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German Pages [441] Year 2016
Smail Rapic (Hg.)
Habermas und der
Historische Materialismus
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495861127
.
B
Smail Rapic (Hg.) Habermas und der Historische Materialismus
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 ist die Kapitalismus-Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels von neuem ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auf einer Tagung an der Universität Wuppertal haben Vertreter verschiedener Disziplinen mit Jürgen Habermas über seine Rekonstruktion des Historischen Materialismus diskutiert. Durch die Mitwirkung von Karl-Otto Apel und Agnes Heller wurden Grundfragen der Habermas’schen Kommunikationstheorie und ihre Rolle in der Geschichte des westlichen Marxismus in die Diskussion einbezogen. Was den Band von sonstigen Tagungsbänden abhebt, sind die Entgegnungen von Jürgen Habermas sowie repräsentative Ausschnitte aus der öffentlichen Diskussion.
Der Herausgeber: Smail Rapic, geb. 1958, ist Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal. Buchveröffentlichungen u. a.: »Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse« (2008).
https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Smail Rapic (Hg.)
Habermas und der Historische Materialismus
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans Böckler-Stiftung
2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48566-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86112-7
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Inhalt
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Smail Rapic Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Lambert T. Koch Grußwort zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
I.
Habermas’ kommunikationstheoretische Wende und das Erbe des Historischen Materialismus
William Outhwaite Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus . . . . . . . . . . .
37
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Manfred Baum Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
II. Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext Ágnes Heller Über Habermas – Von alten Zeiten . . . . . . . . . . . . . . .
75
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
5 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Inhalt
Karl-Otto Apel Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104
III. Ökonomie und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ingo Elbe Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas . . . . . . . . . .
123
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
Smail Rapic Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus – Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes aus dem Jahre 1973 .
154
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
Stefan Müller-Doohm Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
216
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Regina Kreide Die verdrängte Demokratie. Kommunikations- und Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt . . . . . . . . . . . . . .
229
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
IV. Moralbewusstsein und Recht Hans-Christoph Schmidt am Busch Welchen normativen Status hat das Privatrecht? Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus .
275
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
294
6 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Inhalt
Michael Quante Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens: Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur . . .
296
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
320
V. Die Selbstverständigung der Moderne Georg Lohmann Ernüchterte Geschichtsphilosophie. Zur Rolle der Geschichtsphilosophie in Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie . . . . .
327
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
344
Ernest Wolf-Gazo Habermas and Young Hegelian Dialectics . . . . . . . . . . . .
347
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
Klaus Erich Kaehler Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne . . . . . . . . . . . .
373
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Hauke Brunkhorst Marxismus und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . .
411
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414
Jürgen Habermas Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421
Kurzbiographien
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister
429
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
7 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Siglenverzeichnis
Jürgen Habermas: DM EI FG LdS LS ND RHM TkH – TkH I – TkH II TP1 TP2 TWI VE
Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985. Erkenntnis und Interesse. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1973. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992. Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien. 5. erweiterte Auflage Frankfurt a. M. 1982. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973. Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1988. Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976. Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., 4. Auflage Frankfurt a. M. 1987: Bd. I Bd. II Theorie und Praxis. Neuwied/Berlin 1963. Theorie und Praxis. Erweitere Neuauflage, Frankfurt a. M. 1971. Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M. 1968. Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1984.
Karl Marx und Friedrich Engels: MEGA MEW
Marx-Engels-Gesamtausgabe. Berlin/Amsterdam 1975 ff. Marx-Engels-Werke. 43 Bde., Berlin 1956 ff.
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Einleitung
Jürgen Habermas wertet in Zur Verfassung Europas (2011) die im Herbst 2008 ausgebrochene Weltfinanzkrise als eine Zäsur in der Geschichte des Kapitalismus. Die Marktwirtschaft konnte sich erstmals »nicht mehr aus eigener Kraft reproduzieren«. 1 Um die drohende Kernschmelze des Weltfinanzsystems abzuwenden, wurden Steuergelder in bislang unvorstellbarer Höhe für die Rettung systemrelevanter Banken bereitgestellt. Dieses »Systemversagen« des Kapitalismus hat sich – so Habermas – »im Bewusstsein der Staatsbürger festgesetzt«, die als Steuerbürger hierfür haften müssen. 2 Daraus resultierte jedoch kein nachhaltiger Politikwechsel in den kapitalistischen Ländern. Die Konsolidierungsprogramme der Europäischen Union für überschuldete Staaten tragen eine neoliberale Handschrift: Durch Gehaltseinbußen der Arbeitnehmer, Einschnitte bei Sozialleistungen und Renten sowie die Privatisierung von öffentlichem Eigentum soll die Rückzahlung der Staatsschulden samt der Zinsen sichergestellt werden; Schuldenschnitte sollen eine Ausnahme bleiben. Die Politik unterwirft sich hiermit nach Habermas’ Diagnose im »Teufelskreis zwischen den Gewinninteressen der Banken und Anleger und dem Gemeinwohlinteresse überschuldeter Staaten« den Imperativen der Finanzmärkte. 3 Dass die Konsolidierungsprogramme in der Eurozone den nationalen Parlamenten von den EU-Leitungsgremien »mithilfe von Sanktionsandrohungen und Pressionen« aufgezwungen wurden, markiert den Übergang zu einer »postdemokratisch[en]« Regierungsform. 4 Habermas weist bereits in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) und in der Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«. In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117. 2 Ebd. 3 Habermas: »Heraus aus dem Teufelskreis«. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. September 2012, S. 15. 4 Habermas: »Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konsolidierung des 1
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Einleitung
Theorie des kommunikativen Handelns (1981) auf ein »unauflösliches Spannungsverhältnis« zwischen Kapitalismus und Demokratie hin (TkH II 507, vgl. LS 54 f.). Unter dem Einfluss des Neoliberalismus haben sich die Gewichte unangesehen des kapitalistischen Systemversagens zugunsten des Kapitals verschoben. 5 Unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise ist die Kapitalismus-Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels von Neuem ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Das Scheitern des sog. »real existierenden Sozialismus« in den osteuropäischen Ländern nahm sich zunächst als Sieg des westlichen Kapitalismus auf ganzer Linie aus. Die marxistische Gesellschaftstheorie schien sich hiermit erledigt zu haben. Nur zwei Jahrzehnte später sind jedoch die kapitalistischen Prosperitätsversprechen von Grund auf zweifelhaft geworden. Der Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 fällt in eine Zeit, in der die ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums unübersehbar zutage getreten sind. Stimmt man Habermas’ These in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus zu, dass kapitalistische Gesellschaften »Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen« können (LS 63), stellt sich der 2008 drohende Kollaps des Weltfinanzsystems als Symptom einer tiefgreifenden Systemkrise des Kapitalismus dar. Hiermit wird die Frage nach der Erklärungskraft wie auch den praktisch-politischen Konsequenzen des Marxismus erneut aktuell – wobei dessen ideologische Funktion in den sog. »real-sozialistischen« Staaten nicht aus dem Blick geraten darf. Dies verleiht der MarxismusRezeption von Jürgen Habermas, der sich bereits mit seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) als Demokratietheoretiker profilierte, besonderes Gewicht. Habermas hebt in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976) das marxistische Erbe seiner Gesellschaftstheorie hervor: »Den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus möchte ich mir zu eigen machen.« (RHM 129) Mit der Applikation des von Engels geprägten Titels »Historischer Materialismus« auf das marxistische Theoriegebäude im Ganzen bringt Habermas das leitende Er-
Völkerrechts – Ein Essay zur Verfassung Europas«. In: ders: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 1), S. 39–96, hier: S. 81. 5 Wie Habermas betont auch Colin Crouch, dass der Neoliberalismus »nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte politisch einflussreicher dasteht denn je.« (Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011, S. 12).
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Einleitung
kenntnisinteresse seines Rekonstruktionsprogramms zum Ausdruck: Die marxistische Gesellschaftstheorie soll als Theorie der sozialen Evolution aktualisiert werden. Ihre inhaltlichen Parallelen zur soziologischen Systemtheorie – insbes. Talcott Parsons’ – werden von Habermas weiter ausgestaltet und mittels der programmatischen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, die er bereits in seinem Beitrag zur Adorno-Festschrift (1963) programmatisch skizziert 6 und in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus erstmals konkret ausgestaltet hat (LS 11 ff.), in das Paradigma einer selbstreflexiven Gesellschaftstheorie im Sinne der Frankfurter Schule integriert. 7 1981 legt Habermas mit der Theorie des kommunikativen Handelns einen umfassenden Gegenentwurf zu den Systemtheorien Parsons’ und Luhmanns, die auf dem deskriptiv-explanatorischen Beobachter-Standpunkt verharren, vor. Die marxistische Theorietradition spielt nun allerdings keine zentrale Rolle mehr; Habermas unterzieht vielmehr das gesellschaftstheoretische Kernstück von Marx’ Kapital – die Analyse der Warenform – einer weitreichenden Kritik (TkH II 492 ff.). Der vorliegende Band, der eine Tagung an der Universität Wuppertal im März 2012 dokumentiert, rückt auf dem Hintergrund von Habermas’ Kritik am neoliberalen Kapitalismus in seinen politischen Schriften seit den 1990er-Jahren 8 sein Programm einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus, das er bis zur Mitte der 70er-Jahre verfolgt hat, erneut in den Fokus. Das Themenspektrum des Bandes enthält vier Schwerpunkte: (1) Die Diagnose von Herrschaftsverhältnissen und Krisensymptomen der gegenwärtigen Form des Kapitalismus steht in den Beiträgen von Stefan Müller-Doohm und Regina Kreide im Zentrum. Smail Rapic versucht, zentrale Aspekte der Krisenanalyse in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus auf die 2008 ausgebrochene Systemkrise des globalisierten Kapitalismus zu applizieren. Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Max Horkheimer (Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1963, S. 473–501. 7 Vgl. Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (1937). In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von A. Schmidt und G. Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216. 8 Vgl. insbes. Habermas: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a. M. 1998, S. 78–90, 137–169; ders.: Zeit der Übergänge (Kleine Politische Schriften IX). Frankfurt a. M. 2001, S. 85–104; Zur Verfassung Europas (s. Anm. 1), S. 99–119. 6
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Einleitung
(2) William Outhwaite und Manfred Baum erörtern Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus in einer werkgeschichtlichen Perspektive. Outhwaite hebt die fortwirkenden Motive hervor, während Baum auf die Neuakzentuierungen im Zuge von Habermas’ kommunikationstheoretischer Wende in den 70er-Jahren hinweist. Ágnes Heller und Karl-Otto Apel führen ihren langjährigen Dialog mit Jürgen Habermas, worin sich die jeweilige Entwicklung ihres Denkens widerspiegelt, fort. Heller antwortet auf die Kritik, die Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne (1988) an ihrem Vermittlungsversuch von Marxismus und Phänomenologie in Das Alltagsleben (dt. 1978) geführt hat, und äußert zugleich Vorbehalte gegen Habermas’ kommunikationstheoretische Wende. Apel beleuchtet die sachlichen Parallelen zwischen dem Historischen Materialismus und dem amerikanischen Pragmatismus, an den die diskurstheoretischen Konzeptionen, die er gemeinsam mit Habermas in den 1960erund 70er-Jahren entwickelt hat, anknüpfen. Apel hebt die Relevanz der im Historischen Materialismus unterbelichteten philosophischen Grundlagenreflexion hervor und verteidigt die wahrheitstheoretische Konzeption des Pragmatismus, wonach die idealtypische Konsensbildung in the long run als die regulative Idee unserer Erkenntnis anzusehen ist, gegen Einwände, die Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung (1999) zu einer Modifikation seines Standpunkts bewogen haben. (3) Für Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus ist seine Reformulierung des Basis/Überbau-Theorems von zentraler Bedeutung. Habermas hält noch in der Theorie des kommunikativen Handelns an ihm fest: Er nennt die Ökonomie den »strukturbildenden« Bereich der Gesellschaft (TkH II 265), verwirft jedoch die – durch einige zugespitzte Formulierungen von Marx und Engels nahe gelegte – reduktionistische Lesart des Basis/Überbau-Theorems, derzufolge Politik, Recht und Kultur in einem direkten kausalen Abhängigkeitsverhältnis von der Ökonomie stehen (MEW 3, 27; 13, 8 f., 470; RHM 157 ff.). In der Theorie des kommunikativen Handelns wendet Habermas gegen Marx’ Analyse der Warenform im Kapital ein, sie verkenne das Eigenrecht der normativ-rechtlichen Sphäre und leiste damit einer »ökonomistisch verkürzte[n]« Sicht der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Vorschub (TkH II 504). Habermas betont allerdings, dass sich bei Marx und Engels auch Ansätze zu einer nicht14 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
reduktionistischen Fassung des Basis/Überbau-Theorems finden (RHM 157 f.). Habermas’ eigener Version dieses Theorems liegt die These zugrunde, dass das normative Bewusstsein eine gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik aufweist. Gesellschaftliche Fortschritte kommen – so die These – dadurch zustande, dass drängende sozioökonomische Systemprobleme den Anstoß zu Innovationen in der normativen Sphäre geben, die deren immanenter Entwicklungslogik folgen und die Lösung der sozioökonomischen Probleme durch eine Reorganisation der Gesellschaftsstruktur ermöglichen. Der Rolle des Rechts in Habermas’ Reformulierung des Basis/ Überbau-Theorems ist der Artikel von Hans-Christoph Schmidt am Busch gewidmet; auch im Beitrag Manfred Baums ist dies ein Kernthema. Ingo Elbe verteidigt Marx’ Kapital gegen Habermas’ Vorwurf, eine ökonomistisch verkürzte Interpretation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu befördern. Smail Rapic bezieht die selbstreflexive Verknüpfung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, womit der Dualität von sozioökonomischen und normativen Entwicklungen methodisch Rechnung getragen werden soll, auf Horkheimers und Adornos Konzeption einer ideologiekritischen Gesellschaftstheorie zurück und sieht hierin zugleich den Interpretationsschlüssel für die Theoriestruktur der Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus in den Frühschriften von Marx und Engels. Michael Quante erörtert im Rekurs auf die anthropologische Dimension des Historischen Materialismus das Verhältnis von universalistisch-deontologischen und gattungsethischen Argumenten in Habermas’ Stellungnahme zur Humangenetik in Die Zukunft der menschlichen Natur (2001). (4) Georg Lohmann setzt Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus in einer geschichtsphilosophischen, Klaus Erich Kaehler in einer subjektivitätstheoretischen Perspektive zu seiner Rezeption des Deutschen Idealismus in Beziehung. Ernest Wolf-Gazo schildert im Blick auf die Einleitung zu Habermas’ Schelling-Dissertation (1954) die Genese der für sein späteres Werk charakteristischen Verknüpfung von philosophischen und politischen Intentionen. Hauke Brunkhorst bettet in seinem Schlussbeitrag eine Analyse von Krisensymptomen des globalisierten Kapitalismus in die evolutionstheoretische Dimension der Habermas’schen Rekonstruktion des 15 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
Historischen Materialismus ein und führt damit die zeitdiagnostische mit der gesellschaftstheoretischen Fragestellung der Tagung nochmals zusammen. Die (geringfügig gekürzte) Wiedergabe der Diskussion auf der Tagung ist dadurch motiviert, dass sich eine sachgerechte Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus, der ursprünglich keine »Doktrin« sein wollte, sondern einen experimentellen Duktus hatte, als »Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« mit offenem Ausgang vollziehen muss. 9 Dies hat gerade die Frankfurter Schule gegenüber den dogmatischen Fixierungen des orthodoxen Marxismus geltend gemacht.
Übersicht über die Beiträge und Habermas’ Entgegnungen William Outhwaite wendet sich in seinem Eröffnungsbeitrag »Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus« gegen die – u. a. von Tom Rockmore und Martin Hartmann vertretene – Auffassung, Habermas habe sich mit seiner Marx-Kritik in der Theorie des kommunikativen Handelns vom Historischen Materialismus entfernt. Die prominente Rolle Max Webers in der Theorie des kommunikativen Handelns läuft – wie Outhwaite hervorhebt – nicht auf eine Abkehr vom Historischen Materialismus hinaus, da Habermas der Weber’schen Deutung des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses eine dezidiert kapitalismuskritische Wendung gibt. Outhwaite schließt mit zwei kritischen Anmerkungen: (1) Er äußert den Verdacht, dass die klassischen Einwände gegen den soziologischen Funktionalismus, die integrativen Kräfte einer Gesellschaft einseitig zu akzentuieren und ihre Wirkungsweise letztlich nur zu beschreiben, nicht eigentlich zu erklären, auch Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus treffen. (2) Outhwaite meldet zugleich Zweifel daran an, dass Habermas’ Kommunikationstheorie als ein zum möglicherweise überholten Historischen Materialismus alternatives Fundament für eine kritische Gesellschaftstheorie fungieren könne. – Habermas stimmt Outhwaites Lesart seiner Werk9 Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen (1847), MEW 4, 321 f.; Marx an Ruge, September 1843. In: Ein Briefwechsel von 1843 [zwischen Marx, Ruge, Bakunin und Feuerbach], MEW 1, 346.
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Einleitung
geschichte zu. Er entgegnet auf Outhwaites ersten Einwand, dass sein Gedanke einer Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins durchaus ein Erklärungspotential für die historische Evolution von Gesellschaftsformationen enthält. In Bezug auf Outhwaites zweiten Einwand räumt er ein, dass der Historische Materialismus ein umfassenderes Erklärungsmodell gesellschaftlicher Transformationsprozesse bildet als seine Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas bekräftigt jedoch seinen Anspruch, eine zeitgemäße Alternative zum Historischen Materialismus, dessen geschichtsteleologischer Aspekt die Kontingenzspielräume historischer Entwicklungen vernachlässige, entworfen zu haben. Manfred Baum stellt in seinem Beitrag »Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas« die Verknüpfung dieser beiden Theorieansätze im Ausgang von zwei hierfür charakteristischen Textstücken aus Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus und der Theorie des kommunikativen Handelns dar: den »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts« (RHM 260–267) und dem Gesellschaftsmodell wechselseitiger Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt, die durch die »Steuerungsmedien« Geld und Macht vermittelt sind (TkH II 489– 547). Nach Baum steht Habermas’ Anknüpfung an Marx, Lukács und Horkheimer hierbei – wie bei den beiden Letztgenannten – im Banne der Soziologie Max Webers und seiner Nachfolger, wenn sie sich auch gegen den Parsons-Luhmann’schen Funktionalismus abgrenzen will. Das Gesellschaftsmodell der Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt soll eine befriedigendere Erklärung des Spätkapitalismus ermöglichen, als sie der ursprüngliche Marxismus mit den für ihn typischen ökonomistischen Verkürzungen liefern kann. Gleichwohl sieht Habermas in seiner Kommunikationstheorie eine Rückkehr zu Marx, genauer zu derjenigen Interpretation von Marx, die durch die Weber-Rezeption im westlichen Marxismus vorbereitet worden ist. Baums Beitrag lässt erkennen, dass er die Verknüpfung von Weber und Marx bei Habermas für problematisch hält. – Habermas weist in seiner Replik darauf hin, dass sein zentraler Kritikpunkt an Marx in der Theorie des kommunikativen Handelns an der für die Architektonik dieses Buches grundlegenden Doppelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive festgemacht ist; diese Unterscheidung wird von Weber nicht getroffen – zumindest nicht explizit. Habermas’ zentraler Einwand gegen Marx’ Kritik der politischen 17 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
Ökonomie lautet, dass er aufgrund der totalisierenden Tendenz seiner Grundbegriffe die Rationalisierungsgewinne des kapitalistischen Systems, an denen er festhalten will, von den degenerierenden bzw. pathologischen Effekten der kapitalistischen Klassenherrschaft, die er auf der Ebene der Handlungsanalyse kritisiert, nicht angemessen abtrennen könne. Ágnes Heller schildert die wichtigsten Etappen ihres philosophischen Austauschs mit Habermas, wobei der Historische Materialismus, von dem sie sich seit langem verabschiedet hat, 10 im Hintergrund bleibt (»Über Habermas – Von alten Zeiten«). Heller führt Habermas’ Einwand in Der philosophische Diskurs der Moderne gegen ihr Buch, Das Alltagsleben, dort werde durch das Produktionsparadigma der Blick auf die gesellschaftliche Realität verengt, auf ein Missverständnis ihrer Verwendung der Begriffe »gesellschaftliche Reproduktion« und »Objektivation« zurück, an denen Habermas seine Kritik festmacht (DM 98 f.): Heller benutzt in Das Alltagsleben beide Begriffe nicht in einer marxistisch-orthodoxen terminologischen Bedeutung, sie appliziert sie vielmehr in einem unspezifischen Sinne auf Grundstrukturen unseres In-der-Welt-Seins. Habermas räumt in seiner Entgegnung ein, dass er in Der philosophische Diskurs der Moderne seine Kritik an der Rolle des Produktionsparadigmas bei György Márkus (DM 100–103) wohl zu Unrecht auf Ágnes Heller übertragen hat. Heller wendet in ihrem Tagungsbeitrag gegen Habermas’ Kommunikationstheorie ein, diese laviere zwischen der transzendentalen und einer empirischen Ebene. Habermas’ Analyse der in allen Sprechakten implizit erhobenen Geltungsansprüche ist auf der transzendentalen Ebene angesiedelt; indem er einen argumentativen Konsens der Diskursgemeinschaft zum Telos sprachlicher Verständigung erklärt, bezieht er zugleich die empirische Ebene ein. Nach Heller bleibt hierbei die Heterogenität menschlicher Lebensformen unterbelichtet. Habermas entgegnet auf diesen Kritikpunkt, dass Argumentationen ohne die gemeinsame Orientierung an der Universalität von Ansprüchen auf Wahrheit und normative Richtigkeit ihren Sinn verlieren. Er bagatellisiere keinesfalls das Faktum des Dissenses, sondern mache auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Basis für den produktiven Umgang mit Meinungsverschiedenheiten aufmerksam.
10
Vgl. ihren Diskussionsbeitrag auf S. 104 f.
18 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
Karl-Otto Apel weist auf die sachlichen Bezüge zwischen den miteinander verwandten Konzeptionen seiner eigenen Transzendentalpragmatik und der von Habermas in den 1970er-Jahren entwickelten Universalpragmatik auf der einen Seite und dem Historischen Materialismus auf der anderen hin, wobei aus seiner Kritik an der »orthodoxen Endfassung« des Historischen Materialismus bei Marx und Engels hervorgeht, dass er vor allem deren Frühschriften im Blick hat. Die dort entworfene Wissenschaft der Geschichte, die das Potential für gesellschaftliche Veränderungen in der gegenwärtigen historischen Situation freilegen soll, versteht sich als kritische Selbstreflexion der menschlichen Praxis. Während Marx und Engels der Philosophie kein selbständiges Existenzrecht zubilligen, insistiert Apel darauf, dass der Historische Materialismus, sofern er sich als Selbstreflexion der menschlichen Praxis begreift, eine genuin philosophische Dimension in sich birgt: Er muss sich selbst in die Entwicklungsgeschichte der kollektiven Praxis, die er rekonstruieren will, einordnen und hierbei die normativen Maßstäbe, mittels derer er die herrschenden Verhältnisse kritisiert, rechtfertigen. Apel und Habermas sind sich mit dem Historischen Materialismus darin einig, dass die metaphysische Ursprungsgestalt der Ersten Philosophie überholt ist. Das von Descartes inaugurierte zweite Paradigma der Ersten Philosophie – die Bewusstseinsphilosophie – ist nach Apel und Habermas methodisch unzureichend; es spielt auch für den Historischen Materialismus keine Rolle. Der Ursprung des dritten Paradigmas liegt im amerikanischen Pragmatismus, der die sprachanalytische Philosophie maßgeblich beeinflusst hat. Apel verknüpft ihn in seiner Transzendentalpragmatik, Habermas in seiner Universalpragmatik mit der transzendentalen Fragestellung Kants. Der amerikanische Pragmatismus berührt sich insofern mit dem Historischen Materialismus, als er die Vernunft in eine zukunftsorientierte geschichtliche Praxis einbettet. Dies geschieht im Pragmatismus in dreifacher Hinsicht: (1) Sein Begründer, Charles S. Peirce, stellt die »pragmatische Maxime« zur Klärung und eventuellen Neudefinition tradierter Begriffe auf, dass deren Sinn anhand von zukunftsorientierten Gedankenexperimenten auf den Prüfstand zu stellen sei. (2) Auch Peirce’s Verständnis der Wahrheit ist zukunftsorientiert: Er betrachtet die Herbeiführung eines Konsenses unter den jeweiligen Experten in the long run – diesen nennt er die ultimate opinion – als das maßgebliche Wahrheitskriterium. (3) Als ethisches Pendant zu dieser regulati19 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
ven Idee unserer Erkenntnis postuliert Peirce ein normativ verbindliches letztes Ziel unseres Handelns. Gegen die Schlüsselrolle, die der regulativen Idee konsensueller Wahrheitsfindung unter idealtypischen Bedingungen bei Peirce, Apel, in Habermas’ diskurstheoretischen Veröffentlichungen der 1970er- bis in die frühen 90er-Jahre 11 wie auch in Hilary Putnams Reason. Truth and History (1981) und Realism and Reasons (1983) zukommt, ist von Donald Davidson, Richard Rorty, Albrecht Wellmer und Cristina Lafont eingewandt worden, dass die Idee der ultimate opinion als prinzipiell unerreichbarer Zielpunkt von Erkenntnisfortschritten keinen Orientierungsrahmen für unsere gegenwärtigen Erkenntnisbemühungen bilden könne und daher als metaphysisches Relikt anzusehen sei: Wenn man den Abstand, der uns stets von einer unüberholbaren ultimate opinion trennt, ernst nimmt, sei die Schlussfolgerung unausweichlich, dass die Wahrheit für uns letztlich unerkennbar ist; behauptet man dagegen, dass wir eine ultimate opinion schon jetzt erfolgreich antizipieren können, unterschlage man den grundsätzlichen Fallibilismusvorbehalt gegenüber faktischen Erkenntnisansprüchen, der mit dem Konzept regulativer Ideen untrennbar verknüpft sei. Habermas hat unter dem Eindruck dieser Kritik seine wahrheitstheoretische Position modifiziert. 12 Apel hält den genannten Einwand jedoch für verfehlt. In Paradigmen der Ersten Philosophie 13 und erneut im vorliegenden Band weist er darauf hin, dass wir nicht umhin kommen, für bestimmte erkenntnistheoretische Aussagen Infallibilität in Anspruch zu nehmen: Dies trifft gerade auch auf den genannten Einwand zu, mit dem regulative Erkenntnisideen definitiv verabschiedet werden sollen. Apel insistiert darauf, dass der Gedanke des Erkenntnisfortschritts, der die Quintessenz des Konzepts der Wahrheit als regulativer Idee ausmacht, nicht dadurch hinfällig wird, dass wir uns den Abstand vor Augen halten, der uns stets von einer unüberholbaren Erkenntnis des Weltganzen trennt. Ingo Elbe verteidigt Marx gegen Habermas’ Vorwurf, soziale Einheit nach dem Muster technisch-manipulativer Objektbezüge zu kon-
Habermas: »Wahrheitstheorien« (1972), VE 127–183; FG 28 ff. Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999, S. 48–55, 251–266, 286–294. 13 Apel: »Wahrheit als regulative Idee«. In: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie. Berlin 2011, S. 322–349. 11 12
