild von Hackeborn, Liber specialis gratiae, S. 374f.). 2 Vgl. Bangert 1997, S. 33 sowie Acklin Zimmermann 1993, S. 35. 3 Newman 2005, S. 105. 4 Vgl. Ruh 1993, S. 296–337; McGinn 1999, S. 466–491.
134 | Helga Unger Es ging dabei vor allem um einen „betenden, existenziell vollzogenen Zugang zu Gott“.5 Dieser bestand primär in der Liturgie des täglichen siebenmaligen Chorgebets, der Messfeier, der Andachten und sakramentalen Riten, aber auch in den Kapitellesungen aus der Bibel, der Benediktregel, den Werken der Kirchenväter sowie den Heiligenbiographien, nicht zuletzt im persönlichen Gebet und der Meditation über Christi Leben und Leiden. Man muss hier einen weitgefassten Liturgiebegriff zugrundelegen.6 So gilt für Klöster wie Helfta, dass „nahezu alle Zusammenhänge dieses Lebens […] durch Liturgie, das heißt durch gottesdienstliche, sakramentale und allgemein rituelle Vollzüge, geprägt werden.“ 7 Es gab aber auch nicht wenige Kontakte der Ordensfrauen mit Außenstehenden, auch mit Angehörigen anderer Orden.8 Neben der festen Einbindung in die klösterliche Ordnung war man in Helfta auch neuen Entwicklungen und Aufbrüchen gegenüber aufgeschlossen, so der Armutsbewegung der Beginen.9 In Lux divinitatis, der lateinischen Fassung von Mechthilds von Magdeburg Werk Das fließende Licht der Gottheit, wird im Prolog des Dominikaners Heinrich von Halle berichtet, dass die Begine Mechthild sich „nach vielen Drangsalen“ in das Kloster Helfta zurückgezogen und dort noch 12 ruhige Jahre verbracht habe.10 Für die Unterschiede zwischen dem volkssprachlichen, formal und gattungsmäßig vielschichtigen Werk der Begine Mechthild von Magdeburg und den lateinischen, liturgiegeprägten Werken der Helftaer Nonnen wurden verschiedene Ursachen postuliert.11 In Helfta entsteht weibliche Literatur nicht auf Anregung von Seelsorgern; sie ist vielmehr vom gemeinschaftlichen Wirken der Frauen getragen, die „die spirituellen, auf das Gebetsleben zentrierten Erfahrungen einzelner herausragender Schwestern aufzeichnen.“12
|| 5 Repges 2001, S. 37. 6 Berger 1999. 7 Muschiol 2005, S. 41. 8 Bangert 1998, S. 34. 9 Keul & Ringler 2008, S. 30. 10 Tandem post multas tribulationes, in senectute, vita sanctimonialium in Helpede assumpta, et per annos duodecim commorata, omnium virtutum perfectione floruit (Mechthild von Magdeburg, Lux divinitatis, S. 436). 11 Caroline Walker Bynum hebt die sozialgeschichtlichen Differenzen zwischen dem geregelten Klosterleben der Zisterzienserinnen mit ausgeprägt weiblichem Selbstbewusstsein einerseits und dem ungesicherten Beginendasein Mechthilds von Magdeburg mit der stärkeren Rolle der (dominikanischen) Seelsorger andererseits als konstitutiv hervor. Vgl. Bynum 1982, S. 170–263. – Demgegenüber setzt Ursula Peters auf die literarischen, gattungstypischen Differenzen: Die Werke Mechthilds von Hackeborn und Gertruds von Helfta stehen in der Tradition der lateinischen Vitenliteratur mit ihren explizit hagiographischen Zügen. Vgl. Peters 1988, S. 64–67. 12 Peters 1988, S. 128.
Interaktion von Gott und Mensch | 135
2 Gertrud von Helfta 2.1 Biographisches Von Gertruds Herkunft wissen wir nichts. Die wenigen Daten zu ihrem Leben verdanken wir ihren Werken, vor allem dem Legatus divinae pietatis („Gesandter der göttlichen Liebe“). Als Datum ihrer Geburt ist, aufgrund der Berechnung aus Angaben im Buch II, Kap. 1, der 6. Januar 1256 anzusetzen.13 In den Büchern I und V des Legatus werden neben Gertruds herausragenden geistigen Fähigkeiten vor allem ihre tiefe Gottesliebe, ihre mitfühlende Nächstenliebe, Hoffnung und Demut sowie ihre mystischen Erfahrungen und seelsorglichen Aktivitäten für die Mitschwestern und andere Ratsuchende dargestellt.14 In den nicht von Gertrud verfassten Büchern des Legatus wird von ihren häufigen, demütig angenommenen Krankheiten berichtet. Das Sterbedatum Gertruds ist nicht überliefert; es wird im Spätherbst oder Winter 1301 oder 1302 vermutet.15 Um erfahrungsmäßige Gotteserkenntnis in der vielfachen Begegnung vor allem mit Christus in visionären und auditiven Erscheinungsformen geht es in Gertruds Legatus divinae pietatis. Das Werk enthält, in fünf Bücher gegliedert, die in Latein abgefassten Berichte über die mystischen Erfahrungen Gertruds, die ihr ab 1281 zuteil wurden und die sich in ihren Dialogen mit dem göttlichen Du manifestieren. Nur Buch II ist gemäß den Hinweisen des posthum von einer Mitschwester verfassten Buchs I (Prolog) von Gertrud selbst ab 1289 verfasst worden. Der größte Teil des umfangreichen Werks, die Niederschrift der Bücher III, IV und V, ist nach Gertruds mündlicher Überlieferung oder nach Berichten über sie durch eine oder mehrere Mitschwestern erfolgt.16 Die letzten Kapitel von Buch V und das ganze Buch I des Legatus wurden erst nach dem Tod Gertruds aufgezeichnet.17 Das zweite bedeutende Werk aus der Feder Gertruds sind die Exercitia spiritualia, die „inhaltlich und formal nach einem durchdachten Plan“ als persönlicher Weg || 13 Zu Gertrud als Person vgl. Gesandter der göttlichen Liebe, S. 567–588. 14 Zu Gertruds Tugenden und den Zeichen ihrer Auserwähltheit vgl. die Nachweise im Legatus bei Ankermann 1997, S. 44–49. 15 Vgl. Pierre Doyère in: Legatus, S. 15 und 22. 16 Gesandter der göttlichen Liebe, S. 511f.; Ruh 1993, S. 320f. mit Anm. 26 ist gegen die Annahme eines Diktats. Ruh präsumiert für die Abfassung der übrigen Bücher eine ‚Schwester N.‘, eine Anonyma, ebd., S. 314f. Diese war „gleichermaßen gelehrt, der Sakralsprache mächtig und theologisch ausgebildet.“ 17 Letzteres bezweifelt Maren Ankermann, vgl. Ankermann 1997, S. 182–184. – Doyère schreibt das hagiographisch getönte Buch I, eine Art Prima Vita, einer mit Gertrud vertrauten Mitschwester zu und mutmaßt, es könnte Mechthild von Wipra sein, vgl. Doyère, 1968 in: Legatus, S. 23f.
136 | Helga Unger zu Gott auf der Basis kirchlicher, meist sakramentaler Riten und individueller Hymnen und Gebete konzipiert sind.18 Der Weg der Seele beginnt im ersten Exercitium mit der Geburt zum Gnadenleben in der Taufe und endet in der siebten Übung mit dem Übergang in das ewige Leben. In Bildersprache und Stil hat das Werk große Ähnlichkeit mit Buch II des Legatus. Es handelt sich um eine frühe Form der beliebten Meditations- und Andachtsbücher.19 Gertrud wirkte auch als Übersetzerin, z.B. von Teilen der Vulgata, und als Kompilatorin von Texten zu geistlicher Belehrung wie Sammlungen von Aussprüchen Heiliger. Leider sind diese Texte nicht erhalten.20 Aus Gertruds Werken wurden von anderer Hand Gebete und Hymnen im sog. Gertruden-Gebetbuch, auch Gertruden-Büchlein genannt, zusammengestellt. Es enthält Gebete aus dem Legatus divinae pietatis, den Exercitia spiritualia und dem Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn.21
2.2 Mystische Erfahrung und das Sprachproblem Der Legatus divinae pietatis ist ein Buch über mystische Erfahrungen. Aus dem „breit gefächerten Deutungsangebot, was Mystik historisch, sachlich, begrifflich und inhaltlich sein kann“,22 verstehen wir mit Alois Haas, Hans Urs von Balthasar, Louis Bouyer, Kurt Ruh und vielen anderen Forschern den Gebrauch des Begriffs im „Sinne einer bestimmten ‚Art unmittelbarer, erfahrungsmässiger Gotteserkenntnis‘“, die sich ergibt „aus der existentiellen Ausweitung des mystischen Schriftsinns.“23 Eine Wurzel hat christliche Mystik in der patristischen Bibelexegese, vor allem des Origenes.24 Grundsätzlich besteht bei geistigen, nicht sinnlich wahrnehmbaren Inhalten aber das Problem, dass die Sprache für deren Ausdruck unzureichend ist. Dies gilt besonders für die mystische Erfahrung, die uns aber immer schon als Text begegnet.25 Aufgrund der Differenz zwischen dem absoluten Sein Gottes und dem kontingenten Sein des Menschen scheitert in der mystischen Erfahrung das gewohnte Sprachsystem, || 18 Vgl. Ruh 1993, S. 333. 19 Von den Exercitia sind keine Handschriften erhalten. Der erste Druck 1536 sowie der Titel gehen auf den Kölner Kartäuser Johannes Lansperg zurück. 20 Legatus, S. 122; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 517. 21 Stölting 2005, S. 270f. 22 Haas 1986, S. 319–341, hier S. 321. 23 Haas 1986, S. 325; vgl. Bouyer 1974, S. 57–75, hier S. 69; Ruh 1982, S. 3–32. 24 Balthasar 1974, S. 37-71. „In der gläubigen Schriftexegese, wie sie klassisch von Origenes ausgebaut wird, gilt es duch den vordergründigen (Literal-)Sinn durchzudringen in jene Dimension, in der sich das Christusmysterium [...] offenbart.“ (S. 42). Ähnlich bei Haas, 1986, S. 324. 25 Zur kontroversen Forschungsdiskussion u.a. hinsichtlich der fragwürdigen Opposition der Kategorien ‚Erlebnis‘ versus ‚fiktionale Konstruktion‘ vgl. Köbele 1993, S. 21–31: „Über die Realität der mystischen Unio verfügen wir ausschließlich als literarische Realität“ (ebd., S. 24).
Interaktion von Gott und Mensch | 137 aber die Erfahrung der Einheit vermag dieses Scheitern zu tragen, indem sie sich eine Metaphorik schafft, die die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Geist überwindet; sie hebt die Sinnlichkeit ins Geistige hinein und durchdringt zugleich geistig die sinnliche Erfahrung […]. Das mystische Sprechen gewinnt damit eine ganz neue und für den Prozeß der religiösen Erfahrung unabdingbare positive Funktion.26
Dieses metaphorische Sprechen, d.h. Geistiges durch Sinnliches auszudrücken, wird in Buch I, 1 des Legatus mittels der Zeichenlehre nach Hugo von St. Viktor reflektiert:27 quod vere omnia de ipso fonte divinae sapientiae sibi gratuito dono sint infusa de Spiritu illo, qui ubi vult spirat („[…] daß in Wahrheit aus der Quelle der göttlichen Weisheit durch Gnade ihr [i.e. Gertrud] diese Gaben eingegossen worden sind von dem Geist, der weht, wo er will“).28 Et quia invisibilia et spiritualia nullatenus ad intellectum humanum aliter quam per rerum corporalium et visibilium similitudines exprimi non possunt, oportet ea humanis et corporeis imaginationibus adumbrare. Quod magister Hugo testator sic in sermone de interiori homine, cap. XVI: ‚Divinae Scipturae, ut inferiorum speculationi alludant et humanae fragilitati condescendant, res invisibiles per rerum visibilium formas describunt et earum memoriam per quarundam concupiscibilium specierum pulchritudinem mentibus nostris imprimunt.‘ („Da aber das Unsichtbare und Geistige für das menschliche Verstehen nicht anders ausgedrückt werden kann als durch körperliche Dinge und sichtbare Gleichnisse, so muß man es durch menschliche und körperliche Vorstellungen andeuten. Das bezeugt Meister Hugo in seinem Sermon über den Inneren Menschen im Kap. XVI: ‚Die Heilige Schrift beschreibt die unsichtbaren Dinge mit Bildern der sichtbaren Dinge, um sich niederer Erkenntnis anzupassen und menschlicher Schwachheit entgegenzukommen, und sie prägt unseren Gemütern die Erinnerung daran durch die Schönheiten begehrenswerten Anblickes ein.‘“)29
Gertrud selbst spricht in Legatus II, 24 das Ziel ihrer Darstellung der göttlichen Geheimnisse „durch Bilder und Gleichnisse“ für die Leser ihrer Niederschrift aus: […] ut aliqui ista legentes in dulcedine pietatis tuae delectentur, et inde tracti in intimis suis ampliora experiantur, sicut per alphabetum ad logicam perveniunt quandoque studentes, sic per istas velut depictas imaginationes ducantur ad gustandum intra se manna illud absconditum, quod nulla corporearum [!] imaginationum admixtione valet partiri, sed solus qui edit adhuc esurit. („Wie Schüler erst das Alphabet, dann das Lesen und später die Gesetze der Logik und des Denkens erlernen, so sollen die, die das Niedergeschriebene lesen, dadurch wie durch Bilder und Gleichnisse zur Erkenntnis und zum Verständnis Deiner verborgenen Liebe geführt wer-
|| 26 Haug 1995b, S. 549. 27 Dazu Köbele 1993, S. 56–58. 28 Legatus, S. 124; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 519. 29 Legatus, S. 124/126; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 519.
138 | Helga Unger den, zu jenem verborgenen, himmlischen Manna, das durch keinerlei körperlicher [!] Vorstellung mitgeteilt werden kann: Wer einmal davon gekostet hat, den hungert danach ewig.“)30
Sind die „Bilder und Gleichnisse“ also nur ein didaktisches Mittel? Doch legt der Legatus nahe, dass auch für Gertrud selbst das Verständnis der mystischen Erfahrungen über die sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, Visionen und Auditionen, zur Reflexion führte.
2.3 Legatus divinae pietatis (Buch II): Mystische Erfahrungen im Kontext der Liturgie Im Folgenden sollen wichtige Kapitel von Buch II des Legatus im Hinblick auf das darin gespiegelte Verhältnis von Gott und Mensch, wie Gertrud es erfuhr, exemplarisch dargestellt werden. Dabei werden zahlreiche sinnlich-geistig geprägte Erfahrungen, Erscheinungen und Auditionen heiliger Personen wie Christus oder Maria, und außerordentliche Empfindungen wie die Verwundung des Herzens, die Stigmatisierung u.ä. beschrieben. Sind die von Gertrud beschriebenen Phänomene Visionen im Sinne der von der Tradition und der Forschung herausgearbeiteten Typologie?31 Bei Mystikern ab der Mitte des 12. Jahrhunderts ist es bezeichnend, daß sich aus dem Inhalt und der bildlichen Beschreibung ihres Erlebens oft nicht sagen läßt, ob sie eine Erscheinung hatten oder visionär aus ihrer Umwelt ins Jenseits versetzt wurden. Gertrud d. Gr. z.B. schaut und spricht den Herrn andauernd, ohne daß etwas über das Ambiente oder ihren Seelenzustand (in Ekstase?) ausgesagt würde.32
Doch ist dies zweitrangig, geht es doch primär um die „eingegossene Beschauung“, das Gnadenereignis, dessen Begleiterscheinungen wie bei vielen Mystikern Visionen und Auditionen sind.33 Charakteristisch für Gertruds Legatus ist die Verknüp-
|| 30 Legatus, S. 350; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 58. 31 Die im Legatus beschriebenen Erscheinungen entsprechen nicht in allen Zügen dem für das Mittelalter in der Forschung beschriebenen Charakter von Visionen. So findet z.B. nicht durchgängig ein Raumwechsel statt; Gertrud erfährt die außerordentlichen Ereignisse anscheinend auch nicht in Ekstase, sondern oft auch im Tagesbewusstsein; vgl. dazu Dinzelbacher 1981, S. 36. – Zur Unterscheidung von drei Arten von Visionen gemäß den drei Arten der Erkenntnis bei Augustinus, De Genesi ad litteram, vgl. Langer 1987, S. 215ff.: „[d]en menschlichen Erkenntnisarten der Sinneswahrnehmung, der Phantasie, d.h. der vorstellungsmäßigen Vergegenwärtigung von Dingen, und des Geistes, denen er drei Arten von Visionen gegenüberstellt, die körperliche, die phantasiemäßige und die geistige“ (ebd., S. 217). 32 Dinzelbacher 1978, S. 123. – Grundlegend zum Phänomen religiöser Visionen: Benz 1969; MüllerReif 1921. Zur Psychologie (und Psychopathologie) mystischer Erscheinungen vgl. Grom 1992. 33 Zur theologischen und psychologischen Frage der Echtheit von Visionen und Privatoffenbarungen vgl. Rahner 1958, bes. S. 30–88.
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fung der mystischen Ereignisse mit liturgischen Vorgängen und dem persönlichem Gebet. Aber auch der Kontext des klösterlichen Lebens und Denkens – Bibel und Benediktregel sowie theologische Schriften – lässt sich als Beziehungsnetz für die Mystik Gertruds nachweisen. Das klösterliche Leben war geprägt vom „Heilsweg des ‚circulus anni‘, des liturgischen Jahreskalenders, der die Daten der Heilsgeschichte in die Zeit einschreibt […]. Orientierung in der Zeit, das bedeutete im Mittelalter, Sich-Einfügen in die Gliederung der christlichen Heilszeit des Kalenders.“34 Die beiden zentralen „Aspekte der Liturgie: Erinnerung und Katechese“ gehen in Gertruds Werk eine enge Wechselwirkung mit diesen Erfahrungen ein. „Das Ziel Gertruds von Helfta, wie das der Liturgie selbst, ist es, Gott zu verherrlichen und die menschliche Person zu heiligen. Beide Aspekte finden sich durchgängig in den Werken Gertruds von Helfta.“ 35 Gertrud gilt als „Muster liturgischer Spiritualität“, „vor allem deshalb, weil das liturgische Weltbild ihrem ganzen Geistesleben zugrunde liegt. Die Liturgie bildet nicht nur den äußerlichen Rahmen, sondern auch den inneren Angelpunkt ihres Daseins.“36 Liturgische Texte evozieren meist auch die geistlichen Erfahrungen und deren Deutung.
2.3.1 Die mystische Initialerfahrung In dem Prolog von Buch II des Legatus, der von einer anderen Verfasserin stammt, erhielt Gertrud den Auftrag zur Niederschrift ihrer Erfahrungen 1289 im neunten Jahr nach ihrer Initialoffenbarung im Kontext der Liturgie des Gründonnerstags innerhalb der Messfeier, beim Warten auf die Kommunion einer Kranken: Post acceptam gratiam anno nono, de Februario usque ad Aprilem, revoluto die sancto Coenae Dominicae, dum inter Conventum staret expectans quousque corpus Domini deferretur ad infirmam, compulsa violentissimo impetu Spiritus Sancti, lateralem tabulam arripiens, quod corde sentiebat cum dilecto in secreto confabulans, haec ex superabundantia gratitudinis ad laudem ipsius et manu describebat in haec verba. („Sie stand im Konvent, es war am Gründonnerstag, dem Tag der Einsetzung des HerrenMahles; es war 9 Jahre, nachdem sie die Gnade empfangen hatte. Die Schwestern warteten, bis der Leib des Herrn zu einer Kranken gebracht wurde, da traf sie der Zugriff des Heiligen Geistes wie ein Blitzschlag; sie griff nach der Schreibtafel an ihrer Seite und, was sie im Herzen fühlte, || 34 Unterreitmeier 1990, S. 74–76. 35 Grimes 1998, S. 68f. 36 Vaggagini 1959, S. 398. – Einen möglichen Widerspruch zwischen den Formen privater Andacht, z. B. dem persönlichen Gebet oder der Kontemplation, zum sakral-amtlichen Vollzug der Liturgie gibt es bei Gertrud nicht, da sich beide Sphären durchdringen. „Wie das Beispiel Cassians, der Schwester Marie del`Incarnation und der heiligen Gertrud beweist, lassen sich die aktive Teilnahme an der liturgischen Handlung und die mystische Erfahrung selbst auf deren höchsten Stufe sehr wohl vereinen“, Vaggagini 1959, S. 400.
140 | Helga Unger wenn sie – bislang im Geheimen – mit dem Geliebten sprach, das schrieb sie jetzt, von Dankbarkeit überwältigt, zum Lob Gottes nieder.“)37
Das Ereignis, der ‚äußerst heftige Impetus des Heiligen Geistes‘, widerfährt Gertrud während der Gedächtnisfeier an die Einsetzung des Abendmahls, einem der ‚Brennpunkte‘ liturgischer Heilsmemoria, und zeitigt als Reaktion Gertruds Griff nach der Schreibtafel: Der Anstoß für Gertruds Schreiben ist der ‚Zugriff‘ des Heiligen Geistes; daraus folgt die Dankbarkeit für das, ‚was sie im Herzen fühlte‘, so dass sie die Erfahrungssumme38 ihrer bisher im Geheimen geführten Gespräche mit dem Herrn zum Lob Gottes in Worte zu fassen begann.39 Den Durchbruch zum eigentlichen Weg des Heils datiert sie in Legatus II,1 präzise. Das Ereignis ist in die Ordnung des Kirchenjahres und der klösterlichen Tagzeiten eingebunden. Am Anfang steht ein Psalmwort, das das Gottesbild Gertruds leuchtend ins Bild setzt: Abyssus increatae sapientiae invocet abyssum admirabilis omnipotentiae ad extollentiam tam stupendae benevolentiae, quae supereffluentiam misericordiae tuae per ima defluxit ad vallem meae miseriae! („Der Abgrund der unerschöpflichen Weisheit ruft den Abgrund der bewundernswürdigen Allmacht [nach Ps. 42,8], sie rühmen die wunderbare Güte, aus der seine überströmende Barmherzigkeit in das tiefe Tal meines Elends geflossen ist.“)40
Die auch in der Sprache der ‚negativen Theologie‘ geläufige Metapher des Abgrunds41 evoziert die in ‚positiver‘, d.h. affirmativer Theologie formulierten Eigenschaften Gottes: Weisheit, Allmacht und Güte. So wird der auch für die Mystik Gertruds fundamentale Gedanke der göttlichen Barmherzigkeit aus dem KenosisGeschehen entwickelt.42 Die Offenbarung Gottes in Schöpfung und Erlösung ist solch ein ‚Abstieg‘, der sich besonders in der Menschwerdung und der Passion Christi manifestiert. Gottes Barmherzigkeit und als Antwort des Menschen die De-
|| 37 Legatus, S. 226; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 13. – Das Ergriffenwerden von Gottes Geist, der die Erwählte zur Offenbarung drängt, ist typisch auch für andere Mystikerinnen, z.B. für Mechthild von Magdeburg: so hastu mich verleitet, wan du hies mich es selber schriben („du selbst hast mir geboten, es zu schreiben!“, zit. nach Fließendes Licht, II, 26, S. 136). 38 Zur Relation von Erfahrungsakt und Erfahrungssumme Haug 1995a, S. 501–504. 39 Eine ausführliche Interpretation des Prologs zu Buch II sowie zu Gertruds eigener Darstellung ihrer Initialoffenbarung bietet Bangert 1997. 40 Legatus, S. 228; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 13. – Da increata ‚unerschaffen‘ bedeutet, trifft ‚unerschöpflich‘ nicht den Wortsinn. 41 Lüers 1926, S. 119–122. – Zur ‚Negativen Theologie‘ Hochstaffl 2006. 42 ‚Kenosis‘ bedeutet ‚Selbstentäußerung‘. Christus hat in der Inkarnation die Herrlichkeit der Gottesgestalt (nicht die göttliche Natur!) verlassen und die Knechtsgestalt des Menschen angenommen (vgl. Phil 2,6-11), vgl. Röhrig 2006.
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mut werden so zu Leitbegriffen der Theologie und der mystischen Erfahrung Gertruds.43 Dum in vigesimo sexto aetatis meae anno in illa saluberrima mihi secunda feria ante festum Purificationis Mariae castissimae matris suae [!], quae feria secunda tunc fuit sexto kal. Februarii, in hora exoptabili post Completorium, quasi in initio crepusculi: Tu veritas, Deus, omni luce serenior, sed omni secreto interior, densitatem tenebrarum mearum temperare decreveras, blande leniterque initians cum sedatione turbationis illius quam ante mensem in corde meo commoveras, cum qua perturbatione, ut credo, destruere nitebaris turrim vanitatis et curialitatis meae, in quam superbia mea excreverat, quamvis heu! inaniter nomen et vestem Religionis gestarem, ut vel sic invenires iter quo ostenderes mihi salutare tuum. („Es war am 27. Januar, dem Montag vor dem Fest der Reinigung Deiner allerreinsten Mutter Maria [!], in meinem 26. Lebensjahr. Die Dämmerung brach herein, denn es war die begehrte Stunde nach der Komplet. / Du Wahrheit, Du Gott, der Du leuchtender bist als jedes Licht, tiefer als jedes Geheimnis, Du hattest beschlossen, die Nacht meiner Finsternis zu erhellen. Du begannst einschmeichelnd und sanft, Du hast den Sturm gestillt, den Du im Monat vorher – es war zu Beginn der Adventszeit – in meinem Herzen erregt hattest. Heute glaube ich, Du wolltest mit dieser Verwirrung meine bisherige Beschäftigung – ich hatte mit dem Einsatz aller Kräfte studiert, war mehr als wißbegierig, und meine geistige Überheblichkeit glich fast einem Turm zu Babel – Du wolltest sie zu dem führen, was sie in Wahrheit war, nichts. Ich habe also nutzlos das Ordensgewand getragen, mich sinnlos Nonne genannt. Du hast den Weg gefunden, mir Dein Heil zu zeigen [Ps. 50,23].“)44
2.3.2 Einwohnung Gottes und Antwort des Menschen: Kenosis – Demut In den folgenden Kapiteln des Legatus wird gezeigt, wie die durch die Initialerfahrung angestoßene Selbsterkenntnis aus Gnade und die Neuorientierung von Gertruds innerem Leben schrittweise vorangingen. Gertrud erfährt (Kap. 2), dass der Herr sich von ihrer ‚Unreinheit‘ und ‚Niedrigkeit‘ nicht abschrecken lässt. Das Resultat dieses Prozesses der Annäherung gerade auch bei häufigerem Kommunionempfang ist ein dreifaches: größere Vertrautheit in der eucharistischen Unio, tiefere Gotteserkenntnis und freieres ‚Genießen‘: [...] visibili praesentia tua me dignareris, licet te clarius non viderem quam ea quae videntur diluculo, tamen ipsa cum benigna dignatione animam meam allexisti satagere, ut tibi familiarius uniretur, perspicacius intueretur et liberius frueretur. („[So] hast Du mich Deiner sichtbaren Gegenwart gewürdigt. Ich konnte Dich zwar nicht klarer sehen als man Gegenstände in der Morgendämmerung erkennen kann, aber durch diese liebevolle Auszeichnung hast Du meine Seele angelockt, sich eifriger zu mühen, daß sie mit Dir wie
|| 43 Bangert 1997, S. 259f. 44 Legatus, S. 228; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 13.
142 | Helga Unger mit einem Bruder vereint würde, und daß sie so Dich einsichtvoller erkennen und uneingeschränkter erfahren könne.“)45
In dem Verhältnis zwischen Gott und der Seele betont Gertrud immer wieder die Größe der Gnade und die Unwürdigkeit ihrer Person. Sie spricht von der Lockung durch den suavis amor tuae amicabilitatis,46 wörtlich: die „süße Liebe deiner Freundlichkeit.“ In Kap. 3 imaginiert Gertrud einen Ort für die Sehnsucht der Seele nach einem Freund.47 Sic mecum agens et sic animum meum provocans, die quodam infra Resurrectionem et Ascensionem, cum ante Primam curiam intrassem et prope piscinam sedens intenderem amoenitatem loci illius, qui mihi placebat ex aquae perfluentis limpiditate, circumstantium arborum viriditate, circumvolantium avium et specialiter columbarum libertate, sed praecipue ex absconsae sessionis secreta quiete; animo revolvere coepi quid his adoptare vellem quo sessionis illius delectatio mihi videretur esse perfecta: hoc requisivi ut scilicet adesset familiaris, amans, habilis et sociabilis amicus qui solitudinem meam solaretur. („An einem Tag zwischen Ostern und Himmelfahrt trat ich vor der Prim in den Hof und setzte mich an den Fischteich. Der liebliche Platz zog mich an, es gefiel mir das klare, vorüberfließende Wasser, die umherstehenden Bäume im lichten Grün und die Vögel, besonders die Tauben, die so frei umherflogen. Und dazu die verschwiegene Ruhe des verborgenen Sitzplatzes. Da begann ich im innersten Herzen zu überdenken, was ich wohl daraus für mich entnehmen könnte, eben weil die Anmut des Platzes so vollkommen schien. Und als ich alles im Herzen bewegte, da hatte ich nur ein Verlangen: hätte ich einen Freund, liebenswürdig, auch gesellig, vor allem aber voller Verständnis, der auf mich und meine Not im Herzen eingehen würde, dieser liebe Freund, er wäre mir Trost in meiner Einsamkeit.“) 48
Der Klosterhof ist als locus amoenus dargestellt und erscheint zugleich von der Garten Eden- oder Hohelied-Symbolik überformt.49 Die sinnlich wahrnehmbaren Elemente – Wasser, Bäume, Vögel – führen zu der im Gebet ausgesprochenen Deutung, dass Gott Gertrud durch die Meditation zu Dankbarkeit und zum Unsichtbaren hinlenkt: [...] inspirans quod si influentia gratiarum tuarum in te jugi et debita gratitudine refunderem in modum aquae, et ad hoc in studio virtutum crescens in modum arborum, bonorum operum viriditate florerem; insuper terrena despiciendo coelestia libero volatu in modum columbae appeterem, et cum his sensibus corporalibus a tumultu exteriorem alienata, tota tibi mente vacarem, omni amoenitate praejucunda tibi cor meum praeberet inhabitationem.
|| 45 Legatus, S. 232; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 15. – familiarius bedeutet ‚Vertrauter‘, frueretur ist genauer mit ‚genießen‘ zu übersetzen: Die fruitio Dei ist in der Mystik ein häufiger Begriff, z.B. bei Hadewijch. 46 Legatus, S. 234. 47 Zu Christus als Freund und Erlöser bei Gertrud von Helfta vgl. Spitzlei 1991, S. 127f. 48 Legatus, S. 234/236; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 16f. 49 Ankermann 1997, S. 70f.
Interaktion von Gott und Mensch | 143 („Du gabst mir ein: ich solle Deine überströmende Gnade mit der Dankbarkeit, die ich Dir schulde, allein Dir zurückgeben, wie wenn Wasser zurückströmt. Ich solle durch eifriges Bemühen um gutes Denken und Tun grünen und blühen und wachsen wie Bäume im Frühling, ich solle alles Irdische verachten und im freien Flug wie eine Taube (Ps 55,7) das Himmlische erstreben, ich solle alle Sinne des Körpers vom Lärmen der Außenwelt völlig lösen und in meinem Geist frei sein nur für Dich allein; wenn ich so täte, dann würde mein Herz Dir eine liebliche Wohnstätte darbieten.“)50
2.3.3 Die Verwundung des Herzens: Mystik der compassio In Kap. 4 zitiert Gertrud ein in einem Andachtsbuch gefundenes Gebet, das sie fortan häufig betet; im Kern enthält es die Bitte um die leiblich-seelische compassio mit Christus:51 Scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretioso sanguine tuo, ut in eis legam tuum dolorem pariter et amorem et vulnerum tuorum memoria jugiter in secreto cordis mei permaneat, ut dolor compassionis tuae in me excitetur et ardor dilectionis tuae in me accendatur. Da quoque ut omnis creatura mihi vilescat, et tu solus in corde meo dulcescas. („Allerbarmherzigster Herr, schreibe mit Deinem kostbaren Blut Deine Wunden in mein Herz, daß ich in ihnen lese Deinen Schmerz und Deine Liebe. Gib mir, daß das Gedenken an Deine Wunden auf immer im Innersten meines Herzens bleibt. Gib mir, daß der Schmerz des Mitleidens mit Deinem Leiden und die Glut Deiner Liebe in mir entzündet werden. Gib mir, barmherzigster Herr, daß alles Geschaffene mir wertlos und unwichtig wird; gib mir, daß Du allein mein Herz erfüllst.“)52
‚Kurze Zeit später‘ drängt es Gertrud, ihr Geheimnis einer in geistiger Liebe mit ihr verbundenen Mitschwester anzuvertrauen. Durch diese Mitteilung – nach der Versper im Refektorium – wächst in ihr die Glut der Andacht. Da geschieht das im Gebet Erflehte: In praedicta enim hora, cum memoriam circa hujusmodi haberem devotius occupatam, sensi quasi divinitus collata mihi indignissimae quae in antedicta oratione dudum petieram, scilicet intus in corde meo quasi corporalibus locis per spiritum cognovi impressa colenda illa et adoranda sanctissimorum vulnerum tuorum stigmata; quibus vulneribus animae meae medicasti necnon mihi poculum nectarei amoris propinasti.
|| 50 Legatus, S. 236 ; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 17. 51 „Mit dieser ‚compassio‘ ist ein Weg genannt, der durch die ‚imitatio‘ des Leidens mit dem demütigen Christus identisch macht“, Bangert 1997, S. 311. Die compassio mit Christus hat bei Gertrud wie auch bei Mechthild von Hackeborn und zahlreichen anderen Mystikerinnen einen sehr hohen Stellenwert. Vgl. Langer 1992, S. 233. 52 Legatus, S. 242; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 20.
144 | Helga Unger („In dieser Stunde wurden die Gedanken über das Gebet stärker und andächtiger. Und ich hatte das Gefühl, die göttlichen Gaben, um die ich Unwürdige immer wieder betend gefleht hatte, seien mir geschenkt worden: ich erkannte durch den Geist, daß tief innen in meinem Herzen – als wäre es am Körper – die anbetungswürdigen Stigmata Deiner allerheiligsten Wunden eingeätzt wurden. Mit diesen Wunden hast Du die Wunden meiner Seele geheilt, und Du hast ihr zu trinken gegeben den Becher des göttlichen Trankes der Liebe.“)53
Die compassio-Bitte und die ‚Erkenntnis‘ der Stigmatisierung ‚durch den Geist‘ sind stark von Affekten wie Liebe und Dankbarkeit besetzt, wie auch durch die Superlativformen misericordissime Domine, mihi indignissimae, sanctissimorum vulnerum tuorum stigmata deutlich wird. Obwohl Gertrud dieses Liebesgeschenk Gottes in verschiedenen Gnadengaben bei der Verehrung der Wunden Jesu durch fünf Verse des Psalms 103 Lobe den Herrn, meine Seele immer wieder erhalten hat, klagt sie sich an, dieses Geschenk „durch Undankbarkeit und Nachlässigkeit“ verloren zu haben.54 Sieben Jahre später, vor dem Advent, bittet Gertrud auf Anordnung des Herrn eine Mitschwester, vor dem Kruzifix55 für sie an einzelnen Tagen folgendes Gebet zu sprechen: Per tuum transvulneratum Cor, transfige, amantissime Domine, cor ejus jaculis amoris tui, in tantum ut nihil terreni continere possit, sed a sola efficacia tuae divinitatis contineatur („Liebreichster Herr, kraft Deines tiefverwundeten Herzens durchbohre ihr Herz mit der Kraft Deiner Liebe so, daß es nichts von dieser Welt mehr umschließen kann, sondern einzig von der Allgewalt Deiner Gottheit umschlossen und erfüllt wird“).56 Am dritten Adventsonntag während der Messe Gaudete in Domino – „Freut euch im Herrn“ bekennt sie, als sie in der Kommunion Leib und Blut des Herrn empfängt, wieder ihre Unwürdigkeit, fleht aber: ‚[…]sed tamen meritis et desiderio omnium adstantium supplico pietati tuae, ut transfigas cor meum tui amoris sagitta.‘ Cujus verbi virtutem mox sensi appropinquasse divino Cordi tuo, tam per interioris gratiae infusionem quam per evidentis signi in imagine crucifixionis tuae demonstrationem. / Igitur cum post suscepta vivifica sacramenta, ad locum orationis reversa fuissem, videbatur mihi quasi de dextro latere crucifixi depicti in folio, scilicet de vulnere lateris, prodiret tamquam radius solis, in modum sagittae acuatus, qui per ostentum extensus contrahebatur, deinde extendebatur, et sic per moram durans, affectum meum blande allexit.57 („‚[…]um der Verdienste und der Liebe aller hier stehenden willen - flehe ich Dich an. Ich flehe Deine erbarmende Liebe an: durchbohre mein Herz mit der Kraft Deiner göttlichen Liebe.‘ Die Glut dieser Worte traf Dich in Deinem göttlichen Herzen, ich fühlte es. Ich fühlte es durch Eingebung innerer Gnaden, und ich sah es durch ein offenbares Zeichen am Bild Deiner heiligen
|| 53 Legatus, S. 244; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 20f. 54 Gesandter der göttlichen Liebe, S. 21f. 55 Zur Bedeutung des Kreuzes als Gegenstand der Passionsmemoria bei Gertrud vgl. Bangert 1997, S. 320–325. 56 Legatus, S. 248; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 22. 57 Legatus, S. 248/250.
Interaktion von Gott und Mensch | 145 Kreuzigung. Nach dem Empfang des lebensspendenden Sakraments kehrte ich an meinen Platz zum Gebet zurück. Plötzlich schien es mir, als dringe aus der rechten Seitenwunde des gemalten Kruzifixus ein Sonnenstrahl, einem Pfeil gleich. Er dehnte sich aus, zog sich zusammen und dehnte sich wieder aus; und so lockte er meine Gemütsregungen eine ganze Weile schmeichlerisch an.“)58
Gertrud setzt auf die Kraft des Gebetes einer Mitschwester.59 Die gemeinschaftliche Dimension des Glaubens als gegenseitige Unterstützung wird hier deutlich. Nach der eucharistischen Verbindung mit Christus bittet Gertrud um die Durchbohrung ihres Herzens60 und erfährt sogleich die erbetene Gnade in einem inneren Fühlen und einem äußeren Sehen. Sie hat ein gemaltes Bild des Gekreuzigten vor Augen. Der inneren Bewegung („interioris gratiae infusionem“)61 entsprechen äußere Zeichen, deren Wahrnehmung für Gertrud „Bestätigung für die Wahrheit der inneren Empfindung“ ist: Aus der Seitenwunde einer Kruzifixus-Miniatur, möglicherweise die Illustration im Gradualbuch des Konventes, sieht die Mystikerin einen Sonnenstrahl dringen […]. Die Frömmigkeit Gertruds dynamisiert diese Darstellung zu einem bewegten, spielerischen Bild. Die Miniatur bleibt nicht Objekt der Betrachtung. Vielmehr beginnt das Bild zu handeln […].Von der Bildebene geht eine Erkenntnisebene für die Mystikerin aus. […] Als Ergebnis […] konstatiert die Mystikerin, daß der rhythmisierte Lichtstrahl ihre Gefühle und Empfindungen zärtlich angelockt habe. Die Gottesvorstellung wird hier folglich nicht über exakte Begrifflichkeiten oder Definitionen konstituiert, sondern über ein handelndes, dialogfähiges Christusbild erfahren. Die Theologie der Eucharistie und die Christologie wandeln sich in einen Bildraum, der verdichtete Erfahrungen fördert und alle Elemente der Wahrnehmung berücksichtigt.62
Bildwerke waren, allerdings stets in Verbindung mit tiefer Versenkung in Christi Passion, in Gebet und liturgisch-sakramentalem Handeln, oft ein Anstoß für Gertruds mystische Erfahrungen.63 Die Interferenz von sinnlicher Wahrnehmung in Kunstwerken einerseits und Imagination sowie Kontemplation im mystischen Ge-
|| 58 Gesandter der göttlichen Liebe, S. 22f. 59 Die Bewunderung für die Tugenden anderer, hier der Mitschwester, und die häufige Klage über das Fehlen eigener Tugenden teilt Gertrud mit einem ihrer geistigen Vorbilder, Bernhard von Clairvaux; vgl. Finnegan 1991, S. 113f. 60 Vgl. Bangert 1997, S. 307–310. 61 Was Langer 1992, S. 239, für Mechthild von Hackeborn feststellt, „daß die Visionen und Auditionen fast ausnahmslos in einem Zustand hoher Affektbesetzung“ erfolgen, gilt weitgehend auch für Gertrud von Helfta. 62 Bangert 2008, S. 96f. 63 So Hamburger & Suckale 2005, S. 35.
146 | Helga Unger schehen andererseits scheint bei Gertrud, aber auch bei anderen Mystikern, offenkundig.64 Dieser Vision des Wundpfeils folgt am Mittwoch während der Messe zum Gedächtnis der Verkündigung von Jesu Menschwerdung als Höhepunkt die Verwundung ihres Herzens: et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis: ‚Hic confluat tumor omnium affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, doloris, timoris, caeterarumque affectionum tuarum stabiliantur in amore meo.‘ („Plötzlich warst Du da. Du branntest in meinem Herzen eine Wunde ein und sprachst: ‚Hier soll die leidenschaftliche Aufwallung aller deiner Gefühle zusammenströmen: alle deine Wünsche, deine Hoffnung, deine Freude, dein Schmerz, deine Furcht und alle anderen Empfindungen sollen in meiner Liebe festgehalten und bewahrt werden.‘“)65
In dieser Herzwunde werden wie in einem Brennpunkt alle Affekte des Menschen in der Liebe Christi gebündelt. Eine Schwester rät Gertrud, in immerwährender Andacht „die Liebe Deines am Kreuz hängenden Herzens“ zu verehren. Ista namque consuluit, ut jugi devotione recolens amorem Cordis tui in cruce pendentis ex humore charitatis quem produxit fervor tam ineffabilis amoris, caperem aquam devotionis in ablutionem totius offensionis, et ex liquore pietatis quam effecit dulcedo tam inaestimabilis amoris, haberem gratitudinem unctionis, contra omnem adversitatem, atque ex efficacia charitatis, quam fortitudo perfecit tam incomprehensibilis amoris, adesset ligamen justificationis, ut omnes cogitationes, verba et opera mea ex fortitudine amoris in te dirigerem, et sic tibi indissolubiliter adhaererem. („Die Schwester riet mir, in immerwährender Andacht die Liebe Deines am Kreuz hängenden Herzens zu verehren; aus der unaussprechlichen, ewigen Glut dieser Liebe könne ich das Wasser der Andacht schöpfen und alle Kränkungen abwaschen. Aus der Milde und Demut dieser Liebe könne ich die Salbe der Dankbarkeit gewinnen und damit alle Widerwärtigkeiten heilen, und die unbesiegbare Kraft dieser Liebe würde mir zur Binde der Rechtfertigung, damit ich, gewaschen, geheilt und gefestigt durch Deine Liebe alle meine Gedanken, Worte und Werke allein auf Dich hin lenke und Dir untrennbar verbunden bleibe.“)66
Das Herz ist die bildhafte Verkörperung der göttlichen Liebe. In allegorischer Rede werden die Heilkräfte dieses verwundeten Herzens dargestellt: „Wasser der Andacht“, „Salbe der Dankbarkeit“, „Binde der Rechtfertigung“ für alle Gedanken, || 64 Vgl. Hamburger 2000, S. 353–401, hier S. 360. – Dass Kunstwerke in Andachtsübungen die gleiche Funktion erfüllen können, wie sie im Bereich der schriftlichen Quellen Texte übernehmen, zeigt Elisabeth Vavra an Margaretha Ebner. Vgl. Vavra 1985, S. 221–224. 65 Legatus, S. 250; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 23. – Es handelt sich um eine innerseelische, keine physische Stigmatisierung. 66 Legatus, S. 250/252; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 23.
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Worte und Werke, sollen aus der Passionsmemoria der in der Herzenswunde symbolisierten Liebe Christi hervorgehen. Die theologische Dimension: Das Motiv der Rechtfertigung durch das Kreuzesleiden, das Mechthilds von Hackeborn Liber durchgängig prägt, ist auch im Legatus präsent.67 Die herausragende Bedeutung der Stigmatisierung68 drückt Gertrud auch in der Summe der Gnadengaben in Kap. 23 aus.69 Nach Kapitel 5 unterbricht Gertrud ihre Niederschrift bis Oktober: Hic distulit scribere usque in Octobrem.70
2.3.4 Mystik der Inkarnation – Unio mit dem göttlichen Kind und dem Geliebten Am Fest der Reinigung Mariens ist Gertrud „nach schwerer Krankheit noch bettlägrig“. Sie glaubt, die Begegnung mit dem Herrn entbehren zu müssen. Da erscheint ihr zum ersten Mal Maria, „die Vermittlerin des Mittlers zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5)“71 und verheißt ihr einen Trost, der gerade aus der bitteren Krankheit erwächst:72 ‚Sicut non recolis te acerbiorem dolorem infirmitatum in corpore pertulisse, ita scias te nobilius donum a Filio meo nunquam percepisse, ad quod digne percipiendum spiritum tuum roboravit infirmitas corporis praecedens.‘ Unde ex his alleviata, cum instante hora Processionis sumpto vivifico alimento Deo mihique intenderem, recognovi animam meam in similitudine cerae diligenter ad ignem emollitae adesse quasi sigillo imprimendam Dominico pectori; et subito videbatur illi circumposita et partim intracta ipsi thesaurario in quo habitat corporaliter omnis plenitudo divinitatis, insignita character fulgidae semperque tranquillae Trinitatis. („‚Du wirst dich nicht erinnern, je in einer Krankheit73 einen stärkeren körperlichen Schmerz erduldet zu haben. Wisse aber, daß du niemals von meinem Sohn ein edleres Geschenk erhalten hast als das, das du jetzt erhalten wirst. Die Krankheit des Leibes hat deinen Geist gestärkt und ihn würdig gemacht, dieses Geschenk zu empfangen.‘ / Ich war erleichtert. Es kam die Stunde der Prozession; ich war zur heiligen Kommunion gegangen und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf Gott. Ich erkannte, meine Seele war dem Herrn nahe, so wie sorgsam am Feuer erweichtes Wachs dem Prägesiegel nahe gebracht wird, um den Eindruck zu prägen.
|| 67 Spitzlei, 1991, S. 133f. 68 Zur inneren Stigmatisierung Gertruds vgl. Bangert 1997, S. 307–309. Es handelt sich bei Gertrud um ein geistig-seelisches Phänomen ohne körperliche Anzeichen. 69 Legatus, S. 336. 70 Legatus, S. 254. 71 Lewis 1998, S. 83f.: „Obwohl die Verehrung Marias in der Kirche als ‚mediatrix‘ eine lange Tradition hatte (vgl. LThK VII, S. 29), insistiert Gertrud von Helfta mit Bezug auf 1 Tim 2,5, daß Maria nur die ‚Mittlerin des Mittlers (Mediatrix mediatoris) zwischen Gott und den Menschen‘ sei (Legatus II, 71).“ 72 Gesandter der göttlichen Liebe, S. 26. 73 Zum Zusammenhang von Krankheit und göttlicher Offenbarung vgl. Dinzelbacher 1985, S. 70– 75.
148 | Helga Unger Meine Seele schien Gott zu umfassen, sie schien von dem ergriffen, in dem leibhaftig wohnt die Fülle der Gottheit (Kol 2,9), die strahlende und ewig in sich ruhende Harmonie der Dreifaltigkeit.“)74
Die Seele Gertruds erhält in dieser inneren Schau das Prägemal der Brust des Herrn; sie erscheint vom Herrn umschlossen und wird in die Schatzkammer dessen hineingezogen, in dem die Fülle des dreifaltigen Gottes wohnt. Das von Maria angekündigte edelste Geschenk ist das der erlösenden Menschwerdung des Gottessohnes, das der Seele Gertruds die gnadenhafte Teilhabe an der Gottheit gewährt.75 In dem folgenden Gebet bekennt Gertrud die Erlösung als Wiederherstellung der verderbten Menschennatur an ihrer eigenen Seele: O vere ignis consumens qui sic vim tuam exerces in vitia ut vicem unctionis suaviter exhibeas in anima! In te et non omnino in aliquo alio recipiemus hanc virtutem, ut ad imaginem et similitudinem originis nostrae valeamus reformari. („Du verzehrendes Feuer! (Hebr. 12,29; Dt 4,24), Deine Kraft hat meine Seele geheilt wie eine Salbe für die Wunden Heilung bringt. In Dir und durch keine andere Macht empfangen wir die Kraft, nach dem Bild und der Ähnlichkeit (Kol 3,10; Gen 1,26) unseres Schöpfers erneuert zu werden.“)76
Hier fließen die Wirkungen von Inkarnation und Passion zusammen, da durch beide grundlegenden Heilsereignisse das ursprüngliche Bild des Menschen als Ebenbild Gottes wiederhergestellt ist. Am Sonntag Estomihi (Quinquagesima) wird sie von Gottes unfassbarer Güte berührt. Nach dem Vers des Responsoriums Tibi enim et semini tuo dabo has regiones („Denn Dir und Deinem Samen will ich das Land geben“, Gen. 12,7; 26,3)77 , der Landverheißung an Abraham und seine Nachkommen, sieht sie Jesus seine Brust mit seiner Hand berühren und deutet dies als spirituelles Land, das kraft des göttlichen Erbarmens die Sehnsucht aller Erwählten, auch ihre eigene, nach unendlicher Glückseligkeit erfüllt: […] ecce apparuit benignitas et humanitas Salvatoris nostri Dei, non ex operibus justitiae quibus ego indigna promereri possem, sed secundum ineffabilem misericordiam suam, adoptiva regeneratione, confortando et habilitando me ultra extremam vilitatem indignissimam, ad merito stupendam et tremendam, sed colendam et adorandam, supercoelestem et superinaestimabilem illam tui potiorem unionem. / Sed quibus meis meritis haec […] te, dulicissime Deus meus, quasi ebrium, si audeo dicere, dementavit, ut tam
|| 74 Legatus, S. 260; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 26. 75 Vgl. die Anmerkung von Doyère in Legatus, S. 260, Anm. 1. – Diese Stelle ist wohl als Hinweis auf die Unio mit der Trinität zu deuten. 76 Legatus, S. 262; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 26. 77 Legatus, S. 262; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 27.
Interaktion von Gott und Mensch | 149 dissimilia conjungeres, sive quod convenientius dici valet, ingenita et connaturalis tibi benignitatis suavitas intrinsecus pertacta dulcore charitatis. („[…] da erschien mir Unwürdigen die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Erlösers (Tit 3,4.5) durch sein unaussprechliches Erbarmen, nicht wegen meiner Verdienste. Er hat mich neugemacht und mich an Kindes statt angenommen, er hat mich aus meiner Niedrigkeit heraus fähig gemacht, verehrend und anbetend mich zur himmlischen Einung zu nähern.Was, mein Gott, hat Dich, wenn ich es wagen darf zu sagen, was hat Dich so von Sinnen gebracht, so Gegensätzliches zu vereinen? Welches meiner Verdienste? Oder war es Liebe, die Würdigkeit nicht kennt, nur reich ist an Erbarmen?“)78
So groß erscheint Gertrud die Kluft zwischen der Erhabenheit Gottes und der Niedrigkeit des Menschen, vor allem ihrer eigenen, dass sie in aller Kühnheit Gott wegen seines unbegreiflichen Erbarmens ‚trunken, von Sinnen‘ nennt. Hier wird die Überzeugung Gertruds wie auch Mechthilds von Hackeborn deutlich, dass die Rechtfertigung79 des Menschen keinerlei menschlichem Wirken, sondern allein der göttlichen Gnade geschuldet ist. Auch erscheint ihr die Unaussprechlichkeit dieser göttlichen Erhabenheit angesichts der kreatürlichen Schwäche umso drastischer: cum etsi omnis angelica et humana possibilitas in unam dignitatis conferretur scientiam, ad plenum nequaquam formare sufficeret vel unicum verbum quo tantae excellentiae supereminentiam vel in minimo digne attingere posset. („Selbst wenn alle Fähigkeiten und Kräfte der Engel und Menschen in einer Wissenschaft vereinigt werden könnten, kein einziges ihrer Worte vermöchte auch nur den lichtesten Schatten Deiner heiligen Erhabenheit zu beschreiben.“)80 Dass die Unio-Erfahrung81 nicht dauerhaft ist, sondern stets als völlig unverdientes Geschenk neu zu ersehnen, betont Gertrud immer wieder, z.B. in Kap. 9, in der für die Frauenmystik seit Bernhard von Clairvaux charakteristischen Bilderwelt des Hohenliedes: O donum quod est super omne donum, in illa apotheca aromatibus divinitatis tam abundanter satiari! et in illo voluptuoso cellario, mero charitatis sic supereffluenter inebriari, imo ingurgitari, ut nec vel leviter pedem moveri patiatur ad terminos illos in quibus tantae fragrantiae efficacia tepescere suspicatur! Insuper quotiescumque progredi necesse fuerit charitate ducente, tantae repletionis secum deferre ructus, ut etiam ipsi divinae ubertatis opulentis dulcedinis suave olentia valeat ministrare.
|| 78 Legatus, S. 264; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 27. 79 Haas 1982, S. 221–239, besonders S. 231–236; Spitzlei 1991, S. 132–135. 80 Legatus, S. 268; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 29. 81 „Religiöse Erfahrung ist die am weitesten reichende Möglichkeit der Begegnung mit dem, was sich dem Ich als das Schlechthinig-Andere darstellt […].“ Doch haben wir nie die Erfahrung selbst, sondern nur den „Niederschlag der Erfahrung im Wort“, so Haug 1995a, S. 503. – Zum Problem der Sprache mystischer Erfahrung vgl. Haug 1986, Köbele 1993 und Haug 1995b.
150 | Helga Unger („Das aber ist das größte aller Geschenke: geführt zu werden in die Vorratskammer Gottes, dort mit Gewürzkräutern (H.L. 5,13) im Überfluß gesättigt zu werden, dann geleitet zu werden in die Überfülle seines Weinhauses (H.L. 2,4) und den unvermischten Wein der Liebe (H.L. 4,10) zu trinken bis zum Übermaß, und vom Wein berauscht (H.L. 5,1) zu werden, so daß der Fuß kaum noch gehen kann, nur soweit die Wohlgerüche (H.L. 3,6. 4,10. 16) zu riechen sind.“)82
Mehrere Weihnachtsvisionen in drei auf einander folgenden Jahren werden in Kap. 16 berichtet. Hier verknüpft Gertrud auch verschiedene Jesusbilder miteinander: das Kind, der Geliebte, der leidende und der auferstandene Christus. 83 Am Anfang empfängt sie das neugeborene Kind in ihrem Herzen und erinnert sich sogleich an die Bitternis seines Erdenlebens in einer vor allem seit Bernhards von Clairvaux Hohelied-Predigten bekannten Deutung des Myrrhenbüschels auf Christi Leiden.84 Die sacratissimae Nativitatis tuae accepi te tenerum puerulum de praesepio pannis involutum, praecordiis meis impressum, ut ex omnibus amaritudinibus infantilium necessitatum tuarum fasciculum myrrhae mihi colligerem inter ubera mea commoraturum, et exhinc botrus divinae suavitatis intimis meis expressius propinaretur. („Am Tag Deiner heiligen Geburt empfing ich Dich, Du zartes kleines Kind aus der Krippe in Windeln gewickelt, in meinem Herzen, mir aus Deinen bitteren kindlichen Nöten einen Myrrhenstrauß zu binden und ihn an die Brust zu legen (H.L. 1,13), damit ich immer Deiner gedenke.“)85
Es ist dies auch das zentrale Kapitel in Buch II über Maria als Gottesmutter. 86 Im liturgischen Kontext der Messe Dominus dixit wird Gertrud durch Maria selbst gewürdigt, ihr Kind eine Zeitlang an der Brust zu tragen, d.h. in innigster Gemeinschaft auch der compassio mit ihm und mit notleidenden Menschen zu stehen. [...] accepi te sub specie tenerrimi et delicatissimi infantuli, de gremio virgineae Genitricis; quem aliquandiu super pectore gestans cooperari mihi videbatur illa compassio quam ante praedictum festum specialibus orationibus exhibueram cuidam afflicto. („Ich empfing Dich als liebes, zartes, neugeborenes Kind vom Schoß Deiner jungfräulichen Mutter; ich trug Dich eine Zeitlang an der Brust. Mir schien, mein Mitleid hat mir geholfen, ich hatte nämlich vor dem Fest für einen Menschen in Not gebetet.“)87
|| 82 Legatus, S. 270; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 29. – Zur Metapher der Trunkenheit und des Weins vgl. Lüers 1926, S. 268–271 und 296–298. 83 Ankermann 1997, S. 155f. 84 Bernhard von Clairvaux: Sermo in cantica cantorum XLIII. Vgl. Ruh 1993, S. 328. – Zu diesem in Nonnenviten häufigen Motiv, das Kind Jesus zu empfangen und zu herzen, vgl. Ruh 1993, S. 327 und Anm. 31. 85 Legatus, S. 290; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 36. 86 Lewis 1998, S. 81–94. 87 Legatus, S. 290; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 36.
Interaktion von Gott und Mensch | 151
Am Fest der Reinigung Mariae fordert bei der Antiphon „Als sie das Kind […]“ Maria mit strengem Gesicht ihr Kind auf ihren Schoß zurück, „so als ob ich Dich [….] weniger sorgfältig aufgezogen hätte.“ Gertrud reflektiert über Maria als Versöhnerin und Hoffnung der Verzweifelten „wegen der Gnade, die sie [Maria] bei Dir gefunden hat.“88 Sie ruft Maria an, sie möge Gnade für die Sünder erwirken. 89 Im folgenden Jahr erlebt Gertrud in der Weihnachtsmesse eine mehrstufige Erscheinung: Inter Evangelium enim dum legeretur: Peperit filium suum primogenitum, etc., immaculata mater tua immaculatis manibus suis porrexit mihi te virginalem parvulum, amabilem infantulum, quasi totis conatibus in amplexus meos nitentem. Et ego licet heu! indignissima, suscepi te tenerum puerulum delicatis brachiis tuis collum meum stringentem. Unde afflatu suaviflui spiritus tui de benedicto ore exhalantis tam vivificam sensi refectionem, ut merito proinde benedicat anima mea tibi, Domine Deus meus, et omnia quae intra me sunt nomini sancto tuo. / Et cum beatissima mater tua te satageret involvere infantiae pannis, ego postulabam me tecum simul involvi, ne vel tenui panni medio mihi subtrahereris, cujus amplexus et oscula longe vincunt mellis pocula; et sic videbaris involvi candidissimo sindone innocentiae, et stringi aurea fascia charitatis, quibus si tecum involvi et stringi volui, magis oportebat me insudare omnimode munditiae cordi et operibus charitatis. („Man verlas das Evangelium: Sie gebar ihren erstgeborenen Sohn (Lk 2,7). Da reichte Deine reine Mutter mit ihren reinen Händen Dich, das reine, jungfräuliche, kleine, liebenswerte Kind mir dar, sie drückte Dich in meine Arme. Und ich Nichtswürdige nahm Dich liebstes Kind an mich, und Du legtest Deine kleinen zarten Arme um meinen Hals. Und aus Deinem göttlichen Mund, durch Deinen lebensspendenden Geist hast Du mich angehaucht (Joh. 20,22). Herr, mein Gott, meine Seele lobt Dich, und alles, was in mir ist, lobt Deinen heiligen Namen (Ps. 103,1). / Dann bemühte sich Deine allerseligste Mutter, Dich in Windeln zu wickeln; ich wollte mit Dir eingewickelt werden, denn nicht einmal die dünne Windel sollte Dich von mir trennen, dessen Umarmung und Küsse den Honig an Süße übertreffen (H.L. 4,11 ff.) Du erschienst mir eingewickelt in das weiße Leinen der Unschuld, umbunden mit dem goldenen Band der Liebe. Wenn ich mit Dir zusammengebunden werden wollte, so bedeutete dieser Wunsch für mich, daß ich mich anstrengen müsse, mein Herz zu reinigen und rein zu erhalten – vor allem aber aus Liebe zu Dir tätig zu sein.“)90
Der Wunsch nach innigster Verbindung mit dem göttlichen Kind wird in die Bildvorstellung der hautnahen Berührung ohne vermittelnden Stoff gekleidet. Die folgende allegorische Deutung „Leinen der Unschuld“, „Band der Liebe“ gehört zu Gertruds wichtigen ethischen Folgerungen aus der besonderen Gottverbundenheit.
|| 88 Legatus, S. 292/294; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 37. 89 Legatus, S. 294; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 37. 90 Legatus, S. 294/296; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 38. – Es ist fraglich, ob hier, wie Ankermann 1997, S. 138f. vermutet, eine „Anlehnung an eine literarische Liebeskonstruktion des Mittelalters“ vorliegt, „die in fünf Stufen unterteilte Abfolge der Annäherung zweier Liebender: Anblick, Gespräch, Berührung, Kuß, Koitus.“
152 | Helga Unger Es findet eine „Identifikation mit Maria“ über die „Mutterrolle statt, die sich dann mit der Vorstellung der sponsa Dei verbindet.“91
2.3.5 Das Kernmysterium der göttlichen Güte: Eucharistie und mystische Erfahrung Die Eucharistie als sakramentale Vereinigung mit Christus und die andächtige Verehrung von Leib und Blut Christi spielen in der Frömmigkeit von Nonnen wie Beginen besonders seit dem 13. Jahrhundert eine herausragende Rolle.92 Sie nimmt bei Gertrud eine „beherrschende Stellung ein“.93 In der Eucharistie wird die Selbstentäußerung Gottes besonders greifbar: „Im Sakrament des Leibes und Blutes sei Christus in der Weise gegenwärtig, daß ‚seine Gerechtigkeit umschlossen werde von seiner Barmherzigkeit‘. Die ‚justitia Dei‘ und ihre als angemessen akzeptierten Auswirkungen überwindet der Herr selbst durch seine generöse, dienstfertige Hingabe in Demut.“94 „In Bezug auf die Menschheit Christi kommt der Eucharistie – deren öfteren Empfang sowohl Gertrud wie Mechthild [i.e. von Hackeborn] insinuieren – eine besonders starke Rolle zu: sie verbindet die Herz-Jesu-Mystik mit der konkreten liturgischen Gegenwart Christi in der Messe.“95
Es entspricht dem monastischen Lebens- und Erfahrungsraum, dass auch in Gertruds von Helfta Legatus vor allem die Messe, besonders der Kommunionempfang Ausgangspunkt von mystischen Erfahrungen ist, so z.B. in der Durchdringung ihres Herzens mit dem Liebespfeil oder der Einprägung von Jesu Siegel in ihrem Herzen. Dies führt auch zu gesteigertem Tugendstreben.96 Die Durchdringung von Jesu Herz mit dem sehnsüchtigen Herzen des Menschen ist bei Gertrud ähnlich wie bei Mechthild von Hackeborn eine besondere Form der Unio mit Christus, der sich in der Kenosis der Passion für die Menschen hingibt.97 Ziel ist die liebende Gleichgestaltung der Seele mit dem Herrn, die Christusförmigkeit.98 Gertrud muss aber auch auf die Kommunion verzichten, häufig aufgrund ihrer schwachen körperlichen Konstitution, aber auch, weil sie sich unwürdig fühlt. Doch erhält sie von Gott selbst die Versicherung, dass er die Demut ihrer Selbsteinschät-
|| 91 Ankermann 1997, S. 167. 92 Vgl. Lubac 1969; Bynum 1996. 93 Vaggagini 1959, S. 399. 94 Bangert 1997, S. 331. 95 Haas 1982, S. 225. 96 Legatus, S. 232; 260 u.ö. 97 Legatus, S. 232; 260 u.ö.; Bangert 1997, S. 326–333. 98 Dies wird besonders in den Büchern III und IV des Legatus ausgeführt. Vgl. zu Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta die Ausführungen bei Spitzlei 1991, S. 142–155.
Interaktion von Gott und Mensch | 153
zung durch seine väterliche Liebe belohnt. 99 Jedenfalls darf der „selige Genuß der Gegenwart des Herrn“ nicht dazu führen, sich darin zu verlieren. Es gilt, diese Freude am Genuss des Herrn zu verlassen, um Gott im Nächsten zu dienen.100 „Die Eucharistie und die mystische Erfahrung zeigen also eine derart weitgehende Strukturanalogie, daß sie innerhalb der geistlichen Erfahrung verschmelzen.“101 Ob die Situierung der Unio in dem „approbierten Rahmen“ liturgischen Vollzugs eine „Autorisierung“ erzielen sollte, um eine „leicht häretisierbare Auffassung der Unio als eines privat-persönlichen von der Gemeinschaft isolierenden Ereignisses“ zu verhindern, erscheint fragwürdig.102 Unio-Erfahrungen waren bei den drei Mystikerinnen in Helfta, die fest in die klösterliche Glaubens- und Lebenswelt eingebunden waren, wohl kaum Anlass zu Verdächtigungen.103
2.4 Gertruds Berufung zur Seelsorgerin In ihren mystischen Erfahrungen wurde Gertrud durch Christus zur seelsorglichen Beraterin berufen. Im Bewusstsein ihrer Unwürdigkeit und des göttlichen Auftrags aus Liebe berichtet Gertrud, sie solle nach dem Willen des Herrn Menschen, die sich nach der Kommunion sehnen, sich aber aus Furcht vor der eigenen Mangelhaftigkeit zurückhalten, geistlichen Rat nach ihrem inneren Urteil erteilen. Grundlage dafür ist ihre Erfahrung, dass der Herr ihre eigene Mangelhaftigkeit durch sein Erbarmen und die Teilhabe an den Verdiensten derer, die durch ihre Ermahnungen ‚von der Frucht des Heils genießen‘, ausgeglichen hat: quod gratia tua certitudinem accepi, quod omnis qui ad tuum sacramentum accedere desiderans, sed habens timorem conscientiae, trepidans retrahitur, si humilitate ductus a me famularum tuarum minima quaerit confortari, pro hac ipsius humilitate, tua incontinens pietas dignum ipsum judicat tantis sacramentis, quae vere percipiet in fructum salutis aeternae; adjungens quod si quem justitia tua non permitteret dignum judicari, nunquam permitteres ad meum consilium humiliari.
|| 99 Legatus, S. 300/302; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 40. 100 Bangert 1997, S. 329. – Legatus, S. 288: quod postea, fateor, testante scriptura cognovi, licet antea nescierim; et disseruisti hoc esse magnum si anima, relicta dulcedine fruitionis cordis causa tui, corporalibus sensibus regendis invigilaret, ac operibus charitatis insudaret et ad proximorum salutem. („Ich bekenne, später habe ich durch das Zeugnis der Heiligen Schrift erkannt, was mir vorher dunkel war. Denn Du hast mir gesagt: ‚Das ist das Größte, wenn die Seele das Glück Deiner Nähe aufgibt, die Sinne des Körpers überwacht und beherrscht und sich müht um das Heil des Nächsten.‘„, Gesandter der göttlichen Liebe, S. 36) 101 Bangert 1997, S. 335. – Siegfried Ringler bezeichnet die „imaginative und visionäre Kommunion“ als „ständige Verquickung des sakramentalen Geschehens mit Vorgängen mystischer Art“, Ringler 1980, S. 282. 102 Köbele, 1993, S. 112f. 103 Vermutung von Köbele 1993, S. 112f.
154 | Helga Unger („ich habe die Gewißheit Deiner Gnade empfangen. Und noch mehr. Wenn ein Mensch, der nach Deinem heilsamen Sakrament verlangt, aber, vor Gewissensbissen bebend zurückgehalten, bei mir, Deiner geringsten Dienerin, demütig Rat und Stütze sucht, so wird Deine unendliche Liebe diesen Menschen um seiner Demut willen des Sakraments für würdig befinden, und er empfängt wahrhaftig die Frucht des ewigen Heils. Wen aber Deine Gerechtigkeit für unwürdig hält, dem wirst Du nicht gestatten, bei mir Rat zu holen.“)104
Aber Gott wirkt durch Gertrud als sein ‚Werkzeug‘ noch weitere Gnaden an Ratsuchenden: Unde et addidisti me indignissimam certificare, quod quicumque, corde contrito et spiritu humiliato, aliquem defectum mihi querulando exposuerit, secundum quod per verba mea defectum illum majorem sive minorem audierit, secundum hoc, tu misericors Deus, velles judicare eum culpabiliorem vel innocentiorem; et quod gratia tua mediante post horam illam hoc semper habere deberet relevamen, quod nunquam tam periculose premi posset ab illo defectu, sicut antea fuerat pressus. In hoc etiam meae miserrimae consulens indigentiae, ut quae per omnes dies vitae meae ita negligens exstiti […]. cum tu, Deus meus bone, dignaris me vilissimum instrumentum tuum ad hoc assumere ut per verba oris mei aliis dignioribus amicis tuis gratiam victoriae ministrares. („Und Du hast darüberhinaus mir unwürdigem Geschöpf die Versicherung gegeben, daß, wer auch immer mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn mir eine Verfehlung unter Klagen anvertraut, entsprechend, ob ich jene Verfehlung leichter oder schwerer beurteile, Du, barmherziger Gott, jenen Menschen für schuldiger oder unschuldiger befinden wollest. Und durch Deine Gnade kann ich – nach einer Stunde des Gesprächs –jenen Menschen so erleichtern, daß er nicht mehr so schwer von der Verfehlung niedergedrückt werden kann, wie er es vor dem Gespräch war. Und noch in anderer Hinsicht hast Du für meine elende Nichtswürdigkeit gesorgt, obwohl ich alle Tage meines Lebens so nachlässig dahingelebt habe [...]. Aber Du, gütiger Gott, zeichnest hingegen Deine niedrigste Handlangerin aus: Durch ein Wort meines Mundes verleihst Du anderen, würdigeren Deiner Freunde die Gnade des Sieges.“)105
Gertruds Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes durch Christus wird aus Gnade den bei ihr Rat suchenden Personen zum Unterpfand göttlicher Heilszusage. Tertio etiam copiosa liberalitas gratiae tuae inopiam meritorum merorum ea certitudine, ditavit, quod cuicumque aliquid beneficium vel alicujus delicti indulgentiam ex confidentia divinae pietatis promiserim, hoc benignus amor tuus secundum verbum meum tam firmum tenere proponeret, quasi hoc tu ore tuo benedicto juraveris in veritate; et hoc tam veraciter, quod addidisti.
|| 104 Legatus, S. 308; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 42. 105 Legatus, S. 310; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 43. – In Buch I, Kap. 16 des Legatus berichtet die Biographin ebenfalls von dieser Erwählung zur geistlichen Beratung, auch hinsichtlich der Kommunionwürdigkeit: Legatus, S. 208/210; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 556: „wen auch immer sie der heiligen Kommunion für würdig erachtet, den wird meine Barmherzigkeit niemals für unwürdig halten.“
Interaktion von Gott und Mensch | 155 („Zum dritten hat Deine freischenkende Gnade meinem Mangel an jeglichem Verdienst durch diese Gewißheit abgeholfen: Wem auch immer ich im Vertrauen auf Deine göttliche Liebe Deinen Beistand verspreche oder Verzeihung für irgend ein Vergehen, dem wird Deine gütige Liebe dies Versprechen erfüllen, als habest in Wahrheit Du diese Zusage aus Deinem göttlichen Mund gesprochen. Dies ist gewißlich wahr.“)106
Gertruds Fürbittgebet für Ratsuchende veranlasst den Herrn zu diesen außerordentlichen Gnadenerweisen, die den Ratsuchenden wie auch Gertrud selbst zum Heil gereichen. Schließlich bittet Gertrud um die Bestätigung der Gnadengaben durch göttlichen ‚Handschlag‘ – manu ad manum – und erhält das erbetene Zeichen wie auch die Erklärung des dialektischen Zusammenhangs ihrer Unwürdigkeit und seiner gütigen Liebe: ‚Ne haec causeris accede et suscipe pacti mei firmamentum.‘ Et statim parvitas mea conspexit te quasi utrisque manibus expandere arcam illam divinae fidelitatis atque infallibilis veritatis, scilicet deificatum Cor tuum, et jubentem me perversam, more judaïco signa quaerentem, dextram meam imponere, et sic aperturam contrahens manu mea inclusa dixisti: ‚Ecce dona tibi collata me tibi illibata servaturum promitto, in tantum quod si ad tempus dispensative ipsorum effectum subtraxero, obligo me postmodum triplici lucro persoluturum, ex parte Omnipotentiae, Sapientiae et Benignitatis virtuosae Trinitatis, in cujus medio ego vivo et regno, verus Deus, per aeterna saecula saeculorum.‘ / Post quae suavissimae pietatis [!] tuae verba, cum manum meam retraherem, apparuerunt in ea septem circuli aurei in modum septem annulorum, in quolibet digito unus et in annulari tres, in testimonium fidele quod praedicta septem privilegia mihi ad votum meum essent confirmata. Hinc etiam incontinentia pietatis tuae adjecit haec verba: ‚Quoties tu indignitatem tuam recogitans te immeritam donorum meorum et insuper de pietate confidis, toties offers mihi debitum censum de bonis meis.‘ („‚Beklage dich nicht, komm herzu und nimm die Bestätigung meines Paktes in Empfang.‘ Und ich in meiner Niedrigkeit erblickte Dich, wie Du mit beiden Händen Dein Herz, den Hort der Treue und unfehlbaren Wahrheit, weit öffnetest. Mir verdrehtem Geschöpf, die ich nach der Art der Juden Zeichen sehen wollte (Mt 12,38), befahlst Du, die rechte Hand hineinzulegen. Und Du zogst Dein Herz mit meiner darin eingeschlossenen Hand zurück und sprachst: ‚Ich verspreche, dir die gewährten Gnadengeschenke unversehrt zu bewahren. Wenn ich deren Wirken dir zeitenweise entziehe, so werde ich dir dies dreifach erstatten aus der Allmacht, Weisheit und Güte der wunderbaren Dreieinigkeit, in deren Mitte ich, der wahre Gott, lebe und herrsche von Ewigkeit zu Ewigkeit.‘ Als ich nach diesen Deinen Worten voller gültiger [!] Liebe meine Hand zurückzog, zeigten sich an dieser 7 goldene Ringe, an jedem Finger einer und am Ringfinger drei, zum getreuen Zeugnis und zur Bekräftigung Deiner Gnadengeschenke. Und in Deiner unbegreiflichen Güte sprachst Du: ‚Jedesmal, wenn du dir deiner Unwürdigkeit bewußt wirst und erkennst, daß du meine Gnadengeschenke nicht verdienst und aus dieser Erkenntnis allein auf
|| 106 Legatus, S. 310/312; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 43.
156 | Helga Unger meine gütige Liebe vertraust, dann entrichtest du mir den schuldigen Zins für meine Gaben.‘“)107
Hohes Erwählungsbewusstsein und tiefe Demut stehen bei Gertrud in enger Wechselwirkung. Buch IV,32 des Legatus berichtet, Gertrud habe den Herrn am Sonntag nach Ostern gebeten, gemäß dem Evangelium nach Io 20,22, wie die Jünger den Heiligen Geist zu empfangen. Der Herr belehrt sie, sie müsse sich zuerst vollkommen in Gottes Willen ergeben.108 Als Gertrud fragt: „Herr, wie kann es dann sein, daß diese Gewalt des Bindens und Lösens allein den Priestern gegeben ist?“, antwortet der Herr wie in Buch II, 20, er werde, wenn sie in seinem Geiste einen Menschen für unschuldig oder schuldig befinde, sich ihr Urteil zu eigen machen.109 Gertrud wird hier vom Herrn eine priesterliche Vollmacht erteilt, die die Empfängerin selbst in Erstaunen versetzt. Es geht um das Verhältnis von charismatischer zu institutioneller Autorität. „Die göttliche Antwort setzt zwar Priesteramt und charismatische Vollmacht nicht ausdrücklich gleich, die inhaltliche Umschreibung jedoch macht deutlich, daß hier das Recht auf Sündenvergebung gemeint ist.“110 Es handelt sich jedoch nicht um einen Ersatz, sondern um eine Ergänzung des Priesteramts, allerdings mit weitreichender Vollmacht.
2.5 Göttliche Erhabenheit und Güte – menschliche Gebrechlichkeit: und Unwürdigkeit Kap. 21 von Buch II des Legatus gibt die Erinnerung an eine herausragende UnioErfahrung wieder, sicher ein Höhepunkt von Gertruds mystischem Erleben. 111
|| 107 Legatus, S. 318/320; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 47. – suavissimae pietatis muss heißen: ‚voller gütiger Liebe‘. 108 Legatus IV, 278/280; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 308. 109 Bynum 1982, S. 203: „Gertrude’s piety is thus profoundly centered in the sacraments. Yet, in a number of visions, she herself serves as a direct channel of grace to the sisters, acting with authority reserved to the priesthood and explicitly identified as priestly. At Christ`s command she binds and looses the souls of others.“ Vgl. auch ebd., S. 249ff. 110 Eliass 1995, S. 184–191, bes. S. 188. – Gemäß dem Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus (Liber Sententiarum IV,18,6) ist die Lehrmeinung der zeitgenössischen Theologie, „daß eine Vergebung läßlicher Sünden auch ohne die Mitwirkung eines Priesters möglich ist.“ Nach Eliass 1995, S. 186. 111 Ruh 1993, S. 331: „Die Vision der Einigung ist einmalig, wie es die Bekehrung war.“ – Der liturgische Kontext ist hier der 2. Fastensonntag, nicht das Fest der Verklärung Christi, das im Festkalender von Kloster Helfta nicht enthalten war. Vgl. die Anmerkung von Doyère in Legatus, S. 322, Anm. 1: „Mais le mystère de la Transfiguration était commémoré au deuxième dimanche de carème et il illumine la grâce du face à face.“
Interaktion von Gott und Mensch | 157 In secunda ergo dominica dum ad missam ante processionem cantaretur responsorium Vidi Dominum facie ad faciem, etc., mirabili quodam et inaestimabili coruscamine illustrata anima, in luce divinae revelationis apparuit mihi tanquam faciei meae applicata facies quaedam, secundum quod Bernardus dicit: ‚Non formata sed formans, non perstringens oculos corporis, sed faciem laetificans cordis, grata amoris munere non colore.‘ Ex hac melliflua visione cum solares oculi tui oculis meis directe oppositi viderentur, qualiter tu suavis dulcedo mea tunc affeceris non solum animam meam, vero etiam cor meum cum omnibus membris, cum tibi soli sit notum, proinde quoad vixero tibi persolvam famulatum devotum. („Es war am zweiten Fastensonntag; vor der Messe zur Prozession wurde das Responsorium gesungen: ‚Ich habe den Herrn gesehen von Angesicht zu Angesicht,‘112 da wurde meine Seele durch das Licht Deiner göttlichen Offenbarung mit einem wunderbaren, überirdischen Schimmer erhellt. Mir schien, als schmiege sich meinem Gesicht ein anderes an, so wie Sankt Bernhard es ausdrückt: ‚Nicht gestaltet, sondern gestaltend, nicht die Augen des Körpers berührend, sondern das Antlitz der Seele erfreuend, gewinnend durch das Geschenk der Liebe, nicht durch äußere Schönheit.‘ (Bernhard von Clairvaux, Sermo XXXI, De cant. cant.). / In dieser beglückenden Schau schienen mir die Sonnen Deiner Augen meinen Augen direkt gegenüber zu sein, und Du, mein gütiger Gott, ergriffst nicht nur meine Seele, sondern auch mein Herz und alle meine Glieder.“113
Die Vorstellung von Gott als dem lumen illuminans, das die Seele erleuchtet, geht letztlich auf biblische Texte zurück wie Psalm 12 oder Psalm 17, findet aber seine theologische Auslegung vor allem bei Augustinus.114 In Erinnerung an diese Lichtvision schreibt Gertrud, Unde et ego quali possum similitudine proferre desidero quid parvitas mea in illa praejucundissima visione tui senserit ad laudem amoris tui […]. / Cum itaque illam desideratissimam faciem exhibentem copiam totius beatitudinis, ut praedixi, mihi immeritae applicuisses, ex deificis oculis tuis sensi per oculos meos intrantem lucem quamdam inaestimabilem, suavificam, quae transiens omnia interiora mea supra modum mirabilem virtutem in omnibus membris meis videbatur operari; primo quidem quasi evacuans omnes medullas ossium meorum, hinc etiam ipsa ossa simul cum carne annihilans in tantum quod tota mea substantia nihil aliud sentiebatur esse quam splendor ille divinus, qui ultra quod dici posset delectabili modo in seipso colludens inaestimabilem animae meae exhibuit serenitatis jucunditatem. („Daher drängt es mich, zu Deiner Verherrlichung, in Gleichnissen, so gut ich es vermag, aufzuzeigen, was meine Niedrigkeit in Deiner beglückenden Schau empfand [….]. / Du schmiegtest Dein geliebtes Antlitz, aus dem die Fülle aller Seligkeit strahlt, an mich Unwürdige, und ich fühlte, wie aus Deinen göttlichen Augen115 unaussprechlich beseligendes Licht in meine Augen drang. Die wunderbare Wirkung dieses Lichtes ergriff alle meine Glieder, es drang bis ins innerste Mark; es schien mir Fleisch und Bein aufzulösen, und ich hatte die Empfindung,
|| 112 Zu der Metapher ‚Antlitz‘ für Gott vgl. Lüers 1926, S. 128f. 113 Legatus, S. 322; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 48. 114 Augustinus: Soliloquia I,1, c. 3; De civitate Dei I,10, c. 2. Zit. nach Lüers 1926, S. 216. 115 Zu der Metapher ‚Augen‘ für Gott vgl. Lüers 1926, S. 129–131.