20 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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zeptualisieren und hierdurch die interaktive Dimension moderner Gesellschaften zu verfehlen (»Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas«). Elbe vertritt die These, dass Habermas den insbes. in Marx’ reifem ökonomiekritischen Werk entwickelten Begriff der abstrakten Arbeit als versachlichter und entfremdeter Form der Anerkennung von Privatarbeiten im Kapitalismus verfehle und lediglich die anthropologische Dimension konkreter Arbeit erfasse. Habermas verkenne mit seiner Ersetzung des Begriffs »Produktionsverhältnis« durch den des »institutionellen Rahmens« bzw. der »Interaktion« einerseits und des Konzepts des »Subsystems zweckrationalen Handelns« andererseits den innovativen Gehalt des Marx’schen ökonomiekritischen Gesellschaftsbegriffs. Dies habe zur Folge, dass Habermas die Sozialtheorie in eine äußerliche Kombination von symbolisch-interaktionistischem Reduktionismus und systemtheoretischer Affirmation gesellschaftlicher Entfremdung transformiere. Er trenne das Klassenverhältnis von seiner gegenständlichen Vermittlung, d. h. seinem im engeren Sinn ökonomischen Charakter, ab und verharmlose verselbständigte ökonomische Mechanismen, indem er sie als handlungsentlastende Kommunikationsmedien mit dem Ziel der optimalen materiellen Reproduktion interpretiert. – Habermas entgegnet auf Elbes Kritik, dass es ihm nie um eine historisch-philologische Marx-Interpretation gegangen ist; sein Ziel sei es vielmehr gewesen, Aspekte der Marx’schen Theorie für systematische Probleme – z. B. die erkenntnistheoretische Fragestellung von Erkenntnis und Interesse (1968) – und die Analyse einer veränderten geschichtlichen Situation fruchtbar zu machen. Smail Rapic spricht Habermas’ marxistisch inspirierter Diagnose kapitalistischer Krisenphänomene in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus in inhaltlicher wie auch methodischer Hinsicht anhaltende Aktualität zu. Da Habermas in diesem Buch die These vertritt, dass kapitalistische Gesellschaften Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen können, ist es konsequent, dass er in dem Augenblick, als die ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums zutage traten, die Forderung nach gesellschaftlicher Kontrolle wirtschaftlicher Verfügungsmacht erhob. Rapic plädiert dafür, die Perspektive eines Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus, die Habermas 1970 gegenüber Willy Brandt geltend machte, von neuem auszuleuchten. In methodischer Hinsicht interpretiert Rapic die Verschränkung einer systemischen Kausalanalyse von Gesellschaftsformationen in der Beobachterper21 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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spektive mit der geltungslogisch orientierten Rekonstruktion der Evolution von Weltbildern in der Teilnehmerperspektive in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus als konsequente Weiterführung von Horkheimers und Adornos Konzept einer selbstreflexiven kritischen Gesellschaftstheorie: Diese soll durch die Aufdeckung zeitgenössischer Ideologien die spezifischen Möglichkeitsspielräume der gegenwärtigen geschichtlichen Situation freilegen. Rapic versucht zu zeigen, dass mittels der Habermas’schen Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive die Theoriestruktur der Frühschriften von Marx und Engels aufgeschlüsselt werden kann. Im Schlussteil seines Beitrags verteidigt Rapic Habermas’ Kritik an Marx’ Warenform-Analyse im Kapital in der Theorie des kommunikativen Handelns gegen die Metakritik Michael Heinrichs und Moishe Postones. – Habermas stimmt in seiner Entgegnung Rapics Zielsetzung grundsätzlich zu, die Zeitdiagnose in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus für die Analyse der gegenwärtigen Systemkrise des globalisierten Kapitalismus fruchtbar zu machen und die Theoriestruktur des Buches, die auf der dialektischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive beruht, als Leitfaden für die Interpretation der Frühschriften von Marx und Engels zu benutzen. Er äußert aber zugleich mehrere Vorbehalte gegen Rapics Argumentation: (1) Die Krisendiagnose in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus lässt sich auf die heutige Situation nur mit Einschränkungen applizieren. Habermas konstatiert im kritischen Rückblick auf dieses Buch, dass er – ebenso wie Claus Offe – auf dem Höhepunkt des Hobsbawm’schen »Golden Age« in den frühen 1970erJahren die Steuerungsfähigkeit kapitalistischer Staaten überschätzt hat. Beide hätten damals mit dem manifesten Ausbruch ökonomischer Krisen nicht mehr gerechnet und sich daher sogleich der Verschiebung der Krisenpotentiale in die Dilemmata der staatlichen Administration und in den Motivationshaushalt der heranwachsenden Generationen zugewandt. (2) Die Theorie des kommunikativen Handelns ist aufgrund ihres kommunikationstheoretischen Ansatzes von Habermas’ Schriften der 1950er- und 60er-Jahre weiter entfernt, als es in Rapics Darstellung den Anschein hat. (3) Das Konzept einer auf Ideologiekritik angelegten Gesellschaftstheorie, an dem Rapic festhält, ist nach Habermas nicht mehr zeitgemäß, da die Wahlbevölkerungen nicht länger festgefügten Weltanschauungen religiöser oder philosophischer Herkunft verhaftet seien. Stefan Müller-Doohm diskutiert Habermas’ Kritik am gegenwär22 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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tigen neoliberalen Kapitalismus auf dem Hintergrund seiner Marxismus-Rezeption (»Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas«). Habermas meldete bereits in seinen ersten Veröffentlichungen Vorbehalte gegenüber dem marxistischen Verständnis des Klassenantagonismus als der entscheidenden Triebkraft gesellschaftlicher Veränderungen an. Seine in den 1970er-Jahren formulierte These, dass der Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins eine gesellschaftliche Schrittmacherfunktion zukommt, schließt eine Kritik an Marx’ Anspruch ein, die Wertformanalyse des Kapital decke den Nukleus der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf. In der Theorie des kommunikativen Handelns betrachtet Habermas das Geld nicht primär als Ausdruck eines Klassenverhältnisses, sondern als systemisches Steuerungsmedium, dessen entsprachlichte Eigendynamik demokratische Diskursstrukturen zwar bedrohe, von diesen jedoch kanalisiert werden könne. Habermas’ zentraler Einwand gegen die westliche Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte lautet dementsprechend, dass durch die neoliberalen Privatisierungsprogramme die Möglichkeiten einer staatlichen Sanktionierung der kapitalistischen Wettbewerbsund Profitlogik, von deren prinzipieller Effizienz er nach wie vor überzeugt ist, aus der Hand gegeben wurden. Da Habermas einen staatlichen Paternalismus ablehnt und zugleich hervorhebt, dass komplexe ökonomische Systeme nicht basisdemokratisch gelenkt werden können, gehen seine konkreten Vorschläge zur Domestizierung des Kapitalismus über die weitgehend konsensfähigen Forderungen nach größerer Kontrolle des Finanzsektors und der Stärkung transnationaler Rechtsmedien sowie des europäischen Einigungsprozesses nicht wesentlich hinaus. – Habermas erklärt sich mit Müller-Doohms Darstellung seiner Kapitalismus-Kritik ohne Abstriche einverstanden. Er räumt ein, dass seine Vorschläge für eine demokratische Zähmung des Kapitalismus eine begrenzte Reichweite haben, da er seine Krisendiagnosen der letzten Jahre nicht mehr gesellschaftstheoretisch untermauert habe. Diese Lücke werde durch die Arbeiten insbes. von Hauke Brunkhorst, Claus Offe und Wolfgang Streeck geschlossen. Regina Kreide analysiert die Aushöhlung demokratischer Entscheidungsprozesse durch den Neoliberalismus am Leitfaden von Habermas’ These in der Theorie des kommunikativen Handelns, dass kommunikative Praktiken der Lebenswelt in fortschreitendem Maße von systemischen Mechanismen des Marktes und der Administration kolonialisiert werden (»Die verdrängte Demokratie. Kommunikations23 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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und Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt«). Die Demokratie ist durch Globalisierung, Eliten- und Lobbygruppen sowie die Finanz- und Wirtschaftskrise in Bedrängnis geraten. Der Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt engt nationalstaatliche Gestaltungsspielräume ein, schwächt die Position der Lohnabhängigen und stärkt den Einfluss der ökonomischen global players auf die transnationalen politischen Entscheidungsgremien, die sich parlamentarischer Kontrolle zunehmend entziehen. Die Politische Theorie und die Philosophie reagieren auf diese Herausforderungen nach Kreide entweder mit einer zu ›weltabgewandten‹ idealistischen Position, mit einem empirisch unzulänglichen und normvergessenen Governance-Ansatz oder mit einer Dissenstheorie, die ohne empirische Rückendeckung die Demokratie als Ort des nicht begründbaren Konfliktes ansieht. Kreide vertritt die These, dass die normative Demokratietheorie auf eine empirische informierte Gesellschaftstheorie angewiesen ist. Ein solcher wechselseitiger Verweis von Demokratie- auf Gesellschaftstheorie ist bereits in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns angelegt. Kreide zeigt, dass eine revidierte, den aktuellen Gegebenheiten angepasste Version der Habermas’schen ›Kolonialisierungsthese‹ das notwendige sozialwissenschaftliche und philosophische Rüstzeug bietet, um eine gesellschaftstheoretische Rekonstruktion von Demokratieblockaden und -potentialen zu gewährleisten. Diese Analyse lässt zugleich Rückschlüsse auf eine Demokratietheorie zu, bei der neben der Reflexivität des demokratischen Verfahrens vor allem die außer-institutionelle kommunikative Macht eine wichtige Rolle spielt. Diese könnte, so Kreides Annahme, trotz einer unverrückbaren Übermacht des Marktes und privatrechtlicher, technisierter Politik die Triebfeder für Umwandlungsprozesse sein. – Habermas stimmt Kreides Analyse der fortschreitenden Monetarisierung privater und öffentlicher Lebensbereiche im neoliberalen Zeitalter ohne Abstriche zu. Er betont zugleich, dass Kreide seine Analyse der Ambivalenz des modernen Rechts in der Theorie des kommunikativen Handelns im Blick auf den globalisierten neoliberalen Kapitalismus adäquat fortschreibt. Gemäß der Theorie des kommunikativen Handelns ermöglicht die Rechtsordnung des neuzeitlichen Verfassungsstaats auf der einen Seite die demokratische Partizipation der Bürger, auf der anderen Seite bringen die Verrechtlichungsschübe moderner Gesellschaften eine Ausweitung der administrativen Kontrolle des sozialen Lebens mit sich (TkH II 530 ff.). Diese »Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug« 24 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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(TkH II 531) hat sich durch die fortschreitende Globalisierung dahingehend transformiert, dass die zunehmende Verrechtlichung internationaler Organisationen und Ordnungsstrukturen einerseits das Potential zur Eindämmung nationalstaatlicher Machtpolitik enthält, die Entscheidungsspielräume der Bürger andererseits aber dadurch eingeengt werden, dass ihr Einfluss auf die internationale Rechtssetzung schrumpft und die neoliberale Privatisierungspolitik zugleich die Macht der ökonomischen global players stärkt. Hans-Christoph Schmidt am Buschs Beitrag »Welchen normativen Status hat das Privatrecht?« nimmt seinen Ausgang von der Beobachtung, dass eine Bestimmung des normativen Status’ des Privatrechts hinsichtlich der Möglichkeiten der Fundierung einer Kapitalismuskritik von großer Wichtigkeit ist. Angesichts dieses Umstands fragt Schmidt am Busch, ob Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus eine zufriedenstellende Erörterung privatrechtlicher Institutionen ermöglicht. Im Zuge der Untersuchung dieser Frage analysiert Schmidt am Busch die Grundannahmen und Kernelemente des Historischen Materialismus in der von Habermas vertretenen Version und grenzt diese Theorie gegenüber Marx und dem orthodoxen Marxismus ab. Schmidt am Busch führt dann aus, warum der Historische Materialismus Habermas’scher Prägung in der uns vorliegenden Fassung keine einheitliche Grundlage für eine Bestimmung des normativen Status’ des Privatrechts zur Verfügung stelle und deshalb zeitgenössische Kapitalismus-Kritiken in diesem Punkt sachlich nicht bereichern könne. Abschließend benennt Schmidt am Busch einige Erfordernisse, die der Historische Materialismus erfüllen können muss, wenn er auf dem Feld der Kapitalismus-Kritik ein ernst zu nehmender Kandidat sein möchte. – Habermas entgegnet auf den Einwand, seine Darstellung des neuzeitlichen Privatrechts bleibe zweideutig, dass Schmidt am Busch einen Kernpunkt seiner Argumentation missversteht: Habermas will gerade herausstellen, dass das neuzeitliche Privatrecht gegenläufige Tendenzen in sich birgt, indem es auf der einen Seite eine Funktion im kapitalistischen Wirtschaftskreislauf erfüllt und auf der anderen mit Rechtfertigungsansprüchen verknüpft ist, die nur auf demokratischem Weg erfüllt werden können. Die von Schmidt am Busch der Habermas’schen Darstellung angekreidete Zweideutigkeit ist demnach in der Sache selbst verortet. Michael Quante verfolgt in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Die Zukunft der menschlichen Natur (2001) das Ziel, den 25 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Einleitung
Historischen Materialismus, den er im Kern als eine kritische philosophische Anthropologie versteht, für die Klärung des Verhältnisses von universalistischer deontologischer Moral und gattungsethisch unverzichtbaren Elementen der Vorstellung eines gelingenden Lebens fruchtbar zu machen (»Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens. Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur«). Habermas betont, dass die rein deontologische, den Standards nachmetaphysischer Universalisierbarkeit genügende Moral nicht ausreicht, um die konstitutive Bedeutung eines natürlich Unverfügbaren für ein selbstbestimmtes und gelingendes Leben aufzuweisen – was er in Die Zukunft der menschlichen Natur intendiert. Daher bringt er weitere normative Ressourcen unter den Titeln »Gattungsethik« und »Gattungswesen« ins Spiel. Quante bezweifelt, dass es für die selbstbestimmte Lebensführung des Individuums von ausschlaggebender Bedeutung ist, ob das Unverfügbare, dessen Relevanz Habermas hervorhebt, aus der unbeherrschten Natur stammt oder sozial bzw. technisch induzierte Ursprünge hat. Nach Quante lässt sich zwischen beiden Bereichen keine strenge Grenze ziehen. Er beruft sich hierbei auf die Kritik des Historischen Materialismus am Bild der Natur als eines invarianten Fundaments menschlicher Selbstverständigung. Quante vermutet, dass Habermas’ grundsätzlicher Ablehnung eugenischer Eingriffe ein ahistorisches Verständnis der Naturwüchsigkeit des Menschen zugrunde liegt – was Habermas in seiner Entgegnung allerdings bestreitet. Quante erklärt es für legitim, den Marx’schen Gedanken der Humanisierung der (menschlichen) Natur auf die Humangenetik zu übertragen, wobei er sich aber ebenso entschieden wie Habermas gegen Fremdsteuerungsmechanismen der Humantechnologie wendet. – Habermas hebt in seiner Entgegnung die unterschiedlichen Zielsetzungen der gattungsethischen Reflexionen Quantes und seiner eigenen Stellungnahme zu eugenischen Eingriffen hervor: Während Quante im Rekurs auf die Anthropologie des Historischen Materialismus normative Kriterien für die Ausschöpfung der »humanen Potentiale«, die im Bereich der Humangenetik zu erreichen sind, gewinnen will, weist Habermas der Gattungsethik die Aufgabe zu, die – für sich genommen nicht durchschlagenden – Einwände der deontologischen Moral gegen eugenische Eingriffe zu untermauern. Georg Lohmann zeigt in seinem Beitrag »Ernüchterte Geschichtsphilosophie«, dass Habermas trotz seiner in den 1970er-Jahren vorgenommenen Abkehr von objektivistischen Geschichtskonzeptionen 26 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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idealistischer wie auch marxistischer Provenienz bis heute an einer pragmatischen Geschichtsdeutung in der Tradition Kants festhält. Lohmanns Vorschlag lautet, die ernüchterten Motive dieser durchgehend ambivalenten Geschichtsphilosophie zurück zu beziehen auf die rauschhaft-spekulative Geschichtsphilosophie Schellings einer Kontraktion Gottes, die der junge Habermas in seiner Dissertation Das Absolute und die Geschichte (1954) so beeindruckend interpretiert hat. Von der Rekonstruktion des Historischen Materialismus bis zum Projekt einer »Konstitutionalisierung des Völkerrechts« (2004 u. ö.) ist Habermas’ beibehaltene Geschichtsphilosophie einer »realistischen Utopie« (J. Rawls) durch »eine – eher aus Verzweiflung geborene – Hoffnung« (Faktizität und Geltung, 1992) charakterisiert, die den für politisches Handeln notwendigen pragmatischen Optimismus auf die Rechts- und Verfassungsentwicklung konzentriert und zugleich mit dem Eingedenken unabgegoltener Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten kontrastiert. – Habermas räumt in seiner Entgegnung ein, dass in seinem dezidiert nachmetaphysischen Denken ein spekulatives Freiheitspathos nachwirken könne. Diesem fehlt allerdings bei Schelling, der von der Mystik beeinflusst war, eine zureichende Begründung. Der pragmatische Optimismus, den Lohmann bei ihm entdeckt, entspringe aus der Verpflichtung, gegen die Verzweiflung anzudenken: Nur so könne man verantwortlich handeln. Ernest Wolf-Gazo stellt die von Georg Lohmann angesprochenen Keime späterer Entwicklungslinien von Habermas’ Denken in seiner Schelling-Dissertation detailliert dar (»Habermas and Young Hegelian Dialectics«). Wolf-Gazos besonderes Augenmerk gilt der Einleitung zur Dissertation, die Habermas erst nach der Fertigstellung des Haupttextes verfasst hat. Die Einleitung beleuchtet eine Traditionslinie, die Schellings Geschichtsphilosophie an die Theosophie Jakob Böhmes und die jüdische Mystik anbindet und beim jungen Marx nachwirkt. Die spezifische Verknüpfung des naturphilosophisch-dialektischen mit den emanzipatorischen Aspekten dieser Traditionslinie spielt auch für Ernst Bloch und Herbert Marcuse eine zentrale Rolle; beide Autoren wurden für Habermas allerdings erst nach dem Abschluss seiner Dissertation relevant. Wolf-Gazo sieht in der Tatsache, dass Habermas nicht im Haupttext, sondern nur in der später verfassten Einleitung auf Marx eingeht, den Ausdruck eines biographischen Umbruchs: Habermas’ gesellschaftspolitische Interessen, die zuvor von seinen philosophischen Studien abgetrennt waren, wurden nun zum integralen 27 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Bestandteil seiner akademischen Arbeit. – Habermas stimmt dieser Deutung im Wesentlichen zu. Er relativiert allerdings die von WolfGazo akzentuierte Relevanz seiner Dissertation für sein weiteres Denken: Seine Tätigkeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung war ein tiefgreifender Neubeginn. Die zentrale These des Beitrags von Klaus Erich Kaehler: »Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne« besagt, dass ein »Ausweg aus der Subjektphilosophie« nur dann nötig scheint, wenn der Subjektbegriff der Moderne nicht von Anfang an in prinzipieller Schärfe unterschieden wird von demjenigen Subjekt, das intradisziplinär als sich selbstreflexiv entwickelndes Prinzip der Philosophien von Descartes bis Hegel rekonstruierbar ist. Erst aus dieser kritischen Rekonstruktion des äußersten Anspruchs der suisuffizienten Vernunft und ihres Subjekts ergibt sich eine argumentative, kritisch-genetische Rechtfertigung für die Neubestimmung des Subjekts der Moderne in prinzipieller Bedeutung, nämlich als endliches Subjekt in den drei nicht mehr hierarchischen, sondern gleichursprünglichen Dimensionen der Naturalität, Individualität und Pluralität/Sozialität. Dann ist allerdings der Anfang der Moderne als nachmetaphysisches Denken nicht bei Kant zu haben und erst recht bei Hegel nur ex negativo. Darin liegt zwar eine Differenz zum historischen Ansatz der Moderne bei Habermas, doch wird die inhaltliche Ausführung der Philosophie der Moderne nach dem Maßstab dieses nachmetaphysischen (»dezentrierten«) Subjekts, abgesehen von einem Plädoyer für eine eindeutigere Berücksichtigung der qualitativ irreduziblen Dimension der Individualität, mit der kritischen Darstellung der Moderne und ihres normativen Gehalts bei Habermas im Wesentlichen konvergieren. – Habermas erklärt sich mit Kaehlers Sicht der Rolle Hegels im philosophischen Diskurs der Moderne grundsätzlich einverstanden, setzt in seiner Entgegnung jedoch andere Akzente. Um das junghegelianische Programm einer Dezentrierung der absoluten Subjektivität für die Gegenwartsphilosophie fruchtbar zu machen, müsse man dem linguistic turn eine größere systematische Relevanz zuerkennen, als Kaehler es tut. Habermas wendet sich darüber hinaus gegen Kaehlers Verständnis der neuzeitlichen Philosophie als einem linearen Prozess: Während Kaehler das nachmetaphysische Denken erst mit den Junghegelianern beginnen lässt, lokalisiert Habermas dessen Ausgangspunkt bei Kant. Hauke Brunkhorst spitzt Habermas’ Korrektur des Primats der Ökonomie in der marxistischen Theorie der sozialen Evolution dahin28 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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gehend zu, dass das Verlangen der Unterdrückten nach Gerechtigkeit eine basale geschichtliche Triebkraft ist (»Marxismus und Evolution«). Obwohl Marx in seinen historischen Arbeiten selber gezeigt hat, dass die großen Revolutionen nicht aus bloßen Verteilungskämpfen, sondern stets auch aus konfligierenden normativen Forderungen entsprungen sind, hat er das Wirtschaftssystem und den politischen Diskurs in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht als gleichursprüngliche Aspekte der sozialen Evolution anerkannt. Er tendierte zu einer funktionalistischen Sicht des Klassenkampfs als des Motors des ökonomischen Fortschritts. Habermas korrigiert – so Brunkhorst – diese Einseitigkeit, indem er die Eigenlogik normativer Diskurse und Kontroversen hervorhebt. Die Evolution des Rechts erweitert das argumentative Arsenal der Herrschaftskritik und kann hierdurch die Emanzipation der Opfer und Verlierer der Geschichte vorantreiben. Die ökonomischen Krisen des modernen Kapitalismus gehen immer mit Legitimationskrisen einher. Die 2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise hat den ideologischen Charakter der neoliberalen Prosperitätsversprechen ans Licht gebracht. – Habermas bekräftigt in seiner Stellungnahme zu Brunkhorsts Beitrag ihre gemeinsame Gegenwendung gegen rein funktionalistische Erklärungen der sozialen Evolution. Ohne das unermüdliche Engagement meiner Mitarbeiter Karina Schlingensiepen, Nikolai Plößer und Andreas Thomas, das streckenweise bis an die Grenzen des Zumutbaren ging, hätte das Tagungsprojekt nicht realisiert werden können. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Florian Schimpe hat uns bei der Drucklegung des Tagungsbandes engagiert unterstützt. Die Hans-Böckler-Stiftung stellte für den Tagungsband einen großzügigen Druckkostenzuschuss zur Verfügung. Hierfür sei insbesondere der Leiterin der Abteilung Forschungsförderung, Frau Dr. Claudia Bogedan, gedankt. Wuppertal, Juli 2014
Smail Rapic
29 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Grußwort zur Tagung Lambert T. Koch, Rektor der Bergischen Universität Wuppertal
Liebe Tagungsteilnehmer, ein herzliches Willkommen an der Bergischen Universität Wuppertal! Es ist mir eine große Freude, Sie in so großer Zahl zur Tagung »Habermas und der Historische Materialismus« an unserer Hochschule begrüßen zu dürfen. Und nicht allein angesichts dieses Titels ist es mir – natürlich – eine ganz besondere Ehre, Herrn Professor Habermas persönlich willkommen zu heißen. Ich denke, ich bin mir mit allen Versammelten darin einig, dass Ihre Anwesenheit, verehrter Herr Habermas, unserer Veranstaltung Glanz verleiht und unsere Gespräche und Diskussionen in besonderer Weise beflügeln wird. Danke dafür, dass Sie hier sind! Dass so viele aus dem In- und Ausland gekommen sind und dass auch die breitere Öffentlichkeit einen so regen Anteil nimmt, ist ein besonders schönes Zeichen: Darf es doch einmal mehr als Echo Ihres überaus großen Engagements und der über lange Jahre so hohen Präsenz als »öffentlicher Intellektueller« gewertet werden. Bereits als junger Doktorand habe ich bewundert, wie Sie es verstanden haben, ein breites Publikum für die Debatte um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit zu interessieren, wie es Ihnen immer wieder neu gelungen ist, gewissermaßen das Interesse der Zivilgesellschaft an sich selbst real-akademisch zu qualifizieren. So möchte ich es eingangs auch nicht versäumen, dem Ideengeber und Organisator unserer heutigen Tagung, Herrn Professor Rapic – natürlich mit seinen Helfern – herzlich zu danken! Danke dafür, lieber Herr Rapic, dass Sie diese geschichtsträchtige Veranstaltung, in langfristiger Vorbereitung, möglich werden ließen. Was das Tagungsthema selbst anbetrifft, so liegt auf der Hand, dass sich darüber ganz im Sinne des Wirkens von Jürgen Habermas vielerlei spannende Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaft30 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Grußwort zur Tagung
lichen und politischen Entwicklungen herstellen lassen. Und das Programm zeigt, dass diese Chance genutzt zu werden verspricht: Ziel der Tagung ist die Verknüpfung gesellschaftstheoretischer und philosophischer Fragestellungen mit aktuellen gesellschaftspolitischen Anliegen. Dabei wird – in der Geburtsstadt von Friedrich Engels – der Bogen gespannt zu dem von Marx und Engels entscheidend geprägten Historischen Materialismus, verbunden mit der Frage, inwieweit sich Facetten dieses Gedankengebäudes mit Blick auf heutige Herausforderungen wieder neu fruchtbar machen lassen. Zentrales Movens ist wohl vor allem die von immer mehr Menschen geteilte Befürchtung, dass sich unser globalisierter Kapitalismus in einer nicht mehr so einfach zu überwindenden Systemkrise befindet. Wenn die überkommene materialistische Anschauung der Geschichte zutrifft, dass es insbesondere die ökonomischen Prozesse sind, die unsere Gesellschaften formieren oder auch deformieren, dann drängt sich die Frage auf, wie die darin wirkenden materiellen Triebkräfte so außer Rand und Band geraten konnten. Belege dafür, dass dies so ist, begegnen uns ja nahezu täglich in den Medien – denken wir nur an die aktuellen Friktionen an den Finanzmärkten im Umfeld der »Euro-Krise« und an die Leiden derjenigen Menschen, die etwa in Griechenland nahezu tatenlos miterleben müssen, wie ihre Wohlstandspositionen zunehmend erodieren. Vielen scheint es heute, als hechele der Reparaturbetrieb Politik immer weiter und unkontrollierter hinter dem verlorengegangenen Anspruch her, die alles entscheidenden Marktkräfte zum Wohle der Menschheit zu zähmen. Doch was könnten die richtigen Konsequenzen aus dieser Beobachtung sein? Sind die immer mehr zu einem globalen Kapitalismus konvergierenden marktwirtschaftlich-demokratischen Ordnungssysteme westlicher Prägung gar nicht mehr reparierbar? Oder, wenn doch, wo hätten Reparaturen anzusetzen? Wer kann, darf und müsste Verantwortung im supranationalen Kontext übernehmen? Institutionenökonomen betonen ja, dass der Markt selbst zunächst ein in ethisch-moralischer Hinsicht neutrales Abstraktum darstelle. Ihm in platter Manier die Hauptschuld für die beobachtbaren Verwerfungen zu geben, wie es naive Kapitalismuskritiker gerne tun, führt nicht weiter. Denn die realen Markt-Ergebnisse und -Entwicklungskräfte, die wir je nachdem als gut oder schlecht, als nützlich oder schädlich, als moralisch oder unmoralisch empfinden, lassen sich erst 31 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Lambert T. Koch
aus einer eingehenden Analyse des umgebenden Regelsystems verstehen. Die Konsequenz wäre es dann, dass aus der Unzufriedenheit mit Marktergebnissen, die ja nun einmal die Qualität unseres sozialen Zusammenlebens entscheidend beeinflussen, Regeländerungen resultieren müssten. Es geht dabei eben nicht um die binäre Frage, Kapitalismus oder nicht, sondern darum, wie über solche Regeländerungen die Produktion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen so erfolgen kann, dass sie nachhaltig möglichst vielen in einer Gesellschaft von Nutzen ist. Mit anderen Worten: Erstrebenswert wäre eine sozialverträgliche Zähmung des Kapitalismus – ohne freilich die Problemlösungskompetenz des Systems zu lähmen. Doch warum scheinen sich unsere Regelsysteme heute eher in die entgegengesetzte Richtung zu verändern? Hier gilt es wohl, die Aufmerksamkeit zunächst auf diejenigen Kräfte und Mechanismen zu richten, welche die maßgeblichen Regeln hervorbringen. Wie beispielsweise gehen in die zugrunde liegenden Prozesse Einzelinteressen ein? Welche Interessen gehen mit welcher Gewichtung ein? Wie »herrschaftsfrei« ist der begleitende Dialog? Sind alle Interessenträger hinreichend souverän bei der Beantwortung der Frage, was ihnen tatsächlich frommt? Wie demokratisch sind unsere Demokratien? Wie autonom sind Individuen im Zeitalter der Medienherrschaft? Wie entwicklungsmächtig ist das institutionelle Nirwana, das die ökonomische und kulturelle Globalisierung in vielen Bereichen unserer Interaktion erzeugt? Und wenn wir nach der Leistungsfähigkeit unserer Regelsysteme fragen, muss der Blick schließlich auch auf unser immer konturenloseres Moralbewusstsein und die es aufweichenden Kräfte gerichtet werden. Es könnte dann die Frage resultieren: Ist die Krise des Kapitalismus nicht eigentlich und zu allererst eine Krise unserer Regel- und Wertesysteme? Und: Welche Herausforderungen ergeben sich daraus möglicherweise für die Verantwortlichen in den Bereichen Bildung und Erziehung? Meine Damen und Herren, dies sind nur einige der Überlegungen und Fragen, die mir bei der Befassung mit dem Tagungsprogramm in den Sinn kamen. Sicherlich bringt jeder von Ihnen auch eigene Assoziationen und Ideen mit – und das ist gut so! Ich bin mir sicher, dass sie alle hoch motiviert sind, sich von spannenden Beiträgen zu nicht minder spannenden Diskussionen inspirieren zu lassen. In dieser Hoffnung 32 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Grußwort zur Tagung
wünsche ich Ihnen einen guten Tagungsverlauf und unseren Gästen von auswärts einen angenehmen Aufenthalt in Wuppertal und an unserer Universität!
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I. Habermas’ kommunikationstheoretische Wende und das Erbe des Historischen Materialismus
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William Outhwaite
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus 1 »I do think that I have been a reformist all my life, and maybe I have become a bit more so in recent years. Nevertheless, I mostly feel that I am the last Marxist.« 2
Es geschieht oft, dass sich Leute in der Jugend zum Marxismus bekennen und später langsam von ihm entfernen. Dies ist, wie mir scheint, bei Habermas allerdings nicht der Fall. War er schon in Theorie und Praxis (1963) ein kritischer Freund des Historischen Materialismus, so ist er es danach geblieben, mal freundlicher, mal kritischer. Ein orthodoxerer Marxist hätte sich nicht schon 1960 so ernsthaft mit »vier Fakten gegen Marx« auseinandergesetzt. Diese gegenwärtigen Fakten in den entwickelten kapitalistischen Ländern (Verschränkung von Staat und Gesellschaft, steigender Lebensstandard, Auflösung des Proletariats, sowjetische Diktatur) »bilden gegen eine theoretische Rezeption des Marxismus […] eine unüberwindliche Barriere« (TP1 166), wie auch gegen die »verschwiegene Orthodoxie« (gemeint ist vermutlich Adorno): »deren Kategorien verraten sich in der kulturkritischen Anwendung, ohne als solche ausgewiesen zu werden« (TP1 170). Trotzdem sei der Marxismus als »Geschichtsphilosophie in politischer Absicht« noch ernst zu nehmen und nicht in den Einzelwissenschaften aufzulösen (wie bei Schumpeter und vielleicht auch bei Habermas’ Freund und ehemaligem Kollegen Ralf Dahrendorf). Noch früher, 1955, hat Habermas in einer Rezension eine umfassende Kenntnis der gegenwärtigen Literatur zu Marx demonstriert. Hier nimmt man die Präsenz von Motiven wahr, die in seinen späteren Äußerungen zu Ich danke Simon Susen (City University, London) sehr herzlich für seine Ermutigung und stilistischen Korrekturen. 2 Jürgen Habermas: »Concluding Remarks«. In: Craig Calhoun (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1992, S. 462–479, hier: S. 469. 1
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Marx eine wichtige Rolle spielen. Erstens die Kritik an Ansätzen, die »Marx sehr dicht, zu dicht, an Hegel heranrücken«. 3 Dann die Verteidigung von Marx gegen verleumderische und unseriöse Kritik (hier ein Buch von Leopold Schwarzschild), bei gleichzeitiger Betonung der »ernsthafte[n] Frage, […] wie eine humanistische Ideologiekritik [auch ein wichtiges Motiv der Habermas’schen Marx-Aneignung] zu einer institutionalisierten Ideologie der Inhumanität entarten könnte. Unsere Vermutung geht dahin, dass Marx’ Mißverständnis der Technologie, obschon er zu ihrem Verständnis wie kein zweiter beigetragen hat, in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt.« 4
Etwas später, 1958, betont Habermas in einem Handbuch-Artikel zur Anthropologie den innovativen Charakter des Marxismus im Gegensatz zu einem »Idealismus, der die eigentlich anthropologische Problematik nur in Funktion zur Fundamentallogik eines transzendentalen Bewußtseins oder eines absoluten Geistes abhandeln konnte. Erst von den Neuhegelianern, Feuerbach und Marx voran, wird ein neuer Problemboden gewonnen: zusammen mit Kierkegaard arbeiten sie die Situationsbezogenheit des Menschen heraus: sie erkennen, daß der Mensch die ›Welt‹ des Menschen ist.« 5
Habermas schließt den Artikel mit einem Hinweis auf die »Verbindung von Anthropologie und Theorie der Gesellschaft«, die Marcuse und andere in den USA über die Psychoanalyse versuchen. 6 Im selben Jahr, 1958, so hat er 1981 in einem Interview berichtet, habe er Marx zum ersten Mal als ökonomischen Denker ernst genommen und, unter Adornos Einfluss, es sich abgewöhnt, Marx anthropologisch zu lesen. 7 3 Habermas: »Marx in Perspektiven« (1955). In: ders.: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954–1970. Amsterdam 1970, S. 75–80, hier: S. 78. Siehe dazu: Tom Rockmore: Habermas on Historical Materialism. Bloomington/Indianapolis 1989, S. 185 Anm. 42. 4 Habermas: »Marx in Perspektiven« (s. Anm. 2), S. 80. Das Thema der Technokratie hat Matthew Specter überzeugend als Grundlage der Habermas’schen Öffentlichkeitspolitik betont (Specter: Habermas. An Intellectual Biography. New York 2010). 5 Habermas: »Marx in Perspektiven« (s. Anm. 2), S. 167. 6 A. a. O., S. 180. 7 Habermas: »Dialektik der Rationalisierung. Jürgen Habermas im Gespräch mit Axel Honneth, Eberhard Knödler-Bunte und Arno Widmann«. In: Ästhetik und Kommunikation 45–46 (1981), S. 126–157. Dies ist ein möglicher Diskussionspunkt, weil Honneth und Joas ihre kritische Theorie teilweise in Verbindung mit Anthropologie entwickelt haben.
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Was seine jetzige Position ist, berichtet er selber an anderer Stelle in diesem Heft; ich darf vielleicht eine persönliche Erinnerung dazu beitragen. Ich habe einmal versucht, Habermas für einen geplanten Sammelband zum Postkommunismus zu gewinnen. Er riet mir, ich solle mich lieber an Claus Offe wenden (was ich natürlich auch tat); er selber sei noch marxistisch genug, um zu meinen, man solle den Kapitalismus eher in seinen fortgeschrittensten Formen untersuchen. Infolgedessen stehe ich der folgenden Deutung Tom Rockmores eher skeptisch entgegen. Rockmore hat behauptet, vielleicht jetzt noch stärker als in seinem früheren Buch von 1989, dass Habermas sich vom Historischen Materialismus entfernt habe. In einem Sammelband zu Nietzsche schreibt Rockmore im Jahre 1999: »Habermas, who breaks with Marx to avoid ideological distortion in claims to know, reconceives the subject as independent of context. As a result, he retreats back behind Hegel, for whom the subject of knowledge is a real human being, to a quasi-Kantian conception of subjectivity with Piercean elements.« 8
Auch Martin Hartmann spricht im Kontext der Rekonstruktion des Historischen Materialismus von einer »grundsätzliche[n] Abkehr von einer wesentlichen marxistischen Doktrin«, 9 die dann, wie er zeigt, sowohl hier als auch in Habermas’ späteren Schriften teilweise kompensiert wird. Es ist zwar richtig, dass Habermas’ frühe Unterscheidung zwischen Arbeit und Interaktion unter anderem von seiner Kritik an dem marxistischen Reduktionismus bzw. dem simplifizierten Basis/Überbau-Schema motiviert ist – aber vielleicht auch unter Einfluss von Adornos boutade, Marx wolle die ganze Welt als eine Fabrik darstellen. Ich sehe bei Habermas eher ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen kantischen, hegelianischen und marxistischen Prinzipien und Motiven. Es mag sein, dass Habermas’ Verhältnis zum Historischen Materialismus eine gewisse Glockenkurve beschreibt, wobei marxistische Motive stärker in den 1970er-Jahre zu beobachten sind, als er einerseits den marxistischen Krisenbegriff reformuliert und andererseits, damit Rockmore: »Habermas, Nietzsche, and Cognitive Perspective«. In: Babette E. Babich (Hrsg.): Nietzsche, Theories of Knowledge, and Critical Theory: Nietzsche and the Sciences. Dordrecht 1999, S. 281–288, hier: S. 284. 9 Martin Hartmann: »Historischer Materialismus«. In: Hauke Brunkhorst, Regina Kreide, Cristina Lafont (Hrsg.) Habermas-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2009, S. 320– 322, hier: S. 321. 8
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zusammenhängend und teilweise im selben Buch – Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) –, ein moralisches Entwicklungsmodell dem marxistischen Modell der Entwicklung der Produktivkräfte an die Seite setzt (Habermas’ Doppelbeschluss, könnte man frivol sagen, in Anspielung auf die nukleare Mobilisierung der NATO einige Jahre später). Dieses Modell wird dann im Aufsatzband Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976) fortgesetzt sowie in der Theorie des kommunikativen Handelns (1981). Matthew Specter hat in seiner Intellectual Biography zu Habermas auf sehr interessante Weise das Thema der Technologie bzw. Technokratie betont. »The agenda he set as co-director of the Max Planck Institute extended his preoccupation of the late 1960s with the significance of science and technology for Marxist theory. The relevant query, therefore, is not ›What is the significance of Habermas’s linguistic turn?‹ but rather, ›What is the significance of Habermas’s desire to reconstruct historical materialism?‹ Understanding Habermas’s reconstruction of historical materialism depends first on understanding the West German discourse on technology in the 1960s. Framed by a pervasive discourse on ›technocracy‹, the positions Habermas advocated between 1966 and 1969 have a structural coherence that is apparent only in historical retrospect.« 10
Laut Specter ist Habermas’ frühe Technokratiekritik also noch richtungsweisend für seine spätere Arbeit: Die Wasserscheide ist das von Herbert Marcuse stark beeinflusste Technologieverständnis der Studentenbewegung. Wie Max Weber 1918/1919 wolle Habermas seinen Lesern und Leserinnen ein Stück Realismus und Verantwortungsethik beibringen. »Caught off guard by the students’ unfamiliar modes of protest […] Habermas fell back on Weber’s distinction between aesthetic-expressive and purposive-rational action, arguing that student tactics blurred this essential difference to disastrous effect. He viewed Marcuse’s technological utopianism, increasingly popular with the students, through a similar Weberian lens: Neither nature nor science could be reenchanted. Striking, however, is the equal attention Habermas paid to the weaknesses of the Weberian theory of modernity as rationalization. This was embodied in his repeated recognition that the students’ ›sensitivity‹ toward and alienation from the work ethic were both emotionally legitimate and politically promising.« 11 10 11
Matthew Specter: Habermas (s. Anm. 4), S. 90. A. a. O., S. 122.