158 | Helga Unger als sei mein Körper und meine Seele nichts als Licht, göttliches Licht. Dein göttliches Licht war das Glück meiner Seele.“)116
Sie bekennt wie zahlreiche andere Mystiker, dass Unio-Erfahrungen durch ihre Tiefe und Weite alle menschliche Fassungskraft, seelisch und körperlich, aber auch sprachlich so sehr übersteigen, dass der Mensch sterben müsste, „hielte nicht Deine Macht den Menschen zusammen“, und dass alle natürliche Beredsamkeit der Welt diese „beglückende Schau“ nicht ausdrücken könnte.117 Die überwältigende Liebe Gottes beseligt den empfangenden Menschen, der von sich aus die Kluft zwischen Gottes Erhabenheit und seiner eigenen Niedrigkeit nicht überbrücken kann. Der Mensch kann und soll aber im Wiedererinnern dieser Gnadengabe die „Finsternis [s]einer Nachlässigkeit durch Danksagen erhellen.“118 Gertruds Gottesbild ist zutiefst von der Erfahrung einer den ganzen Menschen umfassenden Liebe geprägt, die auch erotische Elemente, wie sie nicht nur der Hohelied-Deutung, sondern auch der zeitgenössischen Minneliteratur geläufig sind, einschließt. So erlebt Gertrud sich „als Geliebte und Freundin des Gottessohnes, der sie küßt, beschenkt, schmückt und zart berührt.“119 Der „verwundete Erlöser“ ist der herrliche König und die begnadete Seele trotz aller „Unwürdigkeit“ seine Königin. 120 In scharfem Kontrast zu Gertruds Gottesbild erscheint ihr Selbstbild,121 das stark auf der Lehre und Erfahrung der eigenen Begrenztheit, Verlorenheit und Unwürdigkeit beruht, andererseits von einem hohen Erwählungsbewusstsein geprägt ist. In Bezug auf ihre eigene fragilitas humana gebraucht Gertrud häufig Begriffe wie indignitas, vilitas, defectus, negligentia: Unwürdigkeit, Niedrigkeit, Mangel, Nachlässigkeit. Demgegenüber steht als große Wirkmacht Gottes Heilswille aus seiner grenzenlosen Liebe, die eben auch zur Erwählung Gertruds als Seelsorgerin führt.
|| 116 Legatus II, S. 322/324; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 48f. – Zur Interpretation dieser UnioLichtvision vgl. Luislampe 2008, S. 61–74. 117 Zur Dialektik von Ähnlichkeit und Differenz zwischen Gott und Mensch sowie der Problematik von Sprache und mystischer Erfahrung vgl. Haug 1986, S. 494–508. 118 Gertrud spricht von sich: „die Finsternis meiner Nachlässigkeit [...]“: Gesandter der göttlichen Liebe, S. 48. 119 Bangert 2003, S. 194. 120 Bangert 2008, S. 95: „Ihre Gottesrede steht in Hinsicht auf Methodik und auf die Vielfalt der christologischen Motivik der Tradition der Kirchenväter und deren hermeneutischen Verfahren der Allegorese nahe.“ Es geht um die „Eröffnung eines spirituellen Weges, der über die Bilder in die Bildlosigkeit des Christusmysteriums führen kann.“ 121 Pedersen 1998, S. 48–67.
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3 Liturgie – Mystik – Seelsorge im Gesamtvollzug von Gertruds Leben Gotteslob und wechselseitige Heilssorge innerhalb der Klostergemeinschaft und darüber hinaus sind zentrale Motive für Gertruds Leben und Wirken. Die Liturgie als opus Dei von Stundengebet und Messfeier ist auf das Engste verbunden mit dem persönlichen Gebet und der Schriftlesung. Dies ist Gertruds „Lebensfeld“,122 aus dem sie in aller Regel die Anstöße für tiefere Empfindungen sowie für die Begegnungen mit dem Herrn erfährt. Dabei kommt es weniger auf Visionen und Auditionen als außerordentliche psychologische Phänomene an als auf die vom Herrn geschenkten inneren Gaben, auch die Gnaden des Gebets sowie auf die enge Verbindung mit einem intensiven Leben der Kontemplation.123 Die äußere Wahrnehmung ihrer Visionen führt von der Erscheinung hin zu einer Sinngebung, die teilweise bereits in der Audition vernommen, teilweise in Gertruds reflektierender Deutung gewonnen wird. In den mystischen Begegnungen wird ihr neben dem allgemeinen, impliziten auch ein expliziter seelsorglicher Auftrag erteilt. Christus wünscht, dass Gertrud ihre Begnadungen nicht nur „mündlich zum Heil und Nutzen“ ihrer „Nächsten“ weitergebe, sondern niederschreibe, was sie bisher aufgeschoben hatte. Am Feste Kreuzerhöhung gibt der Herr Gertrud schließlich den strikten Befehl zur Niederschrift und konterkariert energisch ihr kleinmütiges Zaudern: ‚Si Dominus doctrinam suam praesentibus tantum dixisset, dicta tantum essent non scripta; sed nunc etiam scripta sunt propter plurimorum salutem.‘ Et addidit Dominus: ‚Absque contradictione certum divinae pietatis meae testimonium volo habere in scriptis tuis, his novissimis temporibus, in quibus dispono benefacere multis.‘ / Unde gravata in memetipsa pertractare coepi quam difficile vel etiam impossibile mihi foret talem invenire sensum sive verba, quibus sine scandalo ad humanum intellectum saepe dicta produci possent. („‚Wenn der Herr seine Lehre nur den Anwesenden mitgeteilt hätte, dann gäbe es nur Worte und keine Schriften. Aber es gibt Schriften um des Heils der Vielen willen.‘ Und der Herr fügte noch hinzu: ‚In deinen Schriften will ich ohne Widerspruch ein entscheidendes Zeugnis meiner göttlichen Liebe haben für die letzten Zeiten, in denen ich viel Gutes tun will.‘ Diese Worte belasteten mich; und ich begann, ernsthaft zu durchdenken, ob es mir überhaupt möglich sei, sinnvolle Worte zu finden, mit denen ich mein bisheriges Geheimnis dem menschlichen Verstand – ohne Anstoß – nahebringen könnte.“)124
|| 122 Bangert 2008, S. 190–193. – Zur Verbindung von liturgischer Spiritualität und mystischem Leben bei Gertrud von Helfta vgl. Vaggagini, 1959, S. 398–400. 123 Leclercq 1963, S. 296. 124 Legatus, S. 272/274; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 30.
160 | Helga Unger Gertrud fühlt sich von Gottes Auftrag überfordert; sie befürchtet, sie könne die ihr zuteil gewordenen Geheimnisse nicht mitteilen, ohne ein scandalum , ein Ärgernis, zu erregen.125 Angesichts ihrer Bedenken lässt der Herr „einen wahren Wolkenbruch“ über ihre Seele niedergehen. Doch erleichtert er diese „drückende Last“, indem er ihr verspricht, dass er ihr „mild und sanft die Worte“ so eingebe, wie sie sie fassen könne. Quod verissimum promissum tuum ex certissima persolutione tua fateor, Domine Deus; cum singulis diebus mane in convenientissima hora per quatuor dies semper mihi partem praefati sermonis tam luculenter tamque suaviter influxisti, ut absque omni labore, velut quod multo tempore memoriter retinuissem, impraecogitata scibere potuissem; ea tamen moderatione, ut cum partem congruentem descripsissem, omnium sensuum meorum exercitio, ultra unam dictionem investigare non valerem illorum quae sequenti die mihi tam affluenter absque omni difficultate praesto erant: instruens et refraenans quodammodo per hoc impetuositatem meam, sicut scriptura docet nullum adeo actioni debere inhaerere, quod contemplationi non curet studium adhibere. „Dies Versprechen, mein Herr und Gott, hast Du auf das gewissenhafteste erfüllt. Vier Tage lang hast Du am Morgen zur geeigneten Stunde mir je einen Teil der genannten Worte so klar und deutlich eingegeben, daß ich sie mühelos, wie aus dem Gedächtnis, niederschreiben konnte. Hatte ich diesen einen Teil aufgezeichnet, so war es mir unmöglich, weiter zu schreiben; jedoch am darauf folgenden Tag war mir alles ohne Schwierigkeiten gegenwärtig. Auf diese Weise hast Du mein Ungestüm gelenkt und gezügelt wie die Regel unseres Ordens lehrt: `Niemand soll so sehr an einer Arbeit hängen, daß er nicht mit genügendem Eifer sich der Betrachtung widme.‘ (Nach RB, Kap. 43).“126
Der Herr sorgt also nicht nur für die richtigen Worte, sondern auch für den der Ordensregel angemessenen Zeitpunkt der Inspiration, so dass, nachdem Gertrud sich vertrauensvoll seinem Willen gefügt hat, sich alles demgemäß vollzieht. Mit der Abfassung des Legatus wird Gertrud selbst zur Botin der besonderen Zuwendung Gottes nicht nur an sie, sondern an alle, die durch ihr Buch zum ‚Verständnis‘ von Gottes ‚verborgener Liebe‘ geführt werden. Die im Legatus berichteten mystischen Erfahrungen und die über Gertrud bekannten Berichte Dritter deuten durch die Einbettung in die ‚objektiven‘ liturgischen Vollzüge wie durch die enge Verbindung mit der Heiligen Schrift, durch eigene Gebete und theologische Reflexionen wie durch die praktische Heilssorge Gertruds darauf hin, dass sie eine genuine Mystikerin mit tiefen Unio-Erfahrungen war. Die Interaktionen zwischen Gott und Gertrud, wie sie sich in den besonderen Erfahrungen des Legatus darbieten, haben ihr Leben und Wirken zu einem Beispiel eines durch Gottes Liebe und menschliche Bereitschaft gewandelten Menschen || 125 Auch hier geht es um das Ineffabile-Problem der mystischen Erfahrungen. Vgl. Pedersen 1998, S. 59f. 126 Legatus, S. 274/276; Gesandter der göttlichen Liebe, S. 30f.
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gemacht. Gertrud hat durch ihre direkte seelsorgliche Tätigkeit im begrenzten Umfeld von Kloster Helfta zu Lebzeiten wie über die Zeiten hin durch die indirekten Wirkungen des Legatus und der Exercitia spiritualia in vielen Ländern und bei zahllosen Menschen zu tieferer Gotteserkenntnis und Frömmigkeit geführt. Im katholischen Raum sind – vor allem durch die Frömmigkeitsformen der Herz-JesuVerehrung 127 – das Gedächtnis und die geistige Wirkung der Helftaer Mystikerinnen, besonders der beiden Heiligen Gertrud der Großen von Helfta und Mechthild von Hackeborn, bis in die Gegenwart lebendig geblieben. Auch überkonfessionell sind die Helftaer Mystikerinnen von Bedeutung.128 Im Jahre 1999 wurde auf dem Klostergelände von Helfta von Äbtissin Maria Assumpta Schenkl O Cist das Zisterzienserinnen-Kloster Neu-Helfta gegründet,129 in dem sich seitdem ein vielfältiges spirituelles und soziales Leben im Geiste der großen Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts entfaltet.
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|| 127 Richstätter 1919; Hochenauer 2005. 128 Ein herausragendes Beispiel für den evangelischen Pietismus ist Gerhard Teerstegen. Dazu Köpf 1998. 129 Köhler 2013.
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Claudia Händl
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen in Italien und Deutschland und ihre Liedproduktion Komparatistische Überlegungen zur Kommunikationsstruktur der sogenannten Geißlerliturgie und zu verwandten Liedern
1 Vorbemerkung Die Volksbewegung der Geißler entstand in Italien, mit Ausgangspunkt im umbrischen Perugia,1 wo nach Chronikberichten im Mai 1260 Angehörige einer Bußbruderschaft um Raniero Fasani sich als Bußübung öffentlich selbst geißelten und viele ihrer Mitbürger erfolgreich zur Nachahmung anhielten. Noch im gleichen Jahr nahm die Bewegung die Ausmaße einer religiösen Massenbewegung an, die sich in Mittelund Oberitalien verbreitete und mit wenigen Ausnahmen von der jeweiligen örtlichen weltlichen und kirchlichen Obrigkeit geduldet oder gar gefördert wurde. Die Bewegung griff rasch auf andere Gebiete Europas über,2 verbreitete sich vor allem von Friaul aus über Kärnten und die Steiermark in Österreich und von dort aus einerseits nach Ungarn, Böhmen, Mähren, Schlesien und Polen, andererseits über das salzburgische Gebiet auch nach Bayern, Franken und Schwaben und schließlich nach Straßburg, wo sich im Frühjahr des Jahres 1261 zahlreiche Geißler einfanden, die vor Ort viele weitere Anhänger gewannen, bevor die Bewegung zu einem einstweiligen Stillstand kam. Erst im 14. Jahrhundert sind erneute Geißlerzüge belegt; auch wenn sich der genaue Ausgangspunkt nicht lokalisieren lässt, spricht vieles für eine Entstehung der neuen Welle dieser Form der Geißelbuße im österreichisch-ungarischen Gebiet, wo sich die neuerlichen Züge seit dem September des Jahres 1348 nachweisen lassen. Von dort aus breitete sich die Bewegung 1349 zunächst nach Böhmen, Polen, Meißen, Sachsen und Brandenburg aus, griff dann rasch auf Thüringen, Franken und Schwaben über und ist im deutschsprachigen Gebiet in den Städten Würzburg, Straßburg, Basel, Speyer, Mainz und Köln bezeugt. Von den östlichen Teilen der heutigen Niederlande aus erreichte die Bewegung schließlich Nordfrankreich und || 1 Zur Entstehung der Bewegung in Umbrien siehe Tondelli 1943, Frugoni 1963, Bartoli Angeli 1984, Vallerani 2004 und Gazzini 2006 passim. 2 Zur Geschichte der Geißlerbewegung im mittelalterlichen Europa siehe v.a. Segl 1984, Graus 1987/31994, zur Spätzeit siehe v.a. Würth 2012.
168 | Claudia Händl England. Unabhängig von diesem erneuten Aufkommen und Erfolg der Geißlerbewegung 1348/49 nördlich der Alpen ist die Praxis der Geißelbuße im 14. Jahrhundert jenseits der Alpen, doch ohne besondere Höhepunkte, weiterhin in Italien belegt, wobei die Prozessionen und Züge von Ort zu Ort zunehmend zugunsten von Bußritualen fest lokalisierter Bußbruderschaften der disciplinati mit ihrer auf der Basis fester Regeln organisierten, oft stilisierten Form der Selbstgeißelung aufgegeben werden. Den großen Zulauf, den diese erneute Bewegung von 1348/49 in Europa verzeichnete, wird gemeinhin mit der Angst der Menschen vor einem drohenden Strafgericht Gottes erklärt, als dessen Vorzeichen man das schwere Erbeben von 1348 in Kärnten und vor allem die Ausbreitung der Pest in zahlreichen Gebieten Europas interpretierte. Aus den zeitgenössischen Quellen kann man schließen, dass die Anhänger der Geißlerbewegung hofften, durch ihre Buß- und Sühnerituale den Zorn Gottes abzuwenden und ein Ende des als göttliche Heimsuchung interpretierten Vordringens der Seuche herbeizuführen. Unsere Kenntnis der Bußfahrten und Rituale der Flagellanten verdanken wir chronikalischen Berichten der Zeit. Für die Frühzeit der Bewegung in Italien ist der Bericht des Minoriten Salimbene von Parma, eines Chronisten, der sich der Bewegung zeitweise selbst angeschlossen hatte, von besonderer Relevanz; in seiner Cronica berichtet er für das Jahr 1260, dass an den Prozessionen Vertreter der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten teilgenommen hätten, die sich unter Absingen selbst verfasster Lauden zum Preis Gottes und der Jungfrau Maria geißelten: Anno Domini M°CC°LX°, indictione III, venerunt verbatores per universum orbem, et omnes homines, tam parvi quam magni, tam nobiles milites quam popolares, nudati per civitates processionaliter se verberabant, precedentibus episcobis et religiosis. […] Et componebant laudes divinas ad honorem Die et beate virginis, quas cantabant, dum se verberando incederent.3 („Im Jahr 1260, in der dritten Indiktion, zogen Geißler durch die ganze Welt, und alle Menschen, groß und klein, edle Ritter und einfaches Volk, schritten entblößt in Prozessionen durch die Städte, angeführt von Bischöfen und Geistlichen, und geißelten sich dabei. […] Und sie verfassten Hymnen zum Preis Gottes und der seligen Jungfrau, die sie sangen, während sie einhergingen und sich dabei selbst geißelten.“)
Besonders aufschlussreich sind die Chroniken, die bei der Beschreibung der Rituale mit Einzug der Geißler, Geißelung mit anschließender Geißlerpredigt und Auszug auch die dabei gesungenen Lieder aufzeichnen. Für den deutschen Sprachraum ist hier vor allem die Straßburger Chronik des Fritsche Klosener von Bedeutung, der
|| 3 MGH.SS XXXII, S. 465f. Zur Darstellung der religiösen Volksbewegungen der Zeit in Salimbenes Chronik siehe d’Alatri 1999. – Die folgenden Übersetzungen sowohl der lateinischen, italienischen als auch mittelhochdeutschen Zitate stammen von mir.
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auch den Wortlaut der sogenannten Geißlerpredigt mitteilt, ferner das Chronikon des Hugo von Reutlingen, der den Liedtexten die Melodien beigibt. Ritual und dreiunddreißigeinhalbtägige Bußfahrt (entsprechend den dreiunddreißigeinhalb Lebensjahren Christi) gehen von der sogenannten Geißlerpredigt aus. In deren Mittelpunkt steht ein göttlicher Brief an die Christenheit, der, auf Marmor geschrieben, zu Jerusalem auf die Erde gefallen sein soll.4 In der in der Straßburger Chronik des Fritsche Klosener überlieferten deutschen Prosafassung äußert Christus seinen Zorn über die Menschen, die die göttlichen Gebote, insbesondere die Heiligung des Freitags und des Sonntags, nicht einhalten. Nur auf die Fürbitte der Muttergottes und der Cherubim und Seraphim sei er zur Sündenvergebung bereit. Von den erschütterten Menschen in Jerusalem um ein Zeichen gebeten, wie er zu besänftigen sei, hat Gott der Predigt zufolge in einer Engelsbotschaft genaue Bußanweisungen gegeben: Der Büßer habe dreiunddreißigeinhalb Tage zu wallfahrten und sein eigenes Blut zu vergießen. Gottes Zorn kann also durch compassio und imitatio Christi abgewendet werden. Mit einem Himmelsbrief in analoger Funktion rechnet die Forschung bereits für die Anfänge der Geißlerbewegung des 13. Jahrhunderts im italienischen Perugia.5
2 Die Lieder der italienischen Geißlerbewegung Meine Absicht ist es nicht, hier einen Vollständigkeit anstrebenden Überblick über die Lieddichtung im Kontext der italienischen Geißlerbewegungen und Geißelbruderschaften zu geben; ich möchte vielmehr anhand weniger ausgewählter Beispiele einige Besonderheiten der italienischen Geißlerlieder aufzeigen, insbesondere, was ihre Inszenierung, die Verwendung von Rollen und die Möglichkeit der Rückbindung der Lieder an die historische Kommunikationssituation betrifft.
2.1 Aus einer Laudensammlung von Cortona: Chi vol lo mondo desprezzare Aus dem Korpus der italienischen Geißlerlieder wähle ich zunächst ein frühes Beispiel, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene und anonym mit Notation überlieferte Laude Chi vol lo mondo desprezzare aus der Laudensammlung || 4 Zur Tradition der Himmelsbriefe, im christlichen Bereich seit der Spätantike breit belegt, mit zahlreichen Zeugnissen in Latein und in den Volkssprachen, u.a. in italienischer und deutscher Sprache, siehe v.a. Schnell 1983, und Palmer 1986. 5 Siehe v.a. Hübner 1931, S. 54–60.
170 | Claudia Händl von Cortona, auf die bereits Schneegans in seiner Abhandlung aus dem Jahr 1900 zu den italienischen Flagellantenliedern aufmerksam gemacht hat 6 und auf deren Folie das auffallende In-Szene-Setzen der Redesituation späterer Lieder besonders deutlich wird. Die Laudensammlung von Cortona (Cortona, Biblioteca Comunale e dellʼAccademia Etrusca, Ms. 91) ist eine Pergamenthandschrift aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts; auch wenn die genaue Entstehungszeit nicht bekannt ist, vermutet man, dass sie zwischen 1270 und 1297 aufgezeichnet wurde. Diese Handschrift aus dem Besitz der Bußbruderschaft Santa Maria delle Laude, die der Kirche des Hl. Franziskus von Cortona angehörte, ist neben der Laudensammlung Magliabechiana 18 (Firenze, Biblioteca Nazionale Centrale, Magliabechiano II I 122, Banco Rari 18) die einzige Laudensammlung in italienischer Sprache mit Melodienaufzeichnung. Es handelt sich bei der Sammlung aus Cortona um die älteste uns bekannte Zusammenstellung italienischer Lieder mit Melodien in der Volkssprache und der einzigen Sammlung dieser Art des 13. Jahrhunderts. Sie enthält 66 Lauden, die ersten 44 Lieder sind mit musikalischer Notation überliefert. Die Laude Chi vol lo mondo desprezzare befindet sich im ersten Teil, an 35. Stelle (fol. 88v–90r); 7 sie stammt aus der Frühzeit der Geißlerbewegung in Italien und ist ganz der Weltabkehr gewidmet, wobei der vorherrschende Gedanke an den Tod die Bußbereitschaft befördern soll.8 Chi vol lo mondo desprezzare sempre la morte dea pensare. La morte è fera e dura e forte, rumpe mura e passa porte: ella è sì comune sorte, ke verun ne pò campare. Tutta gente cun timore vive sempre in gran tremore, emperciò ke son securi di passar per questo mare. Papa collo ’mperadori, cardinali e gran signori, iusti e santi e peccatori fa la morte raguagliare. La morte viene com’ furone, spoglia l’omo come ladrone; || 6 Schneegans 1900, S. 68. 7 Ich gebe den Text der Verse 1–30 nach der kritischen Edition von Guarnieri wieder – Guarnieri (Hrsg.) 1991, S. 199–201 (V. 1–30) – und vernachlässige im Rahmen dieser Untersuchung die in einer späteren Redaktion überlieferten Verse 31–46, Text bei Guarnini (Hrsg.) 1991, S. 201f. 8 Ich vernachlässige, meiner Themenstellung gemäß, die neuere Diskussion um eine Neuausgabe des Laudario di Cortona unter stärkerer Berücksichtigung musikwissenschaftlicher Kriterien als Forschungsdesiderat, siehe dazu v.a. Gozzi 2010 und Karp 1993.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 171 satolli e freschi fa degiuni e la pelle remutare. Non receve donamente, le re[c]chezze à per nïente; amici non vol né parenti quando viene al separare. Contra liei non val fortezza, sapïenza né bellezza; turr’e palazzi e grandezza, tutte le fa abandonare. A l’om k’è ricco e bene asciato, a l’usurier, ke mal fo nato, molto è amaro questo dettato, ki non se vole emendare. („Wer die Welt verachten will, / muss ständig an den Tod denken. // Der Tod ist erbarmungslos und hart und gewaltig, / er durchbricht Mauern und dringt durch Türen. / Er ist das gemeinsame Los [aller], / dem keiner entgehen kann. // Alle Menschen leben zitternd / in ständiger großer Furcht, / denn sie sind sicher, / dieses Meer zu durchqueren. // Den Papst und den Kaiser, / Kardinäle und große Herren, / Gerechte und Heilige und Sünder / macht der Tod alle gleich. // Der Tod kommt rasend herbei, / er beraubt den Menschen wie ein Räuber. / Wer satt und blühend gesund ist, / den lässt er hungern und verändert seine Haut. // Er nimmt keine Gaben entgegen. / Die Reichtümer gelten ihm nichts. / Er will weder Freunde noch Verwandte, / wenn es zur Trennung kommt. // Gegen ihn hilft keine Festung, / weder Weisheit noch Schönheit, / weder Turm noch Palast noch hoher Stand. / Er verlangt, dass all dies aufgegeben wird. // Für den Menschen, der reich und wohlhabend ist, / den Wucherer, der zu seinem Unglück geboren wurde, / ist diese Rede sehr bitter, wenn er sich nicht bessern will.“)
Schon die Eingangsverse wenden sich mit dem verallgemeinernden Pronomen chi an alle Bußfertigen, die bereit sind, sich von der Welt abzuwenden. Eindringlich wird geschildert, dass der Tod vor niemandem Halt macht, die soziale Stellung im Diesseits nicht vor dem Ende schützt: Papst, Kaiser, Kardinäle und große Herren, Gerechte, Heilige, alle macht der Tod gleich; wehe dem Sünder, der nicht rechtzeitig umkehrt und sich bessert (ki non se vuole emendare). Auffallend ist, dass die einzige konkret angesprochene Kategorie von Sündern die des Wucherers ist, dem bei mangelnder Umkehr ein bitteres Ende in Aussicht gestellt wird. Auch wenn in dieser Laude jeglicher wörtliche Bezug auf die Praxis der Selbstgeißelung als Bußübung fehlt, wird doch eindrucksvoll die Grundhaltung ausgedrückt, die im 13. Jahrhundert zur Entstehung der Flagellantenbewegung in Italien führte. Im Falle dieses Lieds darf man Rückschlüsse auf die Funktion als Geißlerlied insbesondere durch die Überlieferungssituation ziehen: Dieses frühe geistliche Lied in der Volkssprache gehört dem Grundbestand einer Laudensammlung einer historisch belegten Bußbruderschaft an, der Confraternita Santa Maria delle Laude von Cortona, und konnte sowohl bei Bußübungen im engeren Kreis der Bußbruderschaft als auch bei öffentlichen Bußprozessionen gesungen worden sein. Das Ausmalen des schrecklichen Endes, das ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung denjenigen
172 | Claudia Händl erwartet, der sich nicht bessern will, ist geeignet, auch Nichtmitglieder der Bußbruderschaft zur Umkehr zu bewegen. Die durchgehende Redehaltung in der dritten Person unterstreicht die Allgemeingültigkeit des Gesagten als Wahrheit, die alle betrifft.9
2.2 Aus einer Laudensammlung von Borgo San Sepolcro: Piatoso Padre, eterno Dio Im Gegensatz zu dem oben besprochenen frühen Beispiel aus dem Umkreis der italienischen Geißlerbewegung wird in späteren Liedern des Öfteren deutlich auf die Praxis der Selbstgeißelung als Bußübung hingewiesen. Ich möchte in diesem Zusammenhang näher auf die Laude Piatoso Padre, eterno Dio eingehen, die im 15. Jahrhundert in Borgo San Sepolcro bei Arezzo in einer volkssprachlichen Laudenhandschrift aufgezeichnet wurde, auf die zuerst Francesco Corazzini hingewiesen hat10 und die in der Folge von Enrico Bertazzi kritisch ediert wurde.11 Trotz der Jahresangabe 1449, mit der das Lied, das sich schon im Liedeingang an Gottvater mit der Bitte um Beendigung der Pest wendet, in der Handschrift überschrieben ist, legen sprachliche, stilistische und metrische Kriterien eine Datierung des Textes ein Jahrhundert früher nahe12 und machen so eine Entstehungszeit im Kontext der Ausbreitung der Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich, die nördlich der Alpen zur Entstehung der uns überlieferten deutschen Geißlerlieder geführt hat, während die in der italienischen Handschrift zitierte Jahreszahl 1449 offensichtlich auf den konkreten Anlass der Aufzeichnung im Rahmen einer Reaktualisierung verweist: Wie aus historiographischen Quellen der Zeit hervorgeht, wurde die Gegend um Arezzo in jenem Jahr von einer erneuten Pestwelle heimgesucht, bei der Hunderte von Menschen starben. 13 Die Laude umfasst 124 Verse und ist, abgesehen von den drei Eingangsversen und dem Schlussvers, in 30 vierzeilige Strophen untergliedert. Die Eingangsverse führen im Modus eines persönlichen Gebets in die Thematik ein, das Possessivpronomen mio weist auf einen Sprecher in der ersten Person Singular:
|| 9 Ein Kuriosum neuzeitlicher Rezeption dieser Laude als Geißlerlied kann auf YouTube genossen werden: Eine musikalische Interpretation der Laude durch das italienische Ensemble Micrologus von 1999 wird im Dezember 2011 mit Szenen zu einer Buß- und Geißelprozession aus Ingmar Bergmanns Film Das Siebte Siegel aus dem Jahr 1957 unterlegt: http://www.youtube.com/watch?v =lazx1A1szX0. 10 Corazzini 1874, S. 53f. 11 Bettazzi 1890. 12 Bettazzi 1890, S. 249. 13 Siehe Bettazzi 1890, S. 248.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 173 Piatoso Padre, eterno Dio misericordia, o signor mio, fa cessar(e) la pistolentia. (V. 1–3) („Mitleidiger Vater, ewiger Gott, / Erbarmen, o mein Herr, / lass die Pest zu Ende gehen.“)
Die beiden ersten Eingangsworte werden im letzten Vers wieder aufgenommen, jedoch ohne dass sich explizit ein Sprecher äußert; der Schlusspunkt wird durch ein „Amen“ gesetzt: Piatoso padre. Amen („Mitleidiger Vater. Amen“). Im Anschluss an die Eingangsverse folgen drei Vierzeiler, die einer Gruppe von Büßern in den Mund gelegt sind, die sich selbst anklagen und Gott bitten, sein Urteil zu widerrufen – die Pest wird hier eindeutig als Strafe Gottes für die Sünden der Menschheit gesehen; die Selbstanklage enthält unter anderem das Vergehen der unterlassenen Sonntagsheiligung, das Kernstück der Tradition der Himmelsbriefe ist, eine Tradition, die bekanntlich auch für die Bußbewegung der Geißler im deutschen Sprachraum von großer Bedeutung ist: «Noi sem(o) tucti pecatori, (e) semo tucti malfatori, (e) commectemo molti errori, non facendo penitentia. «Al tuo nome bastimiando, e te a ira provocando, anco el proximo ingiuriando; o Dio, revoca la sententia. «Le tuoie feste mai guardamo e a le messe non andamo, le vigilie non degiunamo e non facemo astinentia». (V. 4–15) („Wir sind alle Sünder / und sind alle Übeltäter, / wir begehen viele Verfehlungen, indem wir keine Buße tun, // deinen Namen lästern, / dich zum Zorn reizen, / dazu dem Nächsten Kränkungen zufügen;/ o Gott, widerrufe Dein Urteil. // Deine Festtage halten wir nie ein, / zur Messe gehen wir nicht. / In der Fastenzeit fasten wir nicht, / und wir kasteien uns nicht.“)
Mit Vers 16 wird ein Sprecherwechsel vollzogen, die folgende, acht Strophen umfassende Rede als Antwort Christi an die Bußgemeinde inszeniert: «Discordie e hodii voi portate l’um coll’altro e non v’amate; (el) vostro proximo engiuriate e may fa(ce)te penitentia. «Io mandarò el mio flagello nel mondo a me ribello,
174 | Claudia Händl (e) manderò el crudel(lo) coltello de moria cum pistilentia. «Io ò aspectato el peccatore (co)tanto tenpo conn amore, et el gliè indurato el core e non vol far(e) (la) penitentia. «Mandarolle al fuoco eterno, nell’abisso al inferno col demonio in sempiterno; a lui darò questa sententia. «Voi atendete a bastimiare la mia madre e a baractare, tucto ’l dì a luxuriare, sença alquna providentia. «El mal mondo io desfarone co lo fuoco, e mandarone i peccatori ad acharonne, che gli porti nell’inferno. «Grandene e fame e guerre assaie mandaràò de molti guaie, perchè sempre più malfaie è ’mdurato col mal core «E i tuoy figliuoli a te torrone, tribulatione te mandarone, infermetà nelle persone dei malvagi peccatori» (V. 16–47). („Zwietracht und Hass bringt ihr / einander entgegen und ihr liebt euch nicht. / Euren Nächsten kränkt ihr / und nie übt ihr Buße. // Ich werde meine Geißel schicken / in die Welt, die sich gegen mich auflehnt, / und werde das grausame Messer / des Sterbens an der Pest senden. // Ich habe auf den Sünder gewartet / so lange Zeit mit Liebe, / doch sein Herz hat sich verhärtet / und er will nicht Buße tun. // Ich werde ihn ins ewige Feuer schicken, / in den Abgrund der Hölle, / auf Ewigkeit mit dem Teufel; / ich werde ihm folgenden Urteilsspruch verkünden: // Ihr versteht es, meiner Mutter zu lästern / und sie zu täuschen, / euch den ganzen Tag Ausschweifungen hinzugeben, / ohne euch um die Vorsehung zu bekümmern. // Die böse Welt werde ich / durch Feuer vernichten und ich werde die Sünder zu Charon schicken,14 / auf dass er sie in die Hölle geleite. // Hagel und Hungersnot und Kriege in Fülle / werde ich euch zu
|| 14 Diese Stelle, in der Christus auf die mythologische Figur des Charon Bezug nimmt, der die Toten in den Hades geleitet, ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht zufriedenstellend zu klären, eventuelle direkte Einflüsse der klassischen oder altitalienischen Literatur auf dieses geistliche Lied sind nicht nachweisbar.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 175 großem Schaden schicken. / Da ihr immer übler handelt, / hat sich mit dem Bösen mein Herz verhärtet. // Und deine Söhne werde ich dir nehmen, / Heimsuchungen werde ich dir schicken, / Krankheit dem Leib / der ruchlosen Sünder.“)
Die Rede, die Christus in den Mund gelegt wird, wendet sich abwechselnd in der zweiten Person an die Sünder im Plural (V. 16–19; 32–35, 40–43) oder im Singular an den einzelnen, exemplarischen Sünder (V. 44–45); darüber hinaus wird auf die sündigen Menschen in der dritten Person Singular (V. 24–31) oder Plural (V. 37–38, 46–47) verwiesen. Im Mittelpunkt dieser Strophen steht die mangelnde Bußbereitschaft der sündigen Menschheit und die von Gott vorgesehenen Strafen, allen voran die Heimsuchung der Pest im Diesseits und die ewige Verdammnis im Jenseits. Von den konkreten Vergehen wird insbesondere die Lästerung der Muttergottes hervorgehoben, während die Unterlassung der Sonntagsheiligung und die Missachtung der Fastengebote, die in der Selbstbezichtigung der Büßergemeinde im Liedeingang eine zentrale Rolle einnehmen, nicht mehr eigens erwähnt werden. In der Folge kommt die zentrale Rolle zum Tragen, die der Muttergottes traditionsgemäß im Rahmen der mittelalterlichen Geißlerbewegung zukommt. Da die Antwort Christi auf die Anrufung der bußfertigen Sünder nicht zufriedenstellend ausgefallen ist und er auf seinem Strafgericht beharrt, wendet sich die Büßergemeinschaft nun an die Muttergottes mit der Bitte, sich bei ihrem Sohn für die sündige Menschheit zu verwenden und die Pest zu einem Ende zu bringen: «Madre, o vergine Maria priegha per noi, o virgo pia, che Gesune tolga via l’aspra morte e pistilenzia. «Tu se’ madre [e] avocata dei peccator(i) apellata; tu se’ vergene beata, sempre piena di clementia. «(Tu) partoriste el salvatore, luy lactando con amore; priegha, madre, el redemptore che revochi tal sententia». (V. 48–59) („Mutter[gottes], o Jungfrau Maria, / bitte für uns, o fromme Jungfrau, / dass Jesus fortnehme / den harten Tod und die Pest. // Du bist Mutter und wirst Fürbitterin / der Sünder genannt; // du bist eine selige Jungfrau, / immer voll der Gnade. // Du hast den Heiland geboren, / hast ihn mit Liebe an deiner Brust genährt; / bitte, Mutter, den Heiland, / dass er diesen Urteilsspruch zurücknimmt.“)
Mit der Antwort der Gottesmutter auf das Ansuchen der Sünder um Fürbitte setzt der 13 Strophen umfassende Hauptteil der Laude ein, der überwiegend dem Geißlerritual als erfolgversprechende Bußhandlung gewidmet ist.
176 | Claudia Händl Zunächst versichert die Jungfrau Maria die Sünder, an die sie sich durchgehend in der zweiten Person Plural wendet, ihrer Bereitschaft, Fürbitte bei ihrem Sohn zu leisten: «Figliuoli (miei) peccatori, per voi priego a tucte l’ore Gesu dolce, el mio amore, che revochi la sententia». «(I)nginocchiata lacrimando, el mio pecto a lui mostrando, dolcie filglio luy chiamando: De perdona al peccatore. «Figluol(i) miei, elgli è adirato; contra voi è conturbato, dice(ndo): ’madre, io foy chiavato nella croce per suo amore’». (V. 60–71) („Meine Kinder, ihr Sünder, / für euch bitte ich zu jeder Zeit / den süßen Jesus, meine Liebe, / dass er den Urteilsspruch zurücknehme. // Kniend und weinend, / ihm meine Brust zeigend / ihn anrufend: ‚Süßer Sohn/ vergib dem Sünder.‘ // Meine Kinder, er ist erzürnt, / gegen euch ist er aufgebracht, / er sagt: ‚Mutter, ich bin ans Kreuz genagelt worden / aus Liebe zu ihnen.“)
Dann folgen konkrete Anweisungen an die Sünder, die wiederum in der zweiten Person Plural angesprochen werden, wie sie effektvoll Buße tun können: «Prendete la disciplina, confessate ei peccati prima: questa è vera medicina a tucti quanti ei peccatori. «Se volete Dio placare e volete a lui tornare, vuolsi disciplina fare, perdonando per suo amore. «State insieme in sancta pace con amore e cuor verace: quest’e’ quell(o) ch’a Dio piace, sequitatel de buon cuore. (V. 72–83) („Nehmt die Geißel, / gesteht eure Sünden zuerst: / dies ist das wahre Heilmittel / für alle Sünder. // Wenn ihr Gott besänftigen / und zu ihm zurückkehren wollt, / ist es nötig, sich Bußübungen zu unterziehen / und um seinetwillen zu verzeihen. // Steht zueinander in heiligem Frieden / mit Liebe und aufrichtigem Herzen: / das ist es, was Gott gefällt, / folgt ihm mit gütigem Herzen.“)
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Im Mittelpunkt stehen Bußübungen mit Selbstgeißelung (V. 72 und 78), Vergebung von erlittenem Unrecht (V. 79), Friedfertigkeit und Nächstenliebe (V. 80–83). Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung für ein Gelingen der Bußhandlungen das vorherige Bekennen der begangenen Sünden ist (V. 73). Nun wird eine Strophe eingeschoben, in der Maria in der dritten Person generalisierend auf den sündigen Menschen verweist, für den ihr Sohn am Kreuz gestorben ist: «El mio figliuol per lo delicto nella croce fo conficto, crudelmen fo aflicto per campare al peccatore. (V. 84–87) („Mein Sohn wurde wegen der Sünde / ans Kreuz geschlagen, / grausam wurde er gequält, / um den Sünder zu erretten.“)
Nach diesem Einschub wird erneut die Perspektive gewechselt, die folgenden der Muttergottes in den Mund gelegten Strophen wenden sich wieder an die Gemeinde der Bußwilligen in der zweiten Person Plural. Der Perspektivenwechsel ermöglicht einen ‚historischen‘, distanzierten Rückblick auf die Ursünde, von der Christus die Menschheit durch den Kreuzestod erlöst hat. Der Einsatz des Substantivs delicto15 mit dem bestimmten Artikel verweist auf die Sünde schlechthin und eröffnet die Möglichkeit, im Sinne des Himmelsbriefes durch Bußübungen, die durch die Geißelung in die Nähe der imitatio Christi rücken, Vergebung der Sünden nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere zu erwirken: Dies bedeutet, dass die aktuellen Büßer wie im ‚historischen Fall‘ des Kreuzestodes Christi, an denen die aktuellen Sünder keine Schuld tragen, die Sünden der Menschheit sühnen und somit den Zorn Gottes und seine Heimsuchungen abwenden können. Nach einer zusammenfassenden Anklage der aktuellen Sünder durch Maria in den Versen 88–9116 werden ihre Anweisungen an die bußbereiten Sünder wieder aufgenommen: «Tucti quanti in dentione17 andarite in processione, el mio figlio(lo) in orazione pregarite con reverentia. || 15 Vgl. Vaccaro 1997/2005. 16 «Figl[i]uoli (miei, voi) sete ingrati, / de tucti i doni che (Dio) v’à dati, / sempre fa(ce)te più peccati, / abandonando el creatore („Meine Kinder, ihr seid undankbar / für alle Geschenke, die Gott euch gegeben hat, / immerzu begeht ihr noch mehr Sünden / und kehrt euch damit vom Schöpfer ab“). 17 Bei dentione handelt es sich offensichtlich um eine Verschreibung, die in devotione zu verbessern ist.
178 | Claudia Händl «Se lassarite lo mal fare È Ddio presto a perdonare; trovarete gratia fare (de) revocar questa sententia. «E l’altrui renderite e non più biastimiarite, dal mio figluolo trovarite de l’ofese indulgentia. «Lassando l’uso del mal fare, perseverate nel bene fare; (sempre) volïate sequitare (la) disciplina e penitentia «El mio figlio io placarone, per voi piata(de io) ritrovarone, e tucti voi io camparone de la (crudel) morte e pistolentia». (V. 92–111) („Ihr alle zusammen werdet in Andacht / in Prozessionen einhergehen / und meinen Sohn im Gebet / in Ehrfurcht anflehen. // Wenn ihr das schlechte Handeln unterlasst, / wird Gott bald verzeihen. / Ihr werdet seine Gnade erfahren, / indem er diesen Urteilsspruch zurücknimmt. // Und dem Nächsten werdet ihr [Geschuldetes] zurückerstatten, / und ihr werdet nicht mehr Gott lästern, / von meinem Sohn werdet ihr Vergebung für eure Verfehlungen erhalten. // Lasst das böse Handeln sein, / beharrt darauf, Gutes zu tun, / widmet euch weiterhin immer gern den Geißel- und Bußübungen. // Meinen Sohn werde ich besänftigen, / für euch werde ich Erbarmen bei ihm erwirken, / und euch alle werde ich erretten / vom grausamen Tod und der Pest.“)
Erneut wird auf die Notwendigkeit, sich vom sündigen Leben abzukehren und durch Selbstgeißelung Buße zu tun, hingewiesen, um mit Hilfe der Fürbitte der Muttergottes vor der Pest gerettet werden zu können; die Anweisungen Marias, wiederum in der zweiten Person Plural an die Sünder gerichtet, beinhalten jetzt auch die Aufforderung zu Bittgängen in Prozessionsform. Zum Schluss der Laude kommt erneut die Büßergemeinschaft zu Wort, zunächst als direkte Antwort an Maria, dann als gebetsartige Anrufung des Hl. Sebastian und des Heilands: «Madre nostra te chiamamo, madre nostra te adoramo, madre te rengratiamo de (la) tua gratia e diligentia. «O beato Sebastiano, tucti quanti a te chiamamo, e cum lacrime pregamo che tu lieve la pistilentia.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 179 «O Gesù, nostro signore, tu se’ nostro redentore; dona(ce) gratia, o salvatore, (e) dei peccati penitentia». (V. 112–123) („Unsere Mutter, wir rufen dich an. / Unsere Mutter, wir beten dich an. / Mutter, wir danken dir / für deine Gnade und deinen Einsatz. // O seliger Sebastian, wir alle rufen dich an, / unter Tränen bitten wir, / dass du die Pest von uns nimmst. // O Jesus, unser Herr, / Du bist unser Erlöser; / schenke uns Gnade, oh Heiland / und [nimm] die Buße der Sünden [an].“)
Die Rede wird wieder in die Realität der Kommunikationssituation der konkreten Bußhandlung zurückgeführt, die durch das Rollensprechen von Christus und Muttergottes inszenierte zeitweise Distanzierung und ‚Historisierung‘ überbrückt. Nicht zuletzt mit der Anrufung von San Sebastiano, eines Heiligen, der als Beschützer vor der Pest von zahlreichen italienischen Bußbruderschaften der Zeit verehrt wurde, wird das Gebet der Mitglieder der Confraternita della Vergine von Borgo S. Sepolcro, in deren Besitz die Handschrift, die unsere Laude überliefert, sich ursprünglich befand, in die konkrete Gebrauchssituation einer historisch belegten Bußbruderschaft rückgebunden, die sich im Gebet möglichst an mehrere potentielle kompetente Helfer und Fürsprecher wendet und nicht nur, wie im Liedeingang und im Schlussvers (V. 124), an Gottvater: Piatoso padre. Amen („Barmherziger Vater. Amen“). Das zwischen einer an die Realität anknüpfbaren Kommunikation (Rede der Büßer) und einer inszenierten Kommunikation mit Christus und der Jungfrau Maria (Rollen, die von Mitgliedern der Bußbruderschaft übernommen werden mussten) entstehende Spannungsverhältnis setzt die Notwendigkeit von Bußübungen mit Selbstgeißelung aus der Sicht der Mitglieder der Bußbruderschaft augenfällig in Szene. Indem die Aufforderung zu Geißelriten aus dem Mund der Muttergottes erfolgt, unterstreichen der Verfasser des Lieds und diejenigen, die es gemeinsam singen, jedoch nicht nur die Notwendigkeit ihres Tuns, sondern heben gleichzeitig die Legitimität ihres Vorgehens hervor, das sozusagen von höchster Stelle autorisiert ist. Das Lied kann somit eine doppelte Funktion erfüllen: erstens als Selbstvergewisserung der Mitglieder der Bußbruderschaft über die Richtigkeit ihres Tuns, die mit jeder Realisierung des Liedes erneuert und bestätigt werden kann, andererseits, im Fall einer öffentlichen Darbietung, beispielsweise als Prozessionslied, auch als Mittel, weitere Anhänger für die Geißlerbewegung zu werben.
2.3 Aus einer Laudensammlung von Gubbio: Torniamo a-ppenetenza Als drittes und letztes Beispiel aus der italienischen Liedproduktion im Kontext der Geißlerbewegungen möchte ich die Laude Torniamo a-ppenetenza besprechen,
180 | Claudia Händl welcher der dialogische Charakter des vorhergehenden Beispiels abgeht. Es handelt sich um ein im Umkreis einer italienischen Geißelbruderschaft, der Confraternita SS. Crocifisso di Gubbio in Umbrien, entstandene Lied, das in einer Handschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde.18 Das Lied setzt mit der Aufforderung ein, Buße zu tun; wie Christus in der Wüste soll der Büßer fasten und sich kasteien, um den Versuchungen zu wiederstehen, und sich vor der Sünde hüten: Torniamo a-ppenetenza, Ché el tempo è ’mcomenzato, Con degiunio e astinenza, E guardiamce dal peccato Chome fe’ Christo nel diserto: Chi ’l farà n’averà merto. (I, 1–6)19 („Wenden wir uns wieder unserer Bußübung zu, / denn die Zeit dafür ist angebrochen. / Mit Fasten und Kasteiung / bewahren wir uns vor der Sünde, / wie Christus es in der Wüste tat: / Wer dies tut, wird dafür belohnt werden.“)
Anders als im Fall der weiter unten besprochenen deutschen Geißlerliturgie beschränkt sich der Aufruf hier offensichtlich auf eine bestimmte Gruppe, die sich habituell Bußübungen widmet und die im Wir-Gestus in die Rede einbezogen wird, ohne einen Versuch zu verbalisieren, eventuelle Außenstehende zum Mitmachen zu bewegen, wie es bekanntlich im deutschen Leis inszeniert wird (Nu tret herzů der b=ssen welle; „Nun trete herzu, wer büßen will“). Auffallend ist, dass bereits in der Eingangsstrophe dem bußfertigen Sünder eine Art von Heilsversprechen gegeben wird (I, 6): wer Buße tut und wie Christus fastet und sich kasteit, wird dafür belohnt werden. In der Folge wechselt die Rede zwischen der zweiten und der ersten Person Plural: Der Hinweis an die Mitglieder der Bußbruderschaft auf die Vergänglichkeit des irdischen Lebens soll die Bußbereitschaft fördern und das Bewusstsein, dass der Mensch vergänglich ist, die Notwendigkeit, mittels Prozessionen mit Selbstgeißelung zu büßen, unterstreichen: O fratelli, se voi pensasti Là onde formati semo, E alla mente v’aricasti Che em terra ritornaremo, Com gran pianti e sospirando N’andariamo flagellando. (II, 1–6)
|| 18 Siehe Mazzatinti 1880, S. 85f. 19 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe von Mazzatinti 1889, S. 159–162, zähle aber den Text nicht durch, sondern nummeriere die 16 sechszeiligen Strophen.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 181 („O Brüder, wenn ihr nur daran denken wolltet, / woraus wir geschaffen sind, / und euch ins Bewusstsein rufen, / dass wir wieder zu Staub werden! / Unter großem Wehklagen und Seufzen / würden wir dann einhergehen und uns geißeln.“)
Es besteht hier offenbar nicht die Notwendigkeit, der Muttergottes eine Aufforderung zu Umzügen mit Selbstgeißelung in den Mund zu legen; Geißelriten als effiziente Bußhandlungen werden als der Bußgemeinschaft vertraute Handlungen vorausgesetzt, es wird ein konditionaler Nexus hergestellt zwischen der Erkenntnis der Vergänglichkeit des irdischen Lebens und der daraus folgenden Bereitschaft zur Geißelbuße. Erstes Anliegen der Realisierung der Laude im historischen Kontext scheint es also zu sein, die Bußgemeinde davon zu überzeugen, dass die Zeit drängt und Reue und Buße nur im Diesseits möglich sind – diesem Anliegen sind die folgenden drei Strophen (III–V) gewidmet: Questa vita è come vento Che en um pomto via tu passi; Quando cride star contencto E la tua vita tu lassi; E en um ponto viem la morte, Solo el male e ’l biem te porte. Puoi che l’anima è departita, Penetentia vorria fare; Se podesse aver la vita E al corpo retornare, Penetenza e disciplina Far vorria l’alma taupina. O fratelli, or ce pensate Che tucti devem morire; E per lo certo lo sappiate Questo non può remanere; Eccho l’amore che ne viene E non savem là dove ne gire. („Dieses Leben ist wie ein Windhauch, / im Nu vergeht es dir. / Wenn du zufrieden zu sein glaubst, / so lässt du schon dein Leben, / und der Tod kommt plötzlich, / nur er nimmt dir das Schlechte wie das Gute. // Wenn dann die Seele fortgegangen ist, / möchte sie gern Bußübungen vornehmen. / Wenn sie das Leben zurückerhalten könnte, / und in den Körper zurückkehren, / da würde sie gern Buß- und Geißelübungen / vornehmen, die elende Seele. // O Brüder, denkt jetzt daran, / dass wir alle sterben müssen. / Und wisset mit Sicherheit, / dass der derzeitige Zustand nicht bleiben kann. / Hier kommt schon der Tod20 / und wir wissen nicht, wohin uns wenden.“)
|| 20 Ich lese l’amore der Handschrift dem Kontext gemäß als la mor(t)e und übersetze entsprechend mit „der Tod“.
182 | Claudia Händl Im Gegensatz zur zweiten Strophe, in der die Rede zwischen der zweiten und der ersten Person Plural wechselt, wird nun in der dritten Strophe ein einzelner Sterblicher, stellvertretend für alle, in der zweiten Person Singular angesprochen und ihm die Plötzlichkeit des Todes vor Augen geführt. Diese direkte Anrede verdeutlicht die Möglichkeit zu aktivem Handeln des Einzelnen im Diesseits, während es im Jenseits zur Umkehr zu spät ist: Wie in der vierten Strophe dargelegt wird, kann die Seele nicht ins Leben zurückkehren, passiv muss sie das Urteil erwarten, das beim Jüngsten Gericht aufgrund der Lebensführung des Verstorbenen gefällt werden wird. Diese ‚Handlungsunfähigkeit‘ und erzwungene Passivität wird durch den Gebrauch der dritten Person Singular in dieser Strophe unterstrichen: Die Seele des Verstorbenen würde gern Buß- und Geißelriten vornehmen, hat aber im Gegensatz zur Gegenwart der Bußgemeinde, auf die vom hic et nunc der Liedrealisierung rückgeschlossen werden kann, keine Gelegenheit mehr dazu. In der fünften Strophe erfolgt dann erneut ein Perspektivenwechsel: Wie in der zweiten Strophe wechselt die Rede zwischen der zweiten und der ersten Person Plural, die Wechselbeziehungen und das Miteinander zwischen den einzelnen Mitgliedern der Bußbruderschaft werden auf diese Weise erneut betont, ganz offensichtlich in der Absicht, der Bußgemeinde den Gedanken an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, der alle Sterblichen angeht, erneut nahezubringen. Wird in den ersten fünf Strophen sowohl die Vergänglichkeit des irdischen Daseins als auch die Notwendigkeit zu Buße und Umkehr im Allgemeinen thematisiert, folgen nun fünf Strophen mit detaillierten Anweisungen für ein gottgefälliges Leben (VI–X): Ciascuno homo à tre nimici, El mondo el cifero e la carne; La scriptura samta el dici; Ciascheuno à ad enscampare: Omne homo prenda sua armadura Per defenderse ad omni hora. El mondo, se vencer lo volemo, Desprectiamo omni suo stato; Quanto piú da lui avemo, Piú nel cuor ne sta abracciato: Per ascempio avemo Christo, Poder non ce volse né acquisto. Lo nemico dello ’nferno Combactendo se convence, Come disse el patre eterno Al temptator – lieva de quince –. O fratel, se non consenti, Filgliolo a Dio però deventi.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 183 La carne stimula tucto hora; Fugendola, sarai vincitore: Non far co-llei troppa demora: Chi non se cansa è [per]detore. Em cuor te pum de viver casto, Darai a l’anima buom pasto. Omni cosa te despiaccia Che te mena a dapnatione; Solo dio amar te piaccia, Ché non c’è piú consolatione. Or chi dirà – non posso amare –? De ciò nullo homo se può scusare. („Jeder Mensch hat drei Feinde: / die Welt, das Geld21 und das Fleisch. / Die Heilige Schrift sagt es. / Vor jedem muss er sich hüten. / Jeder Mensch nehme seine Rüstung, / um sich jederzeit zu verteidigen. // Wenn wir die Welt besiegen wollen, / so lasst uns alles, was Teil von ihr ist, verachten. / Je mehr wir von ihr besitzen, / desto mehr umklammert sie unser Herz: / Nehmen wir uns Christus als Vorbild, / der weder Macht noch Güter wollte. // Den Feind der Hölle / soll man bekämpfen, / wie der ewige Vater, der zum Versucher sagte: ‚Hebe dich hinweg‘. / O Bruder, wenn du ihm keine Zugeständnisse machst, / so wirst du ein Sohn Gottes. // Das Fleisch stellt zu jeder Zeit eine Versuchung dar; / wenn du es vermeidest, wirst du Sieger sein. / Gib dich ihm nicht zu lange hin: / wer ihm nicht aus dem Weg geht, ist ein Verlierer. / Nimm dir im Herzen vor, keusch zu leben, / der Seele wirst du so gute Nahrung geben. // Missfallen möge dir all das, / was zur Verdammnis führt; / nur Gott zu lieben möge dir gefallen, / es gibt keine bessere Zuversicht. / Wer kann nun sagen: ‚Ich kann ihn nicht lieben‘? / Dafür kann kein Mensch sich entschuldigen.“)
Der Leitgedanke, der sich durch diese Strophen zieht, ist die Abkehr von der Welt: Wer dem Vorbild Christi folgt, auf Macht und irdische Güter verzichtet, ein keusches Leben führt, den Versuchungen des Teufels widersteht und Gott liebt, tut seiner Seele Gutes und kann dem Tod getrost ins Auge sehen. Auch in dieser Strophengruppe wechselt die Redeperspektive mehrmals: auf eine allgemein-belehrende Rede in der dritten Person Singular (Strophe VI), in der mit Berufung auf die Autorität der Bibel die größten Gefahren für das Seelenheil der Menschheit benannt werden, folgt eine Strophe im Wir-Gestus (VII), die zur Abkehr von weltlichen Dingen auffordert. In den Strophen VIII-X wird die Rede an eine einzelne Person in der zweiten Person Singular inszeniert (VIII, 5: o fratel; „O Bruder“): Man darf meines Erachtens an dieser Stelle mit einem Spiel zwischen fiktiver und realer Kommunikation rechnen, die rhetorische Adresse an einen „Bruder“ als eine Wendung an ein einzelnes Mitglied der Bußbruderschaft – stellvertretend für alle? – sehen.
|| 21 Wörtlich: „die (Geld-)Summe“.
184 | Claudia Händl Auffallend ist die Kampfmetaphorik, die diese Strophen durchzieht: Ein gottgefälliges Leben besteht aus einem ständigen Kampf gegen die Versuchungen der Welt und seiner Personifizierung im Teufel, für den der Mensch gerüstet sein muss, wenn er als Sieger hervorgehen will (VI, 1: nimici, „Feinde“; VI, 5: armadura, „Rüstung“ 22). Wer siegt, kann Gottes Liebe sicher sein und hinsichtlich seines Seelenheils zuversichtlich sein. Es ist nicht auszuschließen, dass solche Bilder von Kampf, Verteidigung, Sieg und Niederlage bei einem zeitgenössischen Publikum vor Ort Emotionen wachriefen und die Aufmerksamkeit für die Liedaussage erhöhten, war doch das Leben im mittelalterliche Gubbio insbesondere im 14. Jahrhundert wie auch anderswo in Italien von ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft der einen oder anderen der damaligen konkurrierenden politischen Mächte geprägt. In den folgenden beiden Strophen (XI–XII) wird die Thematik der Eingangsstrophen wieder aufgegriffen, auf die Vergänglichkeit des irdischen Daseins und die Notwendigkeit zu Buße und Umkehr hingewiesen: Em l’altro mondo non s’avoca Puoi che famo partimento; Contrition tardo ci avoca, Ché non ce basta pentimento; Prendiam lo tempo mentre el passa; Beato l’uomo che qui s’abassa. Omni altro tempo è cosa vana Se non de fare penetenza; Quell’è la via directa e piana Per andare all’alegreza Delli angioli e delli sancti A audire qui dolci cancti. („In der anderen Welt verteidigt man sich nicht, / wenn wir dereinst von hinnen gehen. / Tiefe Reue und Zerknirschung [jetzt] verteidigt uns später, / einfache Reue allein genügt nicht. / Nutzen wir die Zeit, während sie vergeht. / Selig ist der Mensch, der sich im Diesseits erniedrigt. // Unnütz ist die Zeit, die man nicht auf Bußübungen verwendet. / Das ist der gerade und ebene Weg, / der zum Freudenort der Engel und Heiligen führt, / wo man süße Gesänge hört.“)
Erneut wird betont, dass der Tod jegliche Möglichkeit zu Reue und Umkehr unwiderruflich ausschließt; im Anschluss an dieses letzte Memento mori wird nun das im Schlussvers der ersten Strophe gegebene allgemeine Heilsversprechen weiter ausgeführt und konkretisiert: wer sich im Diesseits erniedrigt, auf weltliche Freuden verzichtet und seine Zeit mit Bußübungen verbringt, dem steht der Weg ins Paradies || 22 vgl. auch VI, 6: defenderse („sich verteidigen“); VII, 1: vencer („besiegen“); VIII, 1: nemico („Feind“); VIII, 2: combactendo („bekämpfend“); IX, 2: vincitore („Sieger“); IX, 4: perdetore („Verlierer“).
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 185
offen, dem Freudenort, an dem die süßen Gesänge der Engel und der Heiligen erklingen. Auffallend ist, dass bei der Sprechhaltung dieser Strophen das Generalisierende und Allgemeingültige überwiegt; selbst der Wir-Gestus in XI, 2–4 impliziert ein ‚Wir alle‘ im Sinne der gesamten Menschheit, für die im Jenseits die gleichen Regeln gelten. Mit der konkretisierenden Wiederaufnahme der eingangs angesprochenen Thematik schließt sich ein argumentativer Kreis, die Laude scheint zu einem Abschluss zu kommen. Umso überraschender mutet die Wendung an, die in der nächsten Strophe (XIII) erfolgt. An exponierter Stelle, gegen Ende der Laude, wird eine weitere Bedingung für ein gottgefälliges Leben genannt: Die Fähigkeit, dem Nächsten zu vergeben, vervollständigt das Bemühen des Menschen um ein Nachahmen Christi, ein wahres Kind Gottes kann nur werden, wer außer dem kontinuierlichen Kampf gegen Sünde und Versuchung die Bereitschaft zeigt, ihm angetanes Unrecht zu vergeben: O partito sí esmensurato Che fa dio al peccatore: Filgliol de Dio seray chiamato Si serai buom perdonatore: Chi ce prende fa tal camgno, Nom può far magior guadagno. („O der unermessliche Vorteil23, den Gott dem Sünder bietet! Ein Sohn Gottes wirst du genannt werden, / wenn du angemessen zu vergeben weißt. / Wer anderen angemessen vergibt24, macht einen guten Tausch / und kann keinen größeren Gewinn haben.“)
Die Forderung, dem Nächsten Vergebung für erlittenes Unrecht zu gewähren, um die Gnade Gottes zu erwirken, steht auch in der oben besprochenen Laude Piatoso Padre, eterno Dio an exponierter Stelle und ist dort der Muttergottes in den Mund gelegt (V. 79). Während es sich jedoch dort um eine einfache, aber klare Aufforderung handelt, wird hier mit Hilfe von kaufmännischen Termini nachdrücklich auch auf die Vorteile eines solchen Verhaltens hingewiesen (XIII, 1: partito, „Vorteil; Schuldverschreibung“; XIII, 5: camgno, „Tausch(geschäft)“; XIII, 6: guadagno, „Gewinn“). Ich möchte die Wortwahl in diesen Versen als mögliche Rückbindung an die Realität der Bußbruderschaft sehen: Gubbio war bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts eine freie Stadt, in der Kunsthandwerk und Handel eine bedeutende Rolle spielten und zum täglichen Leben vieler Einwohner gehörte. Die Bereitschaft zur Vergebung wird als Verhalten dargestellt, das sich wie eine gut überlegte Investition zur gegebenen Zeit auszahlen wird. || 23 Wörtlich: „Anleihe, Schuldverschreibung“. 24 Wörtlich: „Wer ein guter Vergeber ist“.
186 | Claudia Händl Die folgende Strophe (XIV) ist der Liebe zu Gott gewidmet; die Verbundenheit mit Gott allein kann das Heil der Menschheit garantieren: Dio a noi el cuor dimanda, Nulla altra cosa en lui contiene, Sem formati de tal vivanda; Tosto chi è emvitato viene, Beato è el cuor ch’à Dio con seco, Ché sempre sta iocondo e lieto. („Gott fordert von uns unser Herz, / nichts anderes nimmt er in sich auf, / wir sind für diese Speise gemacht; / wer eingeladen ist, kommt sogleich, / selig ist das Herz, welches Gott bei sich hat, / denn immer ist es froh und heiter.“)
Mit dieser im Wir-Gestus präsentierten Vorstellung von der Verbundenheit mit Gott wird der Diskurs in die pragmatische Situation des gemeinsamen Gebets zurückgeführt, der Bezug auf das hic et nunc der Bußbruderschaft in der Folgestrophe (XV) konkretisiert: O cortese Yhesú Christo, Tu che spire omni emtellecto, Fanne far de te acquisto; Riscalda noi del tuo effecto; Resguarda a questa conpagnia, Diriççala per la tua via. („O barmherziger Jesus Christus, / der du jedem seinen Verstand einhauchst, / gib, dass er dazu gebraucht wird, dich zu gewinnen. / Wärme uns mit deiner Zuneigung. / Schau auf diese Bußbruderschaft herab, / führe sie auf deinen Weg.“)
Auf diese Bitte an Christus um die nötige Einsicht für die Mitglieder der Bruderschaft, den Weg zum ewigen Seelenheil zu finden, folgt in der Schlussstrophe (XVI) eine abschließende Wendung an die Bußgemeinde mit der Aufforderung, sich bei Gott für den Verfasser der Laude zu verwenden: Voi chʼavete lecto e enteso, Pregate Dio per chi la fece Che de lo inferno sia defeso Per le vostre sancte priece: Mortal peccato mai non faccia, E quel ch’à facto sí ’l desfaccia. („Ihr, die ihr gelesen und gehört habt, / bittet Gott für den, der sie [die Laude] verfasst hat, / dass er vor der Hölle bewahrt werde / aufgrund eurer frommen Gebete. / Möge er nie eine Todsünde begehen / und das, was er verbrochen hat, wieder ungeschehen machen.“)
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Der erste Vers dieser Strophe enthält einen wichtigen impliziten Hinweis auf mögliche sekundäre Rezeptionsformen dieser Laude: In dem Moment, in dem die Laude, deren ursprüngliche Rezeptionsform der Vortrag im Rahmen der Zusammenkünfte der Bußbruderschaft ist, in eine Laudensammlung aufgenommen worden ist, kann über die ursprüngliche Verwendung in der Mündlichkeit hinaus sowohl mit Lesern als mit Zuhörern eines vorgelesenen Textes gerechnet werden. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die letzte (und vielleicht auch die vorletzte) Strophe in der Regel nicht zur Aufführung gelangte und es sich unter Umständen gar um einen späteren, der Schriftlichkeit vorbehaltenen Zusatz handelt. Die Inszenierung des Diskurses in dieser Laude verdient eine abschließende Betrachtung. Schneegans zählt dieses Beispiel zu den italienischen Bußliedern, „welche die Flagellanten wohl im Chore singen mochten“,25 doch legt der oben aufgezeigte ständige Wechsel zwischen Wir-Gestus, Anrede in der zweiten Person Singular an einen Einzelnen (sowohl als Individuum als auch generalisierend als Mensch schlechthin) oder in der zweiten Person Plural an eine – implizite oder reale – Gruppe von Personen oder aber verallgemeinernde Aussagen in der dritten Person eher einen Wechselgesang nahe, in dem abwechselnd ein oder mehrere Vorsänger und die gesamte Gemeinde bzw. größere Gruppen von anwesenden Büßern zu Wort kommen. Obwohl es in diesem Fall keine paratextuellen oder extratextuellen Hinweise auf eine konkrete historische Realisierung in der Mündlichkeit gibt, darf man davon ausgehen, dass der mündliche Vortrag – gegebenenfalls in verteilten Rollen – die primäre Rezeptionsform dieser Laude innerhalb der Bußbruderschaft von Gubbio darstellte, ob als Gemeindelied im Rahmen der Bußliturgie innerhalb des engeren Kreises der Bußbrüder oder als Prozessionslied bei öffentlichen Geißelumzügen, wie das Zeugnis Salimbenes für die Lieddichtung der Flagellanten suggeriert,26 oder auch beides, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären; der Gebrauch des Konditionals an den Stellen, an denen von Geißelumzügen die Rede ist (II, 5–6; IV, 5–6), spricht eher für die erstere Möglichkeit.
3 Überlegungen zu den deutschen Geißlerliedern Die Tradition der deutschen Geißlerlieder im Kontext der mittelalterlichen Bußbewegungen im deutschsprachigen Gebiet gilt als relativ gut aufgearbeitet; während frühere Arbeiten literarhistorische Fragestellungen weitgehend vernachlässigen27
|| 25 Schneegans 1900, S. 66. 26 Siehe oben S. 166 und Anm. 3. 27 Dies trifft vor allem auf Förstemann 1828 zu, der die Zeugnisse für die europäische Geißlerbewegung erstmals umfassend zusammenstellt.
188 | Claudia Händl bzw. kulturhistorischen Aspekten den Vorzug geben,28 liegt seit der auch heute noch grundlegenden Untersuchung Arthur Hübners von 193129 eine nützliche philologische Basis für ihre Erforschung vor, die im Jahr 1935 durch Joseph Müller-Blattaus Untersuchungen zu den Melodien ergänzt wurde. 30 Mehrere neuere Arbeiten widmen sich weiterhin kultur- und sozialhistorischen Aspekten,31 doch zeugen zwei neuere Editionen auch von einem zunehmenden textphilologischen Interesse der Forschung an dieser Liedproduktion.32 In neuerer Zeit ist zudem ein wachsendes Interesse an rezeptionsästhetischen Fragestellungen, zumindest, was die sogenannte Geißlerliturgie betrifft, zu beobachten.33 Daneben besteht weiterhin ein Interesse an sozial- und kulturhistorischen Aspekten der Geißlerbewegung, was sich unter anderem in einer neueren umfangreichen Arbeit zu den Kryptoflagellanten im spätmittelalterlichen Thüringen manifestiert.34
3.1 Der Überlieferungskontext der Lieder und ihr Platz im Geißlerritual Anders als die italienischen Geißlerlieder, die in speziellen Liedersammlungen, den sogenannten laudarie, überliefert sind, sind die deutschen Geißlerlieder in der Regel im Rahmen chronikalischer Berichte über das Phänomen der Geißlerbewegungen aufgezeichnet worden, finden sich also in einem historiographischen Überlieferungskontext.35 Der erste Beleg eines deutschen Geißlerlieds geht auf das Jahr 1261 || 28 Dies gilt trotz der unleugbaren Verdienste der Autoren für die Erforschung der Geißlerlieder im Rahmen der europäischen Literaturgeschichte auch für Pfannenschmid 1900 und die darin enthaltenen Beiträge von Runge und Schneegans. 29 Hübner 1931. Dass die neuere Forschung Hübners Einschätzung der deutschen Geißlerlieder als anonyme geistliche Volkslieder zu Recht zurückweist, tut dem generellen Nutzen des von ihm aufbereiteten Materials keinen Abbruch. 30 Müller-Blattau 1935. 31 Siehe v.a. Graus 1987/31994; Erkens 1999; Largier 2001; Marschall 2002; Bruggisser-Lanker 2010, S. 255–269. 32 Siehe Lütold 2005 und Proto 2007; insbesondere Lütold berücksichtigt bei seiner Ausgabe den früher eher vernachlässigten musikalischen Aspekt dieser Tradition. 33 Siehe v.a. Koelliker 1997 und Becker 2013. Ich danke Anja Becker für die Überlassung der Manuskriptfassung ihres Beitrags. 34 Würth 2012. 35 Ausnahmen sind die erste Strophe des Maria-Ruflieds Maria muoter raîne maît, die auch in nichtchronikaler Überlieferung in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts belegt ist, und zwar auf der Recto-Seite des Vorsatzblattes des Cod. 168 der Stiftsbibliothek Admont (vgl. Janota 1968, S. 219, Anm. 1047) und eine niederdeutsche Fassung des Leis Nu tret herzů der b=ssen welle, die auf der Innenseite des Vorderdeckels einer lateinischen Pergamenthandschrift medizinischen Inhalts aus dem 14. Jahrhundert eingetragen ist und heute zusammen mit einer auf der Innenseite des Hinterdeckels dieser Handschrift niedergeschriebenen ‚Minnemäre‘ bzw. einem Fasnachtsspiel (vgl. zur
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zurück: Es handelt sich um die Aufzeichnung der Anfangsverse eines Lieds in der Volkssprache in einer Wiener Chronik in lateinischer Sprache im Anschluss an einen knappen Bericht über das Auftreten eines Geißelzuges: Ir slaht euch sere in Christes ere. Durch Got so lat die sunde mere.36 („Ihr geißelt euch heftig Christus zu Ehren. / Aus Liebe zu Gott unterlasst fortan die Sünden.“)
Die Hauptquellen der deutschen Geißlerlieder des 14. Jahrhunderts sind das Chronicon des Hugo Spechtshart von Reutlingen, die Straßburger Chronik des Fritzsche Klosener, die Magdeburger Schöppenchronik und die Limburger Chronik des Tileman Elhen von Wolfhagen; dazu kommt der oben (Anm. 35) erwähnte Textzeuge einer niederdeutschen Fassung des Hauptleis der deutschen Geißlerbewegung. Als wichtigste und umfassendste Quellen für die von den Geißlern gesungenen Lieder und die von ihnen praktizierten Rituale im historischen Kontext ihres Gebrauchs gelten das Chronicon Hugos und die Straßburger Chronik Kloseners. Hugos in lateinischen Hexametern verfasste und in einer autographen Handschrift überlieferte Chronik37 ist in zwei Bücher aufgeteilt; das erste Buch wurde im Herbst 1347 abgeschlossen, die Arbeit am zweiten Buch im gleichen Jahr nach gut 60 Hexametern, wohl krankheitsbedingt, unterbrochen und erst im Sommer 1349 wieder aufgenommen. Dass Hugo ein besonderes Interesse an der Geißlerbewegung hatte, legt der breite Raum nahe, den er dem Thema widmet: In den Hexametern II, 224–349 (f. 28r–30v) beschreibt er das Phänomen detailliert, zeichnet im Anschluss die von den Geißlern verwendeten volkssprachlichen Lieder samt Melodien auf (f. 30v–36r) und kommt nach einem Themenwechsel (Probleme des Schulwesens, Hexameter II, 350–464) in den Hexametern II, 465–482 (f. 19r–39v) nochmals kritisch Bilanz ziehend auf die Geißlerbewegung zurück. Beschrieben werden Anhänger und Organisation der Bewegung, die Rituale und die besonderen Verhaltensregeln der Geißelbruderschaften. So berichtet Hugo, dass die Bewegung ihren Namen von der vorgeschriebenen Selbstgeißelung als Bußakt hat; zu diesem Zweck führt jeder Büßer auf den Bußfahrten eine Geißel mit sich (II, 250f.). Die Mitglieder der Geißelbruderschaften rekrutieren sich nach Hugos Zeugnis aus Priestern, Grafen, Rittern, Junkern, Gelehrten, Mönchen, Stadtbürgern, Bauern und Scholaren (II, 252–254). Wer sich der Bewegung anschließen will, muss zuvor seine Sünden || Gattungsbezeichnung Simon 2004) in der Volkssprache in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt ist (Berlin, mgq 671; Textabdruck bei Hübner 1931, S. 115–118). 36 Wattenbach 1851, S. 728. 37 St. Petersburg, Russische Nationalbibliothek, cod. RF-SPnLat.Ov.XIV No 6. Zur Handschrift siehe Gillert 1880, S. 262–265; für den Text des chronikalischen Teils stütze ich mich im Folgenden auf die Ausgabe Gillert 1881, der die Einteilung des Chronikon in zwei Bücher beibehält (I/II) und die Hexameter durchzählt.
190 | Claudia Händl beichten und begangenes Unrecht wiedergutmachen (II, 318–321). Die einzelnen Bruderschaften werden jeweils von zwei Magistern geführt,38 deren Anweisungen strikt Folge zu leisten ist (II, 328f.). Ihre Prozessionen sind in Zweierkolonnen organisiert, dem Zug werden mit dem Kreuzeszeichen versehene Fahnen vorangetragen (II, 330). Die Teilnehmer an den Geißlerzügen sind nach einer einheitlichen Kleiderordnung ausgestattet, wobei den auf Mäntel und Hüte aufgenähten Stoffkreuzen als Zeichen Christi besondere Bedeutung zukommt (II, 235–238). Jede Bruderschaft ist dreiunddreißigeinhalb Tage unterwegs, gemäß den Jahren, die Christus auf der Erde verbracht hat; ein täglicher Orts- oder Quartierwechsel ist Vorschrift (II, 255–263). Täglich wird das Bußritual der Selbstgeißelung durchgeführt: zweimal tagsüber in der Öffentlichkeit, ein weiteres Mal nachts im Schlafquartier. Das öffentliche Ritual läuft nach einem festgelegten Schema ab: Unter Absingen ihrer Lieder geißeln sich die Bußwilligen mit entblößten Füßen und Oberkörpern, ohne Mantel aber mit Hut, während sie im Kreis herumgehen, und werfen sich zuletzt in Form eines Kreuzes zu Boden. Dieses Ritual wird drei Mal wiederholt (II, 264–278). Am Freitag wird die öffentliche Geißelbuße drei Mal vollzogen, dazu wird gefastet (II, 298–300). Hugo informiert sein Publikum darüber hinaus über die zentrale Bedeutung der Sonntagsheiligung (II, 292) und über eine Reihe von Vorschriften, die den übrigen Tagesablauf einschließlich den Gang zur Toilette bis ins kleinste Detail reglementieren. Schließlich wird beschrieben, wie sich der Einzug einer Geißelbruderschaft in eine Stadt gestaltet, unter Glockenläuten und dem Staunen einer schnell zusammengelaufenen Menge von Stadtbewohnern (II, 334–340). Die Schilderung Hugos scheint auf Ereignisse zurückzugehen, die er selbst als Augenzeuge bei der Anwesenheit eines Geißlerzugs in seiner Stadt erlebt hat, doch lässt sich dies aus heutiger Sicht nicht mehr eindeutig feststellen. Für eine direkte Augen- (und Ohren-)Zeugenschaft spricht die Tatsache, dass Hugo, der auch als Autor eines mehrfach überlieferten musikwissenschaftlichen Traktats, der Flores musicae,39 hervorgetreten ist, nicht nur den Text der Geißlerlieder, sondern auch ihre Melodien aufzeichnet. Auch Kloseners etwa ein Jahrzehnt nach den Ereignissen aufgezeichnete Bericht in der Straßburger Chronik anlässlich der Anwesenheit eines Geißlerzugs in Straßburg im Juli 1349 informiert im Detail über Rituale und Gesänge der Geißlerbewegung, wobei der Chronist sich, wie Hugo, als Augenzeuge präsentiert,40 auch wenn nicht auszuschließen ist, dass er sich unter Umständen auf Schilderungen und Berichte anderer oder gar auf schriftliche Quellen stützte. Im Zentrum seiner Schilderung steht das von dem zentralen Leis begleitete Geißelungsritual41 und die
|| 38 Im Ausnahmefall kann die Führung auch einem einzigen Magister anvertraut werden. 39 Zu Leben und Gesamtwerk Hugos siehe zusammenfassend Bodemann 1995, S. 35–40. 40 Für den Text des chronikalischen Teils, der die Geißlerbewegung von 1349 betrifft, stütze ich mich im Folgenden auf die Ausgabe Hegel 1870, S. 105–120. 41 Hegel 1870, S. 107–111.
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Geißlerpredigt.42 Klosener, der sich im Gegensatz zu Hugo für seinen chronikalischen Bericht der Volkssprache bedient, überliefert uns in diesem Zusammenhang nicht nur zwei der vier vollständig bekannten Lieder,43 sondern auch eine volkssprachige Fassung des Himmelsbriefs, der das Kernstück der sogenannten Geißlerpredigt darstellt. Im Anschluss an die Schilderung der örtlichen Vorgänge in Straßburg anlässlich des konkreten Falls eines Geißlerzuges in der Stadt nimmt Klosener kritisch zu der Geißlerbewegung im Allgemeinen Stellung. Während die Geißelbrüder zu Beginn der Bewegung großen Zulauf gehabt hätten, sollen sich bald zwielichtige Gestalten unter die frommen Büßer gemischt und die Freigebigkeit und Gastfreundschaft der Stadtbürger schamlos ausgenutzt haben. Scharlatane hätten sich als Wunderheiler, Exorzisten und Totenerwecker produziert. Besonders kritisch beurteilt Klosener die Bildung eigener Geißelzüge von Frauen und Kindern, die zu einem Sinneswandel in der Straßburger Stadtbevölkerung geführt hätten, die nun nicht mehr bereit gewesen sei, die Geißler mit Almosen und Gastfreundschaft zu unterstützen. Als nun auch der im Zentrum der Geißlerpredigt stehende Himmelsbrief als Fälschung entlarvt worden sei und die Geistlichkeit das öffentliche Sündenbekenntnis im Rahmen des Geißlerrituals als ‚Laienbeichte‘ eingestuft und als ketzerisch angeprangert habe, habe der Straßburger Bischof schließlich ein allgemeines Verbot öffentlicher Auftritte von Geißelbruderschaften verhängt. So kam nach den Worten Kloseners die Bewegung zu einem raschen Ende, und zwar nicht nur in Straßburg, sondern auch in anderen Städten am Rhein und vielen anderen Gegenden Deutschlands. Die detaillierten Schilderungen der Chronisten spielen in der bisherigen Forschung eine wichtige Rolle bei dem Versuch, die genauere Funktion von einzelnen Geißlerliedern zu bestimmen. So kann man nach Ausweis der historiographischen Zeugnisse zwischen Liedern, die auf der Bußfahrt oder beim Einzug in einen Ort, auf dem Weg zum Geißelungsritual bzw. beim Auszug gesungen wurden, und solchen, die den Bußakt selbst begleiteten, unterscheiden. In einigen Chroniken werden von bestimmten Liedern nur die Eingangsverse zitiert, was man als Hinweis auf eine breitere Bekanntheit der Lieder verstehen kann. Eine klare Unterscheidung zwischen eigens für den Zweck der Bußfahrt verfasste deutsche Geißlerlieder und von den Geißlern benutzte geistliche Lieder mit ursprünglich anderer Funktion ist nur im Ausnahmefall möglich. So kann von den vier vollständig erhaltenen Liedern eigentlich nur die sogenannte Geißlerliturgie als Geißlerlied in strengen Sinne bezeichnet werden,44 obwohl auch das Lied Nu ist dîu betfart so here, das nach Zeugnis der Chronisten von den Geißlern sowohl als Ein-
|| 42 Hegel 1870, S. 111–117. 43 Die Lieder Nu ist dîu betfart so here und Nu tret herzů der b=ssen welle. 44 Siehe Steer 1980, S. 1153.
192 | Claudia Händl zugsleis als auch nach Beendigung des öffentlichen Geißelrituals gesungen wurde, in engem Zusammenhang mit den Ritualen der Geißlerbruderschaften steht: Nu ist dîu betfart so here: Christ raît selber gen Jerusaleme Er fůrt an crétz an siner hant Nu helf uns der hailant! Nu ist dîu betfart so gůt: hilf uns herr durh din haîliges blůt, Dazd an dem crétz vergossen h"st Und uns von dem tôd erl?set hast; Daz an dem crétz vergossen hast Und uns in dem ellind gelassen hast. Nu ist dé strass also brait, Die uns zeûnserr liebun frown trait In unser liebun vrôwn lant Nu helf [uns der hailant]! Wir séln die půss an uns nemen Daz wir got dester bas gezemen Dert in sines vater rich Dez bitten wir sénder alle gelich Dez bitten wir den hailigen crist Der aller der welte gewaltig ist Vnt bitten wir den hailigen gaist, umm cristann gel?ben aller maist. 45
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(„Diese Wallfahrt ist so heilig: / Christus selbst zog in Jerusalem ein, / er trug ein Kreuz in der Hand. / Nun möge der Heiland uns helfen! // Diese Wallfahrt ist so nützlich: / Hilf uns, Herr, um dein heiliges Blut willen, / welches du am Kreuz vergossen hast / und uns vom Tod erlöst hast, / welches du am Kreuz vergossen hast, / und uns im Elend zurückgelassen hast. // Nun ist diese Straße auf solche Weise vorbereitet, / die uns zu unserer lieben Herrin bringt, / in das Reich unserer lieben Herrin. / Nun möge der Heiland uns helfen! // Wir sollen die Buße auf uns nehmen, / damit wir Gott umso würdiger sind / dort im Reich seines Vaters. / Darum bitten wir Sünder alle gleichermaßen, / darum bitten wir den heiligen Christus, / der über die ganze Welt herrscht, / und bitten den Heiligen Geist / mehr als alles andere um den christlichen Glauben.“)
Durch die Thematisierung des Einzugs Christi nach Jerusalem (V. 2f.) und des Vergießens von Christi Blut für die Menschheit (V. 6–9) legitimieren die Geißler sich, indem sie auf die Parallelen ihres Tuns mit Christi Passion hinweisen. Daraufhin wird die Muttergottes einbezogen (V. 11–13), die nach Ausweis der Geißlerpredigt durch ihre Fürbitte bei ihrem Sohn die Möglichkeit zu Buße und Vergebung für die Menschheit erwirkt hat. Die Schlussverse drücken die Bußbereitschaft der Geißler aus und bereiten die eigentliche Bußhandlung vor, die mit Hilfe des auch als Geiß|| 45 Ich zitiere den Text nach der online publizierten Ausgabe Proto 2007, S. 71–73. Proto 2014 bietet in gedruckter Form einen identischen Text.
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lerliturgie bezeichneten Leis Nu tret herzů der b=ssen welle in Szene gesetzt wird, worauf in Kloseners Beschreibung der Bußrituale der Geißler eine Wiedergabe der Geißlerpredigt folgt. Zwei weitere vollständig überlieferte Geißlerlieder, das Maria-Ruflied Maria muoter raîne maît mit Fürbittcharakter und das Maria-Prozessionslied Maria unser frowe, ein strophenreicher Ruf epischen Inhalts, gelten als Fahrtenlieder und könnten auf der Bußfahrt selbst oder als Ein- oder Auszugslieder gesungen worden sein, sind also für ein näheres Verständnis der Inszenierung der Geißelbuße und der Wirkung des inszenierten Rituals auf ein zeitgenössisches Publikum weniger wichtig.
3.2 Zur Funktion der sogenannten Geißlerliturgie Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht eindeutig die sogenannte Geißlerliturgie, die nach Ausweis der deutschen Quellen die öffentlich inszenierte Geißelbuße begleitete. Insbesondere die Hinweise in der Überlieferung auf die pragmatische Einbindung dieses Leis hat mehrfach das Interesse der Forschung auf sich gezogen, von den Überlegungen Arthur Hübners zur mitgestaltenden Rolle des Publikums (1931) über Beat Koellikers Interpretation des Geißelakts als Schauspiel zur Bekehrung der Zuschauer (1977) bis zu Anja Beckers Bewertung der Einbettung des Lieds in den rituellen Kontext als Wechselspiel von imaginativer und pragmatischer Theatralität (2013). Wenn ich im Folgenden einige Aspekte wiederaufnehme und weiterführe, so geschieht dies vor allem in der Absicht, die Besonderheit der pragmatischen Einbindung des als Hauptleis der deutschen Geißlerbewegung geltenden Lieds aufzuzeigen. Der Leis gliedert sich, wie der in den zeitgenössischen Zeugnissen beschriebene Geißelakt selbst, in drei Teile, die von einem sich nach jedem Abschnitt wiederholenden Zwischenstück abgeschlossen werden; die fünf Einleitungsverse gehen der Geißelung voran. Vorherrschende Thematik ist das Bußsakrament, das aus der Perspektive der am Ritual beteiligten Geißler und eines impliziten Publikums beleuchtet wird. Im Liedvollzug werden Sündenbewusstsein, Reue und Bußbereitschaft sowohl der Geißler als auch – unterstellend – der Zuschauer darstellbar, wobei zwischen den Geißlern, die für sich und stellvertretend für andere Buße tun, den bußwilligen und den verstockten Sündern unter den Zuschauern zu differenzieren ist. Der Geißelakt ist so zugleich Bußübung und Schauspiel zur Bekehrung der Zuschauer.
194 | Claudia Händl Klosener antizipiert zwei Verse des Mittelstücks des Leis anlässlich seiner Schilderung des Geißelrituals,46 die seiner Aufzeichnung des Liedtextes vorangeht. Die Wiedergabe des Lieds leitet er mit folgenden Worten ein: nů ist der leiß oder leich den sü sungent („Hier folgt der Leis oder Leich, den sie sangen“)47 und unterbricht in der Folge die Niederschrift des Leis mehrmals, um Details zu der von ihm geschilderten Aufführung zu liefern. Die Einleitungsverse setzen mit einer generellen Aufforderung an alle Bußwilligen ein, vorzutreten und am Geißelritual teilzunehmen. Diese Aufforderung, allem Anschein nach den beiden Vorsängern in den Mund gelegt, die das Lied nach Ausweis Hugos im Wechselgesang mit der gesamten Bußgemeinde vortrugen, kann auf mehreren Ebenen gelesen werden: als Wendung an ein vom Verfasser des Lieds anvisiertes implizites Publikum, als Aufforderung an alle versammelten Geißelbrüder in der historischen Aufführungssituation, die Hugos chronikalischen Bericht ausgelöst hat, und schließlich adressiert an alle umstehenden Personen, die sich in der historischen Situation eingefunden haben, um dem Tun der Geißler zuzusehen. In diesem Sinne schließt der folgende Wir-Gestus (V. 2ff.) sowohl die Geißelbrüder als auch ihr jeweiliges Publikum in der konkreten – und wiederholbaren – Aufführungssituation ein: Nu tret herzů der b=ssen welle Fliehen wir dîe haissun helle Lucifer ist b=s geselle Wen er behapt Mit bech erlapt Dez fliehen wir in Hab wir den sin (V. 1–7)48 („Jetzt komme herbei, wer büßen will! / Lasst uns die heiße Hölle meiden. / Luzifer ist ein schlechter Freund; / wen er in seiner Gewalt hat, / den labt er mit Pech. / Deshalb mögen wir ihn fliehen, / wenn wir Verstand haben.“)
Die Geißelbuße wird so von Anfang an als wirkungsvolles Mittel propagiert, der ewigen, in Luzifer personifizierten Verdammnis zu entgehen. Erst auf diese Einleitungsverse, die Hugo zusammen mit der dazugehörigen Melodie aufzeichnet, folgt die Schilderung des Chronisten, wie das Absingen des Lieds im Zusammenspiel mit dem Geißelritual im Einzelnen erfolgte: Wenn die Geißler sich geißeln wollten und ihren Oberkörper freigemacht hatten, begannen sie die || 46 Hegel 1870, S. 106,3–4: Jhesus wart gelabet mit gallen, / Des sullen wir an ein krütze vallen („Jesus wurde mit Galle gelabt. / Deshalb sollen wir in Kreuzesform niederfallen.“) 47 Hegel 1870, S. 107,29. Zu den Gattungsbezeichnungen Leich und Leis, die Klosener als Synonym benutzt, siehe Apfelböck 1991, S. 110–113. 48 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Proto 2007, S. 93–100, die als Leithandschrift die St. Petersburger Handschrift gewählt hat. Vgl. auch Proto 2014, S. 93–100.
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Strophen des Leis nach der vorgegeben Melodie im Wechselgesang zwischen zwei Vorsängern und der restlichen Bußgemeinde zu singen.49 Dann erst beginnt die Aufzeichnung des eigentlichen Leis mit dem ersten Geißelumgang, der die Verse 8–38 umfasst. Der unserr bůzze welle pflegen Der sol gelten vnd widergeben Er biht und lass die sénde uarn So wil sich got vͥbr in erbarn (V. 8-11) („Wer sich unserem Bußritual unterziehen möchte, / der soll Entschädigung leisten und [zu Unrecht Erworbenes] zurückgeben. / Er möge beichten und von der Sünde ablassen; / dann wird sich Gott seiner erbarmen.“)
Die in den Eingangsversen aufgebaute Spannung zwischen dem generalisierenden Einbezug aller Bußwilligen und dem Wir-Gefühl der konsolidierten Gruppe der Geißelbrüder wird weiterhin aufrechterhalten: Das Bußritual der Geißler, dessen Exklusivität durch das Possessivpronomen unserr (V. 8) unterstrichen wird, steht unter Einhaltung gewisser Bedingungen auch anderen Bußwilligen offen, um Gottes Gnade zu erhalten. In den folgenden Versen wird der Tod Christi am Kreuz als ein in der Vergangenheit geschehenes Ereignis berichtet, durch die Betonung des dabei geflossenen Bluts wird die Verbindung zwischen der ‚historischen‘ Begebenheit in der Vergangenheit und dem hic et nunc der aktuell vollzogenen Geißelung hergestellt: Jesus crist der wart geuangen An ain crétz wart er gehangen Daz crétz daz wart dez blůtes rot Wir clagen gots marter und sinen tot Durch got vergiess wir unser blůt Daz ist uns fér dîe sénde gůt Dez hilf uns lieber herre got Des bitt dich durh dinen tot (V. 12–19) („Jesus Christus wurde gefangen genommen, / an ein Kreuz wurde er geschlagen. / Das Kreuz wurde rot von Blut. / Wir beklagen das Leiden Gottes und seinen Tod. / Aus Liebe zu Gott vergießen wir unser Blut; / das nützt uns gegen die Sünde. / Dazu stehe uns bei, lieber Herrgott, / darum bitten wir dich um deines Todes willen.“)
Auffallend ist der Unterschied in der Perspektive: Die Passion Christi wird in der dritten Person, im Präteritum und im Passiv dargestellt, die Bußriten der Geißler werden hingegen in der ersten Person Plural, im Präsens und im Aktiv geschildert: Das damalige ‚Geschehen‘ kann nicht rückgängig gemacht werden, in der aktuellen || 49 Siehe Gillert 1881, S. 58.
196 | Claudia Händl Situation ist hingegen Raum für aktives Handeln und somit auch für Buße und Umkehr. Die aktive Bußhandlung, die im Lied thematisiert und gleichzeitig in der Aufführung vollzogen wird, erscheint als Legitimation, sich nun direkt an Gott um Hilfe zu wenden. Weder Hugo noch Klosener machen Angaben dazu, von wem die oben zitierten Verse in der von ihnen bezeugten ‚historischen Aufführung‘ gesungen wurden. Denkbar ist ein Vortrag sowohl der Vorsänger als auch der gesamten Bußbruderschaft; vor allem für die beiden Verse mit der Anrufung Gottes, die in der Folge mehrmals refrainartig wiederholt werden, ist ein chorartiger Vortrag gut denkbar. Die gebetsartige Wendung an Gott bleibt nicht ohne Antwort, die folgenden Verse werden Christus in den Mund gelegt, eine fiktive Dialogsituation inszeniert, bei der ein Mitglied der Bußgemeinde, wohl einer der beiden Vorsänger, die Rolle Christi übernahm. Der Sänger in der Rolle Christi wendet sich nun in der zweiten Person an den einzelnen Sünder, stellvertretend für alle, und stellt zunächst in Frage, dass die in Szene gesetzte Bußhandlung seiner Passion angemessen ist beziehungsweise das Ausmaß der Bußbereitschaft erkundet: Sénder wa mit wilt du mir lonen Dri nagel vnd an dérnin cronen Daz crétze fron · an sper · ain stich · Sénder daz laid ich als durch dich Waz wilt du nu liden durh mich (V. 20–24) („Sünder, womit willst du es mir vergelten? / Drei Nägel und eine Dornenkrone, / das heilige Kreuz, eine Lanze, ein Stich, / Sünder, das alles habe ich deinetwillen erlitten. / Was willst du nun um meinetwillen erleiden?“)
Die Antwort auf die an den einzelnen Sünder gerichtete Frage erfolgt im Wir-Gestus, die Geißelbuße als Blutvergießen und somit als imitatio Christi wird als Dienst an Gott dargestellt: So r=fen wir in lutem done Vnsern dienst geb wir zelone Durh dich vergiess wir unser blůt Das [ist uns fér die sénde gůt Dez hilf uns lieber herre got Des bitt wir dich durh dinen tot] (V. 25–30) („So rufen wir laut: / ‚Unseren Dienst geben wir als Vergeltung, / um deinetwillen vergießen wir unser Blut. / Das […].“)
Die Verse 27–30 nehmen den Text der Verse 16–19 wieder auf. Wenn dabei V. 16 (Durch got vergiess wir unser blůt) in V. 27 mit der direkten Anrede an Gott in der zweiten Person Singular (Durh dich vergiess wir unser blůt) variiert wird, so kann dies als Hinweis darauf verstanden werden, dass die – fingierte – Dialogsituation
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zwischen Gott und Büßern nun als konsolidiert gelten kann. Gott scheint mit der Antwort auf seine Frage zufrieden zu sein und verzichtet zunächst auf weitere Nachfragen. Die Relation zwischen Gott und den Bußbrüdern ist sozusagen zugunsten der Büßer geklärt, Gott offensichtlich geneigt, die Selbstgeißelung als angemessene Bußhandlung anzunehmen. Aus der gestärkten Position der Büßer aufgrund einer fehlenden Widerrede Gottes können die Geißelbrüder nun, zumindest in der Liedfiktion, als moralische Instanz auftreten und Lügnern und Meineidigen, die ihre Sünden nicht bekennen, die ewige Verdammnis androhen: Jr lugener ir mainsw=rere Ir sint dem lieben got vmmere Jr bihtend dhaîne sunde gar Dez m=sd ir in die helle varn Da sind ir eweclich verlorn Dar zN so bringt vͥĉh gottes zorn Da vor beh=t uns herre got Dez bit wir dich durch dinen tot. (V. 31–38) („Ihr Lügner, ihr Meineidigen, / ihr seid dem lieben Gott verhasst. / Ihr beichtet überhaupt keine Sünde. / Deshalb werdet ihr zur Hölle fahren, dort werdet ihr auf ewig verloren sein. / Dorthin bringt euch Gottes Zorn. / Davor behüte uns, Herrgott, / darum bitten wir dich um deines Todes willen.“)
Die Wendung an die Lügner und Meineidigen erfolgt in der zweiten Person Plural und ermöglicht so ein Oszillieren zwischen fiktiver Sprechsituation und einer möglichen Publikumsadresse in der realen – wiederholbaren – Aufführungssituation. Von dieser Anklage heben sich wiederum die refrainartigen Schlussverse ab, sowohl in der Sprechhaltung als im Inhalt, auch wenn durch die Variation in Vers 37 (Da vor beh=t uns […] statt Des hilf uns […] in den Versen 18 und 29) ein Nexus zwischen den beiden Teilen hergestellt wird. Für die folgenden Verse (39–48) zeichnet Hugo zwei neue Melodien auf: auf f. 35r für die Verse 39–40 und auf f. 35v für die Verse 41–48. Klosener hingegen schiebt vor den Versen 39–40 folgenden knappen beschreibenden Text ein: Nů knüwetent sü alle nider und spiendent ir arme krutzwise unde sungent:50 („Nun knieten sie alle nieder und streckten die Arme in Kreuzesform aus und sangen:“) Jesus wart gelapt mit gallen Des séln wir an ain crutze uallen (V. 39–40)
|| 50 Hegel 1870, S. 109, 1f.
198 | Claudia Händl („Jesus wurde mit Galle gelabt. / Deshalb sollen wir in Kreuzesform niederfallen.“)51
Im Anschluss an diese Verse unterbricht Klosener die Liedaufzeichnung ein weiteres Mal mit folgendem beschreibenden Text: Nu vielent si sü alle krutzewis nider uf die erde und logent ein wil / do, untz daz die sengere aber anhůbent zů singende. so knüwetent sü uf die / knü und hubent ir hende uf und sungent den sengern noch alse knüwende:52 („Nun warfen sich alle in Form eines Kreuzes nieder auf die Erde und blieben eine Weile da liegen, / bis die (Vor-)Sänger wieder zu singen begannen. Da knieten sie / und erhoben ihre Hände und sangen den (Vor-)Sängern in kniender Stellung nach:“)
Die folgenden Verse (41–48) werden somit nach Klosener in seiner Beschreibung der Aufführungssituation von allen gesungen, auch wenn die interne Sprechsituation des Lieds eher an eine Aufteilung zwischen Vorsängern (V. 41–44) und Bußgemeinde (V. 45–48) denken lässt. Das Lied nimmt nun eindeutig auf das auslösende Moment der Bußbewegung der Geißler, die Pestwelle, Bezug, Gott wird angefleht, die Büßer von ihren Sünden loszusprechen und sie vor einem vorzeitigen Tod zu bewahren: Nu hebent uf die vͥrn hend Daz got daz grozze sterben wend Nu reggen vf die vwrn arm Vm daz sich got ébr uns erbarm Jesus durch diner namen dri Du mach uns herre vor sénden fri Jesus durch dine w[u]nde rot Beh=tt uns vor dem gehen tot (V. 41–48) („Nun reckt eure Hände empor, / damit Gott das große Sterben abwenden möge. / Nun reckt eure Arme empor, / damit Gott sich unser erbarmen möge. / Jesus, um deiner drei Namen willen / mache uns, o Herr, frei von Sünden. / Jesus, um deiner roten Wunden willen / behüte uns vor dem schnellen Tod.“)
Die Aufforderung in der zweiten Person Plural, die Hände zum Gebet zu erheben, um Gott um Erbarmen zu erbitten, ist an die am Geißelritual beteiligten Büßer gerichtet, kann sich aber in einer konkreten – wiederholbaren – Aufführungssituation auch an bußbereite Menschen aus der Zuschauerschaft der öffentlich vorgenommenen Bußhandlungen gerichtet haben. Der Wir-Gestus der Verse 46–48 schließt ent-
|| 51 Der Wortlaut bei Klosener entspricht dem der oben zitierten antizipierten Verse, siehe oben Anm. 46. 52 Hegel 1870, S. 109, 5–7.
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sprechend potentiell auch die Umstehenden und nicht nur die direkt an den Bußriten beteiligten Geißelbrüder ein. Mit dieser gemeinsamen Anrufung Gottes um Hilfe gegen das ‚Plötzliche Sterben‘ ist der erste Geißelumgang beendet, die Zäsur wird sowohl in Hugos als auch in Kloseners Bericht angemerkt. Während Hugo zwischen diesen und den folgenden Versen die einfache Angabe Ad secundam genuflexionem einschiebt, beschreibt Klosener das Verhalten der Geißler in knappen Worten: Nů stundent sü alle uf und giengent umbe den ring sich geschelnde, / alse sü vormols hettent geton, und sungent alsus: („Nun standen sie alle auf und gingen im Kreis herum, während sie sich geißelten, / wie sie es vorher getan hatten, und sangen Folgendes:“)
Mit den folgenden Versen wird nun Maria, eine zentrale Figur im Rahmen der Geißlerbewegung, eingeführt. Nach einem epischen Bericht in der dritten Person über Marien Leiden anlässlich der Passion ihres Sohnes (V. 49–51) werden die Sünder mit einer ‚personalisierten‘ Adresse in der zweiten Person Singular zum Mitleiden aufgefordert (V. 52), um anschließend im Wir-Gestus die Muttergottes direkt, in der zweiten Person Singular, um Fürsprache für die Büßer bei ihrem Sohn zu bitten (V. 53– 54): Maria stůnt in grossen n=tten Do si ir liebes kint sach t=tten An swert ir durch die sele snaît Sénder daz lăs dir wesen laît Dez hilf53 uns maria kunigin Daz wir dins kindes huld gewin (V. 49–54) („Maria stand voller Schmerzen da, / als sie sah, wie man ihren geliebten Sohn tötete. / Ein Schwert durchdrang ihre Seele. / Sünder, das soll dir zu Herzen gehen. / Maria, Königin, hilf uns, dass uns die Gnade deines Sohnes zuteilwerde.“)
Während hier die ‚epische Einleitung‘ sich auf ein länger zurückliegendes ‚historisches‘ Ereignis, die Passion Christi und das Mitleiden der Muttergottes, bezieht, erscheint die ‚epische Einleitung‘ der folgenden beiden Strophen näher an die ‚historische‘ Situation der Büßer gerückt und stellt einen Bezug zu der im Himmelsbrief geschilderten Situation – Zorn Gottes über die sündige Welt und Androhung ihrer Zerstörung einerseits, Einsatz Marias zugunsten der bußbereiten Sünder – her: Jesus růft in himelriche Sinen engeln all geliche
|| 53 Ich verbessere den Druckfehler in Proto 2007 (hild) in das handschriftliche hilf.
200 | Claudia Händl Dé cristenhait wil mir entwichen Dez wil ich lan die welt zergan Da uor beh=tt uns herre got Dez bitt wir dich durch dinen tot
Maria bat ir kint so s=ssen Vil liebes kint la si geb=ssen So wil ich54 schiggen daz si m=ssen Bekeren sich dez bitt ich dich Dez hilf uns Maria [kunigin Daz wir dins kindes huld gewin] (V. 55–66) („Jesus rief im Himmel / all seinen Engeln zu: / ‚Die Christenheit will sich von mir entfernen, / und deshalb werde ich die Welt untergehen lassen.‘ / Davor behüte uns, Herrgott, / darum bitten wir dich um deines Todes willen. // Maria bat ihren Sohn so liebenswürdig: / ‚Lieber Sohn, lass sie Buße tun, / so werde ich es fügen, dass sie sich / bekehren werden. Darum bitte ich dich.‘ / Maria, [Königin, hilf uns, dass uns die Gnade deines Sohnes zuteilwerde.]“)
Anders als in der oben besprochenen italienischen Laude Piatoso Padre, eterno Dio und in den Versen 20–24 des Liedteils, der den ersten Geißelumgang der deutschen Leis begleitet, wenden sich hier in der fingierten Gesprächssituation weder Christus noch die Muttergottes direkt an die Bußgemeinde, es fehlt an dieser Stelle somit die dort in der spezifischen dialogischen Situation angedeutete Akzeptanz der gewählten Bußform und die implizierte baldige Aussicht auf Erhörung der himmelwärts gerichteten Bitten der Bußbrüder; die Notwendigkeit, diese Bitten in der Folge weiterhin am Ende jeder Strophe refrainartig zu wiederholen, erscheint im Fall der Leis entsprechend unverzichtbar, eine Wiederholung der Bußriten in einem weiteren Geißelumgang angebracht, um Gott von der Aufrichtigkeit der Bußbereitschaft der am Ritual Beteiligten zu überzeugen. Wie schon gegen Ende des ersten Umgangs erfolgt in der Abschlussstrophe des zweiten Umgangs eine direkte Anklage wegen einer ganz bestimmten Form von Sünde – wurden zuvor die Lügner und Meineidigen als dem Teufel verfallen dargestellt, wird nun den Ehebrechern die ewige Verdammnis angedroht: Wel man vnd vrôw ir · e · zer brechent Daz wil got selber an si rechen Swebel · bech · vnd ouch die galle Daz gésd der tiefel in si alle Fér war si sint des tiefels spot Da uor beh=tt uns herre got.
|| 54 Ich weiche hier von der Ausgabe Proto 2007 ab, wo das handschriftliche, über der Zeile nachgetragene „dich“ belassen bleibt, und folge Gillert 1881, S. 59 und Lütold 2004, S. 102 die sinngemäß in „ich“ emendieren.
Die mittelalterlichen Geißlerbewegungen | 201 [Dez bit wir dich durch dinen tot] (V. 67–73) („Wenn Mann und Frau die Ehe brechen, / wird Gott dies selbst an ihnen rächen. / Schwefel, Pech und auch Galle / flößt der Teufel ihnen allen ein. / Wahrhaftig, sie sind dem Hohn des Teufels ausgesetzt. / Davor behüte uns, Herrgott, / [darum bitten wir dich um deines Todes willen.]“)
Während die Anklage an die Lügner und Meineidigen als direkte Anrede in der zweiten Person Plural formuliert war und somit die Möglichkeit eines zumindest fiktiven Einbezugs von Sündern auch außerhalb der Bußbruderschaft bestand, ist von den Ehebrechern in der dritten Person die Rede, die Schilderung der für ihre Sünde vorgesehenen Strafe eher als präventive Abschreckung denn als Aufruf zur Umkehr im Kreis der Büßer zu verstehen. Die Vergegenwärtigung dieser Sünde und der ihr folgenden Strafe bedurfte offensichtlich keiner Konkretisierung in der Sprechsituation, im Rahmen der Inszenierung der Geißelriten war die Illustration dieser Sünde offensichtlich weitgehend der Gestik überlassen.55 Darauf folgt V. 74–83 die Wiederholung des oben zitierten Zwischenstücks (V. 39–48); Hugo zeichnet in diesem Fall nur die Anfangsworte mit dem Verweis, dass es sich um eine Wiederholung handelt, auf,56 woraufhin er den dritten Geißelumgang ankündigt (Ad tertiam genuflexionem). Klosener rechnet dem zweiten Umgang noch die Strophe zu, die sich gegen Mörder und Straßenräuber richtet und die bei Hugo als zweite Strophe des dritten Umgangs aufgezeichnet ist. Erst danach unterbricht Klosener, wie schon beim Abschluss des ersten Umgangs, die Aufzeichnung des Lieds zugunsten einer Beschreibung des Verhaltens der Geißler anlässlich des erneuten Absingens des – repetitiven – Zwischenteils, um dann die restlichen Strophen als leich anzukündigen.57
|| 55 Klosener berichtet, dass die Ehebrecher unter den Büßern sich zum Zeichen ihrer Sünde auf den Bauch legten, vgl. Hegel 1870, S. 107, 7–11: und so sü woltent anvohen zu bußende, so leitend sü sich nider an einen witen ring, und wernoch iegelicher gesundet hette, darnoh leit er sich: […] waz er ein ebrecher so leit er sich uf den buch. („und sobald sie anfangen wollten, Buße zu tun, legten sie sich in einem weiten Kreis auf die Erde, und wer irgendeine Sünde begangen hatte, legte sich entsprechend hin […] war er ein Ehebrecher, so legte er sich auf den Bauch.“). 56 Gillert 1881, S. 59: Da vor beh=tt und herre Got, ut supra. / Jesus wart gelapt mit gallen, ut supra usque ad illum locum:/ Maria stůnt etc. 57 Hegel 1870, S. 110, 13–17: Nů knüwentent sü und vielent denne und sungent, und stundent denne / wider uf und hettend alle geberde alse sü vormols hettent gehabet von / dem sange ‚Jhesus der wart gelabet mit gallen‘ untz an den sang ‚Ma- / ria stůnt in großen n=ten‘. so stundent sü danne aber uf und sungent / disen leich sich geischelnde: („Nun knieten sie und warfen sich dann zu Boden und standen dann wieder auf und führten alle Gebärden aus, die sie zuvor mit dem Absingen von ‚Jesus der wurde mit Galle gelabt‘ bis zum Singen von ‚Maria stand voller Schmerzen da‘ ausgeführt hatten. Dann standen sie erneut auf und sangen, während sie sich geißelten, diesen Leich:“).
202 | Claudia Händl Bei Hugo wie bei Klosener erscheint zu Beginn des dritten Teils und somit an prominenter Stelle eine Strophe mit einer Androhung von Höllenqualen und ewiger Verdammnis für die Wucherer: O we dir armer wocherere Dé wag ist dir an tail ze swere Du lihst die mark all vmm ein pfunt Daz zéht dich in der helle grunt Da bist du eweclich verlorn58 [Dar zů so bringt éch gottes zorn Da vor beh=t uns herre got Dez bit wir dich durch dinen tot] (V. 84–91) („O weh dir, elender Wucherer. / Deine Waage ist etwas zu schwer, / du hast die Mark um ein Pfund verliehen. / Das zieht dich in den Höllengrund hinab. / Dort bist du auf ewig verloren, / […]“)
Die Wendung an den Wucherer erfolgt in der zweiten Person Singular, auch ihm werden, wie schon den Lügnern und Meineidigen und den Ehebrechern, Höllenqualen und ewige Verdammnis angedroht; das gleiche Schicksal erwartet Mörder und Wegelagerer, die hingegen wiederum als Gruppe, in der zweiten Person Plural, angesprochen werden: Jr morder vnd ir straz r?bere Diu rede ist iv an tail zeswere Ir went59 ivch vͥber [nieman] erbarn Dez mosd ir in die helle varn Da sint ir eweclich verlorn [Dar zů so bringt éch gottes zorn Da vor beh=t uns herre got Dez bit wir dich durch dinen tot] (V. 92–99)60 („Ihr Mörder und ihr Wegelagerer, / die folgende Rede wird euch betrüben, / ihr wollt euch über niemanden erbarmen. / dafür müsst ihr zur Hölle fahren. / Dort seid ihr auf ewig verloren […].“)
|| 58 Bei Hugo folgt hier statt des vollständigen Textes des refrainartigen Teils folgende Angabe: etc. ut supra in primo: Ir lugenere (Gillert 1881, S. 60). Klosener hingegen kürzt nur um den letzten Vers und kann somit den Refrain der veränderten Sprechsituation – implizite Anrede an einen Sünder in der zweiten Person Singular – anpassen: Derzů so bringet d i c h [Hervorhebung von mir] gottes zorn. / Dovor behFt und, herre got etc. 59 Bei Klosener: wellent. 60 Diese Strophe ist bei Klosener schon vorher, als Abschlussstrophe des zweiten Geißelumgangs, aufgezeichnet, siehe Hegel 1870, S. 110, 8–12.
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Die folgenden Verse thematisieren die Missachtung des Gebots, am Freitag zu fasten und den Sonntag zu heiligen. Es ist bekanntlich ein zentrales Anliegen der mittelalterlichen Bußbewegungen, einer solchen Unterlassung entgegenzutreten, so dass diese Verse in einem Geißlerlied nicht überraschen, zumal dieses Vergehen auch in der Tradition der Himmelsbriefe im Mittelpunkt steht und somit auch in der von Klosener tradierten Geißelpredigt eine wichtige Rolle spielt: Wer den fritag nit enuast(t Vnd den suntag nit enrastet Zwar der mois in der helle pin Vnt eweclich verflůch[t]et sin Da uor beh=tt vns herre got Dez bitt wir dich durh dinen tot (V. 100–105)61 („Wer am Freitag nicht fastet / und am Sonntag nicht ruht, / wahrhaftig, der muss in der Pein der Hölle / und auf ewig verflucht sein. / Davor behüte uns, Herrgott, / darum bitten wir dich um deines Todes willen.“)
Diese generalisierende Anklage mit dem verallgemeinernden Pronomen wer richtet sich zunächst an die Gruppe der Geißelbüßer, kann aber potentiell alle bußbereiten Anwesenden einschließen und mit der Androhung der Höllenpein und ewiger Verdammnis auch in bekehrender Absicht an alle bei der Aufführung Anwesenden, an die Akteure wie an das Publikum, gerichtet sein. Als Warnung richtet sich die Rede nicht nur an die Sünder, die sich dieser Vergehen schuldig gemacht haben, sondern auch an diejenigen, die in Zukunft in Gefahr sein könnten, sich auf diese Weise gegen Gott zu versündigen. Die gleiche Sprechhaltung ist für die folgenden Verse zu beobachten, in der das Thema des Ehebruchs wieder aufgenommen wird, nun als allgemeine Warnung an alle potentiellen Ehebrecher vor Gottes Zorn und der ewigen Verdammnis: Dé e dÉ ist ain raines leben Die hat got selber uns gegeben Der die entert der wirt verlorn Dar zů [so bringt éch gottes zorn Da vor beh=t uns herre got Dez bit wir dich durch dinen tot] (V. 106–111)
|| 61 Klosener zeichnet die Strophen des dritten Geißelumgangs in anderer Reihenfolge als Hugo auf (siehe Hegel 1870, S. 110, 18–111, 10): auf die Wendung an die Wucherer (V. 84–92) folgt die Aufforderung zur compassio mit Christi Leiden (V. 24–131), dann die Ermahnung zur Freitags- und Sonntagsheiligung (V. 100–105), schließlich, als letzte Strophe vor der abschließenden Wiederholung des Zwischenstücks, eine komprimierte Fassung der dem Ehestand (V. 106–111) und dem Hochmut gewidmeten Verse (V. 112– 117); die Strophe zur zentralen Bedeutung von Beichte und Buße fehlt (Verszählung nach Proto 2007).
204 | Claudia Händl („Die Ehe ist ein Stand ohne Sünde, / Gott selbst hat sie uns gegeben. / Wer sie entehrt, der wird verloren sein. […]“)
Wenn hier der Status der Ehe als Sakrament so nachhaltig unterstrichen wird, kann man dies als Hinweis darauf sehen, dass der Ehebruch auch im Umkreis der Geißlerbewegung als schwere Sünde angesehen wurde, die es in öffentlicher Inszenierung anzuprangern galt. Mit einer allumfassenden Wendung an iu vrow und mannen allen, die sowohl die Akteure als auch das Publikum des inszenierten Bußrituals einbeziehen kann, erfolgt eine – wohl einem der Vorsänger in den Mund gelegte – Aufforderung, dem Hochmut zu entsagen. Diese Aufforderung ist als Rat eines Einzelnen („Ich“) an alle formuliert, um Gottes Gunst zu erhalten, wofür nun zusätzlich, unter Wiederholung der Verse 65f., die Hilfe der Muttergottes erfleht wird: Ich ratt iu vrow und mannen allen Daz ir lant die hohfart vallen Durch got so lant die hohfart varn So wil sich got vͥber éch erbarn Dez hilf uns maria k[unigin Daz wir dins kindes huld gewin] (V. 112–117) („Ich rate euch allen, Frauen wie Männern, / vom Hochmut abzulassen. / Gott zuliebe lasst vom Hochmut ab! / Dann wird sich Gott euer erbarmen. / Maria, [Königin, hilf uns, dass uns die Gnade deines Sohnes zuteilwerde.]“).
Auch in den folgenden Versen wird die Ratgeberrolle aufrechterhalten, die vorhergehende Wendung an iu vrow und mannen allen mit der Verbform wissent, einem Imperativ der zweiten Person Plural, wieder aufgenommen: Wissent ouch daz ganzé réwe Wer die hat mit rehter tréwe Mitt biht mit půss mit widergeben Dem wil got gen an ewig leben Dez hilf uns maria kunigen Daz wir dins kindes huld gewin (V. 118–123)62 („Wisst, dass demjenigen, der tiefe Reue, / mit wahrer Aufrichtigkeit zeigt, / mit Beichte, Buße und Wiedergutmachung, / Gott das ewige Leben schenken wird. / Maria, Königin, hilf uns, dass uns die Gnade deines Sohnes zuteilwerde.“)
In der Aufzeichnung Hugos wird an herausragender Stelle, gegen Ende des Liedes, nachdrücklich auf die zentrale Bedeutung von Beichte und Buße hingewiesen: Bekanntlich besteht die theologisch korrekte Beichte, so schon Thomas von Aquin in || 62 Diese Verse fehlen in der Aufzeichnung Kloseners.
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seiner Summa Theologiae (III,90), in confessio oris (vgl. V. 120: biht), contritio cordis (vgl. V. 120: půss) und satisfactio operis (vgl. V. 120: widergeben). Der Verfasser der Geißlerliturgie bemüht sich hier offensichtlich, eventueller Kritik an den Bußriten der Geißler seitens der kirchlichen Obrigkeit wirksam entgegenzutreten. 63 In der letzten Strophe werden die verstockten Sünder zur compassio mit Christus aufgefordert, der Akt der Selbstgeißelung soll nicht allein als Buße für begangene Sünden erfolgen, sondern zur Ehre Gottes und nicht zuletzt als Stärkung der Büßer gegen künftige Versuchungen durchgeführt werden: Dé erd erbidemt Å zer cliebent die staine Jr herté herz ir sulent wainen Wainent t?gen mit den ougen Habt in hertzen cristes smerzen Slaht éch ser durch cristes ere Daz ist vns fér die sénden64 gůt Dez hilf uns lieber herre got [Dez bit wir dich durch dinen tot (V. 124–131). („Die Erde bebt, Felsen zerspringen. / Ihr harten Herzen, ihr sollt weinen. / Weint im Verborgenen mit den Augen; / bewahrt Christi Schmerzen im Herzen. / Geißelt euch heftig Christus zu Ehren. / Das hilft uns gegen die Sünde. / Dazu stehe uns bei, lieber Herrgott, [/ darum bitten wir dich um deines Todes willen.]“)
Diese Verse sind bei Hugo durch eine erneute Aufzeichnung der Notation hervorgehoben, die Liedaufzeichnung endet mit der Wiederholung des V. 39–48 und V. 74– 83 zitierten Zwischenstücks in V. 132–141, wobei sich Hugo auch hier, wie bei der ersten Wiederholung, mit einer Aufzeichnung der Anfangsworte und dem Verweis begnügt, dass es sich um eine Wiederholung handelt.65 Das Lied endet also pointiert in einer mit Gesten untermalten erneuten Wendung an Gott mit der Bitte, das große Sterben zu einem Ende zu bringen, die Büßer von Sünden frei zu machen und sie vor einem plötzlichen Tod zu bewahren.66 Das öffentliche Geißelritual hat damit ein Ende; Hugo merkt im Anschluss an die Aufzeichnung der Geißlerliturgie an, dass || 63 Siehe dazu auch Koelliker 1997, S. 99: „Das Lied supponiert in seiner zweitletzten Strophe einen durch die Betrachtung des Geißelrituals über die eigenen Sünden erschütterten Zuschauer und stellt ihm daher lehrhaft die kirchlich-sakramentale Institution der individuellen Sündenvergebung vor Augen.“ 64 Ich emendiere gegen Proto das handschriftliche séndrzu sénden, was besser zu dem nachträglich über der Zeile eingefügten Personalpronomen vns passt. 65 Gillert 1881, S. 60: Dez hilf uns, lieber herre Got, ut supra in primo. / Jesus wart gelapt mit galle etc., ut supra in primo usque ad illum locum: / Maria stůnt. 66 Proto 2007, V. 132–141: Jesus wart gelapt mit gallen / Des séln wir an ain crutze uallen / Nu hebent uf die vͥwern hend / Daz got daz grozze sterben wend / Nu reggen vf die vwern arm / Vm daz sich got ébr uns erbarm / Jesus durch diner namen dri / Du mach uns herre vor sénden fri / Jesus durch dine wunde rot / Beh=tt uns vor dem gehen tot.
206 | Claudia Händl die Geißler sich nach Absingen der letzten Verse nicht mehr geißeln, sondern weitere Lieder anstimmen und beten.67 In Kloseners Aufzeichnung hingegen vermerkt der Chronist nach der Niederschrift des Liedtextes lakonisch, dass damit die öffentliche Geißelung ein Ende hatte,68 und beschreibt dann knapp die folgenden rituellen Handlungen der Büßer und ihre abschließenden Bitten an die Umstehenden um Zuwendungen zum Erwerb von Kerzen und Fahnen. Erst dann teilt Klosener den Wortlaut der Geißlerpredigt mit, die in der Hauptsache im Vorlesen eines sogenannten Himmelsbriefes durch einen des Lesens kundigen Laien aus dem Kreis der Bußbrüder besteht,69 und berichtet, dass die Geißler schließlich nach dem Ende der Predigt unter Absingen des Leis Nu ist dîu betfart so here vom Ort des öffentlichen Bußrituals abzogen.70
4 Die Lieder der italienischen und der deutschen Geißelbußbewegungen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede In der Vergangenheit sind immer wieder Vergleiche zwischen der Liedproduktion der italienischen Flagellanten und der deutschen Geißler angestellt worden. Die bisherigen Arbeiten71 haben gezeigt, dass bei allen möglichen Gemeinsamkeiten keine genetische Abhängigkeit der deutschsprachigen Lieder von den volkssprachlichen Kompositionen der italienischen Bewegung besteht. Insbesondere inhaltliche Vergleiche der Texte, die auf eine direkte Abhängigkeit zielen, führen in eine Sackgasse. Auf der Basis einer Gegenüberstellung der Gesänge der italienischen Flagellanten und der Lieder der deutschen Geißler kann man jedoch feststellen, dass die Liedproduktion in beiden Ländern insofern zu vergleichen ist, als trotz des religiösen Kontextes die Volkssprache benutzt wird, was die Buß- und Geißelrituale für weite, auch bildungsferne Kreise nachvollziehbar macht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in beiden Ländern der soziokulturelle Kontext der mittelalterlichen Städte eine große Rolle für diese besondere Form der Bußbewegung spielt. Die italienischen Lauden können schon seit den Geißelbußbewegungen von 1260 als Kernstück der volkssprachlichen, außerkirchlichen Liturgie der Flagellanten gelten; 72 ihre || 67 Hugo zitiert in diesem Zusammenhang explizit zwei uns bekannte Geißlerlieder: Nu ist dîu betfart so here und Maria můter raîné maît, siehe Gillert 1881, S. 61. 68 Hegel 1870, S. 111, 14: sus was daz geischeln us („Damit war die Geißelung beendet“). 69 Hegel 1870, S. 111, 24–117, 28. 70 Hegel 1870, S. 117, 29–118, 5. 71 Schneegans 1900; Hübner 1931, S. 76–92. 72 Vgl. Largier 2001, S. 138.
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gelungene Inszenierung außerhalb der kirchlichen Sphäre trägt dazu bei, den Gesang und die theatralischen Elemente der kirchlichen Liturgie nicht nur punktuell, in Zeiten besonderer Krisen, auf die Straßen und Plätze italienischer Städte zu bringen, sondern eine Tradition zu initiieren, in der mehr und mehr der dramatische Effekt und somit die Möglichkeit zum publikumswirksamen Zelebrieren der Geißelriten als theatralische Verwirklichung der Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen, augenfällig in der imitatio der Passion Christi ausgedrückt, überhandnimmt. Trotz der Gemeinsamkeiten bezüglich der Tradition – ursprünglich handelt es sich sowohl bei deutschen Geißlerliedern als bei italienischen Lauden der Disziplinaten um paraliturgische Gesänge in der musikalischen Tradition von Bittfahrt-, Passionsund Marienliedern – haben die italienischen und die deutschen Geißlerlieder auf lange Sicht ein unterschiedliches Schicksal: Während der Rezitation von Lauden im Kreis der italienischen Disziplinaten noch ein langes Fortleben beschieden ist, wie unter anderem aus den Statuten zahlreicher spätmittelalterlicher italienischer Geißelbruderschaften, aber auch aus der reichen Überlieferung ihrer Liedsammlungen hervorgeht, bleiben die Gesänge der deutschen Geißler und ihre Überlieferung weitgehend auf die Zeit der Blüte der Geißlerbewegung nördlich der Alpen um die Mitte des 14. Jahrhunderts beschränkt. Wie ich hoffe, durch die detaillierte Besprechung einzelner ausgewählter Lieder der beiden Traditionen gezeigt zu haben, lassen sich Gemeinsamkeiten vor allem in der pragmatischen Einbindung der Lieder und der Tendenz zur publikumswirksamen Inszenierung einzelner Gesänge feststellen. Sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Tradition wird ständig Spannung durch den wechselnden Redegestus der Lieder aufgebaut, wird Rollensprechen eingesetzt, um die behandelten Themen wirkungsvoll zu gestalten, erfolgt ein oft komplexes Spiel zwischen liedinternen Kommunikationsstrukturen und möglichen Rückbindungen an eine reale Aufführungssituation. Auf die besondere pragmatische Situation der deutschen Lieder aufgrund der in zeitgenössischen Chroniken als Augen- und Ohrenzeugenberichten präsentierten Aufführungskontexte soll weiter unten eingegangen werden. Was die nähere Bestimmung der Funktion dieser Lieder betrifft, dürfte deutlich geworden sein, dass eine liedimmanente Interpretation ohne Einbeziehung des Überlieferungskontextes und ohne einen Versuch der Rekonstruktion der Produktions- und Rezeptionsbedingungen nicht zum gewünschten Ziel führen kann. Im Fall der italienischen Lieder bietet die Überlieferung in Liedersammlungen, für die in vielen Fällen ein konkreter Bezug zu historisch bezeugten Bußbrüderschaften besteht, Anhaltspunkte für die Bestimmung eines Gebrauchs der Lieder im engen Kreis der einzelnen Gruppen im Rahmen gemeinsamer Gebete und Bußübungen. Im allgemeinen gibt es für die italienischen Lieder keine paratextuellen oder extratextuellen Hinweise auf eine konkrete historischen Realisierung bestimmter Lieder in der Mündlichkeit, doch darf man davon ausgehen, dass der mündliche Vortrag – gegebenenfalls in verteilten Rollen – die primäre Rezeptionsform der
208 | Claudia Händl Lauden innerhalb der einzelnen Bußbruderschaften darstellte, ob als Gemeindelied im Rahmen der außerkirchlichen Bußliturgie innerhalb des engeren Kreises der Bußbrüder oder als Prozessionslied bei öffentlichen Geißelumzügen, wie nicht nur chronikalische Zeugnisse für die Lieddichtung der Flagellanten, sondern auch zahlreiche überlieferte Statuten historisch bezeugter Geißelbruderschaften nahelegen. 73 Wie am Beispiel der dritten besprochenen Laude gezeigt werden konnte, gibt es zudem innertextliche Hinweise auf mögliche sekundäre Rezeptionsformen der italienischen Geißlerlieder: Sobald ein Geißlerlied in eine Laudensammlung aufgenommen worden ist, kann über die ursprüngliche Verwendung in der Mündlichkeit hinaus sowohl mit Lesern als auch mit Zuhörern eines vorgelesenen Textes gerechnet werden.
5 Abschließende Überlegungen zur besonderen Stellung der sogenannten Geißlerliturgie Wie oben bereits angemerkt wurde, sind die deutschen Geißlerlieder im Gegensatz zu den Liedern der italienischen Disziplinaten nicht in Liedersammlungen überliefert, sondern in der Hauptsache in Chroniken im Rahmen detaillierter Berichte zu den Geißlerzügen des Jahres 1349 aufgezeichnet. Ich möchte hier abschließend auf die besondere Stellung der sogenannten Geißlerliturgie eingehen, weil es sich meines Erachtens um das einzige deutsche Lied handelt, das sich nicht ohne weiteres, wie auch die italienischen Lieder, in die Tradition paraliturgischer Gesänge wie Bittfahrt-, Passions- und Marienliedern einfügen lässt. Schon Koelliker hat auf der Prämisse, „die verschiedenen Liedteile als sinnvolle Funktionseinheiten in einem Ritual zu verstehen und damit in der Einheitlichkeit des Rituals die Einheit des Liedes aufzuweisen“, 74 die kunstvolle Komposition des Hauptleis der deutschen Geißler herausgearbeitet.75 Wie ich oben versucht habe zu zeigen, handelt es sich um ein musikalisch wie auch textlich komplexes Gebilde, das erst im Zusammenwirken mit bestimmten rituellen Handlungen zur vollen Wirkung gelangt. Diese Komposition ist meines Erachtens weder mit anderen deutschen Geißlerliedern noch mit Liedern der italienischen Tradition vergleichbar, es handelt sich vielmehr um einen Sonderfall der Tradition. Insbesondere in der Aufzeichnung Hugos, der Text und Melodie des Leis in einen Bericht einbettet, der Anspruch auf ein profundes Wissen um die Riten der Geißlerbewegungen erhebt, wird
|| 73 Vgl. Largier 2001, S. 132–136; Meersseman 1977, S. 476–497. 74 Koelliker 1977, S. 94. 75 Koelliker 1977, S. 102f.
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ein komplexes Zusammenspiel von inszenierter und beschriebener Pragmatik deutlich, das sich sonst bei keinem der Lieder feststellen lässt. Wenn Hugo oder auch Klosener sich als Augen- und Ohrenzeugen des Wirkens der Geißler und der Aufführung ihrer Lieder präsentieren, scheint dies ein Glücksfall für den Literaturwissenschaftler zu sein, dem so Informationen zu Aufführungssituation, Funktion und Rezeption von mittelalterlichen Dichtungen an die Hand gegeben werden, die ihm in anderen Fällen in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Doch wie ist es um die Authentizität dieser Augen- und Ohrenzeugenberichte wirklich bestellt? Ich schlage vor, den Wahrheitsgehalt der chronikalischen Beschreibung bis ins kleinste Detail als Hypothese anzusehen, die sich ebenso wenig beweisen lässt wie die Hypothese, die ich im Folgenden aufstelle, um daran zu erinnern, wie wenig wir tatsächlich über Entstehungssituation und Funktion mittelalterlicher Lieder selbst in den Fällen wissen, in denen wir uns ausnahmsweise für informierter als üblich halten: Was wäre, wenn Hugo im Fall der Geißlerliturgie, die er mit Text und Melodie aufzeichnete, sich von seinem Wissen um die Bewegung und die Riten der Geißler hätte leiten lassen und ein für das Ritual passendes kunstvolles, aus mehreren Teilen gebautes, komplexes Lied mit Melodien auf der Basis eines einfacheren, ihm bekannt gewordenen ‚authentischen‘ Geißlerlieds oder auch als ‚Eigenschöpfung‘ eigens zu dem Zweck verfasst hätte, seinen Chronikbericht besonders anschaulich zu gestalten? Die Einzigartigkeit des Leis spricht für einen fähigen Dichter, der einem besonderen Phänomen der Zeit im Rahmen einer historiographischen Aufzeichnung kompositorischen Ausdruck verleiht, ohne auf seine auctoritas zu pochen.76 Hugo, der auch musikalisch beschlagen ist, scheint mir ein plausibler Kandidat für diese Rolle zu sein. Ein solches – von ihm überarbeitetes oder eigens verfasstes – Lied konnte dann weiter rezipiert werden, ob nur von anderen Chronisten, wie etwa Klosener, der seinen Bericht etwa ein Jahrzehnt nach Hugo verfasst, oder von Gruppen von Geißlern selbst, die von dem Lied Kenntnis erhielten, mag dahingestellt sein. Es liegt mir fern, die sogenannte Geißlerliturgie unter allen Umständen einem historisch bezeugten Verfasser zuordnen zu wollen. Mit meinem abschließenden Gedankenspiel wollte ich nur in den Chor derer einstimmen, die zu Recht daran erinnern, dass für uns germanistische Mediävisten auch weiterhin viel zu tun bleibt, wenn wir versuchen wollen, den ‚Sitz im Leben‘ mittelalterlicher Dichtung näher zu bestimmen.
|| 76 Eine Parallele zu einem solchen Zusammenwirken von Dichtung und Geschichtsschreibung sehe ich beispielsweise in der angelsächsischen historiographischen Tradition, insbesondere in der Integration von sogenannten Chronicle Poems wie The Battle of Brunanburh in eine Reihe von Redaktionen des Anglo-Saxon Chronicle.
210 | Claudia Händl
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Jan-Dirk Müller
Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie1 Die Durchdringung des Geistlichen Spiels mit liturgischen Elementen ist im Allgemeinen wohlbekannt, theoretisch genau beschrieben, doch im Detail nur an einigen signifikanten Beispielen und weniger in der Leistung der Liturgie für den Spieltext erforscht. Es geht ja nicht nur darum, die liturgische Herkunft, die Überlieferung und die Varianz der Antiphone, Hymnen und Feiertexte aufzuklären,2 nicht nur darum, Übersetzungsvarianten und -konvergenzen aufzulisten und aus ihnen Schlüsse auf Abhängigkeiten zwischen Spiellandschaften und -gruppen abzuleiten,3 nicht nur darum, die inhaltlichen und stilistischen Abweichungen zwischen lateinischen und volkssprachigen Texten herauszuarbeiten, 4 sondern den Anteil der lateinischen Texte am Ablauf der Spiele und ihre Einbeziehung in die Spielhandlung zu analysieren.5 Welche Funktion haben liturgische und paraliturgische Texte für den Fortgang der Handlung, welche für die Wirkung des Dargestellten? Lässt sich ein intertextueller Dialog zwischen den beiden Textkomplexen rekonstruieren, und zielt dieser auf wechselseitige Bestätigung und Verstärkung oder wird ein Spannungsverhältnis zwischen ihnen aufgebaut? Es wird kaum eine einzige Antwort auf diese Fragen geben, sondern man wird in geduldiger Arbeit am Text die Möglichkeiten abtasten müssen. Das soll für einen kleinen Ausschnitt geschehen: für lateinische Textelemente im Innsbrucker Osterspiel.6 Die folgenden Überlegungen sind ein Aus|| 1 Andere Verpflichtungen ließen mich lange zögern, etwas zur Festgabe für Hans Unterreitmeier beizutragen. Wenn das jetzt doch geschieht, dann in der Hoffnung auf die Großzügigkeit des Adressaten, der sich in diesem Gebiet weit besser auskennt und über die Unzulänglichkeiten des Versuchs hinwegsehen möge. Aus dem genannten Grund ist auch die einschlägige Fachliteratur nur sehr selektiv zitiert. 2 Meyer 1901; Schuler 1951; de Boor 1967. 3 Thoran 1969, S. 373 zu ihren Zielen. 4 Wimmer 1974 hat die Wiedergabe ausgewählter lateinischer Strophen (nach Meyer 1901) durch die deutschen Reimpaare untersucht. Er bemerkt über die Spiele insgesamt: „Eine übersetzerische Bindung an die Vorlage ist vorhanden, wird aber immer wieder in den Hintergrund gedrängt“; häufig gibt es „eine Art des Weiterdichtens im volkssprachlichen Zusammenhang“ (S. 27), über das Innsbrucker Osterspiel im Besonderen heißt es: „Ein detailliertes Ansetzen am lateinischen Text ließ sich weder bei Einzelversen noch bei größeren Strophenzusammenhängen erkennen“ (S. 108); sehr punktuell Wolf 1994. 5 Das Verhältnis von Liturgie, paraliturgischen Feiern und Spielen wurde systematisch nur von Petersen 2004 untersucht. Auf seinen Ergebnissen bauen die folgenden Überlegungen auf. 6 Die Zitate im Folgenden nach der Ausgabe von Meier 1962, die am Faksimile der Handschrift 1975 überprüft wurde; sie ist leicht benutzbar, doch in textkritischer Hinsicht problematisch, da unausgewiesen von Hartl 1927 abhängend. So ist immer noch die Ausgabe von Mone 1841 die zuverlässigste. Zur Editionssituation Auditor 2009, S. 299f.
214 | Jan-Dirk Müller schnitt aus einem sehr viel größer angelegten, liegengebliebenen Forschungsvorhaben, das ich mit diesem kleinen Versuch wiederaufzunehmen hoffe.
1 Vorüberlegungen Es gibt lateinische Textsegmente sehr unterschiedlicher Art und Funktion im Innsbrucker Osterspiel.7 Manches ist wenig auffällig. Wie üblich, sind die szenischen Anweisungen auf Latein abgefasst. Das wird wohl zu Recht als Hinweis auf die Spielleiter, eventuell auch auf die Aufzeichner der Spiele gedeutet, die vermutlich aus dem Klerikerstand kamen. Lateinisch ist auch der Silete-Ruf der Engel („Schweigt“, V. 168 u. ö.), der, ebenfalls wie gewöhnlich, der Abgrenzung zwischen Szenenkomplexen dient. Interessanter sind Fälle, in denen lateinische Texte als Figurenrede ausgewiesen und mit einer volkssprachigen Paraphrase kombiniert sind. Die meisten lateinischen Texte werden als bekannt vorausgesetzt und deshalb nur anzitiert. Gelegentlich folgt den anzitierten Worten ein etc., das auf die Fortsetzung des Textes, wie er in der Liturgie bekannt ist, deutet. Erst beim Salbenkauf, dem Besuch der Marien am Grab und in der Hortulanus-Szene geht das Innsbrucker Osterspiel dazu über, den vollständigen Text zu zitieren. Es sind dies Szenen, die sich besonders an das Gerüst der lateinischen Osterfeiern anlehnen.8 In den übrigen Fällen ist der Handschrift, zumal wo der deutsche Paralleltext inhaltlich abweicht, nicht zu entnehmen, wie weit und mit welchem genauen Wortlaut die lateinischen Texte vorgetragen wurden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass meistens Antiphone und Responsorien ganz gesungen wurden, doch sicher ist das nicht in allen Fällen.9 Auch gibt es in der lateinischen Überlieferung erhebliche Varianten. Ausgaben, die die Texte nach bestimmten biblischen (auch apokryphen) oder liturgischen Vorlagen ergänzen, sind deshalb unzuverlässig. Sicher lässt sich nur sagen, dass mit Angabe des Eingangsverses ‚Liturgisches‘ indiziert werden sollte.10 Im Innsbrucker Osterspiel werden alle Texte in der Kultsprache Latein nicht gesprochen, sondern gesungen, wobei die Melodien von einigen bekannt sind. Wenn die lateinischen Texte nicht beliebig eingesetzt werden, sondern in Zusammenhang mit der jeweils gezeigten Szene stehen, dann ist die Unkenntnis der genauen Text|| 7 Ansätze zu einer Typisierung, allerdings auf ungleichmäßiger kategorialer Grundlage, bei Traub 2004, S. 135f. Vor allem Traubs erster Typus (Gesänge, die einzelnen „Personen als Rollenträger“ zugewiesen werden) vereinigt sehr unterschiedliche Spielarten; er ist auch nicht klar vom zweiten (‚traditionelle liturgische Gesänge‘) abgrenzbar. So könnte das in dieser Rubrik aufgeführte Resurrexi (aus dem Introitus der Ostermesse) auch als Rollenrede Jesus zugeschrieben werden. 8 Petersen 2004, S. 143-160. 9 Zu dieser und zu weiteren Unsicherheiten grundsätzlich Wright 1994, S. 348f. 10 Petersen 2004, S. 147.
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basis ein erheblicher Mangel. Der Zusammenhang sieht anders aus, wenn der vollständige Text einer Antiphon oder eines Responsoriums vorgetragen wurde, anders, wenn der Gesang sich auf wenige Verse beschränkte. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Szene zuliebe der lateinische Text verändert war (wenn man dann auch einen Hinweis erwarten würde). Unter diesem Vorbehalt stehen die folgenden Überlegungen. Allerdings ist schon aus den Textfragmenten erkennbar, dass die lateinischen Passagen recht unterschiedliche Funktionen – zusätzlich zu ihrer Anspielung auf die Liturgie – gewinnen können.
2 Szenen mit lateinischen Gesängen im Innsbrucker Osterspiel 2.1 Auftritt des Pilatus: Liturgischer Text ‚neben‘ der Spielhandlung Das Spiel setzt ein mit dem Auftritt des Pilatus mit seinen Soldaten: Primo enim exiit Pylatus cum suis militibus („als erstes kommt Pilatus mit seinen Soldaten heraus“). Es folgt die volkssprachige Ankündigung eines Osterspiels durch den Expositor. Dann heißt es: Quo facto Pylatus cantat: ‚Ingressus pyl‘ („danach singt Pilatus: ‚Pil[atus] zog ein‘“, V. 6). Das ist der Beginn eines Responsoriums, das auf Io 18,3ff. zurückgeht. Die Worte Ingressus Pilatus stehen dort allerdings in einem ganz anderen Handlungszusammenhang. Sie leiten das Verhör Jesu durch den höchsten römischen Amtsträger ein, vor dem Jesus bekennt: ‚ja, ich bin ein König‘. Das Responsorium, gesungen am Palmsonntag und in der Karwoche, gehört also zur Geschichte der Passion.11 In deren Darstellung im Spiel wird es in unterschiedlichen Funktionen eingesetzt.12 Im Osterspiel scheint es, wie man seit langem bemerkte, ein Fremdkörper.13 Man hat daher nach Texten mit diesen Eingangsworten, doch besser der Szene angepasst gesucht und wurde im apokryphen Nicodemus-Evangelium am Beginn des Descen|| 11 CAO IV, Nr. 6966. Ingressus Pilatus wird in der Karwoche (feria IV und V) und am Karfreitag gesungen; vgl. Schuler 1951, Nr. 304, S. 223f. 12 Wright 1994, S. 350-353, hat herausgearbeitet, dass das Responsorium in Passionsspielen keineswegs nur ‚szenisch korrekt‘, d.h. zur Einleitung des Verhörs, eingesetzt wurde, sondern unterschiedliche Szenen einleiten konnte, so etwa im Benediktbeurer Osterspiel ganz zu Anfang den Einzug aller wichtigen Akteure begleitete, und zwar vor der ersten dargestellten Handlung, der Berufung des Petrus und des Andreas (ebd., S. 351). „The only common denominator is the fact that the chant was invariably used to accompany a formal procession“ (ebd., S. 353). 13 So Meyer 1901, S. 130.
216 | Jan-Dirk Müller sus fündig.14 Der fragliche Gesang begleitet den Einzug des Pilatus und soll, anderen Osterspielen zufolge, dauern, bis Pilatus an den für ihn bestimmten Platz (usque ad locum deputatum bzw. usque ad sedem; „bis zu dem für ihn bestimmten Ort“ bzw. „bis zu seinem Sitz“) gegangen ist.15 In anderen Osterspielen wird dieser Vorgang mit unterschiedlichen Angaben über Pilatus‘ Begleiter und den Ort der Versammlung beschrieben,16 ohne dass der Wortlaut des Responsoriums Ingressus Pilatus näher ausgeführt würde. Nun hat Wright festgestellt, dass Ingressus Pilatus auch in einigen Passionsspielen nur die Funktion hat, den Einzug der Akteure zu begleiten: „the Easter plays all require that Ingressus Pilatus is to be sung during a formal procession that brings Pilate and his companions into the center of the playing area“.17 Ausgerechnet die einzige sichere Aussage des lateinischen Textes – ‚Pilatus zieht ein‘ – ist im parallelen deutschen nur implizit vorausgesetzt. Dort stellt Pilatus sich vor und droht Schlimmes für die Juden und sich selber an, wenn Jesus auferstehe: Ich bin Pilatus genant, ein konig in der Juden lant, vnd wil / hy eyn richte siczen, daz alle Juden mFßen swiczen: wert Ihesus vff stan, so müßen wir alle daz leben lan. (V. 47-52)
|| 14 Der Text lautet: Post hec ingressus Pilatus templum Iudeorum congregavit omnes principes sacerdotum et grammaticos et scribas et legis doctores, et ingressus est cum eis in sacrarium templi („danach zog Pilatus in den Tempel der Juden und versammelte alle obersten Priester und Schriftgelehrten und Schreiber und Gesetzeskundigen“); vgl. Evangelia apocrypha 1853, S. 388 bzw. 1876, S. 409. Kummer vermutet in seiner Ausgabe von 1882, S. 125, Anm. a), dass dieser Text auch in einer (dem Innsbrucker Osterspiel verwandten) Szene des Erlauer Osterspiels (Erlau V) und in Klosterneuburg Verwendung fand. Der Herausgeber Hartl ergänzte deshalb in seiner Ausgabe des Innsbrucker Osterspiels nach diesem Text Ingressus pyl, und Meier ist ihm darin gefolgt (vgl. Wright 1994, S. 353f.). Es handelt sich also um eine unsichere, durch die Forschungen von Wright in Frage gestellte Konjektur. Von den allgemeinen Problemen einer solchen Ergänzung ganz abgesehen, fand nie Beachtung, dass der apokryphe Text ganz anders fortgesetzt wird, als es die Spielhandlung erfordern würde: Pilatus informiert sich, was die Schriften der Juden über den Messias enthalten. 15 So das Böhmische Osterspiel 3 und das Erlauer Osterspiel (Erlau V) nach Schuler 1951, S. 224. Die von Schuler in die Zitate eingeführte Interpunktion verunklärt den syntaktischen Zusammenhang; es könnte bei ihm scheinen, als gehörte usque ad locum deputatum bzw. usque ad sedem zu den Worten des Gesangs; beides bezieht sich jedoch auf die Bewegung des Pilatus (procedat bzw. exit). 16 So im Benediktbeurer Osterspiel und im Klosterneuburger Osterspiel; das Egerer Osterspiel spricht vom Responsorium (Schuler 1951, S. 224). 17 Wright 1994, S. 354; vgl. S. 356. Das Responsorium dient also nicht „to establish a realistic setting in time and space for the events that are to follow, but rather as a ceremonious parodos that precedes the action of the first epeisodion“ (ebd., S. 358).
Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie | 217 („Ich heiße Pilatus und bin König im Land der Juden. Ich will hier zu Gericht sitzen, dass die Juden ins Schwitzen geraten. Würde Jesus auferstehen, dann müssen wir alle unser Leben lassen.“)
Der volkssprachige Text sagt also noch einmal etwas ganz anderes aus als der apokryphe lateinische. Er leitet die Beratung über die Bewachung des Grabes ein und fügt sich glatt in die Spielhandlung. Eine solche Diskrepanz wird in den Klagegesängen der drei Marien wiederbegegnen. Auch dort sind die volkssprachigen Texte dem szenischen Verlauf besser eingepasst als die lateinischen. Während die ersteren sich um theatrale Kohärenz bemühen, gilt das für die lateinischen nicht unbedingt. Kummers, Hartls oder Meiers Ergänzungen erfolgen demnach unter falschen Prämissen. Nimmt man hinzu, dass es eine Antiphon mit dem apokryphen Text nicht gibt,18 die Abkürzung Ingressus pyl aber auf einen allgemein bekannten Text deutet, wie er mit dem Responsorium über das Verhör Jesu durch Pilatus tatsächlich vorliegt, dann ist wahrscheinlich, dass das vom Szenenzusammenhang her unpassende Responsorium aus der Palmsonntagsliturgie vorgetragen wurde. Das Verhältnis von Kultsprache und Volkssprache ist in diesem Fall also einigermaßen verwickelt. Der lateinische Text hat einen nicht mit letzter Sicherheit rekonstruierbaren liturgischen Hintergrund, der möglicherweise in Spannung zum szenischen Geschehen stand. Wie viele Antiphone (z.B. Currebant duo simul – „es liefen zwei zugleich los“ –, das den Lauf des Petrus und des Johannes begleitet) erzählt er überdies einen Vorgang, der vor den Augen der Zuschauer szenisch umgesetzt wird: den Einzug des Pilatus mit seinen Begleitern. Gesungen wird er (wieder wie später die Currebant-Antiphon) vom Akteur, hier also Pilatus, selbst. Das ist ein Schritt hin auf eine Theatralisierung des liturgischen Textes, ein Schritt weg von den Osterfeiern, in denen Texte dieses Typs vom Chor gesungen werden, also ‚episch‘ zu verstehen sind.19 Jedoch ist der gesungene Text andererseits, anders als der deutsche Text, nicht als Rede der Spielfigur des Pilatus denkbar, also nicht bruchlos in die theatralische Mimesis eingepasst. Die Zuweisung an eine Figur des Spiels bleibt in diesen Fällen also auf halbem Weg stehen, indem der epische Text als dramatische Rede ausgegeben wird.20 Der Gesang bindet, was auf der Szene geschieht, an einen heilsgeschichtlichen Vorgang, wie ihn der liturgische Text festhält. Ingressus Pilatus ist seine an die Kultsprache gebundene und durch sie kultisch verbürgte Vergegenwärtigung. Der gesungene lateinische Text ist hier wie in den meisten Fällen nicht-mimetisch.
|| 18 Wright 1994, S. 353 und 356. 19 Petersen 2004, S. 148f. zur Currebant-Antiphon. In den Passionsspielen wird Ingressus Pilatus ebenfalls vom Chor gesungen (Wright 1994, S. 350). 20 Quast 2005, S. 109f. hat an Szenen wie dieser den ‚rituellen‘ und noch nicht ‚ästhetischen‘ Charakter des Geistlichen Spiels betont.
218 | Jan-Dirk Müller Die Überblendung der anschaubaren Spielrealität durch die kultische Feier der christlichen Gemeinde kann bis an die Grenze des Widerspruchs gehen. Das zeigt das dem Auftritt des Pilatus folgende Responsorium, das dem ‚ersten Juden‘ (Primus Jud#us) in den Mund gelegt wird: Audi Israhel praecepta domini („höre Israel die Gebote des Herrn“, V. 67).21 Auch hier begnügt sich die Aufzeichnung des Spiels mit der ersten Zeile. Der vollständige Text enthält die Mahnung an das Volk Israel, Gottes Gebote zu hören; nur so werde es das Land besitzen, das Gott ihm bereitet hat. Was der Jude singt, richtet sich also an das Gottesvolk, nicht an die auf der Szene versammelten verstockten Juden, sondern deren legitime Nachfolger, die Christenheit. Das Osterspiel enthält keinen Hinweis, dass der Jude den lateinischen Text verballhornt oder gar verkehrt (wie der anschließende Unsinnsgesang der Juden). Wenn er die Mahnung singt, die Gott an sein Volk richtet, ist der liturgische Gesang nicht an seine Rolle im Spiel gebunden. Erst in der volkssprachigen Entsprechung spricht er als Vertreter der bösen Juden: Jesus sei nun endlich tot und aus dem Weg geschafft; man solle jetzt zu Pilatus gehen und eine Grabwache fordern (scil. damit der Leichnam nicht gestohlen und Jesu Auferstehung behauptet werde). Nimmt man an, dass die Verse des Responsoriums in der liturgischen Form gesungen wurden, dann sind sie nicht in die Spielhandlung eingebunden. Der liturgische lateinische Text bleibt im Horizont religiöser Verkündigung; die beiden Aussagen entsprechen sich nicht nur nicht, sondern sind einander geradezu entgegengesetzt.
2.2 Auferstehung und Descensus (Höllenfahrt): Dramatisierung der Liturgie Generell weisen die Spiele, im Unterschied zur Liturgie und auch im Unterschied zu den meisten Feiern, den lateinischen Text, der einem Chor oder einzelnen Zelebranten als Repräsentanten der christlichen Gemeinde zugewiesen ist, bestimmten einzelnen Akteuren zu. Das kann, wie im Fall des ‚ersten Juden‘ zur offenen Diskrepanz zwischen Sprecher und Text führen, kann wie beim Ingressus Pilatus oder Currebant duo simul den Text zwar an die richtige Figur anbinden, aber in Spannung zur dargestellten Situation treten, kann aber auch den liturgischen Text aus seiner ursprünglichen Situation herausnehmen und einer anderen, ebenso passenden einfügen und dabei dem ‚richtigen‘ Sprecher oder einem anderen zuweisen. Während die Wächter am Grab eingeschlafen sind, bricht ein Engel hervor und singt: Exsurge, quare obdormis domine etc. („erhebe dich, warum schläfst Du Herr“, V. 202). Diese Aufforderung passt zu gut zum Ostergeschehen, als dass es sich die Osterspiele entgehen ließen, sie einem oder mehreren Engeln oder auch Kirchenvä-
|| 21 CAO III, Nr. 6143; gesungen am 4. Fastensonntag; vgl. Schuler 1951, Nr. 33, S. 140.
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tern in den Mund zu legen.22 Die Worte stammen aus Psalm 44(43),23. Sie eröffnen die Messe am Sonntag Sexagesima (und die Missa contra paganos). Im Egerer Osterspiel heißt es entsprechend unverblümt Deinde cantat angelus introitum („dann singt der Engel den Introitus“).23 Im Introitus des mittleren Sonntag der Vorfastenzeit haben diese Worte aber eine andere Bedeutung. Sie leiten nicht die Auferstehung ein, sondern das gläubige Volk fleht zu Gott um Hilfe; er möge sich nicht, wie es scheint, von ihm abwenden. Die Worte des Psalms, die Bitte Israels um Befreiung, werden auf die um Erlösung flehende Christenheit übertragen. Hier dagegen – und in der volkssprachigen Übersetzung noch deutlicher – machen sich die Engel zu deren Anwälten: [...] czubrich der helle bant („zerbrich die Fesseln der Hölle“, V. 211). Wenn man annimmt, dass der Introitus ganz gesungen wurde und dass die Zuschauer seine liturgische Bedeutung miterinnerten, dann wird aus der Bitte der christlichen Gemeinde in der Vorfastenzeit die österliche Ankündigung ihrer Erfüllung. Diese Erfüllung vollzieht sich sogleich, indem Jesus selbst seine Auferstehung verkündet: Resurrexi („ich bin auferstanden“, V. 214). 24 Es ist das Wort des Introitus der Ostermesse, die das Spiel dem zuweist, der es allein sprechen kann. Damit rückt die Liturgie in die Nähe theatraler Mimesis, aber nur in die Nähe, denn das zentrale Geschehen der Osternacht erscheint ausschließlich in dieser liturgischen Form; es fehlt die volkssprachige Paraphrase: Das Mysterium der Auferstehung ist mimetisch nicht einholbar. Die Aufzeichnung des Spiels begnügt sich mit dem einen Wort; die Fortsetzung (et adhuc tecum sum […]; „und bin jetzt bei dir“) würde schlecht zur szenischen Situation passen. Die Regieanweisung et stat ad horam besagt, dass Jesus bis zur folgenden Szene einfach präsent ist.25 Zwar fallen Spielsituation und liturgischer Vollzug ineins, aber gerade an dieser Stelle fällt die mimetische Repräsentation in der Volkssprache aus. Die liturgische Verwendung und die Bindung an bestimmte Spielfiguren können also, müssen aber nicht übereinstimmen. Beim anschließenden Descensus wird eine erzählende Funktion der lateinischen Worte mit einer dramatischen kombiniert. Der erste Teil des Canticum triumphale, das während der Prozession in der Osternacht gesungen wird, ist erzählender Text der Engel: Cum rex glori# (wieder nur mit diesen Anfangsworten zitiert: „als der glorreiche Herr […]“, V. 251).26 Die Engel singen, wie Jesus zur Hölle kommt, um ihre Pforten zu brechen und wie die dort gefangenen Altväter ihn mit einem Klagegesang empfangen. Der Gesang der Engel fasst, was sich vor den Augen der Zuschauer abspielt, in die gültige Form des || 22 Schuler 1951, Nr. 204, S. 196f. 23 Schuler 1951, S. 197. 24 Schuler 1951, Nr. 536, S. 303. 25 Wo es in anderen Spielen den zweiten und dritten Vers des Introitus gibt, werden sie Engeln in den Mund gelegt (vgl. Schuler 1951, S. 303). 26 Thoran 1969, S. 133.
220 | Jan-Dirk Müller liturgischen Textes, der erzählt, was ‚damals‘ (Präteritum) geschah. Erinnertes ‚Einst‘ und sichtbares ‚Jetzt‘ fallen in einem heilverbürgenden ‚Immerdar‘ zusammen. Der zweite Teil des Canticum, die Klage und das Verlangen der Altväter enthaltend, wird enger an die Szene angebunden, aber, anders als die einleitende erste Strophe ankündigte, sind es nicht die Altväter insgesamt, der sanctorum populus („Volk der Heiligen“), der ihn anstimmt, sondern er wird Adam in den Mund gelegt: Advenisti („du bist gekommen“, V. 258). Adam spricht für die Altväter gleichermaßen wie für die versammelte christliche Gemeinde, die die Erlösung bejubelt. Eine solche Überblendung der Sprecherpositionen findet sich auch, wenn die Engel die Überwindung des Höllenfürsten mit den Worten A porta inferi [erue domine animam meam] („rette Herr meine Seele von der Pforte der Hölle“, V. 266) begleiten,27 also das Gebet der Gemeinde singen. Die Überwindung der Höllenpforte erfolgt in den Worten der Liturgie, im Wechselgesang zwischen den Engeln und Lucifer. Hier enthielt schon die Liturgie eine dramatische Szene, die übernommen werden kann.28 Die Engel singen Tollite portas principes vestras („tut eure Tore auf, ihr Fürsten“, V. 269). Hier ist sicher mit dem vollständigen Text zu rechnen (et elevamini portae aeternales et introibit rex gloriae; „ihr werdet aufgetan, ewige Tore, und der glorreiche König wird einziehen“, V. 270f.), denn Lucifer nimmt auf diese letzten Worte Bezug. Der folgende Dialog zwischen Lucifer und den Engeln ist ausgeschrieben. Lucifer fragt: Quis est ille rex glorie („wer ist dieser glorreiche König?“, V. 272) und die Engel antworten: Dominus fortis [et] potens, / dominus potens in prAlio („der Herr stark und mächtig, mächtig im Kampf“, V. 273f.).29 Vollständig erscheint der lateinische Text also an einer Stelle, die unmittelbar in das Spielgeschehen integrierbar ist. Die Volkssprache wiederholt den Dialog Punkt für Punkt. Trotzdem gibt es eine Diskrepanz zwischen liturgischem und Spieltext.30 Der liturgische Text gehört zum
|| 27 CAO I, Nr. 74: Laudes in der Matutin des Ostersamstag; der genaue Wortlaut bleibt wieder unklar. Eine Variante lautet: a porta inferi eripe nos, domine („entreiße uns der Pforte der Hölle, Herr“); vgl. Schuler 1951, Nr. 2, S. 131. 28 Zu diesem Typus Kiening 2007, S. 143. 29 CAO I, Nr. 127. Der Anfang basiert auf Ps 24,7-10. Der Text wird liturgisch vielfach verwendet (vgl. Schuler 1951, Nr. 610, S. 333-336), er gehört u. a. zu verschiedenen Messformularen (Osternacht, Quatembermittwoch im Advent), zum Ritus der Kirchweihe und der Prozession am Palmsonntag beim Wiedereinzug in die Kirche. Seine Verwendung im Descensus geht gewissermaßen auf die Urszene – das Brechen der Pforte der Hölle – zurück. – Es heißt Lucifer clamat („schreit“, nach V. 266) und bei der zweiten Engelrede (V. 273f.) fehlt der Hinweis auf Gesang; da es sich jedoch um einen liturgischen Text handelt, dürfte er ebenfalls gesungen worden sein. 30 Gewiss werden bei solchen dialogischen Inszenierungen der Liturgie oder der Feiern „die liturgischen Zeichen zu theatralen“ (Petersen 2004, S. 91), aber es bleibt ein ritueller Rest, der erst in der Volkssprache verschwindet. Das Kriterium der Theatralität bei gleichzeitiger Aufgabe „der liturgischen Stellvertretung der dargestellten Personen“ hat vor allem Linke 1994 herausgearbeitet (vgl. ebd., S. 128).
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Ritus der Kirchweihe, und er wird in diesem Ritus insgesamt drei Mal gesungen. Das wird im Spiel aufgenommen, aber nur auf Latein. In der Volkssprache bleibt es bei der einmaligen Wechselrede (wobei Dominus fortis […] unübersetzt bleibt); diese wird im anschließenden Dialog zwischen Jesus und Lucifer nur z. T. noch ein Mal paraphrasiert. Insofern sind die rituelle Funktion des lateinischen Textes und die dramatisch repräsentierende des deutschen klar voneinander abgesetzt. Abgeschlossen wird die Szene durch die wieder nur anzitierte Antiphon Venite, benedicti patris mei („kommt ihr Gesegneten meines Vaters“, V. 337); sie ist zugleich die Botschaft des Introitus am Mittwoch der Osterwoche, die sich an die erlöste Christenheit richtet.31 Hier richtet sie der Jesus des Spiels an die aus der Hölle Befreiten, in denen sich die versammelte Gemeinde wiederfinden soll.
2.3 Salbenkauf: poetische Überhöhung, theatrale Mimesis und Liturgieparodie Erst nach der Seelenfangszene kehren mit den drei Marien, die sich zum Grab aufmachen und auf dem Weg eine Salbe für den Leichnam kaufen wollen, die lateinischen Texte wieder. Die Salbenkrämerszene wird eingeleitet, begleitet und in ihrem heilsgeschichtlich bedeutsamen Teil (dem Salbenkauf) abgeschlossen durch strophische Gesänge, die schon im Typus III der Osterfeiern zu den biblisch basierten Prosatexten der Antiphonen und Responsorien traten.32 Zu den liturgischen Texten kehren erst die Visitatio und die (allerdings gleichfalls mit Hymnen angereicherte) Begegnung Maria Magdalenas mit Jesus als Gärtner zurück. Die ungewöhnlich ausführliche und äußerst drastische Mercator-Szene, die sich nach dem Salbenkauf noch fortsetzt, enthält zwei (drei) Gesänge.33 Der erste (B) und || 31 CAO I, Nr. 59 (III, Nr. 5350). Wenn der Text vollständig gesungen wurde, ist – neben der von Schuler 1951, Nr. 637, S. 344 angegebenen Version nach Mt 25,34 (possidete paratum vobis regnum a constitutione mundi; „nehmt das Reich in Besitz, das euch vom Anfang der Welt bereitet ist“) – auch diejenige des Introitus am Mittwoch der Osterwoche möglich: Venite benedicti patris mei, percipite regnum [alleluja] quod vobis paratum est ab origine mundi (‚…seht das Reich …‘). Die Verzahnung zwischen Spiel und Liturgie spricht sogar mehr für diese. Das Venite benedicti wurde liturgisch vielfach eingesetzt, u. a. unter den laudes an Apostelfesten und deren Vigil. 32 De Boor 1967, S. 239-242: „erst hier in den Feiern III wird der Vers zu einem tragenden Formelement […], hier werden Teile der Feiern selbst in eigens für diese gedichteten Strophen und Strophenfolgen durchgeführt, die gleichberechtigt neben den traditionellen alten Prosasätzen von Visitatio und Jüngerlauf stehen“ (S. 239). „Dieses ganz Neue ist […] die Verwendung des Hymnenverses als konstitutives Element einer liturgischen Feier und daher die Schaffung eigener Verspartien für diese Feiern“ (S. 240); vgl. Petersen 2004, S. 126f. 33 Von Meyer 1901 als B, A bzw. C bezeichnet. Das zehnsilbige Omnipotens pater altissime (B) und das Huc proprius flentes accedite (C) mit je drei Strophen sind metrisch gleich gebaut und könnten deshalb als Teile eines einzigen sechsstrophigen Gesangs betrachtet werden; Schuler 1951, S. 264f.