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Specters Argument, das vielleicht ein Übergewicht politischer im Verhältnis zu eher wissenschaftsinternen Themen verrät, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf zwei Texte: erstens Marcuses Weber-Kritik, vorgetragen auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1964, 12 und zweitens die Marcuse-Kritik in der von Habermas 1968 herausgegebenen Festschrift Antworten auf Herbert Marcuse und in seinem längeren (ursprünglich für die Festschrift bestimmten) Titelaufsatz in Technik und Wissenschaft als Ideologie (TWI 48–103). Das Hauptthema in Marcuses Aufsatz ist, dass in Webers angeblich wertfreie Soziologie Kategorien des Kapitalismus eingebaut sind: »In Max Webers Soziologie wird formale Rationalität bruchlos zur kapitalistischen Rationalität.« 13 »Die formale Rationalität des Kapitalismus stieß auf ihre Grenzen an zwei Stellen: an der gegebenen Tatsache der privaten Unternehmung, an der Existenz des ›freien Arbeiters‹, und an der gegebenen Tatsache der Trennung des Arbeiters von den Betriebsmitteln der freien Arbeit. Diese beiden Tatsachen gehören für Max Weber zur spezifischen Rationalität des Kapitalismus: sie sind für ihn technologische Notwendigkeiten. Als solche begründen sie nach seiner Meinung Herrschaft als integrales Element kapitalistischer, ja wirtschaftlicher Rationalität in der modernen Industriegesellschaft.« 14
Weber sehe nicht, »daß nicht die ›reine‹, formale, technische Vernunft, sondern die Vernunft der Herrschaft das ›Gehäuse der Hörigkeit‹ herstellt, und daß die Vollendung der technischen Vernunft sehr wohl Instrument der Befreiung des Menschen werden kann.« 15 Die letzten Seiten des Aufsatzes entwickeln diesen Gedankengang weiter. 16 Herbert Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus«. In: Otto Stammer (Hrsg): Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages. Tübingen 1965, S. 161–180. 13 Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«. In: ders.: Kultur und Gesellschaft 2. Frankfurt a. M. 1965, S. 107–129, hier: S. 110. 14 A. a. O., S. 120. 15 A. a. O., S. 127. 16 Der letzte Absatz erscheint in englischer Übersetzung in Negations in der ursprünglichen Form des Konferenzbandes Max Weber und die Soziologie heute (s. Anm. 12). Siehe auch Marcuse: »Some Social Implications of Modern Technology«. In: Andrew Arato/Eike Gebhardt (Hrsg.): The Essential Frankfurt School Reader. New York 1982, S. 138–162 sowie Marcuse und Franz Neumann: »A History of the Doctrine of Social Change« (1941). Mit einer Einleitung von Bill Scheuerman. In: Constellations 1.1 (1994), S. 113–143. 12
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In der Einleitung zur Festschrift charakterisiert Habermas Marcuses These, »daß Technik und Wissenschaft in den industriell fortgeschrittensten Ländern nicht nur zur ersten Produktivkraft geworden sind, die das Potential für eine befriedete und befriedigte Existenz bereitstellt, sondern auch zu einer neuen Form von Ideologie, die eine von den Massen abgeschnittene administrative Gewalt legitimiert.« 17
Zu der Studentenbewegung bemerkt er, Specters spätere These stützend: »Die ›große Weigerung‹ ist Metapher für eine Einstellung, aber nicht per se eine Einsicht.« 18 In seiner Einleitung geht Habermas nicht weiter auf diese Themen ein. Claus Offe aber entdeckt bei Marcuse »eine erstaunliche und beunruhigende Verwandtschaft zu konservativ-institutionalistischen Analysen von Autoren wie Hans Freyer, Helmut Schelsky und Arnold Gehlen.« 19 Für Offe, Axel Honneths spätere Kritik der Macht und seine Kritik der ersten Frankfurter Generation vorwegnehmend, meint »Marcuse […], auf die Rolle schon absehbarer, manifest werdender historischer Konflikte und Motive für die Konstruktion seiner kritischen Theorie verzichten zu können, weil einerseits die Manipulation universell, andererseits die Realität des befriedeten Daseins so nah sei, daß es nur des kollektiven Entschlusses bedürfe, sie herbeizuführen […]. Die Realität des befriedeten Daseins ist nah und fern zugleich. Auf beiden Seiten dieses Paradoxons unterschätzt Marcuse die historische Rolle praktischer Intentionen […]. [So] […] muß die kritische Theorie […] sowohl die Stabilität wie die historische Hinfälligkeit des industriellen Herrschaftssystems aus der Dynamik konkreter, sozial interpretierter Interessen rekonstruieren.« 20
In Technik und Wissenschaft als Ideologie beginnt Habermas mit einer Kritik an Marcuse: »Die Schwierigkeit, die Marcuse mit dem Ausdruck des politischen Gehalts der technischen Vernunft nur zudeckt, ist die, kategorial genau zu bestim-
17 Habermas: »Einleitung«. In: ders. (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse. Frankfurt a. M. 1968, S. 14 f. 18 A. a. O., S. 13. 19 Claus Offe: »Technik und Eindimensionalität – Eine Version der Technokratie-These?« In: Habermas (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse (s. Anm. 17), S. 73–85, hier: S. 81. 20 A. a. O., S. 87 f.
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men, was das heißt: daß sich die rationale Form von Wissenschaft und Technik, also die in Systemen zweckrationalen Handelns verkörperte Rationalität, zur Lebensform, zur ›geschichtlichen Totalität‹ einer Lebenswelt erweitert. Ich meine, daß das weder Max Weber noch Herbert Marcuse befriedigend gelungen ist. Darum möchte ich versuchen, Max Webers Begriff der Rationalisierung in einem anderen Bezugssystem neu zu formulieren.« (TWI 60)
The rest is history, genauer die Geschichte der Rekonstruktion des Historischen Materialismus und weitgehend auch des zweiten Halbbandes der Theorie des kommunikativen Handelns, die Habermas in den darauffolgenden Seiten vorwegnimmt. In der Moderne »werden die traditionalen Zusammenhänge zunehmend Bedingungen der instrumentalen oder der strategischen Rationalität unterworfen: die Organisation der Arbeit und des wirtschaftlichen Verkehrs, das Netzwerk des Transports, der Nachrichten und der Kommunikation, die Institute des privaten Rechtsverkehrs und […] die staatliche Bürokratie. So entsteht die Infrastruktur einer Gesellschaft unter Modernisierungszwang.« (TWI 71)
Bis er dorthin kommt, bleibt für Habermas nicht nur der lange Marsch durch die Universalpragmatik, sondern auch noch die Etappe der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Habermas’ Krisenbegriff wird in einem Kapitel der Dissertation des chilenischen Soziologen Rodrigo Cordero Vega sehr einleuchtend analysiert. Cordero beschreibt eine mögliche Folgerung: »that the concept of crisis is itself an act of communication with critical intentions. In essence, diagnoses and explanations of crisis phenomena are particular forms of communicative codification of the objective problems of social reproduction that seek to make visible at which level and in what form they damage social and individual life. In that capacity, the sociological concept of crisis, and the empirical analyses derived from it, are intended to make sense of the diremptions of social life, that is to say ›in den seltenen Augenblicken, da sie [Kultur und Sprache] als Ressourcen versagen […] dann bedarf es der Reparaturleistungen von Dolmetschern, Interpreten oder Therapeuten.‹ [TkH II 204].« 21
So werden Kritik und Krise aufeinander bezogen, wie Vega auch in Bezug auf Arendt und Foucault argumentiert. 22
Rodrigo Cordero Vega: Diremptions of the Social. The Ideas of Crisis and Critique in Contemporary Social Theory. University of Warwick, Sociology Dept. 2011, S. 180. 22 Zum Kritikbegriff siehe auch Gerard Delanty: »Varieties of critique in sociological 21
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Habermas’ Modell der normativen Evolution kann vielleicht in Zusammenhang mit früheren Versuchen der kantischen Marxisten gebracht werden. Während es hier um den Versuch geht, moralische Motive an den Marxismus anzuknüpfen, 23 wird bei Habermas eher hegelianisch versucht, normative Lernprozesse als wesentlichen Teil des reformulierten Historischen Materialismus einzubeziehen. Wie er in einem schriftlichen Interview 1984 mit Perry Anderson und Peter Dews schreibt: »Having rejected the orthodoxy of the philosophy of history, I had no wish to lapse back either into ethical socialism, or into scientism […].« 24 So sind das Vorbild, wenn es eines gibt, eher die Austromarxisten und Kautsky. 25 Im selben Interview fährt er fort: »So you can see that from the outset my theoretical interests have been consistently determined by those philosophical and socio-theoretical problems which arise out of the movement of thought from Kant through to Marx. My intentions were given their stamp by Western Marxism in the mid-fifties, through a coming-to-terms with Lukács, Korsch and Bloch, Sartre and Merleau-Ponty, and of course with Horkheimer, Adorno and Marcuse. Everything else which I have made my own has only acquired its significance in connection with the project of a renewal of the theory of society grounded in this tradition.« 26
In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus kann man vielleicht eine gewisse Instabilität konstatieren. Einerseits schreibt Habermas in der »Einleitung«: »Kultur […] bleibt ein Überbauphänomen, auch wenn sie beim Übergang zu neuen Entwicklungsniveaus eine Rolle zu spielen scheint, die prominenter ist als viele Marxisten bisher angenommen haben« (RHM 12). Wie Hartmann bemerkt, hält Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns »am evolutionären Modell der Gesellschaftsentwicklung und auch an den marxistischen Begriffen ›Basis‹ und ›Überbau‹ fest. Die evolutionären Impulse für sozialen Wandel, etwa für die Ausdifferenzierung des Wirtschafts- und
theory and their methodological implications for social research«. In: Irish Journal of Sociology 19.1 (2011), S. 68–92. 23 Wie in dem späteren Versuch von Steven Lukes: Marxism and Morality. Oxford 1982. 24 Habermas: Autonomy and Solidarity. Interviews. Ed. by Peter Dews. London 21992, S. 149. 25 Vgl. Lukes: Marxism and Morality (s. Anm. 24), S. 14–19. 26 Habermas: Autonomy and Solidarity (s. Anm. 24), S. 149.
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des Herrschaftssystems, gehen ›vom Bereich der materiellen Produktion‹ aus [TkH II 251].« 27
Andererseits wird der normativen Entwicklung ein gewisses Primat gegeben. Wie Habermas sein Argument in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus resümiert: »daß […] Wissen erst mit der Folge einer Produktivkraftentfaltung implementiert werden kann, wenn der evolutionäre Schritt zu einem neuen institutionellen Rahmen und einer neuen Form der Sozialintegation vollzogen ist. Offen geblieben ist die Frage, wie dieser Schritt vollzogen wird. Die deskriptive Antwort des Historischen Materialismus heißt: durch soziale Konflikte, durch Kampf, durch soziale Bewegungen und politische Auseinandersetzungen […]. Aber nur eine analytische Antwort kann erklären, warum eine Gesellschaft einen evolutionären Schritt vollzieht, und wie es zu verstehen ist, daß soziale Kämpfe unter bestimmten Umständen zu einer neuen Form der Sozialintegation führen. Die Antwort, die ich vorschlagen möchte, heißt: die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewußtseins. Die Regeln kommunikativen Handelns entwickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik.« (RHM 162)
In diesem Vorgriff auf die zu entwickelnde Theorie des kommunikativen Handelns scheint sich eine Kontinuität abzuzeichnen und auch plausibel zu machen, dass Habermas seine Rekonstruktion des Historischen Materialismus nicht, wie Wittgenstein seine Stufenleiter, verworfen hätte. Ein gründlicher textanalytischer Versuch würde hier zu weit führen; ich möchte stattdessen zwei prinzipielle Fragen aufwerfen, wovon die erste sich eher auf die Rekonstruktion des Historischen Materialismus bezieht und die zweite auf die Theorie des kommunikativen Handelns. Die erste Frage dreht sich um die Begriffe evolutionäres Lernen, Systemprobleme, usw. An der Evolutionstheorie scheiden sich bekanntlich die soziologischen Geister (als zwei Beispiele unter vielen kann man vielleicht zwei ehemalige Cambridge-Kollegen nennen: Tony Giddens und Garry Runciman). Wenn es gesellschaftliche Systemprobleme überhaupt gibt, so sagen sie wenig darüber, ob oder wie sie 27
Hartmann: »Historischer Materialismus« (s. Anm. 9), S. 322.
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gelöst werden. Die bekannte Kritik des Funktionalismus scheint mir auch hier noch relevant, auch wenn der zweite Band der Theorie des kommunikativen Handelns als »Kritik der funktionalistischen Vernunft« etikettiert wird. Habermas würde vielleicht erwidern, dass mein langes Zitat soeben schon die Antwort gibt, aber die Vorstrukturierung der, wie er sagt, »analytischen Frage« scheint die »deskriptive« Antwort zu präjudizieren. Die zweite Frage lautet, ob die Theorie des kommunikativen Handelns in der Lage ist, den Historischen Materialismus zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen. Sie pari passu mit dem Historischen Materialismus zu setzen, wie es das oben angeführte Zitat zu tun scheint, sehe ich eher als einen Kategorienfehler an. Auch wenn der Historische Materialismus vollkommen unhaltbar ist, steckt er wenigstens einen Rahmen ab, der effektiver ausgefüllt werden könnte. Die Theorie des kommunikativen Handelns kann eine so allgemeine Rolle kaum in Anspruch nehmen. (Ein Zeichen dafür ist der Versuch Axel Honneths, sie durch eine Theorie der Anerkennungskämpfe zu ergänzen. Für Honneth müsste die Theorie des kommunikativen Handelns durch eine Foucault’sche Machtanalyse erweitert werden, sowie durch einen prominenteren theoretischen und nicht nur politischen Blick auf konkrete soziale Konflikte.) 28 Mit anderen Worten, die Theorie des kommunikativen Handelns kann, wie mir scheint, nur ein Bestandteil, wenngleich ein sehr wichtiger Bestandteil, einer kritischen Gesellschaftstheorie sein.
Entgegnung von Jürgen Habermas Zunächst meinen Dank an die Gastgeber. Als geborenem Gummersbacher ist mir die Umgebung vertraut; obwohl ich zum ersten Mal als Gast dieser Universität in Wuppertal bin, kehre ich gewissermaßen aus der Peripherie der oberbergischen Heimat ins Zentrum des Bergischen zurück. Mein Dank gilt auch Herrn Outhwaite, der seit vielen Jahren Habermas hat natürlich immer die politische Szene sehr nah betrachtet, aber er unterscheidet seine politischen Schriften von seinen theoretischen Arbeiten. So trug auch Die postnationale Konstellation (1998), die nicht in der Reihe der politischen Schriften erschienen ist, den Untertitel Politische Essays.
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und mit großem hermeneutischen Wohlwollen meine Publikationen in einem schwierigen Kontext begleitet hat. Nach meiner Erfahrung ist das englische Milieu schwierig für die Rezeption meiner Sachen. Die analytische Philosophie ist in England vom Junghegelianismus und vom Pragmatismus, der amerikanischen Version des Junghegelianismus, nicht wesentlich berührt worden, und die Gesellschaftstheorie ist dort stärker als anderswo von Althusser und anderen strukturalistischen Theorien geprägt worden. Andererseits bringt mir dieser werkbiographische Vortrag zu Bewusstsein, dass ich meiner Historisierung beiwohne, auch wenn das vielleicht nicht ganz die Absicht dieser Tagung ist. Dem möchte ich, bevor ich auf die beiden kritischen Fragen zurückkomme, mit ein paar Bemerkungen im zweifelhaften Stil der Selbsthistorisierung begegnen. Denn diese Tagung hat mich veranlasst, in früheren Schriften, die ich längst vergessen hatte, zum ersten Mal wieder zu blättern. Mir gefällt natürlich William Outhwaites These, dass ich mich von meinen Anfängen gar nicht so weit entfernt habe. Die Herausforderung der historischen Zäsur von 1945 hat mich in den Jahren bis zum Abitur im Jahre 1949 zu einem political animal gemacht, auch wenn meine ersten Reaktionen auf die Nazizeit eher moralischer als politischer Natur waren. Ich stamme aus einem bürgerlichen und keineswegs nonkonformistischen Elternhaus, das mich nicht dazu disponiert hat, Marx zu lesen. Das verdanke ich vielmehr der erfolgreichen leninistischen Strategie der aus den KZs zurückgekehrten Kommunisten, die ja zunächst noch Fraktionen in den meisten westdeutschen Parlamenten gebildet haben. Jedenfalls gab es in Gummersbach, damals eine Kleinstadt von 10–15.000 Einwohnern, eine kommunistische Buchhandlung, die neben den Parteischriften ein zwar selektives, aber in der Zeit vor der Währungsreform vergleichsweise großes literarisches Angebot hatte. Dort also habe ich die kleinen Schriften von Marx, Engels, Plechanow und Stalin gekauft und mit den Schriften der Ordoliberalen, vor allem von Eucken und Röpke, die mir mein Vater in die Hand drückte, verglichen. Ich bin also auf eine sehr bürgerliche Weise mit dem Marxismus in Berührung gekommen. Dieser akademische Zugang erklärt wohl auch, warum ich später den Versuch der Studenten, die bürgerliche von der marxistischen Wissenschaft zu unterscheiden, kritisiert habe. Da ich Herders und Kants Geschichtsphilosophie schon auf dem Gymnasium kannte, war Marx für mich von Anfang an der Hegelianer, der den Deutschen Idealismus vom Kopf auf die Füße 47 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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gestellt hatte und den man gegen den Strich des Sowjetmarxismus lesen musste. Dass man diesen nicht ernst nehmen konnte, war nicht etwa das Verdienst einer politischen Einsicht oder gar Ausdruck jenes Antikommunismus, der sich ja erst in den frühen 50er-Jahren so richtig entfaltete. Vielmehr reichte der Anschauungsunterricht, den die Kontrollen am Übergang Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin bot, um sich über den realen Sozialismus keine Illusionen zu machen. Was mich während meines Studiums zwischen 1949 und 1954 wieder zu meiner frühen Marx-Lektüre zurückgeführt hat, waren die täglichen Erfahrungen der Adenauer-Republik: einerseits die verschwiemelte Mentalität der alten Eliten, die nicht ausgewechselt worden waren, sondern wieder fest im Sattel saßen und mit eiskaltem Schweigen jede Reflexion auf die moralische Katastrophe verpönten; andererseits der furiose Antikommunismus der CDU und der anderen konservativen bis reaktionären, sogar faschistischen Parteien (wenn ich an Otto Ernst Remer denke, dessen Versammlung ich während meines ersten Semesters in Göttingen noch besucht habe). Die CDU-Propaganda – »Alle Wege führen nach Moskau« – gab seit dem Beginn des Kalten Krieges den alten Nazis das Gefühl, immer schon gegen den richtigen Feind gekämpft zu haben. Daher war unser Anti-Anti-Kommunismus gewissermaßen der zeitgeschichtlich motivierte Hintergrund für die erneute Beschäftigung mit einem Marx, den man gegen die stalinistische Verballhornung – wie es Iring Fetscher in volkspädagogischer Absicht mit vielen einflussreichen Publikationen getan hat – in Schutz nehmen musste. Nach Abschluss des Studiums besorgte mir Rothacker kopfschüttelnd ein DFG-Stipendium zu dem von mir gewünschten Thema »Der Begriff der Ideologie«, sodass ich schon in Bonn, bevor ich 1956 nach Frankfurt ging, mit dem ganzen historischen Spektrum der Zweiten und Dritten Internationale ganz ordentlich vertraut war, also mit der sowjetischen Theorieentwicklung und Kautsky und den Austromarxisten, auch mit Lukács und Karl Korsch, mit den Nelsonianern, überhaupt mit den hegelianisierenden und den kantianischen Marxisten der 20er-Jahre. Seit damals besitze ich auch die Dialektik der Aufklärung in der ersten Amsterdamer Auflage des Querido-Verlages. Im Hinblick auf die Theorieentwicklung, die William Outhwaite skizziert, kann ich kaum mein eigener Historiker sein. Daher nur kurz zu den beiden Einwänden. Die Aufsätze, die in der Rekonstruktion des Historischen Materialismus gesammelt sind, greifen auf Marx unter dem Gesichtspunkt zurück, wie wir daraus eine konkurrenzfähige 48 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Alternative zu den Theorien der sozialen Evolution, die damals von Parsons bis Luhmann auf dem Tisch lagen, gewinnen können. Das erklärt auch die Wahl des von Engels stammenden Ausdrucks »Historischer Materialismus«. Das Ergebnis war am Ende die Theorie des kommunikativen Handelns. Ich sehe nicht, wie die methodische Kritik am Funktionalismus diesen Ansatz treffen könnte. Der Grundgedanke ist einfach: Die beschleunigte Entwicklung der Produktivkräfte erzeugt in einem jeweils gegebenen institutionellen Rahmen Probleme, die nur gelöst werden können, wenn die bestehende Organisationsform der Gesellschaft auf eine erweiterte sozialkognitive Grundlage umgestellt wird. Aber die Revolutionierung des moralisch-praktischen Bewusstseins verlangt Lernprozesse anderer Art als Fortschritte in der Dimension von Wissenschaft und Technik. Damals habe ich gemeinsam mit Klaus Eder diese normativen Lernprozesse anhand der sozialkognitiven Niveaus von Rechtsinstitutionen untersucht, mit denen auch die Formen der politischen Herrschaft variieren. Ich sehe das heute im Wesentlichen immer noch so. Auch die Krise, in die sich heute die Staaten der europäischen Währungsgemeinschaft verwickeln, wäre nur durch eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in Kerneuropa zu lösen; aber die dafür nötigen institutionellen Änderungen könnten auf dem in unseren Verfassungsstaaten erreichten Legitimationsniveau erst herbeigeführt werden, wenn die politischen Eliten und die Bevölkerungen lernten, Interessenkompromisse nicht mehr ausschließlich aus den jeweiligen nationalen Perspektiven der Mitgliedstaaten vorzunehmen, sondern gleichzeitig eine Interessenverallgemeinerung aus einer europaweit erweiterten Wir-Perspektive vorzunehmen – das beispielsweise wäre ein sozialkognitiver Schub in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der europäischen Nationen. Auch der andere Einwand leuchtet mir nicht ganz ein. Es ist richtig, dass der Historische Materialismus breiter angelegt ist als die Theorie des kommunikativen Handelns, weil er von vornherein den dynamischen Aspekt der Klassenkämpfe einbezieht. Aber verrät nicht gerade die marxistische Theorie der Klassenkämpfe ein geschichtsteleologisches Denken, das den Kontingenzspielräumen der historischen Abläufe nicht gerecht wird? Das Verhältnis zwischen sozialer Evolution und Geschichte ist komplex; beide sind methodisch ganz verschieden angelegt, allerdings auch aufeinander angewiesen. Jedenfalls muss sich jede Theorie der sozialen Evolution an dem von Historikern aufbereiteten Material bewähren. 49 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Manfred Baum
Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
Durch die beiden Titelbegriffe ist ein Thema bezeichnet, das nur einen Ausschnitt aus dem sehr umfangreichen Werk von Jürgen Habermas vorstellig macht und das auch nur einige Phasen seiner Tätigkeit als Forscher, Lehrer und Autor beherrscht. Die kritische Gesellschaftstheorie, an der er seit vielen Jahrzehnten arbeitet und deren Grundlegung sein Hauptinteresse in Anspruch nimmt, ist neben seiner politischen Publizistik dasjenige, was seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, insbesondere für diejenigen seiner Leser, denen Philosophie am Herzen lag und für die seine Version der Frankfurter Sozialphilosophie eine wichtige Orientierung lieferte, von großer Anziehungskraft war und ist. In diesen Kontext gehört auch das Thema meines Vortrags, in dem ich einige Hauptpunkte von Habermas’ Rezeption des Marx’schen Historischen Materialismus und seiner Ergänzung und Überformung durch die Theorie des kommunikativen Handelns rekapitulieren und durch wenige Bemerkungen kommentieren werde. Dabei setze ich voraus, dass das vor mehr als dreißig Jahren erschienene Hauptwerk, wenn es heute neu erschiene, auf die seitdem eingetretenen Veränderungen in der Ausbreitung, Struktur und Funktionsweise des Kapitalismus Bezug nähme. Unter Berufung auf den frühen Horkheimer hat Habermas in seinem Buch Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 eine Bestimmung des Zusammenhangs von Gesellschaftstheorie und gesellschaftlicher Praxis wiederholt, die er 1971 der Neuauflage seiner wirkungsmächtigen sozialphilosophischen Studien unter dem Titel Theorie und Praxis von 1963 hinzugefügt hatte: »Der Historische Materialismus will eine Erklärung der sozialen Evolution leisten, die so umfassend ist, dass sie sich auch noch sowohl auf den Entstehungs- wie auf den Verwendungszusammenhang der Theorie selber erstreckt. Die Theorie gibt die Bedingungen an, unter denen eine Selbstreflexion der Gattungsgeschichte objektiv möglich geworden ist; und sie nennt zugleich
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den Adressaten, der sich mit Hilfe der Theorie über sich und seine potenziell emanzipative Rolle im Geschichtsprozess aufklären kann. Mit der Reflexion ihres Entstehungs- und der Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs begreift sich die Theorie selbst als ein notwendiges katalysatorisches Moment desselben gesellschaftlichen Zusammenhangs, den sie analysiert, und zwar analysiert sie ihn als einen integralen Zwangszusammenhang unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Aufhebung.« (TkH II 591)
Hier liegt erkennbar eine, wenn auch akademisch verhaltene, Anknüpfung an Marx’ Begriffszwilling »Waffe der Kritik« und »Kritik der Waffen«, an Georg Lukács’ Konzept des Klassenbewusstseins und an Horkheimers Definition einer »kritischen Theorie« vor, in deren Nachfolge sich Habermas offenbar stellen will. Was aber kann dann »Rekonstruktion des Historischen Materialismus« heißen? In der »Einleitung« zur gleichnamigen Aufsatzsammlung von 1976 heißt es dazu betont schlicht: »Rekonstruktion bedeutet in unserem Zusammenhang, dass man eine Theorie auseinander nimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, dass sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das ist der normale […] Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf, deren Anregungspotenzial aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist.« (RHM 9)
Das ist eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber dem Bekenntnis von 1971, das aber, wie wir gesehen haben, 1981 wiederholt wurde. Glücklicherweise beschränkt sich der Gebrauch, den Habermas vom Historischen Materialismus macht, nicht darauf, diese Theorie auseinanderzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen. Aber diese »Rekonstruktion« löst auch nicht das Versprechen ein, den Entstehungs- und Verwendungszusammenhang dieser Theorie aus der »sozialen Evolution« selbst zu erklären, die ihr Gegenstand ist. Die an den Historischen Materialismus anknüpfende Kommunikationstheorie von Habermas scheint mir weder die Bedingungen anzugeben, unter denen eine solche »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte« möglich wurde, noch zielt diese Theorie erkennbar auf die Wirkung eines Katalysators im Prozess der künftigen Aufhebung des »integralen Zwangszusammenhangs« der kapitalistischen Gesellschaft. Das scheint mir zunächst kein Einwand gegen eine Theorie zu sein, die häufig gegen »Bewusstseinsphilosophie« polemisiert und deshalb auch darauf verzichten kann, sich in den Begriffen der spezifisch Hegel’schen Bewusstseinsphilosophie zu beschreiben. 51 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Als ein nicht ganz zufällig gewähltes Beispiel für eine handlungstheoretische Ergänzung und Überformung der materialistischen Geschichtsauffassung durch Habermas gehe ich kurz auf seine »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts« (RHM 260–267) ein, wobei wir unter »modernem Recht« die »vernünftige Grundlage der Organisation von Staat und Gesellschaft« in Europa seit dem 16. Jahrhundert verstehen sollen, deren Legitimierung durch das »rationale Naturrecht von Hobbes bis Hegel« geleistet worden sei (RHM 263). In einer Anmerkung grenzt Habermas seine Betrachtungsweise des evolutionären Stellenwerts des modernen Rechts von anderen Versuchen, die Gesellschaft in der Tradition von Marx zu denken, ab: »Ich halte die heute [d. h. 1976] allseits beliebten Versuche, die juristischen und politischen ›Formen‹ des kapitalistischen Staates aus der Form des ökonomischen Verkehrs, letztlich aus der Warenform ›abzuleiten‹, für verfehlt. Ich gehe stattdessen von den formalen Bestimmungen des strategischen Handlungstyps aus, der mit der Ausdifferenzierung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems im Innern der Gesellschaft freigesetzt und in mehr oder weniger reiner Form institutionalisiert wird; zeige, dass das moderne Recht strukturell auf diesen Handlungstyp zugeschnitten ist; und untersuche, welche moralischen Bewusstseinsstrukturen diese Form des modernen Rechts möglich machen, d. h. in ihm institutionell verkörpert sind.« (RHM 266, Fn. 1)
Der Historische Materialismus ist also nur teilweise im Recht, er kann nämlich infolge der Eingeschränktheit seiner Perspektive einen wesentlichen Zug des modernen Rechts nicht erklären: »Für die Entwicklungsdynamik, die die Inhalte und Funktionen des bürgerlichen Rechts erklärt, ist die kapitalistische Produktionsweise allerdings entscheidend, aber nicht für die Entwicklungslogik, welche allein die Form und die Rationalitätsstrukturen des bürgerlichen Rechts erklärt.« (RHM 267)