222 | Jan-Dirk Müller dritte (C) gehören traditionell in den Kontext des Salbenkaufs, der dazwischen eingeschobene zweite dagegen (A) steht in den Feiern im Umkreis der (hier abgetrennten) Visitatio.34 In beiden Gesängen klagen die drei Marien und entschließen sich zum Salbenkauf. Die Gesänge reflektieren das Geschehen nicht nur emotional, sondern in ihnen schreitet auch die Handlung voran. So balancieren sie die ausufernde Komik der Mercator-Szenen aus. Das Gerüst dieser beiden Gesänge benutzt eine Reihe von Osterspielen, indem sie sie auf verschiedene Weise ineinander schieben.35 Das Innsbrucker Osterspiel hat eine originelle Lösung, die sich im lateinischen und im deutschen Text unterschiedlich auswirkt. Wenn die überlieferte Spielhandlung sich insgesamt nicht an der Abfolge des biblischen Berichts orientiert oder ‚realistisch‘ eine narrativ möglichst plausible Form anstrebt,36 bedeutet das, wie die Anordnung der Strophen zeigt, keineswegs einen Verzicht auf eine überlegte Durchformung. „Die Gesangsfolge formt so ein Gerüst, das den Handlungskern des Spiels strukturiert und zugleich auf das paraliturgische Ritual der Osterfeier verweist“.37 Entsprechend ihrer Bedeutung für die Handlung werden die Texte hier nicht mehr bloß anzitiert, sondern vollständig wiedergegeben. Eröffnet wird der Salbenkauf durch die ersten drei Strophen des Omnipotens pater altissime („Allmächtiger, höchster Vater“) (B).38 Die ersten drei Strophen werden vollständig zitiert, auf die drei personae verteilt (wobei bei der dritten der Refrain heu quantus est noster dolor – „ach wie groß ist unser Schmerz“ – fehlt) und anschließend volkssprachig paraphrasiert (V. 507-539). Dann tritt der Mercator auf und macht mit seinem Gefolge seine derben Späße (V. 540-837). Jetzt setzen die || zählt die drei Strophen von C (Nr. 440, 442, 447) deshalb und wegen der Übernahme des Refrains von B in Strophe 5 und 6 zum Omnipotens pater. Das fünfzehnsilbige (8+7), ebenfalls dreistrophige Heu nobis internas mentes quanti pulsant gemitus (A) wird im Innsbrucker Osterspiel zwischen B und C (bzw. zwischen die ersten und die letzten drei Strophen von B) eingeschoben; vgl.Wimmer 1974, S. 17f. bzw. 22f. 34 De Boor 1967, S. 342: Omnipotens pater sei der „Wegegesang der Frauen zum Mercator“. „Die Strophen fehlen daher naturgemäß den deutschen Feiern des Typus III“, mit wenigen Ausnahmen, die De Boor als „Rückwirkung aus dem deutschen Spiel“ betrachtet (S. 353). Dagegen gehört Heu nobis internas mentes „von Hause aus einem deutschen Feiertypus ohne Krämerszene“ an (S. 351), nämlich zur Visitatio; doch werde „ihre sichere Geltung als Gesang der drei Frauen auf dem Weg zum Grabe oft durch die breite Entfaltung der Krämerszenen verdunkelt“ (S. 337). 35 Thoran 1969, S. 234-238. „Es gibt kein Spiel, das nur die A-Strophen unter Fortlassung der BStrophen bringt; umgekehrt finden wir nur B-Strophen“ in einigen Spielen (ebd., S. 239). 36 Deshalb darf der Spieltext nicht wie von Hartl (und in seinem Gefolge Meier) nach einer angeblich ‚ursprünglichen‘, narrativ wahrscheinlicheren Abfolge umgeordnet werden. 37 Petersen 2004, S. 144; vgl. S. 143-160. Schon in Feiern des Typus III gibt es „ein festes Gerüst von in allen Feiern wiederkehrenden Gesängen“ (De Boor 1967, S. 271). 38 Schuler 1951, Nr. 426, 432, 435, S. 260-263. Der Text ist in Osterspielen und -feiern und in Antiphonaren sehr verbreitet; vgl. Wimmer 1974, S. 17f.; zu den volksprachigen Entsprechungen: S. 4754.
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Marien mit einem zweiten Klagegesang ein (A), ebenfalls vollständig wiedergegeben: Heu nobis internas mentes quanti pulsant gemitus („ach, welch heftige Seufzer steigen uns im Innern auf“);39 auch er endet mit dem Entschluss, sich zum Grab aufzumachen und auf dem Weg Salben zu kaufen (V. 838-877). Nun wird der Salbenkrämer auf die drei Frauen aufmerksam. Mit parodistischen Reden geleitet Rubin sie zu ihm (V. 878-951). Der Kauf wird im lateinischen Gesang Huc proprius flentes accedite („ihr Weinenden kommt näher hierher“) (C bzw. der Fortsetzung von B) unter neuen Klagen vorbereitet (V. 952-964) und dann im volkssprachigen Text nach einigem Hin und Her vollzogen (V. 965-1000). Doch die Mercatorszene geht noch weiter: Der Frau des Krämers ist der Preis zu gering, weshalb alles in allgemeinem Streit endet und Rubin zuletzt mit der Krämerfrau durchbrennt (V. 1001-1074). Durch die Verschränkung der durch lateinische Verse überhöhten Texte der Marien mit den Rüpelszenen wird der Ernst des Spiels immer wieder in Erinnerung gerufen. Zwischen den beiden Klagegesängen ergibt sich allerdings insofern eine Unstimmigkeit, als bereits die dritte Strophe des ersten (B) zum erst viel später erfolgenden Salbenkauf überleitet (Sed eamus unguentum emere; „doch lasst uns Salbe kaufen gehen“) und der zweite (A), der die Klagen erneuert, in der dritten Strophe den Wunsch, zum Grab zu gehen und den Leichnam zu salben, wiederholt. Die lateinischen Verse lassen diese Unstimmigkeit stehen; die Texte bleiben unverändert. Die volkssprachigen Paraphrasen dagegen passen sich dem szenischen Verlauf an. Daher enthält diejenige der dritten Strophe des Pater omnipotens den Entschluss zum Salbenkauf noch nicht.40 Damit kann am Ende des zweiten Klagegesangs (A) in der Volkssprache jetzt erstmals vom Aufbruch zum Grab und vom Salbenkauf die Rede sein.41 Jetzt können nach weiteren komischen Szenen die Kaufstrophen (C beziehungsweise die der anderen Zuweisung der Strophen zufolge die vierte Strophe von B: Hoc propius flentes accedite) widerspruchsfrei anschließen. Die liturgischen Texte werden also in den Ablauf des Dramas integriert. Sie werden dramaturgisch aufgespalten und auf drei Stationen des Geschehens verteilt: klagender Aufbruch; Entschluss, zum Grab zu gehen und zum Salbenkauf; Vollzug des Salbenkaufs. Diese Stationen sind so aber nur im volkssprachigen Text deutlich erkennbar. Dieser geht einen Schritt weiter in Richtung auf theatrale Kohärenz. Auch der Charakter der Strophen verändert sich deshalb in den volkssprachigen
|| 39 RH IV, Nr. 27608. 40 Vgl. Wimmer 1974, S. 28f.: „eine übersetzerische Bindung an die Vorlage [ist] nicht mehr wahrzunehmen“. Auch Wimmer vermutet, dass die inhaltliche Inkohärenz Grund für die Änderung des deutschen Textes war (S. 107; vgl. S. 111). – Das weist darauf hin, dass man wohl nicht mit einem genauen Verständnis der lateinischen Gesänge rechnete, inhaltliche Diskrepanzen also nicht bemerkt werden mussten. 41 Wimmer 1974 führt den Umstand, dass das Salben im deutschen Text wieder fehlt, auf die den Salbenkauf noch in weite Ferne rückende, „weit ausholende Krämerszene“ zurück (S. 110).
224 | Jan-Dirk Müller Paraphrasen: aus „Wegestrophen“42 mit der rituellen Wiederholung der Klage im Refrain (heu quantus est noster dolor) werden individuelle Klagen in der ersten Person Singular: ich, mich, myn (V. 511-516; 523-526). Die zweite Maria fordert das Publikum zur Compassio auf: hyr vm, ir frawen vnd ir man, / last uch daz czu herczen gan („darum, Männer und Frauen, lasst euch das zu Herzen gehen“, V. 527f.). Es sprechen einzelne Sünderinnen für die sündige Christenheit (V. 512; 529f.). Die dritte Maria spricht nur sechs Verse – entsprechend dem fehlenden Refrain –; ihre Klagen, die die Aufforderung zum Salbenkauf ersetzen, richten sich an die Mit-Leidenden: Vil liben swestere beide („meine lieben beiden Schwestern“, V. 534). Diese emotionale Intensivierung und Individualisierung wiederholt sich in der volkssprachigen Wiedergabe des zweiten Klagegesangs. Das ursprünglich vorherrschende liturgisch neutrale ‚Wir‘ der Gemeinde43 wird zur Klage dreier Frauen (vns armen frawen, V. 844; 863; 872) konkretisiert, die prototypisch für die anwesenden Christen leiden (Awe, [an] uns armen frawen / mag man nu wol schawen; „O weh, an uns armen Frauen kann man gut sehen“, V, 844f.; ähnlich V. 862f.). Das Spiel zielt auf Empathie mit der anschaubaren theatralen Realität. Die fromme Emotionalisierung ist in die Drastik der Krämerszene eingelassen. Der Kontrast wird verstärkt, indem der feierliche liturgische Gesang parodiert wird. Das beginnt zunächst noch unauffällig mit dem Deutsch und Latein vermischenden, vier- und dreihebige Verse kombinierenden Gesang Rubins: Hy komt meister Ypocras / de gratia divina […] („hier kommt Meister Hippocrates von göttlichen Gnaden“, V. 623f.) Es folgen Worte in einer Phantasiesprache, die offenbar lateinisch klingen soll (V. 786f.). Dann aber spielen die Rufe des Mercator zu seinem Knecht: Rubin, Rubin, Rubin (V. 878; 883; 890; 893) auf die rituelle Dreizahl an und überschreiten sie zugleich in der vierfachen Wiederholung. Wenn Rubin den Grund für die Trauer der drei Marien erfährt und sie feierlich zu seinem Herrn geleitet, karikiert seine Rede liturgischen Gesang: Ibant, ibant tres mulieres Ihesum, Ihesum, Ihesum qu#rentes: Maria Magdalena, Maria Jacobena atque Salomena, vociferasti tu tres mulieres, date mihi denarium, dabo vobis sal sal salbium. (V. 940-947)
|| 42 De Boor 1967 nennt beide Gesänge so (S. 241; 284; 289). 43 Auch im liturgischen Text sind weibliche Sprecher vorausgesetzt (miser#, V. 842); bei der dritten Maria fehlt wieder die Erwähnung des Salbenkaufs.
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Rubin nimmt die rituelle Dreizahl auf: drei Mal [?]44 Ibant, drei Mal Ihesum, drei Marien, drei Frauen und die makkaronische Ankündigung: dabo vobis sal sal salbium (V. 940-947). Er verwandelt das Geleit zum Mercator in ein vom lateinischen Gesang begleitetes Ritual.45 Im anschließenden Salbenkauf verschmilzt die komische Szene mit dem Vorgang, den der lateinische Text erzählt, wobei jedoch die Rollenverteilung des lateinischen Textes der theatralen Szene angepasst wird. Der Mercator fordert die drei Marien zum Kauf auf: Huc propius flentes accedite, Hoc unguentum si vultis emere, cum quo bene potestis ungere (V. 952-954). („ihr Weinenden, kommt näher hierher, wenn ihr diese Salbe kaufen wollt, mit der ihr gut salben könnt“)
Den letzten Vers dieser Strophe, der die Verehrung des Leichnams ausdrückt, löst das Innsbrucker Osterspiel aus dem Redezusammenhang und legt sie statt dem dubiosen Salbenkrämer den drei Marien in den Mund: corpus domini sacratum („den heiligen Leib des Herrn“, V. 955). Auch der Fortgang des Handels benutzt zunächst den strophischen Gesang. Zuerst singen die drei Marien gemeinsam Dic tu nobis, mercator iuvenis („sag uns, junger Kaufmann“, die zweite Strophe des Huc propius bzw. die fünfte Strophe des Omnipotens pater), diesmal mit dem ursprünglichen Refrain heu quantus est noster dolor („ach, wie groß ist unser Schmerz“). In der letzten Strophe des Gesangs nennt der Mercator seinen Preis, wobei der Refrain Heu, quantus noster dolor, der dazu nicht passen würde, wieder den drei Marien gehört.46 Die Parodie wird fortgesetzt, indem Rubin ihren Klageruf Heu als volkssprachiges Nomen interpretiert und die drei Frauen mit Anspielungen auf Bauernwirtschaft verspottet. Dieser parodistischen Verkehrung der Salbenkauf-Strophen folgt die Preisverhandlung nochmal auf Deutsch, worauf die Rüpelszene mit dem Salbenkrämer, seiner Frau und ihren Dienern weitergeht.
|| 44 Vermutlich sollte auch, der Dreizahl zuliebe, Ibant zwei Mal wiederholt werden. 45 Die Aussageform entspricht wieder dem Typus Ingressus Pilatus oder Currebant duo simul. Der lateinische Gesang ‚erzählt‘, was auf der Szene geschieht. 46 Wenn der Vers dem Mercator zugewiesen wird, heißt es vester dolor. Der letzte Vers, den Schuler 1951, Nr. 447, S. 265, zitiert (Optimum est), wird durch den Refrain ersetzt. Zu den Varianten des Schlussverses in Str. 4-6 Wimmer 1974, S. 19, in Auseinandersetzung mit De Boor 1967.
226 | Jan-Dirk Müller Theatralisierung der Compassio und parodistisches Rüpelspiel entfernen sich beide vom liturgischen Substrat, verschärfen aber den Gegensatz zwischen sakraler und gottferner Welt.
2.4 Visitatio- und Hortulanus-Szene: poetisch-liturgisches Oratorium47 Ein erneuter Schnitt, dann folgt der Besuch der drei Frauen am Grab. Von jetzt an spiegelt sich die Reaktion auf das Auferstehungsgeschehen überwiegend in liturgischen und paraliturgischen Texten, die auf mehrere Szenen verteilt und ineinander geschoben werden. Dabei übernimmt „das Osterspiel mit der Szenenfolge und den Gesängen der Feier nicht auch deren rituelle Kohärenz“,48 denn die Gesänge werden geschickt der szenischen Situation angepasst, sodass, unterbrochen von den volkssprachigen Paraphrasen, die Handlung – Finden des leeren Grabes durch die drei Marien, Verkündigung der Auferstehung durch die Engel, Maria Magdalena und der Gärtner – im Wesentlichen mittels der lateinischen Texte progrediert. Kern der Visitatio sind die Tropen aus der Matutinfeier der Ostermesse, die den an die Synoptiker angelehnten Dialog49 zwischen den Frauen und dem Engel enthalten: die Frage der Engel, wen die drei suchten, die Antwort der Frauen (beides jeweils auf Deutsch zwei Mal paraphrasiert), die Verkündigung des leeren Grabes mit dem Auftrag, Petrus und den Aposteln davon zu erzählen, dass ‚er auferstanden ist‘ (vgl. Mc 16,6f.).50 Dieser Dialog wird wie in den Feiern des Typs II und III von zwei Antiphonen umschlossen, zu Beginn, der dramatischen Situation gemäß, gesungen von den Frauen, die sich ängstlich fragen: Quis revolvet ab ostio lapidem, / quem tegere sanctum cernimus sepulcrum? („wer wird uns den Stein vom Eingang wegwälzen, der, wie wir sehen, das heilige Grab bedeckt“, V. 1076f., nach Mc 16,3), am Ende, gesungen von den Engeln, die sie auffordern: Venite et videte locum, ubi positus erat dominus („kommt und seht den Ort, an den der Herr gelegt worden war“, V. 1102f.,
|| 47 Janota 1994 hat betont, dass die Spiele „Musiktheater“ sind; er hat die „oratorienhafte Gestaltung“ (S. 115) vor allem am Alsfelder Passiosspiel herausgearbeitet. 48 Petersen 2004, S. 146. 49 De Boor 1967, S. 30. Zu den Differenzen zwischen dem Tropus-Dialog der Feiern und den Evangelien Petersen 2004, S. 113. 50 Hier weichen lateinischer und volkssprachiger Text voneinander ab; nicht an die Apostel insgesamt (wie im dem Tropus zugrundeliegenden Mc 16,7), sondern Petro vnd Johan (V. 1100) soll die Botschaft überbracht werden. Das bereitet die Auszeichnung dieser beiden Jünger durch den Jüngerlauf im Spiel vor, wie sie auch Io 20,3 schildert: Auch hier achtet der deutsche Text stärker auf theatrale Kohärenz.
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nach Mt 28,6) mit dem Jubelruf Alleluia.51 Alle Texte stammen aus dem Umkreis des Osterfestzyklus.52 Der Besuch der drei Marien am Grab wird dann noch einmal in einem Gesang gespiegelt (Ad monumentum venimus gementes; „weinend kamen wir zum Grab“, V. 1108), einer Antiphon, die rückblickend vom Besuch des Grabs berichtet und vom Zeugnis der Engel von der Auferstehung.53 Dann stimmen sie den Hymnus Ihesu, nostra redemptio („Jesus, unsere Erlösung“, V. 1111) an. Doch singen nur die ersten beiden Marien zwei Strophen davon.54 Von ihnen löst sich die dritte persona, die nicht den Hymnus fortsetzt, sondern die erste Strophe eines anderen (Cum venissem ungere; „als ich kam, um zu salben“, V. 1119-1122) singt, der an den Besuch am leeren Grab erinnert und die Klage fortsetzt.55 Auf diese Weise wird die Verbindung des Berichts der Synoptiker vom Besuch der drei Frauen am Grab mit dem des Johannes von der Erscheinung des auferstandenen Jesus vor Maria Magdalena in eine plausible Abfolge gebracht. Die dritte Maria ist jetzt als Maria Magdalena identifizierbar.56 Damit ist der Übergang zu deren Begegnung mit Jesus in Gestalt des Gärtners (Io 20,14ff.) geschaffen. Diese Szene kombiniert strophische Verstexte mit Prosa-Antiphonen. Nach der ersten Strophe des Hymnus folgen zwei deutsche Paraphrasen, die erste gesungen (V. 94), dann die zweite Strophe (En lapis est vere depositus; „ach, der Stein ist wirklich weggewälzt“, V. 1135-1138).57 Die volkssprachigen Texte weichen wieder erheblich vom lateinischen Text ab, indem die ersten beiden (zur Strophe 1 des Hymnus) sich auf die Klage um den erlittenen Verlust konzentrieren, während die volkssprachige Wiedergabe der zweiten Strophe (En lapis) fehlt. Das ist konsequent, denn diese Strophe rekapituliert, was Maria Magdalena schon gesehen hat, als sie || 51 De Boor 1967, S: 81; 88: Die beiden Antiphone gehörten ursprünglich wohl nicht zum Feiertypus I. 52 Zu der den Feiern Typ II und III entlehnten Struktur Thoran 1969, S. 284; vgl. CAO I, Nr. 75 bzw. III, 5352. 53 Schuler 1951, Nr. 11, S. 133. Dieser Gesang fungiert in den Feiern des Typs II als Abschluss der Visitatio und leitet dort gewöhnlich zum Jüngerlauf über (vgl. Thoran 1969, S. 326; Petersen 2004, S. 105). Hier geht er der Hortulanus-Szene aus dem Feiertypus III voraus, in dem Jesus leibhaftig erscheint. 54 Schuler 1951, Nr. 286; 287; 217-219; der Hymnus (RH I, Nr. 9582; vgl. Jes 49,7) erscheint in den Osterfeiern und -spielen an unterschiedlichen Stellen und wird unterschiedlichen Figuren zugewiesen (vgl. De Boor 1967, S. 288-290); er gehört u. a. in den Umkreis der Liturgie an Christi Himmelfahrt; zur Verwendung in Feiern und Spielen Petersen 2004, S. 164-168. Von der zweiten Strophe fehlt im Innsbrucker Osterspiel der letzte Vers. Eine dritte Strophe, die von Descensus und Überwindung der Hölle spricht und die „eschatologisch konnotierte Heilserwartung“ der Strophen 4 und 5 (ebd., S. 164) würden nicht in den Zusammenhang passen. Sie werden hier durch eine Strophe der Maria Magdalena ersetzt. 55 RH III, Nr. 25178; Schuler 1951, Nr. 76, 156; De Boor 1967, S. 285. 56 In der Rede Rubins war sie an erster Stelle genannt worden (V. 942). 57 Schuler 1951, Nr. 80, S. 158.
228 | Jan-Dirk Müller mit den anderen Marien das Grab besuchte. Wieder beseitigt der volkssprachige Spieltext eine Unstimmigkeit, die durch die Kombination verschiedener lateinischer Hymnen entstanden ist. Der Auferstehungsjubel wird noch einmal sistiert, indem Maria Magdalena verzweifelt Jesus sucht. Jesu Frage (Mulier quid ploras […]; „was weinst Du, Frau“) und Maria Magdalenas Antwort in der Antiphon (Domine, si tu sustulisti eum […]; „Herr, wenn Du ihn weggetragen hast“, V. 1139-1143)58 folgen dem Johannesevangelium (Io 20,15), doch ist der dort berichtete Vorgang in zwei Szenen aufgespalten.59 Dazwischen eingeschaltet ist – sehr kurz – die schwankhafte Auseinandersetzung mit dem Hortulanus, der Maria Leichtfertigkeit vorwirft. Anders als beim Salbenkauf überwuchert hier die volkssprachige Komik nicht den sakralen Ernst. Dann setzt Maria ihre Klage mit der dritten Strophe des Hymnus fort (Dolor crescit, tremunt praecordia; „es wächst der Schmerz, es zittern die Eingeweide“, V. 1160-1163); in der Volkssprache ist sie zu neun Reimpaaren amplifiziert (V. 11641181). Erst dann erfolgt der zweite Teil der Begegnung Marias mit Jesus: Jesus tritt mit der österlichen Fahne des Sieges über den Tod auf, und Maria begrüßt ihn mit Gesang (Heu redemptio Israhel, / ut quid sustinuit mortem patiens; „ach Erlösung Israels, wie er geduldig den Tod ertragen hat“, V. 1182f.):60 Noch bevor sich Jesus auch mit Worten zu erkennen gibt, betont Maria Magdalena die Verbindung von Passion und Erlösung. Nach dem anschließenden gesungenen Dialog beider (Io 20,16f.) singt Jesus drei Strophen des Hymnus Prima quidem suffragia / stola tulit carnalia („der erste Körper hat euch nur Hilfe im Fleisch gebracht“, V. 1188f-1201), der von der Verwandlung des sterblichen Körpers Jesu in den unsterblichen verklärten Leib handelt und auf die Himmelfahrt vorausdeutet.61 Nach jeder Strophe fällt Maria mit den der Verehrung des Kreuzes in der Karfreitagsliturgie entnommenen Ausrufen des Trishagion ein:62 Sancte deus, Sancte fortis, Sancte immortalis miserere nobis („Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser“,
|| 58 Vgl. CAO III, Nr. 5232; Antiphon der feria V der Osterwoche. Der hier vollständig zitierte lateinische Text ist gegenüber der Antiphon verkürzt. 59 Die Teilung der Hortulanus-Szene hat gewiss auch, wie man seit langem bemerkt hat, dramaturgische Gründe: „der Darsteller Christi mußte sich während der Dolor-crescit-Strophe aus dem Gärtner in den Christus triumphans verwandeln“ (Wimmer 1974, S. 23; vgl. ebd., S. 112). Doch ist die Aufspaltung liturgischer Texte eine durchgängige Strategie des Innsbrucker Osterspiels. 60 Schuler 1951, Nr. 251, S. 208f. Diese Antiphon findet sich in vielen Osterspielen an dieser Stelle. – Schon in den Feiern des Typs III leitet sie die „Christophanie“, die „theatrale Substitution des verlorenen Körpers“ ein (Petersen 2004, S. 125-134; Zitat S. 125; vgl. ebd., S. 151). 61 Nach Meyer 1901 Strophengruppe E. ‚Antiphon‘ nennt sie das Böhmische Osterspiel I; vgl. Schuler 1951, Nr. 485, S. 274; die metrisch abweichende (‚trochäische‘) dritte Strophe Nunc ignaros huius rei, / Fratres certos, reddes mei, / In Galileam, dic, ut eant, / Et me viventem videant (Schuler 1951, Nr. 487, S. 275) fehlt. 62 Schuler 1951, Nr. 556, S. 308. Diese Worte finden sich auch in der Antiphon Media vita. Auch die Verwendung des Trishagion ist in den Feiern vorgeprägt (Petersen 2004, S. 126).
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V. 1192; 1197; 1202f.). Dieser liturgische Wechselgesang bleibt unübersetzt. In der Volkssprache folgt ein Segenswunsch Jesu für Maria Magdalena, die ihn als erste nach der Auferstehung sehen durfte. Der Hymnus schloss mit der an die zuvor gesungenen Worte Jesu nach Io 20,17 angelehnten Strophe: Ergo noli me tangere nec ultra velis plangere, quem mox in puro sidere cernes ad patrem scandere. (V. 1198-1201) („So rühr mich nicht an und weine nicht mehr um den, den Du bald im Licht der Sterne zum Vater auffahren sehen wirst.“)
Das ist das Stichwort für eine weitere, von Maria Magdalena gesungene Strophe,63 die noch einmal die Auferstehung verkündet: Vere vidi dominum vivere nec dimisit me pedes tangere. discipulos oportet credere, quod ad patrem velit ascendere (V. 1208-1211). („wahrhaft habe ich den Herrn am Leben gesehen, aber er ließ mich nicht seine Füße berühren. Die Jünger müssen glauben, dass er zum Vater auffahren will“)
Der Hymnus wird also zu einer inneren Geschichte Maria Magdalenas zerlegt: Sie beschließt, den Toten zu salben (I), sieht, dass der Stein vom Grab weggewälzt ist (II), setzt – trotz des vorausgehenden Besuchs am leeren Grab – ihre Klage fort (III) und bezeugt Jesu Auferstehung (IV). In diese Geschichte eingeschaltet ist, wieder durch zwei, sich an Io 20 anlehnende Gesänge vermittelt, ihre Begegnung mit dem Auferstandenen. Diese ist ihrerseits in zwei Szenen aufgespalten, zwischen die die dritte Strophe des Hymnus (die neuerliche Bekundung des Schmerzes: Dolor crescit) und der Gesang Heu redemptio Israhel (die Erkenntnis, dass die Erlösung den Tod Jesu voraussetzte) eingeschoben sind. Es folgt vor der letzten Strophe (Vere vidi) Jesu Gesang über seine Verklärung und seine Verehrung durch Maria Magdalena. Das ist eine plausible Abfolge, in der die gesungenen Texte zu Trägern der Handlung werden. ‚Berichtende‘ Antiphone fehlen. Die ineinander geschobenen liturgischen Gesänge mit den gegeneinander versetzten Evangelienworten vollziehen so den Besuch der Frauen am Grab und die erste Begegnung des Auferstandenen mit
|| 63 Schuler 1951, Nr. 93, S. 162 weist sie – wieder wohl auf Grund ihrer metrischen Struktur – als letzte dem Hymnus Cum venissem ungere zu; Meyer 1901 behandelt sie als selbständig (F); lt. De Boor 1967, S. 284 ist sie später hinzugekommen, evtl. zuerst im Spiel entstanden und von dort in die Feiern übernommen worden; vgl. RH III, Nr. 25178.
230 | Jan-Dirk Müller Maria Magdalena. Die Struktur der paraliturgischen Feiern ist beibehalten, doch die Textelemente sind neu kombiniert und zu einer fortlaufenden Handlung gefügt. Im restlichen Spiel kehren bislang beschriebene Funktionen der lateinischen Texte wieder. Mit dem Verkündigungsgesang wird zur Szene um den ungläubigen Thomas übergeleitet, in der Maria noch einmal ihre Gebetsworte (Sancte deus usw., V. 1226-1268) aus der Karfreitagsliturgie wiederholt. Nachdem Jesus Thomas von seiner Auferstehung überzeugt hat, folgt die Sequenz der Ostermesse, verteilt auf mehrere Figuren (V. 1247-1280). Zuerst singt Maria Magdalena, wobei nur der erste und zweite Vers anzitiert werden: Victimae paschali laudes („dem österlichen Opferlamm [mögen die Christen ihr Opfer darbringen]“) und Agnus redemit („das Lamm erlöste [die Schafe]“). Ob der dritte folgt oder eher ausgelassen wird, bleibt offen. Der vierte und der fünfte Vers jedenfalls werden als Dialog zwischen Maria und den Aposteln Petrus und Johannes inszeniert (Dic nobis Maria [„sag uns Maria“] bzw. Sepulchrum Christi viventis [„das Grab des lebendigen Christus“]); sie erscheinen wieder vollständig als individualisierte Rede und Gegenrede. 64 Nach der deutschen Paraphrase (V. 1261-1274) steht der letzte Vers der Ostersequenz Credendum est magis soli Mariae etc. („man soll mehr allein der Maria glauben [als der lügnerischen Schar der Juden]“).65 Er wird hier Petrus und Johannes in den Mund gelegt, den beiden Akteuren der folgenden Szene. Die liturgischen Texte sind also wieder ‚dramatisiert‘. Zuletzt der Lauf der beiden Jünger zum Grab, begleitet von der ‚erzählenden‘ Antiphon Currebant duo simul et ille alius discipulus („zwei liefen gleichzeitig los, und jener andere Jünger [lief schneller als Petrus diesem voraus]“, V. 1281f.)66 und schließlich die Verkündigung mit dem leeren Grabtuch durch die Antiphon Cernitis, o socii („ihr seht, Gefährten“), 67 die sich in den deutschen Paraphrasen an die versammelte christliche Gemeinde, die vyl liben lute (V. 1291) richtet. All diese Texte werden wieder nur anzitiert. Mit der volkssprachigen Verkündigung durch Johannes und seiner Aufforderung an die versammelte Gemeinde Christ in enstandin von hymmelriche etc. (V. 1317) zu singen, endet das Spiel.
|| 64 Schuler 1951, Nr. 651 und 652, S. 350-356, sowie die Sequenz der Ostermesse. In den Feiern singt die Frage der Chor (De Boor 1967, S. 279); zur Verteilung der Stimmen in der Feier Petersen 2004, S. 116; in den Spielen singen die an der Szene beteiligten Figuren, wo „die Akteure der Feier […] als Stellvertreter des anwesenden Kollektivs handeln“ (ebd., S. 117). 65 RH I, Nr. 4566, ebenfalls zur Liturgie der Osterwoche gehörend. 66 CAO I, Nr. 80-82; wie die folgende Antiphon an verschiedenen Stellen der Osterwoche verwendbar. Wieder szenische Umsetzung eines von den Akteuren gesungenen liturgischen Textes: Die Apostel singen und laufen zugleich. 67 Schuler 1951, Nr. 53, S. 145f. Die zur Liturgie der Osterwoche gehörende Antiphon (vgl. Schuler 1951, S. 146) wurde früh in die Liturgie der Ostermesse aufgenommen und gehört zu den pièces de résistance von Osterfeiern und -spielen (Thoran 1969, S. 338).
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3 Zwischen Ritual und Theatralisierung Die lateinischen Texte haben neben dramaturgischen Funktionen vor allem die Aufgabe, das Geschehen an die Verkündigung der Evangelien und die Liturgie anzubinden. Sie sind nicht durchweg in die theatralische Mimesis einbezogen. Sie können als Teile des Dialogs die Spielhandlung tragen, sie erzählend begleiten, an manchen Stellen sie gar konterkarieren. Liturgische Funktionen können umbesetzt werden, so etwa der Kirchweihritus zum Brechen der Höllenpforten beim Descensus. Aus der Bitte der unerlösten Gemeinde Exsurge, Domine wird die Ankündigung der Auferstehung und Erlösung. Wenn die liturgischen Worte einer der Figuren im Spiel in den Mund gelegt werden, kann das in Übereinstimmung mit dem liturgischen Text geschehen (Jesus) oder mindestens in Nähe zu ihm (Adam), aber ebenso in Übertragung auf eine andere Figur der Heilsgeschichte (z.B. der Auferstehungsruf der Engel), ja selbst auf einen beliebigen Sprecher (der primus Iud#us das Exaudi, Israel). Latein ist Kultsprache; als Kultsprache wird es durchweg gesungen. Die Kultsprache kann auch parodiert werden. Unübersehbar ist in einigen Passagen die Tendenz zur Theatralisierung lateinischer Texte. Dort, wo der lateinische Text Träger des dramatischen Geschehens ist (Tollite portas bzw. der Dialog mit den Engeln am Grab bzw. Dic nobis Maria), wird er vollständig zitiert. Schon in den Feiern konnten diese Passagen dialogisiert sein. Im Spiel verselbständigen sie sich weiter gegenüber den ursprünglichen liturgischen Zusammenhängen. Dazu gehört auch, dass sie bestimmten Akteuren des Spiels zugewiesen werden. Wo das nötig ist, werden die Gesänge auseinandergenommen, ineinander geschoben und dem Verlauf des Geschehens entsprechend eingesetzt. So passen sich die lateinischen Texte der ausufernden Salbenkrämerszene ein, die der erste Gesang einleitet (V. 540ff.), die der zweite unterbricht (V. 838ff.) und die viel später der dritte (V. 912ff.) mit dem Auftritt der klagenden Frauen und in der Verhandlung über den Preis abschließt. Dabei werden die Redeanteile ‚passend‘ zu den jeweiligen Sprechern verteilt, d. h. ein Refrain des Gesangs C, der zum Mercator nicht passt, den Marien zugewiesen. An dieser Szenenfolge wird besonders deutlich, wie die Spielhandlung den paraliturgischen Ablauf überwuchert. Diese Theatralisierung setzt sich im volkssprachigen Text fort. Lateinischer und volkssprachiger Text sind durchweg aufeinander bezogen, weichen aber an einigen Stellen erheblich voneinander ab. Während der liturgische Text in der Regel seine liturgisch oder in Feiern bezeugte Gestalt nicht verändert, wird der volkssprachige stärker der Spielhandlung angepasst. Die deutschen Reimpaare setzen, vor allem emotionalisierend, eigene Akzente. Darüber hinaus werden Diskrepanzen zwischen den lateinischen Texten und dem Handlungsverlauf bzw. den jeweiligen Sprechern korrigiert. An die Stelle der Antiphon, die den Einzug des Pilatus begleitet, indem sie ihn erzählt (und daher eigentlich nicht von der Spielfigur Pilatus gesprochen
232 | Jan-Dirk Müller werden kann), tritt in der Volkssprache die Selbstvorstellung der Figur, die zugleich in die Handlung einführt (V. 48-52).68 Der erste Jude singt nicht mehr einen liturgischen Text, der sich zwar ursprünglich an sein Volk richtete, jetzt aber auf die Christenheit zielt, sondern spricht die Hassworte gegen Jesus, die man von einem Juden erwartet.69 Die dritte Maria bekundet am Ende des ersten Klagegesangs (B) nicht, wie auf Latein, die Absicht, Salben zu kaufen, sondern setzt die Klagen der anderen fort; im zweiten Klagegesang (A) fordert sie zwar auf, zum Grab zu gehen, doch fehlt immer noch der Entschluss zum Salbenkauf. Rituelle Elemente werden im volkssprachigen Text abgebaut, das Tollite portas nur ein Mal, nicht drei Mal wiedergegeben, der ritualhafte Refrain O quantus est noster dolor durch unterschiedliche, individuelle Schmerzbekundungen ersetzt. Wo aber die liturgische Bedeutung dominieren soll wie in Jesu Gesang Resurrexi, fehlt die deutsche Paraphrase: Das Auferstehungsgeschehen selbst verlässt nicht den kultischen Rahmen. So ist das Spiel von 1391 durchaus unterschiedlich eng auf die Tradition der Liturgie und der Osterfeiern bezogen. Es spiegelt besonders in seinen volkssprachigen Teilen die Tendenz zur Theatralisierung, die von der Liturgie wegführt, doch setzt diese sich in unterschiedlichem Maße durch. Ganz auf die liturgische Verankerung verzichten kann es nicht.
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Die lateinischen Gesänge im Innsbrucker Osterspiel zwischen Theater und Liturgie | 233 Erlauer Spiele. Sechs altdeutsche Mysterien. Nach einer Handschrift des XV. Jahrhunderts (1882). Hrsg. und erläutert von Karl Ferdinand Kummer. Wien. Hartl, Eduard (Hrsg.) (1937): Innsbrucker Osterspiel. In: Das Drama des Mittelalters. Osterspiele […]. Leipzig (Repr. Darmstadt 1964), S. 120-189. Mone, Franz Joseph (Hrsg.) (1841): Altteütsche Schauspiele. (Bibliothek der gesamten deutschen Nationalliteratur 21). Quedlinburg-Leipzig. RH = Chevalier, Ulisse (Hrsg.) (1892-1912): Repertorium hymnologicum. Catalogue des chants, hymnes, proses, séquences, tropes en usage de l‘église latine. 4 Bde. Löwen. Tischendorf, Constantinus (Hrsg.) (1853): Evangelia apocrypha adhibitis pluribus codicibus graecis et latinis […]. Leipzig. Tischendorf, Constantinus (Hrsg.) (1876): Evangelia apocrypha adhibitis pluribus codicibus graecis et latinis […]. 2. vermehrte Ausgabe. Leipzig. Turnher, Eugen & Walter Neuhauser (Hrsg.) (1975): Die Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift von 1391. In Abbildung. (Litterae 40). Göppingen.
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Cornelia Herberichs
Plädoyer für den Mercator Zur hermeneutischen Funktion der Salbenkauf-Szene in bildlichen Darstellungen des Mittelalters, im lateinischen Osterspiel sowie im Osterspiel von Muri
1 Das Osterspiel zwischen Liturgie und Literatur: Der Grenzfall der Mercator-Szenen Im Spannungsfeld von Liturgie und Literatur stellt das Geistliche Spiel eine in verschiedener Hinsicht aufschlussreiche Gattung dar. Entstanden im Kontext des christlichen Kults1 begleitet seine Entwicklung schon bald die kritische Frage nach dessen Funktion im Rahmen von Heilsverkündung und Heilsdidaxe.2 Zur spezifisch religiösen, mitunter paränetischen Intention Geistlicher Spiele scheinen jene Szenen ganz besonders im Widerspruch zu stehen, in denen sich zum feierlichen Ernst der Liturgie ein scharfer Kontrast auftut: Die Rede ist von den zahlreichen komischen, zuweilen derben Spieleinlagen, in denen auftretende Figuren die fromme Aufgabe der Heilsunterweisung zu unterlaufen scheinen, indem sie sich einer allzu profanen Sprache bedienen oder sich auf dem Schauplatz des Theaters sogar handgreiflich prügeln.3 Eine der frühesten solcher ‚weltlichen‘ Episoden,4 die in das Szenenrepertoire des Geistlichen Spiels Eingang gefunden haben, ist die sogenannte Mercator-Szene in den Osterspielen.5 Mit ihr hat sich die Forschung bereits ausführlich, doch überaus kontrovers beschäftigt und ist sich bis zuletzt uneinig geblieben, ob diese Szenen bloß als „fröhliches Unkraut“ anzusehen sind,6 als ein die christliche Ausrichtung der Spiele subvertierender mythischer ‚Atavismus‘7 oder als pädagogisch abschreckende Posse || 1 Siehe zum liturgischen Kern der Osterspiele Unterreitmeier 1991, S. 83f.; zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der Subgattungen ebd., S. 85f. 2 Zur theologischen Reflexion auf den theatralen Status Geistlicher Spiele siehe grundlegend Warning 1974, S. 37-57 und Petersen 1999, S. 7f. 3 Siehe zur Typologie der komischen Szenen Geistlicher Spiele Krüger 1931 und jüngst zusammenfassend Schulze 2012 (unter der bezeichnenden Kapitelüberschrift ‚Ästhetische Verselbständigungen‘), S. 224. 4 Linke 1987, S. 169. 5 Zur Geschichte der Salbenkauf-Szene siehe die älteren Arbeiten Dürre 1915, Bäschlin 1929, Krüger 1931 und auch die Übersicht der Salbenkrämer-Szenen bei Katritzky 2007, S. 117-126. 6 Baeschlin 1929, S. 20. 7 Vgl. die grundlegen Arbeiten von Warning 1974, ders. 1998; dazu Müller 1997.
236 | Cornelia Herberichs über die anzuprangernde Weltzugewandheit der Zuschauer, die zur „Abkehr vom saeculum“8 bewegt werden sollen.9 Die bislang beinahe ausschließliche Fokussierung der germanistischen Forschung auf die Frage, wie die Einlage der burlesken Salbenkrämer-Szenen zu erklären sei, ob anthropologisch, rituell oder didaktisch, hat meines Erachtens zu einer folgenreichen Verengung des Blicks und des analytischen Interesses geführt: Die hermeneutische Tradition der Mercator-Figur sowie wichtige sinntragende und sinnstrukturierende Funktionen der Salbenkauf-Szenen sind dagegen bislang keineswegs hinreichend in den Blick gekommen. Um dieses Desiderat zu erfüllen, erscheint mir ein interdisziplinärer Ansatz erfolgversprechend: Indem ich sowohl das Feld unterschiedlicher mittelalterlicher Deutungstraditionen beleuchte als auch diverse Medien der Darstellung des Salbenkaufes untersuche, arbeite ich im Folgenden die heterogenen Schichten der Semantik dieser Szene und das hermeneutische Potential der Mercator-Figur in ihren historischen Erscheinungsformen heraus. Meine leitende These lautet, dass sich nur mit Blick auf die unterschiedlichen Traditionen und Medien ermessen lässt, wie polyvalent die Salbenkrämer-Szene tatsächlich ist und welche Signifikanz ihr im Rahmen der deutschsprachigen Osterspiele zukommt. Ich gehe in drei Schritten vor: Zuerst stehen theologische Reflexionen auf das biblische Salbenkaufmotiv im Mittelpunkt, um zu belegen, dass bereits der gelehrte religiöse Diskurs von Ambivalenzen in der Bewertung der durch den Salbenkauf gegebenen ökonomischen Transaktion geprägt ist (Kapitel 2). Sodann zeige ich anhand bildlicher Darstellungen, die in liturgischen beziehungsweise in kirchenarchitektonischen Kontexten begegnen, verschiedene ikonologische Strategien auf, welche die Salbenkrämer-Szene jeweils in komplexe Verweisstrukturen einbinden (Kapitel 3). Die Bildanalysen offenbaren, dass die Szene in allen Beispielen erkenntnisstrukturierende Funktionen erfüllt und auf einer paradigmatischen Ebene mit weiteren Szenen der Heilsgeschichte verknüpft ist, insbesondere mit der Angelophanie am Ostergrab. Mit meinen – fachfremden – Exkursen in die Kunstgeschichte beabsichtige ich keineswegs, in diesem Beitrag von neuem die bekannte Einflussfrage zwischen mittelalterlicher Theaterpraxis und bildender Kunst zu diskutieren.10 Vielmehr soll die Konzentration auf strukturelle Momente der Bildprogramme den Blick für analoge strukturelle Momente in Geistlichen Spielen schärfen (Kapitel 4): Hier beschäftige ich mich als erstes mit Salbenkauf-Szenen lateinischer Osterfeiern || 8 Linke 1987, S. 175; ausführlicher dazu ders. 1971 und Wolf 2009; zur Funktion der Komik im Weihnachtsspiel siehe ders. 1999. 9 Ein „Dilemma, in dem sich die Forschung seit Jahrzehnten gefangen sieht“, konstatierte bereits Warning 1974, S. 39-43, hier S. 43; einen kurzen Überblick über die kontroversen Positionen bietet Röcke 2002, S. 335f. 10 Dass Bildmedien als sekundäre Zeugnisse für Spiele anzusehen seien, ist seit Kinkel 1877 die vorherrschende Meinung in der Forschung. Siehe dazu auch unten Anm. 30.
Plädoyer für den Mercator | 237
und -spiele, um darzulegen, dass die unterschiedlichen Traditionen, namentlich die französische und die deutsche, mit der gängigen Dichotomisierung von ‚profanrealistisch‘ versus ‚sakral-symbolisch‘ bisher nicht angemessen gedeutet wurden. Detaillierte Analysen der lateinischen Spiele lassen nämlich erkennen, dass die Mercator-Szenen dort strukturell in analoge Sinnbezüge eingelassen sind wie in den herangezogenen Bildbeispielen und überdies motivische Verschränkungen mit weiteren Spielszenen aufweisen. So tragen die Mercator-Szenen entscheidend zur semantischen und semiotischen Komplexitätssteigerung der Dramentexte bei (4.1). Am Beispiel des Osterspiels von Muri widme ich mich abschließend der frühesten Salbenkauf-Szene eines deutschsprachigen Spiels und untersuche in ihm paradigmatische Strukturen, in welche die Szene dort eingefügt ist: So gelingt es aufzuzeigen, dass das Osterspiel von Muri von einem präzise konstruierten ökonomischen Diskurs geprägt ist. Der Figur des Salbenkrämers kommt da die Funktion zu, signifikante semantische Prozesse innerhalb der dargestellten Welt abzubilden und zugleich zu dynamisieren, insbesondere die Transformation der weltlichen minneSemantik in eine religiöse einerseits und die Metamorphose des Kaufakts in eine Liebesgabe andererseits (4.2). Mit meinen Interpretationen verschiedener mittelalterlicher bildlicher Darstellungen und Texte des Salbenkaufs hoffe ich über die hier vorgelegten Ergebnisse hinaus Impulse geben zu können – insbesondere für die Entwicklung neuer Perspektiven für die Interpretation auch der ausschweifend-burlesken Mercator-Szenen deutschsprachiger Spiele, um so schließlich die Diskussion über deren hermeneutische Funktionen neu anzustoßen.
2 Der österliche Salbenkauf in Exegese und Homilie Das Marcus-Evangelium erwähnt als einziger biblischer Text den Salbenkauf am Ostermorgen: Et cum transisset sabbatum, Maria Magdalene, et Maria Iacobi, et Salome emerunt aromata, ut venientes ungerent Iesum („Und als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und [Maria] Salome wohlriechende Öle, um Jesus salben zu gehen“, Mc 16,1). An Marcus‘ lakonische Bemerkung über die Transaktion der Salben (emerunt aromata) schließt unvermittelt im kausalen Nebensatz die Begründung für den Erwerb an (ut venientes ungerunt Iesum). Der Kaufakt als solcher wird ignoriert: Einzig die Absicht der Frauen, Jesus zu salben, stellt der Evangelist in das Zentrum der Textaussage. Auch die Kommentatoren des Marcus-Evangeliums schenken dem Motiv der ökonomischen Transaktion als solchem wenig Beachtung. Vielmehr sind sie mit dem Widerspruch befasst, der in Bezug auf den Lucas-Bericht entsteht, wo es heißt,
238 | Cornelia Herberichs dass die Frauen noch am Abend der Grablegung Öle und Salben bereitlegten (Lc 23,56 bzw. 24,1).11 Angesichts der Aussagen bei Lucas erscheint folglich ein Salbenkauf am Ostermorgen schlicht unnötig. Die Harmonisierung der beiden Berichte durch die Glossa ordinaria erfolgt spitzfindig auf den erforderlichen Arbeitsaufwand und auf die hierfür all zu kurze Frist: Zwar hätten die Marien schon abends begonnen, die Salben vorzubereiten, doch quia prae angustia temporis non poterant explere („wegen der knappen Zeit vermochten sie nicht, dies zu vollenden“),12 und folglich mussten am Ostermorgen weitere Salben gekauft werden. Die Praxis der Leichensalbung und die überaus frühe Tageszeit als Zeitpunkt des Einkaufs werden vor dem Hintergrund jüdischer Riten und Bräuche erklärt, nahmen doch die Frauen Rücksicht auf das Gebot der Sabbatruhe.13 Die Absicht der Marien, Jesus zu salben, erfährt schon in den Bibelkommentaren unterschiedliche Bewertungen: Würden in den Handlungen der Frauen einerseits ihre Frömmigkeit und ihre Liebe für Christus ersichtlich, so erfolge der Versuch, den Toten zu salben, doch andererseits unter einer falschen Prämisse. Thomas zitiert in seiner Catena aurea SEVERIANUS. Mulieres hoc loco feminea devotione discurrunt, quae non ut viventi fidem, sed ut mortuo unguenta deferunt ad sepulcrum; et ut sepulto parant moeroris obsequia, non ut resurgenti praeparant divinorum gaudia triumphorum.14 („Severianus: Die Frauen laufen an diesem Ort in weiblicher Verehrung herum, bringen ihm nicht als Lebendem, sondern als Totem Spezereien zum Grab, bezeugen ihm als einem Begrabenen Trauer und bereiten ihm nicht als Auferstehenden die Freude des göttlichen Triumphes.“)15
Da sie die Auferstehung offensichtlich nicht für möglich halten, kann das Ansinnen der Frauen sogar als ausgenommen töricht erscheinen:
|| 11 Et revertentes paraverunt aromata, et unguenta: et sabbato quidem siluerunt secundum mandatum („Dann kehrten sie heim und bereiteten wohlriechende Öle und Salben zu. Am Sabbat aber hielten sie die vom Gesetz vorgeschriebene Ruhe ein“, Lc 23,56); Una autem sabbati valde diluculo venerunt ad monumentum, portantes quæ paraverant aromata („Am ersten Tag der neuen Woche kamen sie in der Morgenfrühe mit den Salben, die sie bereitet hatten, zum Grab“, Lc 24,1). 12 Catena aurea, S. 560; die Catena aurea deutsch, die im Kontext des Deutschen Ordens entstanden ist, glättet den Widerspruch noch weitergehend, indem sie suggeriert, Lucas habe ebenfalls von einem Salbenkauf berichtet: so kouften sie wurtze vnd bereiten die salbe als Lucas spricht („so kauften sie Kräuter und bereiteten die Salbe, wie Lucas dies berichtet“, S. 495). Hugo de Sancto Caro weiß ebenfalls, dass die Frauen zusätzliche Salben kaufen mussten (quia non sufficiebant que habebant, o.p.); ähnliche Kommentierung findet sich auch bei Nicolaus de Lyra. 13 Vgl. die Kommentare zur Stelle bei Nicolaus de Lyra und Hugo de Sancto Caro. 14 Catena aurea, S. 560. 15 Meine Übersetzungen lehnen sich an Oischinger, Goldene Kette, S. 347 an.
Plädoyer für den Mercator | 239 THEOPHYLACTUS. Non enim magnitudinem atque dignitatem divinitatis Christi sapiunt. Venerunt autem iuxta consuetudinem Iudaeorum ungere corpus Christi, ut scilicet maneret odoriferum, et ne humiditate scaturiret: nam aromata virtutem habent desiccativam, humiditatem corporis absorbentia: unde incorruptum corpus conservant. („Theophylactus: Denn sie erkennen nicht die Größe und göttliche Würde Christi. Sie kamen aber nach der jüdischen Gewohnheit, um den Leichnam Jesu zu salben, damit er nämlich wohlriechend bliebe und nicht in Fäulniss überginge; denn die Spezereien haben eine austrocknende Kraft und absorbieren die Feuchtigkeit des Leibes, so erhalten sie den Leib unversehrt.“)16
Die medizinischen Erläuterungen zur Exsikkation stehen im Widerspruch zum Glauben an den heiligen Leichnam Christi; angeprangert werden derart implizit die ‚jüdische‘ Kleingläubigkeit der Frauen und die falschen Prämissen ihrer Jesusverehrung. Die ostmitteldeutsche Übersetzung der Catena aurea wertet hier noch drastischer: Sich wie dise wibe vnuernumftic waren denne sie en begriffen nicht der groze noch der wirdikeit der gotheit in Cristo („Sieh, wie unverständig diese Frauen waren, denn sie verstanden nicht die Größe und Erhabenheit der Göttlichkeit Christi“).17 Die Exegese treibt eine Ambivalenz hervor, welche der biblischen SalbenkaufSzene nur implizit inhärent ist. Die volkssprachigen Predigten zu Mc 16,1ff. scheinen diese Ambivalenz gegenüber den lateinischen Predigten zumeist deutlich zurückzudrängen.18 Die frühesten erhaltenen volkssprachigen Predigten, die den Salbenkauf behandeln, datieren aus dem 12. Jahrhundert. Den Lesern und Hörern einer alemannischen Predigt werden die Frauen als Vorbilder vor Augen gestellt: Nu _uln wir tvon al_e die_e heiligin vrovwe tatin. Wir _uln vn_ir_ herrin hiute wi_on mit vn_irme gvotin gi_elbe. vnde mit vn_iren bimiton. daz ist div rehte glovbe. vnde div gvotin werch.19 („Wir sollen nun so handeln, wie es diese heiligen Frauen taten. Wir sollen heute unseren Herrn besuchen mit unseren guten Salben und mit unseren Pigmenten/Spezereien. Das sind der rechte Glaube und die guten Werke.“)
|| 16 Oischinger, Goldene Kette, S. 347. 17 [...] vnde dar vm quamen sie nach dem das die Juden eynen sitten hatten vnd wolden Jhesu licham salben vf das der licham wolrichende blibe vnd das er ouch icht vulte vnd von den wurmen verzerit wurde („[...] Deshalb kamen sie nach jüdischem Brauch und wollten Jesu Leichnam salben, damit dieser wohlriechend bliebe und damit er nicht faule und von den Würmern verzehrt werde“, Catena aurea deutsch, S. 496) 18 Da die volkssprachigen Prediger vielfach auf lateinische Kommentare und Homilien zurückgreifen, werden im Rahmen dieses germanistisch ausgerichteten Beitrags die lateinischen Sermones hier nicht eigens analysiert. Der hier geäußerte Eindruck wäre allerdings noch eingehender zu überprüfen. – Zu den frühen deutschsprachigen Ostersonntag-Predigten siehe die Zusammenstellung bei Schiewer 2008, S. 255-273. 19 Sermo de pascha (12), S. 30.
240 | Cornelia Herberichs Wird in dieser Allegorese der materielle Preis der Salben nicht thematisiert, so bringt eine im bayerischen Raum mehrfach überlieferte Predigt20 hingegen den Aspekt des Wertes ein, wenn es heißt, die Marien giengen und chauften da si teur salben auz machten („gingen dorthin zum Kauf, wo sie teure Salben finden konnten“).21 Auf eine materielle Dimension hinsichtlich der Opferbereitschaft wird konkret hingewiesen: Ez waz gewonheit der alten lFte under den juden daz die edeln und die richen frawen ir maistern von den si daz gotes wort horten, daz si den mit ir gůte dienten und in alle ir notdurft gaben.22 („Es war Brauch bei den alten Juden, dass die adeligen und vermögenden Frauen ihren Meistern, die sie im Wort Gottes unterrichteten, mit ihrem Gut dienten und ihnen alle ihre unentbehrlichen Güter spendeten.“)
In der Fluchtlinie dieser Auslegung erhält nun auch der Preis für die Salben konkretere Bedeutung, wenn sowohl mit symbolischen als auch mit konkretem Hintersinn hervorgehoben wird, dass die erworbenen Salben sehr ‚kostbar‘ waren. Damit wird eine pekuniäre Dimension, ein ökonomischer Diskurs eröffnet, wie sie eine Predigt, die in einer Leipziger Handschrift aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist, weiter entfalten wird. Sie setzt den Wunsch nach Erwerb der Salben gleich mit dem Verzicht auf weltlichen Reichtum: swer gote wil minnen, der versmach den schatz und den richtum („wer Gott lieben möchte, der verschmähe den Schatz und den Reichtum“).23 Diese Auslegung fokussiert eine ethische Dimension des Kaufakts, der zum Sinnbild dafür wird, dass man sich, wie die Marien, gegen den Besitz weltlicher Güter und für den Dienst an Gott entscheiden müsse:
|| 20 Auf die Predigten aus einer Züricher bzw. Schaffhauser Handschrift (12. Jh., hier zitiert als Sermo de pascha [12]) und auf die Oberaltacher Predigt (13. Jh., hier zitiert als Item de resurrectione domini [31]) verweist bereits Dieterich 2009, S. 179 und 187, Anm. 40. Letztgenannte Predigt ist mehrfach bezeugt: parallel überliefert in einem Regensburger Predigtfragment (12. Jh., hier zitiert als Secundum Marcum [22]) und ausschnittweise bezeugt in einer Münchener Handschrift (12. Jh., abgedruckt in der Edition von Secundum Marcum [22], S. 66-68); siehe zur Parallelüberlieferung das Vorwort der Edition von Item de resurrectione domini [31], S. VIII). Das Regensburger Fragment ist in der Edition von Schönebach in den Anmerkungen mitangegeben, mit wenigen orthographischen Abweichungen von der Edition desselben bei Roth: Secundum Marcum (22). 21 Item de resurrectione domini [31], S. 84; vgl. Secundum Marcum (22), S. 65. – Als eine wichtige Quelle liegt dieser Predigt eine Homilie de Tempore des Haymo von Halberstadt (Nr. 70) zugrunde, als weitere Quellen wurden Beda und St. Bernhard identifiziert, siehe dazu den Kommentar zur Edition von Item de resurrectione domini (31), S. 241f. 22 Item de resurrectione domini [31], S. 83f.; vgl. Secundum Marcum (22), S. 64. 23 Sermo de festo paschatis (11), S. 48; die Handschrift wurde vermutlich bereits zu Anfang des 14. Jhs. aufgezeichnet (siehe zur Datierung das Vorwort zur Edition, S. X).
Plädoyer für den Mercator | 241 iz sin zven herren, got und der schaz; also spricht got selber: die můgen niht zveinen herren gedinen, got und dem richtum. Sente Bernhart beschalt die giricheit und sprach: die den richtum minnen die enmůgen got nicht minnen.24 („es gibt zwei Herrscher, Gott und der Besitz; Gott selbst sagt: Man kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Reichtum. St. Bernhard schalt die Gier und sagte: Die, die den Reichtum lieben, können Gott nicht lieben“)
Die ökonomische Transaktion am Ostermorgen symbolisiert gemäß dieser Deutung die materielle Askese als notwendige Bedingung für Heil. Anders als in der oben zitierten alemannischen Predigt, in der sich die Schilderung der Gaben auf zwei Formen beschränkt (der giselbe und den bimiton), werden in der Leipziger Predigt sowohl die Dreizahl der Gaben als auch die Dreizahl der Marien allegorisch ausgelegt: Die Frauen seien als Sinnbilder der Liebe zu Jesu zu lesen; Maria Magdalena stehe dabei für die Einsicht in die Sünde, Maria Jacobi für den Akt der Beichte, Maria Salome hingegen verkörpere die Handlungen der Buße.25 Diese Deutung der Frauen bedingt eine Auslegung der Salben, welche ihnen den Status von Sakramenten beimisst: růwe, bicht und bůse, volcůmet ein tůre und ein edele salbe die heizet penitencia („Reue, Beichte und Buße ergeben eine wertvolle und vortreffliche Salbe, sie heißt Poenitentia“, Sermo de festo paschatis [11], S. 49).26 Dieser enormen Aufladung der Szene in den Homilien steht die Tatsache gegenüber, dass bis ins 16. Jahrhundert die eigentümliche Ambivalenz des Salbenkaufs präsent bleibt. So kann eine gedruckte Predigt sowohl auf die vorbildliche Haltung der Marien verweisen (Glossa 1518, S. 226) als auch deutlich machen, dass
|| 24 Sermo de festo paschatis, S. 48. 25 Dise dri vrowen bezeichent dri dugende da mit man unsern herren got sol sGchen und vinden [...] Maria Magdalena bezeichent die bekentnisse der sGnden, [...] Maria Jacobi lGtet als vil als ‚ein roGberinne‘ und bezeichent den haz der sůnden [...]. Maria Salome die lůtet als vil als ‚ein vriedemacherinne‘ und bezeichent die bůze („Diese drei Frauen bezeichnen drei Tugenden, mit welchen man unseren Herrn suchen und finden soll: [...]. Maria Magdalena bezeichnet das Bekenntnis der Sünden [...]. Maria Jacobi bedeutet soviel wie ‚Räuberin‘ und bezeichnet den Hass auf die Sünden, [...] Maria Salome bedeutet soviel wie ‚eine Friedensmacherin‘ und bezeichnet die Buße“), Sermo de festo paschatis [11], S. 49). 26 Maria Magdalena die aller erst quam, die cůfte die myrren, die ist bitter, da bi ist bezeichent die růwe des herzen. […] die ander Maria Jacobi die coufte aloe, da bi ist bezeichent die sorge die der mensche haben sol wi er sine bicht lůterlich wol getůn […]. die dritte Maria Salome die coufte balsamum […] und bezeichent die bůse die allen sunderin hilfet, daz si niht vorvůlen in den sunden („Maria Magdalena, welche als erste [zum Grab] kam, kaufte Myrrhe, die ist bitter, sie bedeutet die Reue des Herzens. […] Die andere Maria Jacobi kaufte Aloe, das bedeutet die Sorge, welche der Mensch in Bezug auf die Frage haben solle, wie er seine Beichte rein gestalten könne […]. Die dritte Maria Salome kaufte Balsam, das bedeutet die Buße, die alle Sünder davor bewahrt, in den Sünden zu verfaulen“, Sermo de festo paschatis [11], S. 49f.; diese Auslegung findet sich noch im 15. Jh. in gedruckten Plenarien [Glossa 1474, S. 212] und im Spiegel menschlicher Behaltnusz [siehe das Zitat in Glossa 1474, S. 214f.]).
242 | Cornelia Herberichs ihrem Ansinnen, Christus zu salben, ein fundamentales Missverständnis zugrunde liegt: Kontrastiv wird den Marien die Gottesmutter Maria gegenübergestellt, die um die Göttlichkeit ihres Sohnes wusste: Darumb sie [die Marien] nit glaubten an die urstend des Herrn. Aber Maria, die mutter Christi, die glaubt festiglich, und das gab ir auch ursach, das sie nit mit disen frauen suchte den Herrn zu salben („Sie [die Marien] glaubten deshalb nicht an die Auferstehung des Herrn. Aber Maria, die Mutter Christi, die glaubte fest daran, und aus diesem Grund suchte sie nicht zusammen mit diesen Frauen den Herrn, um ihn zu salben“, Glossa 1518, S. 227f.). Der Salbenkauf dient in Exegese und Homilien als sinntragendes Motiv, anhand dessen sich die Gesinnungen, Tugenden und auch das Nichterkennen der Marien diskursivieren lassen. Doch spielt die Figur des Salbenverkäufers hier naheliegenderweise keine Rolle. Umso bemerkenswerter ist es, dass in der Peripherie kirchlicher und liturgischer Räume in bildlichen Medien hingegen die Figur des Mercators in Erscheinung tritt und als Projektionsfläche der herausgearbeiteten theologischen Ambivalenz des Salbenkaufs dient.27
3 Der Salbenkauf in bildlichen Darstellungen Im Folgenden werden die drei bekanntesten Darstellungen dieses in der Kunstgeschichte durchaus seltenen Bildmotivs herausgegriffen. 28 Die Beispiele erstrecken sich über einen großen zeitlichen wie auch über einen geographisch weiten Raum und stehen jeweils im Kontext unterschiedlicher liturgischer Funktionen und Kontexte.29 Dennoch sind gewisse kompositorische Gemeinsamkeiten zu verzeichnen, die in der Forschung bislang noch nicht erläutert wurden und die Aufschlüsse über die Signifikanz der Szene und ihr hermeneutisches Potential zu geben vermögen.30 Erst ein vergleichender Blick vermag die Analogien in der Position der Salbenkrä|| 27 Da ich systematisch und nicht chronologisch vorgehe, stehen die Bildzeugnisse – trotz ihrer möglichen Nähe zur bzw. Abhängigkeit von der Gattung des Geistlichen Spiels – durch ihr Vorkommen im liturgischen Raum den Homilien unter funktionaler Perspektive näher als das Geistliche Spiel und werden im Folgenden daher noch vor den Analysen der Osterspiele diskutiert. 28 Jelzer 1985, S. 104: Der „Salbenkauf besitzt in der ikonographischen Tradition quantitativ eine ganz inferiore Bedeutung“; vgl. auch Hofmann 1972. 29 Siehe die Beispiele bei Hofmann 1972. 30 Für die im Folgenden betrachteten Darstellungen wurde in der Forschung gemutmaßt, dass jeweils Einflüsse von geistlichen Dramen vorlägen: Mâle 1940, S. 133-137 (zu St. Gilles); Jelzer 1985, S. 104 (zu Konstanz); Cohen 2002 (zum Uta-Codex). Generell sieht Kinkel 1877 die Bildwerke funktional als ‚Ersatz‘ für die Spiele an, nachdem sich der Klerus von der dramatischen Praxis zunehmend distanziert habe (S. 128f. und 132). Doch auch die umgekehrte Richtung scheint denkbar: Milde 1998 vertritt die These, dass Bilder auch Texten vorausgegangen sein könnten und vermutet einen „Einfluß“ der Magdalenen-Miniatur aus dem Evangeliar Heinrichs des Löwen auf ein später entstandenes Osterspiel, Braunschweig IV (S. 56).
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mer-Szenen innerhalb der jeweiligen Bildprogramme ersichtlich zu machen, Regelmäßigkeiten, die über einzelne, lokal spezifische Einflüsse offensichtlich hinausgehen.
3.1 Die Zierseite des Marcus-Evangeliums im Uta-Evangelistar (Clm 13601) Die erste erhaltene bildliche Darstellung der Salbenkauf-Szene31 ist als Illustration in einer liturgischen Handschrift überliefert, dem sogenannten Uta-Codex (erstes Viertel 11. Jh.). Das reich bebilderte Evangelistar, welches im Auftrag der Äbtissin Uta im Kanonissenstift Niedermünster in Regensburg angefertigt wurde, hat sowohl in der kunst- als auch in der theologiegeschichtlichen Forschung große Beachtung gefunden, gehören die Miniaturen doch „zu den prächtigsten, aufwendigsten und theologisch anspruchsvollsten Buchmalereien ihrer Zeit“.32
Abb. 1: Marcus-Zierseite des Uta-Codex, Clm 13601, fol. 41v. || 31 Cohen 2000, S. 117; die Handschrift enthält nicht nur die erste bildliche Umsetzung der MercatorSzene, sondern auch die einzig bekannte Buchillustration dieses Motivs überhaupt. 32 Pfändtner, in Pfändtner & Gullath 2012, S. 53; aufgearbeitet wird die umfassend gelehrte und theologisch anspruchsvolle Anlage der Handschrift von Cohen 1995 und dies. 2000. Cohen 1995, S. 422f. betont, dass die Bilder des Codex etwa nicht als Medien der Laienunterweisung gedeutet werden dürften, sondern dass sie im Rahmen des Überlieferungsmediums „were most likely intended for a restricted and highly literate audience.“ – Das Digitalisat der Titelminiatur kann auf der Homepage der Bayerischen Staatsbibliothek in hochauflösender Datei online betrachtet werden: http://pracht-auf-pergament.digitale-sammlungen.de/
244 | Cornelia Herberichs Die Szene des österlichen Salbenkaufs erhält in der Titelminiatur des MarcusEvangeliums (fol. 41v) in der linken oberen Ecke der Seite ein eigenes Medaillon. Illustriert wird derart der rechts vom Bild verzeichnete Vers Mc 16,1: [Et cum transisset sabbatum] Maria magdalene & maria iacb[i] & salome emer[un]t arom[ata].33 Doch zeugt die bildliche Darstellung durchaus von einer konzeptionellen Eigenständigkeit gegenüber dem Perikopentext. So werden im Bild nur zwei statt der im Evangelium erwähnten drei Marien dargestellt; sie stehen vor dem Salbenkrämer, mit dem sie, wie ihre geöffneten Hände zeigen, im Gespräch begriffen sind. Der Mercator hingegen weist mit seinen beiden Händen und mit dem Zeigegestus der linken Hand auf den niedrigen Tisch vor sich, auf welchem die Salbengefäße zu sehen sind. Der Form nach erinnern die Behältnisse meines Erachtens an liturgisches Gerät, Pyxis und Kelch. Der Salbenkauf konnotiert derart die eucharistischen Gaben.
Abb. 2 und 3: Medaillon links oben: Salbenkauf-Szene; Medaillon rechts oben: Angelophanie.
Analog zum linken Medaillon (Abb. 2) werden auch im Medaillon der rechten oberen Ecke (Abb. 3) ebenfalls nur zwei Marien gezeigt: Dargestellt ist rechts die Szene der Angelophanie vor dem leeren Grab.34 Das Medaillon zeigt das Grab, dessen zweiteilige Architektur eine Kuppel aufweist, die auf vier Säulen steht und das leere
|| 33 Ich folge in Transkription, Auflösung der Kürzel und Textergänzungen Cohen 2000, S. 115f. 34 Abermals wird die Selbständigkeit der bildlichen Darstellung ersichtlich: Das rechte Medaillon illustriert die Perikopenverse Mc 16,3-6; aber gerade diese werden nicht im Titulus der Szene wiedergegeben. Stattdessen erscheint der Text von Mc 16,2: & valde mane una sabbator[um] vener[unt] ad monum[en]tu[m] orto ia[m] sole. Das Bild rückt an die Stelle des Bibelverses: „In this case, a picture subsituted for the text it was ostensibly illustrating“, Cohen 1995, S. 427.
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Grab bedeckt. Die Absenz des Leichnams Christi wird durch zwei Stoffbündel in der unteren Bildhälfte symbolisiert, welche die Grabtücher darstellen. Vergleicht man den Bildaufbau beider Medaillons, so fällt die kompositorische Parallelität deutlich ins Auge: Beide Medaillons setzen Dialogszenen ins Bild. Jeweils stehen im linken Bildrand die beiden Marien; sie werden mit ihren Handbewegungen als Suchende und Fragende charakterisiert. So wie der Salbenverkäufer auf zwei Objekte zeigt, so sind auch vor dem Engel durch die Verdoppelung der Grabtücher zwei Objekte sichtbar. Die Parallelität der Medaillons verdankt sich nicht nur ästhetischen Gründen, etwa um eine Harmonie im Bildaufbau der gegenüberliegenden Medaillons zu erzeugen; zu veranschlagen ist vielmehr, dass hier Interpretationsmöglichkeiten beider Szenen in engem Bezug aufeinander erzeugt werden, die der Bibeltext selbst durchaus nicht nahe legt: Das Begehren der Frauen – nach Salben und nach dem Leichnam Christi – erscheint in beiden Medaillons jeweils transformiert. Die Salbengefäße zeigen an, dass die Opfergaben, die sie wünschen, ihnen in anderer Gestalt, als von ihnen erwartet, gewährt werden – der Gestaltbegriff ist dabei durchaus in doppeltem Sinne aufzufassen –: anstatt simpler Salbengefäße erscheinen sie in der eucharistischen Gestalt des Opfers Christi. Auch vor dem Grab erfüllt sich das Begehren der Frauen nicht in der erwarteten Form: Die beiden Tuchknäuel zeigen an, dass der Körper Christi im Grab abwesend ist, doch gerade sie dienen als Beweis für seine Auferstehung und dafür, dass er von nun an überzeitlich präsent sein wird.35 Das Begehren der Frauen wird in beiden Bildern folglich ebenso enttäuscht wie schließlich bei weitem überboten. Die transhistorische Präsenz Christi in den eucharistischen Gaben und das Wunder der Auferstehung werden durch die Parallelität der Bildkompositionen beider Medaillons aufeinander beziehbar. Die Bilder gehen somit über eine illustrierende Funktion hinaus und gestalten stattdessen eine theologische Interpretation von Mc 16,1-3. Aufschlussreicher als die bloße Präsenz der Mercator-Szene in der Miniatur sind folglich die interpretatorischen Konsequenzen der kompositionellen Anordnung, in die sie gestellt ist. Dass die Szenen in Korrelation zueinander gesetzt und interpretiert werden müssen, belegt im Falle des Uta-Codex auch das Verfahren, mit der jeweils alle weiteren Medaillons ikonologisch zueinander in Beziehung stehen.36
|| 35 Siehe zu semiotischen Funktionen der Grablinnen in der bildenden Kunst Dümpelmann 2009. 36 Cohen 1996, S. 382 betont die eminente Bedeutung der präzise geometrisch gestalteten Bildseiten für die theologischen Aussagen und für die Interpretation der Einzelbilder. Zu interpretieren sei jeweils die Seite als ganze: „the evangelist pages produce a harmonious blend of narrative, symbolism, and exegesis“ (dies. 2000, S. 131), darüber hinaus wirken auch die vier Evangelistenseiten zusammen als eine ‚harmonische‘ Gruppe, die über die analoge geometrische Anlage – der Linien, Kreise, Quadrate u.a. – jeweils miteinander verbunden werden (ebd., S. 99).
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Abb. 4 und 5: Medaillon links unten: Jesus erscheint den Jüngern; Medaillon rechts unten: Verkündigung der Auferstehung an die Jünger.
Um nur anhand eines einzigen weiteren Beispiels die Systematik dieser Kompositionstechnik zu belegen und damit meine Interpretation der Salbenkauf-Szene zu stützen, verweise ich auf die beiden Medaillons der unteren Hälfte der Initialseite des Markusevangeliums (vgl. Abb. 1),37 die ebenfalls einen parallelen Aufbau offenbaren (Abb. 4 und 5). Sie illustrieren nicht eine sukzessive Handlungsfolge des Evangeliums, sondern teilen die Perikope Mc 16,7 in zwei Bilder auf. Dargestellt wird die Engelsbotschaft, die links des Medaillons zu lesen ist: [Sed ite] Dicite discipul[is] e[ius] et petro quia p[rae]cedet uos in galiea[m]. Das rechte Medaillon zeigt die beiden Marien, die auch farblich mit den Darstellungen der oberen Medaillons identisch sind, wie sie die Anweisung des Engels ausführen und den Jüngern zu ihrer Linken und dem Jünger Petrus zu ihrer Rechten den Auftrag geben, nach Gallilea zu gehen. Das linke Medaillon illustriert hingegen nicht den Akt, sondern den Inhalt der Rede, indem es den zweiten Halbsatz von Mc 16,7 konkretisiert: Ibi eu[m] videbitis sicut dixit uob[is]. Abermals fällt die Parallelität der Bildkompositionen ins Auge und fordert die Betrachter dazu auf, die Unterschiede zwischen den analog aufgebauten Bildern herauszulesen: die Verkündigung der Marien im Zentrum des einen und der Körper des Auferstandenen im Zentrum des anderen Medaillons, hier die Redegesten zur Erläuterung der Absenz und dort das Bild Jesu als Beweis seiner Präsenz. Wie auch für die obere Seitenhälfte gilt also, dass die Bildszenen in den
|| 37 Die Leserichtung der Evangelistenseiten erfolgt jeweils im Uhrzeigersinn; dazu Cohen 2000, S. 117.
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Medaillons nicht einzeln zu deuten, sondern in ihrem sowohl sich ergänzenden als auch sich differenzierenden Verhältnis zueinander zu entschlüsseln sind. Dieses frühe und singuläre Beispiel der Mercator-Szene im Uta-Codex steht für lange Zeit alleine; umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass die Parallelisierung von Apotheker und Engel, wie sie die Darstellung der Marcus-Perikope erzeugt, sich auch für die folgenden Bildbeispiele als charakteristisch erweisen wird.
3.2 Die Fassadenskulpturen an der Kathedrale von Saint-Gilles Im Unterschied zum Uta-Codex, der im Rahmen liturgischer Handlungen verwendet wurde,38 steht die Darstellung des Salbenkaufs auf der Westfassade des südlichen Portals der ehemaligen Abteikirche Saint-Gilles (2. Viertel 12. Jh.)39 räumlich wie funktional gewissermaßen ‚außerhalb‘ konkreter liturgischer Zusammenhänge.40 Die spiegelbildliche Anordnung von Salbenkauf-Szene und Engelserscheinung fällt auch hier, wie bereits im Bildprogramm des Uta-Codex, ins Auge. In der Bildmitte ist die Figurengruppe der schlafenden Wächter zu sehen, die – gewissermaßen als Zäsur – die beiden Bildhälften voneinander trennt (vgl. Abb. 6). Abermals bringt die symmetrische Darstellung beider Szenen mit sich, dass die drei Marien jeweils zwei Mal verkörpert werden, links in der Salbenkauf- und rechts in der Angelophanie-Szene (Abb. 7 und 8). Der Kaufakt wird sinnbildlich gemacht durch das
|| 38 Pfändtner 2012, S. 117. 39 Für seine Gestaltung hat man den Einfluss des Dramas, insbesondere durch das Osterspiel von Tours angenommen (Ferguson 1975, S. 139f., mit Bezug auf Mâle 1940, S. 133f.). Aufgrund der späten Überlieferung des Tourer Spiels wurde diese These allerdings auch bezweifelt (siehe dazu Dieterich 2009, S. 158, Anm. 17). Als zusätzlichen Einfluss möchte Ferguson 1975 – im Rahmen ihrer Deutung der Fassade als Medium für die Kreuzzugpropaganda – eine zeitpolitische Dimension der Salbenkrämer-Szene sehen: Diese sei „no doubt at least partially motivated by a desire on the part of the designer to make a gesture or an appeal to the Hospittalers“ (S. 139). Fergusons Interpretation erscheint indes aus mehreren Gründen abwegig: So würde der Verweis auf den Orden innerhalb der Fassade völlig isoliert erscheinen, zudem wird die strukturelle Komponente des Bildprogramms in dieser punktuellen Deutungspraxis ganz ausgeblendet. 40 Für den gesamten Christuszyklus der Fassade wurde überdies die Möglichkeit erwogen, dass sein Bildprogramm ein Vorbild in der Buchmalerei haben könnte. Übereinstimmungen wurden mit dem Codex aureus von Echternach konstatiert (Diemer 1978, S. 208); erwogen wird gar die Möglichkeit „einer direkten Übernahme eines umfangreicheren älteren Miniaturzyklus aus einer Evangelienhandschrift oder einem ähnlichen Buch“ (ebd., S. 210f.). Auch wenn sich diese Hypothesen wohl kaum wird bewahrheiten lassen, so erscheint diese Möglichkeit insbesondere für die Einordnung des Uta-Codex von Interesse, für den ebenfalls Parallelen zum Codex aureus aus Echternach diskutiert werden. Dass in einer weiteren liturgischen Handschrift folglich die Salbenkrämer-Szene in direkter Gegenüberstellung mit der Engelserscheinung dargestellt wurde, ist jedenfalls angesichts des Uta-Codex sehr wohl denkbar.
248 | Cornelia Herberichs Motiv der Waage in den Händen des ersten Salbenverkäufers. Das Motiv des Wägens unterstreicht noch die Zeigegeste der rechten Hand.
Abb. 6: Tympanon des südlichen Westportals der ehemaligen Abteikirche von Saint-Gilles-du-Gard, im Linteau: li. Bildhälfte: die drei Marien vor den Salbenverkäufern; re. Bildhälfte: die drei Marien vor dem Engel.
Dass hier im Bildmedium das „Feilschen [als ein] zentrales Motiv“ der Szene umgesetzt und derart der Salbenkauf in ein negatives Licht gerückt würde, wie Barbara Dieterich vorschlägt,41 scheint mir durchaus nicht plausibel. Emile Mâle sieht hier wohl treffender das Abwiegen der Kräuter ins Bild gesetzt;42 die Ikonographie erinnert aber zugleich an das weit verbreitete Motiv der Seelenwaage.43 Angesichts der theologischen Auslegung der Salben als gute Werke, wie sie in den oben zitierten Predigten zu finden war,44 ist es hier wohl angebrachter, einen sensus moralis der biblischen Szene ins Bild gesetzt zu sehen, als eine Negativierung der Salbenkrämer. Durch das Kreuzigungsmotiv im Tympanon oberhalb des Linteaus (siehe Abb. 6) ergibt sich zudem eine komplexe Bildkomposition, welche die Opferthematik
|| 41 Dieterich 2009, S. 174. 42 Mâle 1940, S. 135; mit Verweisen auf die analogen Darstellungen in Arles und Beaucaire (siehe die Abbildungen dieser Skulpturengruppen ebd. S. 135f.). 43 Siehe zur Ikonographie der Seelenwaage Kemp 1972, Sp. 144f. 44 Siehe oben Kap. 2.
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herausstreicht: Das Motiv des Handels im Linteau steht derart in einem symbolischen Kontext mit der christlichen Heilsökonomie im Passionsgeschehen.
Abb. 7: Ausschnitt: Linteau, li. Hälfte: Mercator-Szene.
Abb. 8: Linteau, re. Hälfte: Angelophanie.
Die Parallelität von Salbenkauf- und Angelophanie-Szene wird im Linteau nicht nur durch die Verdoppelung der drei Marien, sondern auch durch weitere formale Entsprechungen hergestellt: Der Verkaufstisch in der linken und das Grab in der rechten Hälfte weisen dasselbe Höhenmaß auf. An den Stirnseiten sitzen ein Salbenverkäufer (links) und der Engel (rechts).
250 | Cornelia Herberichs Im rechten Bildfeld des Linteaus wenden sich die Frauen, die hinter dem Grab stehen, dem Engel zu und können das Grabtuch, das sich frontal dem Betrachter zeigt, selbst nicht sehen. Die Geste des Engels, der mit seiner linken Hand nach oben zeigt, besitzt für den Betrachtet einen doppelten Index: Im Rahmen des Linteaus verweist er auf die Sphäre der Transzendenz und zeigt mit dieser Geste den Frauen die Absenz Christi im Grab an; im Rahmen der gesamten Bildkomposition des Tympanons aber zeigt er zugleich auf die Kreuzigungsszene im oberen Bildfeld und verweist damit auf das Selbstopfer Christi.
3.3 Das Heilige Grab in der Mauritius-Rotunde des Konstanzer Münsters Schon die bisher besprochenen Beispiele belegen eindrucksvoll, dass sich der Salbenkauf – obgleich äußerst selten dargestellt – durchweg in bedeutsamen Werken der Kunstgeschichte von höchster künstlerischer Qualität findet. Dies gilt auch für die Abbildung der Szene in der Mauritius-Rotunde des Konstanzer Münsters, die nordöstlich der Längsachse des Hauptbaus situiert ist und in welcher eine HeiligGrab-Nachbildung „einen der entzückendsten Skulpturenzyklen der deutschen Kunst des 13. Jahrhunderts“ trägt.45 Den zwölfeckigen Bau, der eine Höhe von circa viereinhalb Meter misst, schmücken an der Außen- wie an der Innenseite szenische Darstellungen der Heilsgeschichte (Abb, 9).46 Die Außenseite weist zwei Figurenreihen auf, deren untere in Einzelszenen die Verkündigungs- und Kindheitsgeschichte Jesu bis zur Verehrung der Heiligen Drei Könige darstellt. Die obere Figurenreihe in der Dachzone bilden die zwölf Apostel mit ihren Attributen. Im Innern des Grabgehäuses sind Szenen des Ostergeschehens zu betrachten: Der Salbenkauf der Marien, die schlafenden Grabwächter und schließlich die Angelophanie am Grab (Abb. 10 und 11).
|| 45 Kurmann 1986, S. 71. 46 Detaillierte kunstwissenschaftliche Beschreibungen bei Kinkel 1877, S. 9f., Kurmann 1986, S. 75 und Dieterich 2009, S. 168.
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Abb. 9: Heiliges Grab in der Mauritius-Rotunde im Konstanzer Münster, Außenansicht; links vom Eingang: Verkündigungsszene; rechts vom Eingang: die Heiligen Drei Könige.
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Abb. 10: Innenraum Mittelfeld; links: Mercator, Mitte: schlafende Wächter, rechts: Engel.
Betritt man das Grabmal durch den nach Osten ausgerichteten Eingang erkennt man die symmetrische Zweiteilung des Bildprogramms: Direkt gegenüber der Eingangspforte sind, auf zwei Säulen verteilt, die schlafenden Wächterfiguren (Abb. 10).47 Die Grabwächter bilden somit, wie auch auf dem Linteau von SaintGilles (s.o.), eine Art Zäsur, indem sie den Raum in zwei Hälften aufteilen: Linker Hand erschließt sich dem Eintretenden eine Figurengruppe, bestehend aus den drei Marien, die vor dem Salbenkrämer stehen (Abb. 11). Rechter Hand findet der Betrachter eine Gruppe aus ebenfalls vier Figuren: Die drei Marien sind dort ein zweites Mal dargestellt; diesmal stehen sie vor dem Engel, der ihnen die Auferstehung verkündet (Abb. 12). Auch für das Konstanzer Heilige Grab ist – wie für die oben besprochenen Beispiele – eine spiegelbildliche Anordnung, die vor allem durch die zweimalige Präsenz der drei Marien erzeugt wird, ein zentrales Kompositionsprinzip.48
|| 47 Wie Peter Jezler wahrscheinlich macht, ist ihre ungewöhnliche Platzierung ohne Grabdarstellung als impliziter Verweis auf die eingemauerte weiße Platte zu sehen, welche als Heilig-GrabReliquie zu verehren war, siehe Jezler 1985, S. 105. 48 Jelzer 1985, S. 104 hat auf die Parallelität beider Szenen im Konstanzer Heiligen Grab hingewiesen und erkennt in dieser Anordnung eine bewusste „Betonung des dialogbezogenen Handelns“. Auch Barbara Dieterich hat die Bedeutung der Parallelität hervorgehoben: Sie erzeuge eine signifikante Beziehung zwischen der Salbenkrämer- und der Engelsfigur (Dieterich 2009, S. 176). Die Salben deutet Dieterich gemäß der Homilie-Tradition als Gaben in einem eucharistischen Kontext, welche die Verehrung der Marien für den Gekreuzigten symbolisieren, sie „stehen metonymisch“ für Opfertod und Auferstehung zugleich (ebd., S. 175).
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Abb. 11: Innenraum: linke Hälfte; die drei Marien vor dem Mercator.
Abb. 12: Innenraum: rechte Hälfte; die drei Marien vor dem Engel.
Doch gehen die Bezüge zwischen den Figurengruppen des Heilig-Grab-Gehäuses noch entscheidend weiter. Die Doppelung der Marienfiguren im Innenraum fungiert hier als implizite Aufforderung, weitere Figurengruppen des Heilig-Grab-Baus paarweise aufeinander zu beziehen. Damit erweitert sich das Beobachtungsfeld auf die außen angebrachten Skulpturen. Außerhalb der Rotunde stehend, eröffnen die Fensteröffnungen Blicke in das Innere des Gehäuses. Auf kalkulierte Weise – so möchte ich im Folgenden darlegen
254 | Cornelia Herberichs – werden Bezüge zwischen der Kindheitsgeschichte Jesu und der Ostermorgendarstellung hergestellt. Befindet man sich nämlich außerhalb des Gehäuses rechts von der Eingangspforte (vgl. Abb. 9), so bietet sich dem Blick eine ebenfalls aus vier Figuren bestehende Szene: Die heiligen drei Könige stehen vor der Gottesmutter, die ihr Kind auf den Armen haltend der Verehrung darbietet. Zwischen den ersten beiden Königen stehend, fällt der Blick des Betrachters durch das Fenster hindurch ins Innere auf die Apothekerfigur (Abb. 13).
Abb. 13: Außenansicht: der erste der Heiligen Könige mit dem Myrrhegefäß; gleichzeitig im Blickfeld innen: der Mercator mit den Salbengefäßen.
Das Salbengefäß, das der Krämer dort mit Inhalt füllt, weist formal Ähnlichkeit mit jenem Gefäß auf, welches der erste, an der Außenwand stehende König in seiner linken Hand hält. Der sich zurück wendende zweite König kann geradezu als implizite Aufforderung für den Betrachter gedeutet werden, seinen Blick ins Innere des Gehäuses zu richten, um diese Analogie zu entdecken. In ihrer Körperhaltung erhält diese zweite Königsfigur überdies ein Pendant mit der vor dem Salbenkrämer stehenden Maria, die sich ebenfalls zurück wendet (siehe Abb. 15).
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Abb. 14: Außenansicht: der zweite der Heiligen Könige; gleichzeitig im Blickfeld innen: die sich umwendende, auf den Salbenkrämer deutende Maria.
Abb. 15: Detail innen.
Die Epiphanie der Weihnachtszeit und der Salbenkauf am Ostermorgen werden durch die räumlichen Positionen innerhalb des Figurenprogramms derart aufs engste aufeinander bezogen.49 Die exegetische Deutung der österlichen Salben als Gaben und Gebete wird hier auf schlüssige Weise mit den Gaben der Heiligen Könige parallelisiert. Die Gabe der Myrrhe, die in beiden Szenen erfolgt, verweist jeweils auf die Menschlichkeit des Gottessohnes.50 Die hochkomplexe Verweisstruktur des Konstanzer Figurenprogramms, welche bislang erst in Ansätzen beschrieben wurde, kann im Rahmen dieses Beitrags nur angedeutet werden. Mein Anliegen beschränkt sich vor allem darauf, die Figur des || 49 Die ikonologische Gegenüberstellung der Heiligen Drei Könige und ihre Gaben mit den drei Marien und ihren Salben ist auch im Bildprogramm auf dem Bucheinband des Braunschweiger Evangeliars aus dem 3. Viertel des 12. Jahrhunderts zu finden; allerdings wird hier der Mercator nicht dargestellt: Siehe die Abbildung in Beer 2014, S. 68 und die Objektbeschreibung von Marth 2014. 50 Diese häufig anzutreffende Exegese der Myrrhe in der Dreikönigsszene erinnert an die Sterblichkeit des menschlichen Jesus, vgl. z.B. Schiewer 2008, S. 156f.
256 | Cornelia Herberichs Salbenkrämers nicht länger isoliert – als möglicher motivischer Reflex auf ein Osterspiel –, sondern vielmehr als integralen Bestandteil des Bildprogramms, auch im Zusammenspiel von Außen- und Innenseite des Baus, angemessener als bislang zu deuten.
Abb. 16: Außenansicht: Verkündigungszene; gleichzeitig im Blickfeld innen: Verkündigungsengel am Grab
Abb. 17: Detail innen.
Um meine These zu stützen, dass räumliche Verweisstrukturen zwischen Außenund Innenseite des Rundbaus auf höchst signifikante Weise eingesetzt werden, sei auf eine analoge Anordnung verwiesen: Blickt man links vor dem Eingang stehend von außen auf die Verkündigungsszene des Kindheit-Jesu-Zyklus, so rahmen Maria und Gabriel ein Fenster, von dem aus der Blick auf den Auferstehungsengel im Inneren freigegeben wird (Abb. 16). Die Angelophanie an der Außenseite und jene am Grab – das Mysterium der Geburt wie jenes der Auferstehung – werden derart gleichzeitig wahrnehmbar und aufeinander beziehbar. Die Parallelität wird durch das Motiv der Spruchbänder, welche beide Engel in Händen halten, visuell zusätzlich unterstrichen. Die Figur der Gottesmutter in der Magnificat-Szene erscheint von hier aus dem Betrachter zudem als Pendant der ersten Maria, die im Grabesinneren unmittelbar vor dem Engel steht und die Auferstehung Jesu vernimmt (siehe Abb. 12). Die mannigfachen strukturellen Bezüge, die erst ersichtlich werden, wenn man außerhalb der Rotunde, diese schrittweise umkreisend, die Korrespondenzen zwischen den Figurenreihen erkennt, belegen eindrücklich die präzise, wohldurch-
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dachte Komposition der Skulpturenzyklen. 51 Bedingung hierfür ist die Beleuchtung im Inneren: Erst durch das Anzünden der Osterkerzen werden die Bezüge zwischen den Figurengruppen wahrnehmbar. So wird ersichtlich, dass jede einzelne Skulptur in ein Netz von Verweisungszusammenhängen eingelassen ist, welche die angemessene Deutung der Einzelfigur jeweils allererst ermöglicht. Diese Kompositionstechnik bezieht neutestamentliche Szenen aufeinander und macht sie durch die Außen-/Innen-Korrespondenzen gleichzeitig wahrnehmbar. Man kann deshalb von einer typologie-analogen Bildlogik sprechen. Hinsichtlich der Figur des Salbenkrämers belegt die hier aufgezeigte Bildlogik, dass seine Funktion über eine Reminiszenz an das Geistliche Spiel weit hinausgeht: In einer Fluchtlinie mit den heiligen drei Königen stehend, ist er Element einer Hermeneutik des Grabmals, die heilsgeschichtlich bedeutsame Situationen für die Devotion Christi miteinander in Beziehung setzt. Und er ist für die Zeit der Betrachtung der Rotunde in eine Praxis der Christus-Meditation eingelassen, die im Spannungsfeld von Epiphanie und Verkündigung der Auferstehung den Aspekt der Menschlichkeit Jesu ins thematische Zentrum rückt. Der Salbenkrämer-Figur wird derart für die Vermittlung der Heilsgeschichte ein eminent wichtiger Platz eingeräumt, der für den einzelnen Besucher jeweils neu zu entdecken, zu erschließen und zu reflektieren ist. Umso mehr verdient die konkrete Visualisierung des Salbenkrämers unser Interesse: Dieterich hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass die Darstellung in Konstanz stark abweicht von den komischen Inszenierungen der Figur, wie sie beispielsweise das Innsbrucker Osterspiel kennt.52 Mit gesenktem Blick widmet sich der Salbenkrämer ernst und konzentriert seinem Handwerk, der Zubereitung der Salben.
|| 51 Dieterich 2009, S. 168-170 betont zurecht die performative Dimension des Heilig-Grab-Baus, insofern sich dem Betrachter dessen Bildprogramm nur im Prozess des Abschreitens erschließt, und durch die Blickrichtungen der Figuren „beziehen [diese] den Betrachter im Akt des Umschreitens in das Bildgeschehen mit ein“. 52 „In Konstanz erweckt die Darstellung des auf seine Tätigkeit konzentrierten Apothekers einen in sich ruhenden Eindruck. Der nach unten gerichtete Blick lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Zubereitung der Salben“ (Dieterich 2009, S. 175). Dieterich folgt allerdings in der dichotomischen Gegenüberstellung von französischer (negativer) und deutscher (positiver) Tradition der Salbenkrämer-Figur den Beobachtungen von Flemming 2001, S. 82f. im Rekurs auf de Boor 1967. Siehe zur Kritik an dieser Dichotomie unten Kap. 4.1. – Zur Salbenkauf-Szene des Innsbrucker Osterspiels siehe den Beitrag von Jan-Dirk Müller in diesem Band.
258 | Cornelia Herberichs
Abb. 18: Salbenkrämer beim Zubereiten der Salben, einen Spiegel in der linken Hand haltend.
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Die solenne Anmutung des Salbenkrämers scheint jedoch durch ein bildliches Detail relativiert: In seiner Linken hält er einen Gegenstand, der die Form eines Spiegels besitzt (Abb. 18).53 Auf einer ersten symbolischen Ebene stellen sich hier mithin Assoziationen von Eitelkeit, Vergänglichkeit und Superbia ein. Damit sind Szenen aus dem Geistlichen Spiel, wie beispielweise dem Osterspiel von Muri (vgl. Kap. 4.2) in Erinnerung gerufen, in welchem der Salbenkrämer als Verkäufer von Kosmetikartikeln auftritt: Der Kauf der Frauen ebenso wie das Handwerk des Apothekers erscheinen im Licht dieser Referenz auf das Geistliche Spiel so irritierend wie beiläufig als vergebliches Machwerk charakterisiert. Mit dem Spiegel als sein Attribut könnte derart in der Darstellung des Salbenkrämers eine kalkulierte Ambiguisierung am Werk sein, welche jedoch noch keineswegs die Feierlichkeit, den Ernst der Figur ausstreicht.54 Auf einer zweiten symbolischen Ebene kann das Requisit des Salbenkrämers jedoch auch als bedeutsames metareflexives Motiv gedeutet werden.55 Der Spiegel bringt demnach auf implizite Weise die Bildlogik der ‚Spiegelung‘ zur Anschauung, die, wie oben dargelegt, das Bildprogramm entscheidend strukturiert.56 Die bildliche Darstellung des Salbenkrämers erweist sich folglich in mehrfacher Hinsicht und aufgrund der heterogenen Bedeutungsschichten, die in ihr angelegt sind, geradezu als Schlüssel für die Dechiffrierung der komplexen Bildlogik des Konstanzer Heilig-Grab-Baus. Eindrücklich ist für dieses wie auch für die oben be-
|| 53 Aus historischer, aber insbesondere auch aus germanistischer Perspektive erscheint die Deutung des kreisrunden Gegenstandes, der auf einem Stab aufgesetzt ist, als Spiegel plausibel, doch hat die kunsthistorische Forschung die Deutung desselben als Stillupe bzw. Vergrößerungsglas bislang favorisiert (Reiners 1955, S. 509 identifiziert ebenso wie Flemming 2001, S. 76 eine Stillupe; auch Busch 1925/26, S. 108, Anm. 1 spricht mit Verweis auf ältere Forschung von der „älteste[n] Darstellung einer solchen“. Aus historischer Sicht aber spricht gegen die Deutung als Stillupe, dass das Objekt als solches zu dieser Zeit noch nicht belegt ist; Kinkel 1877, S. 131 erwägt beide Möglichkeiten, legt aber aufgrund des außergewöhnlich frühen Belegs einer Stillupe die Deutung als Spiegel implizit nahe, während Walsh 2002, S. 201, Anm. 1 wie selbstverständlich von einem Spiegel spricht, ohne andere Möglichkeiten zu erwähnen. Dieterich 2009 erwähnt in ihrer Beschreibung diesen Gegenstand nicht. 54 Siehe dazu die Kontextualisierung des Motivs der weltlichen Minnegaben in der Mercator-Szene unten Kap. 4.2. 55 Ich danke herzlich Frau PD Dr. Johanna Thali für diese wichtige Anregung, die sie in einem Gespräch anlässlich eines gemeinsamen Besuchs der Mauritius-Rotunde im Herbst 2014 äußerte, als ich ihr meine Interpretation des Konstanzer Bildprogramm als typologie-analoge Komposition vorstellen durfte. 56 Der Spiegel bringt mithin die typologie-analoge Verweisstruktur mit einer Semantik ein, welche im Titel des Speculum Humanae Salvationis wenig später für die typologische Literatur und Kunst wegweisend sein wird (dazu siehe Stork & Wachinger 1995); eine frühe Entstehung, in zeitlicher Nähe zur Konstanzer Rotunde, „vielleicht schon Ende des 13. Jh.s, unter franziskanischem Einfluß“ wird vereinzelt in der Forschung diskutiert (siehe ebd., Sp. 57).
260 | Cornelia Herberichs sprochenen Beispiele die konzeptionelle Eigenständigkeit der Kunstwerke, die mittels der Salbenkauf-Szene theologische Sinndimensionen erzeugen.
4 Die Salbenkauf-Szene im Geistlichen Spiel 4.1 Der Salbenkauf in lateinischen Osterfeiern und -spielen Wie für die hier angeführten Bildzeugnisse (Kap. 3), welche einen engen funktionalen Bezug zur Liturgie beziehungsweise zum Kirchenraum aufweisen, erscheint die Tatsache, dass die biblisch nicht belegte Salbenkrämer-Figur Eingang in Osterfeiern gefunden hat und dort figürlich repräsentiert erscheint, ebenfalls zunächst irritierend.57 Die hermeneutische Funktion der Salbenkauf-Szenen steht in der Forschung zum lateinischen Spiel bislang kaum im Fokus; der zumeist als ‚säkular‘ klassifizierte Szenentypus58 hat vor allem unter komparatistischer Perspektive Aufmerksamkeit erfahren, insofern sich gegenüber den im deutschsprachigen Gebiet entstandenen lateinischen Spielen in den französischen eine ausgeprägtere säkulare Tendenz feststellen lasse.59 Diese Konzentration auf vermeintlich ‚realistische‘ Tendenzen der französischen Spiele – wie sie seit de Boors Studien zur Textgeschichte der Osterfeiern in der Forschung dominiert60 – lässt allerdings leicht übersehen, dass auch die Texte beider Traditionen kalkulierte und theologisch bedeutsame Strukturen aufweisen, welche die Rezeption und Wahrnehmung der Salbenkauf-Szenen steuern. Das früheste Zeugnis eines in persona auftretenden Mercator ist der in einer liturgischen Handschrift überlieferte katalanische Text aus Vich, der unmittelbar mit der Salbenkauf-Szene beginnt, und den de Boor zur französischen Tradition rechnet.61 In einem hier erstmals bezeugten sogenannten Zehnsilberspiel begründen die || 57 Es wird im Rahmen dieser Überlegungen auf die Diskussion der ‚Herkunftsgeschichte‘ der theatralen Rolle des Salbenkrämers verzichtet. Die in jüngerer Zeit wieder unterstützte These, wonach die Salbenkrämer-Szene im Rahmen der Osterfeiern und -spiele ursprünglich von der Mercator-Rolle des Zehnjungfrauenspiels (Sponsus, Limoge 11. Jh.) beeinflusst worden sei (Katritzky 2007, S. 111 und 116), muss nach wie vor als rein hypothetisch gelten (vgl. dazu – bereits differenzierend – Dürre 1915, S. 19f.); die Herleitung aus der Sponsus-Tradition erscheint mir angesichts der Hinweise von Dürre 1915, S. 16 und Bäschlin 1929, S. 8 zum Ablauf der liturgischen Visitatio sepulchri (Übergabe der Salbengefäße) allerdings ziemlich unwahrscheinlich. Inwiefern Katritzkys entwicklungsgeschichtliche Thesen Warnings 1979 Ansätze tatsächlich in Frage zu stellen vermögen, wie sie behauptet (ebd., S. 111), ist mir nicht einsichtig, geht es Warning doch dezidiert nicht um eine quellengeschichtliche, sondern um eine funktionale Perspektive (vgl. Warning 1974, S. 15; 35 u.ö.). 58 Vollmann 2004, S. 6. 59 So die grundlegende These bei de Boor 1967, S. 346-362. 60 So auch bspw. bei Danne 1955, S. 49f. und noch in jüngerer Zeit (vgl. Dieterich 2009, S. 175). 61 Im Folgenden werden jene Texte als Feiern bezeichnet, die in liturgischen Handschriften überliefert sind. Auch wenn die Abgrenzung zu den Osterspielen unter inhaltlicher Hinsicht im Einzelnen
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Marien in ihren Strophen den Wunsch, Jesus zu salben mit der sehr konkreten Absicht, auf diese Weise zu bewirken, dass sein Körper non amplius posset putrescere („dass er nicht weiter verfaulen kann“, VO 17). Die vierte Strophe des Zehnsilberspiels62 adressiert den Salbenkrämer mit der Bitte, den Preis für die Salben zu nennen: Dic tu nobis, mercator iuvenis, hoc unguentum, si tu uendideris; dic precium, nam iam habueris, Heu [quantus est noster dolor]. (VO 19-22) („Sag uns, junger Kaufmann, diese Salben, wenn du sie verkaufen wirst, sage den Preis, denn du wirst ihn erhalten. Oh [wie groß ist unser Schmerz].“)
De Boor hat dem Text aus Vich einen gewissen ‚Naturalismus‘ attestiert, denn einerseits gelte der Hinweis, dass der Körper Christi nicht faulen und von Würmern zerfressen werde, „realistisch de[m] irdischen Leib“, andererseits werde mit der Frage nach dem Preis für die Salben ein „realer Handel“ in Szene gesetzt.63 Als weitere Anhaltspunkte für diese Tendenz führt de Boor u.a. die Individualisierung des Kaufmanns als junger Mann (VO 19) an und die Strophen, die den Handel thematisieren: Respondet MERCATOR: Mulieres michi intendite. Hoc unguentum si uultis emere, datur genus mirre potencie. Quo si corpus possetis ungere non amplius posset putrescere, neque uermes possent comedere. || problematisch ist, soll diese auf die Überlieferung konzentrierte Perspektive die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten, die in Zusammenhang mit der Salbenkrämer-Figur nebeneinander existierten, profilieren (siehe zur Terminologie die Ausführungen von Petersen 1999, S. 138-141). Deshalb wird die frühe, zumeist als ‚Spiel‘ bezeichnete Feier aus Vich, die in einem Tropar aus dem 11. bzw. 12. Jh. aufgezeichnet ist, hier zusammen mit den Feiern besprochen. Dürre 1915, S. 22 sieht es als außer Frage stehend an, dass es sich bei diesem Text um „richtige Liturgie“ handelt, während de Boor 1967, S. 347 es als „Spiel“ bezeichnet. Lipphardt ordnet es zwar ebenfalls in die Kategorie der ‚Ludus paschalis‘, betont aber zugleich, dass es sich – „trotz der Mercatorszene“ – aufgrund des „abschließenden Te Deum [...] um einen zur Matutin des Osterfestes gehörenden Text handelt“ (Komm. zu Vich, LOO V, S. 808). Die Überlieferung des Dramas in einem Tropar-Prosarium spricht m.E. in der Tat zumindest für eine Adaptabilität des Dramas innerhalb eines liturgischen Kontexts. Skeptisch gegenüber den grundsätzlichen Möglichkeiten, Feier und Spiel funktional voneinander abzugrenzen, spricht sich auch Lipphardt, LOO 8 (1990), S. 837 im Kommentar zum Benediktbeurer Osterpiel aus. 62 Gemäß der Aufstellung Meyer 1901, S. 108 die 2. Strophe der Gruppe B. 63 De Boor 1967, S. 354-356, hier S. 354f.
262 | Cornelia Herberichs Hoc unguentum si multum cupitis unum auri talentum dabitis; nec aliter umquam portabitis Respondet MARIA: O mercator, unguentum libera. Ecce tibi [dabi]mus m[un]era. Ibimus Christi ungere uulnera Heu […] (VO 23-37) („Der Kaufmann antwortet: Ihr Frauen, hört mich, diese Salbe wird euch, wenn ihr sie kaufen wollt, eine Art wunderbarer Macht geben. Dieser Körper, wenn ihr ihn einsalben könnt, könnte nicht weiter verfaulen und auch die Würmer könnten ihn nicht auffressen. Diese Salbe, wenn ihr viel von ihr begehrt, erhaltet ihr für ein Talent Gold. Für nichts anderes könnt ihr sie mitnehmen. Maria antwortet: Oh Kaufmann, gerne nehmen wir die Salben. Sieh, wir geben dir das Geld. Wir gehen, um die Wunden Christi zu salben. Ohweh […]“)
Für de Boors Einschätzung, dass der ‚Realismus‘ der Szene ein zentrales Charakteristikum der Feier von Vich sei und der französischen Tradition, in der sie stehe, lassen sich jedoch Gegenargumente ins Feld führen. Die konkreten Prozesse der körperlichen Verwesung werden schließlich bereits in der Exegese und in Homilien thematisiert und theologisch perspektiviert (s.o., Kap. 2), und sie können im dramatischen Text derart als intertextuelle Reminiszenz an die Predigtliteratur aufgefasst werden. Die Handlungsmotive der Preisforderung und Geldübergabe wiederum bringen die ebenfalls in der Exegese thematisierte Bereitschaft der Marien szenisch zur Darstellung, weltlichen Besitz für die Salben zu opfern. Auch die konkretistisch anmutende Ausgestaltung in der Feier von Vich bietet demnach Anhaltspunkte für eine symbolische Lektüre des Kaufmotivs. Durch wörtliche Responsionen wird der Kaufmann zur figürlichen Konkretisierung und Spiegelung des Begehrens der Marien: Die Anpreisung seiner Waren reflektiert wörtlich eine Formulierung der Marien,64 und die gesamte SalbenkaufSzene erscheint durch Wortwiederholungen mit der Angelophanie parallelisiert: Wird diese im ersten Vers des Stücks im dramatischen Modus eingeleitet (Eamus mirram emere; „Gehen wir Myrrhe kaufen“, VO 1), so der Gang zum Grab mit einer wörtlichen Entsprechung (Eamus videre sepulcrum; „Gehen wir das Grab sehen“, VO 94). Beide Szenen werden durch diese verbale Klammer anaphorisch aufeinander bezogen, beide Wünsche – emere und videre – charakterisieren den materiellen und physikalischen Aspekt des Begehrens der Marien. Die in den Bildbeispielen festgestellte strukturelle Spiegelung von Salbenkauf und Engelserscheinung (vgl. Kap. 3) besitzt derart in den lateinischen Spielen ihr formales Pendant. Mir scheint, dass de Boors Feststellung von ‚Realistik‘ durch die spätere Übernahme des Zehnsilberspiels in den deutschsprachigen Spielen angeregt wurde, die || 64 [Maria:] non amplius posset putrescere (VO 17, in der Handschrift aufgrund einer fehlerhaften Zuschreibung als Engelsrede ausgezeichnet), vgl. den identischen Wortlaut des Mercators (VO 29).
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mit ihren derb und dreist ausgeschmückten Salbenkauf-Szenen das sakrale Ostergeschehen drastisch konterkarieren. Mit solchen Überblendungen des Späteren mit dem Früheren aber wird man der strukturell sorgsam durchdachten Gestaltung der lateinischen Spiele wohl kaum gerecht, in denen der Salbenkauf intertextuell in ein Netz der theologischen Diskurse und intratextuell in eine Struktur der Spiegelungen eingebettet ist. Dies sei im Folgenden auch am lateinischen Tourer Osterspiel aus dem 13. Jahrhundert65 skizziert, welches de Boor ebenfalls für seine These von der „französischen Realistik“66 heranzieht. Das Spiel beginnt, anders als die Feier von Vich, nicht unmittelbar mit der Salbenkauf-Szene, sondern lässt sie nach einer ersten Grabwächterszene mit der Strophengruppe B beginnen:67 Tunc Tres Parvi uel Clerici, qui debent esse Marie: Due uero deferant vas cum unguento pre manibus, Tercia autem turribulum […]. Maria Magdalena incipiat: [O]mnipotens Pater altissime […] („Dann treten drei Jünglinge oder Kleriker auf, welche die Marien sein sollen: Zwei aber tragen Gefäße mit Salben vor den Händen, die Dritte hingegen ein Rauchfass […]. Maria Magdalena beginne: ‚Allmächtiger, höchster Vater [...]‘“ TO 26-30).
Dass auch hier ein allegorischer Sinn der Gaben mitgemeint ist, wird besonders am Salbengefäß der dritten Maria, am turribulum, ersichtlich, insofern eine gottesdienstliche Dimension des Salbenkaufs mit diesem Requisit hervorgehoben wird. Dennoch erkennt de Boor auch im Fortgang des Dialogs wiederum eine zur Sakralität des Osterfestes konträre Tendenz: „Dem Tenor nach setzt die Strophe wie ein gutes Stück französische Kaufmannswirklichkeit ein“:68 Tunc MERCATOR dicat: Venite, si complacet emere hoc unguentum, quod uellem uendere, de quo bene potestis ungere corpus Domini sacratum. Quod, si corpus possetis ungere, non amplius posset putrescere, neque uermes possent commedere. MARIE simul: Heu! quantus [est noster dolor!] (TO 44-54) („Dann soll der Mercator sagen: Kommt, wenn es euch gefällt diese Salbe zu kaufen, die ich verkaufen möchte und mit der ihr gut den geheiligten Körper des Herrn einsalben könnt. Dieser
|| 65 Siehe zur Handschrift den Kommentar von Lipphardt, LOO V, S. 809. 66 de Boor 1967, S. 355. 67 Die Benennung folgt Meyer 1901; siehe hierzu Müller (in diesem Band), Anm. 33. 68 De Boor 1967, S. 357.
264 | Cornelia Herberichs Körper, wenn ihr ihn einsalben könnt, könnte nicht weiter verfaulen und auch die Würmer könnten ihn nicht auffressen. Die Marien gleichzeitig: Ohweh, wie groß ist unser Schmerz!“)
Um hier einen Kontrast zur intendierten „symbolisch-sakralen Feier“ zu erkennen, muss de Boor zentrale Textstellen der Rede ganz ausblenden: Denn der Mercator, der vom ‚geheiligten Körper‘ (corpus Domini sacratum, TO 49) Jesu spricht, vermittelt mit seiner auffälligen Wortwahl durchaus eine religiös-devotionale Perspektive auf den Salbenkauf. Die Annahme, dass der Leichnam Christi ‚verfaulen‘ und von Würmern ‚gefressen‘ werden könnte,69 erzeugt derart schon innerhalb der MercatorRede einen intrinsischen Widerspruch zwischen der Erkenntnis der Heiligkeit Christi, die eine Inkorruptibilität voraussetzen sollte, einerseits und der unterstellten Vergänglichkeit seines Körpers andererseits. Die Aufzählung der Wirkstoffe (Balsamum, thus et mirram, / silaloe et aloes; „Balsam, Thymian und Myrrhe, Silaloe und Aloe“, TO 80f.) orientiert sich hier, anders als in den oben zitierten Predigten, nicht an der Dreizahl der Marien, sondern vereint „alle in der Bibel erwähnten Essenzen und Salbmittel, die auch Joseph von Arimathia für den Leichnam nimmt“.70 Das Aufbieten einer Vielzahl an Heilmitteln konterkariert zwar derart die allegorische Ausdeutbarkeit der Salben, doch illustriert die Vervielfältigung nur umso deutlicher die Vergeblichkeit der medizinischen Essenzen. Die Konjunktive in der Rede des Mercator nehmen dabei implizit bereits die Unverfügbarkeit des Auferstandenen vorweg (si corpus possetis ungere). Die Rede des Mercators geht also keineswegs darin auf, „Kaufmannswirklichkeit“ zu inszenieren, sondern entfaltet ein Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen und Perspektiven auf das Tun der Marien. Erst seine Antwort macht die Vergeblichkeit ihres Tuns wahrnehmbar; seine Figurenrede spitzt darin jene Ambivalenz zu, die dem Ansinnen der Marien generell eignet: Ist in deren Strophen schlicht vom ‚Körper‘ Christi die Rede (hoc corpus, TO 41), den sie vor dem Fraß der Würmer schützen wollen (quod numquam vermes possint commedere, TO 42), so bringt erst der Mercator die Heiligkeit des Körpers explizit zur Sprache (corpus Domini sacratum, TO 48). Mit der nahezu wörtlichen Wiederholung des Verses aus der Strophe der zweiten Maria seitens des Mercators (neque vermes possent commedere, TO 51) stellt seine Rede in konziser Weise die Widersprüchlichkeit ihres Begehrens aus. Auch die anschließenden Verse, die dem Geldhandel gewidmet sind, müssen im Zeichen einer Logik des Kontrasts gesehen werden, die deshalb noch kaum als ‚realistisch‘ bezeichnet werden sollte:71 || 69 Schon das macht ihn in den Augen von Dürre 1915, S. 21 zu einem „derben Gesellen“, und die Preisforderung lasse ihn als eine „wenig sympathische[] Figur“ erscheinen. 70 Zur biblischen Grundlage der Auflistung siehe Dürre 1915, S. 27. 71 Auch das widerspruchslose Eingehen auf den hohen Preis stellt einen Aspekt dar, der es verbietet hier nachgestellte „Kaufmannswirklichkeit“ zu erkennen oder im „Osterspiel von Tours […]
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MARIE simul respondent: Quasi centum libras satis habemus; dic nobis, quantum denos, domine? Respondeat MERCATOR: Mille solidos potestis habere. MARIE simul respondent: Libenter, domine. Tunc MARIE dent munera et accipiant unguentum et pergant ad Sepulcrum. (TO 85-92) („Die Marien antworten gleichzeitig: Gleichsam mit hundert Pfund haben wir genug; sag uns wie viele Denare willst du, Herr? Der Mercator soll antworten: Für tausend Schillinge könnt ihr [sie] haben. Die Marien antworten gleichzeitig: Gerne, Herr. Dann geben die Marien das Geld und nehmen die Salbe und gehen zum Grab.“)
Was in Exegese und Predigt im explikativen und narrativen Modus ausgedeutet wird, muss und kann im dramatischen Modus nicht anders als in der literarischen Form des Dialogs zur Darstellung gebracht werden: die unbedingte Opferbereitschaft der Frauen, die sich im Wechselspiel von Frage und Antwort als bereitwilliges Eingehen auf die immensen Geldforderungen erweisen und unter Beweis zu stellen hat. Der ökonomische Diskurs besitzt jedoch noch weitere Funktionen: Der Mercator stellt in seiner Rede auf paradoxe Weise eine prinzipielle Inkommensurabilität angesichts des Opfertodes Christi vor Augen, die Unmöglichkeit nämlich, religiöse devotio im Zeichen des Heilswunders ökonomisch und numerisch zu quantifizieren. Sieben Mal wird im Ausruf der Marien das Maß des Schmerzes als unermesslicher charakterisiert: quantus [!] est noster dolor! (TO 33; 38; 43; 53; 58; 64; 70); die rhetorische Frage der Frauen nach dem ‚Wieviel‘ erhält im Kontext der Salbenkauf-Szene ihren spezifischen Hintersinn, indem die Bereitschaft zu opfern hier dingfest quantifiziert wird: quantus [!] uultis emere? (TO 84) – quantum [!] denos, domine? (TO 87). Die Wechselrede zwischen dem Mercator und den Marien72 und die Isotopie des Frageworts ‚Wieviel‘ führt derart ein mehrfaches Paradox vor Augen, da in ihr die Inkommensurabilität des Auferstehungswunders – im doppelten Wortsinn – ‚verhandelt‘ wird. Die letzten Worte, welche die Marien an den Kaufmann richten, illustrieren schließlich die fromme Haltung der unbedingten Gabe- und Opferbereit-
|| Feilschen [als] zentrales Motiv“ (Dieterich 2009, S. 174) zu behaupten. Diese Aussagen projizieren m.E. Eindrücke aus den deutschsprachigen Spielen zurück auf die lateinischen Osterfeiern und spiele. 72 Gerade dieser Aspekt wurde als ein Indiz für den Umschlag des Spiels in ein komisches Genre interpretiert: „Ainsi, jusqu’au plus profond de la tristesse, l’être humain garde l’instinct de ses intérêts. Nous voyons, ici, la liturgie s’èpanouir, non plus en drame, mais presque en comédie“ (Mâle 1940, S. 135).
266 | Cornelia Herberichs schaft (Libenter, TO 90) in konzentrierter Weise: So vergeblich der Salbenkauf schließlich gewesen sein wird, so dient er doch der Sichtbarmachung einer geradezu exzessiven Frömmigkeit. Selbst die Verdoppelung der Mercator-Rolle, die im Tourer Spiel zum ersten Mal begegnet, kann durchaus nicht als Indiz einer Komisierung gelesen werden,73 der Alius Mercator erscheint keineswegs als Gehilfe oder gar Konkurrent des ersten: Alius MERCATOR dicat eis: Quid quer[iti]s? [...] Respondet MERCATOR: Dicite, quid vultis? (TO 71-77) („Der andere Mercator sage ihnen: Was sucht ihr? [...] Der Mercator antwortet: Sagt, was wollt ihr?“),
In der Rede des Alius Mercator klingen vielmehr die wohlbekannten Worte des Osterengels wörtlich an. So wird hier auf zwei Figuren verteilt, was geringfügig variiert in der Engelrede am leeren Grab wörtlich wieder zu hören sein wird (quid queritis; quid vultis, TO 72; 77): ego sum Michael arcangelus; dicite michi, quem queritis [!], aut quem vultis [!] videre? (TO 135-137) („ich bin der Erzengel Michael; sagt mir: Wen sucht ihr, oder wen wollt ihr sehen?“)
Ähnlich wie in den oben besprochenen bildlichen Darstellungen verbirgt sich somit auch in der Struktur des Tourer Osterspiels eine spiegelbildliche Anordnung der Mercatores und des Engels, die durch die Wortresponsionen deutlich aufeinander bezogen werden; beide Male steht diesen Figuren das Begehren der Frauen gegenüber, das sich angesichts des Auferstehungswunder als ebenso fehlgeleitet wie heilsnotwendig erweist.74 Erst der Engel macht den Frauen nun unmissverständlich
|| 73 Auch wenn Katritzky 2007, S. 103f. davon ausgehen möchte, dass hier komische Elemente zu entdecken seien. Um dies zu stützen, muss sie für die Aufführungssituation Möglichkeiten der Komisierung durch Kostüm und Gestik veranschlagen, welche die Komik dieser Szene allererst ausbeuten würden. Doch von solchen Requisiten ist im Spieltext durchaus nicht die Rede. Siehe im Gegensatz dazu die frühere Forschung: Meyer 1901, S. 92 („Ich kann in der ganzen Szene kein komisches Intermezzo erblicken“) und Dürre 1915, S. 28. 74 Neben der durchaus plausiblen Erklärung, dass der Mercator iuvenis ursprünglich von einem jungen Kleriker dargestellt wurde (Dürre 1915, S. 20 verweist auf Messknaben, die üblicherweise „Nebenleistungen bei der Feier“ verrichteten), so wäre als zusätzliche mögliche Erklärung auch zu erwägen, dass durch die Bezeichnung iuvenis eine Analogie mit dem Grabengel hergestellt wird,
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klar, dass der Salbenkauf einer Logik des Todes entspricht, mit welcher die Heilsgeschichte nun gebrochen hat: ANGELUS respondet: Non eget unguentum, quia Christus de monumento surrexit vere. locus ecce! venite, venite, videte! (TO 112-115) („Der Engel antwortet: Ihr braucht keine Salbe, denn Christus ist vom Grab wahrlich auferstanden; seht den Ort, kommt, kommt, seht!“)
Nicht der fromme Wunsch, zu salben ist aber damit als sinnloser abgetan, sondern der materielle Zweck der Salben als hinfälliger enttarnt (Non eget unguentum, TO 112). Die Feststellung des vermeintlich ‚realistischen‘ Charakters der Spiele von Vich und Tour hat die Frage nach den wichtigen (paränetischen, didaktischen, ästhetischen) Funktionen der Salbenkauf-Szene vernachlässigt. Die Behauptung des ‚Realismus‘ dient in de Boors Studie dabei augenscheinlich vor allem dazu, die deutschen lateinischen Osterspiele in ihrer Differenz zur französischen Tradition zu profilieren. Erst in diesen sei die Salbenkauf-Szene „in einen sakralen Schimmer getaucht“.75 Diese Dichotomisierung gilt es im Folgenden zu prüfen. Um den gegensätzlichen Charakter der Spieltraditionen zu belegen, wird das Fehlen des Zehnsilberspiels und die damit einhergehende Aussparung der ‚Händlerstrophen‘ im Klosterneuburger und Benediktbeurer Osterspiel76 in Anschlag gebracht: SPECIONARIUS respondeat et agat sua: Dabo vobis ungenta optima Salvatoris ungere vulnera, sepultere eius ad memoriam et nomen eius ad gloriam. (KlnbgO 83-87) („Der Salbenhändler möge ihr antworten: Ich gebe euch die besten Salben, um die Wunden des Erlösers zu salben, bestattet ihn zum Gedächtnis und seinem Namen zur Ehre.“)
|| (vgl. Mc 16,5: in monumentum viderunt juvenem), was die Parallelität beider Szenen in den Spielen von Vich und Tour zusätzlich unterstreichen würde. 75 De Boor 1967, S. 356; später hat er diese Aussage allerdings insofern modifiziert, als er zwei unterschiedliche französische Traditionen in Anschlag bringt (1967, S. 342), wovon eine auf die deutschsprachigen Spiele gewirkt habe. Gegen die Entgegensetzung generell siehe die Kritik von Lipphardt, LOO VIII, S. 833 (Kommentar zu KlnbgO). 76 Zu beiden Spielen und auch zur engen Verwandtschaft zwischen ihnen siehe Lipphardt, LOO VIII, S. 829-840 und Linke 1983.
268 | Cornelia Herberichs Im Gegensatz zu Vich und Tours sei hier „kein Anpreisen der Ware, sondern die Betonung der dem sakralen Tun angemessenen Kostbarkeit“ auszumachen.77 In der Tat erscheint der Salbenkrämer eindeutiger als in den französischen Texten als Sprachrohr einer liturgischen Perspektive: Jesus wird vom Salbenkrämer als salvator[] erkannt, die Salbung der Wunden wird nicht als medizinisches, sondern ausschließlich als devotionales Handeln beschrieben. Der Gedächtnisaspekt, der vom Specionarius formuliert wird, verweist meines Erachtens metadramatisch auf die Funktion der Liturgie selbst, dem Gedächtnis Jesu (ad memoriam) und der Gottesfeier (ad gloriam) zu dienen. Tunc APOTHECARIUS audiens eas vocet: Huc propius flentes accedite et unguentum, si vultis, emite! aliter nusquam portabitis. Vere quantus est dolor vester! (BO 119-123) („Nachdem der Apotheker sie hört, sagt er: Ihr Weinenden, kommt näher hierher, wenn ihr diese Salbe kaufen wollt. Für nichts anderes könnt ihr sie mitnehmen. Wahrlich, wie groß ist euer Schmerz!“)
Nicht nur erkennt der Mercator den Schmerz der Frauen und scheint dessen Außerordentlichkeit sogar nachvollziehen zu können (BO 123), er verweist auch auf sich selbst als unverzichtbarer Geschäftspartner für das Begehren der Frauen (BO 122) und damit auf seine wichtige Rolle für die Sichtbarmachung der Religiosität der Marien. Als weiteres Indiz für den gegensätzlichen Charakter konstatiert de Boor das Fehlen der Geldstrophen, wird doch in den deutschen lateinischen Osterspielen auf eine konkrete Bezeichnung der geforderten Summe und die Inszenierung der Übergabe des Geldes verzichtet.78 Diese Aussparung lässt sich allerdings durch die Spielstruktur und den weiteren Szenenkontext erhellen, so kann der Grund für das Fehlen des Geldmotivs in der dem Salbenkauf vorausliegenden Szene erkannt werden: Sowohl in Klosterneuburg als auch in Benediktbeuern beginnen die Spiele jeweils mit der Bestellung der Grabwachen vor Pilatus. Bereits in diesen Szenen ist das Motiv des Geldes und der Geldübergabe breit entfaltet, wenn den Grabwachen ein hoher Lohn für ihre Dienste entrichtet wird:79 IUDEI ostendant illis pecuniam: O viri fortes, vobis dabimus precium. [...] Deinde exhibeant denarios in numero [...] || 77 De Boor 1967, S. 356. 78 Ebd., S. 353. 79 Im Osterspiel von Tours, das ebenfalls mit der Bestellung der Grabwachen beginnt, finden sich die Motive Belohnung und Geld im Monolog des Pilatus nicht (TO 3-24).
Plädoyer für den Mercator | 269 Pecunia militibus abunde tradatur [...] Tunc MILITES accepta pecunia (BenO 56-67) („Die Juden zeigen ihnen das Geld: Oh tapfere Männer, wir geben euch eine Belohnung. [...] Daraufhin breiten sie die Münzen einzeln aus [...]. Das Geld wird den Soldaten reichlich übergeben [...]. Dann nehmen die Soldaten das Geld“)80 .
Mit der insistierenden Betonung der pekuniären Entlohnung der Grabwachen ist Geld hier per se als Transaktionsobjekt dezidiert negativ konnotiert, so dass sich das Motiv des Geldhandels in den Salbenkauf-Szenen mithin verbietet. Auch für die deutschen Spiele gilt es folglich, strukturelle Aspekte des Textganzen mit zu berücksichtigen. So erscheint die Einführung der Uxor Apothecarii im Benediktbeuer Osterspiel (13. Jh.) zwar möglicherweise angeregt durch das volkssprachige Spiel, doch, so möchte ich argumentieren, nicht etwa um ‚Dissonanzen‘ in der Figurencharakterisierung des Mercators, die mit den Handelsstrophen erzeugt würden, zu verhindern;81 ihre Signifikanz gewinnt die Figur der Uxor Apothecarii im Spiel strukturell vor allem dadurch, dass sie als Pendant zur ebenfalls hier meines Wissens erstmals im Rahmen einer Grabwachenaufstellungsszene auftretenden Uxor Pilati erscheint. Der Verfasser des Spiels hat so eine signifikante Wiederholungsstruktur erzeugt: Pilatus und seine Frau auf der einen, der Salbenkrämer und dessen Gemahlin auf der anderen Seite werden konzise einander gegenübergestellt. Die Rede der Uxor Pilati nimmt sich wie ein Kommentar zur Vergeblichkeit der Grabwachenbestellung aus: 82 UXOR PILATI: Versutia horum non faciat, ut sepulchrum preses custodiat; vestra namque perpendat gloria, quanta passa fui per sompnia. (BnO 25-28) („Diese Verschlagenheit wird nicht nützen, das Grab zu bewachen; denn euer Ruhm wird vergehen, ich habe im Traum vieles erlitten.“)
Ihre Worte besitzen prophetische Qualität: Dem weltlichen Ruhm ihres Mannes (gloria) wird der zu erwartende Niedergang, den sie im Traum erfahren hat, gegen|| 80 Vgl. Tunc PONTIFICES conducentes saxea pecunia Milites cantent („Dann kaufen die Priester die Soldaten mit steinernem Geld, diese singen“, KlnbgO 25); CUSTODES redeunt ad Pontifices et reddunt collatam pecuniam („Die Grabwachen kehren zu den Priestern zurück und geben das gesammelte Geld zurück“, KlnbgO 103). 81 So die These von de Boor 1969, S. 359 („im Bewußtsein der sich ergebenden Dissonanz [durch die Preisforderung, der händlerischsten dieser drei Strophen] hat der Benediktbeurer Verfasser den Apothecarius von dieser Strophe entlastet mit der kühnen Einführung einer neuen Person, der uxor apothecarii.“) 82 Vgl. Mt. 27,19, siehe dazu den Kommentar von Meyer 1901, S. 130.
270 | Cornelia Herberichs übergestellt (BnO 28). Die Rede der Uxor Apothecarii entwirft einen vergleichbaren Kontrast, wenn sie den materiellen Preis für die Salben nennt und zugleich verdeutlicht, dass dieser den seelischen Schmerz der Marien nicht zu verhindern vermag: Uxor APOTHECARII levet pyxidem et cantet: Hoc unguentum si vultis emere, auri talentum michi tradite, aliter nusquam portabitis. Vere quantus sit dolor vester! (BnO 134-138) („Die Frau des Apothekers hebt die Pyxis in die Höhe und singt: „Diese Salbe, wenn ihr sie kaufen möchtet, gebt mir einen Goldtaler dafür, für nichts anderes könnt ihr sie mitnehmen. Wahrlich, wie groß sei eurer Schmerz!“)
In der Art einer rhetorischen Epiphora verknüpft der Dichter des Benediktbeurer Osterspiels den letzten Vers der Strophe der Uxor Pilati mit dem letzten Vers der Strophe der Uxor Apothecarii: das quantus passa fui (BnO 28) und die Feststellung quantus sit dolor vester (BnO 138) stiften durch das Motiv der Quantifizierung des Leides eine weitere Beziehung zwischen den Auftritten der beiden Frauen. In einer bemerkenswerten, eigens hinzugedichteten Strophe weist der Apotheker des Benediktbeurer Osterspiels abschließend den Marien den ‚rechten‘ Weg zum Grab, mit dem Versprechen, dass sie dort Jesus ‚sehen‘ würden. APOTHECARIUS ostendat eis viam ad Sepulchrum: Hec est vera semita, que recte, non per devia vos ducet ad hortum. ibi cum veneritis, illum, quem vos queritis, videbitis Iesum, Salvatorern vestrum. (BnO 140-147) („Der Apotheker weist ihnen den Weg zum Grab: Hier ist der wahre Weg, der gerade ist und euch ohne Abweichung zum Garten führt, dort könnt ihr jenen verehren, den ihr sucht, ihr werdet Jesus sehen, euren Erlöser.“)
Die Funktion der Salbenkauf-Szene als notwendige Station zum Grab Jesu und Prüfstein der angemessenen devotio der Frauen wird vom Autor des Benediktbeurer Spiels in dieser Strophe auf den Punkt gebracht: Der Salbenkauf wird damit paradoxerweise als ebenso ‚nur‘ transitorische wie zugleich ganz unverzichtbare Station auf dem ‚rechten Weg‘ charakterisiert. Insbesondere am Benediktbeurer Osterspiel wird zudem ersichtlich, wie fließend das Verhältnis zwischen Spiel und Feier zu konzeptualisieren ist: Cantatis Matutinis in die Pasche [...] ubi sit Sepulchrum (BnO 1f.), heißt es hier zu Beginn, „[d].h. der
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Ludus wurde genau zur gleichen Zeit und an der gleichen Stelle gesungen wie sonst die Visitatio [...]. Er konnte also die sogenannte Feier ersetzen.“83 Die Figur des Salbenkrämers ist also bereits früh sowohl in Spielen als auch in liturgischen Feiern präsent; und das gilt auch noch für das späte Mittelalter, wie die Prager Feiern des 13. und 14. Jahrhunderts belegen, in denen der Salbenhändler in der Performanz zumeist als stumme Rolle erscheint: Der ‚Kauf‘ ist im Rahmen der liturgischen Prozession zunächst nichts anderes als eine Sachübergabe: tres marie cantantes ‚aromata‘ procedant ad Unguentarium pro accipiendis ungentis. […] Quibus acceptis accedant ad Sepulchrum („die drei Marien gehen, während sie ‚Aromata [...]‘ singen, zum Salbenkrämer, um die Salben zu erhalten. […] Nachdem sie diese empfangen haben, gehen sie zum Grab“).84 Doch im 14. Jahrhundert tritt die Figur des Salbenhändlers auch in vereinzelten Feiern als agierende auf und singt die nämliche Strophe, die auch in den deutschen Spielen vom Salbenkrämer vorgetragen wird.85 Fraglich ist allerdings, ob man von dieser Figur als von einer „profane[n] Gestalt[]“ sprechen kann, welche hier aus den Osterspielen transponiert worden sei und so den liturgischen Charakter der Osterfeier verändere.86 Demgegenüber ist festzuhalten, dass die oben zitierte Strophe der Spiele im Kontext der Feier als Antiphon charakterisiert sein kann,87 die Funktion des Ungentarius für die Liturgie aufgrund des liturgischen Gesangs damit deutlich markiert ist: UNGENTARIUS cantans Antiphonam: Dabo vobis ungenta optima […] deinde dat eis pixides. (Prag 32 11-13) („Der Salbenhändler singt folgende Antiphon: Ich gebe euch die besten Salben [...]. Dann gibt er ihnen die Salbengefäße.“)
|| 83 Lipphardt, LOO 8 (1990), S. 837. 84 LOO 801. Weitere Beispiele finden Erwähnung bei Dürre 1915, S. 16 mit Anm. 2. – Vollmann 2004, S. 6, Anm. 28, beschreibt die Prager Spiele 85 LOO 799 (Mercator-Strophe ohne Sprecherrubrik), 802 und 805 (siehe dazu schon Baeschlin, S. 8f.); die Feiern stammen aus liturgischen Handschriften des Frauenklosters St. Georg auf dem Hradschin; siehe den Kommentar in LOO 5 (1976), S. 756f. 86 Für de Boor 1967, S. 269 hat sich mit dem Auftritt dieser Figur der Charakter der Feier grundlegend verändert: „wir [sind] hier an der Grenze, wo Feier und Spiel sich überschneiden“; siehe kritisch zu dieser Einschätzung bereits Lipphardt, Kommentar zu LOO 799, in LOO 5 (1976), S. 761, der zurecht darauf verweist, dass sich durch den Auftritt des Ungentarius „am Stil des Spieles […] nichts Wesentliches geändert“ habe. – Ebenfalls im Rahmen der Liturgie findet ein spätmittelalterlicher Magdalenen-Hymnus aus Frankreich Verwendung, der von Magdalenas Besuch bei den Salbenverkäufern berichtet (dazu Szöffery 1961, S. 291-294); die darin verhandelten Themen (Transaktion des Geldes, Verwesung der Leiche) ließen sich offensichtlich also durchaus auch in einer gottesdienstlichen Feier verbalisieren. 87 Diese Bezeichnung fehlt in LOO 799 und 805.
272 | Cornelia Herberichs Abschließend kann festgehalten werden, dass die lateinischen Osterfeiern und Spiele einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum nutzen, um auf unterschiedliche Weisen das theologische und exegetische Potential des Salbenkaufs jeweils zu aktualisieren, seine Rolle für die Deutung des Ostergeschehens spezifisch zu perspektivieren. Der komparatistische Blick vermag zwar Differenzen der Dramentexte zu profilieren, doch das vornehmliche Interesse an einer Wertung der unterschiedlichen Traditionen, wie sie sich im Anschluss an de Boor herauskristallisiert hat, verstellt die Frage nach den konkreten Funktionen der vermeintlich ‚realistischen‘ und der ‚sakralen‘ Aspekte. Vielmehr bedarf – wie schon in den Bildmedien (s.o.) – die jeweilige strukturelle Einbindung der Szene und der in ihr aufgerufenen Motive in die Gesamttextur der Spiele angemessener Berücksichtigung. Trotz der beachtlichen Gestaltungsspielräume kann meines Erachtens keiner der hier beschriebenen Feier- und Spieltexte mit Recht als ‚komisch‘ bezeichnet werden – auch wenn eine kalkulierte Ambiguisierung des Salbenkaufs jeweils festzustellen ist: Diese betrifft aber nicht die Figur des Salbenkrämers mit dem Ziel einer Profanierung derselben, sondern sie dient der Sichtbarmachung und Diskursivierung der ambivalenten religiösen Haltung der Marien, die zwischen der Trauer um den menschlichen und die Zuversicht in den göttlichen Jesus changiert. Dass einige deutschsprachige Texte an dieser Szene ansetzen konnten und eine breit wuchernde Komik anlagerten, bleibt dabei natürlich unbestritten. Aber die hier dargelegten Beobachtungen zur lateinischen Tradition sollten deutlich gemacht haben, dass der Blick auf den Einzeltext und die Bestimmung seines literarhistorischen Ortes jeweils einzufordern ist; und ebenso gilt es zu bedenken, dass auch die deutschsprachigen Spiele nach strukturellen und hermeneutischen Potentialen jeweils einzeln zu befragen sind.
4.2 Die deutschsprachigen Spiele: Das Beispiel des Osterspiels von Muri Die germanistische Beschäftigung mit der Salbenkauf-Szene wird seit einigen Jahren von der Frage nach Funktionen und Effekten der Komik im Geistlichen Spiel dominiert. Dementsprechend wurden besonders den proportional auffällig umfangreichen Krämerszenen des Innsbrucker und des Erlauer Osterspiels eingehende Untersuchungen gewidmet.88 Diese Konzentration verdankt sich wesentlich dem kulturwissenschaftlichen Interesse nach Status und Funktion der Komik im Kontext des Sakralen.89 Eine Folge dieser Fokussierung ist, dass sie ein evolutorisches Mo-
|| 88 Z.B. Linke 1987; Röcke 2002; Wolf 2009; Schulze 2012, S. 63-65. 89 Vgl. Schnell 2005 und Meier 2009 (zur kulturwissenschaftlichen Interessenslage siehe auch die Sammelbände, in denen diese Beiträge jeweils erschienen sind).
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dell favorisiert;90 dieses bedingt, dass der Status jener Spiele, deren SalbenkrämerSzenen wenig oder gar keine Komik aufweisen, entweder kaum berücksichtigt oder diese ‚rückblickend‘, aus der Perspektive der ‚späteren‘, komischen Ausgestaltungen als ‚vorläufig‘ beziehungweise ‚reduzierte‘ Versionen betrachtet werden.91 Die derart implizit oder explizit wirksame Vorstellung einer Teleologie lässt indessen leicht übersehen, dass die Spiele sich im historischen Verlauf durchaus nicht einsinnig entwickelt haben: Das erwähnte Innsbrucker Spiel von 1391 stellt einen sehr früher Vertreter seiner Gattung dar, während Krämerszenen späterer Osterspiele überaus lakonisch und gänzlich ‚unkomisch‘ ausfallen können. 92 Was sich also bei Sichtung der Beispieltexte zeigt, ist ein Nebeneinander des Heterogenen in der Geschichte der deutschsprachigen Osterspiele. Meine Intention besteht nun nicht vornehmlich darin, die Entwicklungsthese zu korrigieren oder zu präzisieren; die meines Erachtens interessantere Frage lautet vielmehr, welche hermeneutischen Potentiale angesichts dieser Konzentration bislang zu wenig berücksichtigt wurden. Im Rahmen dieses Beitrags beschränke ich mich auf wenige Beobachtungen zum Osterspiel von Muri, das als erstes deutschsprachiges Osterspiel überliefert ist und bereits umfangreiche Krämerszenen beinhaltet.93 Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts vermutlich in Zürich entstanden,94 ist das Spiel nur fragmentarisch auf uns gekommen. Anfang und Ende des Textes sind verloren, die überlieferten ca. 600
|| 90 Von einer ‚Entwicklung‘ hin zur Burleske spricht schon Baeschlin 1929, S. 20. Da Katritzky vornehmlich an der ‚Vorgeschichte‘ der Commedia dell’Arte interessiert ist, stellt sie sehr unterschiedliche Szenentypen in eine einzige Entwicklungsreihe. So unterstellt Katritziky 2007, sämtliche Salbenkauf-Szenen hätten der Belustigung gedient, auch dann, wenn im Text keine Hinweise auf Komik zu finden seien: Die Absenz von Komik in einigen späten Spielen sei als „prudent response to censorship in the written version“ zu verstehen, und könne nicht „as an accurate reflection of an absence of any comic dimension in the actual performances“ gelesen werden (ebd., S. 104). Auch Walsh 2002 impliziert, es gebe nur eine Funktion ‚der‘ Salbenkrämer-Szene: „The Mercator scene is a comic carcinoma within the most sacred of the medieval enactments“ (S. 197). 91 Die mögliche (komische) Aufführungsweise der früheren Spiele im Licht der Regieanweisungen in jüngeren Handschriften zu interpretieren fordert Katrizky 2007, S. 104. 92 Die Problematik der teleologischen Perspektive wird im Beitrag von Walsh 2002 deutlich, der das Wolfenbütteler Osterspiel von 1425 als „early“ und das Innsbrucker von 1391 als „later Osterspiel[]“ bezeichnet, obwohl er selbst die Chronologie der Spiele in einer Tabelle angibt (S. 188 u.ö.). Schon Rueff 1925, S. 115 widersprach dem Entwicklungsmodell, indem er im späten Wolfenbütteler Spiel die Bewahrung der „frühe[n]“ Szene voraussetzte; über die Funktion der Szene im Rahmen des Spiels ist damit allerdings nichts ausgesagt. – Siehe dagegen Hennig (1999) zum WO, siehe auch LO, Actus 8, V. 10436-10471 und das Egerer Fronleichnamsspiel, V. 7864-7901 (dazu Wolf 1999, S. 305). 93 Ausführliche Beschreibung der Überlieferung und Handlungssynopsen bei Ranke 1967 und Janota 2007; demnächst auch in der Habilitationsschrift von Norbert Kössinger. 94 Das Osterspiel von Muri ist etwa zeitgleich entstanden wie das oben besprochene Konstanzer Heilige Grab; auch das Personal beider Salbenkauf-Szenen ist dasselbe: die drei Marien, ein Engel und der Krämer (ohne Knecht und weiteres Personal), siehe Jelzer 1985, S. 104.
274 | Cornelia Herberichs Verse ergeben jedoch zusammenhängende Szenenfolgen und repräsentieren vermutlich in etwa die Hälfte des ursprünglichen Spielumfangs. 95 Über Struktur und Aufbau lassen sich aufgrund des Fragmentcharakters zwar nur begrenzt zuverlässige Aussagen treffen, doch weist der überlieferte Bestand bereits bemerkenswerte Eigenheiten bei der Gestaltung der Salbenkrämer-Szenen auf. Wie in den lateinischen Osterspielen von Benediktbeuern und Klosterneuburg gehen dem Salbenkauf im Spiel von Muri Szenen voraus, die von der Bestellung und Bezahlung der Grabwachen handeln. Die deutlich markierten Motivresponsionen, mit denen der Autor des Spiels die Transaktionen der Grabwächter- und jene der Salbenkrämer-Szenen aufeinander bezieht, belegen eine absichtsvolle Verknüpfungstechnik, die hier in wenigen Zügen nachgezeichnet werden soll. Es beginnt damit, dass die Grabwachen von Pilatus für ihre Dienste die Summe von zwencic marche fordern: herre, wir wellen lan / en ort nicht: zwencic marche („Herr – wir lassen keinen Heller ab: zwanzig Mark“; OM I, 6f.).96 Nachdem sich ihre bezahlten Dienste in der Osternacht jedoch naturgemäß als sinnlos erwiesen haben, erhöhen sie ihre Forderung; im Gegenzug versprechen sie Pilatus, die Auferstehung Jesu zu verschweigen. Sie wiederholen die Ziffer Zwanzig und erhöhen die Währung: here, der un_ hie ce_tunt / der zwencic phunde bereit, / so belibet ez vnge_eit („Herr, wenn man uns hier sogleich die zwanzig Pfund übergibt, so bleibt es verhohlen“;OM II, 75-77)97. Schon das erste Geldversprechen war „außerordentlich hoch“,98 das zweite potenziert die Summe sogar.99 Die Übergabe dieser zweiten Summe wird nun allerdings (entgegen der ursprünglichen Forderung der Wachen nach sofortiger Auszahlung, vgl. II, 75) auf einen späteren Zeitpunkt verschoben – und im Spiel nie realisiert: Pilatus möchte, so betont er, zuerst den Gerichtstag abschließen, bevor er den Grabwachen ihr Schweigegeld entrichten werde.100 Dramaturgisch geschickt wendet sich just vor dem Ende des besagten Gerichtstags, also kurz vor dem mit den Grabwachen verabredeten Zeitpunkt der Geldüber-
|| 95 Janota 2007, S. 184f. 96 Die neuhochdeutschen Übersetzungen orientieren sich an Wehrlis Übersetzung, die der Edition des OM von Ranke beigegeben ist, modifizieren diese aber gelegentlich. 97 Auffällig ist die dreimalige Nennung dieser Bestechungssumme: II, 68, 74 und 76, die dadurch hohe Einprägsamkeit erlangt. – Von einer großen Summe Schweigegelds ist die Rede in Mt 28,12 (pecuniam copiosam), eine spezifische Summe wird in der Bibel nicht genannt. 98 Holtorf 1975, S. 342 liefert zeitgenössische Vergleichsmaßstäbe, welche die Exorbitanz der Summe belegen. 99 Dass hier eine „Verdoppelung“ vorliegen soll, wie Janota 2007, S. 188 schreibt, ist mir nicht einsichtigt. Holtorf 1975, S. 342 vergleicht die 20 marche mit 10 gegenwärtigen Pfund; die 20 phunt sind wohl aber nicht mit der gegenwärtigen Maßeinheit gleichzusetzen (siehe die Literaturangaben bei Holtorf). 100 swenne ih hier von gerihte gan, / daz man _i denne ane wan / de_ gte_ bereiten _ol („wenn ich hier das Gericht verlasse, daß man ihnen dann ohne Trug das Geld auszahlen soll“; OM II, 80-82).
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gabe (vgl. III, 1-4), der Institor, der Salbenkrämer, an Pilatus.101 Der Krämer bittet Pilatus seinen Verkaufsstand aufbauen zu dürfen, und er bietet dem Statthalter nun seinerseits eine Summe an, welche die beiden Geldforderungen der Grabwachen in der Zahl Zwanzig paradigmatisch wiederholt, angesichts der geforderten Währung jedoch abermals aber im Wert potenziert: mit gewiht / golde_ [...] zwencic marche[] (OM III,6f.). Pilatus knüpft den Schutz des Krämers an die Bedingung sofortiger Geldübergabe: swenne ih uon dir han daz golt, / so habe min geleite („sowie ich von dir das Geld habe, sollst du meinen Schutz bekommen“; OM III 20f.).102 Doch er wird vertröstet: So bleibt der Salbenkrämer vorerst in der Schuld des Pilatus, so wie Pilatus seinerseits in der Schuld der Grabwachen verbleibt; darin erzeugt das Osterspiel von Muri eine Verkettung des zeitlichen Aufschubs bezogen auf das Motiv der Saldierung. Als Bedingung dafür, seine Schuld zu lösen, setzt der Institor wiederum voraus, dass er seine Ware verkaufen kann: doh _olt du mir borgen / vnz ih den chran bewende („Doch sollst du mir Frist geben, bis ich den Kram verkauft habe“; III, 28f.); die Salbenkauf-Szene wird derart motivisch vorbereitet und als einzelnes Glied in eine umfassendere Transaktionskette eingereiht. Die erwähnten Szenen, die sich um den Geldhandel drehen, zeichnen sich durch eine auffällige Weitschweifigkeit der Gesprächsführung aus, so dass dem – für das religiöse Ostergeschehen doch reichlich marginalen – Thema großes Gewicht beigemessen erscheint:103 Mit einer erstaunlich hohen Anzahl an Versen wird wiederholt darüber diskutiert, wer wann wem wieviel Geld geben soll und wird. Meines Erachtens verweist diese proportionale und motivische Auffälligkeit auf eine symbolische Dimension der Geldzirkulation, die auf mehreren Ebenen auszufalten wäre.104 Die sich jeweils potenzierende Zahl der zwencic (marche[] bzw. phunde) erzeugt eine ökonomische Spirale der Überbietung, die in einen Kreislauf eingelassen ist, der seinerseits – in beide Richtungen – von Vergeblichkeit der materiellen Aufbietung geprägt ist: Weder wird das den Grabwachen offerierte Geld Christi Auferstehung und deren Verkündigung verhindern können, noch ist der Institor mit || 101 Das Gespräch zwischen Pilatus und dem Krämer ist innerhalb der Osterspieltradition einzigartig, vgl. Danne 1955, S. 53. 102 Zu Belegen von geleite in der Bedeutung von „landesherrliche[r] Schutz für den ungehinderten Verkauf der Waren“ siehe Danne 1955, S. 111-113. 103 Die „Bitte des Krämers um rechtlichen Schutz“ und die Forderung eines „Schutzgeldes“ sind ein „Spezifikum des Osterspiels von Muri“ (Janota 2007, S. 188); die originelle Einführung des Motivs mag sich mit „der lebensweltlichen Erfahrung städtischer Kaufleute“ (ebd.) durchaus treffen, als Erklärung für diese singuläre Szene reicht dieser Hinweis jedoch m.E. nicht aus. 104 Die Parallelisierungstechnik wird noch deutlicher, wenn man weitere Motive gegenüberstellt: Wie schon die Grabwachen ihr Leben dem Pilatus als Pfand anboten (OM I,43), so tut dies nun der Salbenkrämer: des habe du ce phande mih (OM III,31). Die Formulierungen der Geldforderungen sind ebenfalls mit wörtlichen Anklängen gestaltet: wir wellen lan / en ort nicht (OM I,6f.) und dez enlaze ih niht en ort (OM V,108).
276 | Cornelia Herberichs seinem Ansinnen, Gewinn mit dem Verkauf seines Krams zu erzielen, finanziell tatsächlich erfolgreich, wie sich zu guter Letzt zeigen wird. Auch die Zahl Zwanzig wird sich zu einem späteren Zeitpunkt in ihrer symbolischen Dimension erschließen, worauf im Folgenden noch zurückzukommen sein wird. Doch zunächst ist der Monolog des Institor, mit dem er noch vor der eigentlichen Salbenkauf-Szene – allerdings offensichtlich erfolglos – seine Waren anpreist, von Interesse. Seine Rede verweist auf eine signifikante symbolische Dimension des ökonomischen Diskurses: wa nu, die chofen wellent? mih wundert daz _i twellen(t): die minnere geile die vintent hie veile bibergeil, alrune. si mun wol we_en _lune, die daz niht went gewinnen, dauon _i vrowen minnen. (OM III,51-58) („Wo sind nun, die kaufen wollen? Mich wundert, was sie zögern: die lustigen Verliebten, die finden hier feil Bibergeil und Alraune. Die müssen wohl faul sein, die das nicht gewinnen wollen, wofür die Damen sie lieben.“)105
Die Forschung hat zwar zurecht hervorgehoben, dass hier komische Motive Einlass ins Osterspiel gefunden haben. Wenn der Institor dann auch noch namentlich einen Johanne_ Chrumbe und Růlin Stacin (OM III,69; 75) auffordert, bei ihm Kosmetika als Geschenke für Damen zu kaufen, so dringt mit dieser Rede eindeutig eine burleske Pointe in das Spiel.106 Doch geht die Funktion dieses Monologs nicht allein darin auf, eine „Ironisierung der minne“107 zu betreiben oder „als Bloßstellung [...] des Luxuslebens der städtischen, an höf[ischen] Lebensformen orientierten Gesellschaft“108 zu fungieren. Die Waren, die der Institor anbietet, sind nämlich nicht einfach irgendwelche „Luxusartikel“,109 der Krämer preist sie ausschließlich als Minnegaben und begehrenswert(machend)e Geschenke an;110 sie erscheinen als Katalysatoren der weltli|| 105 OM III,58 wird von Wehrli übersetzt: „womit sie Damen minnen können“, diese Übersetzung scheint mir treffender als Meiers: „womit sie die Geliebten beschenken“. 106 Als komisch sind diese Einsprengsel anzusehen ungeachtet der Frage, ob hier „fiktive Namen“ (Wehrli 1989, Sp. 123) oder stadtbekannte „Frauenheld[en]“ (Komm. zu OM von Ranke, S. 81) genannt werden. 107 Wehrli 1989, Sp. 123. 108 Schulze 2010, S. 12. 109 Janota 2007, S. 189 sieht hier vor allem „eine bestimmte Gruppe: [...] die städtische Oberschicht, die sich solchen Luxus leisten konnte und sicher auch leistete“ in der Kritik stehen. 110 Grundlegende Überlegungen zu Minnegaben in der Literatur des Mittelalters finden sich in der Einleitung zum Sammelband von Egidi u.a. 2012, S. 9-23.
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chen Minne oder sollen (wie die Minnewerbung der Sänger, vgl. IV,3), dazu dienen, Minne allererst zu stiften: er [Růlin] gerne chofen _ol / von mir dien héb_hen vråwelin / en vil rote_ varwelin („drum sollte er gerne von mir den hübschen jungen Damen ein schönes rotes Färbchen kaufen“, OM III,76-78). Der Salbenkrämer erscheint in der Rolle dessen, der vor allem solche Waren gegen Geld verkauft, die als Geschenke fungieren oder dazu dienen, gefällig zu sein. Um den ökonomischen Kreislauf zu schließen, der mit den unbezahlten Rechnungen der Grabwachen und des Pilatus noch offen ist, lanciert der Institor seinerseits nun eine spezifische Form des ökonomischen Kreislaufs: Die – immaterielle – Gegengabe, welche die Kundinnen und Kunden als Ausgleich für ihre Kaufleistungen beim Salbenhändler zu erwerben hoffen können, ist die Minne, eine eitle, deutlich als körperliches Begehren charakterisierte Form der Liebe freilich. Doch einen erfolgten Verkauf der aphrodisierenden Güter inszeniert das Osterspiel bezeichnenderweise nicht. Als die Marien die Bühne betreten wendet sich scheinbar das Verkaufsglück des Institor, da diese ihm einen ausreichenden Lohn für die gewünschten Salben in Aussicht stellen (daz wellen wir dir gelten wol, OM V,97). Der Krämer verlangt seinen Preis: so wil ih daz ir cellent / dar vmbe mit gedinge / mir zwencic _hillinge. / dez enlaze ich niht en ort (OM V,105-108). Ohne Feilschen und Widerrede, wie explizit hervorgehoben wird (vgl. V,107), erhält er diesen Betrag auf den phenning[] (V,110) genau. Hinter dieser Summe steht vermutlich der Betrag, der vom Salbenkrämer des lateinischen ‚Zehnsilberspiels‘ gefordert wird, unum auri talentum,111 und welcher „nun genau der deutschen Münzeinheit von einem Pfund, das schon seit alters in 20 Schillinge zu 12 Pfennigen unterteilt wurde [entspricht]. 20 Schillinge sind im Alemannischen also genau ‚unum talentum‘“.112 Vom Salbenkauf der Marien aus besehen erklärt sich also rückblickend die wichtige Rolle, welche die Zahl Zwanzig in allen Geldhändeln bisher spielte, indem sie sich leitmotivisch durch die bisherigen Transaktionen von Muri zieht: Die Umrechnung des aus der lateinischen Tradition bekannten Preises in die alemannische Münzeinheit erzeugt eine prägnante nume|| 111 Nach der Aufstellung von Meyer 1901, S. 108 die 3. Strophe der Strophengruppe C; siehe oben das Zitat aus dem BenO 134-138. 112 Holtorf 1975, S. 343; da die lateinischen Strophen in der Handschrift des Osterspiels von Muri nicht überliefert sind, vermutlich aber – wie auch die anderen, ebenfalls nicht notierten lateinischen Gesänge – trotzdem Bestandteil des Spiels waren (vgl. dazu ausführlich Bergmann 1984), ist es nicht plausibel, davon auszugehen, dass die Währung hier stillschweigend als Silberwährung aufgefasst werden muss (so aber vermutet es Holtorf 1975 ebd. [„die Goldwährung der Vorlage ist im OvM zur üblichen Silberwährung gemildert, die nicht ausdrücklich bezeichnet zu werden braucht“; ebenfalls – ohne Erläuterung – spricht Janota 2007, S. 190 von „1 Pfund Silber“). Da die deutschen Verse des Institor im Osterspiel von Muri (106-110) ziemlich präzise den Inhalt der entsprechenden lateinischen Strophe wiedergeben, gehe ich davon aus, dass der lateinische Text mit der Angabe unum aurum talentum ursprünglich Teil des Spieles war; die Vermutung, der Autor der deutschen Verse habe einen gezielten Widerspruch zwischen lateinischer und deutscher Wertangabe beabsichtigt und den Gold- mit dem Silberwert ersetzt, erscheint mir daher sehr unwahrscheinlich.
278 | Cornelia Herberichs rische Vergleichsgröße aller bisher genannten Summen, die sich jeweils um einen beträchtlichen Faktor potenzierten, bis sie mit dem ‚Pfund Gold‘, das die Marien dem Salbenkrämer zahlen, schließlich bei weitem überboten wird. Mit dieser Transaktion endet der Auftritt des Salbenkrämers, doch richtet der Institor noch einen letzten, bedeutsamen Satz an die scheidenden Marien: vrowe, ih wil vͥh eren: dar wider mac ih niht _in, do[h wart] ez nie dar umbe min. (OM V,113-115) („Dame, ich will euch beschenken/ehren: Etwas anderes vermag ich nicht. Es kam aber niemals dafür in meinen Besitz.“)113
Indem er einen finanziellen Verlust zu erleiden behauptet, sprengt der Institor mit seinen letzten Worten die Eigendynamik des ökonomischen Kreislaufs, der im Spiel detailreich inszeniert wurde.114 Die geleistete Transaktion setzt die Inkommensurabilität der devotionalen Gabe in ihr Recht, eine Gabe, die jede ökonomische Logik ausstreicht.115 Gerade der Umstand, dass die letzten Worte des Salbenkrämers für den weiteren Verlauf der Handlung keine funktionale Rolle mehr spielen werden, erhärtet die Vermutung, dass es dem Autor des Osterspiels von Muri um eine eminent symbolische Verdichtung des ökonomischen Codes zu tun war und um die Erzeugung einer paradigmatischen Struktur: Die Zirkulation des Geldflusses – die Transaktionsrichtung von Pilatus an die Grabwachen, vom Salbenkrämer an Pilatus, von den Marien an den Salbenkrämer – fordert dazu auf, die paradigmatische Verflechtung aller einzelnen Handlungsabschnitte zu reflektieren. Die Frauen erscheinen nicht nur als Waren empfangende Figuren im Rahmen eines Kaufaktes, sondern ihr Kaufbegehren ist Teil einer Interaktion, die den Händler auf performative Weise neu definiert. Eine neue Form der Liebesgabe wird durch || 113 Die genaue Bedeutung und die handlungslogische Funktion seiner letzten Verse erschließt sich nicht ohne weiteres, vgl. die Übersetzungen von Meier 1974 („Ihr Frauen, ich will euch beschenken: / ich will damit zufrieden sein, / doch ich habe es nicht dafür bekommen“) und Wehrli 1967 in der Ausgabe OM („Dame, ich will großzügig sein, / ich kann nicht anders handeln, / doch habe ich es dafür längst nicht bekommen“). Meines Erachtens könnte auch die entsprechende Szene im Pfp so verstanden werden, dass die Uxor Medici abschließend vorschlägt, die Salbe den Frauen zu ‚schenken‘: ere di frowen alle dri! (Pfp 179, vgl. dagegen die Übersetzung von Amann: „Ehre alle drei Frauen“). 114 Janota 2007, S. 189 hingegen charakterisiert das inszenierte Kalkül des Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben als „Kaufmannsgeist [...] allenthalben“. 115 Eine ähnliche Pointe besitzt die Salbenkauf-Szene des Luzerner Osterspiels, wenn der Mercator in seinen letzten Worten auf der Bühne sagt: wüst ich zekouffen das ewig leben, / ich wellt myn salben all drum geben! („Wenn ich wüsste, wie man das ewige Leben kauft, so würde ich alle meine Salben dafür geben“, LO 10470f.).
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ihre Anfrage ermöglicht, eine neue Ökonomie hebt sich nun kontrastiv zur im Osterspiel anfänglich entfalteten ab. Dass der Kaufakt auch Rückwirkungen auf die Figur des Verkäufers hat, wird durch seinen Verzicht auf angemessenes Entgelt deutlich hervorgehoben: do[h wart] ez nie dar umbe min (OM 115). Seine Ware, sein chran (III,29), welcher in erster Linie dem Erzielen von materiellem Gewinn dienen sollte, ist schließlich zu einer Gabe geworden. Schon im Verkaufsgespräch mit den Marien erhält das Warenangebot des Institors eine dezidiert neue Charakterisierung: Die Frauen wünschen von ihm néwe aromata („neue/frische Gewürze“, OM V,97), und der Krämer verspricht uf min tréwe, / der _elben _alben néwe („bei meiner Treue: neue/frische Salben“, OM V,102f.). Mit der Nachfrage der Frauen erscheint das Sortiment des Krämers unvermittelt transformiert. Der Aspekt des ‚Neuen‘ (néwe aromata; _alben néwe)116 kann hier als Signal für die ‚Erneuerung‘ auch der Rolle des Salbenkrämers gedeutet werden. Als Ausdruck dieser wichtigen Funktion der Marien für die spielinterne Handlungswelt sind nicht nur die Transformationen auf der dinglichen (aphrodisierende vs. opfernde Liebesgaben) und auf der personalen Ebene (gewinnstrebender vs. schenkender Institor), auch die semantischen Transformationen werden in diesem Zusammenhang augenfällig: Die Neusemantisierung, welche der weltliche Minnebegriff im Verlauf des Stücks durchläuft, wird markiert, wenn Maria Magdalena in ihrem Klagemonolog am Spielende von der minne zu Gott spricht: bedenche [...], / daz ih dih, [here], minne / von réwechlihem _inne („bedenke [...], Herr, dass ich dich liebe, mit reuevollem Sinn“, OM VII,64-67). Und eine neue Heilsökonmie findet im selben Monolog ihren Ausdruck, wenn Maria Magdalena den Tod Christi als ‚Gabe‘ bezeichnet: want vn[_ din] tot hat gegeben / e[i]n vil _[ele]chlihe_ leben („denn dein Tod hat uns ein sehr gesegnetes Leben geschenkt“, OM VIII, 37f.). Die Rolle der Marien hat sich durch die Einbettung der Salbenkaufszene in die paradigmatische Struktur des ökonomischen Diskurses entscheidend gegenüber der exegetischen Literatur und den bisher besprochenen lateinischen Spielen verändert: Die Salben der Marien erscheinen im Osterspiel von Muri nicht mehr Relikt eines jüdischen und letztlich sinnlosen Brauchs der Totensorge; er geht auch nicht in der Funktion auf, die grenzenlose materielle Opferbereitschaft der Marien zu illustrieren. Der Kauf der Salben, welche im Kontrast zum Minnekram des Institors profiliert werden, besitzt für die Handlungswelt des Osterspiels – die in vieler Hinsicht tatsächlich eine ‚Handels-Welt‘ ist – einen transformierenden Effekt für das Personal und die Semantiken der dargestellten Welt. Der Mercator des Osterspiels von Muri vermag diese zentrale, die Hermeneutik des Stücks dynamisierende Funktion zu übernehmen, da er als einzige Figur in den verschiedenen Räumen der || 116 Dieses Motiv ist in den lateinischen Strophen nicht enthalten, welche im deutschen Text des Osterspiels von Muri ansatzweise durchklingen (siehe die Parallelen bei Danne 1955, S. 55f.)