Durch die hier verwendeten Begriffe wird auch philosophisch geneigten Lesern, die nicht in der Soziologie zu Hause sind, klar, dass wir uns in einer Gesellschaftstheorie bewegen, deren Grundbegriffe, wie z. B. »Rationalisierung von Handlungssystemen« (RHM 260) durch Max Weber bestimmt sind, und deren Abgrenzung vom Parsons-Luhmann’schen Funktionalismus eines ihrer Hauptanliegen ist. Gehen wir davon aus, dass die Evolution der europäischen Gesellschaften spätestens seit dem 16. Jahrhundert einem Rationalisierungsprozess un52 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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terliegt und dass in diesem Prozess die Rationalitätsstrukturen des modernen Rechts eine wichtige Rolle spielen, so stellt sich die Frage, »worin die Rationalität des Rechtssystems […] besteht« (ebd.) und um welche Art von Rationalität es dabei geht. Aber noch vor dieser Untersuchung stellt Habermas klar, um wessen Rationalität es hier gehen soll: »So lassen sich die Rationalitätsstrukturen, beispielsweise des modernen Rechts, an der Handlungsrationalität der Subjekte, nicht an der Systemrationalität des Verkehrs, für den das moderne Recht Funktionen erfüllt, nachweisen.« (ebd.) Offenbar gibt es für Habermas Gemeinsamkeiten in der Verkennung des gesuchten Rationalitätstyps zwischen Funktionalisten und einäugigen Marxisten. Im Sinne von Max Webers Untersuchungen zur Rationalisierung von Handlungen besteht Handlungsrationalität darin, dass eine Handlung »als Lösung eines objektiv entscheidbaren Handlungsproblems« gelten kann (RHM 260 f.). Solche Probleme sind entweder technische Aufgaben, die durch angemessene Mittel gelöst werden können, oder sogenannte »strategische« Aufgaben, deren Lösung in der »zweckrationalen Einflussnahme auf die Entscheidungen konkurrierender Gegenspieler« besteht (RHM 261). Die entscheidende Erweiterung dieser kurzen Liste besteht nun darin, dass man die Wahl von Handlungsnormen selbst zu den Handlungen rechnet und damit eine dritte Art von Handlungsproblemen gewinnt: die »praktischen« Aufgaben, die jeweils in der »Rechtfertigung von Normen und Werten« bestehen sollen (ebd.). Somit lässt sich die zunächst unbestimmte Rede von der Rationalisierung von Handlungen jetzt konkretisieren: »Die Rationalisierung setzt […] jeweils an den Regeln instrumentellen, strategischen oder kommunikativen Handelns an. Es geht [also] um die Rationalisierung der Mittel, der Mittelwahl und der Übereinstimmung [von Handlungssubjekten] in Normen und Werten.« (ebd.) Vor der Rationalität tierischen Verhaltens und der Systemrationalität wird die Handlungsrationalität von Subjekten von Habermas privilegiert: »Ich behalte also ›Rationalität‹ zunächst den Bewusstseinsstrukturen vor, die in erkenntnis- und handlungsfähigen Subjekten oder in deren Äußerungen, z. B. Sätzen oder Institutionen verkörpert wird.« (ebd.) Wenn die Rechtfertigung von Normen und Werten zum Bereich des kommunikativen Handelns gehört und die Rationalisierung bei dessen Regeln ansetzt, so bezieht sich die hier als möglich postulierte »Normrationalität« unmittelbar auf die »diskursiv zu bewältigenden Rechtfertigungsprobleme« zwischen kommunizierenden Handlungs53 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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subjekten und mittelbar auf »die institutionellen Voraussetzungen für die Thematisierung von Geltungsansprüchen [und deren] argumentative Prüfung« (RHM 262). Ein hoher Grad von Normrationalität liegt also dann vor, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, dass eine Prüfung stattfinden kann, »ob eine problematische Norm verallgemeinerungs- oder kompromissfähige Interessen (Werte) so zum Ausdruck bringt, dass sie von allen potenziell Betroffenen (wenn sie sich an einem praktischen Diskurs beteiligen würden) akzeptiert […] werden könnte« (ebd.). Nach dieser langen Vorbereitung stellt Habermas erneut die von Weber inspirierte und nunmehr gegen die Einseitigkeiten einer funktionalistischen und vulgärmarxistischen Beantwortung abgesicherte Frage: »Worin besteht nun die Rationalität des modernen Rechts?« In deren Beantwortung durch Habermas wird sich auch klären, warum und in welchem Sinne allein die »Entwicklungslogik« des bürgerlichen Rechts »die Form und die Rationalitätsstrukturen« dieses Rechts erklären kann. Die Rationalität des modernen Rechts ist offenbar eine vierfache. (1) Die Inhalte des modernen Privatrechts, mit seiner institutionellen Garantie des Eigentums, der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des Erbrechts sind »in erster Linie durch Bedürfnisse des kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs bestimmt« (ebd.). Ebenso verhält es sich mit dem Verfassungsrecht, das den Bedürfnissen eines Staates angepasst ist, der »die Bestandsvoraussetzungen einer entstaatlichen Wirtschaftsordnung garantiert« (ebd.). Es lässt sich also in einer funktionalen Systemanalyse »der wichtigsten Rechtsmaterien« zeigen, »wie das Recht zur Systemrationalität der Gesellschaft beiträgt« (ebd.). So lassen sich »die Systemprobleme dingfest machen, die mit der Einführung des modernen Rechtssystems gelöst werden konnten« (ebd.). Aber trotz der Ergiebigkeit einer solchen funktionalen Systemanalyse wird man, nach Habermas, die Rechtsstrukturen nicht durch ihre Funktionalität erklären können. Genauer gesagt: »[D]ie systemrationalen Folgen [des modernen Rechts] begründen nicht die Rationalität des Rechts« (RHM 263), sondern setzen sie voraus. (2) Die von Max Weber selbst betonte »Rechtssystematik« als wesentliches Merkmal der Rationalität des modernen Rechts, seine »Durchrationalisierung […] nach internen, rein formalen Maßstäben« bzw. seine »formale Durchstrukturierung« als eines nur noch von Fachspezialisten durchschaubaren »Juristenrechts« ist nach Habermas 54 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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nicht dasjenige, worin der »Rationalitätszuwachs des modernen Rechts« besteht (ebd.). Vielmehr ist diese interne Systematisierung nach ihm »Folge einer Rationalisierung von rechtlich organisierten Handlungsbereichen«, durch die »die Rechtsfolgen privater Handlungen vorhersehbar und kalkulierbar« werden (ebd.). Es handelt sich bei dieser Folgerationalität also um eine instrumentelle Rationalität, die ihrerseits die spezifische Rationalität des Rechts nicht erklären kann. (3) Der Handlungstypus des strategischen Handelns und die ihm zugeordnete strategische Rationalität erscheinen am ehesten geeignet zu sein, den Rationalitätsfortschritt des modernen Rechts gegenüber früheren Strukturen der Gesellschaft zu beschreiben. Der Wirtschaftsprozess im Inneren dieser Gesellschaft ist durch Entscheidungen privater Handlungssubjekte gesteuert, die einen Bereich »des kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs« konstituieren (ebd.). In ihm »wird strategisches Handeln die legitime Form der egoistischen, d. h. sittlich neutralisierten Verfolgung von Privatinteressen. Das bürgerliche Privatrecht, von dem her das moderne Recht konstruiert ist, ist das Organisationsmittel für diesen Handlungsbereich.« (ebd.) Damit scheint endlich eine zureichende Bestimmung des Rationalitätstyps des modernen Rechts gefunden zu sein, oder, wie Habermas sagt: »[D]ie Rationalität des Rechts könnte […] darin gesehen werden, dass es auf die strategische Rationalität zweckrational handelnder Rechtssubjekte zugeschnitten ist.« (RHM 264) Für diese Auffassung sprechen insbesondere drei Strukturmerkmale des modernen Rechts. (A) seine Positivität, d. h. seine Gesetztheit durch einen souveränen Gesetzgeberwillen und damit seine Konventionalität, (B) sein »Legalismus«, der nach Habermas darin besteht, dass dieses Recht keine sittlichen Motive der Rechtspersonen unterstellt und nur normabweichende äußere Handlungen sanktioniert, und (C) seine »Formalität«, die darin bestehen soll, dass der Privatrechtsverkehr »keinen positiven Regelungen« und »materialen Geboten« (ebd.) unterliegt, sondern »negativ auf dem Wege der Einschränkung von prinzipiell anerkannten Berechtigungen geregelt« wird (ebd.), so dass »alles erlaubt [ist], was nicht rechtlich verboten ist« (ebd.). Diese drei Strukturmerkmale definieren nach Habermas »ein Handlungssystem, in dem unterstellt wird, dass sich alle Systemmitglieder strategisch verhalten« (ebd.), d. h. zweckrational ihre privaten Interessen verfolgen. So scheint sich in der Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen die These zu ergeben, »dass die Rationalität des 55 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Rechts in der modernen Gesellschaft […] allein unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung strategischer Rationalität im Verkehr der Privatrechtssubjekte untereinander analysiert werden kann« (ebd.). Aber obwohl diese Analyse richtig ist, greift diese These »noch zu kurz« (ebd.). Es fehlt also noch ein entscheidendes Element. (4) Zu ihm gelangen wir, indem wir auf ein viertes Strukturmerkmal des modernen Rechts aufmerksam machen, seine »Generalität« (ebd.). »Seinem Anspruch nach soll das moderne Recht aus allgemeinen Normen bestehen, die grundsätzlich keine Ausnahmen und keine Privilegierungen zulassen.« (ebd.) Zwar ist es also wahr, dass »das moderne Recht einen Bereich strategischen Handelns […] regelt«, aber nur »wenn und soweit [es diesen Bereich] universalistisch regelt, kann das Rechtssystem insgesamt als Ausdruck verallgemeinerbarer Interessen gerechtfertigt werden« (RHM 265). Diese Art der Rechtfertigung des Rechtssystems gehört aber nicht mehr in den Bereich der strategischen Rationalität. »Sobald wir […] auf […] den Zusammenhang zwischen privatem und öffentlichem Recht, wie auch den zwischen Recht und Moral sehen, lässt sich die evolutionär entscheidende Rationalisierung des Handelns, die mit der modernen Rechtsentwicklung eingeleitet worden ist, unter Gesichtspunkten der Normrationalität begreifen.« (RHM 265)
Die bisher genannten Strukturmerkmale des modernen Rechts, seine Konventionalität, Legalität und Formalität »machen die Form explizit, aufgrund deren das moderne Recht die funktionalen Imperative eines über Märkte regulierten Wirtschaftsverkehrs erfüllen kann« (RHM 265 f.). Darin besteht also die Systemrationalität des modernen Rechts, sie ist Folge der Strukturen des modernen Rechts, durch die zweckrationales Handeln »allgemein werden« kann (RHM 266). Aber diese Folge kann nicht erklären, »wie diese Strukturen möglich sind« (ebd.). Zur Erklärung der Möglichkeit der Form und der Strukturmerkmale des modernen Rechts greift Habermas auf die Theorie der Entwicklung des Moralbewusstseins von Piaget-Kohlberg zurück, die er auf die Evolution der Gesellschaft überträgt, indem er annimmt, »dass Gesellschaften evolutionär lernen« (RHM 260). Insbesondere geht es um das »postkonventionelle« Stadium dieser Entwicklung und seine Stufen 5 und 6. Auf diese Theorie hatte Habermas schon verwiesen, als er behauptete, »allein […] die Entwicklungslogik« erkläre »die Form und die Rationalitätsstrukturen des bürgerlichen Rechts« (s. o., cf. 56 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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RHM 267). Diese Erklärung besteht also darin, dass die »Form des modernen Rechts […] entwicklungslogisch betrachtet« wird (ebd.). Geschieht dies, so »kann die Form des modernen Rechts als eine Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen werden« (RHM 266). Diese Strukturen des postkonventionellen Moralbewusstseins liegen also der Form des modernen Rechts und seinen Strukturen »evolutionär« zugrunde. »Die Konventionalisierung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts bedeutet, dass es nicht länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen zehren kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf. Einer solchen Forderung kann aber das moralische Bewusstsein erst auf postkonventioneller Stufe genügen: hier erst entsteht die Idee der grundsätzlichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen […], der Begriff einer prinzipiengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vorstellung […] eines Kontraktes […], die Einsicht in den Zusammenhang der Allgemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen […] u. s. w.« (RHM 266)
Damit hat die Evolution des moralischen Bewusstseins der Gesellschaft in ihrer »Entwicklungslogik« alle »postkonventionellen Grundbegriffe« hervorgebracht, »die in Philosophie und Rechtstheorie auch schon vorher entwickelt worden waren. [Sie] konnten mit dem Übergang zur Moderne das geltende Recht durchdringen und umstrukturieren« (ebd.) und damit einen Rationalitätszuwachs bewirken, der eindeutig einer der Normrationalität gewesen ist. Diese Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts sind m. E. ein paradigmatischer Fall für Habermas’ Anknüpfung an die Theorietradition des Historischen Materialismus, deren Ergänzung durch Elemente der Soziologie Webers und seiner Nachfolger und deren Korrektur durch seine eigene Theorie des kommunikativen Handelns. Der kurze Text von 1976 liefert nur eine Momentaufnahme aus der Entstehungsgeschichte der Theorie des kommunikativen Handelns von 1981. In dem Text von 1976 ist zwar von der »selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen« die Rede, nicht aber von der »Lebenswelt«. Hingegen geht die Kommunikationstheorie von einem Gesellschaftsmodell aus, in dem sich »Lebenswelt«, die sich in Privatsphäre und Öffentlichkeit gliedert, und »System«, das seinerseits aus den Subsystemen Ökonomie (= Wirtschaftssystem) und Staat (= Verwaltungssystem) besteht, gegenüber stehen und durch wechselseitige »Austauschbeziehungen« vermittelt sind, genauer ge57 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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sagt durch die Steuerungsmedien »Geld« und »Macht«. Dieses Modell der Austauschbeziehungen soll nach Habermas, wie wir noch sehen werden, auch eine befriedigendere Erklärung des Spätkapitalismus ermöglichen (TkH II 504 f.), als sie der Marxismus mit den für ihn typischen ökonomistischen Verkürzungen liefern kann. Wendet man das System/Lebenswelt-Begriffsschema auf die soziale Evolution moderner Gesellschaften an, so können wir über deren Ergebnis mit Habermas sagen: »Kapitalismus und moderne Staatsanstalt haben wir als Subsysteme begriffen, die über die Medien Geld und Macht aus dem Institutionensystem, also der gesellschaftlichen Komponente der Lebenswelt ausdifferenziert werden.« (TkH II 471). Diese Annahme ermöglicht zugleich eine »Rückkehr zu Marx, genauer: zu der Interpretation von Marx, die durch die Weberrezeption im westlichen Marxismus vorbereitet worden ist« (TkH II 489), nämlich die von Lukács, Horkheimer und Adorno. Es ist dies also keine Rückkehr zu Marx selbst, vielmehr geht es um eine Erneuerung und Neubegründung der Verknüpfung, die schon Lukács zwischen »Webers Rationalisierungstheorie« und »Marxens Politischer Ökonomie« hergestellt hatte (ebd.), wobei Horkheimer und Adorno die »Verknüpfung von Weber und Marx in noch deutlicherer Anlehnung an Weber« (TkH II 490) vollzogen haben als Lukács. Die Interpretation, die diese westlichen Marxisten vorbereitet haben, ist Habermas’ eigene, die ihrerseits auf einer Verknüpfung von Weber und Marx beruht. In dieser Interpretation verändern sich Webers und Marx’ Positionen im Lichte der von Habermas angenommenen Ausdifferenzierung bzw. Entkoppelung von Lebenswelt und System und der sie voraussetzenden »Mediatisierung« und »Kolonisierung« der Lebenswelt durch das System. Was die Rückkehr zur Verknüpfung von Weber und Marx empfiehlt, ist insbesondere ein Gewinn für die Erklärung dieser Vorgänge: Es »könnte die Dynamik von Klassenauseinandersetzungen die der Bürokratisierung innewohnende Eigendynamik erklären – also jenes hypertrophe Wachstum der mediengesteuerten Subsysteme, welches ein Übergreifen administrativer und monetärer Steuerungsmechanismen auf die Lebenswelt zur Folge hat.« (ebd.) Es kann dann auch erklärt werden, warum »die Verdinglichung kommunikativ strukturierter Handlungsbereiche nicht in erster Linie klassenspezifisch zurechenbare Effekte […] erzeugt«. Denn »die Phänomene, die Max Weber auf Bürokratisierungstendenzen zurückführt, charakterisieren keineswegs bestimmte Klassenlagen, sondern modernisierte Gesellschaften im ganzen« 58 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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(ebd.). Kurz, die Verknüpfung von Weber und Marx bestätigt das von Habermas angenommene Gesellschaftsmodell und die in seinen Begriffen mögliche Beschreibung der Entstehung moderner Gesellschaften. Habermas will also die Schwächen in der theoretischen Verknüpfung von Weber und Marx bei Lukács, Horkheimer und Adorno durch seinen eigenen Ansatz überwinden, aber zugleich auch die Marx’sche Werttheorie und die Marx’sche Ideologienlehre selbst im Lichte jener Verknüpfung und damit im Lichte seiner eigenen Kommunikationstheorie neu bewerten. Am Beispiel des sich aus der Analyse der Warenform ergebenden »Doppelcharakters der Ware Arbeitskraft« (TkH II 493) lässt sich illustrieren, wie Habermas der Marx’schen Werttheorie zu Leibe rückt. »[Es] bildet die vom Produzenten veräußerte Arbeitskraft eine Kategorie, in der die Imperative der Systemintegration mit denen der Sozialintegration zusammentreffen: als Handlung gehört sie zur Lebenswelt des Produzenten, als Leistung dem Funktionszusammenhang des kapitalistischen Betriebes und des Wirtschaftssystems im ganzen an. […] Das Lohnarbeitsverhältnis neutralisiert die Leistungen des Produzenten gegenüber dem lebensweltlichen Kontext seiner Handlungen. […] Diese monetarisierte, als Ware angeeignete, dem Lebenszusammenhang des Produzenten entfremdete Arbeitskraft nennt Marx ›abstrakte Arbeit‹. […] Diesen Vorgang der Realabstraktion erklärt Marx mit der Versachlichung sozial integrierter Handlungszusammenhänge, die eintritt, wenn Interaktionen nicht länger über Normen und Werte, oder über die Prozesse der Verständigung, sondern über das Medium Tauschwert koordiniert werden. […] Insofern bedeutet die Verwandlung konkreter in abstrakte Arbeitskraft ein[en] Prozess der Verdinglichung des gemeinschaftlichen wie des jeweils eigenen Lebens.« (TkH II 494)
Es geht mir hier nicht darum, die Detailgenauigkeit dieser Kurzbeschreibung der Marx’schen »Realabstraktion« in Begriffen der Habermas’schen Kommunikationstheorie zu diskutieren, aber ich mache darauf aufmerksam, dass Habermas, wenn er sich auf »diesen theoretischen Ansatz« (ebd.) bezieht, an dem sich »Stärken« und »Schwächen« aufweisen ließen, ohne weiteres vorauszusetzen scheint, dass Marx eine kommunikationstheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie beabsichtigt habe, die ihm mehr oder weniger gut gelungen sei. An späterer Stelle (TkH II 498) sagt Habermas selbst, dass er bei seiner »Rekonstruktion« der Marx’schen Werttheorie »stillschweigend von dem erst bei Parsons explizit hervortretenden Problem der Verknüpfung der Paradigmen Handlung/Lebenswelt und System ausgegangen« sei, und 59 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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er findet: »Das ist eine starke Stilisierung.« (ebd.) Aber die Bedenken, die der Autor hier selbst artikuliert, betreffen gar nicht die problematischen Begriffe »System« und »Lebenswelt« selbst, sondern das von Parsons thematisierte Problem der »Verknüpfung« der dadurch bezeichneten »Paradigmen«, das seinerseits deren »Trennung« »voraussetzt«. Die Marx’schen »politikökonomischen Grundbegriffe« hingegen, und das sei eine erste Schwäche seiner Werttheorie, setzen die Trennung von »System« und »Lebenswelt« »nicht eigentlich voraus« (ebd.). Das ist sogar die entscheidende Schwäche dieser Theorie für Habermas. Diese Schwäche erklärt Habermas damit, dass Marx »den Versuchungen des Hegelschen Totalitätsdenkens« (TkH II 501) nicht habe widerstehen können. Aber obwohl es viele Belege für die Richtigkeit dieser Diagnose gibt und allgemein Marx’ Abhängigkeit von Hegel die Erklärung für viele Schwächen seiner Theorie liefert, so ist doch der Grund dafür, dass für Marx (in den Formulierungen von Habermas) »das kapitalistische System […] nichts weiter als die gespenstische Gestalt der ins Anonyme verkehrten und fetischisierten Klassenverhältnisse« ist, und dafür, dass bei ihm »der von Gebrauchswertsorientierungen losgerissene Akkumulationsvorgang buchstäblich als Schein« anzusehen ist (TkH II 499), nicht darin zu verorten, dass dies nur die von Marx gezogenen Konsequenzen aus einer von Hegel übernommenen »Prämisse« sind. Diese Prämisse soll darin bestehen, dass Marx wie Hegel die »Einheit von System- und Lebenswelt« voraussetzte und in dieser Einheit ein Ganzes sah, dessen Wahrheit das »kapitalistische System« in »Schein« und zum »Gespenst« verkehrte: »Tatsächlich begreift Marx die Einheit von System- und Lebenswelt wie der junge Hegel nach dem Modell der Einheit einer zerrissenen sittlichen Totalität, deren abstrakt auseinandergetretene Momente zum Untergang verurteilt sind.« (TkH II 498 f.) Aber obwohl Marx in seinen schwächeren Momenten so gedacht haben mag, so nötigt uns nichts zu der Annahme, dass diese Art von Totalitätsdenken seinen Behauptungen zugrunde liegt, dass das Verhältnis zu den Produktionsmitteln der Ursprung der Klassendifferenzierung einer Gesellschaft ist, dass die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft durch die Differenz von Eigentum und Nichteigentum an Produktionsmitteln bestimmt sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln zur Konsequenz hat, dass »die Arbeitskraft eine Ware wie jede andere« (TkH II 493) wird, dass der »Prozess der Bestander60 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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haltung des ökonomischen Subsystems als eine durch Versachlichung unkenntlich gemachte Dynamik der Ausbeutung« (TkH II 497) zu bezeichnen ist, und die Erklärung dafür liefert, dass er a posteriori »davon überzeugt [ist], dass er im Kapital nichts anderes als die mystifizierte Gestalt einer Klassenbeziehung vor sich« habe (TkH II 499). Diese Behauptungen beruhen nämlich nicht darauf, dass für ihn die »systemische Verselbständigung des Produktionsprozesses […] den Charakter der Verzauberung« hat (ebd.), die man auch a priori erkennen kann, sondern darauf, dass Marx seit den Pariser Manuskripten den Ursprung dieser selbst gemachten Dehumanisierung der Gesellschaft in der Einführung des Privateigentums sieht, das nicht mehr nur wie bei Rousseau in einem eingezäunten Stück Land besteht, sondern in der ausschließenden Verfügungsgewalt über nur gesellschaftlich brauchbare Produktionsmittel. Habermas’ Kritik an Marx besteht in dem Vorwurf einer Fehlinterpretation der Dynamik der sozialen Evolution. Er verkenne, dass der »systemische Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaft und moderner Staatsverwaltung […] auch ein gegenüber staatlich organisierten Gesellschaften höheres und evolutionär vorteilhaftes Integrationsniveau darstellt« (ebd.). Habermas hält es offenbar für evident, dass jedermann (und nicht bloß ein Sozialdarwinist) einen solchen Mangel an einem höheren und evolutionär vorteilhaften Integrationsniveau beklagen müsse, so dass Marxens Blindheit für diese Vorteile nur durch seine Anhänglichkeit an Hegel’schem Totalitätsdenken erklärt werden kann. Ebenso steht es mit Marxens Verkennung des »evolutionären Eigenwerts«, den »mediengesteuerte Subsysteme besitzen« (ebd.). Marx wird sogar nachgesagt, er sehe nicht, was doch jedermann sieht, »dass die Ausdifferenzierung von Staatsapparat und Wirtschaft auch eine höhere Ebene der Systemdifferenzierung darstellt, die gleichzeitig neue Steuerungsmöglichkeiten erschließt und eine Reorganisation der alten, feudalistischen Klassenverhältnisse erzwingt« (ebd.). Habermas setzt offenbar voraus, dass jedermann eine höhere Ebene der Systemdifferenzierung als etwas Gutes ansehen werde, und es kommt ihm offenbar nicht der Verdacht, dass der gegenüber der Wirtschaft differente Staatsapparat ebenso oder in höherem Grade ein Klassenstaat sein kann als der über alte, feudalistische Klassenverhältnisse wachende absolutistische Staat. Denn dem höheren »Integrationsniveau kommt«, nach Habermas, »eine über die Institutionalisierung eines
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neuen Klassenverhältnisses hinausreichende Bedeutung zu« (ebd.), die vermutlich in einem zivilisatorischen Fortschritt besteht. Auch Marxens Revolutionstheorie leidet unter dieser von Hegel induzierten »Fehlperzeption« (ebd.). Seine »praktisch-politische Handlungsperspektive« soll bestimmt sein durch die Idee eines »futurischen Zustands« nach der Beseitigung der Klassenherrschaft, »in dem […] die unter dem Diktat des Wertgesetzes gefangen gehaltene Lebenswelt ihrer Spontaneität zurückgegeben worden ist« (TkH II 500). Diese freundliche Utopie steht gewiss nicht im Widerspruch zu dem Wenigen, was Marx über eine künftige kommunistische Gesellschaft gesagt hat, wenn ihm auch der Begriff der Lebenswelt befremdlich erschienen wäre. In Habermas’ Erläuterung zu dem, was es heißt, die kapitalistische »Gesellschaft zu revolutionieren«, findet sich, wenn ich recht sehe, erstmals der für Marx zentrale Begriff des »Eigentums an Produktionsmitteln«: Es wird sich eine »Bewegung« formieren, die »zusammen mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln […] die institutionellen Grundlagen des Mediums, über die die kapitalistische Wirtschaft ausdifferenziert worden ist, zerstören [wird]« (ebd.). Nach diesem Zerstörungswerk wird Marxens revolutionäre Bewegung nach Habermas »den systemisch verselbstständigten Prozess wirtschaftlichen Wachstums wieder in den Horizont der Lebenswelt einholen« (ebd.), da dies offenbar ein Erfordernis der Restitution der Hegel’schen sittlichen Totalität ist. Jedenfalls will Marx nach Habermas einen »Triumph der Lebenswelt über das System der entweltlichten Arbeitskraft« herbeiführen (ebd.). Im Übrigen hat Max Weber gegenüber Marx Recht behalten. Denn Marx hat sich darüber getäuscht, »dass jede moderne Gesellschaft, gleichviel wie ihre Klassenstruktur beschaffen ist, einen hohen Grad an struktureller Differenzierung aufweisen muss« (TkH II 501). Zu den weiteren Schwächen des werttheoretischen Ansatzes gehören die Unbestimmtheit des Entfremdungsbegriffs, die eine Folge dessen ist, dass Marx nicht über den Begriff einer historischen Rationalisierung der Lebenswelt verfügte, und die »Überverallgemeinerung eines speziellen Falles der Subsumtion der Lebenswelt unter Systemimperative« (TkH II 503), in der Habermas sogar die entscheidende Schwäche der Werttheorie sieht. Der Prozess der Verdinglichung könne sich ebenso im öffentlichen wie im privaten Leben »manifestieren« und »ebensogut an der Konsumenten- wie an der Beschäftigtenrolle ansetzen« (ebd.), während die Werttheorie Verdinglichung nur als Fol62 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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ge der »Monetarisierung der Arbeitskraft« des Produzenten kennt, durch die seine »Arbeitshandlungen« auf »Leistungen« reduziert werden. Hinzu komme die Einseitigkeit des Marx’schen Handlungsbegriffs, der den Begriff der Zwecktätigkeit als fundamental auch für soziales Handeln ansehe. Dadurch würden die »Verformung der interaktiven Beziehungen selbst, also die Entweltlichung des auf Kommunikationsmedien umgestellten kommunikativen Handelns sowie die damit [?] eintretende Technisierung der Lebenswelt« zu bloß abgeleiteten Phänomenen (TkH II 504). Zusammengenommen erklären diese Schwächen, warum Marx’ Kritik der politischen Ökonomie »keine befriedigende Erklärung des Spätkapitalismus ermöglicht hat« (ebd.) Eine ökonomistisch verkürzte Interpretation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften wird durch den Marx’schen Ansatz befördert. Statt dieses »Monismus« der Werttheorie bedarf es einer Kommunikationstheorie von der Struktur, die wir oben kurz als Modell von Austauschbeziehungen skizziert haben. Habermas’ Einwände gegen das, was er Marx-Orthodoxie nennt, scheinen mir als historisch gut belegbare Hinweise auf Schwierigkeiten einer sich als marxistisch verstehenden Politik im Europa der Nachkriegszeit wohl begründet: »Die Marx-Orthodoxie tut sich mit einer plausiblen Erklärung von staatlichem Interventionismus, Massendemokratie und Wohlfahrtsstaat schwer. Der ökonomistische Ansatz versagt angesichts der Pazifizierung des Klassenkonflikts und des langfristigen Erfolges, den der Reformismus in den europäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen einer im weiteren Sinne sozialdemokratischen Programmatik errungen hat.« (TkH II 595)
Allerdings hieße es, den Empirismus zu weit zu treiben, wenn man solche historischen Fakten, deren Auswahl absichtsvoll erfolgt, umstandslos als Argumente für oder gegen eine bestimmte Theorie gelten ließe. Auch Habermas will von »theoretischen Defiziten« ausgehen, die die marxistischen Versuche zur Erklärung des Spätkapitalismus aufweisen. Unter dem Stichwort »Massendemokratie« finden wir Habermas’ Diagnose: »Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis.« (TkH II 507) Von Seiten der Demokratie heißt das, dass ihr »normativer Sinn« sich »gesellschaftstheoretisch auf die Formel bringen [lässt], dass die Erfüllung der funktionalen Notwendigkeiten systemisch integrierter Handlungsbereiche an 63 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Manfred Baum
der Integrität der Lebenswelt, d. h. an den Forderungen der auf soziale Integration angewiesenen Handlungsbereiche ihre Grenze finden soll.« (ebd.) Ob dies faktisch der Fall ist, bleibt dem Zeitzeugen zu beurteilen überlassen. Für den Sozialstaat überhaupt heißt das, dass er »sowohl die unmittelbaren negativen Auswirkungen des kapitalistisch organisierten Beschäftigungssystems wie auch die dysfunktionalen Nebenwirkungen eines über Kapitalakkumulation gesteuerten ökonomischen Wachstums auf die Lebenswelt auffangen soll, ohne Organisationsform, Struktur und Antriebsmechanismus der wirtschaftlichen Produktion antasten zu dürfen.« (TkH II 511)
Dieses »Dilemma« scheint mir Ausdruck des von Habermas diagnostizierten Spannungsverhältnisses zu sein. Auch bezüglich des Sozialstaats und seiner Rolle bei der Vermittlung von Demokratie und Kapitalismus lässt sich nach Habermas die Marx’sche Theorie kritisieren: »Zu Unrecht hat die Werttheorie die Austauschbeziehungen, die zwischen dem politischen System und der Lebenswelt bestehen, vernachlässigt. Denn die Pazifizierung der Arbeitswelt ist nur das Gegenstück zu einem Gleichgewicht, das sich auf der anderen Seite zwischen einer zugleich erweiterten und neutralisierten Staatsbürger- und einer aufgeblähten Klientenrolle herstellt« (TkH II 514),
womit die Rolle der Abnehmer, die in den Genuss des Sozialstaats kommen, gemeint ist (TkH II 515). Wo Spannungsverhältnisse und Dilemmata sich in Pazifizierung und Gleichgewicht auflösen, da erscheint der Spätkapitalismus als eine konfliktfreie Form der Gesellschaft. Das ist offenbar nur ein Oberflächenschein, der aber nicht trügen muss. »Nur im Rahmen einer Kritik der funktionalen Vernunft [die dem 2. Band der Habermas’schen Kommunikationstheorie den Namen gegeben hat] lässt sich plausibel machen, warum unter der Decke eines mehr oder weniger gelungenen sozialstaatlichen Kompromisses überhaupt noch Konflikte sollten aufbrechen können – Konflikte, die nicht primär in klassenspezifischer Gestalt auftreten und gleichwohl auf eine […] verdrängte Klassenstruktur zurückgehen.« (TkH II 518)
Dieser Klassenantagonismus kann nämlich nur unter der Bedingung unschädlich sein, »dass die staatsinterventionistisch gehütete kapitalistische Wachstumsdynamik nicht erlahmt« (ebd.). Solange dies der Fall ist, werden über die beiden »Kanäle« Massenkonsum und bürokratische Daseinsfürsorge »die Kompensationen abgewickelt, die der Sozialstaat für die Pazifizierung der Arbeitswelt und die Neutralisierung der 64 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Manfred Baum
rechtlich eingeräumten Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen bereitstellt« (TkH II 516). Das ist Habermas’ Paradebeispiel für die Erklärung spätkapitalistischer Gesellschaften durch sein »hoch stilisiertes, nur mit wenigen idealisierenden Annahmen arbeitendes« Gesellschaftsmodell (TkH II 515). Diese »in System/Lebenswelt-Begriffen reformulierte Theorie der spätkapitalistischen Verdinglichung« (TkH II 522) verzichtet auf die »überholte Theorie des Klassenbewusstseins« (ebd.) und will dennoch ihrer Aufgabe einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus gerecht werden.
Entgegnung von Jürgen Habermas Ich möchte mich zunächst bei Herrn Kollegen Baum dafür bedanken, dass er die Struktur meines gesellschaftstheoretischen Grundgedankens transparent macht. Dann versieht er eine bestimmte Schlussfolgerung aus der Theorie des Kommunikativen Handelns mit einem Fragezeichen. Die »deutliche Akzentverschiebung«, die nach 1971, also mit der in den Gauss-Lectures vollzogenen linguistischen Wende eingetreten ist, ist mir bei der Abfassung meiner Einleitungen zum ersten und zum fünften Band der Philosophischen Texte, also 2009, zu Bewusstsein gekommen. Manfred Baum bezieht sich auf ein 1982 in einer Fußnote wiederholtes Zitat aus der frühen Zeit. Es geht dabei um eine Denkfigur, die das Ganze reflexiv aus dem eigenen Entstehungskontext einholt. Soweit dieser Gedankengang dem Hegel’schen Idealismus verhaftet geblieben ist, war diese Volte am Ende der Theorie des kommunikativen Handelns tatsächlich inkonsequent. Jedenfalls hatte ich das Programm einer »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte«, die einen »integralen Zwangszusammenhang« auflösen hilft, 1982 schon aufgegeben. Andererseits begreift auch ein rekonstruktiv vertiefter hermeneutischer Ansatz seinen Gegenstand nicht objektivistisch, sondern als »zweite«, d. h. symbolisch konstituierte Natur. Daher müsste die grundbegriffliche Umstellung von »Institution« auf »Kommunikation« (die Hauke Brunkhorst bei Luhmann und bei mir feststellt) auch ein gewisses fundamentum in re haben. Über die Rekonstruktion von Lernprozessen behält die Theorie des kommunikativen Handelns, wenn auch auf ganz andere Weise als die Systemtheorie, einen, wenn man das so nennen will, »essentialistischen« Rest. 65 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Manfred Baum
Was meine Kritik an Marx anbetrifft, so lässt sich zu meinem robusten Umgang mit Klassikern überhaupt vieles sagen. Gerade im Stil einer systematisch sortierenden »Aneignung« von Theorietraditionen bin ja ich noch am ehesten Hegelianer geblieben. Der systematisierende Rückgriff auf bestimmte Theoreme, die ich aus der Sicht einer Interpretation des Gesamtwerks des jeweiligen Autors vornehme, ist etwas anderes als Philosophiegeschichtsschreibung. Die These, dass Marx in der Gesamtanlage seiner Theorie den Grundbegriffen der Hegel’schen »Logik« zu sehr verhaftet bleibt, halte ich allerdings aufrecht. Aus dieser totalisierend auf die Vernunft in der Geschichte gerichteten Sicht kommt eine wichtige Unterscheidung, die Marx selber praktiziert, ohne sie aber als solche zu reflektieren, nicht zu ihrem Recht. Das ist die Unterscheidung zwischen einer systemischen Ebene einerseits, auf der Marx seine folgenreichen werttheoretischen Grundannahmen entfaltet, sowie der historischen, in einem handlungstheoretischen Rahmen durchgeführten Analyse der Klassenkämpfe andererseits. Dieser Unterschied äußert sich auch in den Formen der literarischen Darstellung: hier der systematische Duktus in den Grundrissen und im Kapital, dort die historische Darstellung im 18. Brumaire – ein Musterbeispiel der politischen Klassenanalyse. Nach meiner Auffassung hat Marx aus dieser Differenz der beiden Zugänge zum Objektbereich nicht die richtige Konsequenz gezogen. Sonst hätte er das, was er – der ja vom revolutionierenden Schwung der kapitalistisch entfesselten Produktivkräfte fasziniert war – an Modernisierungsgewinnen des Kapitalismus festhalten wollte, auf andere Weise von den Pathologien und Entfremdungseffekten der über das Privateigentum an Produktionsmitteln systemisch und unpolitisch ausgeübten Klassenherrschaft unterschieden. Der Holismus, der das wirtschaftliche Funktionssystem zum Kern des Ganzen macht, hat noch eine andere Konsequenz: Marx schließt aus der funktionalen Verschränkung von Ökonomie und Staat auf die durchgängige kausale Abhängigkeit des Staates von der Ökonomie. Das betrifft auch die heute wiederum aktuelle Frage, wie demokratisch eine kapitalistische Demokratie überhaupt sein kann. In den Legitimationsproblemen und noch in der Theorie des kommunikativen Handelns war mein Tenor im Rückblick auf die sozialstaatlichen Errungenschaften von Hobsbawms »Goldenem Zeitalter« – bei allen Vorbehalten – optimistisch. Seit dem Ende der Systemkonkurrenz und der weltweiten Durchsetzung des neoliberalen Politikmusters befinden wir uns offensichtlich in einer ganz anderen Situation. 66 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Manfred Baum
In Europa sind wir gerade dabei, dieses Politikmuster mit Verfassungsrang auszustatten. Die Finanzmärkte diktieren die policies, die den Interessen der Anleger auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme, des öffentlichen Sektors und der staatlich bereitgestellten kollektiven Güter Vorrang einräumen und dafür eine fortschreitende soziale Ungleichheit in Kauf nehmen. Diese Politiken werden mithilfe des Europäischen Rates hinter dem Rücken der Bevölkerungen insbesondere von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt. Die technokratische Entkoppelung der policies von politics lässt die auf die nationalen Arenen beschränkte Demokratie kaltschnäuzig zu einer bloßen Fassade degenerieren. Aber ist das ein Naturgesetz? Wir dürfen den Pfad der Krisenbewältigung, den demokratisch organisierte Steuerstaaten im Spannungsverhältnis zwischen den Imperativen des Marktes und den Legitimationserfordernissen der Wahlbevölkerung schon immer haben suchen müssen, nicht durch die Anlage unserer Theorie zugunsten der einen oder der anderen Seite präjudizieren. Die Theorie darf sich weder von systemischen Notwendigkeiten noch von voluntaristischen Wünschbarkeiten eine schon auf analytischer Ebene vorgenommene Weichenstellung suggerieren lassen. Es sind die offenen Kontingenzspielräume der politischen Geschichte, in denen jede kapitalistische Demokratie gleichzeitig von Wählern und von Steuern abhängig ist. Der in eine Wirtschaftsgesellschaft eingebettete demokratische Staat muss unter wechselnden Umständen immer wieder dasselbe, von Claus Offe vorbildlich analysierte Problem lösen – wie er gleichzeitig für profitable Investitionsbedingungen Sorge tragen und die normativen Ansprüche der Bevölkerung erfüllen kann, anhand deren er sich legitimieren muss. Es sei denn, das Wachstum, das durch die kapitalistische Dynamik angetrieben wird, stieße überhaupt an definitive, z. B. ökologische Grenzen. Es ist eine offene Frage, wie viele Zumutungen eine an Freiheit und Wohlstand gewöhnte Bevölkerung hinzunehmen bereit ist. Freilich ist auch eine anomische Entwicklung nicht ausgeschlossen, wenn eine von Regierungen und Parteien über die tatsächliche politische Lage vorsätzlich im Unklaren gelassene und desorientierte Wahlbevölkerung den Cavalieres, Scharfmachern und Populisten in die Arme getrieben wird. Die systematische Entkoppelung der Legitimationsbeschaffung von den Informationen und Gründen, die die Wahl der Politiken tatsächlich bestimmen, kann die demokratische Kulisse zer-
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Entgegnung auf Manfred Baum
stören und das politische System durch Ratlosigkeit, Chaos und Stillstand lähmen. Im Umgang mit Krisentheorien der verschiedensten Art habe ich eines gelernt: Zwar kann die Philosophie in der Gestalt nachmetaphysischen Denkens keinen Trost mehr spenden. Aber sie kann auf den tröstlichen Umstand hinweisen, dass der Mensch das Wesen ist, das nicht nicht lernen kann. Manchmal freilich lernt er, das ist die schockierende historische Erfahrung meiner Generation, erst in der Folge von, also erst nach Katastrophen – zu spät für die Opfer!
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Diskussion Moderation: Heinz Sünker
Stefan Müller-Doohm: Ich möchte an das Ausgangsthema Historischer Materialismus anknüpfen. Max Horkheimer hat ja gesagt, wir nennen das anders, wir nennen das Kritische Theorie, machen aber in dieser Tradition weiter. Dieses Weitermachen, scheint mir, gibt es für Habermas nicht, und das sollte viel schärfer herausgestellt werden als bisher. Diese von William Outhwaite thematisierte »verschwiegene Orthodoxie« findet man nicht in den früheren Arbeiten von Habermas, schon gar nicht in den späteren, und ich meine, dass da eine schärfere Abgrenzung vorgenommen werden müsste zu Marx, auch zur Kritischen Theorie. Denn wenn man sich die Theorie des kommunikativen Handelns genau anschaut, wird einem schnell klar, dass es hier darum geht, eine Rekonstruktion des Lebensprozesses der Gesellschaft als eines durch Sprechakte vermittelten Erzeugungsprozesses zu thematisieren. Und das ist in der Tat etwas anderes als das, was gewissermaßen in der Theorie des Historischen Materialismus noch zu verankern wäre. Und das ist, wie mir scheint, etwas zu kurz gekommen. William Outhwaite hat ein wenig geschwankt, während das im Referat von Herrn Baum schon deutlicher wurde. Habermas tradiert, wie mir scheint, keine Theorie, sondern entwickelt etwas ganz Neues, etwas ganz Anderes, wie es mir überhaupt ein Irrtum zu sein scheint, immer wieder zu sagen, das ist eine andere Generation von Kritischer Theorie, hier wird eine Kritische Theorie weitertradiert, weiterentwickelt, das ist, glaube ich, ein falscher Eindruck, so verbreitet er auch ist. William Outhwaite: Zu Stefan Müller-Doohms Frage: Ich bin unsicher; das Einzige, was ich sagen möchte, ist, dass ich vollkommen mit der Ansicht von Habermas übereinstimme, dass die Unterscheidung zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft zu verwerfen ist. Ich bin Alt-Achtundsechziger und wir haben uns nicht so sehr für Althusser interessiert, weil er offenbar kein guter Marxologe war, son69 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
dern für Kuhns Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen, weil das eine scharfe Unterscheidung zwischen Marxismus, den wir alle machen wollten, und bürgerlicher Wissenschaft ermöglichte. Später habe ich als Magisterstudent und Doktorand bei Tom Bottomore gelernt, dass diese Unterscheidung nicht funktioniert. Wir Sozialwissenschaftler oder Philosophen haben uns alle den Marxismus soweit angeeignet, dass die Frage, ob etwas marxistisch oder nicht-marxistisch, unmarxistisch ist, enorm schwer zu beantworten ist. Georg Siegmann (Universität Wuppertal): Ich möchte nach dem Verhältnis der Philosophie zum Historischen Materialismus und dem, was Habermas daraus macht, fragen. Ich habe die bisherigen Vorträge so verstanden, dass in der Spannung zwischen sozialempirisch angelegten Praktiken und Theorien (etwa im Sinne von Weber oder eben Habermas) und dem philosophischen Anspruch, der irgendwie trotz des Endes der Metaphysik nicht zu Ende gegangen ist, die eigentliche Problematik liegt, die hier auf dieser Tagung verhandelt wird. Deshalb frage ich: Was heißt uns dabei »Philosophie«? Immer noch letztlich dasselbe bei Marx oder sogar bei Habermas wie bei Hegel oder Kant oder Platon? Oder ist das, was uns auch Marx einen Philosophen nennen oder auch Habermas einen Philosophen nennen lässt, doch mehr als nur eine gewisse Sinnverschiebung im Begriff der Philosophie, nämlich eine Äquivokation, also ein Missverständnis? Manfred Baum: Der Frage von Herrn Siegmann liegt offenbar ein gewisses Interesse an der Philosophie zugrunde: dass sie womöglich auch in Zukunft noch existieren möge. Marx hat sich tatsächlich, und auch Engels natürlich, nach der Deutschen Ideologie nicht mehr als Philosoph verstanden. Das hat mehrere Gründe, aber der wichtigste Grund scheint mir der zu sein, dass Marx tatsächlich glaubte – und er war nicht allein, alle diese linken Berliner Hegelianer waren dieser Meinung –, dass Hegel nicht nur der letzte Philosoph gewesen sei, sondern auch der letztmögliche. Die Hegel-Kritik von Feuerbach oder Stirner oder auch Kierkegaard und natürlich von Marx ist zwar im Detail oft sehr treffend – in Marx’ Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie haben wir einen Text, der auf der Höhe der Hegel’schen Theorie ist –, aber in Bezug z. B. auf die Hegel’sche Logik und Naturphilosophie sind diese Leute inkompetent. Es ist ja auch wirklich so, dass ein solches
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Diskussion
System der Philosophie, wie Hegel es in seiner Enzyklopädie vorgelegt hat, seitdem nicht mehr vorgelegt wurde. Mir leuchtet die Verbindung von Marx mit dem bürgerlichen Anti-Marx, nämlich Max Weber, sehr wenig ein, obwohl Lukács das schon gemacht hat, obwohl Adorno und Horkheimer und Habermas das machen – auch Parsons, obwohl da wenig Marx zu sehen ist, sondern viel amerikanischer Naturalismus. Ich halte das – unabhängig von Details der Theorie – für eine Verkennung von Marx. Marx wollte kein Sozialwissenschaftler sein, Marx hat sich nicht für politische Ökonomie als Spezialwissenschaft interessiert. Marx wollte erkennen, warum die 1848er Revolution gescheitert war, und als gründlicher Deutscher wollte er das dann wissenschaftlich herausbringen. Er glaubte, dass die jeweilige politische Herrschaft ein reales Fundament in der Gesellschaft hatte, und deshalb betätigte er sich als Ökonom – als Anatom, so nannte er das – dieser Gesellschaft. Die Gesellschaft, die man revolutionieren will, muss man erkennen können. Marx ist für mich primär Politiker. Die Praxis, für die Marx steht, ist die politische Praxis, aber die folgt nicht einfach aus ökonomischen Einsichten. Jürgen Habermas: Den Marxismus muss man auch philosophiehistorisch in einen größeren Zusammenhang rücken. Erst Hegel hat einen philosophischen Diskurs der Moderne begonnen. Er hat den klassischen Themenkatalog der Philosophie erweitert. Seit Plato beschäftigt sich die Philosophie mit der Aufgabe, intuitiv verwendetes Wissen zu explizieren. Wir heben aus der Tiefe des Bewusstseins also anamnetisch etwas ans Licht, wenn wir das intuitiv gebrauchte Wissen, mit dessen Hilfe wir erkennen, sprechen oder handeln, zum Thema machen und begrifflich analysieren. Weil sich die Philosophie damit beschäftigt, performatives Wissen in explizites zu überführen, ist die Begriffsanalyse zu ihrem Königsweg geworden. Logik und Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Handlungstheorie sind bis heute ihre theoretischen Kerndisziplinen geblieben. Außerdem war die Philosophie in ihren Anfängen, spätestens seit Plato, eine Konkurrentin der großen Weltreligionen. In dieser Rolle sucht der Idealismus Antworten auf die Frage »Wie soll ich leben und was darf ich hoffen?«. Für die Philosophie ist der Mensch nicht nur das Wesen, das mit Begriffen hantiert, sondern eines, das sich, indem es sich in der Welt orientiert, auch über sich, seine kulturellen Produktionen und sein eigenes Leben Rechenschaft ablegen will. Aber Hegel hat diesem klassischen Katalog der 71 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
theoretischen und praktischen Philosophie eine vollkommen neue Fragestellung hinzugefügt. Er hat der Philosophie die Aufgabe einer Theorie der Gegenwart zugemutet: die Aufgabe, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Hegel war Zeitgenosse der Entstehung einer neuen Politischen Ökonomie, die aus dem traditionellen Rahmen der aristotelischen Ethik, Politik und Ökonomik ausbrach. Und er war der erste, der die damals entstehenden historischen Geisteswissenschaften, und damit geschichtliches Denken und historisches Bewusstsein, philosophisch ernst genommen hat. Wenn nun die Philosophie diese neue Sorte von Realwissenschaften auf den Begriff brachte, konnte sie das zeitdiagnostische Bedürfnis nach einer Selbstverständigung der Moderne befriedigen. Schon in der nächsten Generation aber wurde klar, dass dieses zeitdiagnostische Geschäft, das Hegel noch in Gestalt seiner Rechtsphilosophie bewältigt hatte, auf eine breitere empirische Basis angewiesen war; auf etwas, das Philosophie von Haus aus gar nicht als ihre eigene Aufgabe betrachten, sondern sich höchstens reflexiv aneignen konnte. Das markiert den Übergang von Hegel zur Gesellschaftstheorie. Marcuses Reason and Revolution ist die beste Geschichte genau dieser Periode des Übergangs von Hegel zur ersten Generation der Gesellschaftstheoretiker, zu Saint-Simon, Comte usw. Darauf folgen die soziologischen Klassiker, die in den 1860er-Jahre geboren wurden – Weber, Durkheim und George Herbert Mead. Nur die Soziologie hat also den von der Politischen Ökonomie alsbald aufgegebenen gesellschaftstheoretischen Anspruch, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgeführt, allerdings zeitweise unterstützt von der Ethnologie oder Kulturanthropologie. Inzwischen hat auch die Soziologie im Zuge ihrer Professionalisierung diesen Anspruch aufgegeben. Am längsten hat sich die Theoretisierung der Zeitdiagnose im Rahmen der marxistischen Tradition erhalten, in Verbindung mit einem seriösen wissenschaftlichen Anspruch allerdings nur im westlichen Marxismus. Die Arbeiten von Wolfgang Streeck zeigen, dass es nicht unmittelbar Marx sein muss, dass es auch Polanyi sein kann, an den man in gleicher Absicht anknüpfen kann.
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II. Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
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Ágnes Heller
Über Habermas – Von alten Zeiten
Ich begegnete einem Werk von Habermas, bevor ich seinen Namen kannte. In den frühen kommunistischen Zeiten wussten wir, junge Philosophen aus Ungarn, über unsere Zeitgenossen überhaupt nichts. Ihre Bücher bekamen wir nicht zu lesen, auch nicht in den geheimen Sektionen der Universitätsbibliothek (was in Moskau möglich war). In den Sechzigerjahren begann der Luchterhand-Verlag damit, Lukács’ Werke zu veröffentlichen. Als Geschenk schickten sie Lukács einige ihrer neuen Publikationen. Lukács hat die Bücher nicht gelesen, aber er fragte mich, ob ich an dem einen oder anderen Interesse hätte. Weil ich keine »Namen« kannte, ging ich nach den Titeln. Ich habe zwei Titel ausgewählt: Die höfische Gesellschaft und Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Titel haben mich nicht betrogen. Ich habe beide Bücher mit Enthusiasmus gelesen. So habe ich den Namen Habermas kennengelernt. Ich habe mich gleich entschlossen, alles von ihm zu lesen, was ich nur bekommen konnte. Und als ich zum ersten Mal »Westdeutschland« besuchte und Iring und Elisabeth Fetscher mich fragten, wen sie zum Tee einladen sollten, habe ich ohne Zögern Habermas genannt. Später, schon 1981, als ich Gastprofessorin in Konstanz war, hat unser gemeinsamer Freund Albrecht Wellmer, der Die Theorie des kommunikativen Handelns eben bekam und las, mir einige Gedanken des Buches erzählt und darüber mit mir diskutiert. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur zweimal nicht nur über Habermas’ Konzeptionen, Gedanken oder Thesen, sondern im Allgemeinen über ihn geschrieben. Zum ersten Mal in meinem Bericht über den Positivismus-Streit, der bei Suhrkamp in einem Buch veröffentlicht wurde. Darin habe ich Habermas’ Fähigkeit zur Rezeption entschieden gelobt. Ich wunderte mich darüber, dass der von mir als 75 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Ágnes Heller
Musikphilosoph hochgeschätzte Adorno, der das Vorwort schrieb, überhaupt nicht verstand – oder nicht verstehen wollte –, worum es bei Popper geht, während der junge Habermas dies sehr gut verstand und sich mit den wirklichen Fragen auseinandersetzte. Zum zweiten Mal, viel später, als ich mich schon längst nicht mehr als Marxistin verstand, schrieb ich einen Essay mit dem Titel Habermas und der Marxismus, doch kann ich ihn nicht finden und habe heute keine Ahnung mehr, was er beinhaltete. (Meine während der letzten zehn Jahre geschriebenen beiden Essays über Habermas kommen hier selbstverständlich nicht in Betracht.) Lassen Sie mich einige Worte über Habermas’ Kritik meines Buches Alltagsleben vorausschicken. Ich habe auf die Kritik damals aus vielen Gründen nicht reagiert. Habermas’ Der philosophische Diskurs der Moderne erschien 1988, während ich das kritisierte Buch bereits 1967 abgeschlossen hatte. Was ich zwanzig Jahre früher geschrieben hatte, war für mich damals nicht sehr interessant, und damit befand ich mich sowieso in guter Gesellschaft. Die deutsche Auflage des Buches enthielt ohnehin nur die Hälfte des Originals, und somit hatte ich keine Ahnung, was Habermas de facto gelesen hat. Da ich vor vier oder fünf Jahren, als ich mein Büchlein Die kurze Geschichte meiner Philosophie schrieb, mein altes Buch wieder lesen musste, kann ich es heute kurz verteidigen. Habermas’ Vorwurf lautete, dass ich mich zum Paradigma der Produktion bekannte. Der Beweis war der folgende Satz: »Um ihre Gesellschaft zu reproduzieren, müssen die Menschen sich selbst reproduzieren.« Dieser Satz formuliert ebenso wenig das Paradigma der Produktion wie zum Beispiel der Satz: »Um leben zu können, müssen die Menschen essen und trinken« das Paradigma der Biologie. Beide stellen einfach empirische Tatsachen fest. Sie beschreiben Evidenzen. Wie ich es weiterhin später tat (das habe ich von Kant gelernt), wollte ich auch hier mit einem empirischen Satz beginnen, um meine Geschichte ebenso auf der transzendentalen Ebene weiterzuentwickeln. Der andere Beleg für das Paradigma der Produktion ist meine Verwendung der Kategorie »Objektivation«. Ich gebe zu, dass die Kategorie »Objektivation« bei Hegel wie auch bei Marx und Lukács eine bedeutende Rolle spielt und dass ich meinen Grundgedanken auch mittels einer anderen Kategorie hätte ausdrücken können, wie ich es später tat. Doch wenn ich über die verschiedenen Schichten der »Objektivationen« spreche, beschreibe ich die Welt. Ich spreche über die Geworfen76 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Über Habermas – Von alten Zeiten
heit durch den Zufall der Geburt. Wir sind zufällig in eine konkrete Welt hineingeworfen, wo wir uns zumindest unsere engere Welt aneignen müssen, um heranzuwachsen. Was wir uns aneignen müssen, ist, wie ich mich damals ausdrückte, die Sphäre der »Objektivation an sich«, die, wie auch Habermas hervorhebt, aus drei Konstituentien besteht: der Alltagsprache, den Gewohnheiten und Normen der gesellschaftlichen Umgebung sowie der Art und Weise, die Dinge derselben Umgebung zu benutzen. Die Produktion hat in dieser Konzeption nicht nur keine Priorität, sie ist auf dieser ersten Objektivationsebene noch gar nicht erwähnt. Ich möchte diese Erklärung meiner selbst nicht weiter ausführen. Kurz und gut, mein Buch Alltagsleben ist eine Art Daseinsanalyse. Zumindest der Entwurf zu einer Daseinsanalyse. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich von Sein und Zeit beeinflusst war und genau gegen dieses Buch polemisierte. Die Polemik verlief eben über das Alltagsleben. Ich wollte zumindest theoretisch begründen, dass unser Alltagsdenken und -leben authentisch sein kann. Ob mir dies gelungen war, ist eine andere Frage. Es gibt in diesem Buch zu viel überspanntes Pathos, zu viele Kurzschlüsse, Naivitäten, auch Dummheiten, doch das Paradigma der Produktion gehört nicht zu ihnen. Seitdem bin ich auch mit der Anwendung des Paradigma-Konzepts in philosophischen Werken unzufrieden geworden. Falls es philosophische Paradigmen überhaupt gibt – was natürlich von der jeweiligen Konzeption derjenigen Philosophen, wie z. B. Habermas, die es voraussetzen, abhängt –, sind sie meiner Meinung nach philosophisch ohne besondere Bedeutung. Der so genannte »linguistic turn« war meines Erachtens eine philosophische Modeerscheinung. Was meiner Meinung nach wesentliche philosophische Bedeutung in der Gegenwart hat, ist die Daseinsanalyse. In dieser Hinsicht ist Heideggers Sein und Zeit das programmatische Werk der postmetaphysischen Philosophie. Alle bedeutenden und auch weniger bedeutenden philosophischen Werke, die sich noch immer darum bemühen, »zur Sache selbst« zu kommen, sind Daseinsanalysen. Ich weiß, dass Heidegger selbst alle anderen Daseinsanalytiker als falsche Interpreten betrachtete, aber dies ist in philosophischen Kreisen üblich. Cosi fan tutti. Ich unterscheide in der Entwicklung der Philosophie drei wesentliche Phasen. Zuerst ging es in den Schulen von Plato, Aristoteles, den Stoikern, Epikureern um die Hierarchie des Kosmos, der Seele, der Er77 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Ágnes Heller
fahrung, der Gesellschaft. Dann, in der zweiten Phase, erscheint die Frühmoderne, und von Descartes bis Hegel ging es um das SubjektObjekt-Verhältnis. Drittens geht es im Prozess der Dekonstruktion der Metaphysik um das Da-sein, um das In-der-Welt-sein und um die Erneuerung der philosophischen Sprache. Diese dritte Tendenz begann mit der Auflösung der Hegel’schen Philosophie und dauert bis zum heutigen Tag. Sie lässt sich bei Habermas ebenso beobachten wie bei Luhmann, auch bei Foucault sowie beim späten Wittgenstein. Diese Tendenz lässt sich bei allen feststellen, die, wie gesagt, noch immer darum bemüht sind, »zur Sache selbst« zu kommen. Alle »postmetaphysischen« Denker sind meines Erachtens persönliche Denker, auch wenn es sich um ein gemeinsames Denken von zwei oder drei Personen handelt. Natürlich kann man, wenn man will, die Differenzen, Kontroversen, das theoretische Gefecht der postmetaphysischen Philosophen der Verschiedenheit ihrer Paradigmen zuschreiben. Jetzt fange ich endlich wirklich an. Meine ausführlichste Diskussion von und Kritik an Habermas betraf die rationale Kommunikationstheorie. Ich bezog mich teilweise auch auf Apel, wenn die beiden Theorien miteinander übereinstimmten. Die Diskussion und Kritik von Habermas’ Position beherrschen beinahe den ganzen zweiten Teil meines Buches, das in deutscher Sprache unter dem Titel Philosophie des linken Radikalismus veröffentlicht wurde. Der Originaltitel lautet Bekenntnis zur Philosophie. Es existiert eine ursprüngliche Fassung des Buches, die erst nach meinem 80. Geburtstag erschienen ist. Jetzt konnte ich nachlesen, dass meine Polemik gegen Habermas (und Apel) in der ersten Fassung schärfer war als in der endgültigen Version. Im Folgenden werde ich mich auf beide Fassungen berufen. Ich bitte in Betracht zu ziehen, dass meine kritischen Bemerkungen 16 Jahre vor dem Erscheinen der Theorie des kommunikativen Handelns geschrieben wurden. Ich habe Habermas zweifellos – mit gutem Recht, wie ich glaubte – für meine Daseinsanalyse ausgebeutet. Ich habe damals auch seine Theorie als eine andere Art von Daseinsanalyse betrachtet. Tatsächlich ging es ja um das »In-der-Welt-Sein«. Die von mir am meisten ausgebeutete Habermas’sche Theorie betraf die Konzeption der herrschaftsfreien Kommunikation und des Diskurses im Allgemeinen. Die daseinsanalytische Voraussetzung und Interpretation habe ich in mei78 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Über Habermas – Von alten Zeiten
ner Werttheorie vorausgeschickt. Habermas hat zuweilen über Werte gesprochen, doch in seiner Theorie der Kommunikation sprach er eher über Normen und Prinzipen. Ich glaube, dass er im Wertbegriff eine Art von Verdinglichung entdeckte; vielleicht hat ihn in negativer Weise damals auch Nietzsche beeinflusst. Doch wenn man das In-der-WeltSein als Ausgangspunkt einer Analyse betrachtet, muss man von einer Situation ausgehen, in der Menschen in eine Welt hineingeboren sind, wo sie mit den in ihrer Umgebung gültigen Werten (die bei den Alten das Gute oder die Güter genannt wurden) konfrontiert werden. Ich definiere Werte wie folgt: »Ich nenne Werte alle theoretischen und praktischen Ideen, sei es in ihrer theoretischen oder praktischen, regulativen oder konstitutiven Verwendung.« Wenn man dies voraussetzt, muss man, falls man einer Theorie der Diskussion beistimmt, über Wertdiskussionen sprechen, obendrein auch über die Möglichkeit der Wert-Wahl, was für Habermas nach Dezisionismus roch. Es ist jetzt interessant zu sehen, wie ich mit dieser Theorie häufig denselben Schwierigkeiten begegne, deren problematische Behandlung ich Habermas oft vorwarf. Es ging beinahe immer um die ungeschickte und unreflektierte Bewegung zwischen der empirischen und der transzendentalen Ebene. (Die damalige deutsche Übersetzung verwendet den Ausdruck »Ideale« statt »Ideen«, was ganz verfehlt ist.) Habermas bezeichnete vielleicht auch schon zu dieser Zeit seine Theorie als Universalpragmatik und vermied das Wort »transzendental«, vielleicht wegen Kants Identifikation von »transzendental« mit »a priori«. Damals habe ich in diesem Buch das Kontrafaktische, das Nichtempirische als transzendental bezeichnet. Heute würde ich dasselbe tun, warum und wie, kann ich hier nicht näher erläutern. Unter drei verschiedenen Gesichtspunkten war für mich Habermas’ Kommunikationstheorie so wichtig gewesen, dass ich beinahe den ganzen zweiten Teil meines über die Philosophie geschriebenen Buches ihrer »Interpretation und Kritik« widmete. Diese drei Gesichtspunkte sind: die Theorie der Moderne, die Theorie der Demokratie sowie die Theorie der Philosophie. Was die Theorie der Moderne betrifft, sah ich in der Idee der herrschaftsfreien Kommunikation eine philosophische Ausarbeitung der Konzeptionen von Strukturwandel der Öffentlichkeit. Dass die Moderne den Spielraum für Diskussionen schafft, dass Diskussionen notwendig zur Moderne gehören und sie aufrechterhalten, diese Idee war hier meines Erachtens von der geschichtlichen auf die philosophische Ebene 79 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Ágnes Heller
»gehoben«. Der »allgemeine Geltungsanspruch« war auch die leitende Idee (oder wie ich mich ausdrückte: einer der leitenden Werte) der Moderne. Zweitens war die Theorie meines Erachtens als die Grundlegung einer radikalen Demokratie gedacht und so auch im philosophischen Sinn radikal. (Dass meine Unterscheidung zwischen rechtem und linkem Radikalismus ganz voluntaristisch gewesen war, dass ich, was ich liebte, »links«, und was ich zurückwies, »rechts« genannt habe, gehört nicht in diese Betrachtung.) Wegen des wesentlichen Einverständnisses mit Habermas waren alle meine kritischen Bemerkungen »immanent«, wie man sich damals ausdrückte. Und nicht nur immanent, sondern rein philosophisch: Ich wollte die Konzeption »verbessern« (was natürlich in allen Fällen, nicht nur in diesem, unmöglich ist). Wie schon erwähnt, war meine wichtigste kritische Bemerkung, dass Habermas zwischen der transzendentalen und der empirischen Ebene nicht klar unterscheidet. Einerseits konnte man die Idee des »allgemeinen Geltungsanspruchs« auch empirisch-historisch verstehen, weil moderne Menschen im Sinne der Aufklärung für ihre Wahrheiten gleichsam selbstverständlich auf allgemeine Gültigkeit Anspruch erheben. Doch wenn Habermas als Bedingung des allgemeinen Geltungsanspruches die kontrafaktischen Bedingungen der herrschaftsfreien Kommunikation, der idealen Kommunikationsgemeinschaft anführt, bewegt er sich auf der transzendentalen Ebene. Dennoch setzt er zumindest die Möglichkeit eines de facto universalen Konsenses voraus, und damit hat er sich aus der transzendentalen Ebene wieder ins Empirische begeben, ohne darüber Rechenschaft abzulegen. Allgemeines Einverständnis, consensus omnium, ist nämlich empirisch unmöglich. Für Kant stellte sich dies noch nicht als Problem dar. Die transzendentale Freiheit ist das absolute Gesetz der Menschheit in mir, darüber brauchen wir nicht mit empirischen Menschen unter nicht-empirischen, herrschaftsfreien Bedingungen zu diskutieren, um Konsens zu erzielen. Wenn man aber vom In-der-Welt-Sein und nicht vom transzendentalen Subjekt ausgeht, dann ist Konsens prinzipiell ausgeschlossen. Ich kam zur Konklusion, dass Habermas eben wegen seines fortwährenden Lavierens zwischen der transzendentalen und der empirischen Ebene einige Probleme der empirischen Welt nicht reflektiert. In den Paragraphen 83 und 84 schreibe ich z. B.: »Man kann eine Gesell80 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Über Habermas – Von alten Zeiten
schaft der symmetrischen Reziprozität denken, wo alle gleich vernünftigen Menschen dieselben Sprechakte anwendend miteinander rational argumentieren.« »Doch kann man keine solche Gesellschaft denken, wo diese vernünftige Wesen nicht verschiedene Erfahrungen hätten, nicht über mehr oder weniger Wissen verfügten, wo die Argumente des einen nicht mehr Gewicht hätten als die Argumente der anderen.« Wenn Habermas die drei Hauptwerte der idealen Kommunikationsgemeinschaft – Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit – aufzählte, dann war ich nicht bloß einverstanden, sondern auch entzückt. (Der Habermas’schen Liste füge ich als Grundwert das Leben hinzu.) Doch ich ergänzte, dass diese drei Prinzipien, Hauptwerte, archai, nicht nur in der Moderne, nicht nur unter der Voraussetzung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft gültig sind. In unserer traditionellen Kultur waren und sind sie immer selbstverständlich. Für die Grundwerte braucht man nicht zu argumentieren, sagte ich (das hat Aristoteles auch so gemeint). Man argumentiert mit den Grundwerten (Prinzipien, archai) und nicht für oder gegen sie, einige Krisen ausgenommen. Die Argumentation (Wertdiskussion, wie ich es nannte) dreht sich nicht um die Anerkennung der Hauptwerte oder Prinzipien, sondern um ihre Interpretation und ihre Hierarchie. Wenn man dies anerkennt, dann braucht man auch nicht (meiner Meinung nach zu Unrecht) vorauszusetzen, dass Wahrheit und Rationalität miteinander immer übereinstimmen. Wenn es aber nicht nur um die Anerkennung der Prinzipien, sondern auch um den Konsens bezüglich ihrer Interpretationen geht, fügte ich hinzu, wo bleiben dann die empirischen Menschen? Laut Kant gibt es auch zwei »materiale« Normen nebst den formalen, unbedingt gültigen, nämlich die Normen, die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit der anderen zu fördern. Wo ist deren Platz im Habermas’schen Modell der Moderne? In diesem Kontext zitiere ich Apels Gedanken, demzufolge man menschliche Bedürfnisse nur dann anerkennt, wenn man sie interpersonal rechtfertigen kann. (Ich habe keine Ahnung, ob Habermas damals diese Auffassung geteilt hat oder nicht.) Diesen Gedanken habe ich leidenschaftlich angegriffen. Meines Erachtens soll man alle Bedürfnisse anerkennen. Weder Bedürfnisse noch der Anspruch auf ihre Befriedigung bedürfen der Rechtfertigung, nur im Falle der Nicht-Befriedigung der Bedürfnisse ist dies erforderlich. (Diese Polemik war insbesondere gegen Marcuse gerichtet.) 81 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Ágnes Heller
Was Habermas’ »wahren Konsens« betrifft, war ich im Allgemeinen mehr als skeptisch. Die Konsenstheorie der Wahrheit war für mich besonders unverdaulich. Die Idee der gegenseitigen Verständigung habe ich als eine regulative Norm nur dann anerkannt, wenn mit »Verständigung« das Verstehen des Standpunktes oder der Argumente der anderen gemeint ist. Auch hier war ich, zumindest auf der empirischen, nicht regulativ-normativen Ebene, skeptisch. Ich habe ja mehrfach betont, dass Verständnis immer auch Missverständnis ist (obwohl dies umgekehrt nicht immer gilt). Doch wenn Habermas mit gegenseitiger Verständigung nicht Verstehen, sondern Einverständnis bezüglich der Interpretation der Grundprinzipien »Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Leben« meinte, war ich radikal dagegen – ausgenommen im Fall eines praktischen Diskurses unter Handlungsdruck. Hier kann Einverständnis auch auf einem Kompromiss beruhen. In der damaligen Übersetzung lautete mein zu pathetisch formulierter kritischer Satz folgendermaßen: »Auszusetzen habe ich an Habermas’ Theorie nicht, dass sie kontrafaktisch ist, sie ist ja eine philosophische Idee, ihre Kontrafaktizität ist also zugleich ihre Begründung. Mein Problem besteht darin, dass ich sie auch als Idee nicht akzeptieren kann.« Ich fügte, wieder mit zu viel Pathos und mit zu wenig Begründung, Folgendes hinzu: »Ich will nämlich nicht, dass die Menschheit je in Fragen von Gut und Wahr Konsens erreiche. Ich will nicht, dass es je eine einzige wahre Hamlet-Interpretation gebe. Ich will nicht, dass es je eine einzig wahre Philosophie gebe, ich will nicht, dass je ein einzig gutes Ziel sein soll. Ich will keinen Konsens.« »Ich setze die Pluralität der Lebensformen voraus.« Wenn Habermas in seiner Theorie der herrschaftsfreien Kommunikation davon ausgeht, dass die Gesprächspartner dieselben Sprechakte benützen können, rekurriere ich wieder einmal auf ein empirisches Faktum. Ja, Menschen können als gleich rationale Kreaturen miteinander in Diskussion treten, da kann die Diskussion wahrlich herrschaftsfrei, jedoch nicht machtfrei sein. Wie ich es schon oft getan habe und weiter tun werde, möchte ich auch hier betonen, dass Menschen nicht nur Ratio, sondern auch Leib sind. Eine relativ machtfreie Kommunikation, füge ich hinzu, kann nur dann stattfinden, wenn die Diskutanten Zuschauer sind und überhaupt kein Einverständnis, kein Konsens erzielt wird. Dies ist der Fall bei Kants Geschmacksurteil. Ich kann auf Allgemeingültigkeit Anspruch 82 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Über Habermas – Von alten Zeiten
erheben und wollen, dass meinem Urteil (»Diese Rose ist schön.«) alle zustimmen sollen. Doch falls ich mit Freunden am Mittagstisch sitze und mit ihnen diskutiere, werde ich mich mit der Verschiedenheit der Geschmacksurteile auseinandersetzen. Falls alle mit mir übereinstimmten, wäre nämlich überhaupt keine Diskussion möglich. (In Strukturwandel der Öffentlichkeit war auch von einer derartigen Diskussion die Rede. Später, in meinem Essay »Immanuel Kant lädt uns zum Mittagessen ein«, bin ich auf diese Frage zurückgekommen.) Obwohl ich Habermas oft mit Zustimmung zitiere, wenn er bezüglich der herrschaftsfreien Kommunikation die Zeit und den Handlungsdruck ausschließt, füge ich hinzu, dass er hier wieder einmal auf der transzendentalen (kontrafaktischen) Ebene verweilt, ohne Rücksicht auf die empirischen Bedingungen zu nehmen. Tatsächlich stehen wir jedoch immer unter Zeit- und Handlungsdruck, schon aus dem einfachen Grund, dass wir sterblich sind, und ebenso sind es auch alle unsere Kulturen. Es gibt meiner Meinung nach jedoch eine einzige Ausnahme – die philosophische Diskussion: Vielleicht war Habermas’ Gedanke eben deshalb für mein Buch über Philosophie so wichtig gewesen. Was Habermas darstellt, schreibe ich, ist wesentlich die philosophische Diskussion. In einer philosophischen Diskussion ist die Idee der herrschaftsfreien Kommunikation nicht nur regulativ, sondern auch konstitutiv. Sie kann zumindest als konstitutive Idee fungieren. Die philosophische Kommunikation ist herrschaftsfrei, die Diskussionsteilnehmer können die gleichen Sprechakte benützen. Es gibt keinen Handlungsdruck, da Kommunikation selbst die eigentliche Handlung ist. Es gibt keinen Zeitdruck, da wir auch mit Denkern, die seit zweitausend Jahren tot sind, sowie mit den Ungeborenen kommunizieren können. So verstanden ist »Kausalität durch Freiheit« in die Theorie der herrschaftsfreien Kommunikation integriert. Mein einziges Problem blieb hier, wieder einmal, mein Unbehagen mit dem Konsens. Die philosophischen Debatten (agon) setzen immer Dissens voraus. Außerdem dachte ich, dass Habermas in seiner Konsenstheorie der Wahrheit das Hegel’sche »Das Wahre ist das Ganze« in einer sehr problematischen Version rehabilitierte. Hegel sprach von der Vergangenheit, von Erinnerung, doch Habermas von der Gegenwart, die Zukunft miteinbegriffen. Was ich an Habermas’ damaliger Idee der Kommunikationsgemeinschaft eindeutig akzeptierte, war seine Idee der Demokratie (in meiner Lesart: radikalen Demokratie). Besonders ansprechend war der 83 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Ágnes Heller
Gedanke für mich, dass die »Universalisierung der Grundnormen« und die »Verinnerlichung der Verhaltenskontrollen« Aspekte desselben Prozesses sind. Meiner damaligen Interpretation zufolge meinte Habermas, dass die demokratische Persönlichkeit ebenso die Vorbedingung wie auch das Resultat der institutionalisierten radikalen Demokratie ist. Am Ende schöpfe ich allerdings den Verdacht, Habermas damals im Versuch seiner Ausbeutung missverstanden zu haben. Ich wollte diesen Verdacht heute nicht überprüfen, um mein jetziges »Selbst« nicht in mein damaliges »Selbst« hineinzuschmuggeln. Habermas hat seitdem viele wichtige Bücher geschrieben. Ich habe von meinen damaligen theoretischen Gedanken mehrere hinter mir gelassen. Luhmann, einer von Habermas’ damaligen Gesprächspartnern, ist längst gestorben. Nehmen sie diese Zeilen als Zeichen der Erinnerung an alte Zeiten.