280 | Cornelia Herberichs Handlungswelt präsent ist und diese miteinander verbindet: Der Hof des Pilatus, der Marktplatz der Bürger, der Trauergang der Marien werden durch seine Auftritte syntagmatisch wie paradigmatisch miteinander verknüpft. Eine Isolierung der komischen Motive der Salbenkrämer-Szene im Osterspiel von Muri und die Reduktion des Salbenkrämers auf seine Funktion als „Objekt des Verlachens“,117 so sollte deutlich geworden sein, würde deshalb die vielfältigen und komplexen Sinnbezüge verfehlen, die sich durch die Entfaltung des ökonomischen Diskurses auftun. Dass sich auch in jenen bekannten Spiele, die ein wesentlich breiteres komisches Potential dieser Szene ausschöpfen, als das Osterspiel von Muri es tut, ebenfalls hermeneutische Funktionen des Salbenkaufmotivs und der ökonomischen Implikationen der Mercator-Szene bergen lassen, ist eine Hypothese, der im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr nachgegangen werden kann. Die vorgelegten Überlegungen möchten nicht nur Anregungen für die Lektüre dieser späteren Salbenkauf-Szenen deutschsprachiger Osterspiele geben, sondern zielen auf eine generelle Reflexion über den Umgang mit Literatur, die in religiösen Funktionszusammenhängen steht. Hans Unterreitmeier hat in Bezug auf die germanistische Beschreibung mittelalterlicher Literatur, die im Kontext der Liturgie steht, zurecht bemerkt, dass der Begriff ‚religiöse Gebrauchsliteratur‘ häufig einen pejorativen Beigeschmack birgt.118 Mit dieser Beobachtung bringt Unterreitmeier das Dilemma auf den Punkt, dass einerseits für die Gattung des Geistlichen Spiels der Bezug zur Liturgie nicht hoch genug veranschlagt werden kann, ja jene „als Dichtung nur von ihr aus zu deuten“ ist,119 und dass es sich andererseits verbietet, die ästhetische und hermeneutische Komplexität der Texte aufgrund ihrer liturgischen Bindung zu unterschätzen. Auch wenn die Geistlichen Spiele für ‚religiöse Gebrauchsliteratur‘ gehalten werden, gilt es ihre vielschichtigen und polyvalenten Sinnbezüge zu erkennen und zu würdigen. Bezüglich der Salbenkauf-Szene vermag eine simple Opposition von ‚komisch‘ versus ‚sakral‘ beziehungsweise ‚weltlich‘ versus ‚religiös-didaktisch‘ ihrem komplexen hermeneutischen Potential ebenso wenig gerecht zu werden wie eine teleologisch verfahrende Vereinheitlichung aller Salbenkauf-Szenen aus der Perspektive der Burleske.
|| 117 Vollmann 2004, S. 6, bezieht sich mit dieser Aussage generell auf die Mercatores der volkssprachigen Osterspiele und nicht spezifisch auf das Osterspiel von Muri. Seine bedenkenswerten Thesen zum Versiegen der lateinischen Osterspieltradition überzeugen in ihrer komplexen Verknüpfung unterschiedlicher Faktoren (siehe ebd., S. 7f.). 118 Unterreitmeier 1991, S. 83. 119 Ebd., S. 85.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1-5: München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 13601, fol. 41v. Abb. 6-8: Saint-Gilles-du-Gard, ehem. Abteikirche Saint-Gilles; Fotos und copyright: Alison Stones, University of Pittsburgh (http://www.medart.pitt.edu/). Abb. 9-18: Heiliges Grab in der Mauritius-Rotunde des Konstanzer Münsters; Fotos: Cornelia Herberichs.
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Andreas Erhard
Laien und Liturgie Zur liturgischen Seite des volkssprachigen Gebetbuches Cgm 4701 aus der Bibliothek der Laienbrüder des Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram im 15. Jahrhundert
1 Lateinische Liturgie und volkssprachliche Gebetsfrömmigkeit des Laien im Spätmittelalter Lebensorientierung und Lebensbewältigung sind im europäischen Mittelalter fest an die Autorität der Kirche als Heilsinstitution gebunden, an das von ihr nach dem liturgischen Jahreskalender1 in der Messe und im Stundengebet gefeierte Gedächtnis der christlichen Heilsgeschichte.2 Das gläubige Volk aber hatte in vorreformatorischer Zeit nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit der aktiven Anteilnahme an der Feier des klerikalen Gottesdienstes,3 versperrte doch das Latein als Sprache der
|| 1 Vgl. Unterreitmeier 1990, S. 74: „Die Gläubigen sollten ihr Leben als Heilsweg begreifen und gestalten mit dem Himmlischen Jerusalem als Ziel. Dieses Ziel, das eigentlich in der Vertikale zu suchen war – „oben“ – , wurde in die Horizontale gleichsam umgelegt, in den Heilsweg des ‚circulus anni‘, des liturgischen Jahreskalenders, der die Daten der Heilsgeschichte in die Zeit einschreibt.“ 2 Vgl. Unterreitmeier 1992, S. 470: „Im christlichen Glauben gilt das liturgische Gedenken zunächst einzig und ausschließlich dem Tod Jesu, jenem befreienden Opfer-Tod, der satisfactio vicaria, die sich in der eucharistischen Darbringung von Brot und Wein je neu vollzieht. An dieses Gedenken schließt sich, historisch gesehen, das Gedenken an die Märtyrer an, zuletzt das Gedenken an die Lebenden und die Toten, die memoria pro vivis quam defunctis in der Messe und im Stundengebet.“ 3 Vgl. Ochsenbein 1992a, S. 319: „Im Sonntagsgottesdienst wurde für Laien zwar zumeist deutsch gepredigt, in der Volkssprache konnten zudem die Kanzelfürbitten vorgetragen und die sog. Offene Schuld sowie einzelne Kirchenlieder gesungen werden, der Wortlaut der Eucharistiefeier jedoch blieb lateinisch […]. Ähnlich konservativ […] verhielt es sich mit den paraliturgischen Gemeinschaftsandachten wie etwa dem abendlichen Salve-Singen, den verschiedenen Sakramentsdevotionen und Prozessionen. Wenn das Volk im 15. und 16. Jahrhundert daran unmittelbar beteiligt war, sang und betete es meistens in der liturgischen Sprache des Lateins, bildeten doch den Grundbestand solcher pia exercitia […] hauptsächliche liturgische Texte.“ Vgl. auch Neunhauser 1989, S. 186. Und wie die Messe war auch das tägliche Stundengebet „zugänglich nur für Klerus und Mönche und für die des Lateinischen kundigen Laien. Das gläubige Volk hingegen konnte an all dem nur teilnehmen in passiver Assistenz, in gläubigem Dabei-Sein, durch betendes Verfolgen der äußeren Formen, in der Ordnung des Alltages gemäß dem Zeichen der Stundenglocke, zu Laudes, Sext, Vesper und Komplet.“
288 | Andreas Erhard Liturgie den inneren Zugang zum Ort der Verkündigung:4 „das liturgische Wort spricht nicht mehr aus sich selbst, sondern bedarf selbst der Erklärung.“ 5 In diese Situation hinein, indem sich die Theologie im Rahmen einer umfänglichen Kirchenreform im 15. Jahrhundert bewusst dem „heiße[n] Verlangen des ‚unmündigen‘ Laien nach aktiver Teilhabe am Gottesdienst“6 zu stellen begann, sind viele der religiösen Literaturformen in der Volkssprache formuliert: über die Schranke ihrer liturgisch-lateinischen Verkündigung hinweg überführen sie die von Gott am Menschen gewirkten Heilstatsachen aus der Geschichte in die Gegenwart des heilsverlangenden Laien, „im Sinn einer Vermittlung der Religion an den Alltag durch die Literatur in einem Prozess der Auseinandersetzung mit den religiösen ‚Tatsachen‘, im Sinn der Explikation dieser ‚Tatsachen‘.“7 Sozusagen aus doppelter Distanz wird durch die religiöse Literatur in der Volkssprache Heilsgeschichte aus der zeitlichen und sprachlichen Entfernung in die Lebenswirklichkeit einer im Laufe des Spätmittelalters zunehmend lesefähigen laikalen Glaubensgesellschaft8 und deren „Bemühen um eine Ordnung der irdischen Existenz in der Bedrängnis des Hier und Jetzt“9 gestellt. Begreift man von daher Liturgie „als „Leben“ konzipiert, ein Leben, hinter dem zugleich Gott und Menschen stehen, in dem sie sich begegnen“10, dann hat aus der Masse der „im Dienst der Liturgie“ 11 stehenden Literaturformen das Gebet den wohl größten Anteil an diesem ‚Leben‘. Denn „Liturgie ist wesentlich Gebets-Geschehen, in dem sich Begegnung von Gott und Menschen ereignet.“12 Sie vollzieht sich vom Menschen aus im liturgischen Gebet – nach der Grundstruktur „lobpreisendes Ausrufen des Gottesnamens (Anaklese), Gedenken seiner Heilstaten (Anamnese) mit nachfolgender Bitte (Epiklese bzw. Interzessionen)“13 – der Messe und der sakramentalen Feiern, vor allem aber im lateinischen Stundengebet (officium divinum) der Mönchs- und Klerikergemeinschaften, die sich im regelmäßigen Rhythmus der || 4 Vgl. Jungmann 1960, S. 91: „Der Gottesdienst war Klerusgottesdienst, auch wo das Volk anwesend war. Einen besonders sinnfälligen Ausdruck fand dieses Verhältnis dort, wo gegen Ende des Mittelalters in der Kirche der Lettner eingebaut wurde. […] Der Hauptgottesdienst, der hinter der Wand sich vollzog, samt dem Hauptaltar des Gotteshauses, war nicht mehr für das Volk.“ 5 Häußling 1997c, S. 142. 6 Unterreitmeier 1992, S. 474. 7 Unterreitmeier 1992, S. 483. 8 Vgl. Williams-Krapp 2004. 9 Unterreitmeier 1992, S. 472. 10 Häußling 1997a, S. 131. 11 Unterreitmeier 1990, S. 73. 12 Haunerland, S. 318. Vgl. auch Gensichen 1995, S. 308: „Oratio est propriae religionis actus (Gebet ist Akt der Gottesverehrung im eigentlichen Sinne). Dieser Satz, von Thomas v. Aquin (S.th. II–II, 83, 3) primär auf chr[istliches] Beten bezogen, gilt für die gesamte Religionsgeschichte.“ 13 Oberhammer 1993, S. 592: „[…] Ein Schema, dem die Orationen, die Hoch- und Weihegebete (nicht nur der Eucharistie, sondern auch der anderen sakramentl[ichen] Feiern des Rituale, Benedictionale, Pontificale) der Liturgie des Ostens wie des Westens folgen.“
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Tageszeiten an Gott wandten.14 Im Zyklus von sieben Tageshoren (Laudes/Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet) und einer Nachthore (Matutin) entfaltet sich in den geistlichen Kommunitäten durch Psalmen, Antiphonen, Lesungen, Hymnen und Orationen ein unaufhörliches, meditatives Vergegenwärtigen der Heilsgeschichte im Sinne eines immerwährenden, gottlobenden Gebets (laus perennis).15 Zwar finden sich liturgische Gebetselemente vereinzelt schon früh in die Volkssprachen übersetzt16, aber erst mit der Ausgliederung und Übertragung von Teilen des Breviers17, das seit dem Hochmittelalter den Textbestand der Stundenliturgie zusammenfasste, und des etwa zeitgleich entstandenen lateinischen Stundenbuches18 wird ab dem 14. Jahrhundert auch eine auf liturgischer Basis gründende private Gebetsfrömmigkeit in der Volkssprache schriftlich greifbar. Nicht mehr das bloß äußere Rezitieren lateinischer Gebete in gezählter Häufigkeit, sondern das innere Beten in der Volkssprache im vollen Verständnis des Wortlauts rücken nun in den Mittelpunkt des laikalen Gebetslebens.19 Dieses spiegelt sich zum einen im vor allem im niederdeutschen und niederländischen Raum überlieferten ‚deutschen Gebetbuch liturgischer Provenienz‘, das sich in erster Linie aus Übersetzungen und Bearbeitungen des lateinischen Stundenbuches zu dem „Gebetbuch des vom Chorgebet ausgeschlossenen und von der aktiven liturgischen Teilnahme verhinderten
|| 14 Vgl. Häußling 1997d. 15 Vgl. Gerhards 1989 und Angenendt 2009, S. 481–487. 16 Die im Zuge der Kirchenreformen Karls des Großen zum Ende des 8. Jh.s für die Volksunterweisung begonnenen Übersetzungen und Auslegungen liturgischer Gebetselemente, allen voran des Paternosters (beginnend an der Wende des 8. zum 9. Jh. mit dem St. Galler Paternoster), wurden, mit Ausnahme der Vaterunserauslegung Notkers III. von St. Gallen um das Jahr 1000, nach Adam 1999, S. 171 „erst im 12. und 13. Jh. unter verbesserten Bedingungen fortgeführt. Eine geschmeidiger gewordene Sprache und ein wachsendes theologisches Interesse trafen zusammen mit dem immer weitere Kreise erfassenden Bedürfnis nach religiöser Unterweisung.“ 17 Vgl. Häußling 2004, S. 287–297. 18 Vgl. Ochsenbein 1988 und 1995, S. 468–469: Es enthält „neben Privatgebeten eine Anzahl liturgischer Texte: als Hauptstücke ein Kalendar, das ‚Officium parvum beatae Mariae virginis‘ (sog. Lange Tagzeiten bzw. Cursus unserer lieben Frau, lediglich mit 3 Lesungen in der Matutin), die 7 Bußpsalmen mit Allerheiligenlitanei, Suffragien (kurze, aus Antiphon, Versikel, Responsorium und Oratio bestehende Bittgebete für einzelne Kirchenfeste bzw. zu einzelnen Heiligen), sowie das ‚Officium defunctorum‘ (lediglich mit Vesper, Matutin und Laudes), als mögliche Nebentexte sodann Evangelienperikopen (Io 1,1–14, Lc 1,26–38, Mt 2,1–12, Mc 16,14–20), die Johannes-Passion (Io 18,1–19,42) bzw. alle vier Passionen, zuweilen die Gradualpsalmen (Ps 119–133) und das ‚Psalterium sancti Hieronymi‘ (mit 183 Ps-Versen).“ 19 Vgl. Lentes 1999, S. 36: „Über Jahrhunderte genügte für das Gebet in einem Umfeld, das größtenteils des Lateins unkundig war, dass man die lateinischen Texte laut zu lesen vermochte und keineswegs den Wortlaut des lateinischen Textes verstehen musste. Spätestens seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert hingegen sollte dem wörtlichen Verstehen eine immer größere Bedeutung eingeräumt werden. Äußerer Text und kognitiver Nachvollzug wurden so im Gebet zusammengebunden.“
290 | Andreas Erhard Laien“20 entwickelte. Einzelne Stücke dieses Buchtyps begegnen zum anderen in großer Häufigkeit seit etwa 1450 im ‚deutschen Privatgebetbuch‘.21 Zwar überliefert dieses vorwiegend Texte, „denen ursprünglich weder eine liturgische noch eine – im Gegensatz zu den Stundenbüchern – paraliturgische Funktion zukam“22, jedoch kann man den darin so zahlreich auftretenden Mess- und Kommuniongebeten sowie den nach den Horen der Stundenliturgie gegliederten Tagzeitengebeten und Gebetszyklen zu Christi Passion durchaus eine die lateinische Liturgie aufschließende Verwendungsmöglichkeit zuschreiben: „Der lateinische Ritus sollte von deutschsprachigen Gebeten begleitet werden“23, um dem lesefähigen Laien eine zumindest „subjektive Aneignung des rituellen Geschehens“24 zu ermöglichen, weshalb viele Gläubige ihre Privatgebetbücher sogar mit in den Gottesdienst nahmen. Es ist dabei nicht verwunderlich, dass die ersten Rezipientengruppen des deutschen Privatgebetbuches gerade in (ober- und mitteldeutschen) Frauenklöstern und Laienbrüderkonventen begegnen,25 waren doch sowohl viele geistliche Frauen als auch die laybrueder in latein genant conversi26, durch ihre monastische Lebensform zur Teilnahme am liturgischen Chorgebet verpflichtet, oftmals nicht in der Lage dieses verstehend lateinisch zu vollziehen.27 Das Verlangen nach einem umfänglicheren Begreifen des ihnen aufgegebenen liturgischen Betens musste in diesen Kreisen als besonders stark empfunden werden. Liegen für die Frauenklöster hierzu neueste überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen vor28, so ist die literaturgestützte Gebetspraxis der Laienbrüder, die als „bislang weniger beachtete Interessenten an deutschsprachigen Handschriften gleichwertig neben die Ordensfrauen“29 || 20 Ochsenbein 1995, S. 469. 21 Vgl. Ochsenbein 1988, S. 379–380. Diese beiden ab dem 15. Jh. nahezu tausendfach überlieferten volkssprachigen Buchtypen verschmelzen ab 1498 im Hortulus animae zu „dem BestsellerGebetbuchdruck“ (Ochsenbein 2003, S. 111). 22 Ochsenbein 1989a, S. 850. 23 Lentes 2003, S. 7. 24 Lentes 1999, S. 38. 25 Vgl. Ochsenbein 2003, S. 107. 26 Cgm 423, Bl. 63v. 27 Vgl. Ochsenbein 1992b, S. 42–51. Vgl. auch Ochsenbein 1988, S. 392: „Wie beliebt Privatgebetbücher in Frauenkonventen waren, zeigt etwa das zwischen 1451 und 1457 von Kunigund Niklasin verfasste Verzeichnis der Privatbücher, die in ihrem Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina zunächst auf den Einzelzellen der Schwestern vorhanden waren und später in die allgemeine Bibliothek eingegliedert wurden. Über 65 der insgesamt 111 angeführten Handschriften dürften […] deutschsprachige Gebetbücher gewesen sein.“ 28 Vgl. Schlotheuber 2008; Sepp/Wagner/Kellner 2008; Thali 2009 und Willing 2012. 29 Schneider 1981, S. 45. „Von einer eigentlichen Produktion deutschsprachiger Handschriften im Kloster kann [in Bayern] nur für das Augustinerchorherrenstift Rebdorf und für die Benediktinerkonvente Tergernsee und – in bescheidenerem Ausmaß – St. Emmeram in Regensburg gesprochen werden, und in diesen Klöstern wurden die deutschen Bücher fast ausschließlich für die Laienbrüder z.T. auch von ihnen selbst geschrieben.“
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treten, immer noch sehr schwach beleuchtet.30 Um dies einmal ausschnitthaft zu versuchen, dazu kann das volkssprachige Gebetbuch Cgm 4701 aus dem Laienbrüderkonvent des Benediktinerklosters St. Emmeram in Regensburg als Fallbeispiel dienen.
2 Das St. Emmeramer Gebetbuch Cgm 4701 Mit ihren über hundert Einzelstücken zu den umfangreichsten Orationaliensammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek München zählend, vermag die Handschrift Cgm 4701 einen Eindruck von der ungeheueren Vielfalt volkssprachiger Gebetskultur in Kreisen benediktinischer Laienbrüder im ausgehenden Spätmittelalter zu vermitteln.31 Nach Karin Schneider ist der kleinformatige Codex im 3. Viertel des 15. Jahrhunderts „für und wohl in St. Emmeram“32, dem ältesten und bedeutendsten Benediktinerkloster Regensburgs33, von fünf verschiedenen Händen aus verschiedenen Vorlagen übersetzt und zusammengestellt worden. 34 Bislang konnte der Liber || 30 Vgl. Mayer 1989; Bauer 1996 und Kock 2002. 31 Mit über 170 Gebeten ist das in den Jahren 1458–1462 angelegte Gebetbuch für Georg Schedel aus Nürnberg (Cgm 484) das wohl textreichste deutsche Privatgebetbuch der Bayerischen Staatsbibliothek München. Vgl. Ochsenbein 1979, S. 1114–1115. 32 Schneider 1996, S. 359. 33 Vgl. Fuchs 2012, S. 13–36. 34 Cgm 4701 (Papier, 337 Bl., 15,5x10,5): 1. Bl. 3r–8r Gebetszyklus zur Messe, 2. Bl. 9r–10r Io 1,1–14 dt., 3. Bl. 10r Antiphon Haec est dies dt., 4. Bl. 10v–24r Johannes von Indersdorf: Gebete zum Leben und Leiden Christi, 5. Bl. 24r–37r Mariengebete, 6. Bl. 37v–46r Johannes von Indersdorf: Gebete 1–13 zu Christus. 7. Bl. 46v–54v Passion, Io 18,1–19,41 dt., 8. Bl. 54v–56v Heiligengebete. 9. Bl. 57r–78v Kommuniongebete, 10. Bl. 79r–80v Gebete nach der Kommunion, 11. Bl. 81r–86r Passionsgebet, Ambrosius zugeschrieben, 12. Bl. 86v–87r Mariengebet, 13. Bl. 87r–88r Kommuniongebet, 14. Bl. 88r–89v St. Peters Gebet, 15. Bl. 89v–101v Kommuniongebete, 16. Bl. 101v–102r Passionsgebet, 17. Bl. 102r–v Anima Christi dt., 18. Bl. 102v–107v Gebete nach der Kommunion, 19. Bl. 107v– 109v Beichtgebet, 20. Bl. 110r–115r Antiphonen und Hymnen dt., für Advent-Lichtmeß, 21. Bl. 115v– 118v Mariengebet, 22. Bl. 118v–119v Schutzengelgebet, 23. Bl. 120r–126v Mariengebete, 24. Bl. 127r– 135v Gebete zu Christus, 25. Bl. 136r–148v Mariengebete, 26. Bl. 148v–151r Ave vivens hostia dt., hier Thomas von Aquin zugeschrieben, 27. Bl. 151v–153v Dreifaltigkeitsgebet, Gregor dem Großen zugeschrieben, 28. Bl. 154r–156r Gebet zum hl. Geist, 29. Bl. 156v–158v Gebete zu Christus, 30. Bl. 163r– 170v Mariengebete, 31. Bl. 171r–177r Lobpreis zu den 72 Namen Mariae, 32. Bl. 177r–179v AvemariaParaphrase, 33. Bl. 179v–182v Tagzeitengebete zur Passion Patris sapientia, Aegidius Romanus zugeschrieben, dt., 34. Bl. 182v–190r Zu den 15 Freuden Mariae, dt., Bernhard von Clairvaux zugeschrieben, 35. Bl. 190r–191r Gebet zu den Engeln, 36. Bl. 191r–193r Mönch von Salzburg G 47, 37. Bl. 193r–205v Heiligengebete, 38. Bl. 205v–211r Marien-Reimgebet dt., 162 Verse, Bernhard von Clairvaux zugeschrieben, 39. Bl. 211r–212r Mariengebet, 40. Bl. 212v–213v Io 1,1–14 dt., 41. Bl. 213v– 214v Mönch von Salzburg G 43, 42. Bl. 214v–234v Johannes von Indersdorf: Gebete für Herzog Wilhelm III. von Bayern, 43. Bl. 234v–252v Heiligengebete, 44. Bl. 254r–275r Ps.-Anselm von Canterbury: Gespräch mit Maria über Christi Passion, 45. Bl. 278r–295v Die sieben Bußpsalmen mit Allerheiligen-
292 | Andreas Erhard precum sec. XV. (Rückentitelschild) nicht in der dort vorhandenen Buchsammlung der Laienbrüder (Konversen) identifiziert werden, wie es über den außergewöhnlich dataillierten Bibliothekskatalog von Dionysius Menger aus dem Jahr 1500/01 bei bislang 14 volkssprachigen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München möglich war.35 Bei genauer Durchsicht der Einträge des in Clm 14675 überlieferten Katalogs scheint die Handschrift jedoch mit dem unter der Signatur Q verzeichneten oracionale (Bl. 127ra) identisch zu sein. Format (regel pleter), Einband (rubeo corio obducto caudam, nur am Hinterdeckel erhalten) und Schlusstexte der Handschrift (in fine psalmos penitenciales cum vigiliis defunctorum) stimmen mit dem Cgm 4701 überein. Der gegenüber dem Katalogeintrag (incipiens in kalendario et post quasdam picturas passionis Christi) veränderte Anfang erklärt sich aus einer zurückliegenden Beschädigung der Handschrift. Offenbar wurde dadurch der vordere Buchdeckel zerstört (restauriert mit braunem Lederüberzug) und die erste Lage verloren, wie ein überzähliger Bund am Beginn des Codex verrät. Cgm 4701 reiht sich damit in die 27 Handschriften und 14 Inkunabeln umfassende Buchsammlung der Laienbrüder von St. Emmeram, der einzigen ihrer Art, die in einem mittelalterlichen Bibliothekskatalog in einer eigenen Abteilung libri conversorum vulgariter conscripti (Bl. 126r) mit eigener Funktion pro conversis (Bl. 129r) verzeichnet ist. Dieser Ausdruck einer neuen Hochschätzung der seit dem 11. Jahrhundert von den Benediktinern aufgenommenen conversi laici, deren handwerkliche Arbeitskraft zur wirtschaftlichen Erhaltung des Klosters in erster Linie notwendig war,36 ist sozusagen ein Nebenprodukt der monastischen Reformen des 15. Jahrhunderts,37 die ja im Kern eine strenge Neuausrichtung des Klosterlebens nach den jeweiligen Ordensregeln durchsetzen wollten.38 Wie in allen Reformklöstern so zählte auch in St. Emmeram, dass sich, vorbereitet von Abt Wolfhard Strauß (1423– 1451), unter Abt Hartung Pfersfelder (1452–1458) der vom oberpfälzischen Benediktinerkloster Kastl39 ausgehenden Observanz angeschlossen hatte, die Bereitstellung von Büchern für die Konversen, nicht zu den explizit formulierten Zielen der Reformen. Zentrale Aspekte der Kastler Observanz, wie die Reinigung der liturgischen || litanei, 46. Bl. 296v–326r Totenoffizium, 47. Bl. 326v–330r Seelengebete, 48. Bl. 330v–337v Gebete zu den Klosterpatronen von St. Emmeram. 35 Vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, S. 381–385. Analog zur materiellen Gliederung des Gesamtbestandes hat Menger die Bücher für die Laienbrüder in drei Gruppen erfasst, innerhalb derer er die Signatur jeweils nach den Buchstaben des Alphabets vergab: Item Libri Conversorum Vulgariter Conscripti Et Primo In Pergameno: [Cgm 174 alte Sign. (A), Cgm 172 (B)]. In papiro conscripti: [Cgm 4885 (A), Cgm 3972 (B), Cgm 3972 (C), Cgm 3971 (D), Cgm 5312 (F), Cgm 4880 (G), Cgm 4879 (H), Cgm 4878 (I), Cgm 4882 (K), Cgm 4884 (L), Cgm 4883 (N), Cgm 4698 (R)]. Libri Inpressi Pro Conversis in Vlgari Lingua. 36 Vgl. Frank 1980, S. 49–65. 37 Vgl. Williams-Krapp 1995, S. 1–15. 38 Vgl. Becker 1989, S. 23–34, vor allem S. 26–33. 39 Vgl. Maier 1999, S. 225–270, vor allem S. 255–257.
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Texte von nicht authentischen Zusätzen, die damit einhergehende Verkürzung und Verinnerlichung des Stundengebets und die daraus entstehende freie Zeit für die private lectio divina (Regula Benedicti, cap. 48), führten unwillkürlich zum Ausbau der Bibliotheksbestände in St. Emmeram.40 In diesen war auch ein kleiner volkssprachlicher Bereich für die auch rechtlich in den Konvent integrierten Laienbrüder vorgesehen. Einen ersten Impuls hierfür geben die 1454 offiziell eingeführten41 consuetudines castellenses42 (cap. 54) St. Emmerams zu erkennen, darin die letzten drei Kapitel von den fratribus conversis handeln: Praecipue diebus festivis orationi, meditationi vel, si sciunt legere, lectioni incumbant („Besonders an Festtagen sollen sie sich dem Gebet, der Meditation oder, wenn sie zu lesen verstehen, der Lesung widmen.“) 43 (S. 422). Neben der möglichen Lektüre an Festtagen finden sich im privaten Rahmen auch meditative Elemente zur Erbauung der Konversen, wie aus einer Bemerkung des Bibliothekars Dionysius Menger im Bibliothekskatalog zu einem mit Bildern zur Passion Christi ausgestatteten lateinischen liber contemplacionis hervorgeht: hunc librum habuerunt conversi, et hoc propter picturam […], que in eo continentur. („Dieses Buch hatten die Konversen, und dies wegen der Bilder […], die in ihm enthalten sind.“)44 Nach den consuetudines aber bestanden die offiziellen geistlichen Übungen der Konversen, von der volkssprachigen Regelauslegung im Konventkapitel einmal abgesehen, im Wesentlichen aus einer einfachen Gebetsleistung zu jedem Offizium, die „an Stelle der Psalmen […] eine bestimmte Zahl von Vaterunser und Ave Maria“45 umfasste. Dass die Andachtspraxis der St. Emmeramer Laienbrüder46 jedoch weit über diese Grundgebete hinaus ging, offenbart überdeutlich die Buchsammlung pro conversis in ulgari lingua (129r).47 Sie umfasst das ganze Funktionsspektrum religiöser Literatur in der Volkssprache (Katechetik – Aszetik – Mystik) und lässt durch Buchtypen wie Psalter (Cgm 4885), Lektionar (Cgm 4878 und Cgm 6019), Evangelistar (Cgm 4698) und Passionale (Cgm 3972, Cgm 3973 und Cgm 4879) sowohl die Hochschätzung literarischer Bildung im Allgemeinen wie den liturgischen Schwerpunkt der Kastler Reformern im Speziellen erahnen.48 Ihre Entstehung ab der zweiten || 40 Vgl. Wagner 2012, S. 137–186 und Wagner 2006, S. 2. Der St. Emmeramer „Katalog spiegelt die rasche Expansion der Büchersammlung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.“ 41 Vgl. Feuerer 2001, S. 187–193. 42 Liber consuetudinum monasterii s. Emmerami (Regensburg, Staatliche Bibliothek 4 Rat. Ep. 228). 43 Consuetudines castellenses, S. 422. 44 Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, S. 255. 45 Consuetudines castellenses, S. 422. 46 Vgl. Schmid 1987, S. 152: „Bruder Hanns, Bruder Albrecht, Bruder Michael, Bruder Hanns, Bruder Sewastianus.“ 47 Vgl. Löser 1992, S. 243: „Überhaupt liegt der Schlüssel für die Frage nach dem Bildungshorizont der Laienbrüder (vielleicht mehr als in den Consuetudines) in den Handschriften.“ 48 Vgl. Consuetudines castellenses, S. XXXVI.
294 | Andreas Erhard Hälfte des 15. Jahrhunderts im Schatten der von Abt Johannes Tegernpeck (1471– 1493) geförderten, zwischen ca. 1450 und 1500 von 350 auf über 780 Bände angewachsenen Klerikerbibliothek, ist dabei, wie vielerorts, wo volkssprachige Literatur für den Gebrauch durch die Laienbrüder hergestellt wurde, auf das Zusammenwirken zweier Faktoren zurückzuführen: „der Reformwille klösterlicher Amtsträger, die Laienbrüder stärker in Prozesse geistlicher Erneuerung einbeziehen wollten, zum einen; zum anderen geistige und religiöse Interessen der Laienbrüder selber.“49 So nennt sich der Konverse Albrecht als Auftraggeber des Cgm 4698 (Sign. R), der Gebete, einen Passionstraktat, die Benediktsregel mit den Consuetudines und einem Evangelistar zwischen 1459 und 1469 hat lassen schreiben und gezecht zw eiynem nucz der pruder das sy es peten oder lessen durch gocz willen (Bl. 231r). Von Seiten der klösterlichen Amtsträger griff nicht zuletzt der Emmeramer Prior und Bibliothekar Lorenz Aicher50 (1459–1507) zur Feder. Laut Mengers Bibliothekskatalog hat er eine Handschrift mit einer leider verlorenen Konversenregel (Sign. Z) verfasst sowie Gebete zu den Klosterpatronen (Bl. 330v–337v) in das nun vorzustellende Gebetbuch Cgm 4701 hinzugefügt. Liturgische, paraliturgische und liturgiebegleitende Elemente in der Volkssprache aus Brevier, Stunden- wie Privatgebetbuch vereinend, steht der Codex in vielgestaltigem Bezug zur Liturgie des Klosters. Da er auf diese Weise den St. Emmeramer Laienbrüdern einen wesentlichen Anteil am Potenzial der Liturgie zur religiösen Lebensbewältigung51 vermittelt, sollen im Folgenden die in der Funktion von Heilsvergegenwärtigung und Gottesverehrung stehenden Gebetsformen des Cgm 4701 (Psalmen, Hymnen, Antiphonen, Litaneien, Suffragien, Reimgebete und Gebetszyklen) auch in dem Bestreben beschrieben werden, „diese Literaturformen als Lebensformen begreiflich zu machen.“52
2.1 Sterbendenfürsorge und Totengedächtnis: Die sieben Bußpsalmen mit Allerheiligenlitanei und Totenoffizium Als Urgrund für die Entwicklung nicht nur der christlichen Religion hat zweifellos die Bewältigung der Angst vor Sterben und Tod zu gelten, die aus Sicht des Christentums untrennbar mit der Passion und Auferstehung Jesu Christi verbunden ist.53 Die Überwindung des Todes und die Teilhabe an der Gemeinschaft mit Christus im Jenseits war nach Überzeugung des Menschen im Mittelalter nicht allein aufgrund || 49 Schreiner 1993, S. 326. 50 Vgl. Wagner 2012, S. 137–186. 51 Zur Funktion von Liturgie unter diesem Aspekt Vgl. Angenendt 2009, S. 351–355 und Angenendt 2004a, S. 397. 52 Unterreitmeier 1990, S. 81. 53 Vgl. Angenendt 2009, S. 659.
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eines in der Nachfolge Jesu geführten bußvollen Lebenswandel zu erhoffen, sondern in besonderem Maße auch von dem stellvertretend für den Sterbenden wie für den Verstorbenen geleisteten Gebetshilfe entscheidend zu beeinflussen. 54 Mit den sieben Bußpsalmen im Verbund mit der Allerheiligenlitanei und dem Totenoffizium finden sich, ob ihrer Wichtigkeit von Blattweisern markiert, drei der ältesten und häufigsten Gebetsformen zur liturgischen Sterbenden- und Totenfürsorge in der Handschrift für die St. Emmeramer Konversen (Bl. 278r–326r) zusammengestellt. Aus der frühmittelalterlichen Bußpraxis55 entwachsen, rückten sie von ihrem ursprünglichen liturgischen Ort zu täglichen Zusätzen 56 des monastischen Stundengebets auf und wurden wegen ihrer Bedeutung selbst im 15. Jahrhundert von der Liturgiereform der benediktinischen Observanzen nicht gänzlich beseitigt.57 Ebenso beließen die Kastler Reformer diese konsolatorischen Gebetsformen im Offizium St. Emmerams, die dort besonders für die Laienbrüder in ihrem ureigentlichen Sinn erschreckend häufig in Funktion zu treten hatten. Denn auch für sie war die im ausgehenden Mittelalter furchtbare Überpräsenz von Sterben und Tod konfrontierende Wirklichkeit geworden, als im Pestjahr 1463 der Konvent innerhalb nur eines Monats um 15 Konventualen, sechs Priester und neun Laienbrüder, dezimiert wurde.58 Vor diesem Hintergrund erhält der erste psalm der puezz (Ps 6, Bl. 278r) mit den Worten, Erparm dich uber mich wann ich chrank pin mach mich gesunt wenn meine pain sind petrübt (Ps 6,3, Bl. 278r), in seiner Bedeutung als „Bittgebet in schwerer Krankheit“59 eine geradezu greifbare Aktualität für die Gemeinschaft der Konversen. Auch in den (Buß-)Psalmen 38, 102 und 143 klingt diese Form der Bitte an. Mit dem Sündenbekenntnis, wann ich mein pöshait chund thün und gedenkche nach meinen sunden (Ps 38,19, Bl. 281r–v), trägt Ps 38, wie Ps 6, aber ebenso charakteristische Merkmale des auf Vergebung zielenden Bußliedes: Verlazz mich nicht herr got und cher nicht von mir. Gedenkch zw meiner hilff herr got meins hails. Gloria patri (Ps 38,22, Bl. 281v). „Streng genommen sind nur 51 und 130 Bußpsalmen, wobei sie || 54 Vgl. Daxlmüller 1997, S. 832: „Erst die im Hoch[mittelalter] populär werdende Fegfeuerlehre löste die starre Dichotomie von Paradies und Hölle auf und ermöglichte es dem Menschen, nachträgl[ich] Läuterung und Rettung vor der ewigen Verdammnis sowohl durch vorsorgende Strategien zu Lebzeiten als auch durch Initiativen der Angehörigen und Nachkommen zu erlangen.“ Vorsorgende Hilfsstrategien wie Seelgerät-, Meß- und Jahrtagsstiftungen, „die Einrichtung von Spitälern, aber auch von öffentlichen Speisungen der Armen (‚Seelwecken‘) verfolgten neben dem institutionalisierten Totengedächtnis die Absicht, das Seelenheil eines Verstorbenen der Gemeinschaft ans Herz zu legen.“ 55 Vgl. Angenendt 1984, S. 131–156. 56 Vgl. Schmidt 1986, S. 14–16. 57 Vgl. Schmidt 1986, S. 141–150. 58 Ihre Namen hat Prior Lorenz Aicher in Clm 14719 eingetragen. Abgedruckt in Fuchs 2012, S. 28 Anm. 87. 59 Zenger 1994, S. 840.
296 | Andreas Erhard keine konkreten Einzelvergehen, sondern eine allgemeine Schuldverstricktheit menschlicher Existenz reflektieren [Ps 51,7: In sünden pin ich enphangen in sunden hat mich mein müter gepert, Bl. 282r]; beide Psalmen sind geprägt von der Theologie des ‚neuen‘, d.h. auf Erneuerung durch Sündenvergebung angelegten Bundes“ 60 mit Gott: Wann pey dir ist dy parmung und genügsamchait und pey ym erlosung. Und er erlost daz volkh von allen seinen nöten (Ps 130,7 und 8, Bl. 285v). In der ursprünglichen Funktion der fürsorgenden Sterbebegleitung, von den Konversen aber in privater Andacht nach der Prim in der Quadragesima und im Advent sicherlich täglich geübt61, steht auch die an die Psalmodie anschließende Allerheiligenlitanei (Bl. 278r–295r), die einzige in der offiziellen Liturgie gebrauchte Litanei. Seit der Karolingischen Liturgiereform gehören die sieben Bußpsalmen in der Einheit mit der Litanei zur festen Ordnung der liturgischen Sterbehilfe und hatten im Ordo visitationis infirmorum ihren Platz unmittelbar vor der Krankensalbung.62 Theologisch liegt der Allerheiligenlitanei der Gedanke zu Grunde, dass über den Tod hinaus alle Glieder der Kirche als Solidargemeinschaft mit Christus und durch ihn mit dem dreifaltigen Gott verbunden sind und deshalb auch eine besondere Heilssolidarität der mit und in Christus Weiterlebenden und Weiterwirkenden, insbesondere der Märtyrer und Bekenner, fürbittend erhofft werden darf. 63 Diese Form der gegenseitigen Gebetsfürbitte gewinnt vor allem mit Blick auf die Angst vor eynem unberaytten sterben64 (Cgm 4880, Bl. 261r) ihre Bedeutung. Mit dem Kyrie anhebend beginnt die Litanei auch in Cgm 4701 wie üblich mit den drei Christusrufen, Herr crist erhör uns, Haylant aller werlt hilf uns, Vater von himel genade uns (Bl. 287r), und entfaltet nach der Trinität, angefangen bei Maria (Sancta maria ora pro nobis, Bl. 287r), die Sorge um ein heilsames Sterben des Mitbruders sodann in der Anrufung aller heilsgeschichtlichen Personengruppen (Patriarchen, Propheten, Apostel, Evangelisten, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und Witwen) um Gebetsbeistand, darunter die eigenen Kloster- und Bistumsheiligen Sancte emmerame, der hl. Dionysius (Bl. 287v), der hl. Rupert und sancte wolfgange (Bl. 288r).65 Von den auf die Litanei folgenden Annexgebeten überrascht zunächst die Anfügung des Pfingsthymnus Veni creator spiritus66 in volkssprachlicher Übersetzung Chum schopfer heiliger gaist beschawe di sel der dinen (Bl. 291r–v). Jedoch knüpft der bei liturgischen Anlässen (Weihe- und Professriten) gesungene wie in der privaten Andacht || 60 Zenger 1994, S. 840. 61 Vgl. Schmidt 1986, S. 142. 62 Vgl. Angenendt 2009, S. 664. 63 Vgl. Müller 1995, S. 1298. 64 Cgm 4880, Bl. 261r. Zit aus dem als ‚Sterbebüchlein‘ bekannten Kap. 21 des Büchleins der ewigen Weisheit Heinrich Seuses. Das predig puech in dewsch Cgm 4880 (3. Viertel 15. Jh.) war unter der Sign. G Teil der Laienbrüderbibliothek St. Emmerams. 65 Vgl. die Legenden der Klosterpatrone in Cgm 4879 unter der Sign. H in der Laienbrüderbibliothek. 66 Vgl. Wachinger 1999, S. 214–226.
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rezitierte Hymnus um den Beistand des Heiligen Geistes mit dem Eingangsvers der 2. Strophe, Seyt daz du ein troster pist genandt (Bl. 291r), ganz offensichtlich an die Invokation aus der Litanei, Heiliger gaist troster erparm dich uber uns (Bl. 287r), an und erfleht mit dessen gaistlich salbung (Bl. 291r) Kraft für die Seele auf ihrem bevorstehenden, gefahrvollen Transitus – gegen den veind […] pis uns gelait an dem weg (Bl. 291r) – ins Jenseits.67 Der schwere Gang des Sterbens, die Unsicherheiten des Übergangs, eindrucksvoll bereits in dem aus St. Emmeram überlieferten Stabreimgedicht Muspilli (Clm 14098, 9. Jh.) beschrieben, und die Qualen des Fegefeuers (ignis purgatorius), welche die Laienbrüder in der Visio Lazari (Cgm 3973) nachlesen konnten, vermochten im Mittelalter nur durch die den Einzelnen tragende Gemeinschaft abgemildert werden. Rezitation der Bußpsalmen, Anrufung der Heiligen als Teil der liturgischen Anempfehlung der Seelen an Gott (commendatio animae)68 begleiteten im Kloster nicht nur die Sterbenden der eigenen Gemeinschaft.69 Hinzu kam als „liturgisch gestaltete Form der Totenwache“70 das Totenoffizium, welches nur einen kleinen Baustein in der weitläufigen monastischen Kultur der Totenmemoria71 darstellt. Darin ist das tägliche officium defunctorum „als Fürbitte für Verstorbene mit Namensrezitation nach Laudes und Vesper, vom 14. Jahrhundert an auch zur Vigil“72 , seit dem Frühmittelalter mit der Kommemoration der Tagesheiligen im Kapiteloffizium verknüpft.73 Im Kern aber ist das Totengedächtnis, die „Urform kultureller Erinnerung“74 , in seiner christlich-liturgischen Gestalt unweigerlich mit dem Gedenken des Ursprungs aller verstorbenen Menschen verbunden. „Die theologische Basis für diese Art der Erinnerung ist die Heilsgeschichte: Gott hat die Welt geschaffen und sein Volk gerettet. Von Anfang an hat Gott auch den Verstorbenen in dessen Leben niemals alleine gelassen. Zugleich erwartet und hofft man, dass der Verstorbene in der Zukunft bei Gott sein wird.“75 Genau diese „kulturell-liturgische Hoffnung bezüglich des Heils“76 der Verstorbenen kommt in dem stellvertretend für sie geleisteten Totenoffizium zum Ausdruck. Beginnend beim von der invitatorischen An|| 67 Vgl. Lateinische Hymnen, S. 196 und S. 200. 68 Vgl. Angenendt 1984, S. 168–171. 69 Vgl. die im Liber ordinarius (Clm 14073, Bl. 108v–110r, 1444) verzeichnete Liste der 36 mit St. Emmeram in Gebetsverbrüderung stehenden Klöster. 70 Heinz 2010a, S. 227. 71 Vgl. Angenendt 1984, S. 164–199. 72 Rüther 2003, S. 896. 73 Vgl. Oexle 1999, S. 308. 74 Assmann 1999, S. 61. 75 Quartier 2007, S. 73. Vgl. auch S. 72: „Die theologische Deutung geht auf die Schöpfungstheologie zurück. Gott hat die Welt erschaffen, und in dieser Schöpfung ist das Heil für alle Menschen bereits zugegen. Die Heilsgeschichte Gottes ist damit bereits inhärent mit der Geschöpflichkeit des Menschen grundgelegt.“ 76 Quartier 2007, S. 72.
298 | Andreas Erhard tiphon77 (Ps 18,5), circumdederunt me gemitus mortis. Mich habent umgeben die seuften des tödes (Bl. 296v), gerahmten ersten Matutin-Psalm 95,1,2, Komet her, kurcz wellen wir unserm herren singen, wir dem got, der unser hail ist, vorsahen wir sein antlitz mit peichten und loben in an dem psalmen (Bl. 296v), bis zum Schlussgebet (collecta) der Vesper – Got in des erparmung die gelaubigen seln ruent gib allen töten cristen genädichlich antlaz aller ir sunden daz si von allen schulden erlöst sein und sich mit dir müzzent frawen ewichlich amen (Bl. 326r) – spricht aus dem Totenoffizium die Erlösungshoffnung, dass alle gelaubig seln durch gotes parmherczikait ruen in gotes fride amen (Bl. 326r).
2.2 Erwartung, Ankunft und Nachfolge des Herrn: O-Antiphonen, Hymnen und Suffragien Die im Totenoffizium schöpfungstheologisch begründete und anamnetischepikletisch ausgesprochene Heilshoffnung beginnt sich für den Menschen letztgültig erst in christologischer Perspektive78 mit der Ankunft des Erlösers Jesus Christus zu erfüllen. In den siebenfachen Anrufungen der O-Antiphonen79, benannt nach der sie jeweils anhebenden Interjektion, findet die messianische Heilserwartung bis heute ihren sehnsuchtsvollen Ausdruck in Messe und Stundengebet: O Emanuel du unßr kung und schacz geber dw wartung und hayler der hayden kum uns zehayl machen o herre unßer got (Bl. 111r). Um fünf Invokationen auf zwölf erweitert und von einem Blattweiser zum schnellen Auffinden markiert, wird ihnen im Gebetbuch der Emmeramer Laienbrüder ihre ursprüngliche liturgische Funktion als MagnifikatAntiphonen für die Advents-Vespern der letzten zwölf Tage vor Weihnachten zugewiesen: Hie nach sind die czweliff antiffen die man singt uber magnificat und hab man sy an an sand lucem tag80 (Bl. 110r). Wie das Magnifikat zu Beginn des Lukas|| 77 Vgl. Rennings 1993, S. 774: „Sinn der Einführung der Antiphonen war […], eine unkomplizierte Volksbeteiligung zu ermöglichen, Hilfen z[um] Verständnis des Psalmes zu bieten und besonders ihn im Sinne der liturg[ischen] Funktion (jeweil[ige] Tagzeit, Fest, Kirchenjahrzeit) zu deuten.“ 78 Vgl. Quartier 2007, S. 73–74: „Auf christologischer Ebene ist das Paschageheimnis Jesu Christi die Basis für liturgische Erinnerung und Hoffnung. […] Dabei ist eine solche Erinnerung nur dann wirklich christlich, wenn sie mit der christlichen Existenz verbunden ist und eine Bedeutung für diese Existenzweise hat. Zugleich beinhaltet das Paschageheimnis jedoch auch, dass jeder Mensch, der Jesus Christus nachfolgt, auch mit ihm auferstehen wird. In diesem Sinn beinhaltet das Paschamysterium Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der liturgischen Gemeinschaft und auch des Verstorbenen.“ 79 Vgl. Häussling/Zotz 2004, S. 1066–1070. 80 Vgl. Fiala 1970, S. 262: „[…] musste bei einem Anwachsen der Antiphonzahl auch der Beginn der so ausgezeichneten Vorweihnachtszeit bis zum 13. Dezember, dem Fest der heiligen Lucia, vorverlegt werden. […] Am Fest der heiligen Lucia, dem 13. Dezember, beginnen zahlreiche deutsche liturgische Handschriften des Mittelalters ihre Reihe der O-Antiphonen.“
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Evangeliums (1,46–55) „als ein neutestamentlicher Psalm […] eigentlich eine Textcollage, eine Sammlung aus der hebräischen Bibel“81 darstellt, so gründen auch die den Lobpreis Marias ausdeutenden O-Antiphonen auf alttestamentlichen Theologumena, jedoch mit eschatologischem Bezug auf Christus, der zur rechten Zeit kam „für die große Wunde und Krankheit des Menschengeschlechts. […] In den sieben Antiphonen, welche man vor Weihnachten singt, bekennt die Kirche die Fülle ihrer Gebresten, und erbittet für jegliche des Arztes Heilmittel.“ 82 Im Bewusstsein seines Mangelzustandes der Bedrängnis und Gottferne erfleht der Beter in den O-Antiphonen Weisheit, Befreiung, Erleuchtung und Heilung von dem im Alten Testament präexistenten Messias.83 Ohne seinen Namen auszusprechen wird dabei dem mit weyshait, adonay (Bl. 110r), wurcz yesse, slussel Dauid, außgeen (Bl. 110v), kunig der haiden und Emanuel (Bl. 111r) – „die Namen der O-Antiphone des christlichen Advent sind ein einziges Exzerpt des Alten Testaments, aus Thora, Propheten und Schriften herausgezogen“84 – metaphorisch bezeichneten Christus die messianische Funktion zugeschrieben, „den Heiden den Zugang zum Heil Israels ermöglicht zu haben.“85 Auf diese Weise „stehen wir Seite an Seite mit Israel und flehen um die Erlösung, das Kommen Gottes – eingedenk der Taten Gottes in der Vergangenheit und seiner Wirksamkeit in der Welt in der Gegenwart.“86 Der Israelbezug der O-Antiphonen ging in der Folge aber dort verloren, wo sie im Laufe des Mittelalters vor allem in deutschen Diözesen mit Blick auf die Gottesmutter Maria zu einer Zwölferreihe fortgeschrieben wurden.87 So finden sich auch in Cgm 4701 fünf weitere Anrufungen angefügt, die mit der bereits durch Amalar von Metz (gest. 850) neugedichteten achten Antiphon in volkssprachlicher Übersetzung O Junkfraw ob allen junkchfrawen (Bl. 111r) beginnt, und mit einer weiteren marianisch geprägten Invokation abschliesst. Ihr christologischer Kern bleibt dabei aber ebenso bewahrt, wie in den folgenden funff antiffen die singt man uber psallmen zw der vesper ann der crist nacht (Bl. 112r): Der hayler dieser werlt wirt erscheinen als die sun und wirt kumen in den leib marie der junkfrawen als der regen auf das gras. Alleluja alleluia (Bl. 112v). Und endlich erfüllt sich im anschließenden, noch heute zur Vesper von Weihnachten bis Erscheinung des Herrn gesungenen Hymnus, criste redemptor omnium das lobgesang an dem kristtag an dem anuang der metten || 81 Kaspar 2002, S. 199. 82 Legenda Aurea, S. 4. 83 Vgl. Stock 2010, S. 73–88. 84 Stock 2010, S. 90. 85 Ballhorn 1996, S. 31. 86 Ballhorn 1996, S. 33. Vgl. auch S. 33f.: „Es geht nicht um die Frage Verheißung (= AT) und Erfüllung (= NT), sondern um Juden und (durch Christus:) Heiden, die beide auf je eigene Weise in der Dialektik von Verheißung und Erfüllung stehen. Diese Theologie legen die O-Antiphonen nahe, die seit weit über einem Jahrtausend zum lebendigen Gut der abendländisch-lateinischen Kirche gehören und dennoch kaum in dieser Weise rezipiert wurden.“ 87 Vgl. Häussling/Zotz 2004, S. 1067 und S. 1069.
300 | Andreas Erhard (Bl. 113r), im czirgkel des jars88 (Bl. 113v) immer wieder aufs Neue, im Sinne einer „Wiederholung der Heilsgeschichte“89, die sehnsüchtige Hoffnung der Christen auf Erlösung und Heil durch die Geburt des Gottessohnes – O Criste dw erloser aller welt […] pist komen ein hayl der welt (Bl. 113v) –, denn „auch nach Christus stehen Christen in der Erwartung der Erlösung. Die Dialektik von Verheißung und Erfüllung ist eine ständige.“90 Mit einer weiteren fünfteiligen Antiphonenreihe, von den Laienbrüdern zu singen von der gepurd christi […] piß liechtmessen (Bl. 114r), kommt der weihnachtliche Lobgesang am 2. Februar, vierzig Tage nach der Geburt des Herrn (25. Dezember), an Mariä Lichtmess bzw. Mariä Reinigung (heute: Darstellung des Herrn)91 schließlich zu seinem Ende. Die marianische Schlussantiphon 92 fordert daher deutlich dazu auf, sich noch einmal die wesentlichen Aspekte dieser liturgisch gefeierten Zeit der Erneuerung zu vergegenwärtigen: Nempt war maria hat uns gebaren den hailer den johannes da er in sach was auf schreien und ret also nempt war das ist das lampt gotes secht der ist der da auff hebt die sund der welt aluia (Bl. 115r). In Verbindung mit den Antiphonen zum Fest purificationis b. virginis (Kalender in Clm 14861, Bl. 5r), darin die Laienbrüder das heilsgeschichtliche Faktum bekennen, dass die junkfrawen hat geporen den hayler (Bl. 115r), und mit der Fürbitte an die Gottesmutter verknüpfen, dw gepererin gote pit fur uns (Bl. 114v–115r), stehen die sich aus einer Antiphon, Versikel und Bittoration zusammensetzenden und nach Lichtmess an die Tagesorationen von Laudes und Vesper anzufügenden Suffragien.93 Intentional gehören beide zu den in zwei Kollektionen anthologisch angeleg-
|| 88 Vgl. Stock 2010, S. 91: „Die kommemorative Einbiegung der Geschichte in den von der Natur vorgegebenen Kreislauf des Jahres ist aber gerade an dieser messianischen Stelle ein höchst riskanter Vorgang, weil sie zu zirkularisieren scheint, was alle Zirkel sprengt.“ 89 Vgl. Unterreitmeier 1995. 90 Ballhorn 1996, S. 32. 91 Maas-Ewerd 1995, S. 27f.: „Früher primär als Marienfest verstanden: Purificatio (Reinigung) Sanctae Mariae […]. Die mit dem Fest verbundene Segnung der Kerzen und die Lichterprozession führten im d[eutschen] Sprachgebiet zur volkstüml[ichen] Bez[eichnung] Lichtmeß od. auch Mariä Lichtmeß […]. Das Fest gründet in Lk 2,22–39. Veranlaßt werden die dort berichteten Geschehnisse durch die a[ltestamentlichen] Reinheitsvorschriten: Lev 12,1–8. Nach der Geburt eines Knaben gilt die Frau 40 Tage […] als unrein […]. Der erstgeborene Knabe, Eigentum des Herren, muss im Tempel dargebracht und durch ein Geldopfer ausgelöst werden […]. Maria und Josef bringen Jesus „vor den Herrn“. Maria entrichtet das Opfer der Reinigung wie auch das der Auslösung ihres Erstgeborenen. Jesus begegnet aus diesem Anlaß erstmals dem Tempel seines himml[ischen] Vaters […].“ 92 Vgl. Heinz 1988. 93 Vgl. Heinz 2002, S. 151: „Im liturgischen Sprachgebrauch versteht man unter suffragium ein Textgefüge, das aus einer Antiphon, Versikeln und einer Abschlussoration besteht. Inhaltlich handelt es sich um eine Begrüßung (Hl. Kreuz) oder Anrufung von Heiligen (in der Antiphon) und um die von einem Wechselruf eingeleitete Bitte in Gestalt der abschließenden Collecta. In der Regel waren mehrere solcher Suffragien am Ende von Laudes und Vesper anzufügen.“
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ten 31 Fürbittgebeten zu Heiligen94 aus dem proprium de sanctis bzw. im commune sanctorum-Teil des Emmeramer Breviers,95 von deren christusförmigen Leben die Laienbrüder sich ja auch im Winter- und Sommerteil ihrer „Regensburger Legenda aurea“96 (Cgm 3972, 3973) lesend ergreifen lassen konnten und deren Fest- und Gedenktage sich ihnen über den ursprünglich ihrer Handschrift beigegebenen liturigschen Kalender St. Emmerams eröffneten. Von den schlicht in Prosa verfassten Heiligengebeten des Codex unterscheidet die suffragia sanctorum jedoch, dass sie „im Formelgut liturgisch geprägte Kommemorationen zu Ehren eines Heiligen beziehungsweise eines Kirchenfestes“97 bezeichnen und als solche über ihren kalendarisch festgesetzten Rahmen hinaus zu den regelmäßigen Zusätzen98 von Laudes und Vesper „an bestimmten Tagen außerhalb der Passions-, Oster-, Advents- u[nd] Weihnachtszeit“99 gehörten. Aus den in dieser Form verehrten Heiligen100 treten die Märtyrer Georg und Laurentius sowie die Jungfrau und Märtyrerin Barbara hervor, sind deren Gedächtnistage am 23. April bzw. 10. August bzw. 4. Dezember im Kalender des Emmeramer Liber ordinarius (Clm 14073) doch als Hochfeste verzeichnet. Wiederum ist es der liturgische Charakter ihrer Suffragien, der gegenüber den nichtliturgiefähigen Heiligengebeten eine weitere Unterscheidung nun inhaltlicher Art markiert, die sich in den nicht an die vorbildhaften Märtyrer selbst formulierten Collectae ausdrückt. Vielmehr wird die abschließende Gebetsbitte formelhaft an Gott selbst gerichtet 101, denn er ist der Ursprung der Gnade102, die sich am Heiligen vollzogen und dessen Nachfolge Christi ermöglicht hat und die auch für die Konversen zum Gegenstand ihres Bittens im Gebet wird:
|| 94 Vgl. Cgm 4701, Bl. 193r–205v und Bl. 234v–252v sowie die nachgetragenen Orationen zu den Klosterpatronen Emmeram, Dionysius und Wolfgang (Bl. 330v–336r). 95 proprium de sanctis (Andreas, Emmeram, Dionysius, Maria Magdalena, Barbara, Erasmus, Christophorus, Johannes Evangelista, Fabian, Sebastian, Georg, Laurentius, Antonius, Hieronymus, Jodocus, Thomas, Ottilia); commune sanctorum (Apostel, Märtyrer, Nothelfer, Bekenner, Jungfrauen, alle Heiligen, Eigenapostel). 96 Vgl. Kunze 1983, S. 462. 97 Ochsenbein 1996, S. 14. 98 Vgl. Schmidt 1986, S. 15, S. 147f. 99 Vollmer 2000, S. 1094. 100 Die Suffragien befinden sich nur im zweiten Teil (Bl. 234v–252v), darunter Erasmus (Bl. 234v– 236r), Fabian und Sebastian (Bl. 242r–v), Georg (Bl. 243r), Laurentius (Bl. 243v), Antonius (Bl. 244r), Jodocus (Bl. 250r–251r), Thomas (Bl. 251r–v), Barbara (Bl. 251v–252v), Ottilia (Bl. 252v). 101 Zur Frage nach der für die Liturgiefähigkeit von Gebeten notwendigen Theozentrik Vgl. Heinz 2010b, S. 210–218. 102 Vgl. Ringler 1975, S. 258–259: „Als Vermittler der Gnade, an dem selbst sich das göttliche Gnadenwirken ganz außerordentlich manifestiert hat, lenkt der Heilige aber schließlich den Blick hin zum Ursprung der Gnade; er weist somit den Gläubigen hin auf Dasein und Wirken Gottes und entflammt ihn zu Dankbarkeit und begeistertem Gotteslob.“
302 | Andreas Erhard O herre das wir des heiligen martrers geory verdinüßs und bestetnus erfrewett werden also verleich uns genediclichen das wir mit seiner genade mugen nach volgen den gaben deiner genaden durch unsern herren ihesum xristum amen (Bl. 243r).103
Zugleich zeigt die hier formulierte Suffragiumskollekte jedem Gläubigen die Richtung des ihm aufgegebenen Heilsweges zurück zu seinem Ursprung in Gott an. Er kann, wiederum formelhaft in jeder Suffragie ausgesprochen, nur durch unsern herren ihesum gegangen werden, dessen mit sehnsuchtsvoller Erwartung harrender Ankunft deshalb ja, wie gesehen, in den O-Antiphonen eine besondere liturgische Ausgestaltung erfahren hat.104
2.3 Paraliturgische Marienverehrung und liturgieerschließende Christusgebete Der persönliche Heilsweg durch unsern herren ihesum xristum, im Gedächtnis der Heilstaten Christi und nach dem Beispiel der ihm gefolgten Heiligen, bedarf nach Überzeugung des gläubigen Menschen im Spätmittelalter – die marianischen Antiphonen haben es bereits erkennen lassen – den besonderen Schutz und die Fürsprache der Gottesmutter. Als Gebärerin des Heils herausragend aus der mit Christus lebenden und wirkenden Gemeinschaft der Heiligen ist die Jungfrau Maria105, die versunerin der armen sunder und wider ringerin dez zorns gotz (Bl. 24r), seit der Jahrtausendwende des Mittelalters vornehmste Ansprechpartnerin, Vermittlerin und Interzessorin106 für die Anliegen des Gläubigen vor Gott. Diese verehrende Hochschätzung Marias, wie sie „als Spiegel menschlicher Bedürfnisse und Befindlichkeiten“107 in den zahlreichen Marienfesten und -andachten des liturgischen Jahres zum Ausdruck kommt, ist auch im Codex der Emmeramer Laienbrüder mit Händen zu greifen. In ungeheurer Vielfalt begegnen über die ganze Handschrift verteilt Gebete || 103 Vgl. auch die Suffragiumskollekte zur hl. Barbara: Collecten: Got der du die erwirdigen iunkfrawen Barbaram dein martrerin hast gehaissen kummen durch dein gnad in die kuntschaft der heiligen driualtikait gib allen deinen menschen die do eren das gedechtnus irer marter das sie dich allein einen got von irer gepet wegen mussen auß ganczem herczen lieb haben und das sie nymmer mussen enpfremdet werden von der anruffung deines heyligen namens durch unsern herren ihesum xristum amen (Bl. 252r–v). 104 Diese Erwartung erklingt überdeutlich auch in der letzten Strophe des aus den O-Antiphonen entstandenen, von Heinrich Bone in seinem Cantate. Katholisches Gesangbuch (1847) Adventslied: O Gott mit uns, Emmanuel, / Du Fürst des Hauses Israel / O Sehnsucht aller Völker Du, / komm, führ` uns Deinem Frieden zu. (Zitiert nach Stock 2010, S. 90). 105 Vgl. Appelhans 1970, S. 65: „Der fromme Beter weiß, dass nicht nur die auf Erden lebenden Glieder der Kirche zu einer übernatürlichen Lebensgemeinschaft verbunden, sondern dass auch die Heiligen, an ihrer Spitze Maria, Teil des mystischen Leibes Christi sind.“ 106 Vgl. Angenendt 2009, S. 124–126. 107 Schreiner 1994, S. 16.
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zu Maria108, zumeist prosageformt und nichtliturgischer Provenienz. Sie stammen aus Kollektionen der geistlichen Autoren Johannes von Indersdorf und Johann von Neumarkt, handeln von unser lieben frawen frewd109 (Bl. 25v–29v) und von unßer frawen layd110 (Bl. 29v), sind unter dem Titel daz gulden avemaria111 und sogar lateinisch im te matrem laudamus112 (Bl. 120r–121r) überliefert. Mit der in 16 Strophen nach dem Hymnus Ave mira domina de humilitate kreuzgereimten AvemariaParaphrase (Bl. 177r–179v) findet sich ein biblisches Mariengebet sowie in dessen Nähe das auch liturgisch verwendete Salve regina113 , hier wiederum in lockerer, litaneiähnlicher Reimprosa paraphrasiert (Bl. 139r–148v). In allen diesen literarischen Formen der Anrufung Marias erklingt in der Gebetsbitte die Heilsbedeutung der Jungfrau für den Menschen: o maria mach uns rain mit der hilf xristi von allen schulden o du mitlerin des lebens ein widerpringerin ein durchleuchterin ein helferin gotz und hilff den dy verschult haben Amen (Bl. 37r). Von „literarischem Interesse“114 im besonderen Sinne sind schließlich die einem bislang nicht identifizierten Verfasser oder Übersetzer mit den Initialien C. E.115 zuweisbaren hymnischen Mariengebete, ein „Lobpreis zu den 72 Namen Mariae“116 und zwei Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Marien-Reimgebete, darunter das auf dem Hymnus Gaude virgo gloriosa gründende zu ihren 15 Freuden.117 Sie stellen || 108 Vgl. Courth 1989, S. 590–592, hier S. 590: „Das Mariengebet ist ein wesentlicher Bestandteil der Marienverehrung. Diese ist die wertschätzende Antwort der Gläubigen auf die heilsgeschichtliche Sendung Marias; sie äußert sich in Akten des Vertrauens, des Dankes, der Ehrfurcht, der Anrufung um Fürbitte, aber auch der Nachahmung ihrer Vorbildlichkeit.“ Zu den deutschsprachigen Mariengebeten des Mittelalters Vgl. Ochsenbein 1989b, S. 592–596. 109 Cgm 4701, Bl. 25v–29r: Ich ermon dich liebe maria deins heiligen rain kewschen leben daz du hie auf erd gefurdt hast […] und beger von dir daz du mein indechtig seist vor dem amplik gotz und an mein lesten zeitten mir zu hilff wellest chomen und mein sel mit dir füren zu den ewigen frewden. Das Gebet ist den sieben irdischen Freuden Mariens (Verkündigung, Christi Geburt, Erscheinung = Epiphanie, Auferstehung, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Mariä Himmelfahrt) innerhalb der marianischen Gaude-Literatur zuzurechnen, Vgl. Hilg 1992, S. 1158. 110 Cgm 4701, Bl. 33r: o werde junkfraw ich pin dy creatur dy da schuldig ist an dem tod cristi und an deinem herczen layd. Pitt für mich daz ich chöm in dy gnad gotz und sein ellentz leyden trag in meinem herczen und ein gancz mit leyden hab mit dir und dar nach getrost wird alz du getrost wardest an dem heiligen österlichen tag und nun erfrewd pist in dem ewigen himmelreich. 111 Vgl. Wachinger 1981, S. 80. 112 Vgl. Kornrumpf 2004a, S. 1496–1506. 113 Vgl. Wachinger 1992, S. 552: „Seit dem Anfang des 13. Jh.s setzt sich die regelmäßige Verwendung als Schlußantiphon der Komplet durch, vermutlich ausgehend von den Dominikanern.“ 114 Schneider 1996, S. 9. 115 Vgl. Cgm 4701, 182v–183r: Die hienach geschriben XV frewd und monung hat gemacht sanctus Berenhardus in latein die hat C.E. zu däwst pracht. 116 Vgl. Foidl 2011, S. 165. 117 Vgl. Cgm 4701, Bl. 189v–190r: Aue maria. Die xv von unser frawen schiedung: Frew dich o himelische fraw, gewaltig uver gotte paw, wann du mit sel und mit leib enpfangen pist. O raynes weib, do nu die gantze trinitat / nach dem will haltet rat. Dez pit und pewt o werdew magt / dein sun wann er dir
304 | Andreas Erhard eine höchst ungewöhnliche Erscheinung dar in den zumeist dichterisch anspruchslosen, ganz auf die Vermittlung der Heilsgeschichte abzielenden Prosatexten in Handschriften für Laienbrüder.118 Ihr Gebrauch verweist in den Bereich der paraliturgischen Gebetsandachten der samstäglichen Marienverehrung – Sprich si all oder sunderlich an dem samcztag vor irem pilt und hab gueten gedingen und veste hoffnung si erlös dich durch die frewd aus allem laid hie und dort ewiklich an end. (Bl. 183r) –, eröffnet aber im Fall des Lobpreises zu den 72 Namen Mariae eine weitere Verbindung zur Liturgie. Diese führt auf indirektem Weg in den Kirchenraum des Regensburger Doms.119 Offenbar waren dort die als „Imperatrix-Katalog“120 bekannten 72 Ehrentitel Marias auf einer Tafel zu lesen, wie der Meistersänger Nestler von Speyer121 aus dem 15. Jahrhundert in der Rubrik seines ebenfalls auf besagtem lateinischen Namenskatalog basierenden und in der Kolmarer Liederhandschrift überlieferten Marienpreises berichtet: Sie fant dieser dictator zu Regenspurg im tüme an einer tafel cum talibus verbis superscriptis.122 Diese Tafel123 lässt sich zwar nicht mehr nachweisen, angesichts des in Clm 14528 (Bl. 232rv) aus der Klosterbibliothek St. Emmerams um 1300 überlieferten Imperatrix-Katalogs und den Beziehungen Nestlers zu Regensburg124 ist dessen Aussage mehr als glaubwürdig.125 In unserem Marienlob, dessen einziger Textzeuge in Cgm 4701 vorliegt126, bildet der marianische Namenskatalog, in 36 Reimpaaren metrisch geformt und in je einem Vers übersetzt und glossiert, den Mittelteil der Dichtung, gerahmt von einer || nicht versagt / umb uns in disem iamertal / seyd du besezzen hast den gral. O senfte, o pia, o süzze maria. Vgl. auch Hilg 1992, S. 1160. 118 Vgl. Ochsenbein 1989c, S. 194: „Wie wenig etwa kunstvoll gebaute Verse im ausgehenden Mittelalter für die private Frömmigkeit geschätzt wurden, kann man allein schon daran ersehen, dass die Gebetsdichtungen eines Walther von der Vogelweide, eines Freidank, Reinmar von Zweter, Heinrich Frauenlob und Marner kaum Aufnahme in die Gebetbuchhandschriften fanden.“ 119 Vgl. Gerhards 1998, S. 239: „Liturgie kann nicht gegen den Raum gefeiert werden: Der Raum ist wesentlicher Bestandteil der Feier.“ 120 Vgl. Kornrumpf 2004b, S. 1702–1703. 121 Nestler von Speyer gilt nach Wachinger 1985, S. 906, als „Schreiber A der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘.“ 122 Cgm 4997, Bl. 492r. Abgedruckt in: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, S. 399: Diß ist in dem unherkanten tone magistri s. scriptoris huius libri und sint di lxxjj namen unser frauwen, der da keins me darin hat gemacht von der wirdikeit wegen dieser namen. […] Diese namen worden unser lieben frauwen geben von dem heiligen und die der heilige Theophile in sinen wunderzeichen sach und worden geoffenbaret eim seligen bischofe von Sclavonia. In solicher wise wer sie all samßtage spreche vor irem bilde mit einem guten fursatz und nach iedem namen ein Ave Maria, dem wirt die maget vor sinem end herschinen. 123 Vgl. Nestler 1940, S. 310: „Diese Tafel im Regensburger Dom, auf die sich unser Meister bezieht, war wohl ein Gemälde (denn ein solches versteht man im Mittelalter in der Regel unter einer Tafel); unter diesem Bild und um das Bild mögen die Namen gestanden sein.“ 124 Vgl. Nestler 1940. 125 Vgl. Kornrumpf 2004b, S. 1704. 126 Vgl. Kornrumpf 2004b, S. 1706.
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Eingangsstrophe und vier Schlussstrophen, die weitere Namen Marias nennen. Der Auftakt formuliert zunächst eine oft in der Mariendichtung begegnende „Unfähigkeitsbeteuerung“127 des Dichters, hier ein Erschrecken über die eigene Kühnheit seines Vorhabens trotz seiner Unzulänglichkeit cu loben und zü grüssen / czu zelen zu durchsuezzen / dein werden namen o werde magt / mein hercz erschrikcht mein müt verzägt / wann als ich prueff dein wirde prait / und meiner synne plodikeit / […].128 Im Bedenken von Marias tugentreiche süm / Wirdig diemüt diemutig wird (Bl. 171v), hofft er aber dennoch das Wagnis eingehen zu dürfen, ihren Namen zu plümen und zu grüssen (Bl. 172r). Die nun anhebende Eloge feiert Maria „mit einer Fülle durch Tradition geheiligter Vergleiche, Bilder, Präfigurationen und Ehrentitel, in denen ihre heilsgeschichtliche Bedeutung, ihre Präexistenz, ihre Tugenden zum Ausdruck kommen.“129 Es sind Prädikate aus der lateinischen Hymnenpoesie und patristischen Literatur, die seit ihren Anfängen auch die volkssprachige Marienlob- und Mariengruß-Lyrik130 tragen, das Melker Marienlied (um 1130) ebenso wie die dichterischen Gipfelleistungen eines Konrads von Würzburg und Frauenlobs im 13. Jahrhundert, dessen Marienleich ähnlich wie der hier vorliegenden Lobpreis im Zeichen eines „konstatierenden Preisens“131 steht. Die 72 Sinnbilder und Beiworte132 und ihre Anordung, in ihrer sakralen Funktion auf Christi Aussendung der 72 Jünger „zu zwei und zweien“133 nach Lukas 10,1–5 zurückzuführen, bezeichnen Maria in ihrer Erhabenheit als Kayserin der engel mit gewald / Kunigynn der himel hoch gestald (Bl. 172r), in ihrer Jungfräulichkeit, Tugendschönheit und Mutterwürde mit biblischen und außerbiblischen Bildern, immer wieder neu kombiniert, als Garte myniklich verigelt / Prunn kawschlich rain besigelt / Gnad hoch tief lang und prait / Gepereryn der salikait [Bl. 172v] […] Tempel der gothait als man list / Amm unsers hailant jhu crist (Bl. 174v). Ein „freudiges Rühmen und Anschauen des Wunders der Inkarnation und der Herrlichkeit Marias als Teilhabe am Heil“134 vermag die Haltung des
|| 127 Vgl. Stackmann 2001, S. 20. 128 Cgm 4701, Bl. 171r: […] So vind ich daz gleicher weiß / mein lob gein deinen hohen preis / Ist als ein sterndlein gein der sün / Ein tropflein gein des meres prünn / Ein plius gein einem türm / Ein stupp gein windes stürm. 129 Stackmann 2001, S. 21. 130 Kolb/Bayer 1992, S. 197–201. 131 Wachinger 2011, S. 196. Zur ‚konstatierenden Dichtung‘ Vgl. Stackmann 1958, S. 77. Dem Dichter ist „aufgetragen, durch sein Wort das Vorhandensein sicherer Wahrheit festzustellen, diese Wahrheit zu bestätigen und an sie zu erinnern. Eine in diesem Sinne konstatierende Dichtung kann ihrem Wesen nach nicht auf die Erschließung geistigen Neulands ausgehen.“ 132 Vgl. Salzer 1893. 133 Kretzenbacher 1952, S. 14. Vgl. auch Stackmann 1958, S. 43–44: „Mit dieser Zahl der Sprachen, Länder und – darauf fußend – der Namen Gottes oder der Gottesmutter ist in der deutschen Dichtung des ganzen Mittelalters gearbeitet worden.“ 134 Wachinger 2011, S. 196.
306 | Andreas Erhard Dichters zu beschreiben, ein ymmer wernder iubilus135, schlichtweg in der Hoffnung formuliert, durch das lobende Gedenken und Aussprechen der Namen Marias, allen Menschen zum Beispiel, ihr Herz136 und damit ihre Gnade für den persönlichen Heilsweg gewinnen zu können: Entslews mir deines herczens tür / O rainew magt und la nicht für / Mein flehen unuerhoret gan / Plikch uns genadiklichen an / Du vein hochswebender adlar / Daz wir dein heilig namen chlar / andechtiklich bedenkchen (Bl. 176r–v).
Nahezu gegenbildlich, aber gerade in der Verbindung mit dem lyrischen Lob der Jungfrau, ergreift im Codex der Laienbrüder die sprachliche Atmosphäre der gereimten Tagzeitengebete zur Passion Christi (Bl. 179v–182v). Hierin wird in seinen wesentlichen Details und in äußerster Verdichtung das kreatürliche Leid des Sohnes Marias dichterisch ausgefaltet, deren Verehrung unweigerlich im Kontext dieser im Hochmittelalter so kraftvoll aufkommenden Form der Christusfrömmigkeit zu lesen ist: „Mit neuen Augen sieht der Fromme des Mittelalters Jesus in seiner Menschlichkeit. Er staunt ergriffen über die unerhörte Herablassung des Sohnes Gottes, der Mensch unter Menschen werden wollte und darin bis zum Äußersten ging.“137 Für das literarische ‚Gedächtnis‘ der äußersten Selbsthingabe zum Heil der Menschen, dem im Spätmittelalter „wichtigsten Thema christlicher Frömmigkeit überhaupt“ 138, darf man neben den Passionstraktaten139 vor allem den Tagzeitengedichten 140 eine tragende Rolle zuschreiben. Aus dem monastischen Stundengebet kommend, strukturieren sie den finalen Leidenstag Jesu nach den liturgischen Horen des Offiziums zumeist in sieben Strophen, von der Matutin bis zur Komplet, und bilden auf diese Weise auch einen regelmäßigen Bestandteil des paraliturgischen Stundenbuches || 135 Bl. 176v: dein süzzer nam maria / furstynn in ierarchia / werd uns in munde honges flus / in oren süser härpfen düs / zu dem gesicht ein spiegel clar / zu griff ein plümlein veiol var / zu smäk ein süsser balsamus / ein ymmer wernder iubilus. 136 Vgl. Bl. 174v: ich grüz auz verich meins herczens grunt / Dein raines hertz o rainew frucht / Daz hertz des iunkfrawlichen zücht / under der sunn verdienet hat / daz es nach rat der trinitat / allain von erst enpfangen hat / den der da ausgegangen ist von des vater schozze / O hercz wer dein genozze. Zur Verehrung des Herzens Mariä Vgl. Köster 1991, S. 163f., sowie Stöhr 1991, S. 167f.: „Unmittelbarer Gegenstand der Verehrung ist das leibliche Herz Mariae, jedoch verstanden als Inbegriff ihrer Heiligkeit und vollkommenen Liebe zu Gott, ihrer mütterlichen Fürsorge für die Menschen und ihrer königlichen Stellung im Reich Gottes.“ 137 Heinz 1989, S. 343: „Der neuerwachte Blick für die menschlichen, alltäglichen Dimensionen des Christusereignisses führte unwillkürlich dazu, dass nun auch der Frau neue Aufmerksamkeit und Verehrung zuteil wurde, die dem Sohn Gottes einen Menschenleib bereitet und in seinem irdischen Dasein, von der Krippe bis zum Kreuz, an seiner Seite gestanden hatte.“ 138 Köpf 1997, S. 722. 139 Eine der „allerwichtigsten Quellen des volkssprachlichen Passionstraktats“ (Ruh), der pseudoanselmische Dialog Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini, findet sich in volkssprachiger Übersetzung als Gespräch mit Maria über Christi Passion in Cgm 4701, Bl. 254r–275r. 140 Vgl. Palmer 1995, S. 577–588.
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des Laien.141 Zu dessen festem Repertoire gehört auch das kurze Zusatzoffizium zum Hl. Kreuz (Horae sanctae crucis) mit dem Ägidius Romanus142 zugeschriebenen Hymnus Patris sapientia, veritas divina, der zu den „wichtigsten Träger[n] der Passionsfrömmigkeit im Stundenbuch“143 zählt. Im Codex der Emmeramer Laienbrüder finden sich dessen „8 Reimpaarstrophen zu 8 Versen (Prim: 6 Verse)“144 mit Vers und Kollekte in volkssprachlicher Übersetzung als siben tagczeit von unsers herrn marter145 (Bl. 179v) überliefert: Vaterlicher weishait wort / und gotlicher warhait hort / Jhesus Xristus mensch und got / Cze metten zeyt mit smäch mit spot / ward gefangen und gestossen / von seynen iungeren ward verlassen / Do cristus daz ewig leben / den iuden den tod ward gegeben (Bl. 179v).
Bereits die konzise rhythmisch-melodische Gestaltung der nächtlichen Gedenkstunde an die Gefangennahme Jesu lässt die liturgische Herkunft des Tagzeitengedichtes erahnen. Deutlicher wird diese in der nun folgenden Gebetsanweisung – Pater noster Aue maria und die collecten als da sted daz sprich nach ieglicher tagzeyt (Bl. 179v) – , welche die in der Liturgie des Stundengebets eigentlich dialogisch zu vollziehende Kollekte in die private Gebetssituation des Laienbruders überführt: Der vers: Wir peten dich an criste und sagen dir lob wann du unß erlös hast an dem heiligen crewtz. Oremus: herr ihesu xriste des lebentigen gotes sun ich pitt dich du seczest dein heilige marter deinen pittern tod und dein gruntlöse parmherczykait czwischen mein sel und dein gericht amen (Bl. 179v–180r).
An diesen unmittelbar aus der Tagzeitenliturgie übersetzten Gebetszyklus zur Passion Christi in Reimform lagern sich zahlreiche nun prosageformte Kollektionen im Codex der St. Emmeramer Konversen an, die das Leiden und Sterben Christi zwar parallel zum monastischen Tagesverlauf bzw. entlang liturgisch-kalendarischer Heilsdaten den Konversen kommemorieren, jedoch nicht der offiziellen Stundenund Messliturgie entstammen. Mit Blick auf die spirituellen Bedürfnisse der Laien|| 141 Vgl. Ochsenbein 1995, S. 469. 142 Vgl. Zumkeller 1980, S. 178: „Ae[gidius] Romanus (fälschl[ich] Colonna), bedeutender scholast[ischer] Denker und Haupt der Augustinerschule. Geb. um 1243 in Rom, gest. 22. Dez. 1316 in Avingon. Seit ca. 1258 Augustiner-Eremit, war er 1269–72 in Paris Schüler des Thomas v. Aquin.“ Durch das „Buoch von ordnung der fürsten fand er auch Eingang in das dt. Schrifttum des Spät[mittelalters]“ (Brinkhus 1979, S. 1023). 143 Palmer 1995, S. 579. 144 Kornrumpf 2004c, S. 1480. 145 Auf die Gefangennahme Jesu und Flucht seiner Jünger zur nächtlichen Matutin folgt die Erinnerung an den Prozess und die Verspottung vor Pilatus zur Prim. Die Terz gemahnt an die Verurteilung und den Beginn des Kreuzweges Christi. Ze sext ward er genagelt / an des frones chrewczes estt (Bl. 181r–v), wo er zu nonzeit do verschied (Bl. 181v). Die Vesperzeit ist die Gedenkstunde der Kreuzabnahme und Zu complet zeit unß hail auf hab / ward gelegt in daz grab / hoffnung und trost des chunftigen leben“ (Bl. 183r).