Entgegnung von Jürgen Habermas Seitdem wir uns Mitte der 60er Jahre bei Iring Fetscher kennengelernt haben, nehme ich Ágnes Heller nicht nur als Philosophin ernst, was bei dem Format ihrer Werkes und ihrer philosophischen Anstrengung selbstverständlich ist. Vielmehr hat sich von Anfang an eine Art der persönlichen Beziehung hergestellt. Freundschaft trifft diese Beziehung nicht genau. Es war von meiner Seite neben dem Respekt und der freundschaftlichen Verbundenheit immer auch ein Stück Solidarität desjenigen, der vom geschichtlich-politischen Schicksal verschont und begünstigt worden ist, mit einer ähnlich gesinnten Altersgenossin, die unter so unvergleichlich schwierigeren Lebensbedingungen so viel mehr an Mut und Kampfgeist aufbringen, und die bis zum heutigen Tage so viel größere Risiken und Entbehrungen auf sich nehmen musste, wenn sie für die gleichen Ideen ihren Kopf hinhielt. Ágnes Heller hat ihre Philosophie in einem buchstäblich existentiellen Sinne »leben« müssen, während wir in Westdeutschland von ernstlich herausfordernden Situationen verschont geblieben sind. Kurz zu dem Exkurs in Der philosophische Diskurs der Moderne, auf den sich Ágnes bezieht. Dort habe ich mich anhand des Aufsatzes eines gemeinsamen Kollegen und Freundes, György Márkus, mit einer 84 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Ágnes Heller
marxistischen Lesart von Praxisphilosophie auseinandergesetzt, der ich vor allem auf Korčula und später in Dubrovnik bei den jugoslawischen Freunden aus Zagreb und Belgrad begegnet war. Darin steckt übrigens auch ein Stück Selbstkritik meiner eigenen Anfänge. In diesem Zusammenhang habe ich auch Ágnes Heller zweimal zitiert, dabei mag ich mich einer Übergeneralisierung schuldig gemacht haben. In Ágnes Heller selbst habe ich immer den politisch verwandten Geist gesehen, der sich von uns im Westen allerdings philosophisch – wie es bei vielen Kollegen aus Mitteleuropa der Fall war – durch den Denkstil und durch ein etwas zu pathetisches Verständnis der Philosophie unterschied. Wir aus dem Westen begegneten hier, wenn auch in egalitärer Abwandlung, einem geistigen Profil, das wir aus der Generation unserer Lehrer, vor allem der Generation der Heideggerschüler, kannten. Ein Streitpunkt zwischen uns beiden trat in Ágnes Hellers Schriften aus der Emigrationszeit in New York deutlicher hervor. Aber einiges beruht auch auf Missverständnissen. Zwar ist Ágnes ihren Anfängen beim jungen Lukács und beim Heidegger von Sein und Zeit in gewisser Weise treu geblieben – Lucien Goldmann hat ja deren Verwandtschaft in seiner Dissertation gut herausgearbeitet. Aber die Situationsethik, die sie daraus entwickelt, muss man nicht in einen unversöhnlichen Gegensatz zum Universalismus der Gerechtigkeitsmoral bringen. Die diskursethische Lesart der kantischen Moraltheorie ist mit dem Pluralismus der Lebensformen, der existentiellen Wertorientierungen und Lebensentwürfe, der Kulturen und geschichtlichen Kontexte nicht nur vereinbar, sondern gerade der Schlüssel zum Verständnis der Legitimität der Andersheit des Anderen. Und was den Respekt vor den Bedürfnissen des Anderen angeht – ja, in dieser Hinsicht gilt prima facie selbstverständlich die Autorität der ersten Person. Aber die Interpretation, in der jeder seine Bedürfnisse zur Geltung bringt, muss sich einer Sprache bedienen, die ja kein Privatbesitz ist. Es kann deshalb eine berechtigte Diskussion darüber geben, ob nicht die Bedürfnisse eines Betroffenen von anderen als den eigenen Worten besser »getroffen«, mit einer anders formulierten Beschreibung genauer interpretiert werden. Und ein Diskurs ist erst recht nötig, wenn die interpretierten Bedürfnisse oder Interessen verschiedener Personen im gegebenen Fall miteinander konfligieren; dann müssen die Parteien herausfinden, wie das anstehende Problem »gerecht«, also im gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen gelöst werden kann. Einen anderen Streitpunkt, der allerdings einen zentralen Gedan85 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Ágnes Heller
ken betrifft, muss ich noch berühren – die vermeintliche Konfusion von oder das Hin und Her zwischen transzendentaler und empirischer Ebene. Mit der ungewöhnlichen Denkfigur der »unvermeidlichen Kommunikationsvoraussetzungen idealisierenden Gehalts« hole ich tatsächlich ein Element des Intelligiblen in den Bereich der symbolisch strukturierten gesellschaftlichen Realität ein. Diese allgemeinen und notwendigen Voraussetzungen kommunikativen Handelns haben aber, wie ich meine, eine starke phänomenologische Evidenz: In einem Dialog muss (!) der eine dem anderen Zurechnungsfähigkeit im Sinne einer Orientierung an Geltungsansprüchen unterstellen. Wenn einer den anderen über eine Tatsache informiert, muss (!) er actu unterstellen, dass seine Behauptung nicht nur im gegebenen Kontext oder »für uns«, sondern überhaupt und »an sich« wahr ist. Ohne die gemeinsame Orientierung an der Universalität von Ansprüchen auf die Wahrheit oder die Richtigkeit von assertorischen bzw. moralischen Aussagen verlieren Argumentationen ihren Sinn. Andererseits ist die Verständigungsabsicht samt ihren pragmatischen Unterstellungen doch nur eine notwendige Voraussetzung für die Erzeugung von Dissens und für die Feststellung begründeter Nicht-Übereinstimmung. Die Orientierung an vernünftigem Einverständnis zielt nicht auf totalitäre Homogenisierung, sondern macht Widerspruch erst möglich. Das fundamentale Menschheitsmonopol des Nein-Sagen-Könnens setzt die Orientierung an Einverständnis voraus.
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Karl-Otto Apel
Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
Mein Thema vereinigt im Titel vier Begriffe, die zwar heute bekannt sind, aber kaum je so gebraucht werden, wie sie hier von mir gemeint und zu einer Titel-These zusammengestellt sind. Es geht mir um »Erste Philosophie«, wie der letzte Begriff im Titel anzeigt. Das klingt heute sehr ungewöhnlich und fremdartig, aber, soweit der Terminus noch bekannt ist, erinnert er an Aristoteles’ Bezeichnung der Wissenschaft vom »Seienden« als dem »Seienden« oder auch vom »höchsten Seienden«, das heißt von Gott als dem »unbewegten Beweger« von Allem. Dieser Terminus wurde später von den Aristoteles-Kommentatoren auch »Metaphysik« genannt und im 17. Jahrhundert noch genauer »Ontologie«. In meiner Titel-These wird aber der Begriff der »Ersten Philosophie« nicht so gebraucht; denn das von mir gemeinte Paradigma der »Ersten Philosophie« ist nicht die Metaphysik oder Ontologie, in der die Welt als begrenztes Ganzes von außen gedacht wird, z. B. von einem göttlichen Standpunkt aus, sondern ein postmetaphysisches Paradigma der Fundamentalphilosophie. Doch was ist ein Paradigma? Der Begriff »Paradigma« geht zwar auf Platon zurück, doch er wird heutzutage meist so gebraucht, wie ihn der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions neu eingeführt hat. 1 Bei Kuhn aber geht es nicht um einen metaphysischen Begriff der philosophischen Tradition, sondern eher um einen historisch-soziologischen Leitbegriff der empirischen Rekonstruktion der Wissenschaftsentwicklung. Der Inhalt von Kuhn’schen Paradigmen ist zwar epochal maßgebend und insofern auch normativ zu verstehen, aber keineswegs im Sinne eines einheitlichen, rational rekonstruierbaren Fortschritts. Genau dies aber möchte ich mit meinem, durchaus von Kuhn inspirierten Begriff des »Paradigmas« nahe1
Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 21970.
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Karl-Otto Apel
legen; und zwar so, dass der Begriff des Paradigmas als historisch-hermeneutischer Leitbegriff auf einen postmetaphysischen Begriff der Ersten Philosophie anwendbar sein soll. Das heute maßgebende Paradigma der Ersten Philosophie sollte m. E. zwar postmetaphysisch, aber zugleich für unsere Begründungsreflexion nicht hintergehbar, daher argumentativ unbestreitbar und insofern Instanz einer nicht deduktiven, sondern reflexiven Letztbegründung philosophischen Denkens sein. Damit komme ich zum Eingangsterminus meiner Titel-These: »Transzendentalpragmatik«. Dieser Terminus bezieht zwei heute gängige Schlüsselbegriffe der Ersten Philosophie aufeinander, aber so, dass ihre paradigmatische Funktion für die Konzeption der Ersten Philosophie erst verständlich und deutlich wird, wenn die Teilbegriffe »transzendental« und »Pragmatik« radikal rekonstruiert werden. Beginnen wir mit dem Begriff »transzendental«. Er wird heute oft als Teil des Begriffs »metaphysisch« verstanden, und zwar so, dass die postmetaphysisch orientierten Denker dann zugleich die Forderung der »Detranszendentalisierung« damit verbinden. (So z. B. Richard Rorty und in letzter Zeit auch Jürgen Habermas.) Der Begriff »transzendental« ist in der Tat sehr vieldeutig, so schon bei Kant. Er hängt einerseits – schon in der vorkantischen Tradition – mit dem Begriff »transzendent« zusammen, wird aber gerade bei Kant als Gegenbegriff zu »transzendent« eingeführt, nämlich als Zielthema der reflexiven Frage nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Erfahrungserkenntnis: Kant hat aber diese reflexive Frage auch mit der quasi-ontologischen Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Bewusstsein und dem unerkennbaren »Ding an sich« gleichgesetzt. So wird in der transzendentalen Erkenntnistheorie das transzendente »Ding an sich« als letztaffizierende Ursache der Erfahrung vorausgesetzt, aber zugleich von der Erkenntnis und von allen Gegenständen möglicher Erkenntnis ausgeschlossen. (Jacobi hat diese Grundschwierigkeit des kantischen Systemansatzes als bleibendes Grundproblem der Kant-Interpretation markiert.) Wie soll aber nun das Verhältnis des Transzendentalen zur erkenntnisvorgängigen und insofern »an sich« bestehenden Realität gedacht werden, wenn man – mit Kant – an der reflexiven Frage nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Erfahrung festhalten will? – was ich in der Tat für notwendig halte. Hegel hat festgestellt, dass die neuzeitliche Philosophie seit Des88 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
cartes als »Reflexionsphilosophie« zu verstehen ist, so auch die Vernunftkritik Kants. Diese ist freilich – im Unterschied zur reflexiven Erkenntnispsychologie des Britischen Empirismus – auf die objektiv und intersubjektiv universal gültige Erkenntnis der Wissenschaft bezogen und insofern – wie Hegel sagt – in »absoluter Reflexion« auf die eigene Erkenntnis als Philosophie. Die Erkenntniskritik als Vernunftkritik kann daher nicht, wie Kant vorschlägt, vor aller Erkenntnis der Wirklichkeit und unabhängig von ihr betrieben werden, sondern nur als identisch mit der höchsten Stufe der Wirklichkeit: Als Heimkehr des in der Natur entäußerten Geistes zu sich selbst; wie man mit Hegel auch sagen kann. An dieser Stelle ist die Transzendentalphilosophie – nach ihrer Radikalisierung als idealistische Reflexionsphilosophie – noch einmal zur ontologischen Metaphysik geworden, und zwar bei Hegel als spekulativ-idealistische Geschichtsphilosophie, welche vor der Aufgabe steht, die Wirklichkeit bis in die Zukunft hinaus, also die Wirklichkeit im Ganzen, als »vernünftige« zu rekonstruieren. Dieses Problem Hegels war die Herausforderung für die Junghegelianer, insbesondere für die Zukunftsphilosophen August von Cieszkowski, Moses Hess und Karl Marx. Damit zugleich verwandelte sich die spekulative Geschichtsphilosophie Hegels in den »Historischen Materialismus«. Dieser wurde jedoch in der orthodoxen Endfassung bei Marx und Engels und vor allem in der sowjetisch fixierten Version wieder zu einer ontologischen Metaphysik, nämlich zu der mit der Freiheit, Emanzipationsfähigkeit und Unbestimmtheit der menschlichen Praxis nicht zu vereinbarenden Konzeption des »Dialektischen Materialismus«. 2 Damit scheiterte philosophisch gerade die zukunftsbezogene Konzeption des konstruierbaren Fortschrittes der kollektiven Praxis, die mit dem »Historischen Materialismus« bei Marx verknüpft wurde. In Westeuropa aber verlor die geschichtsdialektische Konzeption der kollektiven Praxis sowohl in ihrer idealistischen wie in ihrer materialistischen Fassung ihre führende Position in der Ersten Philosophie. Eine auf Hegel antwortende zukunftsbezogene Praxisphilosophie gab es hier schließlich nur in dem von Kierkegaard ausgehenden individualistischen und geschichtsfremden Existenzialismus und, strukturell komplementär dazu, in dem – ebenfalls geschichtsfreien – Neopositivismus, in dem der Praxisbezug der Vernunft auf die Dimension der 2
Vgl. Dietrich Böhler: Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971.
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Karl-Otto Apel
verifikativen Anwendung der Wissenschaft – genauer: der Naturwissenschaft – beschränkt war. Hier stellt sich nun m. E. die folgende Frage: Lässt sich das von Hegel (in der Konzeption der wohl letzten Metaphysik) immerhin exponierte Problem einer rational einsehbaren Verknüpfung der Selbstreflexion der menschlichen Praxis mit der Rekonstruktion der Geschichte einschließlich der aufgegebenen Fortsetzung dieser Geschichte: Lässt sich dieses Problem auch ohne die Voraussetzung einer dogmatischen Metaphysik explizieren? Lässt sich dieses Problem vielleicht so explizieren, dass man dabei an eine transformierte Transzendentalphilosophie ohne »Ding an sich« anschließen kann? Tatsächlich ergab sich in Amerika noch eine dritte Konzeption einer Zukunftsphilosophie als Antwort auf Hegel: im später so genannten »Pragmatismus«. Damit wurde m. E. ein neues, allerdings sehr vieldeutig interpretierbares Paradigma der Ersten Philosophie eingeführt. Und es ist anscheinend immer noch schwierig, ja erscheint vielen als unplausibel, dieses Paradigma auf der Linie einer kritisch transformierten Transzendentalphilosophie verständlich zu machen – was ich in der Tat für notwendig halte: Damit komme ich zum Leitbegriff meiner Titel-These: zum Paradigma »Transzendentalpragmatik«. Es empfiehlt sich m. E., den philosophischen Paradigma-Charakter des »transzendentalen Pragmatismus« anhand zweier Hauptargumente von Charles Peirce – dem meist so genannten, aber immer noch wenig verstandenen Begründer des »Pragmatismus« – einzuführen: einerseits anhand der Peirce’schen Schlüsselthese des »Pragmatismus«: der so genannten »pragmatischen Maxime« der »Klärung von Ideen« (in dem Aufsatz von 1878 »How to Make our Ideas Clear«) und andererseits anhand der weniger bekannten Einführungsthese der Peirce’schen »Semiotik« über die nicht reduzierbare Dreistelligkeit der Zeichenfunktion oder »Semiosis«, die nach Peirce auch in der Erkenntnistheorie als Bedingung der Möglichkeit der Realitätsinterpretation und des möglichen Erkenntnisfortschritts berücksichtigt werden muss. 3 Mit Hilfe einer kritischen Interpretation dieser beiden Schlüsselargumente von Peirce lässt sich einerseits die mit Charles Morris und Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1975 sowie ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie. Frankfurt a. M. 2011, Teil I.
3
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
Rudolf Carnap beginnende Berücksichtigung der so genannten »pragmatischen Dimension« in der analytischen Philosophie kritisch rekonstruieren und andererseits auch die Entwicklung des amerikanischen »Pragmatismus« selbst: von der normativen Adaption der »regulativen Ideen« Kants bei Peirce über die populäre Rezeption des »Pragmatismus« bei William James und John Dewey bis zur Verabschiedung aller normativen Geltungsansprüche der Philosophie im »Neopragmatismus« von Richard Rorty. Beginnen wir mit der Rezeption des semiotischen Pragmatismus in der analytischen Philosophie. Hier wurde von Rudolf Carnap im Anschluss an den Amerikaner Charles Morris die so genannte »Pragmatik« als dritte Dimension der Zeichenfunktion neben der »logischen Syntax« und der »logischen Semantik« in die Wissenschaftstheorie eingeführt. Doch damit wurde, anders als bei Peirce, keine normativ relevante Integration des Begriffs der Wissenschaft selbst eingeführt, sondern nur eine – zunächst behavioristisch interpretierte – Dimension der empirischen Thematisierung der Anwendung von Wissenschaft. Die spätere Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie (einschließlich der Sprechakttheorie und der Sprachspielphilosophie des späten Wittgenstein) kann zwar dem neuen Paradigma der Sprachpragmatik im weiteren Sinne zugerechnet werden, doch auch sie lieferte der Philosophie keine normative Dimension der explikativen Begründung des Sinns der Begriffe wie bei Peirce. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich der sinnkritischen und therapeutischen Funktion des Wittgenstein’schen Rekurses auf die alltäglichen Sprachspiele mit der in mancher Hinsicht ähnlichen Funktion der »pragmatischen Maxime« von Peirce. Gewiss kann die Wittgenstein’sche Sprachspielpragmatik manchen Irrweg der Metaphysik in sinnlose Probleme abschneiden; aber sie kann einem Wissenschaftler in einer echten Verlegenheit über den Sinn von unklaren Grundbegriffen nicht einen innovativen normativ relevanten Weg zur Neudefinition von Grundbegriffen aufzeigen. Genau das aber vermag die Anwendung der »pragmatischen Maxime«, die Peirce auch als Methode der »mellonization«, das heißt etwa: der Sinn-Heuristik durch zukunftsbezogene Gedankenexperimente, kennzeichnet. So geht es z. B. in der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins um eine Neudefinition des Sinns der Begriffe »Raum« und »Zeit« und speziell der »Gleichzeitigkeit von Ereignissen«. Der von Wittgenstein praktizierte Verweis auf den Sinn des einschlägigen Sprachgebrauchs 91 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Karl-Otto Apel
vermag nun hier der Wissenschaft nicht weiter zu helfen; denn in den Alltags-Sprachspielen werden Raum und Zeit beim Messen als völlig getrennte Maßbegriffe behandelt. Unter dieser Voraussetzung kann jedoch die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse im physikalischen Raum gerade nicht gemessen werden, wie Einstein gezeigt hat. Er hat in der Speziellen Relativitätstheorie tatsächlich eine Reihe von Gedankenexperimenten im Sinne der Peirce’schen »mellonization« durchgeführt und auf diese Weise die pragmatische Dimension des Begriffs der »Gleichzeitigkeit« im Sinne des postklassischen Paradigmas der Physik neu bestimmt. Nun hat Peirce die »pragmatische Maxime« im Wesentlichen auf naturwissenschaftliche Begriffe angewandt. (Erst Josiah Royce, der Lehrer von George Herbert Mead, hat die Peirce’sche Semiotik im Sinne einer Begriffs-Hermeneutik auf die historisch verstehenden Geisteswissenschaften angewandt.) Andererseits hat aber Peirce selber erklärt, dass ohne den »pragmatischen« und im Sinne Kants praktischen Vernunftbezug auf die Zukunft, d. h. ohne ein normativ verbindliches letztes Ziel unserer Handlungen, eine philosophische Moral nicht möglich sei. Es ist interessant, wie John Dewey, der den »Pragmatismus« als »Instrumentalismus« interpretierte, auf das Peirce’sche Postulat eines »letzten Zieles« unserer Handlungen reagierte. Dewey insistierte darauf, dass in unseren aktuellen Handlungssituationen niemals eine Orientierung an letzten Handlungszwecken gefragt sei, sondern vielmehr eine Orientierung durch »intelligent mediation of means and ends«. Es fällt nicht schwer, sich die Plausibilität dieser – im üblichen Sinne »pragmatischen« – Suggestion an den Entscheidungsorientierungen etwa eines Bürgermeisters verständlich zu machen. Dennoch ist es m. E. kaum möglich, eine als moralisch maßgeblich einzuschätzende Antwort eines Politikers auf eine historisch relevante Situation – etwa bei der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden oder auch zwischen langfristig relevanten Strategien der Parteiergreifung – vorzustellen, ohne sich auch eine Orientierung an letzten Zwecken vorzustellen. Eine ähnliche Alternative bei der teleologischen Interpretation der »pragmatischen Maxime« lässt sich in der Frage nach dem zukunftsbezogenen Sinn des Begriffs der »Wahrheit« bei Peirce und den anderen Pragmatisten feststellen. Bekannt ist hier der Unterschied zwischen der Orientierung an der »Nützlichkeit« bei James und Dewey (bei James sogar an der individuellen Bewährung eines religiösen Glau92 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
bens) einerseits und der Peirce’schen Orientierung am Begriff der »ultimate opinion« andererseits, das heißt der letzten, nicht mehr kritisierbaren und daher universal gültigen Übereinstimmung der Gemeinschaft der wissenschaftlichen Forscher. Doch ich will hier auf eine andere, subtilere Unterscheidung bei Peirce selber hinweisen. Peirce hat zunächst (so in dem frühen Aufsatz »The Will to Believe«) die pragmatisch relevante Wahrheitssuche nicht an dem Ziel der »ultimate opinion«, die allem Zweifel ein Ende setzt, verständlich gemacht, sondern im Gegenteil, den hier vorausgesetzten universalen Zweifel als bloßen »paper doubt« diskreditiert. Die wissenschaftlich relevante Wahrheitssuche hat er damals am Ziel der Beseitigung der aktuell bestehenden Dissensprobleme einer Forschergemeinschaft verdeutlicht. Später hat Peirce jedoch – ähnlich wie Karl Popper – ein universales »Fallibilismusprinzip« eingeführt. Dadurch hat er alle innerzeitigen Konsensergebnisse der Wissenschaftler als hypothetisch und provisorisch erklärt und gleichzeitig die Wahrheitssuche prinzipiell auf die »ultimate opinion« bezogen. Es versteht sich, dass er dadurch auch in normativer Hinsicht die Interpretation der »pragmatischen Maxime« im Sinne John Deweys zurückgewiesen hat. Doch wie soll man im Rahmen des Pragmatismus Peirces spätere Orientierung an einem universalen Zweifel und einem entsprechenden, alle Zweifel ausschließenden Wahrheitsbegriff verstehen? Stellt sie eine Rückkehr zur Metaphysik dar, da ja eine definitive empirische Verifikation von Forschungsergebnissen nun nicht mehr vorgesehen ist? (Karl Popper hat sich hier mit der These geholfen, dass ja definitive Falsifikationen immer noch möglich sind, womit freilich kein definitiver, forschungsrelevanter Wahrheitsbegriff bestimmt ist.) M. E. stellt der empirisch universale Gewissheitszweifel des Fallibilismusprinzips und der Wahrheitsbegriff des späteren Peirce (der in seiner Semiotik eine Entsprechung in der Theorie des letzten »logischen Interpretanten« der Bedeutung jedes Zeichens gefunden hat) keine Rückkehr zur Metaphysik dar. Er stellt vielmehr, wie der Peirce’sche Begriff der »Realität des Realen«, der an die Stelle des kantischen Begriffs des »Ding an sich« tritt, eine innovative Orientierung an Kants Begriff der »regulativen Ideen« dar. Schon Kant hat die neuartige Funktion dieses Begriffes dadurch vorgeprägt, dass er ausdrücklich bestimmt hat, die »regulativen Ideen« dürften weder im Sinne Platons ontologisch hypostasiert werden, noch sei in der zeitlichen Erschei93 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Karl-Otto Apel
nungswelt ihre definitive Einlösung empirisch erfahrbar und dennoch hätten sie die Funktion von normativen »Richtmaßen« des Erkenntnisfortschritts. Damit hat Kant m. E. schon eine Verständnismöglichkeit für die uns aufgegebenen potentiell unendlichen »Synthesisprozesse« der Erkenntnis angebahnt. Diese neue Konzeption ist einerseits schwieriger zu verstehen als Kants kategoriale Logik der Erkenntniskonstitution in Raum und Zeit, andererseits beseitigt sie gerade die Schwierigkeit, die mit der Vorstellung eines definitiven Wahrheitskonsenses in der Zeit verbunden ist. (Albrecht Wellmer hat m. E. die zweite Schwierigkeit in seiner Kritik wieder hergestellt, indem er die notwendige Erfahrbarkeit einer »regulativen Idee« tatsächlich unterstellt, das heißt im Falle der Peirce’schen Wahrheitsidee die Einlösung des letztes Wahrheitskonsenses in der Zeit und damit allerdings die Auflösung des Begriffs der menschlichen Kommunikations- und Kritikprozesse. Damit hat Wellmer jedoch m. E. den Sinn der regulativen Ideen, der als »Richtmaß« allein normativ anleitend und nicht utopisch-antizipativ ist, aufgehoben. 4) Mir scheint, dass die normative Funktion der »regulativen Ideen« bei der Anwendung der »pragmatischen Maxime« der Begriffsklärung, die für Peirces späte Philosophie durchweg maßgebend ist, als Beitrag des Pragmatismus zu einer kritisch transformierten Transzendentalphilosophie entscheidend ist. Sie widerspricht nicht etwa dem Diktum Peirces: »there is no need for transcendentalism«. Damit nämlich meinte Peirce gerade nur diejenigen Teile der Kant’schen Philosophie, die er selber durch eine semiotische Transformation der Kategorienlehre und eine im Sinne der regulativen Ideen ohne Voraussetzung von »Dingen an sich« verstandene Erkenntnistheorie, das heißt durch eine Theorie synthetischer Schlussprozesse, ersetzen wollte. Auch im Peirce’schen Pragmatismus fehlt allerdings eine Radikalisierung der reflexiven Begründung der transzendentalen Erkenntnistheorie, wie sie in Bezug auf Kant von Hegel gefordert wurde. Dieses Problem führt uns zur Theorie der »Universal«- bzw. »Transzendentalpragmatik«, wie sie in jüngster Zeit von Jürgen Habermas bzw. von mir entwickelt wurde: von Habermas allerdings mit dem Endergebnis der »Detranszendentalisierung« der Philosophie; von mir dagegen im Sinne eines dritten Paradigmas der Ersten Philosophie nach der ontoAlbrecht Wellmer: »Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ideen«. In: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2003.
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
logischen Metaphysik und der Subjekt-Philosophie der Neuzeit. Damit komme ich zur Begründung der Titelthese meines Vortrages. In mehreren Aufsätzen und im ersten Band der Theorie des kommunikativen Handelns hat Jürgen Habermas im erweiternden Ausgang von G. H. Mead und von der Sprechakttheorie Austins und Searles die Konzeption der »Universalpragmatik« entwickelt, die er später auch »Formalpragmatik« nannte. Man kann sich m. E. diesen Ansatz zunächst durchaus auch im Rahmenkontext des von mir so bezeichneten dritten Paradigmas der Ersten Philosophie verständlich machen, das heißt im Horizont des reflexiven Sprach- und Kommunikationsaprioris einer transformierten Transzendentalphilosophie. Andererseits kann man sie in ihrem weiteren Kontext auch als Fortsetzung der Antworten auf Hegel verstehen, die zum Historischen Materialismus führten. Ich kann dies im Folgenden nur in kritischer Konzentration aus der Perspektive meines Themas verdeutlichen. Ich selbst war bei der Rezeption der Habermas’schen »Universalpragmatik« vor allem von der Interpretation der Sprechakte im Sinne der performativ-propositionalen Doppelstruktur beeindruckt und von der Verknüpfung dieser Struktur mit der – auch nach Habermas – »quasi-transzendentalen« Struktur der »Präsuppositionen« der Argumentation, insbesondere von der Beziehung des performativen Teils der Sprechaktstruktur auf die – wiederum »quasi-transzendentalen« – »Geltungsansprüche der Rede« im Sinne der drei Grunddimensionen: (1.) der »Wahrheit«, (2.) der subjektiv-expressiven »Wahrhaftigkeit« und (3.) der moralischen »Richtigkeit«. Hier deutete sich für mich eine Gesamtstruktur an, welche die reflexive Besinnung der traditionellen Subjekt-Philosophie seit Descartes im Sinne der sprachlichen und anthropologischen Integration der Gesamtsicht auf die Lebenswelt vertieft. Allerdings gab es von vorneherein auch Differenzperspektiven in meiner Habermas-Rezeption, die auf verwandte Ansätze meiner eigenen Entwicklung zurückgingen. Der wichtigste Differenzpunkt ergab sich natürlich in Bezug auf die Gesamtkonzeption der »Universalpragmatik« aus meiner nicht-empirischen Konzeption einer »Transzendentalpragmatik«, wie noch zu zeigen ist. Es gab und gibt aus meiner Sicht aber auch schon Differenzperspektiven in Bezug auf die drei Geltungsansprüche als Präsuppositionen der menschlichen Rede. So musste ich schon im Zusammenhang mit meiner Reflexion auf die sprachlichen Voraussetzungen der Argu95 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Karl-Otto Apel
mentations-Präsuppositionen noch eine vierte Dimension der Geltungsansprüche postulieren. Sie ist auch bei Habermas angedeutet, aber m. E. in einer trivialisierten Form. Ich würde diese vierte (oder, richtiger gesagt: erste) Dimension als »Sinngültigkeits-Anspruch« verstehen. Hier geht es m. E. nicht nur, wie Habermas erläutert, um den konventionell-linguistischen Verständigungsanspruch, der natürlich vor allen Geltungsansprüchen der Rede eingelöst werden muss, sondern um den argumentativ relevanten Sinn-Anspruch insbesondere der philosophischen Rede, der gegen den »Unsinn« bzw. die »Sinnlosigkeit« auch berühmter philosophischer Argumente zur Geltung gebracht werden muss. Dieser Gesichtspunkt hat besonders in der Metaphysikkritik – so im Logischen Positivismus, bei Wittgenstein und im Pragmatismus von Peirce – eine Rolle gespielt; er kann aber auch phänomenologisch expliziert werden. Nehmen wir z. B. das Traumargument Descartes’. Es kann, linguistisch gesehen, durchaus in verständlicher Form vorgebracht werden, etwa so: »Vielleicht ist alles, was wir für real halten, nur ein Traum.« Descartes brauchte einen Gottesbeweis, um dieses Argument auszuräumen. Doch ein transzendentalpragmatisch-sinnkritisches Gegenargument könnte lauten: Wenn alles vermeintlich Reale nur ein Traum sein soll, dann ist nur ein neues Sprachspiel eingeführt: ein Sprachspiel, das in Ermangelung eines Kontrastes zu »Traum« in der Praxis wohl nicht funktionieren kann. Radikaler ist insofern Wittgensteins Version und Widerlegung des Traumargumentes: »Das Argument ›Vielleicht träume ich‹ ist darum sinnlos, weil dann eben auch diese Äußerung geträumt ist, ja auch das, daß diese Worte eine Bedeutung haben.« 5 Diese Version rekurriert m. E. auf die Unmöglichkeit, die transzendentalpragmatischen Präsuppositionen der Argumentation ohne »performativen Selbstwiderspruch« zu bestreiten. Darin liegt bereits ein Hinweis auf das stärkste Argument der Transzendentalpragmatik. Ich möchte die philosophische Tragweite der Reflexion auf den »Sinngeltungs-Anspruch« vorerst durch die folgende Vermutung illustrieren: In der Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit vor der sprachphilosophischen Wende – so zuletzt im Neukantianis5 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt a. M. 1984, S. 113–257, Nr. 383.
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
mus – galt die »Erkenntnis-Kritik« als methodisch fundamental und insofern als Nachfolgedisziplin der »ontologischen Metaphysik«. In der an die sprachphilosophische Wende anschließenden Fundamentalphilosophie aber könnte noch vor der Erkenntniskritik eine transzendentale pragmatische Sinnkritik – so etwa schon bei der Interpretation der philosophischen Fragen – ihren Platz haben. Eine Dimension der Rede vom dritten Paradigma der Ersten Philosophie wäre damit bereits angedeutet. Doch ich möchte zuvor noch eine Differenzperspektive in Bezug auf den moralischen Richtigkeitsanspruch in der Habermas’schen Universalpragmatik andeuten. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die umfangreiche und viel diskutierte Problematik der Diskursethik, insbesondere in ihrem aktuellen Zusammenhang mit Recht und Politik, eingehen. 6 Ich muss aber wenigstens diejenigen Aspekte kurz diskutieren, die m. E. den Platz der »Diskursethik« im Rahmen eines neuen Paradigmas der Ersten Philosophie betreffen. Dazu gehört an erster Stelle die Letztbegründung der Diskursethik einschließlich ihrer möglichen Anwendung aus der Perspektive der Reflexion auf den »moralischen Richtigkeitsanspruch« jeder rationalen Diskussion. Ich komme damit wiederum zu einem problematischen Punkt in der Habermas’schen »Universalpragmatik« – oder vielleicht, genauer gesagt, im späteren Begriff der »Formalpragmatik«: Habermas hat nämlich, wenn ich recht verstehe, die zuerst vertretene Begründung der Ethik in einer Diskurs-Präsupposition aufgegeben und die hier relevante normative Relevanz des von uns anzuerkennenden Diskursaprioris auf die moralisch neutrale Funktion einer »formalen« Diskursbedingung reduziert. 7 Wäre eine solche Reduktion möglich, so wäre damit die Möglichkeit einer rationalen Begründung der Moral überhaupt aufgegeben, denn nur die Struktur des argumentativen Diskurses selbst ist in jeder rationalen Diskussion ein nicht hintergehbares und daher unbestreitbares Apriori, wie noch genauer zu erläutern ist. 8 Ich muss an dieser Stelle kurz auf eine Diskussion über die MögDazu Jens-Peter Brune: Moral und Rechte. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas. Freiburg/München 2010. 7 Dazu Apel: »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ ›Faktizität und Geltung‹«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998, S. 727–837. 8 Vgl. jetzt Böhler: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende. Freiburg/München 2013. 6
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lichkeit philosophischer Letztbegründung eingehen, die ich in den 60er-Jahren mit dem Popperianer Hans Albert geführt habe. 9 Es ging hier um die These Alberts, dass eine Letztbegründung in der Philosophie prinzipiell unmöglich sei, da sie an einem Trilemma scheitere: Entweder (1.) führe sie in einen unendlichen Regress, weil jede Prämisse selbst wieder zu begründen ist; oder (2.) in einen logischen Zirkel, dann nämlich, wenn die zu begründende These selbst schon als Prämisse vorausgesetzt wird, oder schließlich (3.) in ein bloßes Dogma, wenn die letzte Prämisse als evident und somit nicht begründungsbedürftig behauptet wird. Ich selbst habe Alberts Trilemma als solches niemals bestritten. Bestritten habe ich allerdings die Voraussetzungen Alberts hinsichtlich des philosophisch relevanten Begründungsbegriffes. Albert setzt nämlich – mit der philosophischen Tradition – einen deduktiven oder auch weiter gefassten Begriff der Ableitung aus etwas Anderem voraus. Stattdessen habe ich von vorneherein einen reflexiven Begründungsbegriff vorausgesetzt, dessen logische Pointe in der Vermeidung des performativen Selbstwiderspruches der Argumentation besteht. Wolfgang Kuhlmann, der diese Pointe und ihre philosophischen Konsequenzen zuerst aufgegriffen hat, hat dafür den Terminus der »strikten Reflexion« eingeführt. 10 Dieser Begründungsbegriff setzt seinerseits voraus, dass der Philosoph erkennt und nicht vergisst, dass er als kritischer Beurteiler jedweder Position in seiner aktuellen Argumentation stets eine höhere Reflexionsstufe voraussetzt, die als solche nicht hintergehbar und daher mögliche Basis universal-gültiger Argumente ist. Dieses »strikt reflexive« Argument war offenbar auch die Basis von Hegels Kant-Kritik im Namen der »absoluten Reflexion«; und es zeigt sich heute, dass dieses Argument geradezu die Grenze zwischen den drei Hauptparadigmen der Ersten Philosophie kennzeichnet. Denn die logische Argumentationsvoraussetzung Hans Alberts und der meisten anderen Kritiker der Möglichkeit einer philosophischen »Letztbegründung« geht Vgl. Apel: »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. Versuch einer Metakritik des ›kritischen Rationalismus‹«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998, S. 33–79. 10 Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Freiburg i. Br. 1985; vgl. auch ders.: Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 2009 sowie Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Frankfurt a. M. 1985,. 9
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
offenbar auf die ontologischen und logischen Voraussetzungen des ersten Paradigmas der Ersten Philosophie bei Aristoteles zurück. Die reflexionstheoretische Perspektive der Letztbegründung in ihrer noch bewusstseinsphilosophischen Pointe geht dagegen auf Descartes und das zweite Paradigma der Ersten Philosophie zurück. Und die kommunikationstheoretische und strikt reflexive Perspektive der Letztbegründung geht auf das dritte Paradigma zurück. Das dritte Paradigma der Ersten Philosophie, also die Transzendentalpragmatik, liefert nun auch den Horizont für die Letztbegründung der Diskursethik; denn die »moralische Richtigkeit« der Argumentation bezieht sich reflexiv nicht allein auf das je meinige Bewusstseinsapriori – das nach Husserl, dem letzten Vertreter des zweiten Paradigmas, einen »transzendentalen« bzw. »methodischen Solipsismus« impliziert 11 –, sondern auf die dialogische Reziprozität der intersubjektiven Verständigung zwischen Argumentierenden. Ohne diese Voraussetzung, die mit der Sprache immer schon gegeben ist, ist ein Gedanke, ist so auch die reflexive Einsicht in das cogito ergo sum, nicht denkbar. Diese Voraussetzung aber ist nicht moralisch neutral, sondern impliziert für die nicht-hintergehbare transzendentalpragmatische Reflexion prinzipiell die universale Gleichberechtigung und – nicht zu vergessen – die universale Mitverantwortung aller möglichen Teilnehmer einer im Prinzip nicht begrenzten Argumentationsgemeinschaft. 12 An dieser Stelle muss ich auf das Verhältnis von Letztbegründung und Anwendung der Diskursethik kurz eingehen, um eine umstrittene Schwierigkeit zu beseitigen. Man hat als entscheidendes Argument gegen die Möglichkeit der Letztbegründung der Diskursethik die Möglichkeit der Diskursverweigerung angeführt. Dieses Argument betrifft aber nicht die Begründung, sondern allein die Anwendung der Ethik. Auf der Reflexionsebene der philosophischen Begründungsargumentation kann das – an sich sehr ernst zu nehmende Verweigerungsargument – keine Sinngeltung haben, da es ja selbst ein Argument ist, das im Diskurs gelten soll. Auf der Ebene der Anwendung der Diskurs-
11 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. von Stephan Strasser (Husserliana, Bd. I). Den Haag 21963. 12 Vgl. Apel: »Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft«. In: ders./Holger Burckhart (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage der Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001, S. 69–95.
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ethik, die natürlich bei der Letztbegründung schon vorgesehen ist, ist dagegen eine konkrete geschichtlich bedingte Reziprozitäts-Situation zu berücksichtigen: Eine Situation, in der alle möglichen Arten der moralischen Kooperation und der Nichtkooperation möglich sind, so – in grober Unterscheidung –: traditionell moralische oder diskursive Verständigung über Normen, partiell moralische oder strategische Verständigung durch Verträge, und schließlich auch Verweigerung der Verständigung und möglicherweise Ersatz durch gewaltsame Auseinandersetzungen. Angesichts dieser insoweit voraussehbaren Anwendungssituationen der Diskursethik muss nun die transzendentalpragmatische Letztbegründung eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Teilen der Ethik einführen, die ich Teil A und Teil B genannt habe. Geht man, wie das zumeist in der metaethischen Kant-Nachfolge geschieht, von der Voraussetzung aus, dass die Diskursethik eine rein deontologische Normenbegründungsethik ohne teleologische Dimension sein soll, dann ergibt sich zunächst die Konsequenz, dass ihr Grundprinzip gewissermaßen auf einer kommunikationsbezogenen und dialogischen Entsprechung zum »kategorischen Imperativ« von Kant beruhen muss. Etwa so: Diejenigen moralischen Normen sind universal gültig, die von allen Mitgliedern einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft aufgrund einer idealen argumentativen Verständigung akzeptiert werden können. Dies wäre das formale Grundprinzip von Teil A der Diskursethik. Geht man aber von der angedeuteten Anwendungssituation der Diskursethik aus, so ist der Teil A durch einen Teil B zu ergänzen, dessen Grundprinzip nicht rein deontologisch, sondern das einer geschichtsbezogenen Verantwortungsethik sein muss. Das bedeutet nicht, dass das Prinzip von Teil A schlechthin ungültig wird. (Dies ist allerdings eine – selten offen ausgesprochene – Meinung von Vertretern der Politik und der Wirtschaft. Sie besagt etwa: Moral ist Privatsache, ähnlich wie Religion; sie gehört jedenfalls nicht in den Anwendungsbereich solchen Handelns, dessen Effektivität auf der Anwendung reziprok-instrumenteller, also strategischer Rationalität beruht. Machiavelli hat das klar ausgesprochen. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, dass strategisches Handeln in den hier gemeinten Lebensbereichen eine unentbehrliche Rolle spielt, das heißt: nicht nur im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, sondern auch in der Selbstverteidigung, und darüber hinaus auch beim Schutz Anderer,
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z. B. in der Verteidigung der Menschenrechte. (Es gibt immer noch »gerechte Kriege«.) Aber diese letzte Bemerkung zeigt schon, dass in Teil B der Ethik, also in der geschichtsbezogenen Verantwortungsethik, der Teil A seine Gültigkeit nicht völlig verliert. Er ergänzt vielmehr den deontologischen Teil der Ethik durch einen zugleich teleologischen und situationshermeneutischen Teil. Das höchste deontologische Prinzip von Teil A der Diskursethik, der universale Konsens einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, wird hier zur »regulativen Idee«. Auch bei Kant kann diese Konzeption in vielen nicht rein deontologischen Beiträgen zur politischen Moral belegt werden. So kann vor allem das »Reich der Zwecke«, in dem schon das transzendental-solipsistische Apriori des »Bewusstseins überhaupt« durch das Apriori einer ideal-reziproken Kommunikationsgemeinschaft ersetzt ist, nicht nur als »intelligible«, also metaphysisch-transzendente Konzeption, sondern auch als »regulative Idee« des moralischen Fortschritts in der Geschichte verstanden werden. Kant hat diese Fortschrittsidee der Sache nach mehrfach verteidigt – z. B. durch das interessante Argument, die Beweislast gegen die Möglichkeit des Fortschritts liege bei den Bestreitern dieser Möglichkeit; und solange dieser negative Beweis nicht erbracht sei, seien wir verpflichtet, die Realisierung des Fortschritts für möglich zu halten und uns dafür einzusetzen. 13 Besonders wichtig war diese Perspektive für Kant, wenn es um die Realisierung der Idee des Völkerrechts ging, die für ihn Vorrang vor der Idee des auf den souveränen Nationalstaat begrenzten Rechts hatte, sofern sie allein der Konzeption des »ewigen Friedens« entsprach. Da Kant die Realisierung eines Weltrechtsstaats für unmöglich und sogar für eine Gefahr für die Freiheit hielt, schlug er statt dessen das Projekt eines »Völkerbundes« vor, an dem wir uns zur Zeit – nach dem Scheitern der Genfer Konzeption in den 1930er-Jahren – in der UNO zum zweiten Mal abarbeiten. Die von mir soeben skizzierte transzendentalpragmatische Letztbegründung der Ersten Philosophie im dritten Paradigma wurde je-
Vgl. Immanuel Kant: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, Teil III: »Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht«. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff., Bd. VIII, S. 309 f.; ferner: ders.: Kritik der reinen Vernunft. Kant’s Gesammelte Schriften Bd. III, S. 15–31 und S. 341–385.
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doch sowohl mit Bezug auf die theoretische als auch die praktische Philosophie in Frage gestellt, weil sie in ihrer möglichen Anwendung von dem von mir eingangs eingeführten Konzept der »regulativen Ideen« abhängig ist. Schon Kant hat diese schwer verständliche Konzeption dadurch charakterisiert, dass sie weder platonisch hypostasiert noch empirisch verifizierbar gedacht werden kann, doch ich habe gerade diese Konzeption auf die m. E. allein mögliche rezeptive Interpretation des normativen Pragmatismus (»Pragmatizismus«) des späten Peirce angewandt. Dagegen ist jedoch in der jüngsten Phase der durch den Pragmatismus geprägten Analytischen Philosophie von maßgeblichen Denkern – wie z. B. Putnam, Davidson und Rorty und auch, wie ich verstehe, von Wellmer und Habermas – ein scheinbar definitives Argument vorgebracht worden. (Ich beziehe mich im Folgenden auf die Pointe des Arguments bei Davidson.) Gibt man zu, dass jeder Gewissheitsanspruch, der mit einem faktischen Wahrheitskonsens der Forschergemeinschaft verbunden wird, durch den Fallibilismusvorbehalt in Frage gestellt wird, so scheint dieser Vorbehalt auch die Peirce’sche Gleichsetzung der Wahrheit mit der »ultimate opinion« (d. h. mit der nicht mehr kritisierbaren Meinung einer unbegrenzten Forschergemeinschaft) aufzuheben, da die »ultimate opinion« nicht mehr von einer realen Kommunikationsgemeinschaft menschlicher Forscher in einem Diskurs erreicht werden könnte. Das Ziel der regulativen Idee der Wahrheit wäre einerseits zu weit weg für eine Diskursidee der Wahrheit, andererseits aber wäre jeder faktische Wahrheitskonsens einer Forschungsgemeinschaft in der Zeit zu nahe an der Möglichkeit einer nachfolgenden Infragestellung. Dieses Argument scheint tatsächlich dem postmetaphysischen, d. h. undogmatisch begründbaren Wahrheitsanspruch der Philosophie jeden Sinn zu nehmen. (Es hat in der Tat bei Rorty zur Negation aller theoretischen und praktischen Geltungsansprüche der Philosophie und zu ihrer pragmatischen Ersetzung durch das literarisch-rhetorische Konzept einer »edifying conversation« geführt.) Doch diese – heute in der öffentlichen Einschätzung der Philosophie überhaupt durchaus naheliegende – Suggestion ist nur dann verständlich, wenn die – von Hegel so genannte – »absolute Reflexion«, die mit jeder prinzipiellen Selbstkritik am philosophischen Erkenntnisanspruch automatisch verbunden ist, vergessen wird. Denn der in dieser Reflexion performativ implizierte Wahrheitsanspruch ist ja zugleich unfehlbar (da Bedingung der Möglichkeit jeder widerspruchsfreien philosophischen Argumenta102 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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tion) und zum realen Diskurs in der Zeit gehörig. Hier ist also der Dualismus von einerseits empirisch erfahrbaren, andererseits prinzipiell bezweifelbaren Wahrheitskonsensen der Erkenntnis immer schon überwunden. Zugleich wird deutlich, dass in diesem nicht hintergehbaren Ausgangspunkt philosophischer Reflexion der normative Maßstab als Zielpunkt der regulativen Idee der diskursiven Wahrheitssuche schon festgelegt ist. So lässt sich m. E. das Zentralproblem der Hegel’schen Philosophie: die dialektische Vermittlung zwischen der Rekonstruktion (und aufgegebenen Fortsetzung) der kontingenten Geschichte des »objektiven Geistes« und der reflexiven Selbstgewissheit des »absoluten Geistes« (zumindest als transzendentalpragmatische Rahmenkonzeption einer zugleich theoretisch wie praktisch verbindlichen Grundlegung der Ersten Philosophie und damit indirekt auch der Wissenschaften) begreifen. (Der Unterschied und Zusammenhang zwischen der rein theoretischen und der praktischen Dimension würde dann darin liegen, dass im letzteren Fall – z. B. im Fall der Erforschung der Realität der menschlichen Kultur, die von ihrer Erforschung mitkonstituiert wird – die praktische, z. B. ethische Bewertung der Tatsachen mitberücksichtigt werden müssen.) So kann man m. E. dem provokativen und berüchtigten Satz Hegels: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« einen – freilich immer auch von der zukünftigen Praxis abhängigen – Sinn abgewinnen. Die nachhegelschen Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts haben das skizzierte Zentralproblem nicht gelöst. Heute ist aber seine reflexionsbezogene Struktur (insbesondere der Unterschied zwischen dem weltweiten Diskurs über die Ergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften und den – nach wie vor a priori gültigen – Einsichten philosophischer Reflexion, die im Gegensatz zur Psychologie m. E. ein zentraler Bestandteil einer erweiterten Transzendentalphilosophie sein muss) nicht nur vergessen, sondern geradezu aus dem Bewusstsein verdrängt. Daran scheint auch das sprach- und kommunikationsbezogene Paradigma der Philosophie Mitschuld zu tragen, das verständlicherweise von vielen sogar mit dem neuen Paradigma der Ersten Philosophie gleichgesetzt wird. Doch m. E. ist diese Gleichsetzung nur dann – und dann allerdings – berechtigt, wenn sie nicht »detranszendentalisiert« wird, sondern in der hier angedeuteten Form reflexionsbezogener Transzendentalpragmatik thematisiert wird.
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Diskussion
Diskussion Moderation: Smail Rapic
Smail Rapic: Frau Heller, Sie haben in Ihrem Vortrag betont, dass Sie sich seit langem nicht mehr als marxistische Philosophin verstehen. Hat der Historische Materialismus für Sie noch eine philosophische Bedeutung? Hat er eine gesellschaftspolitische Bedeutung? Ágnes Heller: Der Historische Materialismus steht auf vier Füßen. Der erste Fuß ist das große Narrativ der Weltgeschichte, die voranschreitet. Der zweite Fuß ist das Produktionsparadigma: Die Produktion ist die unabhängige Variable der geschichtlichen Entwicklung. Der dritte Fuß ist die Arbeitswerttheorie. Der vierte Fuß ist die welthistorische Rolle des Proletariats. Diese Füße sind allesamt zerbrochen. Wir glauben kaum mehr an große Narrative, an einen universalen gesellschaftlichen Fortschritt. Wir akzeptieren das Paradigma der Produktion nicht mehr. Wir sehen heutzutage keine welthistorische Aufgabe des Proletariats. Am schlechtesten fährt die Arbeitswerttheorie. Wir haben heute ein ökologisches Bewusstsein und können nicht mehr verstehen, wie jemand Mitte des 19. Jahrhunderts sagen konnte, dass uns die Natur alles umsonst liefert, dass nur Arbeit Wert schafft und die Natur überhaupt keinen Wert hat bzw. keinen Wert repräsentiert. Wenn wir uns jedoch anschauen, was Marx in empirischer Hinsicht, unabhängig von diesen vier Füßen, über den Kapitalismus gesagt hat, so stellt sich heraus, dass seine Prophezeiungen korrekt waren. Er sprach über die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals, über die Kapitalisierung der Agrikultur, über die Globalisierung des Kapitalismus: All das ist eingetreten – ganz im Gegensatz zu den Vorhersagen, die sich aus den vier Füßen seiner Theorie ergaben. Es kam nicht zum Endkampf zwischen den Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen; zur Revolution des Proletariats. Marx hat also auf der empirischen Ebene in vielem Recht behalten, dagegen
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
wurden seine Grundannahmen auf der theoretischen Ebene, auf der er die Fakten organisierte, falsifiziert. Dies ist allerdings für die Frage nach der philosophischen Bedeutung von Karl Marx nicht ausschlaggebend. In der Philosophie geht es nicht um Tatsachenwahrheiten – andernfalls würde niemand mehr Platon oder Leibniz lesen, denn es gibt weder Ideen noch Monaden. Wenn man sich Marx als Philosophen nähert, kann man die Tatsachenwahrheiten vergessen. In der Philosophie besteht die Wahrheit in der Tiefe des Gedankens, in der Inspiration, der Botschaft, die sie dir gibt, mit der du etwas anfangen kannst. Eine solche Botschaft, eine solche Inspiration findet man auch bei Marx. In diesem Sinne wird er lebendig bleiben und immer von neuem wiederentdeckt werden, obwohl die vier Füße seiner Theorie zerbrochen sind. Ich meine hiermit nicht den Marxismus. Meiner Meinung nach – wahrscheinlich sehen das viele andere genauso – ist die Zeit der Ismen vorbei. Ausdrücke wie »Strukturalismus« oder »Funktionalismus« sind heutzutage bloße Namen, die wir unserer eigenen Philosophie geben. Auch in Bezug auf Karl Marx hängt alles davon ab, ob wir seine philosophische Denkart in einer neuen, eigenen Form ausdrücken können. Arnim Regenbogen (Universität Osnabrück): Ich habe eine Frage zu den intersubjektiven Voraussetzungen der Kommunikation, über die Jürgen Habermas, Ágnes Heller und Frau Kreide gesprochen haben. Ich spitze es mal auf die Formulierung zu, die Karl-Otto Apel in seinem Vortrag gewählt hat: Die Intersubjektivität der Kommunikation konzentriert sich nach seiner Meinung auf den normativen Konsens, der zwischen Individuen hergestellt wird. Die Frage ist, warum die Intersubjektivität auf die normative Ebene beschränkt wird, bei der die Kommunikation nur zum Zwecke der Aufstellung von Regeln, Gesetzen und dergleichen geführt wird – wo es doch die viel umfassendere Kommunikation über Werte gibt. Der Unterschied zwischen der normativen Orientierung und der Wertorientierung ist der, dass normative Kriterien ausschließlich die des Gebotenen, des Erlaubten und des Verbotenen sind, während im riesigen Spektrum des Erlaubten demgegenüber umfassende Kommunikationen stattfinden, nämlich über das, was als das Bessere dem Schlechteren vorzuziehen ist. Brauchen wir die Einschränkung der Thematik der Intersubjektivität auf das Normative?