308 | Andreas Erhard brüder versprechen sie aber die Möglichkeit der zumindest „subjektiven Aneignung des Chorgebets“146 und der Messe in ihrer wesentlichen Intention als „ein Nachspiel des Lebens Jesu, ja der ganzen Heilsgeschichte.“147 „Solche Versuche, den lateinischen Ritus mit Hilfe von volkssprachlichen Gebeten verstehbar und innerlich nachvollziehbar zu machen“148, kann man auch dem Probst der AugustinerChorherren von Indersdorf, dem so tatkräftigen bayerischen Klosterreformer, Johannes Rothuet149 (1382–1470), zuschreiben. Dessen Gebete zum Leben und Leiden Christi (Bl. 10v–24r) rufen bereits in der Überschrift zur meditativen ‚Betrachtung‘ der entscheidenden Heilsereignisse auf: Hye betracht wie got der almachtig hat geschickt seinen aingepornen sun mensch zu werden von unsern wegen (Bl. 10v). Von ‚Betrachtung‘ ist hier wohl aber gerade auch deshalb die Rede, weil die Gebete des innige[n] betrachter des leidens Christi150 sicherlich zusammen mit den laut Bibliothekskatalog die Handschrift ursprünglich nach dem Kalender einleitenden quasdam picturas passionis Christi („einigen Bildern zur Passion Christi“) gesehen werden sollten.151 Ob es sich bei diesen verlorenen Bildelementen um den bekannten Zyklus aus dem Ebran-Gebetbuch (Cgm 29) des Johannes von Indersdorf gehandelt hat, muss offen bleiben. Festgehalten werden darf jedoch, dass sie zweifellos im Kontext der zunehmenden Ausweitung und Intensivierung der affektiven Passionsmeditation im Spätmittelalter zu betrachten sind, die „in wachsendem Maße die compassio (Mitleiden) des Gläubigen an[spricht]. Der Meditierende soll das Geschehen so betrachten, als ob er zugegen gewesen wäre, und er soll dabei einen Schmerz empfinden, als ob er den leidenden Herren vor Augen hätte.“152 Johannes versucht die intensive Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens zu erreichen, indem er dieses nicht nur mit großem Detailreichtum dem Beter vor Augen stellt, sondern indem er darüber hinaus den traditionell nach den kanonischen Horen in sieben Gebetseinheiten gegliederten Leidensweg Jesu durch die Einführung einer zusätzli-
|| 146 Lentes 1999, S. 38. 147 Häußling 1997b, S. 143. 148 Lentes 1999, S. 38. 149 Vgl. Haage 1983, S. 647–648. Von Johannes von Indersdorf überliefert Cgm 4701 die Gebete 1– 13 zu Christus (Bl. 37v–46r) sowie andrew hailsame gepet von den werchen und leyden unsers herren (Bl. 214v–225r), verfasst für Herzog Wilhelm III. von Oberbayern-München (1397–1435). 150 Zitiert nach Weiske 1993, S. 146. 151 Auf diese Form der bildlich-meditativen Erbauung der Konversen stößt man in St. Emmeram immer wieder, so auch in einer Bemerkung Mengers im Bibliothekskatalog zu einem mit Bildern zur Passion Christi ausgestatteten liber contemplacionis: hunc librum habuerunt conversi, et hoc propter picturam […], que in eo continentur. („Buch der Betrachtung: Dieses Buch hatten die Konversen, und dies wegen der Bilder […], die in ihm enthalten sind“). Vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, S. 255, Z. 2759f. und Z. 2790 f. 152 Köpf 1997, S. 728.
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chen achten Sequenz dehnt. Dadurch erfährt die mit einschneidender Drastik geschilderte Marter zwischen Terz und Sext eine besondere Bedeutung: 153 O du mein got herr ihesu xriste von tercz zeit piß auf sext zeit hast du geliten groß leyden und wesunder nach der gaislung ward dir außgelegt ein purpwr gewandt und wardest geseczet auff ain stull und ain chron von dorn ward gedruket in dein heiligs haubt alzo daz dy dorn giengen bis auff lebentigs hirn und dein heiliger anplik ward aber geschlagen und verspiben durch lochert ward dein heiligs haubt […] (Bl. 16r–v).
Der Gebets- und Bilder-Zyklus des Johannes erfasst aber nicht nur die Leidensgeschichte Christi, vielmehr entfalten seine 17 Gebetseinheiten ein heilsgeschichtliches Panorama vom palm tag bis hin zum jungst gericht. Auffallend in der sprachlichen Gestaltung ist hierbei vor allem das repetitive Moment der fortwährend gleich formulierten imperativen Einleitungsformel Da bedenk154 . An den Duktus der Liturgie gemahnend, wird hier der Leser zur meditativen Erinnerung der Heilsstationen aufgefordert und die Gebetsbitte an Christus vorgegeben, aus diesem kontemplativen und vergegenwärtigenden ‚Bedenken‘ heraus den persönlichen Heilsweg in dessen Nachfolge einmünden und in der Auferstehung enden zu lassen: hilf daz ich sterb den sunden der werlt und hye auf erd von aller pöser gewonhait der sunden und daz ich nach volgig sey deiner heiligen ler deiner füßtritten daz du mir scheinen wellest mit deinem frid als du dein lieben iungern erschinen pist und daz ich an dem iungsten tag mit den außerwelten frölich ersten Amen (Bl. 20v).
2.4 Gebetszyklus zur Liturgie der Messe Eine letzte Verbindung der volkssprachigen Gebete zur Liturgie, gleichsam in deren Mitte hineinführend, eröffnet sich beim Aufschlagen des Codex mit Blick auf einen Gebetszyklus zur Messe (Bl. 3r–8r): „Die Messe bildet das Zentrum der katholischen Gottesverehrung. Sie ist das große, segenspendende Geheimnis der Liebe Christi zu den Menschen und die stete Erinnerung und wirkliche Darstellung des Erlösungsopfers am Kreuze.“155 Es verlangt vom Menschen, der in der Feier der Eucharistie seinen Dank für die sühnenden und heilsschaffenden Gaben Jesu ausspricht, auch
|| 153 Vgl. Weiske 1993, S. 122. 154 Da bedenk dy werkch unßers herren die er volpracht an dem palm tag (Bl. 11v–12r) – Da bedenk daz abent ezzen und der andern werk und ler (Bl. 12r–13r) – Da bedenck dy großen pittern angst und der iungern herczen laid (Bl. 13r–14r) – Da bedenck dy ellenden fancknüß und daz verlaugen sand peter (Bl. 14r–v). Vgl. hierzu die Passionsgebete zu 5 Paternostern (Bl. 129v–131v) mit der einleitenden Formel Herr Jhesu Crist ich mon dich. 155 Franz 1902, S. 1.
310 | Andreas Erhard seinerseits ein Opfer, ein „geistiges, geisterfülltes Opfer“156 , das in Gedächtnis und Nachfolge des Heilands Gottesdienst und Dienst am Nächsten zu sein hat. Im Laufe des Mittelalters erfuhr diese Auffassung der eucharistischen Messfrömmigkeit allerdings eine erhebliche Verwerfung, die in ihrer Auswirkung selbst in den hier vorliegenden Messgebeten für die Laienbrüder zu spüren ist. Nicht mehr das geistige Selbstopfer als Gegengabe stand nun vielfach im Mittelpunkt der mittelalterlichen Eucharistie, sondern im Zeichen „vorgeistiger Opfervorstellungen“157 wurde in der Darbringung der für die Messe notwendigen materiellen Opfergaben von Brot und Wein und deren Wandlung in das Fleisch und Blut Jesu „das Moment des Bitt- und Sühneopfers“158 betont: „Die Messfeier betrachtete man als wahrhaftige Opferung von Fleisch und Blut Jesu Christi und glaubte deswegen, die Erhörung der dabei gestellten Bitten für sicher nehmen“159 wie auch für die Abbüßung begangener Sünden fruchtbar machen zu dürfen. Aufgrund ihres Opfer- und Segenscharakters impetratorisch (fürbittend) und propitiatorisch (sühnend) wirkend, wurde „die Messfeier zur meistgeschätzten Frömmigkeitshandlung“160 im Mittelalter, „von ihr versprach man sich eigentlich alles.“161 Besonders in den Votiv- und Privatmessen, Messstiftungen und -stipendien fand das unerhörte Spektrum der privaten Anliegen, bis hin zur Bitte um Liebesverzauberung und Tötungswunsch reichend, ihren liturgisch geprägten und in überbordender Häufigkeit zelebrierten Ausdruck.162 Aus diesem Verständnis des Messopfers heraus wurde „das Anhören der Messe (und dann natürlich umso mehr das Stiften von Messen, der Opfergang bei der Messe) […] zu einer äußeren Leistung herabgedrückt, mit der man sich ohne viel Mühe irdische und himmlische Güter glaubte sichern zu können.“163 In engster Verbindung hierzu stehen auch die in Cgm 4701 überlieferten Messgebete, die aber gerade nicht auf die persönliche Erwartung privater Messfrüchte hin formuliert wurden. Sie sind vielmehr als Korrektur dieser Auswüchse zu verstehen, zwar nicht als Rückbesinnung zum Wesentlichen der Eucharistie, zur lobpreisenden Vergegenwärtigung des auferstandenen und erhöhten Christus, aber nach der damals gepflegten rememorativ-allegorischen Auslegung der Messe, die sich im Sinne eines ganz vom Menschen her gedachten Erinnerns primär auf das Leben und
|| 156 Jungmann 1956, S. 35. Zitiert nach Angenendt 2009, S. 491. 157 Angenendt 2004b, S. 46. 158 Jungmann 1967, S. 37. Zitiert nach Angenendt 2009, S. 492. 159 Angenendt 2009, S. 494. 160 Angenendt 2009, S. 494. 161 Angenendt 2009, S. 494. 162 Vgl. Franz 1902 , S. 3–330. 163 Jungmann 1960, S. 97.
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Leiden Christi164 und das in dessen Nachfolge dankbar zu leistende geistliche Mitopfers bezog: jhesu xriste gibe mir in deinem pittern leyden zesterben von allen presten daz ich in deinem wirdigen verdien ein newerr mensch wird nach deinem ebenpild und das alles mein leiden und all mein widerickait mit deinem wirdigen leyden deinem ewigen vater wolgeuelligs opfer wird amen (Bl. 4r).
In diesem Verständnis sind die Messgebete in weiten Teilen auch in die älteste deutsche Gesamtauslegung der Messe (ca. 1480) eingegangen, in der dann auch „mit allem Nachdruck der Vorrang des Gemeinschaftsopfers vor aller Privatintention betont“165 wird. Mehr noch als innerhalb der Messübersetzung, wo sie auseinandergerissen werden oder im Verbund mit weiteren eingeflochtenen Gebeten durchaus zur „Zerstückelung“166 der als Gang durch Leben und Leiden Christi verstandenen Messliturgie führen mochten, konnten Messgebete dort, wo sie als Zyklus angelegt sind, die stille Versenkung in den Lebenslauf Jesu während der Messe bewirken. Und „wie kann diese besser als durch Gebete geschehen, die alles, was über die Materie gesagt worden ist, kurz zusammenfassen und in der Messe gesprochen und gelesen werden können?“167 So führen die im Wesentlichen der Grundordnung der römischen Messliturgie folgenden Gebete168 das Verlangen der Konversen ganz auf Gedächtnis und imitatio, ja auf die conformatio des Lebens- und Leidensweges Christi hin. Im Gebet Zu der verbandlung dez procz in den leichnam xristi, gleichsam der Kern der Eucharistie, kommt dieser Aspekt zur Sprache, denn mit dessen Rezitation bittet der Laienbruder darum, „das ich verwandelt wird von meinem geprechenlichen leben in gleichvormhait dez lebens ihesu xristi“ (Bl. 6r). Ein von den Laienbrüdern „verstehender bzw. zumindest subjektiv-emotionaler Nachvollzug der Liturgie“169 der Messe, an der diese ja täglich teilzunehmen bzw. zu || 164 Vgl. Jungmann 1962, S. 458. Im Laufe des Mittelalters „macht sich mehr und mehr die von der allegorischen Messerklärung in den Vordergrund gerückte Betrachtung des Leidens Christi und damit überhaupt die rückschauende Beschäftigung mit dem Leben und Leiden des Herren geltend.“ 165 Reichert 1967, S. CXVI. 166 Angenendt 2009 , S. 501. 167 Illing 1975 , S. 122. 168 Introitus – Kyrie eleison – Gloria – Collecta – dy epistel – Graduale – Evangelium – ad patrem – ad offertorium (Gabendarbringung) – zw der secret (Gabengebet) – ad praefationem (Danksagung) – Sanctus – zw der stilmess – Zu der verbandlung dez procz in den leichnam xristi – Ad eleuaczoniz sacramentj – zw der salmess – ad pater noster – zw der nyessung des sac[raments] – Kommunion – ad collectam (Postcommunio) – ad benedictionem (Entlassungssegen). 169 Lentes 1999, S. 37. Nach Henkel 2010, S. 211, trugen „die Messübersetzungen [in Gebet-, Andachts- und Erbauungsbüchern] […] in erster Linie nicht zur muttersprachlichen Aneignung des liturgischen Geschehens bei, sondern dienten im Rahmen der privaten Andacht und Erbauung vor allem der Vor- oder Nachbereitung der mitüberlieferten Schriften. Wer im Spätmittelalter das Anliegen verfolgte, die lateinische Liturgie in der Muttersprache zu rezipieren, tat jedenfalls besser daran, ein Plenar mit Messformularen oder ein deutsches Messbuch zu lesen anstatt ein Gebet-, An-
312 | Andreas Erhard ministrieren hatten, 170 scheint von den Ordensoberen oder aufgrund eigenen Verlangens der Konversen durch die liturgiebegleitenden Messgebete ihres Gebetbuches durchaus angestrebt zu sein. Aus dem Messkanon gilt es neben dem Gebet zur Wandlung schließlich das Ad eleuaczoniz sacramentj (Bl. 6v) gesprochene herauszuheben, da mit der Konsekration, aber vor allem mit der folgenden Elevation der heiligen Hostie der „unüberbietbare Höhepunkt“171 der Messfeier erreicht wurde. Es ist daher nicht verwunderlich, dass an anderer Stelle der Handschrift durch drei Elevationsgebete, dem Ave verum corpus natum172 (Bl. 133r), dem daran anschließenden, sogar doppelt überlieferten Anima Christi173 (Bl. 133v, Bl. 102r–v) und dem Ave vivens hostia (Bl. 148v–151r), alle drei in volkssprachiger Übersetzung, auf die Emporhebung dieser wichtigsten Heilsmaterie Bezug genommen wird. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zur Elevation der Hostie in der Messe gesungen oder still rezitiert, markieren sie „in der Mitte des Messkanons die Spitze des mittelalterlichen Körperinteresses“174 und Schauverlangens.175 „Gerade weil man nicht kommunizieren wollte oder nicht zu kommunizieren wagte […], gerade deswegen wollte man die heilige Hostie schauen“176 , um auf diese Weise zumindest in Form einer geistlichen Kommunion den sakramentalen Empfang der gaistlichen erczney wider dy gaistli|| dachts- oder Erbauungsbuch.“ Die in diesem Überlieferungszusammenhang tradierten Messübersetzungen dienten, „anders als jene in Plenarien und Missalien – lediglich sekundär dem muttersprachlichen Nachvollzug der Liturgie.“ 170 Vgl. Bühler 1989, S. 241: Nach der benediktinischen Laienbrüderregel in Cgm 801 und 803, die man inhaltlich ohne weiteres mit der verlorenen Konversenregel St. Emmerams gleichsetzen darf, hören die Laienbrüder am Morgen „bei Strafe die erste Messe. Sie sind auch verpflichtet, hernach bei den anderen Messen zu ministrieren.“ 171 Meyer 1993, S. 558. 172 Cgm 4701, Bl. 133r: Pis gegruzzet warer leichnam unsers heren ihesu xristi der geporen ist von der iunkfraw maria der da werlich gemartert ist und geopfert ist an daz creutz fur den menschen des seyten gedurchelt ist und durchflozzen ist mit dem waren plüt. Pis herr unser trost an dem endt unsers todes. O suzzer o senfter o güter sand maria kinde erparm dich uber uns und uber all gelaubig selen Amen. 173 Bl. 133v: Die sel gotes heilig mich der heilig leichnam gotes pehalt mich daz plüt gotes trenk mich daz wazzer daz aus gotes seyten flös daz wasch mich dy marter gotes sterk mich daz creutz gotes gesegen mich. Güter got erhor mich herr hilff mir daz ich von dir an meinem endt nymmer geschaiden werdt vor dem posen veindt pehüt mich an meinem endt la mich nicht herre und secz mich herr zu dir daz ich dich lob mit deinen engel und mit deinen heiligen ymmer und ewichleich amen. 174 Lateinische Hymnen, S. 235–236. 175 Vgl. Jungmann 1962, S. 256f.: „Dieses Schauverlangen konzentriert sich auf den Augenblick, wo der Priester die Hostie in die Hände nimmt, sie etwas emporhebt und sie segnet, um dann die Wandlungsworte darüber zu sprechen.“ Nach Meyer 1995, S. 587 dient die mit der Elevation verbundene „Schaufrömmigkeit […] als Kommunionersatz (Augenkommunion) und wird, durch „Wandelkerzen“, Läuten, Inzens, Gebete und Gesänge ausgestaltet, im späten M[ittelalter] zu einem zentralen Element der Eucharistieverehrung.“ 176 Jungmann 1960, S. 95: „[…] Vom Anblick der heiligen Hostie erhoffte man Segen und Hilfe in seinen irdischen Anliegen und gewiß auch Gewinn für das Heil der Seele.“
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chen krankhait der selen (Bl. 145r) mitzuintendieren. Die Vorstellung des geistlichen Empfangs der Hostie,177 die Laienbrüder sollten wenigstens „am ersten Sonntag eines jeden Monats und an Hochfesten […] kommunizieren“178 , kommt auch in den vielen Kommuniongebeten des Cgm 4701, wiederum aus der Feder des Johannes von Indersdorf, aber auch Abendmahlgebete von Heinrich Seuse, Johann von Neumarkt und Marquard von Lindau, prägnant zum Ausdruck und lässt ihre tatsächliche stille Verwendung während der Messe erahnen: O herre senck mich in die tyff deiner wunden, o herre mach mich lebentig in deinem tod, o herre wasch mich in deinem rosenuarben plut, o herre enczund mich in deinem fewer und liecht des heyligen gaystes (Bl. 99v).
In den Gebeten nach der Kommunion wird schließlich die zentrale Bitte des heilsbedürftigen Menschen ausgesprochen, dem tatsächlichen „sakramentalen Empfang in der Zeit möge die innere und in die Ewigkeit hinein dauernde Wirkung entsprechen“179 : Item so du daz sacrament enpfangen hast so sprich mit andacht Die enpfencknüß des zarten fronleichmans und des heyligen plutes unsers herren ihesu xristi sey mir frum und nücz zu dem ewigen leben amen (Bl. 102v).
Mit den Gebeten zum geistlichen sowie tatsächlichen Empfang und nücz der Kommunion wird nur unmerklich jenes für die spätmittelalterliche Frömmigkeit so spannungreiche Verhältnis spürbar, das sich zwischen einem zweckrationalen Umgang mit der Heilsmaterie und einem bewusst gläubigen und spirituellen Vollzug der Eucharistie erstreckt.180 Im hier vorgestellten Gebetbuch der Laienbrüder St. Emmerams liegt, wohl ganz den monastischen Reformen entsprechend, der Schwerpunkt aller Gebetsübung aber deutlich auf der Verinnerlichung der Heilsgeschehens im Sinne eines in der Stunden- und Messliturgie vollzogenen Repetierens181 bzw. Wiederholens182 heilsgeschichtlicher ‚Tatsachen‘, um „Heilsgeschichte im wörtlichen Sinne einfließen zu lassen in den persönlichen Lebensvollzug.“183
|| 177 Vgl. Ochsenbein 2000, S. 126, der am Beispiel der Kommuniongebete im Engelberger Gebetbuch der Benediktinerinnen von St. Andreas aus dem schweizerischen Sarnen bemerkt: „Der Kommunionempfang war im Spätmittelalter selbst für geistliche Frauen nicht sehr häufig, höchstens einmal im Monat. Deutsche Kommuniongebete, darunter auch eines von Heinrich Seuse, waren vornehmlich als geistlicher Empfang der Hostie gedacht.“ 178 Bühler 1989, S. 241. 179 Jungmann 1962, S. 498. 180 Vgl. Angenendt 2000, S. 61. 181 Vgl. Angenendt 2000, S. 58. 182 Vgl. Unterreitmeier 1995. 183 Unterreitmeier 1992. 475.
314 | Andreas Erhard Dabei gilt es herauszustellen, dass die für die Konversen angelegten Gebetbücher184 wie überhaupt alle in ihrer Buchsammlung verfügbaren religiösen Literaturformen, die ja standesübergreifend im adeligen, bürgerlichen und geistlichen Laienmilieu gelesen wurden185 , auch wenn diese „mehr von der Peripherie als von der Mitte der christlichen Botschaft“186 her leben, ihren Ursprung dennoch in der Liturgie ihrer Zeit haben.187 Es ist aber besonders das volkssprachige Gebetbuch, welches das religiöse Heilsbedürfnis des gläubigen Laien im Spätmittelalter aus seinem Spannungsverhältnis zur lateinischen Klerusliturgie heraus zu artikulieren vermag.188 Denn für den Betenden konnte gerade „auch der sprachlich primitivste Gebetstext […] ein Artikulationsgefäß sein, das ihm dazu diente, seinen Gefühlen, Ängsten und Sorgen in einer Rede mit Gott Ausdruck zu verleihen.“189 An diesem Punkt aber, in dem der erlösungsbedürftige Mensch im Gebet Gott als seine Heilshoffnung anspricht und anerkennt, wird klar, dass für den von den Existenznöten seiner Zeit geplagten Gläubigen im Mittelalter „diese Begegnung „Leben“ schlechthin“190 ist. Liturgie und das sie tragende Gebet können daher gemeinsam als eine
|| 184 Vgl. neben Cgm 4701, Cgm 4700 und 4882. 185 Vgl. Williams-Krapp 2004, S. 139f.: „Betrachtet man die überlieferungsgeschichtlichen Daten für die verbreitetsten Werke religiöser Literatur in der Volkssprache, so zeigt sich, dass die Lesefähigen, die sich Buchbesitz leisten konnten – Nonnen, Semireligiöse und wohlhabende Laien –, im wesentlichen die gleichen Werke lasen.“ 186 Jungmann 1969, S. 124. 187 Vgl. Unterreitmeier 1992: „Liturgie und das, was sich an die Liturgie anlehnt, die Paraliturgie (dazu gehört u.a. die Bibelparaphrase, das kirchliche Lied, das geistliche Drama, der ganze Komplex der Predigten, Andachten und des religiös-erbaulichen Schrifttums) entfalteten durch das ganze Mittelalters hindurch bis weit in die Neuzeit hinein eine formende Kraft, die Geschichtsschreibung (historia), Totengedenken (memoria), ethische Verpflichtung und philosophischtheologische Reflexion und nicht zuletzt den Bereich der religiösen Literatur in der Volkssprache bestimmte.“ 188 Vgl. Haimerl 1952, S. 1: „Mit seiner Gebetbuchfrömmigkeit gibt der Mensch einen Teil seines Inneren kund, seines religiösen Denkens, Wollens und Fühlens, spricht aber auch zu uns von seinen äußeren Lebensumständen, gibt die Zeichen der Zeit, die mächtigen Bewegungen vor allem auf geistigem und sozialem Gebiete wieder.“ 189 Ochsenbein 1988, S. 398: „[…] In einer Zeit, wo für solche innere Werte dem lateinunkundigen Laien nur sehr wenige Sprachträger zur Verfügung standen, hatte das deutschsprachige Gebetbuch eine außerordentlich wichtige Funktion. In solchen Gebetstexten ist Innerlichkeit gelebt worden, vielleicht mehr als Germanisten heute vermuten, mit Sicherheit mehr, als was die wenigen erhaltenen, meist unscheinbaren Gebetbücher uns Nachgeborenen über die Jahrhunderte hinweg vermitteln können.“ 190 Häußling 1997a, S. 131: „[…] In der Liturgie hat das einen Namen erhalten: Gedenken der Taten Gottes an den Menschen und der gültigen Antworten der Menschen an Gott, ein Gedenken nicht so, als seien diese Taten vergangen und allenfalls von historischem Interesse und damit eigentlich beliebig, nein, diese Taten sind die Paradigmen des Heiles der Gegenwart.“
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hochbedeutsame „Formkraft mittelalterlicher Religiosität und Anthropologie angesehen werden.“191
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|| 191 Angenendt 2009, S. 487.
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Ulrich Johannes Beil
Pervertierte Liturgie Medialität und Inszenierung in Schillers Der Geisterseher The spectre marched [...] to the end of the gallery, and turned into a chamber on the right hand. Manfred accompanied him at a little distance, full of anxiety and horror, but resolved. As he would have entered the chamber, the door was clapped-to with violence by an invisible hand.1 Horace Walpole
1 Einführung: Die ‚unsichtbare Hand‘ Wenn heute in den Medien von einer „invisible hand“ zu lesen ist, so hat man es meist mit Artikeln zu tun, die die klassische ökonomische Formel von Adam Smith verteidigen oder in Frage stellen. Im Umkreis der Finanzkrise wurde gelegentlich auf die theologischen Hintergründe der Formel aufmerksam gemacht, man kam auf die „manus gubernatoris“ der Scholastik zu sprechen oder auf die im 17. Jahrhundert an die Stelle des Regenten tretende „Naturordnung“. 2 Weit weniger bekannt ist, dass die „invisible hand“ auch in der Frühzeit der gothic novel, etwa in The Castle of Otranto oder in The Old English Baron, eine Rolle spielt, einer Textgattung also, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts zusehends an Popularität gewinnt. 3 Als „unsichtbare Hand“, die „Mittel gefunden“ habe, „meine Angelegenheiten [...] zu verwirren und Gerüchte von mir auszubreiten“,4 begegnet das Smithsche Diktum auch bei Friedrich Schiller. Es findet sich in seinem fragmentarisch gebliebenen Roman Der Geisterseher von 1789 – wohl nicht ganz ohne Bezug zum Werk des Ökonomen.5 Die „unsichtbare Hand“ steht im Geisterseher allerdings nicht für die ‚natürliche‘ Selbstregulierung von Marktprozessen. Vielmehr verweist sie auf einen Verschwörungszusammenhang, eine religiös-politische Instanz, die den ganzen Roman || 1 Walpole 1993, S. 22f. 2 Vogl 2010, S. 41; Agamben 2010, S. 332–342. 3 Andriopoulos 1999. 4 Schiller 1954, S. 110. Wir legen unserer Analyse die Nationalausgabe der Werke Schillers zugrunde; sie bietet den Text der dritten Buchausgabe von 1798 und im Anschluss das in den ersten Fassungen enthaltene Philosophische Gespräch. Schillers Geisterseher wird im Folgenden im Text mit dem Kürzel DG und der Seitenangabe zitiert. 5 Das Werk von Smith war Schiller nicht unbekannt. Ein Onkel des Dichters, Johann Friedrich Schiller, der in England Alchemie betrieben haben soll (Safranski 2004, S. 16), hatte den ersten Band von The Wealth of Nations ins Deutsche übersetzt (vgl. Streissler 2012, S. 72).
324 | Ulrich Johannes Beil hindurch die Handlungsfäden zieht und im Verborgenen agiert. Diese Instanz entwickelt im Lauf des Textes eine wahre Meisterschaft, was Maskeraden, Täuschungsmanöver, Spielzüge und Intrigen betrifft. Immer von neuem werden Personen zu Handlungen veranlasst, von deren Kalkül sie keine Ahnung haben. Auch eine Geisterbeschwörung gehört zu den Maßnahmen dieser geheimen Organisation. Sie findet im Rahmen einer eindrucksvoll angelegten Inszenierung statt, in deren Zentrum eine an die römische Liturgie erinnernde und zugleich stark verfremdete Wandlungszeremonie steht. Diese Inszenierung sei im Folgenden einer eingehenden Lektüre unterzogen. Dabei stellen sich Fragen wie diese: Welche Funktion kommt dieser speziellen ‚Liturgie‘ im Roman zu? Welche ‚Mittel‘ setzt die geheime Instanz für ihre ‚Zwecke‘ ein und welche medialen Möglichkeiten nutzt sie? Unter welchen kulturellen und diskursiven Bedingungen wird das so performierte ‚Unheimliche‘ hier zum Thema und in welchem Verhältnis steht es zu der von Schiller immer wieder in den Fokus gerückten Frage nach Vermittlung und Medialität?
2 Zum kulturhistorischen Umfeld Bevor wir auf den Text selbst zu sprechen kommen, zunächst einige Stichworte zum kulturgeschichtlichen Umfeld von Schillers Romanfragment. Hier ist, erstens, an die allgemeine Anziehungskraft des Magischen, Hermetischen und Okkulten zu erinnern, die sich in der Hochaufklärung, also seit der Jahrhundertmitte bis in die Zeit unmittelbar vor der Französischen Revolution, beobachten lässt6 und die sich am sinnfälligsten in schillernden Gestalten wie Franz Anton Mesmer, Johann Joseph Gassner oder Johann Georg Schröpfer verkörperte. Während Mesmer mit seinen animalmagnetischen Therapien zunächst in Deutschland und später in Frankreich Aufsehen erregte, wirkte sein Lehrer Gassner in Österreich als Wunderheiler und Exorzist. Schröpfer wiederum veranstaltete im Billardsaal seines Leipziger Kaffeehauses nekromantische Séancen, ließ Tote erscheinen und Botschaften verkünden.7 Wenn sich das öffentliche Gespräch immer wieder um zwielichtige Prominente wie die genannten drehte, so verdankte sich dies nicht nur deren jeweiligem esoterischen Ingenium. Es lag auch und vor allem an ihren Entertainment-Qualitäten, ihrer Neigung zu spektakulären Performances sowie an ihrer Fähigkeit, sich der aktuellen medialen Angebote – Briefe, Zeitschriften, Flugblätter, Broschüren, Karikaturen – || 6 Zum Zusammenhang Aufklärung/Esoterik/Geisterseher vgl. den Überblick von Stadler 2005; informativ auch: Doering-Manteuffel 2008; Kiefer 2004; Sawicki 2002; Kiefer 1991; zum historischen Kontext: Neugebauer-Wölk 2008, 1999; dies./Geffarth/Meumann 2013. Nach wie vor lesenswert: Zimmermann 2002. Zur Abschwächung der ‚Geheimnislust‘ in der 1780er Jahren Nicolai-Haas 1979, S. 268–270. 7 Zu Schröpfer neuerdings Jones 2011, S. 26–30. Die ausführliche Beschreibung einer Schröpferschen Séance findet sich bei Zglinicki 1979, S. 67f.
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mit Geschick zu bedienen. Wer über dieses Talent in besonderem Maße verfügte, war der unbestrittene Star dieses neuen öffentlichen Typs: Graf Cagliostro. Auch wenn Cagliostro – seines Zeichens Originalgenie, Wunderdoktor, Geisterseher, Alchemist, Zauberer, Prophet – nur wenige eigene Schriften verfasst hat, so gelingt es ihm doch, zu „eine[r] Flut Cagliostroiana“ anzuregen8 und so nach Kräften seine eigene Mythisierung zu betreiben. Auf dieses „Medienprodukt“9 stößt dann auch Schiller, und zwar in dem publizistischen Organ der Aufklärung, der Berlinischen Monatsschrift. Offenbar las er, kurz bevor er die Arbeit am Geisterseher begann, im Mai 1786 einen Cagliostro als Betrüger enttarnenden Beitrag von Elise von der Recke. Das Juli-Heft der Zeitschrift enthielt zudem einen Artikel von Prinz Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg, in dem der religiös motivierte Verkehr mit Geistern durchaus für möglich angesehen wird; auch dieser dürfte Schiller nicht entgangen sein.10 Ohne das Vorbild Cagliostro jedenfalls ist der Geisterseher ebenso wenig denkbar wie Goethes Großkophta.11 Kommen wir, zweitens, auf eine literarische Gattung zu sprechen: die gothic novel, die mit Horace Walpoles Klassiker The Castle of Otranto (1764) einsetzt und die vor allem von Schiller in eine spezifisch deutschsprachige Variante, den sogenannten Geheimbundroman, transformiert wird.12 Der Geheimbundroman reagiert auf die so unübersichtliche wie politisch brisante Szenerie der 1760er und 1770er Jahre, die von Logen und Orden unterschiedlicher Couleur – wie den Freimaurern, den Rosenkreuzern oder den Illuminaten Adam Weishaupts – bestimmt wird, Arkangesellschaften, die publizistisch wirkungsvoll agieren und deren konkurrierende Unternehmungen ein beträchtliches Imaginationspotential entfalten.13 Auch wenn der Begriff ‚Geheimbundroman‘ in der Forschung nicht unstrittig ist, so lassen sich mit ihm doch bestimmte Momente angeben, die entsprechenden Romanen von Schiller, Goethe, Wieland, Moritz oder Jean Paul gemeinsam sind: etwa, dass der Bund als „allwissende Instanz“ fungiert, zwischen kontingenten und providentiellen Realitätsstrukturen vermittelt und dem Zufall im Zuge einer „geheimen Lenkung“ zu „romanhafter Wirklichkeit“ verhilft.14 Wenn 1786 in Schlözers Staats-Anzeigen zu lesen ist: „Zu den religiösen Endzwecken geheimer Verbindungen, muß man billig auch das Goldmachen [...] und das Geister Beschwören rechnen“,15 so stoßen wir hier auf den dritten zu erwähnen-
|| 8 Kiefer 2004, S. 59f. 9 Kiefer 2004, S. 74. 10 Mayer 1996, S. 223. 11 Einen Überblick über das Genre ‚Gespensterliteratur‘ gibt Brittnacher 1994, S. 25–116. 12 Walpoles Erzählung darf auch als Auslöser einer mit der Laterna magica befassten Literatur gelten (Bartels 1996, S. 135–138). 13 Klausnitzer 2004, S. 3; Nicolai-Haas 1979, S. 267–271. 14 Voges 1987, S. 340. 15 Zit. bei Nicolai-Haas 1979, S. 271.
326 | Ulrich Johannes Beil den Punkt: den Geister- oder Gespensterdiskurs. In diesem Zusammenhang von einem Diskurs zu sprechen, mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen – aber gemeint sind hier nicht periphere Relikte überkommenen Aberglaubens. Bereits im 17. Jahrhundert werden vielfach Geistererscheinungen diskutiert, publizistisch ausgewertet und mit der Frage nach Einfluss und Existenz des Teufels verbunden. In den ersten Jahrzehnten des siècle de lumière bildet sich dann tatsächlich so etwas wie ein Gespensterdiskurs heraus, an dem namhafte Gelehrte beteiligt sind.16 Wobei es sich nicht nur um die Existenz/Nicht-Existenz übernatürlicher Erscheinungen dreht, sondern um das Gespenst als experimentum crucis für Probleme, die sich aus dem epistemologischen Umbruch, der Neuorganisation und Ausdifferenzierung von Wissensbeständen ergeben – etwa für die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit der Metaphysik, die seit der Jahrhundertmitte immer drängender nach einer Antwort verlangt. Zusätzlich wird die Gespensterkontroverse angefeuert durch Debatten wie die um das commercium mentis et corporis17 und das sich verstärkende Interesse an elektrischen Phänomenen, an Lichteffekten, Wärmeregulationen und am Magnetismus.18 Einer der Protagonisten dieses Diskurses seit der Jahrhundertmitte ist bekanntlich Immanuel Kant. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, als sei es ihm in seinen 1766 publizierten Träumen eines Geistersehers vor allem um den Aufweis der Unwahrscheinlichkeit von Gespenstererzählungen gegangen oder darum, einen zur Schwärmerei neigenden Kollegen wie Emmanuel Swedenborg der Lächerlichkeit preiszugeben, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen: Mit diesen „acht Quartbände[n] voll Unsinn“ – so charakterisierte er Swedenborgs Arcana coelestia19 – beschäftigte sich Kant weniger aus polemischem Interesse als vielmehr deshalb, weil sie ihm immer mehr als Symptom für die Methoden der Metaphysik überhaupt erschienen. Was ihn bewegte, war, ob nicht die Begriffe und Argumentationsformen, die die Metaphysik über die Jahrhunderte hin so selbstverständlich benutzt hatte, einen vergleichbar fragwürdigen Realitätsstatus hatten wie die Geister der Toten, mit denen der Schwede Kontakt zu pflegen vorgab. Mit anderen Worten: Wie ließen sich phantastische Wesenheiten – Kant nennt sie mehrmals „Hirngespenster“20 – von allgemein wahrnehmbaren wie etwa einer Katze unterscheiden? Dies fragt sich insbesondere, wenn man, wie schon der vorkritische Kant, davon ausgeht, dass nicht nur imaginierte, sondern auch ‚wirkliche‘ Erscheinungen (zumindest teilweise) auf Projektionsvorgängen beruhen. Mit der Frage nach den Gespenstern || 16 Zum 17. Jahrhundert vgl. Gantet 2007; für das frühe 18. Jahrhundert denke man etwa an Johann Georg Walchs Schrift Fünf Meinungen zu Gespenstern von 1726 oder Georg Friedrich Meiers Gedancken von Gespenstern von 1747; hierzu Wübben 2007. 17 Specht 1966. Vgl. auch Schings 1994. 18 Schaub 2009, S. 43. 19 Kant 1977a, S. 973. 20 Kant 1977a, S. 953.
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stellte sich mithin die Frage nach der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen und ihrer mentalen bzw. medialen Konstruktion. Die später explizierte Unterscheidung von ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ hebt so bereits mit Kants frühen Überlegungen an.21
3 Textanalyse I: Einleitung und Prinz Auch wenn nicht erwiesen ist, ob der Autor des Geistersehers, der sich in den frühen 1780er Jahren in einer intellektuellen Krise befand, Kants frühe Schrift tatsächlich gelesen hat:22 Beide Werke weisen eine Reihe von Ähnlichkeiten auf. Diese beginnen schon mit dem Paratext. Schillers Titel gibt sich wie eine ‚realistische‘ Übersetzung der Kantschen Formulierung Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, einer Überschrift, die den Geisterseher Swedenborgscher Prägung als weltfernen, anachronistischen Schwärmer abzuqualifizieren und ihn einer in die Krise geratenen philosophischen Strömung zuzuordnen scheint. Demgegenüber präsentiert sich Schillers zwei Jahrzehnte später gewählter Titel zugleich definitiv und geheimnisvoll – so, als liefere er einer interessierten Leserschaft die lebensgeschichtliche Basis für die Kantsche Schwärmerkritik nach. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die zögerliche bis ablehnende akademische Rezeption beider Werke – zu welcher die Autoren auf je andere Weise beigetragen haben: Kant dadurch, dass er die sogenannten ‚vorkritischen Schriften‘ aus seinem eigenen Werkkanon ausgeschlossen haben wollte (und dadurch die Sekundärliteratur nachhaltig blockierte); Schiller, indem er nicht oft genug beteuern konnte, wie lästig ihm die Arbeit an dem – angeblich nur aus ökonomischen Gründen begonnenen – Projekt sei, wie wenig „Interesse“ er dem „verfluchten Geisterseher“ abgewinnen könne, wie „schlecht“ ihm der Text gelinge und wie sehr ihn die Zeit, die er mit dieser „Schmiererei“ verbracht habe, reue.23 Dennoch, Schiller wollte angesichts des beispiellosen Publikumserfolgs seine Leserschaft nicht enttäuschen: Der Roman erschien zunächst zwischen 1787 und 1789 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Thalia, bevor die Buchausgaben von 1789, || 21 Die Differenz von ‚Objekt‘ und ‚Ding an sich‘ bleibt auch Kants späterem kritischen Werk eingeschrieben, etwa, wenn er betont, „daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt seien, und, was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit seien, [...] deren wahres Correlatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann [...]“ (Kant 1977b, S. 78). 22 Die eigentliche Beschäftigung mit Kant und seinen kritischen Schriften fällt bekanntlich in die frühen 1790er Jahre: „The ultimate reason for Schiller's adoption of Kant lies in his earlier intellectual crisis, the afflictions of the soul that he had so lyrically portrayed in the Philosophische Briefe and in Der Geisterseher“ (Beiser 2005, S. 42). 23 DG [Kommentarteil], S. 415.
328 | Ulrich Johannes Beil 1792 und 1798 folgten: An der Ausgabe letzter Hand wollen wir uns im Folgenden orientieren.24 Auch wenn Schiller somit insgesamt an die zwölf Jahre mit dem Projekt befasst war und seine Arbeit hin und wieder auch positiv kommentierte – die neuere Germanistik äußerte sich zu dieser vermeintlichen „Kolportageliteratur“ zunächst eher zurückhaltend.25 Erst im Zuge des Interesses an gothic novels und Mediengeschichte begann man sich seit den 1990er Jahren verstärkt mit dem Text zu beschäftigen. Kein leichtes Unterfangen, trotz der oft unterstellten Trivialität: Denn der Text war Fragment geblieben, er ließ sich nicht nur als Geheimbundroman verstehen, sondern enthielt auch Elemente anderer Gattungen, wie der populären Gespenstergeschichte, der Kriminalerzählung, der Novelle, auch Elemente des Liebes- und Abenteuerromans.26 Zudem schien das Ganze als „Aufsatz“ begonnen worden zu sein und sich erst allmählich und gleichsam experimentell zu einem fiktionalen Text entwickelt zu haben.27 Hinzu kommt die anspruchsvolle Erzähltechnik. Bedient sich der Text doch eines komplex verfugten, mit zahlreichen Vermittlungsinstanzen operierenden narrativen Arrangements, das nicht nur die Schachzüge der Geheimgesellschaft in verschiedenen Brechungen und aus verschiedenen Perspektiven zeigt, sondern auch den Leser angesichts der „Unzuverlässigkeit der Erzähler“ aktiv in den Erkenntnisprozess des Geschehens einbindet.28 Immerhin gelingt es dem Autor, den Text trotz seiner Unvollständigkeit zu einer Art vorläufigem Abschluss zu bringen und die geheimen Absichten der im Hintergrund wirkenden Instanz, der ‚invisible hand‘, zumindest in Grundzügen erkennen zu lassen. Welcher Art sind diese Absichten? Im Fokus der Geheimgesellschaft steht ein deutscher Prinz. Er, der sich zur Karnevalszeit in Venedig aufhält, soll im Lauf einer bis ins kleinste Detail ausgefeilten politisch-religiösen Intrige zum katholischen Glauben konvertieren und den Thron eines bislang protestantischen Fürstentums besteigen. Voraussetzung für diesen Transformationsprozess ist eine gründliche psychologische Analyse der Person des Prinzen, seiner schwärmerisch-melancholischen Veranlagung, seiner Bildung – mit ihren wahllosen, inkonsequenten Lektüren29 – und seiner politischen Chancenlosigkeit. Eine Reihe mysteriöser Ereignisse, zu denen auch und vor allem eine Geisterbeschwörung gehört, entfremdet ihn schrittweise seinem Glauben, seiner Philosophie, seiner engeren Umgebung und schließlich sich selbst. Gaukeleien und Taschenspielertricks tragen zu dieser prekä|| 24 Zum Text und seiner Überlieferung: DG [Kommentarteil], S. 430f. 25 So von Wiese 1959, S. 328, ähnlich Koopmann 2011, S. 743–755. Bereits Fritz Martini schrieb dem Geisterseher immerhin „weltliterarische Ausstrahlung“ zu (Martini 1960, S. 113). Eine kurze Skizze der Wirkungsgeschichte findet sich bei Jannidis 2011, S. 83–86, sowie bei Mayer 1996, S. 230–232. 26 Zu den Gattungen Kiefer 2004, S. 250. 27 Voges 1987, S. 355–357. Der Text könnte auch „als anthropologische Studie“ betrachtet werden, hebt Raposo Fernández hervor: Raposo Fernández 1994, S. 163. 28 Mayer 1996, S. 233f.; Raposo Fernández 1994, S. 165; zur „Unzuverlässigkeit der Erzähler“ und zu entsprechenden Markierungen im Text Jannidis 2011, S. 86–92. 29 Den Zusammenhang von Lese- und „Zweifelsucht“ beim Prinzen analysiert Robert 2011, S. 174.
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ren ‚Prinzenerziehung‘ ebenso bei wie jene maskentragenden Gestalten, die seinen Weg kreuzen, ihn abwechselnd erschrecken, verwirren oder belehren. Die hinter verschiedenen, immer wiederkehrenden Maskierungen – der Armenier, der russische Offizier, der Inquisitor, der Franziskaner – sich verbergende Gestalt des eigentlichen Drahtziehers des Geschehens aber bleibt unfassbar. Trotz vielfacher Versuche, das Erlebte aufzuklären, verliert der Prinz, von dieser übermächtigen Gestalt zugleich abgestoßen und fasziniert, zusehends seine geistige Orientierung. So kokettiert er mit der freisinnigen Vereinigung „Bucentauro“, sucht sein Glück in diversen Vergnügungen, verschleudert sein Geld im Spiel, stürzt sich in das Partygetriebe der venezianischen Nobilität – um sich alsbald Hals über Kopf in eine unbekannte Fremde, eine ‚schöne Griechin‘, zu verlieben, der er in einer Kirche begegnet. Diese entpuppt sich jedoch als katholische Tochter aus der deutschen Oberschicht und zugleich „als Werkzeug der Intrige“, das „freiwillig oder gedungen, mitwisserisch oder ahnungslos, die Aufgabe übernimmt, die Apostasie des Prinzen vorzubereiten“.30 Ehe er so recht weiß, wie ihm geschieht, findet sich der Prinz in den Armen des Geistersehers, des geheimnisvollen Magiers, mit dem er, wie es am Ende des erzählenden Teils heißt, „seit fünf Tagen – die erste Messe hörte“ (DG, S. 159). Nach einem kurzen Blick auf die Einleitung wollen wir uns der Geisterbeschwörung als einem oder dem paradigmatischen Zug im Spiel des Geheimbundes zuwenden und damit auch der Funktion des Medialen innerhalb dieser Entwicklung. Der erste Absatz des Romans, den Schiller erst für die Buchausgabe hinzufügte, lautet: Ich erzähle eine Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird, und von der ich großenteils selbst Augenzeuge war. Den wenigen, welche von einem gewissen politischen Vorfalle unterrichtet sind, wird sie – wenn anders diese Blätter sie noch am Leben finden – einen willkommenen Aufschluß darüber geben; und auch ohne diesen Schlüssel wird sie den übrigen, als ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes, vielleicht wichtig sein. Man wird über die Kühnheit des Zwecks erstaunen, den die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen imstande ist; man wird über die Seltsamkeit der Mittel erstaunen, die sie aufzubieten vermag, um sich dieses Zwecks zu versichern. Reine, strenge Wahrheit wird meine Feder leiten; denn wenn diese Blätter in die Welt treten, bin ich nicht mehr und werde durch den Bericht, den ich abstatte, weder zu gewinnen noch zu verlieren haben (DG, S. 45).
Die für das Buch relevanten Momente sind die folgenden: (1) eine Authentizitätsfiktion, die zunächst durch den Begriff des „Augenzeugen“, dann auch durch die Berufung auf die „[r]eine, strenge Wahrheit“ des Erzählten beglaubigt wird;31 zusätzlich || 30 Voges 1987, S. 356. 31 Voges 1987, S. 357. Immerhin scheint Schiller auf eine (unheimliche) historische Anekdote zurückgegriffen zu haben, derzufolge der Erbprinz Friedrich von Hessen-Kassel während eines Maskenballs in Italien von einem Armenier angesprochen und mit der Nachricht vom Tod seines Vaters überrascht worden sein soll – was kurz darauf amtlich bestätigt wurde. Pikante Ergänzung: Der protestantische Thronfolger „war zunächst heimlich, dann offiziell zum Katholizismus übergetreten“ (Postma 2011, S. 4).
330 | Ulrich Johannes Beil bezieht sich der Erzähler auf die Gattung der Geschichtsschreibung, was schon deshalb seine Wirkung nicht verfehlt, weil hier Extradiegetisches – die Professorentätigkeit des Autors an der Universität Jena – anklingt; (2) der Begriff des Schlüssels oder des Aufschlusses, der eine Differenz, eine Unterbrechung voraussetzt, etwa zwischen Extradiegetischem („von einem gewissen Vorfalle“) und Diegetischem („Aufschluss“), wobei ersteres, als gleichsam ‚realgeschichtliches Fragment‘, von letzterem, dem Bericht oder Roman, ergänzt wird: Damit rückt eben jenes Verhältnis von Fragment und Totalität, Rätsel und Lösung, Text und Fortsetzung in den Blick, das den unvollendeten Roman insgesamt prägt; (3) das Mittel-Zweck-Verhältnis, das einerseits den Spielcharakter der Geheimbundaktivitäten zum Ausdruck bringt und andererseits auf jene „Mittel“, jene medialen Effekte referiert, derer die Agenten sich den ganzen Text hindurch zur Verfolgung ihrer „Zwecke“ bedienen; (4) das Gespenstische, das dezent am Ende des Absatzes auftaucht und unverkennbar als mediales Produkt charakterisiert wird. Der Hinweis auf die „Feder“ und die „Blätter“ erlaubt einen kurzen Blick auf die Schreibszene des fiktiven Autor-Ich, das erklärtermaßen verschwunden sein wird, sobald das Manuskript – als Nachlass, Testament – das Licht der Welt erblickt.32 Der auctor der Botschaft nimmt so selbst phantasmatischen Charakter an: Er tritt dem Leser im Druck als Gespenst, das durch den ‚toten Buchstaben‘ hindurch zu ihm ‚spricht‘, gegenüber. Und der Leser selbst ist es, der dieses ‚Gespenst‘ im Akt der Lektüre wieder ‚heraufbeschwört‘. Das bedeutet zugleich, dass das erzählende Ich, das die Rolle des Aufklärers beansprucht, immer schon in jene geisterhafte Szenerie involviert ist, über die es „Aufschluß“ geben möchte. Was die Erlebnisse des Prinzen vor der Geisterbeschwörung betrifft, so stimmen sie ihn bereits atmosphärisch ein auf das, was ihn später erwartet. „Nehmen Sie sich in acht, Prinz“, sagt der berichtende Graf von O** zu seinem Bekannten während eines Glücksspiels, „wir sind in Venedig“ (DG, S. 50). Auch wenn Schiller im Unterschied zu Goethe die Stadt nie persönlich besuchen konnte und seine Informationen aus Büchern bezog, so bediente er sich doch gezielt der Mythen, die wir aus der Literaturgeschichte, von Lord Byron bis Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann, zur Genüge kennen: Auch im Geisterseher begegnet Venedig als Ort des Karnevals, der Dekadenz, der Auflösung, des Diabolischen und des Todes.33 Nicht zuletzt auch als Verkörperung des Labyrinthischen: Gestalten tauchen auf und verschwinden wieder, wie jene armenische „Maske“, die der Prinz und sein Begleiter zufällig am Markusplatz treffen. Sie raunt ihnen den rätselhaften Satz „Um neun Uhr ist er gestorben“ zu und löst sich anschließend gleichsam in Luft auf. Obwohl die beiden „alle Winkel des Markusplatzes“ durchforschen (DG, S. 47), finden sie
|| 32 Weissberg 1990, S. 105–110. 33 Auf das „profilo ‚satanico‘ di Venezia“ in der Literaturgeschichte und andere Mythologeme, etwa „Venezia mondana e dissoluta“ oder „demoniaca e ciarlatana“, verweist Cometa 1990, S. 154f.
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den Unbekannten nicht wieder. Als eine Woche später die Nachricht vom Tod des Cousins des Prinzen, des Thronfolgers, eintrifft („Vorigen Donnerstag. Abends um neun Uhr“, DG, S. 48), erscheint die Angelegenheit in einem umso unheimlicheren Licht. Nicht weniger unheimlich ist es den beiden zumute, als der Prinz in einem Kaffeehaus beim Glücksspiel von einem Venezianer Beleidigungen ertragen – und dann dessen grausame Bestrafung, die Enthauptung durch die Staatsinquisition, mit ansehen muss. „Ich habe hier einen verborgenen Aufseher in Venedig“, beginnt es dem Prinzen zu dämmern. Und wiederum scheint eine „unbekannte Maske, in armenischer Kleidung“ (DG, S. 51), ihre Hand im Spiel zu haben. Der Prinz, nach dem Schrecken der Hinrichtung einige Tage durch ein Fieber ans Bett gefesselt, schiebt, wie später Gustav Aschenbach, die Abreise aus der Lagunenstadt auf – und folgt dem Ratschlag seines Arztes, zur Erholung eine „Spazierfahrt auf der Brenta“ zu unternehmen (DG, S. 52). Auch wenn Landschaft und Gespräche die düstere Laune des Prinzen zeitweise aufzuheitern vermögen – schon wenig später beunruhigen den Rekonvaleszenten weitere Merkwürdigkeiten: Ein verlorener Schlüssel taucht unversehens in einer Lotterie-Bude wieder auf, und die ‚Königin‘ einer jugendlichen Tanztruppe wirft dem Prinzen urplötzlich ihre Krone mit dem Ruf „Ein König ist unter uns“ zu Füßen (DG, S. 53). Mehr und mehr beginnt der Prinz zu ahnen, dass er beobachtet wird, dass es sich bei alldem nicht um Zufälle handeln kann – und jenes Phänomen des bedrohlichen panoptischen Blicks kommt ins Spiel, das in Schillers Texten zwischen den Räubern und Don Carlos immer wieder begegnet.34 Der geheimnisvolle Satz, der Brief, der Schlüssel und der Tanz: All dies scheinen ‚Mittel‘ einer Strategie zu sein, die den Lebensweg des Prinzen zu irritieren, zu beeinflussen und auf ein unbekanntes Ziel hin zu steuern versucht.
4 Textanalyse II: Die Geisterbeschwörung und ihre multimediale Inszenierung Die Reisenden, zu denen unter anderem ein englischer Lord, livornesische Kaufleute, ein deutscher Domherr und ein russischer Offizier gehören, treffen schließlich in jenem „Lusthause“ ein, in dem das Abendessen auf sie wartet. Die Schlüsselgeschichte wird zum Anlass unterschiedlicher Spekulationen über „geheime Künste“ und Übernatürliches. Man kommt auf Geister zu sprechen – und ein zur Runde stoßender Sizilianer deutet an, dass er unter bestimmten Bedingungen durchaus in der || 34 „Eine höhere Gewalt verfolgt mich“, argwöhnt er. „Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muß den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben“ (DG, S. 54). Zum ‚panoptischen Blick‘ bei Schiller: Robert 2011, S. 123–159.
332 | Ulrich Johannes Beil Lage sei, einen solchen „herbei zu schaffen“ (DG, S. 55). Einen ersten Beweis seiner Kunst führt er dem Prinzen sogleich vor, indem er ihm einen Spiegel zeigt, auf dem eben jener verdächtige Armenier zu sehen ist. Der Prinz, von dem es heißt, es sei einst seine „Lieblingsschwärmerei“ gewesen, mit der „Geisterwelt in Verbindung zu stehen“, bevor die „reifere Vernunft“ solche Neigungen zurückgedrängt habe (DG, S. 56) – ausgerechnet der Prinz ist es nun, der den Magier dazu zu überreden versucht, „eine Probe seiner Kunst“ zu zeigen: „Lassen Sie mich eine Erscheinung sehen“ (DG, S. 56), bittet er ihn und beteuert, dass er dies in guter, „reinste[r]“ Absicht tue: „Ich will Wahrheit“ (DG, S. 57). Als der Magier endlich seine Bereitschaft zeigt, den Geist eines Toten herbeizurufen, entscheidet sich der Prinz für seinen Freund Marquis von Lanoy. Dieser habe ihm in der „Bataille bei Hastinbeck“, als er, schwerverwundet, schon im Sterben lag, ein „Geheimnis“ mitteilen wollen, „wozu niemand als ich den Schlüssel hat“ (DG,S. 58). Leider vergeblich, denn den entscheidenden Satz, so der Prinz, habe der Marquis nicht mehr zu Ende sprechen können: „ ‘ [...] In einem Kloster auf der flandrischen Grenze lebt eine – ‘ – hier verschied er. Die Hand des Todes zertrennte den Faden seiner Rede; ich möchte ihn hier haben und die Fortsetzung hören“ (DG, S. 58). Bemerkenswert an diesem Initiationsmoment für die Geisterbeschwörung ist, dass es sich um eine Aposiopese handelt. Diese wird im Zitiertwerden, in der Wiederholung durch Lanoys Freund, den Prinzen, produktiv, erzeugt Spannung, und wird dann vor allem zum Ort eines aufsehenerregenden Medienwechsels. An dieser zentralen Stelle rückt damit eine der Grundstrukturen des Romans, die man Abbruch/Fortsetzung nennen könnte, in den Blick: eine Struktur, die schon durch das Schreiben der Thalia-Folgen und dann vor allem durch die endgültige Aufgabe des ganzen Romanprojekts, seine Stillstellung als Fragment, im Text verankert wird.35 Der Medienwechsel tritt mithin an einer Bruchstelle des Textes in Erscheinung, an einem Punkt, an dem Dualismen des Geistersehers wie Mittel/Zweck, Geheimnis/Auflösung, Lücke/Schlüssel, Zufall/Notwendigkeit aufeinander prallen. Nun also zur Geisterbeschwörung selbst.36 Bisher benutzte Medien wie Spiegel, Schlüssel oder Bild treten in der Hintergrund und geben die Bühne frei für eine so aufwändige wie eindrucksvolle multimediale Inszenierung. Zu den Besonderheiten || 35 So betont auch Ursula Regener, dass der Text „bis in die Satzstrukturen hinein vom Prinzip des Unterbrechens und Fortsetzens geprägt“ sei: „Unterbrochene Gespräche, abgebrochene Sätze, hingeworfene Bemerkungen: der Erwartungen weckende Gedankenstrich beherrscht das Druckbild vor allem des ersten Buches“: Regener 1992, S. 126. 36 Zu den technischen, medialen und poetologischen Aspekten der Beschwörungsszene s. vor allem: Weizmann 1926; Weissberg 1990, S. 111–113; Kittler 1994; Bartels 1996; Schmitz-Emans 1996; Mergenthaler 2002, S. 19–100; Andriopoulos 2008; Robert 2011, S. 176–181. Weizmann versucht durch Stellenvergleich glaubhaft zu machen, dass eine Vorlage für Schiller eine frühe Ausgabe des Buches Onomatologia curiosa, artificiosa et magica oder Gantz natürliches Zauberlexicon (Wiegleb 1784) gewesen sein könnte; die Parallelen sind in der Tat überzeugend (Weizmann 1926, S. 178– 184).
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dieser Performance gehört, dass sie Elemente denkbar unterschiedlicher Aufführungstypen aufgreift und übereinander blendet. Hier sind Theater und Drama ebenso zu nennen wie archaische oder freimaurerische Rituale,37 die spiritistische Séance ebenso wie, auch und vor allem, die römisch-katholische Messliturgie.38 Man hat es mit einer Art Medien-Gesamtkunstwerk zu tun, zumal sich die Organisatoren nicht nur optischer oder akustischer Sinnesreize bedienen, sondern auch den Geruchsund Tastsinn sowie das Atmosphärische gezielt mit einbeziehen. Die Synästhesie wird dabei jedoch als Einheitserlebnis nur vorgetäuscht; de facto liegen ihr völlig heterogene Medien- und „Wahrnehmungsbausteine“ zugrunde, die effektvoll koordiniert werden.39 An ein Gesamtkunstwerk lässt darüber hinaus die Tatsache denken, dass der kleine Kreis von einem knappen Dutzend Personen das Geschehen nicht aus sicherer Distanz verfolgt, sondern selbst aktiv daran teilnimmt.40 Als die Interessenten lediglich in Unterwäsche, wie es vom Magier gefordert ist, wieder in den Saal treten, finden sie auf dem Boden mit „Kohle einen weiten Kreis beschrieben“. Damit ist der magisch-sakrale Bezirk abgesteckt, in dem die Séance, streng getrennt von der Alltagswelt, stattfinden soll wie „auf einer Insel“ (DG, S. 60); die vier Himmelsrichtungen, die später erwähnt werden, verstärken den Eindruck einer „rituelle[n] Konstruktion des Raumes“.41 Wenn nun weiterhin der „Altar“ – auf einem roten „Teppich“ – erwähnt wird, eine dort aufgeschlagene „Bibel“ und ein „silbernes Kruzifix“, wenn darüber hinaus von „Rauch von Olibanum“ die Rede ist, der das „Licht beinahe erstickte“ (DG, S. 60), so ist man versucht, an die katholische Altar-Mensa und die entsprechende Eucharistiefeier zu denken. Aber es finden sich bedeutsame Unterschiede. Diese weisen eher in Richtung eines mysteriösen Kults: Die Bibel wird als „chaldäische“ bezeichnet, als eine Schrift der legendären antiken Sterndeuter und Magier.42 Daneben findet sich der || 37 Ernst 1995, S. 145. Ernst nennt die Veranstaltung „eine zum Zweck der Totenbeschwörung veranstaltete Séance, bei der die rituelle Funktion des Kreises sowie der Drei- und Vierzahl unverkennbar ist“. 38 Der Aktionskünstler Hermann Nitsch hat die römische Messe einmal als „größtes Gesamtkunstwerk aller Zeiten“ bezeichnet: „im theater der kirche liessen architektur skulptur malerei und musik ein gesamtkunstwerk entstehen [...]. tatsächlich entspricht das drama der messe allen anforderungen modernsten theaters. Nichts wird gespielt alles ereignet sich tatsächlich“ (Nitsch 1990, S. 155f.). 39 Diesen Aspekt betont Mergenthaler 2002, S. 68f. Man darf sich hierbei auch an Athanasius Kircher erinnern, in dessen Medienästhetik die „Zertrümmerung sämtlicher Einheiten auf der Zeichenebene und ihre Rekombination durch Projektionsanordnungen“ eine wichtige Rolle spielt (Bartels 1996, S. 130). 40 Hierin entspricht der Text sogar der katholischen Liturgiereform nach dem Zweiten Vaticanum, die auf die griechische Wortbedeutung von ‚Liturgie‘ (von laós, Volk, und érgon, Werk) zurückgeht und in der betont wird: „Liturgie ist kein isoliertes Handeln des Priesters, sondern gemeinsames Handeln des Volkes Gottes [...]“ (Schmidt-Lauber 2003, S. 27). 41 Eliade 1957, S. 28. 42 Die Chaldäer – bekannt als Astrologen, Magier, Nekromanten – galten in der Antike als erfahrene Esoteriker und tauchten als solche bereits im alttestamentlichen Buch Daniel auf. Die sog. Chal-
334 | Ulrich Johannes Beil bei Hermetikern und Okkultisten beliebte „Totenkopf“, der ein Memento mori ganz eigener Art vermuten lässt, und statt der „Kerzen“ brennt ein nicht ganz so heiliger Geist, nämlich „Spiritus in einer silbernen Kapsel“ (DG, S. 60). Die Differenzen werden noch sinnfälliger, wenn man den „Beschwörer“ betrachtet. Halbnackt und barfüßig tritt der Zelebrant vor seine Zuhörer hin und bittet sie, sich bei den Händen zu fassen. Mit dem „Amulett“, das an einer „Kette von Menschenhaaren“ um seinen Hals hängt, ähnelt er eher einem Schamanen als einem Priester.43 Auf seiner „weißen Schürze“ – die an den Freimaurerschurz erinnert44 – zeichnen sich zudem „geheime[] Chiffern“ und „symbolische[] Figuren“ ab (DG, S. 60). Und doch gleicht er wiederum einem Geistlichen, wenn er „Weihwasser nach allen vier Weltgegenden“ sprengt, sich „dreimal gegen die Bibel verneigt“ und dabei unverständliche Worte murmelt (DG, S. 60). Aber der Schein trügt. Denn jetzt nimmt diese ohnehin stark verfremdete Eucharistiefeier geradezu blasphemische Züge an. Fordert der Zelebrant doch die am nächsten Stehenden zu höchst seltsamem Tun auf, nämlich, ihn fest „bei den Haaren“ zu fassen. Danach ruft er, statt die Wandlung zu vollziehen, „unter den heftigsten Zuckungen“ den „Verstorbenen dreimal mit Namen“ und streckt die Hand „nach dem Kruzifixe“ aus. Was dann folgt, lässt sich nur zitieren: Auf einmal empfanden wir alle zugleich einen Streich wie vom Blitze, daß unsere Hände auseinanderflogen; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte das Haus, alle Schlösser klangen, alle Türen schlugen zusammen, der Deckel an der Kapsel fiel zu, das Licht löschte aus, und an der entgegenstehenden Wand über dem Kamine zeigte sich eine menschliche Figur, in blutigem Hemde, bleich und mit dem Gesicht eines Sterbenden. „Wer ruft mich?“ sagte eine hohle, kaum hörbare Stimme. „Dein Freund,“ antwortete der Beschwörer, „der dein Andenken ehret und für deine Seele betet,“ zugleich nannte er den Namen des Prinzen. Die Antworten erfolgten immer nach einem sehr großen Zwischenraum. „Was verlangt er?“ fuhr die Stimme fort. „Dein Bekenntnis will er zu Ende hören, das du in dieser Welt angefangen und nicht beschlossen hast.“ „In einem Kloster auf der flandrischen Grenze lebt – – –“ (DG, S. 61)
Die ‚Transsubstantiation‘, die, flankiert von unterschiedlichen Schauereffekten, in dieser pervertierten Liturgie vollzogen wird, ist offenkundig die eines Toten in einen
|| däischen Orakel, „one of the most tantalizingly obscure of ancient Greek texts“ (Dodds 1978, S. 693), die im Umfeld von Gnosis und Hermetismus entstanden, wurden noch von den Neuplatonikern ehrfürchtig zitiert (Stausberg 1998, S. 44–55). 43 Haare spielen im Übrigen in vielen überlieferten Initiationsriten eine Rolle; sie erwiesen sich in alten Kulturen immer wieder als Sitz einer die Sterblichkeit des Körpers übersteigenden „Lebenskraft“, als Symbol auch des „Kreislaufes von Leben und Tod“: Tiedemann 2007, S. 78; 105. 44 Der Freimaurerschurz kann aus Leder oder Leinen sein, die Farbe Weiß verweist auf den „ethischen Anspruch des Mitglieds“, und es sind zahlreiche Symbole darauf eingestickt (Hammelmann 2010, S. 51).
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Untoten, einer Leiche in einen Geist.45 Christlich-katholische Motive wie Andenken, Auferstehung, Kommunion und Vergegenwärtigung kehren in dieser Performance wieder, aber zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch der – im Rahmen der Gegenreformation aufgewertete – Begriff der ‚Realpräsenz‘ erfährt eine ungeahnte szenische Übersetzung. Schiller erweist sich jedenfalls bereits in dieser frühen gothic novel als ein Meister des Genres, wenn er die zum Äußersten gesteigerte Spannung noch einmal zu steigern in der Lage ist. Dies dadurch, dass er genau an jener Bruchstelle ansetzt, die den Medienwechsel herbeiführte, dass er die Aposiopese von zuvor zitiert und sie ein weiteres Mal als Umschlagpunkt der Handlung nutzt. Auf das Satzfragment „In einem Kloster auf der flandrischen Grenze lebt – – – “ folgt wiederum keine sachliche Ergänzung, sondern ein Ereignis: „Hier erzitterte das Haus von neuem“ (DG, S. 61). An die Stelle der im Halbdunkel wabernden Erscheinung tritt nun, nach neuerlichem Donnerschlag und bei heller Beleuchtung, ein weiterer Geist, und zwar, wie betont wird, als „körperliche Gestalt“. Worauf die erste Erscheinung nicht mehr zu sehen ist (DG, S. 61). Die zweite verwirrt und erschreckt den Magier, er weicht zurück, versucht, sich ihrer per Pistolenschuss zu entledigen – ohne Erfolg. Stattdessen wird er seinerseits von einem Ohnmachtsanfall niedergestreckt. Der Prinz hingegen bleibt gelassen. „[F]urchtlos und ruhig“ wie ein Wissenschaftler wendet er sich der zweiten Erscheinung zu (DG, S. 62), zumal er seinen verstorbenen Freund wiederzuerkennen glaubt, und führt ein Gespräch mit ihr. Dabei erfährt er endlich die ersehnte Lösung des Rätsels: In dem fraglichen „Kloster auf der flandrischen Grenze“ lebe die Tochter Lanoys, wird ihm mitgeteilt, und: er solle an sich selber denken. „In Rom“ werde er Genaueres dazu hören. Mit einem Donnerschlag endet der Spuk. Die Gestalt verschwindet. „Es war Morgen“ (DG, S. 62).
|| 45 Von dem Hallenser Professor Johann Peter Eberhard wird Ende der 1770er Jahre eine zeittypische Geisterbeschwörung (eventuell nach Schröpfer) beschrieben, die in vielen Punkten Schillers Darstellung ähnelt, so dass eine Art Modell dieser okkultistischen Veranstaltungen erkennbar wird. Dort heißt es u.a.: „Der angebliche Magus führt die Gesellschaft in ein Zimmer, dessen Boden mit schwarzem Tuch belegt ist. In diesem Zimmer steht ein schwarz angestrichener Altar, auf welchem 2 Lichter stehen und etwan ein Todtenkopf oder etwas dergleichen liegt. Er macht an der Erde um den Altar einen Kreis und bittet die Zuschauer, bei leibe nicht über den Kreis zu schreiten. Nun fängt er seine Beschwörung an und räuchert mit magischem Rauchwerk. Auf einmal verlöschen die Lichter von selbst, es entsteht ein heftiges Gepolter, wovon das ganze Zimmer erschüttert wird. In dem Augenblick erscheint der Geist, welcher über dem Altar in der Luft schwebt und in beständiger Bewegung ist. [...] Nun legt der Magier dem Geist allerlei Fragen vor, die er mit einer rauhen, fürchterlichen Stimme beantwortet. Auf einmal entsteht ein neues Gepolter, wodurch das Zimmer erschüttert wird, und der Geist verschwindet“ (Eberhard 1778, S. 75f.). Auf diesen Text verweist DG [Kommentarteil], S. 445, allerdings ohne jede Quellenangabe.
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5 Textanalyse III: Etappen der Aufklärung Im Anschluss an diese merkwürdig gespaltene Inszenierung folgen nun verschiedene Etappen der Aufklärung des Vorfalls. Bezeichnend ist, dass dieser Prozess bereits im Rahmen der Geisterbeschwörung selbst beginnt. Darf man doch davon ausgehen, dass die Unterbrechung während der Performance, die Ersetzung des einen Geistes durch einen anderen, selbst schon eine subtile Form von Aufklärung darstellt: Die zweite Erscheinung entlarvt die erste als Gauklertrick und präsentiert sich selbst als die echte und eigentliche. Damit findet sich die genannte Struktur Abbruch/Fortsetzung als zentraler Angelpunkt der Szene, deren erster Teil (mit erstem Geist) selbst zu einem Fragment wird, das der Vervollständigung (durch den zweiten Geist) bedarf. Der Begriff der „Grenze“ in dem Redefragment des Toten lässt sich damit metareflexiv lesen: Denn der Satz selbst markiert eine Grenze – zwischen Unwissen/Wissen, Geheimnis/Aufklärung, Leben/Tod. Die nun folgenden Versuche, das rätselhafte Geschehen aufzuklären, belegen Schritt für Schritt, dass es sich bei den Erscheinungen nicht um übernatürliche Phänomene, sondern um Teile einer Inszenierung gehandelt hat: um ein genau geplantes, artifizielles Geschehen, das eine Vielzahl menschlicher, technischer und medialer Hilfestellungen benötigte. Nimmt man die Degradierung des ersten Geistes mit hinzu, so handelt es sich um insgesamt vier Etappen, die Licht ins Dunkel bringen sollen. (1) Die erste Etappe wird sowohl durch den zweiten Geist markiert als auch durch den bislang unauffälligen russischen Offizier, der den aus seiner Betäubung erwachten Beschwörer des ersten Geistes mit den Worten anherrscht: „Taschenspieler [...], du wirst keinen Geist mehr rufen“ (DG, S. 62). Damit ist der Sizilianer als falscher Magier und sein Gespenst als Schwindeleffekt enttarnt; mit einem „lauten Schrei“ stürzt er denn auch zu „Füßen“ des Offiziers. Erst in diesem Moment dämmert dem Prinzen, mit wem er es hier zu tun haben könnte – er entdeckt in dem Offizier „die Züge seines Armeniers“ (DG, S. 62). In der allgemeinen Verwirrung, als Gerichtsdiener die Lage sondieren und den Sizilianer wie den Wirt, seinen Komplizen, gefangen nehmen, verliert er den Armenier, ohne dass er ihn angesprochen hätte, jedoch aus den Augen. (2) Wieder angekleidet, inspizieren der Prinz und der Erzähler von O** die von der Hausdurchsuchung offen gelegte Bühne des Geschehens: die zweite Etappe der Aufklärung. Das, was sie sehen, lässt an dem betrügerischen Charakter des Erlebten nicht mehr den geringsten Zweifel: So kommt unter dem Saal ein geräumiges Gewölbe zum Vorschein, „worin ein Mensch aufrecht sitzen konnte“. Weiter stoßen sie auf eine „Elektrisiermaschine, eine Uhr und eine kleine silberne Glocke“, technische Gerätschaften, von denen es heißt, sie hätten „mit dem Altar und dem darauf befestigten Kruzifixe Kommunikation“ gehabt (DG, S. 64). In einem Fenster entdecken sie zudem eine Vorrichtung für die Installation einer Laterna magica. Darüber hinaus spüren sie diverse Utensilien wie „Trommeln“ und „bleierne Kugeln“ auf,
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auch „verschiedene Pulver“ wie „Merkur“ oder „Phosphorus“,46 sowie einen magnetischen „Ring“, ein „Paternoster, einen Judenbart, Terzerole und einen Dolch“ (DG, S. 65). Kurz: man bekommt einen Großteil der technischen Hardware, die an dem Spuk beteiligt war, zu Gesicht. Aus dem Kamin des Hauses fällt zu beider Überraschung noch ein Verwundeter, ein Barfüßer-Mönch, wie sich herausstellt, der gegen ein bescheidenes Honorar der (ersten) Erscheinung seine Stimme leihen sollte.47 (3) Aber auch diese zweite Etappe der Aufklärung lässt noch genügend Fragen offen. Einige davon werden in einem dritten Schritt, dem ausführlichen Gespräch der Protagonisten mit dem inzwischen inhaftierten Sizilianer, beantwortet. Er, der in einem Privatgefängnis einsitzt, liefert nun manche (mehr oder weniger zuverlässige) Hintergrundinformationen.48 So setzt er den Prinzen nicht nur über den verlorenen Schlüssel und andere Tricks ins Bild, er legt auch und vor allem Teile jener Strategie offen, die die Gruppe an jenem Abend in den Bann der Geisterbeschwörung zog. Zur Sprache kommen insbesondere Details über den Einsatz der Zauberlaterne, es wird erklärt, wie der Sizilianer über ein Emaillebildchen, das der Prinz auf dem Tisch liegen hatte, eine Vorstellung vom Aussehen des toten Freundes gewann; wie er das Gesicht heimlich mit der Hand skizzierte und bei der Laterna magicaVorführung einsetzte – wodurch der Ähnlichkeitseffekt des Geistes mit dem Toten hervorgerufen worden sei. Und es wird unter anderem erläutert, wie die Bewegung des Gespensts durch beleuchteten „Rauch“ zustande kam (DG, S. 71). Was den Prinzen besonders interessiert, ist schließlich die Frage, wie es kam, dass die Versammlung im Moment der Erscheinung des Geistes einen „elektrischen Schlag“ erhielt. Wie der Sizilianer erläutert, hätten die Elektrisiermaschine einerseits, der manuelle Kontakt der Teilnehmer wie der Kontakt der Nächststehenden mit seinem Haar andererseits in eben dem Augenblick zu einem „Schlag“ geführt, als er das Kruzifix mit der Hand berührte: Dieses habe als „Konduktor“ in diesem zirkulären Prozess funktioniert (DG, S. 72).49 Den Höhepunkt dieser dritten Aufklärungsetappe bilden aber die für den Prinzen so faszinierenden wie dubiosen Ausführungen des Sizilianers über den russischen Offizier, alias den ‚Armenier‘. Diesen schildert er als eine Art Übermenschen, || 46 In der Alchemie wurde Quecksilber als „Merkur“ bezeichnet, und Phosphor diente bei Schröpfer und Cagliostro der Lebensverlängerung (vgl. DG [Kommentarteil], S. 446). 47 In einem kurzen Gespräch mit dem Anführer der Gerichtsbeamten findet der Prinz schließlich noch heraus, dass der russische Offizier, der ihn und seinen Begleiter vor dem Zugriff der Staatsmacht gerettet hat, sich als „Offizier der Staatsinquisition“ legitimiert habe. Dessen „Denunziation“ habe im Übrigen, so der Häscher, zur Verhaftung des „Geisterbeschwörer[s]“ geführt (DG , S. 66f.). 48 Der Sizilianer erweist sich alsbald als ein alter Ego des Erzählers, des Grafen, dem er mit seinen Motiven, seinem Authentizitätsanspruch und offenkundigen Unzuverlässigkeiten ähnelt – so dass die Binnenerzählung in manchen Aspekten die Rahmenerzählung zu spiegeln scheint. Hierzu vor allem Mergenthaler 2002, S. 82–100. 49 Auf die medialitätsgeschichtlichen Implikationen dieser Verbindung werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.
338 | Ulrich Johannes Beil eine schlechthin unfassbare Gestalt, die man, weil sie die „Masken“ sämtlicher „Stände, Charaktere und Nationen“ getragen habe, auch den „Unergründlichen“ nenne (DG, S. 74). Einzelheiten dieser Beschreibung erinnern an Gerüchte, die von Cagliostro kolportiert wurden; Schiller geht auf manche von ihnen in den Nachrichten zum Nutzen und Vergnügen bereits 1781 ein.50 Unfassbar scheint die Gestalt auch im Sinne einer konkreten persönlichen Kontur zu sein: Denn für dieses unheimliche Wesen, das alle erdenklichen Superlative auf sich vereinigt, das, alterslos wie ein Heiliger oder ein Untoter,51 plötzlich auftaucht und wieder verschwindet, gelten die Grenzen von Zeit und Raum offenbar ebenso wenig wie die menschlichen Grundbedürfnisse von Nahrung, Schlaf und Sexualität.52 Mit seiner Unverwundbarkeit scheint er darüber hinaus, wie Andriopoulos zu Recht betont, geradezu die Verkörperung jener Immunität zu sein, die auch Institutionen wie den Jesuitismus oder die Katholische Kirche auszeichnet.53 (4) Eben diese Figur, in der der Prinz einen oder den Drahtzieher hinter den merkwürdigen Vorgängen um seine Person in Venedig vermutet, spielt dann auch eine wichtige Rolle in der vierten und letzten Aufklärungsetappe. Diese schließt sich an die vom Sizilianer vorgetragene tragische Erzählung von Lorenzo und Jeronymo an, in der, ähnlich wie in der venezianischen Beschwörung, zwei unterschiedliche Geister auftreten: zunächst der vom Sizilianer inszenierte und später ein anderer, authentischer wirkender, der das schreckliche Geheimnis des Todes von Jeronymo – sein Bruder Lorenzo wird aus Liebe zu dessen Braut Antonia zum Mörder – aufdeckt. Wiederum scheint der geheimnisvolle Armenier hinter der zweiten Erscheinung zu stecken. Was die letzte Etappe des Aufklärungsprozesses betrifft, so findet sie auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene statt. Wenn der Prinz in einer Art platonischem Dialog mit seinem gräflichen Begleiter nunmehr Folgerungen aus den alles andere als ‚übernatürlichen‘ Ereignissen zu ziehen und das Geschehen im Kontext zu analysieren versucht, so befriedigt er damit nicht nur seine persönliche Neugier, sondern erweist sich auch als ein hellwacher Kopf mit anthropologischen und philosophischen Ambitionen – als ein Vorläufer des Feldforschers vom Typ Edward Tylers.54 So zählt der Prinz zunächst eine Reihe von Verdachtsmomenten || 50 Mayer 1996, S. 211. 51 Er vereinige „attributs of certain catholic saints“, betont Hart 2011, S. 248. 52 Für den Armenier gelten Superlative im positiven wie im negativen Sinn, denkt man an das Vorbild Cagliostro: „Schiller zollt nicht nur dem Meisterverbrecher Respekt, er bewundert auch den Virtuosen der sozialen Permissivität, der sich unauffällig in den Kreisen der europäischen Hocharistokratie bewegt“ und sich damit dem labilen Spross des Hochadels, dem Prinzen, als deutlich überlegen erweist (Brittnacher 2006, S. 362). 53 Andriopoulos 2008, S. 73: „[I]n the same manner as the indestructible body of the Armenian cannot be wounded by a sword and does not age, corporate bodies such as the Catholic Church or the Jesuit order do not die a natural death.“ 54 Schüttpelz 2012. Tyler besuchte knapp ein Jahrhundert später spiritistische Séancen in London und fiel, trotz seiner dezidiert aufklärerischen Haltung, selbst zeitweise in eine Trance.
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auf, die die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Sizilianers in Zweifel ziehen, er benennt Inkonsistenzen in seinen Ausführungen und entwickelt Hypothesen über das nach wie vor rätselhafte zweite Gespenst. Dabei präsentiert er sich gegenüber seinem Gesprächspartner, der am „Unerklärbare[n]“ der Vorgänge festhält (DG, S. 93), als der weit konsequentere, mit den Wahrscheinlichkeitstheoremen seit Leibniz offenbar nicht völlig unvertraute Aufklärer:55 „Wollen Sie lieber ein Wunder glauben, als eine Unwahrscheinlichkeit zugeben? Lieber die Kräfte der Natur umstürzen, als eine künstliche und weniger gewöhnliche Kombination dieser Kräfte sich gefallen lassen?“ (DG, S. 95) Statt dem Sizilianer und dem Armenier ihre Rollen als Kontrahenten abzunehmen, plädiert er schließlich für die Vermutung, „daß beide [...] miteinander unter einer Decke liegen“ (DG, S. 95), dass ersterer nur die „Puppe“ sei, während letzterer ihn „unbeobachtet und unverdächtig, mit unsichtbaren Seilen“ umwinde (DG, S. 96). Von daher sei es nur plausibel, die Dramatik der beiden Erscheinungen als Teile eines „Gaukelspiels“ aufzufassen, als Momente einer einzigen Strategie im großen Spiel um seine Person (DG, S. 95).56 Bis zum Abbruch des Romanfragments, das Philosophische Gespräch eingeschlossen, führen diese gestaffelten Aufklärungsversuche nicht zu einer endgültigen Klärung der in Frage stehenden Ereignisse, insbesondere auch des zweiten Gespensts. In die jeweiligen Er- und Aufklärungen mischen sich immer von neuem Unsicherheiten, Ambiguitäten, Paradoxien. Jede Erklärung, jede vermeintliche Auflösung kann sich im nächsten Moment schon als Täuschung entpuppen. 57 Die übernatürliche Instanz, die die Fäden zieht, mag zusehends von einer wörtlichen auf eine figurative Ebene wechseln, sie agiert aber, ohne dass ihre Pläne offengelegt würden, bis zum Ende.58 Mit anderen Worten: Die Sehnsucht des Prinzen, den Regeln des Spiels, das um seine Person gespielt wird, auf die Schliche zu kommen, bleibt trotz vielfacher Anstrengungen unerfüllt.
6 Technische Medien und göttliche Medien Es mag verführerisch sein, diese immer von neuem unternommenen und doch zu keinem Ergebnis kommenden Versuche einer Aufklärung der merkwürdigen Bege|| 55 Campe 2002, S. 159–187 (zu Leibniz); auf Schiller geht Campe in seinem Buch leider nicht ein. Der Geisterseher böte jedenfalls reichlich Material für eine Spiel- und Wahrscheinlichkeitsanalyse. 56 Von einem „game and its designers“ spricht in diesem Zusammenhang Hart 2011, S. 251. 57 Weissberg 1990, S. 107: „Jedes Schauspiel ist damit Auslöser einer Suche nach Aufklärung, die an Selbständigkeit gewinnt, ohne ihr Ziel völlig zu erreichen.“ Vgl. auch Schmitz-Emans 1996, S. 42: „Vielmehr ist im Geisterseher jede Enthüllung, jeder aufklärende Schritt nur wieder das Vorspiel zu einer neuen Mystifikation [...]“. 58 So Andriopoulos 2008, S. 71: „Once the Sicilian is revealed as an impostor, the tropes of supernatural agency shift from a literal to a figurative level, but they remain ever present in this text [...]“.
340 | Ulrich Johannes Beil benheiten um den Prinzen in Venedig als eine Art Derridasche différance avant la lettre zu lesen – als eine den Text zugleich vorantreibende, aber keine definitive Lösung in Aussicht stellende Kette von Aufschüben.59 Diese tatsächlich zu beobachtende Staffelung von Teilerklärungen bezieht die ursprünglich mysteriösen und zunächst voneinander isolierten Signifikanten auf immer neue Signifikatmöglichkeiten und Sinnkonstruktionen, ohne dass dieser Prozess, der zweifellos Spannung erzeugt, zu einem befriedigenden Abschluss käme. Es scheint, als sei „Aufklärung als Destruktion des falschen Scheins selbst eine Illusion“, als kehre das „Pathos der Wahrheit sich gegen sich selbst“.60 Man kann natürlich darüber spekulieren, aus welchen Gründen Schiller sich, trotz mehrfacher Versuche, den Text als ‚ganzen‘ zu veröffentlichen, mit diesen Spiegeleffekten und Verzögerungen begnügte; wieso er sich letztlich weigerte, die vom Publikum so dringlich erwartete Aufklärung zu liefern.61 Man kann aber auch, über die offensichtlichen Suspense-Effekte dieser Struktur Abbruch/Fortsetzung hinaus, noch einmal an die Affinitäten des Geistersehers mit Kants Träume-Schrift erinnern, an eine hier wie dort beobachtbare philosophischanthropologische Fragestellung, die zugleich die Frage nach der Funktion des Mittels und des Medialen impliziert. Wie wir gesehen haben, nimmt der Prinz selbst im Gespräch mit dem berichtenden Grafen streckenweise eine solche epistemologische Perspektive ein: Die rätselhaften Erscheinungen werden auf einer höheren Stufe interpretiert, jedoch nur, damit die Deutung sich schon wenig später ihrerseits als Rätsel entpuppt. Mit anderen, auf Kant bezogenen Worten: An dasjenige, was sich hinter den ‚Erscheinungen‘ verbirgt und was Kant später in seiner kritischen Phase das ‚Ding an sich‘ nennen wird, kann man sich zwar schrittweise mit dem Verstand und mit den Sinnen annähern, aber letztlich entzieht es sich. Auch wenn die Erscheinungen nicht als das (änigmatische, wunderbare, übernatürliche) ‚Ding‘ hingenommen werden, das sie zu sein vorgeben, auch wenn man sie schon bald als Teil eines Kalküls dechiffriert, so bleibt doch das, was sie ‚eigentlich’ sind, wozu sie ‚eigentlich‘ dienen, im Verborgenen. Die Täuschungen, denen der Prinz auf die Spur zu kommen sucht, betreffen mithin über die Techniken der Illusionserzeugung hinaus auch den menschlichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsapparat: Wie, so fragt er sich, wenn es dem mysteriösen Strategen gelungen ist, „meine Wachsamkeit nach einer entgegengesetzten Richtung zu lenken [...]?“ (DG, S. 96f.) Wie, wenn er seine „Aufmerksamkeit“ gezielt auf etwas fokussierte, sie aber, sobald es darauf ankam, „einschlummern“ ließ (DG, S. 95f.)? Schon bei Kant führte die schwierige bis unmögliche Aufgabe, die Erscheinungen zu dechiffrieren, zu einer Konzentrati|| 59 In diese Richtung geht Weissberg 1990, S. 109f., wenn sie in Schillers Text einen Zeichenbegriff herausarbeitet, der die „Progression und die Lesbarkeit des Zeichens selbst in Frage“ stellt. 60 Schmitz-Emans 1996, S. 41f. 61 Versuche hierzu gibt es verschiedene, u.a.: Oesterle 1992, der Schiller erst später in der Lage sieht, die philosophisch-ästhetischen Probleme des Prinzen zu lösen.
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on auf die komplexen medialen Verhältnisse, in denen sie sich zu erkennen geben, und hier spielen nicht nur technische, sondern auch anthropologische Aspekte (Physiologie, Psychologie, Wahrnehmungstheorie) eine Rolle. An dieser Stelle bietet es sich an, das Gleichnis mit den schwarzen Decken aus dem Zweiten Buch – das fast wortgleich auch im Philosophischen Gespräch wiederkehrt (DG, S. 166f.) – einzubeziehen, zumal seine metareflexiven Züge kaum zu übersehen sind.62 Dieses Gleichnis hievt die angesprochene Problematik auf eine ontologische Ebene: „Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemalt, lachender oder finstrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspektive. Auch manche Gaukler nützten diese allgemeine Neugier und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen. Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke; keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles, was man hörte, war ein hohler Widerschall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde [...]“ „Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern, nicht hinter diese Decke blicken zu wollen – und das Weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen. [...] Das, was Sie den Zweck meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. Ich kann mich ihm nicht entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen; ich weiß aber und glaube fest, daß ich einen solchen Zweck erfüllen muß und erfülle. Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein – er hat nichts als seinen Botenlohn dabei zu verdienen.“ (DG, S. 124f).
Welche wichtige Rolle diese Allegorie auf die „Blindheit des Menschen hinsichtlich der Zwecke seines Daseins“63 für die Schillersche Poetik zwischen dem KünstlerGedicht, den Kallias-Briefen und den Briefen über die ästhetische Erziehung spielt,
|| 62 Es verdient Erwähnung, dass der Erfinder der Phantasmagorie, Étienne Gaspard Robertson, seine Inszenierungen mit deutlichen Anspielungen auf Schillers Decken-Gleichnis einzuleiten pflegte: „Les expériences qui vont se passer sous vos yeux doivent intéresser la philosophie; elle peut voir ici les égarements de l’esprit humain, et cette histoire vaut bien celle de la politique de quelques nations. Les deux grandes époques de l’homme sont son entrée à la vie et son départ. Tout ce qui lui arrive peut être considéré comme placé entre deux voiles noirs et impénétrables qui recouvrent ces deux époques, et que personne n’a encore soulevés. Des milliers de générations sont là debout devant ces voiles noirs, des torches à la main, et s’efforçant de deviner ce qui peut se trouver de l’autre côté […].“ In: Robertson 1985, S. 163; zit. bei Sauvage 2004, S. 7; vgl. zu diesem Zusammenhang auch Bartels 1996, S. 144–146. 63 Weissberg 1990, S. 116f.
342 | Ulrich Johannes Beil wurde verschiedentlich aufgezeigt.64 In unserem Zusammenhang sind folgende Aspekte hervorzuheben. Zum ersten ist unverkennbar, dass hier auf das Höhlengleichnis aus Platons Politeia angespielt wird: einen Text, in dem seinerseits zwischen einer medialen Situation (der Täuschung) und einer transmedialen Situation (der Erkenntnis der Wahrheit) unterschieden und eine Reihe von noetischen Stufungen eingeführt wird, die aus der Diktatur des Medialen – den Schillerschen Aufklärungsphasen vergleichbar – herausführen sollen.65 Zum zweiten fällt aus der Perspektive des Decken-Gleichnisses noch einmal Licht auf die das Buch durchziehenden Dualismen: Da man den Zweck aus Sicht des Prinzen nicht ergründen kann, liegt es nahe, sich auf das, was am ehesten verfügbar ist, nämlich die Mittel, zu konzentrieren. Diese Fokussierung auf die Mittel erscheint im Gleichnis bezeichnenderweise als eine Fokussierung auf Medien: Das heißt, zum dritten, dass die beiden schwarzen Decken in einem abgeschlossenen Raum mit diffuser Lichtquelle als eine Art Schauplatz (des Lebens) fungieren, eine Bühne, in der die Decke nicht nur die „Grenze“ zwischen den Bereichen (Abbruch/Fortsetzung, Mittel/Zweck, Leben/Tod) markiert, sondern auch und vor allem eine Projektionsfläche für mediale Inszenierungen darstellt: Mit der Projektion von „Schatten“ wird noch einmal unverkennbar sowohl auf Platons Höhlenkino wie auf die venezianische Séance angespielt, wobei die Zuschauer die bewegten „Gestalten ihrer Leidenschaft“ staunend verfolgen. Aber nicht nur als protokinematographische Projektionsfläche, auch als Leinwand für bildende Künstler funktioniert die Decke, wenn es heißt, dass „Dichter, Philosophen und Staatenstifter“ sie mit ihren „Träumen bemalt“ hätten (DG, S. 124). Darüber hinaus lässt sie sich auch als Kulisse für „Gaukler“ nutzen, also für Theateraufführungen, Tänze, Pantomimen (DG, S. 124). Es erscheint dann nur konsequent, wenn der Prinz auf eine Erkundung der ‚Zwecke‘ verzichtet und sich selbst lieber als mehr oder weniger bewusstlosen Teil eines medialen Transfers schildert, deren Auftraggeber unsichtbar bleibt. Vergleicht er sich doch mit einem „Boten“, „der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt“, ohne sich für den Inhalt seiner ‚Botschaft‘ zu interessieren (DG, S. 125): als komme es nur auf das Mittel an, auf das Medium selbst. Der Prinz als Übertragungsmaschine. The medium is the message. Über diese Beobachtungen hinaus fällt auf, dass Schiller seine metareflexive Bühne nicht nur mit medial bedeutsamen, sondern auch mit unheimlichen, ‚gotischen‘ Elementen ausstattet: Die Decken sind „schwarz[]“ und „undurchdringlich[]“, man bekommt in flackerndem Licht außer „Schatten“ und Bildern „seltsame || 64 Die „Grundlage“ für Schillers Ästhetik der Perspektivierung und der Projektion werde, so Robert, „im Geisterseher bereitet. Was in den ästhetischen Abhandlungen nur mehr als Metapher und Gedächtnisspur assoziiert wird, erscheint hier noch in seiner Ambivalenz zwischen technischer Konkretion (Séance in Buch I) und allegorischer Dechiffrierung (Buch II)“ (Robert 2011, S. 190–206, hier S. 201). Zu den Briefen über ästhetische Erziehung vgl. Beil 2005. 65 Zur Medialität in Platons Höhlengleichnis s. neuerdings: Kiening / Beil 2012, S. 55–76.
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Vermummungen“ zu sehen, eine „tiefe Stille“ lauert hinter der Decken-Kulisse, von der das eigene Echo wie aus einer „Gruft“ ertönt. Die Zuschauer, so wird gesagt, reagieren „schaudernd“ auf die Projektionen ihrer emotionalen Vorgänge, und „mit Schaudern“ fasst das imaginäre Publikum der Allegorie auch die „Decken“ an, die ihren Lebens- und Erfahrungsraum so unwiderruflich begrenzen (DG, S. 124f.). Blickt man von hier aus noch einmal zur großen Geisterbeschwörung im Ersten Buch zurück, so sind die Schauder-Effekte auch hier nicht zu übersehen. Eine besondere mediale Rolle spielt, wie schon angedeutet, hier wie dort die Laterna magica.66 Die neuere Medienwissenschaft hat sich immer wieder mit diesem frühen Vorläufer des Kinematographen beschäftigt.67 Gesteigert wurde die Wirkung des Geräts bereits lange vor Schillers Schilderung durch die Projektion von geisterhaften Erscheinungen auf Rauchschwaden und Vorhänge. Auch die Verschränkung unheimlicher akustischer und optischer Effekte war gang und gäbe. In den 1790er Jahren konstruierte Étienne Gaspard Robertson für seine fantasmagories eine bewegliche Zauberlaterne, die, hinter einer Projektionsleinwand verborgen, auf Rädern hin- und her geschoben werden konnte und so den Illusionseffekt noch zu steigern vermochte.68 Schon diese knappen Hinweise legen nahe: Der Schauder könnte von Anfang an zum konzeptionellen Hintergrund dieses Geräts gehört haben. Von einem der mutmaßlichen Pioniere der Laterna, dem Dänen Thomas Walgenstein, wird kolportiert, er habe seinem Publikum dadurch Angst und Schrecken eingejagt, dass er Skelette projizierte.69 Den Apparat, der u.a. von Athanasius Kircher konzipiert, aber wahrscheinlich zuerst von Christian Huygens (1629–1695) konstruiert wurde,70 nannte man daher gelegentlich „lanterne du peur“.71 Wie gezielt das Moment des Horrors bereits in seiner Frühzeit mit den Funktionen der Zau|| 66 Zu Schillers „considerable familiarity with the technology and methods of lantern horror-shows“ vgl. Jones 2011, S. 34f. Schillers Roman, so Jones, sei „the first major and explicit expression of the heightened state of convergence of literary and visual technology in the late 1780s“ (ebd.). 67 Z. B. Bartels 1996. Ein Wort zum Funktionieren des Apparats: Statt natürlich von außen einzufallen, befindet sich die Lichtquelle – zunächst meist eine Kerze – im Innern eines Gehäuses, in dessen vordere Wand ein Loch geschnitten ist. Diese Kerze „beleuchtet über zwischengeschaltete Hohlspiegel oder später Linsensysteme durch Auflicht oder Durchlicht eine gezeichnete und meist kolorierte Vorlage, deren Bild [...] spiegelverkehrt nach außen projiziert wird, wo dann schließlich – als erster Vorläufer der Filmleinwände – eine Projektionsfläche das Bild erwartet“ (Kittler 2002, S. 83). Wenn die Laterna also wie eine umgekehrte Camera obscura funktioniert, so stellt sie in literarischästhetischem Zusammenhang, etwa bei Schiller, „die Hegemonialstellung des Medienparadigmas aufklärerischer Rationalität, der Camera obscura, in Frage“ (Mergenthaler 2002, S. 69). 68 Sauvage 2004; Bartels 1996, S. 121f.; Schmitz-Emans 2012. 69 Kittler 2002, S. 87. 70 Ernst Hrabalek betont, „dieses Kind“, die Laterna magica, habe „offensichtlich viele Väter“ gehabt. Bereits Roger Bacon und Leonardo da Vinci werden Gedankenspiele zur Laterna zugeschrieben, Kircher leistete dann entscheidende „Pionierarbeit“; aber wohl erst Huygens fertigte um 1660 einen Prototyp an, den Walgenstein wenig später popularisierte (Hrabalek 1985, S. 19–23). 71 Rossell 2002, S. 137.
344 | Ulrich Johannes Beil berlaterne verbunden worden war, zeigt sich, wenn man auf gegenreformatorische Medienstrategien blickt: Strategien, die sich gegen Luthers Schriftfixierung richteten und im Zuge barocker Illusionstechniken die „alten religiösen Bilder in einer verwandelten oder gesteigerten Form“ wiederzubeleben suchten. 72 Vor allem der Jesuitenorden war es, der sich dank seines Zentralismus und seiner internationalen Vernetzung in diesem Bereich durch eine Vielzahl publizistischer und missionarischer Aktivitäten hervortat – eben jene ‚Soldaten Christi‘, deren legendäre (angeblich auch magische, übernatürliche) Machenschaften dem Geheimbund im Geisterseher offensichtlich als Vorbild dienten.73 Nicht zuffällig sind es denn auch jesuitische Gelehrte des 17. Jahrhunderts wie Caspar Schott oder Athanasius Kircher, die dank des im Orden herrschenden Interesses an avancierten Inszenierungspraktiken die Initiative ergreifen. 74 Auch die religiöse Nutzung der Zauberlaterne liegt ihnen am Herzen und sie reflektieren über Möglichkeiten, wie sie sich zur Stimulation der Massen einsetzen ließe. So schweben Kircher, der unter anderem das Smicroscopium parastaticum, einen Vorläufer des modernen Guckkastens, erfunden hat,75 nicht nur Projektionsformen mit einer fast filmisch aufbereiteten Bildfolge brennender Menschenkörper vor. Er betont in seinem Werk Ars magna lucis et umbrae (1645) auch unmissverständlich, dass sich dank dieses neuen Mediums die Höllenqualen weit wirkungsvoller darstellen lassen als in herkömmlicher, das Tageslicht nutzender Kirchenkunst: Die Vorführung von Bildern und Schatten in dunklen Räumlichkeiten, so Kircher, wirke weit „fürchterlicher“, als wenn sie bei Sonnenlicht stattfände. „Durch diese Kunst“ könnten die „Gottlosen“ leicht von der Begehung zahlreicher Laster abgehalten werden, wenn man die „Gestalt des Teufels“ auf einen „Spiegel“ werfe und an einen „dunklen Ort“ übertrage.76 Im Lauf des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Laterna magica dann
|| 72 Kittler 2002, S. 96. 73 In diesem Sinne repräsentiere Schillers populärstes Werk „the Anti-Jesuitism of this period, in its references to Jesuit activities, confessional tensions, and Enlightened views, as well as its exploitation of uncanny tropes“: Healy 2003, S. 33f. Zur Bezugnahmen auf Jesuiten in Schillers Werk und zu seiner grundsätzlich antijesuitischen Haltung Robertson 2006. Zu den übernatürlichen Methoden: Healy 2003, S. 28f. 74 Eine gleichsam psycho-energetische Basis für die medialen Innovationen der Jesuiten bildete, Friedrich Kittler zufolge, des Ignatius von Loyola Theorie der Halluzinationen in den Exerzitien, an deren Stelle später die entsprechende „technische Implementierung“ trat (Kittler 1991, S. 224). 75 Bartels 1996, S. 131. 76 „Est autem simulacrum, sive umbrarum in obscuris cubiculis repraesentatio, multo ea, quae ad solem fit, repraesentatione formidabilior. Hac arte impii, forma diaboli speculo inscripta, & in obscurum locum transmissa, a scelerum perpetratione coerceri facile possent“ (Kircher 1645, S. 915). Die Paraphrase mit übersetzten Textstellen stammt von mir, U.J.B. Eine Laterna magica im eigentlichen Sinne präsentiert Kircher jedoch erst in der zweiten Auflage seiner Ars magna, die 1671 erschien; danach wurde die Laterna europaweit populär (Bartels 1996, S. 116–119).
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geradezu zu einem populären Massenmedium für okkultistische Unterhaltung, eine Möglichkeit, die der späte Goethe auch für Faust-Aufführungen ins Auge fasste. Aber um zu Schillers venezianischer Beschwörung zurückzukehren: Sie hält noch eine weitere – frappierende – Verbindung von Schrecken, Religion und Medientechnologie bereit. Werfen wir hierzu noch einmal einen Blick auf das in der okkulten Liturgie verwendete Kruzifix. Auf die Frage des Prinzen, wieso alle SéanceTeilnehmer in dem Moment, in dem der erste Geist erschien, „einen elektrischen Schlag“ empfingen, nennt der Sizilianer zunächst die „Maschine“ unter dem Altar. Wir erwähnten sie bereits: es handelt sich um eine sogenannte „Elektrisiermaschine“.77 Seit den 1740er Jahren, als Wissenschaftler wie Georg Mathias Bose den Konduktor entdeckten und die Leidener Flasche erstmals die Speicherung von Energie ermöglichte, erfreuten sich diese Maschinen wachsender Beliebtheit. Entwickelte sich die Elektrizität doch zur Modewissenschaft der Epoche78 – zu einer Disziplin, die den sich gerade formierenden Diskurs der Empfindsamkeit mit seinem Leitbegriff der ‚Erregung‘ auf willkommene Weise bestätigte. Es kam zu zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Vorführungen, bei denen immer wieder menschliche Körper selbst zum Versuchsobjekt wurden, etwa, als Antoine Nollet in Anwesenheit von König Louis XV. 1746 mit 180 Gardesoldaten experimentierte. 79 Der Sizilianer beschreibt die Arbeitsweise des Apparats nun folgendermaßen, wobei er die LeitFunktion von Seide und Haar hervorhebt: Die Maschine unter dem Altar haben Sie entdeckt. Sie sahen auch, daß ich auf einem seidnen Fußteppich stand. Ich ließ Sie in einem halben Mond um mich herumstehen und einander die Hände reichen; als es nahe dabei war, winkte ich einem von Ihnen, mich bei den Haaren zu fassen. Das Kruzifix war der Konduktor, und Sie empfingen den Schlag, als ich es mit der Hand berührte.
Die wichtigste Rolle in dieser Erklärung spielt das (bislang in der Forschung kaum beachtete) Kruzifix: Weil es aus Silber gefertigt ist, kann es als „Konduktor“, als elektrischer Leiter, als ‚Überträger‘ in dieser komplexen technischen Anlage fungieren: Das Kruzifix bildet, mit anderen Worten, die Schnittstelle zwischen dem (unsichtbaren) Apparat und der (ahnungslosen) Gemeinde. Damit garantiert es, einerseits, die Schließung des Stromkreises. Andererseits verwandelt es die heilige
|| 77 Der Begriff taucht meist im Zusammenhang mit dem Physiker Otto von Guericke auf, der 1663 den ersten sogenannten elektrostatischen Generator entwickelte, eine Schwefelkugel mit einer Drehachse; Gottfried Wilhelm Leibniz erzeugte damit die ersten künstlichen elektrischen Funken. 78 Hochadel 2003, S. 56. 79 Zielinski 2002, S. 192. Ähnlich wie im Geisterseher bildeten die Soldaten zunächst einen Kreis (um eine Leidener Flasche) und hielten sich an den Händen, bis sie, nach Elektrisierung des ersten, „buchstäblich auf einen Schlag“ in die Höhe sprangen, „sehr zum Amüsement der könglichen Zuschauer“ (Siegert 2004, S. 54). Sehr beliebt war auch der ‚schlagkräftige‘ Kuss, den man sich auf Jahrmärkten gegen Entgelt bei elektrisch aufgeladenen Damen abholen konnte.
346 | Ulrich Johannes Beil Kommunion in eine Kommunion des Schreckens: Sind die Anwesenden doch in eben dem Moment, in dem der elektrische Strom sie alle gemeinsam durchzuckt, auch schon wieder getrennt: Der „Blitz[]“ sorgte dafür, „daß unsere Hände auseinander flogen; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte das Haus [...]“ (DG, S. 61). Und eben diese ‚gemeinschaftliche Trennung‘ ist es, die das Auftreten des von der Laterna magica an die Wand gezauberten Gespensts, die Transsubstantiation des Toten in einen Geist, ermöglicht. Über den technischen Vorgang hinaus lässt sich hier aber auch eine symbolische Schnittstelle beobachten: Denn das Kruzifix als das Symbol des Mittlers, wie es in der Christenheit seit der Spätantike überliefert wird, ‚kreuzt‘ sich hier sinnfällig mit dem Symbol der neuzeitlichen Technik, der Elektrizität: Es ist, als würde dieser symbolische ‚Funke‘ von der Kultur der christlichen Metaphysik auf die moderne Medienkultur überspringen, als habe die Geisterbeschwörung an ihrem Höhepunkt den Schritt vom klassischen Mittler – zwischen Immanenz und Transzendenz – zum modernen Mittler – zwischen Wahrheit und Illusion – vollzogen. Mit anderen Worten: Das technische Medium tritt an die Stelle des göttlichen Mediums, und ersteres zeichnet sich zudem durch jene Schock- und Überwältigungseffekte aus, wie sie die Ästhetik der Moderne zwischen Burke und Benjamin prägen. Nicht vergessen werden darf allerdings eines: Die hier vorgeführte Übertragung des christologischen in das technische Medium steht nicht für sich. Sie fungiert innerhalb der Narration ihrerseits als Mittel einer Strategie, an deren Zielpunkt wieder alles beim Alten ist: Der technische Mittler wird dadurch, dass er als solcher benannt und desavouiert wird, ausgestrichen, um dem christologischen als dem einzig wahren Mittler Platz zu machen. Die blasphemische Identifikation von „Kruzifix“ und „Konduktor“ erweist sich im Gesamtzusammenhang selbst als Teil einer Dialektik, die vom Geisterglauben über seine Entlarvung zum wahren Gott und zum wahren Geist führt. Damit knüpft der Erzähler nicht nur an das agonale Muster der Wundertat-Konkurrenzen an, wie es sich seit der Spätantike in antimagischen Polemiken, etwa in Konrads von Würzburg Silvester-Legende, findet.80 Er gibt den LeserInnen auch, in Anspielung auf die Tradition der antijesuitischen Propaganda, zu verstehen, wie betrügerisch, wie durchtrieben die Mittel sind, derer eine vermeintlich der Wahrheit verpflichtete Institution sich zu bedienen wagt.
7 Zum Schluss: Medien als religiöse Strategie Auf der Basis unserer Fragestellung kann abschließend konstatiert werden, dass der Roman sich, um seine eigenen Begriffe zu gebrauchen, stärker auf die ‚Mittel‘ der Geheimniserzeugung konzentriert als auf die ‚Zwecke‘. Man darf diese Mittel|| 80 Baumgartner 2014.
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Fixierung im Geisterseher durchaus vor dem Hintergrund jener Vermittlungs- und Übertragungsprobleme verorten, die bereits den frühen Schiller bewegten und ihn, wie kaum einen anderen Autor seiner Zeit, zur Reflexion über die „Mittelkraft“, die vis media, und das Thema des commercium mentis et corporis veranlassten.81 Auch von daher ist es nicht abwegig, vom Geisterseher als einem Roman über Medien zu sprechen:82 Medien freilich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch als Ausdruck einer Situation, in der man die Einsicht in das Reich der Zwecke ebenso entbehren muss wie eine universale, für alle Einzelheiten verantwortliche Instanz. Vergleicht man dies ein weiteres Mal mit dem frühen Kant, so lässt sich sagen: Bei Kant wie bei Schiller lebt man nicht mehr in einer objektiven, in ihrem Wirklichkeitscharakter verlässlichen Welt.83 Den Erscheinungen, die zum Problem geworden sind, versucht man mit Hilfe einer Analyse jener medialen und mentalen Konstruktionen auf die Spur zu kommen, denen sie sich verdanken. Aber so inständig man sich auch bemüht: Sie geben ihre Rätselhaftigkeit letztlich nicht preis. Während sich bei Kant gespenstische Phänomene dem Projektionswahn kranker Gehirne, also einer Art interner Medialität, verdanken, setzt Schiller auf externe Medialität, also auf Kommunikations- und Projektionstechniken im Dienst einer religiösen Strategie. Unheimlich sind die Erscheinungen bei beiden weniger, weil man ihren medialen Intensitäten erläge oder weil sich ihr Konstruktionscharakter nicht erkennen ließe; vielmehr sind sie es, weil sie selbst nach Offenlegung ihrer sei es technischmedialen, sei es psychisch-mentalen Bedingtheiten unzugänglich bleiben, „dunkle Objekte“ im Sinne Eugene Thackers.84 Poetologisch gewendet bedeutet das, dass die Souveränität des auktorialen Erzählers ebenso angeschlagen ist wie die Souveränität des Monarchen im absolutistischen Staat.85 Die Narration erweist sich, aus dieser Perspektive, als weitgehend autopoetisch organisiert; das, was Adam Smith „invisible hand“ genannt hat, übernimmt nunmehr die Regie.86 Schiller „dekonstruiert die Vorsehung“ und überträgt
|| 81 Hierzu neuerdings Robert 2011, S. 31–36; vgl. auch Riedel 1985, S. 61–151. 82 Eine „Parabel über die Macht von Kunst und Medien“ nennt ihn Robert 2011, S. 165. 83 Wie fremd und unheimlich die ‚Natur‘ gegenüber dem denkenden ‚Subjekt‘ erscheint, kommt auch in anderen Texten Schillers zum Ausdruck, etwa in der Ballade Der Taucher. Vgl. Riedel 2009, S. 127, Anm. 17: „Dieses ‚Tote‘ der äußeren Natur ist für Schiller immer auch das Gespenstische (für die Subjektivität!) an ihr. Eine unheimliche Fremdheit trennt das intelligible und das fühlende Ich des Menschen von allen anderen Lebensformen.“ 84 Thacker 2011, S. 319: „Objekte sind immer Objekte für ein Subjekt; Dinge hingegen sind wie unzugängliche, besser noch: dunkle Objekte.“ 85 Man darf hier auch an das denken, was Michel Foucault in seinen Analysen zur Biopolitik die „Selbstbegrenzung“ der „gouvernementalen Vernunft als faktische und allgemeine Selbstregulation“ (seit dem späten 18. Jahrhundert) genannt und mit der Theorie von der „unsichtbaren Hand“ in Verbindung gebracht hat (Foucault 2004, S. 29; S. 392f.). 86 Man kann diese Beobachtung auch ganz anders charakterisieren. Peter André Alt nennt den Text eine „planlos geschriebene Erzählung“: Alt 2009, S. 568.
348 | Ulrich Johannes Beil sie auf „säkulare Lenkungsinstanzen“:87 Der Text gibt sich als Folge von Spielzügen zu erkennen, als das an barocke Inszenierungslust erinnernde theatrum einer so unbekannten wie undurchschaubaren Dramaturgie. Und dennoch scheint es, als zeichne sich über diese Beobachtungen hinaus eine narrative Logik der geschilderten Medien ab, so etwas wie eine – wenn auch unstete, mäandernde – Spur. Eine Spur entgegen dem Zeitpfeil: von den avanciertesten Unterhaltungstechniken (Laterna magica, Elektrisiermaschine etc.) im Ersten Buch, denen die besondere Aufmerksamkeit des Erzählers gilt, über traditionelle Medien wie Ölgemälde und Briefe im Zweiten bis hin zur (nur noch kurz erwähnten) heiligen römischen Messe am Ende, die das archaische Pendant zur dekadenten Messe des Magiers am Anfang darstellt.88 Liest man den Text auf diese Weise, dann ist sowohl auf der mediologischen wie auf der philosophisch-anthropologischen Seite eine Retro-Entwicklung erkennbar: Dem Prinzen gelingen keine wirklichen Fortschritte in seiner intellektuellen und moralischen Biographie.89 Trotz zahlreicher Erkenntnisversuche verfällt der dekadente Aristokrat letztlich einem strengen, in seinen Grundzügen vormodernen Bindungssystem – und antizipiert damit die Konversionsbiographien romantischer Intellektueller. Entsprechend hat man den Roman gelegentlich als „negativen Bildungsroman“ bezeichnet.90 Zugleich lässt sich das Paradoxon beobachten, dass es gerade der quasijesuitische Geheimbund ist, der die Geisterbeschwörung, dieses hochmoderne Medienspektakel, aus taktischen Gründen benutzt – nur um es alsbald als diabolische Verirrung bloßzustellen, als die fratzenhafte Kehrseite dessen, worum es eigentlich geht. So sehr die Wahrheit der pervertierten Liturgie aus der Sicht der Arkangesellschaft das römisch-katholische Original ist, so wenig ist sie es aus der Sicht des Erzählers. Die Geisterbeschwörung erscheint in seiner Perspektive zwar als eine von allen echten Geistern verlassene, aber doch fesselnde Darbietung, auf deren media|| 87 Von Matt 2008, S. 246; Robert 2011, S. 172. 88 Was die mittlere Phase betrifft, so spielen hier Ölgemälde mit katholischen Sujets die entscheidende Rolle: zum einen Paolo Veroneses Hochzeit zu Kana, die Prinz und Begleiter auf der „Insel St. Georg“ besichtigen (und die sein eigenes ‚Abendmahl‘ antizipiert) (DG, S. 126); zum anderen das Madonnenbild eines zeitgenössischen florentinischen Malers, das genau der auf den Prinzen angesetzten Geliebten gleicht, wie sie ihm in einer Kapelle – „der gewagteste, lieblichste, gelungenste Umriß, einzig und unnachahmlich, die schönste Linie in der Natur“ – erstmals begegnet (DG, S. 130). Der mediale Aspekt lässt sich hier kaum übersehen: „In stockdunklem Gewölbe präsentiert sie sich [die vermeintliche Griechin, U.J.B.] dem vom Tageslicht geblendeten Opfer, hingegossen vor den Altar, beleuchtet durch den Altar, als lebendes Bild. Das Gotteshaus wird zum Bild-Projektor, zur gigantischen Laterna magica, zum Lichtspieltheater“ (Bartels 1994, S. 73). Die „Umerziehung“ des Prinzen entpuppt sich so als „Erziehung zur Ästhetik – zum ästhetischen Katholizismus“ (Robert 2011, S. 207; zur Interpretation der Madonnen-Szene: S. 211–215). 89 Ein „Stationendrama der Verirrungen“ nennt dies Alt 2009, S. 582. 90 Weissberg; vgl. auch Alt 2009, S. 585. Den Aspekt des ‚Negativen‘ betont ebenso Fritz Martini: „Im ‚Geisterseher‘ füllt der negative Aspekt die ganze Erzählung, geht es um die Aufdeckung der Maschinerie des Abgefeimten“ (Martini 1961, S. 149).
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le und technische Finessen man auch und gerade als Aufklärer stolz sein kann: eine Darbietung, die es nicht zuletzt auch erlaubt, sie als „metapoetisches Gleichnis“ zu lesen, das des Autors eigene poetologische Spannung von Verhüllung und Auflösung, Magie und Rationalität reflektiert.91 Ein später Nachhall dieser Ästhetik findet sich noch im Prolog zum Wallenstein (1798), in dem von einem „auserles'nen Kreis“ die Rede ist, der „rührbar jedem Zauberschlag der Kunst, / Mit leisbeweglichem Gefühl den Geist / In seiner flüchtigsten Erscheinung hascht“.92 Es kann also nicht die Rede davon sein, dass Aufklärung im Geisterseher schlichtweg in Mythologie umschlage. Vielmehr bedient sie sich höchst bewusst jenes Potentials, das Okkultismus und technologische Episteme gemeinsam zur Verfügung stellen.
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|| 91 Dieser Frage widmet sich Schmitz-Emans in einem anregenden Aufsatz: Schmitz-Emans 1996, hier S. 34. 92 Schiller NA 2.1, S. 61.
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Albrecht Juergens
Metamorphosen des Liturgischen Friedrich Schillers ‚ästhetischer Katholizismus‘ (am Beispiel der Maria Stuart) Die allerersten Versuche, Gaetano Donizettis Maria Stuarda auf die Bühne zu bringen, haben der Operngeschichte manch kostbare Anekdote eingestiftet. Oberflächlich betrachtet, war der allfällige Zickenkrieg der Primadonnen der Katalysator. Die anhängigen Exzesse waren weder Peinlichkeit noch Skandal, sie waren wohlkalkuliert und wohldosiert und gehörten ganz einfach zum Eventmanagement jener Zeiten vor Facebook und Frauenboxen. Bereits Georg Friedrich Händel hatte die Diven seiner Ära, die Cuzzoni und die Bordoni aufeinander losgelassen, hatte umsichtig der Eskalation künstlerischer Konkurrenz und erotischer Rivalität vorgearbeitet und den Londonern das superbe Schauspiel zweier Hyänen präsentiert, die sich nicht nur die Kostüme vom Leib rissen. Pikant an der Maria Stuarda: Es gibt nicht eine Primadonna, sondern zwei. Das ist zwar logischer Unfug, ermöglicht allerdings aus der Sicht der Dramaturgie durchaus reizvolle Konstellationen. Ausgerechnet jene Konfrontation der beiden Protagonistinnen Elisabeth von England und Maria Stuart, die Schiller entgegen der ansonsten gewissenhaft respektierten Historie seinem Drama einfügte, funktionierte als effektvollstes Konfliktpotential dort, wo sich die Wahrheit des richtigen Lebens und die Bühnenwahrheit gegenseitig potenzieren. Noch während der Proben für die fürs Teatro San Carlo in Neapel geplanten Premiere der Maria Stuarda trieben die Sängerinnen der beiden Hauptrollen die Identifikation mit ihrer Bühnenexistenz so weit, dass sich schließlich die Staatsanwaltschaft der Schlichtung annehmen musste. Die Angehörigen des neapolitanischen Königshauses, zwar durchaus aufgeklärt und bekennende Manen der Dramen Schillers, ließen die Produktion abblasen, die sie zuvor großzügig fördernd vorangetrieben hatten. Soweit die offizielle Version. Auch ein zweiter Anlauf, die Maria Stuarda auf die Bühne zu bringen, geriet bald ins Stocken. Motor des Projekts war diesmal Maria Malibran gewesen, die die Rolle der Titelheldin ihrem Repertoire einverleiben wollte. Selbst die Kostüme für sich und ihre Rivalin hatte sie effektsicher selbst entworfen. Fieberträume des Historismus: Um der gesicherten Authentizität Willen unternahm die Malibran, bewaffnet mit ihren Malutensilien, eine ausgedehnte Pilgerreise zu den Originalschauplätzen der Tragödie. Um keinen Preis war sie gesonnen, auf das Juwel des Schlagabtausches mit Elisabeth zu verzichten: Die englische Königin als „Vile bastard“ titulieren zu dürfen und zu müssen setzt gewiss Glückshormone frei, zumal der Komponist mit abgefeimter Raffinesse die Ungeheuerlichkeit zwar
356 | Albrecht Juergens nicht zum dramaturgischen, aber sicher zum dramatischen Highlight der Oper macht.1 Die in Sachen Schiller übersensibilisierte italienische Zensur versuchte durch einen chirurgischen Eingriff zu deeskalieren (die Beleidigung sollte nur in der Musik erklingen). Die Malibran scherte sich den Teufel um die Zensur und zelebrierte die prominente Verbalinjurie. Nach einigen fruchtlosen Ermahnungen der Diva wurde die Oper vom Spielplan genommen ‒ zur großen Zufriedenheit der Zensur. Mag die latente Tobsucht der jeweiligen Heroinen den Anlass für die Stornierungen früher Produktionen gestiftet haben, der Grund war sie kaum. Bereits bei den Donizettis Oper vorausgegangenen Aufführungen von Schillers Drama in Italien hatte Marias Weltabschied, versehen mit den Sakramenten der Kirche, energische Interventionen der Zensur provoziert. Neben den herrschaftstheoretisch kritischen Elementen ‒ die Liquidierung eines gekrönten Herrschers spielt die Liquidierung aller gekrönten Herrscher durch ‒ war es eben die theatralische Zurschaustellung eines Sakramentenempfangs, die jene auf den Plan rief, die sich gerne auf die Verletzung religiöser Gefühle berufen, wenn sie irgendeine künstlerische Manifestation unterbinden wollen. Die drastischen Kürzungsauflagen in den Szenen 26 bis 28 von Donizettis Oper beraubten diese nicht allein mancher Momente großer Oper, sie kanalisierten auch die Rezeptionsgeschichte der Maria Stuarda: Beraubt der Pointen im Wortduell der Königinnen, verstümmelt in der intimsten und intensivsten musiktheatralischen Dialogsequenz vor dem zweiten Akt von Wagners Tristan, braucht es nicht zu wundern, dass das Werk nur als Steinbruch für Arienanthologien überlebte. Die Verluste waren beträchtlich: Donizetti tappt nicht in die Falle, zum labilfrommen Bühnengeschehen pseudoliturgische Musik zu addieren. Sein Librettist (mit dem Donizetti für die Verhältnisse der italienischen Opernbühne ungewöhnlich eng kooperierte) erspart uns bereits die Metamorphose des getreuen Bediensteten Melvil zum katholischen Undercover-Priester und Himmelsboten, der bei Schiller Maria die Sakramente spendet. Talbot selbst, der Graf von Shrewsbury, ist ihr religiöser Mentor und nicht weniger Gegenspieler. Maria muss die Hostie nicht aus der Hand eines Subalternen empfangen. Solche ständische Schonung geht zwar nicht konform mit dem katholischen Eucharistieverständnis und auch nicht der Konzeption Schillers, der seine Maria auf dem Weg zur schönen Seele alles Irdische, auch die Vorstellung von Standesgrenzen abstreifen lässt. Aber sie fügt sich passgenau in Donizettis Konzeption ein: Die funktionale Königin Elisabeth durch die degradierte eigentliche Königin als Prätendentin zu decouvrieren, Staatsraison als Arroganz der Macht auflaufen zu lassen. Bei Schiller liegen die Dinge nicht so einfach. Aber Schiller schielte auch nicht aufs englische Publikum, das Donizetti sehr am Herzen lag;
|| 1 Fischer-Dieskau 1990, S. 101f.
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die Auswahl seiner Sujets liest sich streckenweise wie eine Galerie unglückseliger Damen aus der englischen Herrschaftsgeschichte. Dass Maria Stuarda ebenso wie Anna Bolena in den Dreißigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts als pikanter Zwischenruf in die laufende Legitimationsdebatte des britischen Königshauses verstanden werden konnte, wird Donizetti gewiss nicht unbekannt gewesen sein. Aber darum geht es hier nicht. Was macht Donizetti aus jener Skandalszene, in der Maria bei einem eingeschleusten Priester die Generalbeichte ablegt und die Kommunion empfängt? Was wird aus Schillers sechstem und siebtem Auftritt des fünften Aufzugs? Die Verführung zur großen Oper hätte nahegelegen. Donizetti unterläuft die Erwartungshaltung und veranstaltet karges Kammerspiel. Die drei Duettszenen Oh, mio buon Talbot!, Quando di luce rosea und schließlich die suggestive Beichte nach der Beichte, Un’ altra colpa a piangere nehmen zwar mehrfach Anlauf zum großen melodischen Bogen, lassen ihn aber stets punktgenau kollabieren. Natürlich weiß Donizetti, wie die Delirien der Erlösungsgewissheit klingen, weiß, wie Beethoven im Fidelio das Umschlagen von Eskapismus in metaphysische Hysterie auskomponiert hat. Aber er entscheidet sich für die Ästhetik der Verweigerung. Maria und Talbot singen mit strauchelnder Emphase aneinander vorbei. Sie kommen weder mit ihren Worten noch mit der Musik zusammen, das Orchester selbst wirkt thematisch dereguliert. Vergleichbare Dissoziation der kompositionellen Kohärenz: Man findet sie vielleicht in der Kammermusik des späten Schumann, andernorts sucht man sie bei Zeitgenossen vergeblich. Eine einlässliche Strukturanalyse der einschlägigen Szenen gäbe wohl Aufschluss über Donizettis Motivation zu derlei Demontagen. Hat er das Anstößige der Szene und die Skepsis gegenüber der Zurschaustellung von Religion mit einkomponiert? Misstraut er der Erlösung, die hier vom Text her als nicht hinterfragbare Tatsache proklamiert wird? Wir wissen es nicht. Aber wir müssen anerkennen, dass der Blick in die religiöse Intimsphäre der Protagonistin bei Donizetti sein Pendant in einem singulären musikästhetischen Experiment findet. Der Opernwelt wurde die Originalgestalt der Szene erstmals im Jahr 2009 in einer Produktion des Teatro la Fenice in Venedig zugemutet. Soviel einleitend zu Donizettis produktiven Problemen mit Schillers theatralischer Sakralkunst. Allerdings war der Komponist nicht der Erste, der sich an der anrüchigen katholizistischen Leistungsschau stieß. Die Geschichte der scheinheiligen Begründungen für die Streichung der Szene ist ein eigenes, skurriles Kapitel der Theatergeschichte. Worum geht es? Wie sattsam bekannt, lässt Schiller seine Heldin vor der kurzfristig anberaumten Exekution bei einem katholischen Geheimagenten die Beichte ablegen und in beiderlei Gestalt kommunizieren (nach Schiller das Vorrecht gekrönter Häupter). Die Hostie hat der Papst selbst konsekriert. Dort, wo man in der Ballade oder im Thriller gattungskonform mit dem Retter in letzter Minute rechnen muss, taucht hier eben der Seelenretter auf. Man verzeihe die Respektlosigkeit: Im säkularen Kontext hätte die spektakuläre Akkumulation von glücklichen Koinzidenzen unweigerlich
358 | Albrecht Juergens Tadel auf sich gezogen. Aber hier geht es schließlich um eschatologische Unausweichlichkeiten, da müssen Plausibilitätserwartungen zurückstehen. Die Zeitgenossen skandalisierten die Machtdemonstration des Theatermannes Schiller, die Germanistik verhielt sich zurückhaltend oder verschob die Problemkonstellation auf philosophische Nebenschauplätze. Quintessenz der Domestizierungsstrategien der Szene bleibt der Versuch, die sakramentale Handlung in Marias Entfaltung zur ‚schönen Seele’ zu integrieren – als Extrapolation eines inneren Vorgangs sozusagen.2 Dass Marias Weg zur Enthauptung mit vielfältigen Anleihen aus dem Martyrologium der katholischen Kirche flankiert wird, entgeht wohl niemandem. Dass der letztlich kantianisch gedachte Bewusstseinsakt, der die ,schöne Seele‘ in Erscheinung treten lässt, gegenüber dem religiösen Aspekt dominiert oder mit diesem in ein allerdings nicht ganz gleichgewichtiges dialektisches Verhältnis gebracht wird, mag auch dem common sense zuzuschlagen sein. Die thematisch benachbarte Lösung, die Goethe im Schlusstableau des zweiten Teiles des Faust offeriert, Gnade und Erlösungsstreben afunktional aufeinander zu beziehen, mag als ferner Nachhall auf die Maria Stuart vernommen werden. Auch diese Konstruktion hat Ablehnung erfahren: Nachgerade zwanghaft wirkt die Bemühung der Exegeten, bei Schiller wie bei Goethe das explizit Religiöse ins bloß Metaphorische oder Parabolische abzudrängen. Kaum einer verfiele auf den Gedanken, dort, wo etwa Schiller unmissverständlich politisiert, die Message auf im Grunde apolitische Arrangements von Sprachbildern reduzieren zu wollen. Das Religiöse per se ist offenbar peinlich. Verständlich daher das Bemühen, unsere Geistesfürsten posthum vor derlei Peinlichkeiten bewahren zu wollen. Historisch gedacht ist das wohl kaum. Aber es bleibt bei der Frage: Wozu muss eine ,schöne Seele‘, um zu sich zu kommen, Beichte und Kommunion empfangen? Die Szene liegt, man mag es wenden, wie man will, als ein kalkuliert platzierter atavistischer Findling auf philosophischem Terrain. Der Hinweis auf die Historizität des Vorgangs verfängt nicht: Schiller verfuhr stets skrupulös, aber niemals kleinlich mit seinen Vorlagen. Als eine Art Schöpfergott des Theaters macht er aus einer rationalen und durchaus humanen Königin ein erotisch unbefriedigtes Monster, die triebgesteuerte Intrigantin hingegen zieht unser Mitleid auf sich und wird zur Ikone. Wer so verfährt, hat keine Hemmungen, geschichtliche Konstellationen, weil dramaturgisch widerständig, verschwinden zu lassen. Als dritte Möglichkeit bietet sich an, die Szene nicht von den in ihr diskursiv verhandelten Theologica oder seelischen Prozessen her anzugehen, sondern, dass sie überhaupt stattfindet, als Signifikanten göttlicher Gnade zu interpretieren. Immerhin ließen sich bei einer solchen Sicht die nahezu märchenhaften Züge von Marias Seelenrettung plausibel machen. Allerdings wurde in jüngeren Interpretationen, besonders nachdrücklich bei Kiermeier-Debre, darauf verwiesen, dass die || 2 Sautermeister 1992, hier S. 308ff.
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religiöse Implosion in der philosophischen Selbstwerdungserzählung nicht ganz unvorbereitet kommt.3 Ich vernachlässige ganz bewusst die philosophische Teleologie von Kiermeier-Debres scharfsinniger Spurenlese, stütze mich gleichwohl auf seine Beobachtungen und behaupte: Schiller bahnt den vermeintlich unmotivierten Ausbruch ins Sakramentale durch ein System bedeutsamer Anspielungen an. Vielleicht kommen wir auf diesem Weg auch einer Klärung der Frage näher: Wozu braucht Schiller die beiden inkriminierten Auftritte im fünften Aufzug? So ausladend und prononciert sie in Szene gesetzt werden, lassen sie sich nicht marginalisieren. Eine Klärung vorab: Wenn jetzt gelegentlich von der Katholizität in Schillers Drama gesprochen wird, dann bedarf es einiger Vorsicht. Schillers Katholizismus bleibt, wie es scheint, ein stockprotestantischer. Ein äußeres Symptom ist schon die Nomenklatur: Maria partizipiert am Abendmahl. Als Katholikin hätte sie wohl eher die Kommunion empfangen. Gewichtiger als sprachliche Oberflächlichkeiten: Bei Schiller ist Erlösung im Diesseits Teil und Resultat des dramatischen Geschehens.4 Aus katholischer Sicht besteht der Vorbehalt der Erlösungsbedürftigkeit bis zur ‚ultima linea‘. König Ludwig I. wird, zeitgenössischer Legendenbildung folgend, seine triftigen Gründe gehabt haben, nach Aufführungen der Maria Stuart am sogenannten Alten Residenztheater in der Allerheiligenhofkirche für die arme Seele der Protagonistin zu beten.5 Sehen wir uns den Befund gemäß der dramaturgischen Chronologie an; selbstredend wird bei der Analyse nicht jedes marginale Textsignal beleuchtet werden. Aber die Vorverweise auf die Abendmahlsszene mögen doch als Richtungsangabe fungieren. Ein erster Auftritt Marias mit dem Kruzifix, das später zur Insignie ihres letzten Weges wird (142f.),6 dient als sinnfällige Umsetzung ihrer Abkehr von Weltlust (144) – in diesem Stadium übrigens noch kaum glaubwürdig. Wenig später (183ff.) fordert sie ostentativ sakramentalen Beistand durch einen katholischen Priester. Nur der Sakramente Wohltat (183) werde ihr die Himmelstüre (186) öffnen. Das klingt nach Rechthaberei gegenüber dem ebenso loyalen wie protestantischen Paulet, der sie mit klischeehaft britischer correctness bewacht und ihr den religiösen Service des zuständigen Dechanten anbietet. Paulet rät ihr, ihre Rechnung mit dem Himmel zu machen (232), was sie mit dem Hinweis kontert, sie hoffe auf die Gnade des Himmels. Hier verrät Schiller ein wenig zu viel von seiner konfessionellen Präposition: Geschäftemacherei mit dem Himmel, das ist doch bekanntlich Sache des Katholiken, Gnadenhoffnung die Zuversicht des Protestanten. Die religiös || 3 Kiermeier-Debre 2009, S. 203‒208. 4 Kiermeier-Debre 2009, S. 206. 5 Mitgeteilt in einem Referat zur Wiederherstellung der Allerheiligenhofkirche von Monsignore Gerhard Ott, München 1997. 6 Gemäß dem historischen Usus sowie der zeitgenössischen Nomenklatur der Rosenkranz, der an späterer Stelle im Text explizit genannt wird.
360 | Albrecht Juergens redliche Position und das Verwerfliche, sie sind sich inhaltlich gleichgeblieben, aber sie haben die Seiten gewechselt. Ab und an verschwimmen die Manifestationen des Konfessionellen: Den Jahrtag des Giftmordes an ihrem Gatten feiert (sic) Maria als privaten Buß- und Bettag (280), die Tat selbst gilt als durch konsequente Bußübungen abgedient (284), was den Geist des Gemordeten nicht hindert, als metaphysischer Quälgeist weiter zu agieren. Die Hoffnung auf Eucharistie entpuppt sich als Hoffnung auf einen wirksamen Gegenzauber, der endlich für Ruhe sorgen würde. Mortimers schwelgerische Hymnen auf seinen frisch erworbenen Katholizismus (409ff.) klingen, als habe der jugendliche Enthusiast und auch ambitionierte Versucher zu viel Wackenroder oder doch schon Jakob Burkhardt gelesen. Sie gäben eine effektsichere Kontrastfolie zur Innerlichkeit der sterbensbereiten Heldin. Aber so einfach macht es sich und uns der Dramatiker nicht: Marias Entsagung ist zunächst noch eine Weltabkehr umständehalber und daher recht labil: O schonet mein! Nicht weiter. Höret auf, / Den frischen Lebensteppich vor mir aus- / Zubreiten – ich bin elend und gefangen (451ff.). Ist das psychologische Einfühlsamkeit oder die zu überwindende Sinnlichkeit auf dem Weg zur ,schönen Seele‘? Man könnte nun den Eindruck gewonnen haben, Schiller lege umsichtig seine Fährten durchs Drama bis hin zur vorbehaltlosen Epiphanie des Sakramentalen. Aber dieser Eindruck täuscht. Zwar fallen noch einige Aperçus zur Konfessionsgeschichte Englands, dann ist das Thema Religion erst einmal aus dem Focus. Es kehrt wieder im Vorfeld der zentralen Konfrontation von Maria und Elisabeth. Elisabeth möge als eines Engels Lichterscheinung (1548) Maria aus ihrem Kerker befreien. Maria als Petrus in Ketten und Elisabeth als befreiender Engel – das geht wohl kaum auf. Schon das nötige Gefälle fehlt: Elisabeth sieht sich wie einen Gott behandelt (1473), Maria wird als Göttin tituliert (2472). Beide sind sie Diva im Wortsinn und nach der theatersoziologischen Rollenkonzeption. Sie können sich gegenseitig demütigen, aber nicht erlösen. Das ist aber auch nicht nötig. Für die zum Heil disponierte Maria wird selbst ein Hafturlaub für die Dauer eines taktisch arrangierten Gartenspaziergangs zur religiösen Entgrenzungserfahrung (2075ff.). In großer Dichte ist jedenfalls von Himmel und Freiheit die Rede. Die melancholische et-in-Arcadia-ego-Geste ihrer Zofe ruft zwar Todesnähe auf und ebenso die Einsicht, dass Freiheit nur vom und im Tod zu erwarten sei (2130ff.). Aber ihre Herrin bewegt sich in der umfriedeten Freiheit ihres Gefängnisses bereits, als hätte sie Flügel (2073). Diese Himmelfahrt in gefälschter Idylle nimmt wesentliche Züge von Marias Verklärung in der Abendmahlsszene vorweg. Vorerst bleibt es bei den luziden Delirien eines bewusst geträumten Traumes (2090). Hart verkantet gegen diese sentimentalisch-euphorische Erlösungsvorwegnahme steht der brutale Religionspragmatiker Mortimer. In frivoler Perversion katholischer Sakramententheologie hat er sich vorab den Ablass für die geplante Ermordung Elisabeths organisiert (2506ff.), zwecks Selbstverpflichtung das Attentat auf die Hostie geschworen (2526). Ein dramaturgisch offenbar nötig befundener Gestus der Bewusstmachung, der ultimativ noch einmal funktionalisierte, also korrumpier-
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te Religiosität gegen den im Folgenden inszenierten Zustand der bereits in der Immanenz Erlösten absetzt. Nachdem Maria im sechsten Auftritt des fünften Aufzugs den säkularen Aspekt ihres bevorstehenden Todes abgewickelt hat, nun im siebenten Auftritt also ultimative Versöhnung mit dem Himmel und Apotheose. Mag diese Verdinglichung und Extrapolation von Erfahrungen, die der Mystik reserviert sind, schon an sich prekär wirken, der Weg in die Gottunmittelbarkeit darf jedenfalls für den seriösen Protestanten keinesfalls über sakramentale, durch einen geweihten Priester vorgenommene Vollzüge führen. Genau dies will Schiller vorführen. Die Annäherung ans Mysterium des katholischen Glaubens erfolgt indes unter denkbar protestantischen Prämissen. Was nicht von diesem Fundament getragen wird, wird ans Wunderbare delegiert. Bereits die Anwesenheit Melvils in seiner Rolle als Priester wird von diesem selbst als Wunder reklamiert (3646ff.). Die Anwesenheit ein[es] Gott[es] (3648) in der Hostie klingt eher nach klassischer Antikenrezeption als nach Transsubstantiation und Realpräsenz. Die freie Paraphrase der Darreichungsformeln – Nimm hin den Leib, er ist für dich geopfert! (3747) und Nimm hin das Blut, es ist für dich vergossen! (3748) – mag als Konzession an den dramatischen Kontext akzeptabel sein, allerdings wäre wohl keinem katholischen (und kaum einem protestantischen) Priester des elisabethanischen Zeitalters in den Sinn gekommen, die einschlägigen Worte in der Landessprache zu sprechen und nicht auf Latein. Belastet und überhöht wird das Abendmahl durch seine politischen Implikationen. Zwar hat Maria jeglichem irdischen Aspekt ihrer Existenz Adieu gesagt. Sinnfällig wird dies in der Reflektion, dass ihr ehemaliger Diener ihr nun als Bote Gottes begegnet. Der ständische Nukleus ihrer Existenz als Königin wird davon aber nicht tangiert, sondern im Gegenteil ausgestellt: Die vom Papst konsekrierte Hostie sowie der dargereichte Kelch werden explizit als das höchste Recht / Der Könige, das priesterliche (3751f.) ins Bewusstsein gerufen. Maria wächst damit der Funktionsstatus des Priesterkönigtums zu (3751). Völlig konträr zu dieser spirituellen Huldigung strukturiert Schiller die Beichte Marias. Melvil figuriert weniger als Tröster und Versöhner auf dem letzten Weg denn als Inquisitor oder jesuitischer Seelenforscher. Selbstzweifel und Angst scheinen hier die Argumentationsziele zu sein. Die Sorge, die jeder Beichtvater zu tragen hat, sein Beichtkind nicht in Verzweiflung, also zur Sünde wider den Geist zu führen, sie ficht Melvil nicht an. Selbst wenn man die dramaturgische Notwendigkeit hoch veranschlagt, Marias subjektive und objektive Schuld und Unschuld vorzuführen: Schwerlich lässt sich das Muster der katholischen Beichte in diesem Exerzitium von Skrupel und Selbstmisstrauen wiedererkennen, wohl aber allerhand Seelenkunde des späten achtzehnten Jahrhunderts.7
|| 7 Sautermeister 1992, S. 312.
362 | Albrecht Juergens Ich resümiere: Schiller war die katholische Machtdemonstration im Kontext der Maria Stuart sehr wichtig. Dies belegt nicht nur die breite und einlässliche Ausführung der Szene. Auch seine Streitbarkeit dort, wo es um Versuche ging, das Publikum mit dieser Szene zu verschonen, spricht für sich: Wir wissen zwar nicht einmal, ob die Abendmahlsszene bei der Uraufführung 1801 gespielt wurde. Der Weimarische Herzog selbst hatte Schiller ersucht, von derartiger Profanation8 eines religiösen Aktes Abstand zu nehmen. Der Furor von Schillers überlieferter Überreaktion lässt zwar gewiss mehr als eine Interpretation zu. Sie hat sicher ebenso mit versehrter künstlerischer Autonomie wie mit Religionsfreiheit auf dem Theater zu tun. Immerhin behauptet Schiller die Allmacht des Stückeschreibers durchaus risikofreudig: Ich will ein Stück schreiben, worin eine genothzüchtigt wird und – sie müssen zusehen.9 Allerdings ist Schillers Katholizismus, wie gesehen, recht protestantisch fundamentiert – was wir bei Schiller wohl als Authentizitätsargument veranschlagen dürfen. Gegen den modischen ästhetischen Katholizismus der Frühromantik setzt er sich ab und auch seine andernorts manifestierten Spekulationen über die Funktion der Religion in der geistesgeschichtlichen Evolution der Menschheit bilden nicht den passenden Resonanzboden für die spezifische Erhabenheit seiner Maria Stuart. Ich schließe mit einer Vermutung. Schiller experimentiert mit einer Annäherung an einen sehr persönlichen Katholizismus. Nach den antikatholischen Exzessen des Geisterseher(s) oder der Wallenstein-Trilogie mag das recht zweifelhaft klingen. Auch hat Schiller in biographisch prekärer Situation Offerten seitens der von Dalbergs widerstanden, sich in Mainz stabil zu situieren – was sicher an konfessionelle Konzessionen gebunden gewesen wäre. Entgegenzuhalten wären diesen Einwänden Schillers Demonstrationen der Paradoxie eines antiklerikalen Katholizismus in der Jungfrau von Orleans oder seine späte Legitimation des Tyrannenmordes im Wilhelm Tell – sicherlich eine ärgere Zumutung an protestantisches Selbst- und Staatsverständnis als eine Eucharistie auf der Bühne. Spuren ließen sich vom Tötungstabu des sakrosankt gedachten Herrschers im Frühwerk bis zur Liquidierung protestantischer Staatstheorie durchs zum Katholizismus gravitierende Naturrecht im Spätwerk verfolgen. Aber das wäre eine andere Geschichte, die der konfessionellen Biographie Friedrich Schillers.
|| 8 Dokumentiert bei Petersen 1909, S. 116f. 9 Ebd.
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Wilhelm Vossenkuhl
Gott im Kultus Anmerkungen zu Hegels Religionsphilosophie Voller Bedauern stellt Hegel in der Vorbemerkung zu dem von Georg Lasson herausgegebenen Kolleg über Religionsphilosophie fest, dass es eine Zeit gegeben habe, „wo alle Wissenschaft eine Wissenschaft von Gott gewesen ist“. Er fährt fort: „unsere Zeit dagegen hat das Ausgezeichnete, von allem und jedem, und zwar einer unendlichen Menge von Gegenständen zu wissen, nur nichts von Gott“.1 Hegel weist darauf hin, dass es ein Allgemeinplatz geworden sei, dass wir von Gott nichts wissen und ihn nicht erkennen könnten, aber genau das will er, Gott erkennen (BR, S. 6); das ist das Projekt seiner Religionsphilosophie. Dabei ist für Hegel Erkennen mehr als Wissen.2 Thomas von Aquin vertrat im Vergleich dazu eine recht vorsichtige Haltung. Er meinte, dass wir von Gott nicht wissen können, „was er ist“, dass wir seine Wesensbestimmungen nicht kennen, von ihm aber aus „seinen Wirkungen“, also lediglich indirekt etwas wissen, immerhin.3 Hegel will weit mehr als das. Mit entwaffnender Direktheit macht er Gott zu einem, ja dem eminenten Gegenstand der Philosophie, zur „absoluten Vernunft“. Gott sei „wesentlich vernünftig“, er sei „Vernünftigkeit, die als Geist an und für sich“ sei (BR, S. 57). Kein Wunder, dass er Kants kritische Einstellung zur Erkennbarkeit Gottes, vor allem aber dessen Reduktion auf eine ethisch begründete Existenzannahme ablehnt (BR, S. 57ff.). Der von Kant vertretene „Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher“4 ist für Hegel inakzeptabel, und seine Auffassung des Kultus zeigt, dass er Kants rationalistische Kritik am „gottesdienstlichen Aberglauben“5 ablehnen muss. Die vollmundig anmutende Begrifflichkeit, vor allem die Kennzeichnung Gottes als ‚absolute Vernunft‘, nährt nun aber umgekehrt den Verdacht, dass Hegel zu viel des Guten tut und Gott für den Einzelnen, philosophisch wenig bewanderten Menschen in eine unerreichbare, abstrakte Ferne rückt. Das wäre ein weiterer Beitrag zum Thema ‚Gott der Philosophen‘, der diejenigen, die an ihn glauben wollen, eher abschrecken als sie in ihrem Glauben stärken würde. Dieser Verdacht ist – nun ja, || 1 Begriff der Religion, S. 5. Der Begriff der Religion wird im Folgenden abgekürzt zitiert mit der Sigle BR. Hegel las das Kolleg häufig. Der Herausgeber Lasson gibt kein genaues Jahr an. 2 Wissen nennt er „abstraktes Verhalten“, das im Allgemeinen verharrt, während Erkennen den Zusammenhang zwischen allgemeinen und besonderen Bestimmungen herstellt (Hegel 1969, I, S. 118f.) 3 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, qu. 1, 7: „[...] ergo dicendum quod nos de Deo non possumus scire quid est.“ 4 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft VI, S. 99. 5 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft VI, S. 118.
366 | Wilhelm Vossenkuhl nicht ganz zutreffend, denn Hegel will Gott gerade nicht zu einem Gegenstand des reinen Denkens machen. Wie er dies trotz der Inthronisation Gottes als ‚absolute Vernunft‘ bewerkstelligen will, sollen diese kurzen – meinem Freund Hans Unterreitmeier gewidmeten – Anmerkungen zu Hegels Religionsphilosophie zeigen. Hegel hat sich seit seiner Tübinger Zeit, dokumentiert in seinen Theologischen Jugendschriften mit religiösen Themen auseinandergesetzt, insbesondere mit der Frage, wie Gott mit „Herz“, „Gemüt“ und Verstand erfasst werden kann.6 Einerseits folgt Hegel schon seit dieser Zeit und dann vor allem später konsequent dem Gedanken, dass „der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe ist“ 7, andererseits differenziert er die Zugangsweisen zu diesem identischen Inhalt. Es geht in allen Weisen, Gott als „absolute Vernunft“ oder als „absoluten Geist“ zu erfassen, darum, diesem nicht-endlichen Wesen auf endliche Weise näher zu kommen. Einerseits eignet sich dazu das Denk- und Reflexionsvermögen von uns endlichen Wesen, andererseits aber auch die ebenso endlichen Weisen, sich Gott „in der Andacht des Kultus“ vorzustellen. Denn in dieser gläubigen Andacht werde der absolute Geist „auch aufgehoben“.8 Hegel ist sich der Tatsache bewusst, dass es nicht ungefährlich ist, Gott zu denken. Die Gefahren lauern im Denken selbst, vor allem in dessen Eitelkeit, wenn es meint, „auf der höchsten Spitze der Religion und der Philosophie zu stehen“, dabei aber „in die hohle Willkür zurückfällt“.9 Was kann vor dieser Eitelkeit schützen? Das Denken müsse sich von seiner Eitelkeit befreien und sich darüber klar werden, dass es „selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts“ erfasse.10 Über den absoluten Inhalt kann das Denken nicht verfügen, es sei denn, es will sich dabei lächerlich machen. Schwer bleibt das Denken Gottes dennoch, denn es bewegt sich einerseits innerhalb seines absoluten Inhalts und hat ihn dabei andererseits gleichzeitig zum Gegenstand. Hegel sieht darin offenbar die eigentliche Freiheit, Gott zu denken, eine Denkbewegung ohne über das Gedachte wirklich verfügen zu können. Man muss wohl hinzufügen, dass es auch keine Gewissheit geben kann, ob sich das Denken im absoluten Inhalt tatsächlich oder nur vermeintlich bewegt.11 Denn das „Formelle des absoluten Inhalts“ kann diese Garantie nicht geben, weil es sich im
|| 6 Dies rekonstruiert Gutschmidt 2007. Die frühen Wurzeln von Hegels Religionsphilosophie beleuchten auch Wolf 1960 und Dinkel 1974. 7 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 451 (§573) oder Logik Bd. 2, S. 549, wo er feststellt, dass die Philosophie „mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck“ habe. 8 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 447, §565. 9 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 450, §571. 10 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 450, §571. Zur Eitelkeit siehe auch BR, S. 136. 11 Hegel ist sich des „Mangels an Objektivität“ (BR, S. 136) bewusst, der das Verhältnis zu Gott kennzeichnet.
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Wissen, dass Gott der absolute Geist ist, erschöpft. Dies zu wissen, ist unendlich weit von der Erkenntnis Gottes entfernt. Natürlich kann auch der Kultus diese Erkenntnis nicht bieten. Der Kultus soll ja gerade nicht der Erkenntnis dienen. Stattdessen sieht Hegel im Kultus eine „Versöhnung“ (BR, S. 67) des endlichen menschlichen Geistes mit dem Absoluten, eine Versöhnung, welche die Trennung des Endlichen vom Absoluten nicht beendet, sondern das Bewusstsein der unendlichen Differenz zwischen dem einen und dem anderen wach hält. Die Differenz soll aber nicht starr bleiben, ja nicht einmal als unüberwindlich gelten, denn es geht in der Religion – wie Hegel nicht müde wird zu sagen – um die „Erhebung des Menschen zu Gott“ (BR, S. 68f.). Religion sei im Unterschied zur Philosophie „für alle Menschen“ (BR, S. 69); sie sei – so fährt er fort – „die Art und Weise, wie alle Menschen der Wahrheit bewußt werden, und diese Weisen sind vorzüglich Gefühl, Vorstellung und dann auch verständiges Denken.“ Das Denken kommt nicht nur in dieser Reihenfolge erst am Schluss. Denn im Denken kann auch für Hegel die eben erwähnte Differenz nicht gänzlich aufgehoben werden. Es bedarf dazu des ganzen Menschen und aller seiner Kräfte, dass er sich zu Gott erheben kann und „sich die Gewißheit, den Genuß, die Freudigkeit gibt, Gott in seinem Herzen zu haben, mit Gott vereint, von Gott in Gnaden aufgenommen zu sein“ (BR, S. 69). Das sei der Kultus, so fährt er fort. Und später sagt er, der Kultus sei „mich mit Gott in mir selbst zusammenzuschließen, mich in Gott zu wissen und Gott in mir, – diese konkrete Einheit“ (BR, S. 227f.). Hegel sagt nichts weiter über die Art und Weise, wie der Kultus diese Gewissheit des Aufgenommen-Seins durch Gott am besten vorbereiten kann. Er weist aber darauf hin, dass der christliche Kultus „nicht nur die Sakramente, kirchlichen Handlungen und Pflichten“ enthält, sondern „auch die sogenannte Heilsordnung als eine schlechthin innere Geschichte“, die „in der Seele vorgeht“ (BR, S. 229). Der Protestant Hegel betrachtet das Geschehen als etwas, was sich im einzelnen Menschen ereignet, als etwas durch und durch Subjektives und Innerliches. Und dieses Innerliche findet im Kultus den Raum, den es für die Andacht benötigt. In der Andacht sei „Gott für mich“ (BR, S. 145). In der Andacht geht es – wie im Kultus insgesamt – um das Verhältnis des Endlichen zum Absoluten, aber nicht nur in Gedanken. Es gehe in der Andacht nicht nur um den Glauben, „daß Gott ist“, sondern die Andacht sei vorhanden, wenn „der Glaube lebhafter wird“ (BR, S. 235). Hegel spricht an dieser Stelle vom „Feuer“ und der „Wärme der Andacht“. Das darf man als Ausdruck der Spiritualität verstehen, die – im Geist des Protestantismus – eine Art Sinnlichkeit im subjektiven Inneren ist.12 Eine eher katholische Sinnlichkeit auch im Äußeren war || 12 Die Differenz zwischen Spiritualität und Sinnlichkeit drückt sich auch in den protestantischen und katholischen Sakralbauten aus. Auf anschauliche Weise macht dies die von Wolfgang Jean Stock kuratierte Ausstellung Spiritualität und Sinnlichkeit. Kirchen und Kapellen in Bayern und Österreich seit 2000 deutlich. Der gleichnamige von Wolfgang Jean Stock eingeleitete und edierte Ausstellungsband erschien im Deutschen Kunstverlag, Berlin 2013. In seiner Eröffnungsrede zu dieser
368 | Wilhelm Vossenkuhl Hegel fremd, auch wenn er – wie berichtet wird – eine Zeit lang sonntags nach Ludwigsburg fuhr, um dort den katholischen Hofprediger zu hören. Der religionsphilosophische Dreh- und Angelpunkt des Kultus ist, wie das Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Absoluten zu denken ist. Das dialektische Verhältnis dieser beiden gänzlich inkommensurablen Größen muss notgedrungen aus der Perspektive des endlichen Subjekts begreifbar sein. Eine andere Perspektive als diese kann es nicht geben. Es wäre nun ein Leichtes, die Unendlichkeit – aus dieser Perspektive – einfach begrifflich abstrakt zu denken oder so zu tun, als könnte man sie denken; aber gegen diese „schlechte Unendlichkeit“, die der Verstand einfach postuliert, verwahrt sich Hegel (BR, S. 147). Die wahre, reale Unendlichkeit Gottes denkt Hegel zwar auch aus der Perspektive endlicher Subjekte, aber mit der entwaffnenden Ehrlichkeit, dass Gott dann, wenn wir ihn als das Unendliche annehmen – er spricht von „setzen“ – „des Endlichen nicht entbehren“ könne (BR, S. 146). „Ohne Welt ist Gott nicht Gott“ bemerkt er im selben Gedankengang (BR, S. 148). Diese gedankliche Figur passt nicht nur bestens zur dialektischen Vermittlung des Unendlichen im Endlichen, sondern auch zur Menschwerdung Gottes (BR, S. 232). Etwas weniger abstrakt ausgedrückt bedeutet dies, dass Gott in der Andacht des einzelnen Subjekts anwesend und dieses Subjekt in Gott gleichzeitig geborgen sein kann. Die erwähnte „konkrete Einheit“ von Gott und Mensch, die in Christus modellhaft verwirklicht ist, wird durch die Dialektik des Endlichen für jeden Einzelnen möglich. Die Vereinigung des Menschen mit Gott ist endlicher Natur, da sie ja auch nicht anders als aus der menschlichen, endlichen Perspektive gedacht werden kann. Sie ist nicht nur endlich, sondern auch nicht ein für allemal erreichbar und nicht auf Dauer zu stellen. Darin steckt das große Risiko des Kultus, das mit dem Ausgangspunkt der Überlegungen vorgezeichnet ist und in der „formalen Subjektivität“ (BR, S. 137) ihren Namen hat. Dieser subjektive Ausgangspunkt ist zunächst unvermeidlich, da das „Unendliche, Jenseitige [...] nur durch mich gesetzt“ ist (BR, S. 138), wie er weiter sagt. Die Gefahr, die ich schon erwähnte, die der Eitelkeit und Hohlheit, ist dann virulent, wenn die endliche Perspektive sich abstrakt „zum Unendlichen steigert“. Dann droht „die höchste Form der Unwahrheit, die Lüge und das Böse“ (BR, S. 141). Um dieser Gefahr zu entgehen, muss ich – wie Hegel fordert – auf mich selbst Verzicht leisten, mich selbst und das Denken meiner selbst als Substanz „aufheben“ in der Andacht (BR, S. 145). Darin liegt die Schwierigkeit, dass ich mich aufgeben soll, ohne mich selbst wirklich ganz aufgeben zu können; schließlich geht es ja um meine Vereinigung mit Gott.
|| Ausstellung wies der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger darauf hin, dass „Bauten für den religiösen Kultus [...] bis ins 20. Jahrhundert als höchste Form der Architektur, als edelste und bedeutendste Aufgabe für einen Architekten“ galten (unveröffentlichtes Manuskript, zitiert mit Erlaubnis des Verfassers).
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Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Hegel bewegt. Wie kann das einzelne Subjekt dem Risiko, das Unendliche auf endliche, rationale, begrifflich abstrakte Weise – in Hegels eigenem Jargon ‚schlecht unendlich‘ – zu denken, entgehen, wo doch genau diese Art des Denkens tief im Subjekt verwurzelt ist? Sicherheit und Gewissheit bei der Überwindung dieses Risikos kann Hegel nicht anbieten. An einer Stelle spricht Hegel von der „unio mystica“ als dem Genuss, „daß ich bei Gott in Gnaden bin“ (BR, S. 235). Die unio mystica erscheint wie eine Ausflucht, wie ein rettender Anker, der dem Kultus einen spirituellen Halt geben soll, den das Denken selbst nicht gewähren kann, jedenfalls nicht ohne die erwähnten Risiken. Der Verzicht auf das eigene Subjektsein, den Hegel anmahnt, um der Gefahr der schlechten Unendlichkeit, der Eitelkeit und Lüge zu entgehen, findet notgedrungen im selben Inneren statt, in dem auch die Einheit mit Gott im Kultus gesucht werden soll. Die Wandlung jenes Inneren, die der Kultus ermöglichen und in der Andacht ihren Ausdruck finden soll, ist aber schwer nachvollziehbar, wenn der Kultus keine äußere Gestalt hat, die eine gewisse Orientierung beim Verzicht auf das eigene, letztlich eitle und selbstgefällige Subjektsein anbietet. Es gibt über den Kultus und die Andacht hinaus ein Element in Hegels Religionsphilosophie, das geeignet erscheint, dem nicht weiter strukturierten, andächtigen Verharren in der eigenen Innerlichkeit eine äußere Form zu geben, die Gemeinde. In Hegels Schriften finden wir die Gemeinde in zweierlei Gestalt, einerseits als die reale ursprüngliche Gemeinde der Christen nach Christi Kreuzigung und Auferstehung13, andererseits als historisch davon unabhängigen Begriff. In beidem sieht Hegel das Wirken von Gottes Geist in Gestalt des Heiligen Geistes.14 In einer ganz eigenwilligen Auslegung von Luthers Prinzip der sola scriptura argumentiert Hegel, dass die Gemeinde den Inhalt ihres Glaubens hervorbringe; eigenwillig ist dies, weil Luther selbst allein die Hl. Schrift und nicht die Gemeinde als Quelle der Glaubensinhalte versteht. Der Geist lehre die Gemeinde, „daß Christus Gottes Sohn ist, daß er zur Rechten des Vaters im Himmel sitzt“.15 Die kirchliche Tradition gehe ihn nichts an, meint er weiter, und dann weist er der Philosophie ihre Rolle in der Gemeinde zu: „Der wahrhafte christliche Glaubensinhalt ist zu rechtfertigen durch die Philosophie, nicht durch die Geschichte.“16 Die Gemeinde heißt zwar „Kirche“ und existiert auch als solche, hat aber, was die Wahrheit des Glaubens anlangt, keinen äußeren, sondern nur einen inneren Raum. Der Begriff der Gemeinde sei „der Prozeß des Subjekts in und an ihm selbst“, || 13 Religionsphilosophie, S. 669ff. Hegel spricht hier über die „Entstehung der Gemeinde“. Er behandelt in diesem Text aber gleich die Wahrheitsfrage, ob Gott einen Sohn hat, ob er ihn in die Welt gesandt habe und ob dies Jesus von Nazareth sei etc., also um das, worum es im Begriff der Gemeinde geht. Es geht nicht um die Wahrheit der Kirchengeschichte. 14 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, S. 306ff. 15 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, S. 318. 16 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, S. 318.
370 | Wilhelm Vossenkuhl und zwar des Subjekts, das „in den Geist aufgenommen ist“.17 Es wäre daher verfehlt vom Begriff der Gemeinde zu erwarten, dass er der Andacht eine äußere Form etwa in Gestalt eines Ritus gibt. Die Innerlichkeit des Kultus wird im Gegenteil im Begriff der Gemeinde noch einmal gesteigert, zu einem philosophischen Rechtfertigungsgeschehen der Wahrheiten des christlichen Glaubens. Es ist aber kein Rechtfertigungsgeschehen in Gestalt eines theologischen Dialogs oder eines Legitimationsprozesses. Es findet in keinem intersubjektiven, offenen Gesprächsraum statt, sondern in einem inneren Raum, in einem rein geistigen, subjektiven Geschehen. Der mystische Charakter von Hegels Religionsphilosophie mag auf dem Hintergrund seines dialektischen, prozessualen und darin durchaus transparenten Denkens, seiner Logik, einerseits zunächst befremdlich erscheinen. Es ist andererseits aber erstaunlich und bemerkenswert, dass er seine Religionsphilosophie nicht vollständig in sein System integrieren will. Er wehrt sich in gewisser Weise gegen die Gefahren und Risiken einer solchen vollständigen Integration. Es sind primär Gefahren und Risiken für den christlichen Glauben, aber auch für die Philosophie selbst, wenn sie sich anschickt, das Absolute zu einem Gegenstand zu machen, den die endliche menschliche Vernunft ‚schlecht-unendlich‘ nicht wirklich beherrschen kann. Sie würde auf diese Weise nicht nur den Gehalt des Glaubens durch Rationalisierung zerstören, sondern sich selbst auch unglaubwürdig machen. Eine Philosophie, die nach dem Absoluten greift und sich damit zur höchsten religiösen Instanz erklärt, macht sich lächerlich. Dieser Gefahr ist Hegel entgangen. Die Verbannung des Kultus, der Andacht und der Gemeinde in die Innerlichkeit des Subjekts macht den christlichen Glauben aber so unanschaulich, dass man sich nicht recht vorstellen kann, wie das Feuer der Andacht, von dem Hegel spricht, entfacht werden kann. Deswegen fällt es nicht nur schwer, ‚Gott im Kultus‘ zu denken, sondern mit dieser gedachten Präsenz religiöse Empfindungen zu verbinden.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Begriff der Religion = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (o.J./1966): Begriff der Religion. Hrsg. von Georg Lasson. Hamburg (Nachdruck der 1. Auflage von 1925). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft = Immanuel Kant (1793/1968), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.VI, Berlin 1907/14, Nachdruck Berlin.
|| 17 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, S. 319.
Gott im Kultus | 371 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1830/61959): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Neu hrsg. von Friedhelm Nicolin & Otto Pöggeler. Hamburg. Logik = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1832–45/1969): Logik, Bd. 2. Hrsg. v. Eva Moldenhauer & Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. Religionsphilosophie = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1821/1978): Religionsphilosophie. Bd.1. Hrsg. von Karl-Heinz Ilting. Neapel. Thomas von Aquin (1980): Summa theologiae. Ed. P. Roberto Busa SJ, S.Thomae Aquinatis Opera Omnia, vol. 2, Stuttgart / Bad Cannstatt. Vorlesungen über die Philosophie der Religion = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1832–45/1969): Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg. v. Eva Moldenhauer & Karl Markus Michel. Frankfurt a. M.
Forschungsliteratur Dinkel, Bernhard (1974): Der junge Hegel und die Aufhebung des subjektiven Idealismus (Münchener philosophische Forschungen 9). Bonn. Gutschmidt, Holger (2007): Vernunfteinsicht und Glaube. Hegels These zum Bewußtsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801 (Neue Studien zur Philosophie 20). Göttingen. Nerdinger, Winfried (2013): Eröffnungsrede zur Ausstellung „Spiritualität und Sinnlichkeit. Kirchen und Kapellen in Bayern und Österreich“. Unveröffentlichtes Manuskript. Stock, Wolfgang Jean (2013): Spiritualität und Sinnlichkeit. Kirchen und Kapellen in Bayern und Österreich seit 2000. München. Wolf, Kurt (1960): Die Religionsphilosophie des jungen Hegel. Diss. München.