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Diskussion
Ágnes Heller: Es geht um die intersubjektive Voraussetzung der Kommunikation. Ich glaube, wir brauchen das Wort »intersubjektiv« nicht. Wir sind in eine Welt hineingeboren, wo es Normen gibt, wo man eine Alltagssprache spricht, wo man als ein Kleinkind die Alltagssprache erlernt, wo man lernt, was die Gewohnheiten und die Normen der Gesellschaft sind. Alle Gewohnheiten beinhalten Normen. Im Alltag differenziert man zwischen wahr und falsch, gut und schlecht, gerecht und ungerecht. Was den Normen einer Gesellschaft entspricht, wird normalerweise »recht« und »gut« genannt, was ihnen widerspricht, wird »schlecht«, »falsch« oder »hässlich« genannt, d. h. die normative Vorbedingung existiert in der Gesellschaftlichkeit unserer Existenz. Ich glaube aber, dass wir nicht über Intersubjektivität sprechen sollten, wenn wir vom In-der-Welt-Sein ausgehen. In diesem Sinne stimme ich Heidegger zu. Wir sind in eine Welt hineingeworfen und wir verstehen uns als In-der-Welt-Sein. Dies besagt: Wir sind in eine konkrete Welt hineingeboren, die verschiedene konkrete Normen, verschiedene Werte enthält. In diesem Zusammenhang muss man das Wort »intersubjektiv« nicht benutzen. Der Begriff »intersubjektiv« ist eine postcartesianische Konzeption: Nach dem »Subjektiven« brauchen wir das »Intersubjektive«. Tatsächlich brauchen wir »das Intersubjektive« jedoch nicht. Warum? Wir sind immer schon intersubjektiv in dem Sinne, dass wir uns Normen und Gesellschaftliches aneignen. Die Normen beengen oder erweitern die Möglichkeit der Kommunikation. Wenn es zu Krisen kommt, kann man diese Normen in Frage stellen. Man kann sich hierbei aber nicht damit begnügen zu sagen: »Diese Normen sind schlecht, weil sie schlecht sind.« Wir müssen uns auf eine andere Autorität berufen. In alten Zeiten berief man sich auf Gott: »Gott will das nicht, erlaubt das nicht« usw. Heute können wir uns auf Werte berufen, insbesondere auf den Wert der Freiheit: »Dies ist schlecht, weil es uns unserer Freiheit beraubt«, »unserer Lebensmöglichkeiten beraubt«. Mittels dieser Grundwerte kann man die bestehenden Normen kritisieren, auch verwerfen; das geschieht in allgemeinen Krisenperioden. In der Philosophie passiert das immer. Das ist doch die Logik der Philosophie, stets zu sagen: Was Ihr behauptet, ist nur Eure Meinung, etwas anderes ist wahr. Was Ihr sagt, ist nicht das wahrhaft Schöne, das Schöne ist etwas anderes. Die Philosophie operiert mit dieser dynamischen Konzeption. Wir verwerfen einige Normen bzw. Werte oder interpretieren einige Normen bzw. Werte neu. Ich möchte
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nochmals betonen, dass das Wort »intersubjektiv« hier überflüssig ist. Es macht keinen Unterschied, ob man es verwendet oder nicht. Micha Brumlik (Universität Frankfurt a. M.): Frau Heller, Herr Apel, ich finde es elektrisierend, Sie hier nebeneinander sitzen zu sehen. Jürgen Habermas hat in der Diskussion mit William Outhwaite und Manfred Baum den Satz Hegels zitiert, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfasst«. Sie haben das 20. Jahrhundert intensiv – im Guten wie im Schlechten – durchlebt: im Zweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des sogenannten »real existierenden Sozialismus«. Ich hoffe, es ist nicht indiskret, wenn ich Sie beide frage, wie die Erfahrungen dieses 20. Jahrhunderts Ihre philosophischen Motive mitgeprägt haben. Ich möchte das mit einer konkreten Frage verbinden: Wie haben Sie den ungarischen Aufstand von 1956 erlebt? Und wie haben Sie ihn philosophisch und politisch gedeutet? Ágnes Heller: Ich glaube, Hegel hatte recht. Das mag etwas merkwürdig klingen, man kann aber sagen, dass ich einverstanden bin. Philosophie ist immer auch ihre Zeit, ihr Zeitalter in Gedanken erfasst. Die Philosophen fassen ihr Zeitalter aber in ganz verschiedene Philosophien, d. h. zwei Philosophien sind nie einander gleich. Wenn sie wesentlich sind, wenn sie wirkliche Philosophie sind, so drückt jede denselben Zeitgeist in ihrer eigenen Weise aus. Die eigenen Lebenserfahrungen sind von großer Bedeutung für die Art und Weise, in der man eine Zeit, einen Zeitgeist in der Philosophie ausdrückt. Die ungarische Revolution von 1956 hat mein Denken selbstverständlich beeinflusst. Aber ich glaube nicht, dass solche konkreten geschichtlichen Ereignisse stets in einer direkten Weise auf die Philosophen Einfluss haben. Sie können dies auch auf indirekte Weise tun. Es gibt in der Tat so etwas wie den Zeitgeist – zumindest in einem allegorischen Sinne. Der Geist verändert sich. Ich war erstaunt, als sich herausstellte, dass die Entwicklung, die meine Gedanken in Ungarn von den 50erbis zu den 70er-Jahren nahmen, derselbe Weg war, den die französischen Philosophen, die ich überhaupt nicht kannte, durchgemacht haben. Das war eben der Zeitgeist. Man geht durch dieselbe Transformation, aber in verschiedener Weise. Philosophie ist eine persönliche Sache. 1956 war für mich ein großes Ereignis. Zuvor sprach ich über den Dialektischen Materialismus, danach nie mehr. Das steht in keinem direkten Verhältnis zu der Revolution, indirekt hat es aber etwas damit 107 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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zu tun. Ich sagte mir: »Etwas stimmt mit diesem ganzen Gedanken nicht«, deshalb habe ich diese Terminologie weggelassen; aber das ist kein direkter, sondern ein indirekter Einfluss der Revolution. Smail Rapic: Das war ja eine Frage auch an Sie, Herr Apel: Gilt der Satz Hegels, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst, auch für Ihre Philosophie? Karl-Otto Apel: Dieser Satz gilt für mich nur mit einigen Änderungen. Hegel hat die absolute Reflexion, das Zu-sich-Kommen dieser Reflexion im Laufe des Ganzen thematisiert. Das Ganze der Wirklichkeit sollte vernünftig sein und die Vernunft sollte wirklich sein – und das kann sich ja nur auf das Ganze beziehen. Er hat dann versucht, das in kleine Münze zu übersetzen: Zwischen der absoluten Reflexion und den kontingenten Details der Geschichte eine Brücke zu schlagen; das ist das riesige Projekt seines Lebens gewesen, an dem er – das muss man schon sagen – gescheitert ist. Die erste groß durchgeführte Geschichtsphilosophie – das konnte natürlich nicht befriedigend ausfallen. Er soll jeden Morgen die englischen Zeitung gelesen haben, um sich darüber zu informieren, was in Großbritannien an Neuem passierte und wie sich das zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie verhielt, obwohl er doch eigentlich nicht erwarten konnte, dass die List des Weltgeistes seinen Satz, das Vernünftige sei wirklich und das Wirkliche vernünftig, jetzt Schritt für Schritt realisieren würde. Aber das ist jetzt nicht entscheidend. Was Sie, Frau Heller, gerade gesagt haben, ist allerdings für mich sehr wichtig. Um mit dem Wort »Intersubjektivität« anzufangen: das ist ein ganz zentraler Begriff. Er zeigt nämlich, wenn man ihn ernst nimmt und ihm seinen Platz in der Philosophie unserer Gegenwart gibt, dass die gesamte Philosophie der Neuzeit eine Subjektphilosophie war, die die Intersubjektivität, die bereits mit dem »ich denke«, dem »ego cogito« gegeben ist, nicht verstanden, nicht berücksichtigt hat. Sie war eine Philosophie des methodischen Solipsismus. Am schärfsten hat das Husserl zum Ausdruck gebracht. Er sagte, ein redlicher Denker habe mit dem methodischen Solipsismus zu beginnen und erst dann zu zeigen, wie es zur Intersubjektivität kommt. Husserl hat dieses Programm jedoch nicht einlösen können. Im Grunde ist er der letzte Klassiker des zweiten Paradigmas der Ersten Philosophie geblieben. Dies kommt auch in seiner Evidenztheorie der Wahrheit zum Ausdruck. Dass »Wahrheit« die Erfüllung unserer Intentio108 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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nen betrifft, setzt dieselbe sprachliche Welterschließung voraus. Diese Voraussetzung muss jedoch problematisiert werden; daher ist die Evidenztheorie der Wahrheit unzureichend. Auch der Satz, der redliche Denker müsse mit dem methodischen Solipsismus anfangen, ist verfehlt. Das »ich denke« könnte gar nicht gefunden und verständlich gemacht werden, wenn die Sprache nicht schon berücksichtigt wäre. Es gehört zur sogenannten sprachphilosophischen Wende, dass einem klar wird, dass Descartes’ »cogito ergo sum« die Intersubjektivität, das Dialogische, die Sprache bereits voraussetzt. Dies im Einzelnen auszuarbeiten, ist in meinen Augen die Hauptaufgabe der Philosophie unserer Zeit. Smail Rapic: Herr Apel, der zweite Teil der Frage von Herrn Brumlik hat uns neugierig gemacht: Gab es auch zu Ihrem Philosophieren konkrete gesellschaftspolitische Anstöße, gab es politische Ereignisse, die Sie philosophisch beeinflusst, bewegt, vielleicht auch motiviert haben? Karl-Otto Apel: Das kann ich nicht so direkt beantworten. Natürlich gab es solche Anstöße. Der riesige Anstoß war selbstverständlich das Ende des Krieges, die große Katastrophe – ich war fünf Jahre Soldat – und die völlige Neuausarbeitung des In-der-Welt-Seins, so könnte man sagen, die uns als Studenten aufgegeben war. Dennoch wäre es irgendwie falsch zu sagen, dass ein bestimmter politischer Anstoß für die Ausarbeitung meiner Philosophie maßgebend gewesen sei. Das vollzog sich eher indirekt. Leitend war der Wille, alles von vorne zu denken, vom Punkt Null aus – und der Glaube, dass die Philosophie der richtige Weg dazu sei, eine pedantische Philosophie, die sich selber ernst nimmt, die nicht bei der edifying conversation endet – um mit Rorty zu reden –, sondern Geltungsansprüche erhebt und verteidigt, solange das irgend möglich ist. Dies führt zum Problem von Werten und Normen. Ich denke, dass diese beiden Begriffe bis in die letzten Voraussetzungen des Denkens und des Argumentierens hineinreichen. Hierbei ist ein Unterschied zu berücksichtigen. Die Werte sind von vornherein auf eine gewisse Relativität angelegt: Es kann sich z. B. um die Werte meiner Berufswahl handeln; es können meine Werte sein oder die Werte einer Kultur, eines Volkes usw. Aber auch wenn ich sie so auffasse, unterliegen sie einer Kritik aus der Sicht universaler Normen. Diese kann man nach meiner Überzeugung letztbegründen. Man kann nicht die Werte letztbegründen, man kann aber durchaus die Negation, das 109 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Abschneiden von bestimmten Werten aus der Sicht der universalen Normen als unangemessen beurteilen. Georg Siegmann (Universität Wuppertal): Im Anschluss an das eben von Herrn Apel Gesagte habe ich eine Frage an ihn und Frau Heller zugleich. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie beide ein drittes Paradigma nach dem griechischen und dem neuzeitlichen vorgeschlagen: Herr Apel die Transzendentalpragmatik und Frau Heller die Daseinsanalyse als fundamentale Disziplin. Einmal geht es um Geltungsansprüche, das andere Mal um das In-der-Welt-Sein. Ich würde Sie beide gerne fragen: Was ist das Verbindende und was ist das Trennende dieser Ihrer beider philosophischen Grundansichten? Was ist das, was Ihre Transzendentalpragmatik, Herr Apel, oder was die Transzendentalpragmatik überhaupt trennt von der Daseinsanalyse Heideggers, auf die sich Frau Heller bezieht (nicht genau im Sinne Heideggers, sondern in dem freien Sinne, in dem Frau Heller sie vertritt)? Sie sagen beide, dass es ein Drittes nach der Kosmologie der Griechen und der erkenntniskritischen Einstellung, der Subjekt-Objekt-Thematik der Neuzeit gibt – und ich frage, ob es ein Verbindendes zwischen diesen beiden neuen »dritten« Paradigmen gibt? Ist dann nicht das Verbindende das Entscheidende? Vielleicht die Sprache, vielleicht der Geltungsanspruch? Oder gibt es mehr noch ein Trennendes, etwas, was also die Transzendentalpragmatik definitiv scheidet von Heideggers Perspektiven auf Sein und Zeit? Das würde ich gerne von Ihnen beiden erklärt haben. Karl-Otto Apel: Ich will versuchen, das in Kürze zu erklären, obwohl es ein kompliziertes Thema ist. Ich habe meine Doktorarbeit über Heidegger geschrieben und war damals ein ziemlich begeisterter Leser von Sein und Zeit. Ich halte Heidegger auch heute noch für einen bedeutenden Denker, bin aber in der Zwischenzeit immer kritischer geworden und geradezu entsetzt über das, was er in seiner Spätphilosophie über die Vernunft gesagt hat. Er hat zwar darin Recht, dass das Inder-Welt-Sein relativ, nicht universal gültig ist. Dass man jedoch über das In-der-Welt-Sein Aussagen treffen kann, die philosophisch wahr sind, die Heidegger in Sein und Zeit auch richtig getroffen hat, das ist allerdings universal – und muss es sein. Dies hat er allerdings niemals berücksichtigt: Er hat die Reflexionsstufe, auf der er selber denkt und Sein und Zeit geschrieben hat, nicht thematisiert – so wenig wie eine 110 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Reihe anderer bedeutender Denker unserer Zeit. Dies kommt in seiner Spätphilosophie in schrecklicher Weise zum Ausdruck. Dort macht er die Vernunft lächerlich, diskreditiert sie. In der Vorlesung über Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (1934) schreibt er: »Eine Wahrheit wird dadurch nicht weniger Wahrheit, dass sie nicht von jedermann zugeeignet werden kann.« 1 In den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–38) heißt es im selben Sinne: »Wo Wahrheit sich in die Gestalt der ›Vernunft‹ und des ›Vernünftigen‹ hüllt, ist ihr Unwesen an der Arbeit, jene zerstörerische Macht des für alle Gültigen, wodurch jedermann beliebig ins Recht gesetzt wird.« 2 Hiermit verfällt Heidegger in den performativen Selbstwiderspruch, die eigenen Geltungsansprüche auf der Reflexionsstufe, auf der der Philosoph denkt, nicht zu berücksichtigen. Ich kann Heideggers Gedanken der Seinsvergessenheit etwas abgewinnen; sein eigener Fehler war jedoch die Logosvergessenheit – und der ist im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden. Smail Rapic: Frau Heller, was sagen Sie zu dieser Heidegger-Kritik? Ágnes Heller: Etwas ganz Einfaches und Kurzes: Meiner Meinung nach ist Philosophie ein Genre der Literatur. In allen Genres der Literatur, dem Drama, dem Roman oder eben der Philosophie, gibt es Genre-Grenzen. Diese Grenzen können elastisch sein, aber nicht absolut elastisch. Es gibt in der Philosophie einige konstante – sagen wir einmal: Kategorien – die ich auch Personen nennen kann. Dies sind die Grundwörter der Philosophie, wie Heidegger es ausgedrückt hat. Es gibt auch eine Grammatik, die man »Methode« oder »System« nennt. Die Grammatik und das Wörterbuch der Philosophie können sich verändern und verändern sich tatsächlich. Aber jede Philosophie braucht ein Wörterbuch und eine Grammatik. Die Distinktion zwischen transzendentaler und empirischer Ebene gehört zum Spiel der Philosophie. Das gilt auch für Ihre Philosophie, Herr Apel, das gilt ebenso für Heideggers Philosophie. Foucault hat über Dasein das Folgende gesagt –
1 Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (SS 1934). Auf der Grundlage einer Vorlesungsnachschrift von Wilhelm Hallwachs. Frankfurt a. M. 1998, S. 79. 2 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989, S. 343.
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ein sehr schöner Ausdruck –: transzendental-empirische Dublette, das ist Dasein. Ich bin mit Foucault in dieser Sache einverstanden. Was Heidegger betrifft: Er hat zwei sehr wichtige Sachen entdeckt. Das war doch vielleicht eine Intuition. Wie kann man über das alte Problem Subjekt – Objekt – Intersubjektivität – Interobjektivität hinauskommen? Es galt, einen neuen Ausgangspunkt zu finden. Ich glaube, in Sein und Zeit hat er ihn gefunden: mit der Kategorie des Daseins und der ontisch-ontologischen Dublette im Verständnis dieses Daseins. Und er hat noch etwas entdeckt, dass nämlich die alten philosophischen Charaktere, Akteure, Spiele ein wenig veraltet sind. Außer der Wahrheit und dem Sein sind im Wesentlichen alle veraltet. Wir sprechen nicht mehr über Wesen und Erscheinung, über Eines und Vieles und … und … und … Wir können mit diesen philosophischen Kategorien nichts mehr anfangen. Schon Marx wollte eine neue philosophische Sprache erfinden; ebenso Freud und Nietzsche. Heidegger hat – zumindest in Sein und Zeit – mit einer radikal neuen philosophischen Sprache experimentiert. Diese zwei Dinge, Dasein als der ontisch-ontologische Zentralpunkt, und das Experimentieren mit den neuen Grundwörtern, machen Sein und Zeit in meinen Augen zu einem grundlegenden Werk der modernen Philosophie. So ist es auch mit dem Werk Wittgensteins, dem Werk Foucaults. Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Frau Heller, an Herrn Apel und an den Historischen Materialismus, der ja in effigie auch da vorne sitzt. Und zwar nach dem Verhältnis von Kontextualität oder Partikularismus auf der einen Seite und Universalismus auf der anderen Seite. In einer Diskussion mit Rorty – der meinte, wir müssten den Universalismus von Normen nicht eigens begründen, wenn wir das Glück haben, in einer universellen, also liberalen Kultur zu leben – haben Sie, Herr Apel, gesagt: Was wäre, wenn Sie das Pech gehabt hätten, im Nationalsozialismus zu leben? 3 Ich habe den Eindruck, dass das ein wichtiger Einwand war und dass man sich bei der Frage, wie man von einer kontextualistischen Position aus zu einem universalistisch begründbaren Anspruch von Normen kommt, nicht so bescheiden geben kann wie Frau Heller. Also: wenn die Umstände günstig sind – dann ja; aber 3 Vgl. Karl-Otto Apel: »Zurück zur Normalität?« In: ders.: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988, S. 370–474, hier S. 408 f.
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da wir nicht immer in günstigen Umständen leben, muss man für den Universalismus argumentieren können. Ich glaube, dass Herr Apel zu Recht sagt, was wir argumentativ einholen können, ist die Ebene von Normen, also von verbindlichen Vorschriften, und wir lassen die Ebene von Wertungen, denen immer etwas Partikulares anhaftet, außen vor, weil wir sie jeweils kontextspezifisch etwas anderem vorziehen. Wenn man nun fragt: »Wie kommt der Historische Materialismus zu universalistischen Normen?«, so ist eine Antwort, dass Marx glaubt, sagen zu müssen, dass die Interessen der revolutionären Arbeiterklasse universalistisch sind, weil sie am radikalsten unterdrückt werden. Das finde ich aber eine viel zu einfache Konstruktion. Erstens, weil das Proletariat hier als ein Gesamtsubjekt gesehen wird; die Normen einer universalistischen Moral beziehen sich aber nicht auf ein Großsubjekt, sondern auf den intersubjektiv akzeptablen Zusammenhang von vielen Einzelnen oder allen Einzelnen. Und zweitens, selbst wenn das gegeben ist, ist es nicht automatisch so, dass, wenn die Interessen aller Arbeiter berücksichtigt sind, auch alle Menschen (oder alle möglichen moralischen Objekte, inkl. Tiere) berücksichtigt sind. Wir können uns eine Allgemeinheit vorstellen, die einfach nur faktisch ist, aber sie muss nicht dem universellen Anspruch entsprechen, den wir mit universellen Normen der Moral verbinden. Also ich würde sagen, weil der Historische Materialismus dieses Problem nur unzureichend lösen kann – womit ich nicht sagen will, dass er dazu gar nichts sagen kann –, deswegen ist er kein Garant für einen automatischen Universalismus, der sich, wenn man nur die Interessen der Menschen, die am meisten unterdrückt werden, angemessen berücksichtigt, ergeben würde. Bei Herrn Apel würde ich das umgekehrte Problem sehen. Sie schaffen es wunderbar, letztbegründet universelle Normen zu formulieren, aber ich habe den Eindruck, dass Sie bei der Frage: »Welche von den Wertungen sind wichtig?« eigentlich passen müssen. Da sind Sie dann vielleicht zu willkürlich oder Sie müssen letztendlich einräumen: »Dazu kann ich nichts sagen, das ist kontextabhängig.« An dieser Stelle sind Sie vielleicht auf Literatur und Rorty angewiesen, weil Sie dann sagen müssten: »Komm, ich lebe Dir vor – unter den universellen Bedingungen, die wir nicht aufgeben können –, welche von den partikularen Werten akzeptabel oder nicht akzeptabel sind.« Die Kriterien aber für die »Vermittlung« von universalistischen Normen und partikularistischen Werten sind ein besonderes Problem, und wahrscheinlich nicht (nur) ein Problem im Anwendungsteil B Ihrer Ethik. 113 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Ágnes Heller: Nur kurz: Wir verstehen alles im Kontext. Alle Aussagen sind Aussagen im konkreten Kontext. Auch die Interpretationen sind Interpretationen im Kontext. Ebenso die Gefühle, die wir haben: Wir verstehen ein Gefühl in unterschiedlicher Weise, abhängig vom jeweiligen Kontext. In einer philosophischen Theorie muss man einen Gedankengang im Kontext des Ganzen verstehen. Es gibt jedoch Grundwörter der Philosophie, die kontextfrei sind. Wenn man zum Beispiel fragt: »Was ist Wahrheit?«, dann ist die Antwort kontextfrei. Man kann auf diese Frage nicht entgegnen: »Das ist die Wahrheit im Kontext – im Kontext ist das jeweils verschieden.« Es gibt Sein, das versteht man nicht im Kontext. Was ist der Kontext von Sein? Es gibt keinen Kontext. Wenn man über ein konkretes Sein spricht, dann spricht man über dieses und dieses Sein im Kontext. In der Philosophie gibt es also kontextfreie Grundwörter. Karl-Otto Apel: Ich muss in der Tat etwas Ergänzendes zum Verhältnis von Normen und Werten sagen. Zuvor möchte ich jedoch auf den Begriff des Universalismus zurückkommen. Dieser Begriff war eines der Stichworte, wo bei mir nach 1945 das philosophische Motiv und der Anstoß durch die deutsche Katastrophe zusammengekommen sind. Es war immer ein Anliegen von mir, eine universalistische Begründung der Ethik zustande zu bringen. Das ist natürlich ein weites Feld, das ich jetzt nicht im Einzelnen behandeln kann. Zum Universalismus: Heidegger hat bekanntlich den Begriff der Wahrheit zuerst so verstehen wollen, dass er das bedeutet, was die Griechen eigentlich mit »aletheia« gedacht hätten, nämlich »Entbergung«. Daran hat Tugendhat eine berechtigte Kritik geübt: Dies sei noch nicht Wahrheit – obwohl er von diesem Begriff der »Entbergung«, der zugleich »Verbergung« ist, beeindruckt war. Hierauf hat Heidegger 1964 geantwortet: Tugendhats Kritik sei richtig – das ist interessant –; die seinsgeschichtliche Entbergung, die zugleich Verbergung ist, sei jedoch die Bedingung der Möglichkeit für Wahrheit im Sinne von richtig und falsch; und diese Entbergung sei wiederum kulturrelativ, sie sei zum Beispiel durch die Seinsgeschichte bedingt, die bei den Griechen beginnt. Dies war Heideggers Umgang mit dem Universalismus in Bezug auf Wahrheit. Zu den Themen »Wahrheit« und »Werte« möchte ich Folgendes ergänzen: Ich halte die Option für Werte nicht für willkürlich. Meine Ethik würde ich niemals im Sinne einer bloßen Pflichtethik, einer rein 114 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
normativen Ethik im kantischen Sinne anlegen; sie muss vielmehr auch ein letztes Ziel, eine teleologische Dimension haben. Dies wird bei der Anwendung der Ethik besonders deutlich. Hierbei muss der Fall berücksichtigt werden, dass es zu keiner Verständigung über Normen kommt, sondern nur zu Verhandlungen, in denen es um strategische Vorteile geht, oder gar zu kriegerischen Auseinandersetzungen. In diesem Fall ist die Dimension der Teleologie erforderlich: um ein letztes Ziel im Auge zu haben, um in dieser Situation, in der die anderen nicht mitmachen, sondern lieber Krieg führen, zur Begründung der Ethik zu stehen. Und dann braucht man die Werte im Sinne einer geschichtsbezogenen Verantwortungsethik; diese steht zu einer reinen Pflichtethik im Sinne von Kants kategorischem Imperativ in Kontrast. Man könnte anhand einer Reihe von Beispielen zeigen, dass Kant den Ansatz seiner Pflichtethik selber erweitern musste, weil man mit einer reinen normativen Ethik konkrete Handlungssituationen – vor allem politischer Art – nicht meistern kann. An dieser Stelle kann man die positive Bedeutung der Option für Werte einführen, obwohl Werte nach wie vor nicht universal sind, im Gegensatz zu Normen, die man letztbegründen kann. Werte sind vielmehr auf die Entbergung – um mit Heidegger zu reden – bezogen oder auf die Optionen der einzelnen Individuen, Völker oder Kulturen. Diese Werte sind nicht beliebig, es gibt meines Erachtens ein letztes Ziel, von dem sie ihre Orientierung empfangen müssen; sie können auch von der Dimension der universalen Normen aus kritisiert werden. Es gibt viele solche Werte, die man vernichtend kritisieren kann. Man denke nur an den bekannten Wert der Fürstensöhne, das ererbte Reich zu erweitern und die Feinde zu besiegen; dies geht durch die ganze Geschichte hindurch. Das sind Werte, die aus der Dimension der universal begründeten Normen vernichtend kritisiert werden müssen. Sie können auch nicht vom letzten Ziel einer teleologischen Verantwortungsethik her gerechtfertigt werden. Smail Rapic: Ich würde gerne die Frage von Herrn Lohmann, die ich ganz zentral finde, aufgreifen und dabei auf das Thema »Historischer Materialismus« zurückkommen. Herr Lohmann wendet sich, wenn ich ihn richtig verstanden habe, gegen eine Trennung von Universalismus und Partikularismus, d. h. gegen eine Ethik-Konzeption, die zunächst eine universalistische Dimension entwickelt, woran sich die Dimension des Partikularismus anschließt, so dass beides zuletzt miteinander ver115 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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mittelt werden muss. Können wir eine Theoriekonzeption entwerfen, die beides schon ab ovo miteinander vermittelt? Ich bin der Meinung, dass Habermas’ Programm einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus das eigentlich leistet oder zumindest einen sehr fruchtbaren Ansatz hierfür bildet. In den Frühschriften von Marx und Engels gibt es zwei Aussagen, deren Verhältnis zueinander klärungsbedürftig ist. Die erste steht in der Deutschen Ideologie: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«, die zweite in Marx’ »Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie«: Dort wird der »kategorische Imperativ« formuliert, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Die Rede vom kategorischen Imperativ enthält einen deontologischen Anspruch, eine quasi-universalistische Forderung. Wie passt beides zusammen? Dass beide Aussagen nebeneinander stehen, heißt doch, dass es möglich sein muss, sie miteinander zu vermitteln. In Habermas’ Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus spielt der Gedanke einer Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins eine zentrale Rolle. Er entsteht im 18. Jahrhundert. Man findet ihn bei Herder und natürlich bei Hegel, wobei er dort in eine ahistorische Dimension gestellt wird. Wie kann der Gedanke einer Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins so formuliert werden, dass man in keinen ahistorischen Universalismus Hegel’scher Provenienz zurückfällt? Wie kann man diesen Gedanken postmetaphysisch fassen? Der programmatische Satz aus der Deutschen Ideologie, es gebe nur die Wissenschaft der Geschichte, besagt, dass es Faktizitäten gibt, nämlich die Reproduktionsbedingungen des Gattungswesens Mensch, aus denen eine Entwicklungslogik entspringt. Marx spricht ja in Zur Judenfrage von den Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes. Die theoretischen Mittel des Historischen Materialismus reichen allerdings für die Bestimmung dieser Entwicklungsstufen nicht aus. Hierfür bedarf es nach meiner Überzeugung einer universalpragmatischen bzw. transzendentalpragmatischen Reflexion, die ein Moment von Apriorität ins Spiel bringt, was im Historischen Materialismus so nicht bedacht wird. Es muss sich letztlich um ein prozedurales Vernunftkonzept handeln, und darum glaube ich, dass das prozedurale Vernunftkonzept von Habermas und Apel dieses Problem lösen könnte. Es ist heute umstritten, ob es tatsächlich eine Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins gibt. Nach meiner Überzeugung ist der Gedanke einer solchen Entwicklungslogik essentiell. Das darf nur keine 116 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
ahistorische Teleologie sein. Ich weiß nicht, wie die Vermittlung von Universalismus und Partikularismus funktionieren soll, wenn man den Gedanken einer Entwicklungslogik aufgibt. Karl-Otto Apel: Sie wissen vielleicht, dass ich ein Buch über Diskurs und Verantwortung geschrieben habe, wo ich versucht habe, die entwicklungsgeschichtliche Dimension im Sinne Kohlbergs in die Transzendentalpragmatik zu integrieren, in eine geschichtsbezogene Verantwortungsethik. Das geht noch ein bisschen über Kohlberg hinaus. Smail Rapic: Das Problem, Herr Apel, das Herr Lohmann angesprochen hat, besteht darin, dass Sie zwischen A und B trennen. Kann man das wirklich so machen: erst A, dann B? Karl-Otto Apel: Dazu wird man gezwungen. Es gibt ja genug Leute – ich könnte Ihnen Namen nennen –, die gesagt haben, lasst die Moral aus der Politik raus, es geht nur um die Effektivität strategischer Entscheidungen. Smail Rapic: Das will ja niemand von uns. Die Frage von Herrn Lohmann zielt auf die Theoriestruktur. Wie muss die Theoriestruktur aussehen? Das ist wirklich ein heikler Punkt … Aber es gab noch eine weitere Frage. Horst Müller (Nürnberg): Frau Heller, Sie haben ein paar Mal vom In-der-Welt-Sein als einer Art ontologisch-anthropologischer Grundthese, die von Heidegger herkommt, gesprochen. Nun ist ja marxistisch versucht worden, die Weise des In-der-Welt-Seins zu bestimmen. Die Feuerbach-Thesen sagen, dass die Weise des menschlichen In-derWelt-Seins durch den Begriff »Praxis« ausgedrückt wird. Herbert Marcuse hat dies, von Heidegger herkommend, mit Marx’schen Theoremen herausgearbeitet. Ich erinnere auch an Gajo Petrović, der von der Praxis als der Existenzweise des Menschen in der Welt gesprochen hat. Ich würde das verteidigen wollen und würde Sie, Frau Heller, fragen, ob in Ihrem Wörterbuch der Philosophie der Begriff »Praxis« noch eine Rolle spielt, und wenn ja, welche. Wenn man die Auffassung verteidigt, dass die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis ist, dann ergibt sich eine kritische Sicht der Intersubjektivitätstheorie. Denn die Praxis als ein multidimensionales Vollzugsgeschehen impliziert eine Schicht ob117 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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jektiven Sinnes, auch wenn wir gar nichts davon wissen. Es gibt also keine Garantie dafür, dass dieser Sinn im intersubjektiven Verständigungsprozess erschlossen wird. Die Marx’sche Kapital-Analyse ist der Versuch, einen vorher nicht bewussten objektiven, im Handeln implizierten Sinn zu explizieren. Das ist ein Hinweis auf die Grenzen der Intersubjektivitätstheorie Ein weiterer Punkt: Wenn die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis und diese auf die Zukunft hin geöffnet ist, handelt es sich um ein schöpferisches Geschehen, in dem es verschiedene Wege gibt; hier kommt etwas Perspektivisches ins Spiel. Wenn verschiedene Menschen bzw. Gruppen unterschiedliche Wege einschlagen und ihre jeweilige Praxis ihr Bedeutungsraum ist, dann können sie sich nicht konsensuell einigen. Das heißt: die Perspektivität der menschlichen Praxiswirklichkeit ist eine Grenze des Konsensualismus. Ein letzter Gedanke zu dem Problem, ob dann nicht alles relativ wird – das könnte man ja vermuten. Im gesellschaftlichen Maßstab gibt es aus dem Praxis-Denken heraus eine gewisse Lösung oder zumindest eine Lösungsrichtung für die Problematik der verbindlichen Normenorientierung. Das wird nicht in der Weise ausgedrückt, dass man sagt, wir müssen uns jetzt auf diese oder jene Norm einigen; Bloch spricht stattdessen von einer »Invariante der Richtung«. Das heißt, es gibt eine große Richtungsangabe aus geschichtlicher Erfahrung. Demokratie z. B. ist ein vertragliches Eingebettetsein in die Naturbedingungen der menschlichen Existenz. Das ist eine Richtungsangabe, keine Ausdefinition von Normen, die nun unmittelbar handlungsleitend werden könnten. Ágnes Heller: Ich möchte über die arkadischen Zeiten sprechen – Habermas hat die arkadischen Zeiten erwähnt. Da saßen wir zusammen und die Frage wurde gestellt, wer ein Marxist sei. Alle sagten, der ist ein Marxist, das ist ein Kriterium von Marxismus, der ist kein Marxist, wir sind Marxisten usw. Am Ende sprach Lucien Goldmann und sagte, wir können die Sache sehr leicht erledigen. Marxist ist, wer sich Marxist nennt. Das taten wir alle. Ich habe nicht bestritten, dass man bestimmen kann, was den Marxisten ausmacht, es gibt einige wesentliche Gedankenstrukturen. Ich glaube aber, dass nicht nur der Marxismus, sondern auch alle anderen Ismen heutzutage keine grundlegende Rolle in der Entwicklung unserer Gedanken mehr spielen. Es gibt auch keine Schulen mehr. Die Frankfurter und die Budapester Schule waren wahr118 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
scheinlich die letzten Schulen. Es gibt nur noch persönliches Denken; individuelle Denker. Ich sehe dies aber nicht so wie Rorty. Rorty sprach nicht über persönliches, sondern über privates Denken. Es gibt aber keine private Philosophie. Alle Philosophie ist per definitionem öffentlich. Was öffentlich ist, bemisst sich danach, wie wir es der Öffentlichkeit anbieten: »Bitte, dies ist unsere Philosophie – wenn es Euch gefällt, wenn Ihr darin etwas findet, was in Eurem Leben einen Sinn gibt, wenn es Euren Gedanken einen neuen Weg bereitet, dann macht es Euch zu eigen.« Man braucht die Philosophie nicht als totale zu rezipieren, es gibt auch eine partielle Rezeption der Philosophie, etwa in der Politik. So kann die Philosophie die Welt verändern, aber nicht direkt durch ihre unverfälschten Gedanken, sondern durch die partielle Rezeption der Philosophie. Noch ein Wort über Ethik. Ich teile Max Webers Auffassung, dass wir in der modernen Welt in verschiedenen Sphären denken: Ökonomie, Politik, Kunst usw. Diese Sphären sind elastisch, aber getrennt. Sie haben jeweils ihre eigene Ethik: Es gibt eine Ethik der Ökonomie, eine Ethik der Politik, eine Ethik der Kunst usw. Ihre Normen sind verschieden. Demgegenüber ist die Moral, die Moralität, universal – nicht in dem Sinne, dass dies immer der Fall war, aber in der heutigen Welt ist die Moralität universal. In diesem Sinne unterscheide ich zwischen Ethik und Moral. Ein letzter Punkt: Kein Philosoph hat die Ethik erfunden. Es gibt sie in der Welt. Kant hat Recht gehabt: Er hat den kategorischen Imperativ nicht erfunden, sondern hat eine Formel für eine Moral aufgestellt, die im Leben schon ausgebildet war, die im Bewusstsein der Menschen damals existierte. Er kannte doch den Roman Clarissa sehr gut. Clarissa hat in ihrem Leben selber eine Art von kategorischem Imperativ formuliert. Wir können nichts Neues über die Ethik unserer Welt sagen, wir können ihre Normen nur ernst nehmen; ernster als sie die Menschen normalerweise nehmen. Das ist die transzendentale Ebene. Moralität ist – ich möchte es wiederholen – etwas Praktisch-Universales. Aber das ist nur mein Verständnis des Verhältnisses von Moralität und Ethik.
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III. Ökonomie und Politik
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Ingo Elbe
Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
Jürgen Habermas’ Projekt einer Reformulierung der kritischen Gesellschaftstheorie stand von Beginn an im Zeichen einer Auseinandersetzung mit Marx und der marxistischen Tradition. Insbesondere deren Konzepte von Arbeit, Produktion und gesellschaftlicher Synthesis gelangten über Jahrzehnte immer wieder in den Fokus von Habermas’ Aufmerksamkeit und wurden zum Gegenstand seiner Kritik. Die Ablehnung des später sogenannten ›Produktionsparadigmas‹ erfolgt dabei auf drei Ebenen: sozialtheoretisch wird bezweifelt, dass sich ein ausreichender Begriff sozialer Einheit durch Arbeit gewinnen lässt; sozialphilosophisch werden die dürftigen normativen Potentiale des Arbeitsbegriffs moniert; soziologisch wird die Relevanz von Arbeit als Leitkategorie im Zeitalter des Spätkapitalismus hinterfragt. Im Folgenden will ich mich auf die sozialtheoretische Dimension konzentrieren. Habermas unterstellt Marx seit Erkenntnis und Interesse, kulminierend in seiner Kritik des Produktionsparadigmas im Philosophischen Diskurs der Moderne, ein Modell gesellschaftlicher Synthesis durch ›Arbeit‹. Habermas’ Kritik lautet, dass die Eingrenzung des Praxisbegriffs auf Arbeit im Sinne der »Herstellung von Produkten« bzw. des »Stoffwechselprozess[es] zwischen Gesellschaft und Natur« (DM 99) das Problem einer Reduktion von »Regeln der sozialen Interaktion« auf »technisch-utilitäre […] Regeln der Produktion und der Verwendung von Produkten« (DM 101) mit sich bringt. Wenn sich marxistische Theoretiker 1 dennoch zur Differenzierung dieser Dimensionen entschließen, verlassen sie Habermas zufolge zwangsläufig den kategorialen Rahmen des Produktionsparadigmas. ›Arbeit‹ lässt sich für Wie György Márkus, der 1980 eine Entgegnung zu Habermas’ Kritik verfasst hat (»Die Welt menschlicher Objekte. Zum Problem der Konstitution im Marxismus«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des Historischen Materialismus 2. Frankfurt a. M. 1980, S. 12–136).
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Habermas also nur nach dem Muster eines nichtsozialen, 2 technischmanipulativen Objektbezugs verstehen. Demnach soll »sich das Produktionsparadigma allein für die Erklärung von Arbeit und nicht von Interaktion« eignen (DM 102), d. h. Praxis in diesem Sinne soll »allein für den Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur strukturbildende Effekte« haben (DM 101). Dagegen stellt sich Gesellschaft in Habermas’ zweistufigem Konzept dar »einerseits als Herstellungsund Aneignungsprozeß, der sich nach technisch-utilitären Regeln vollzieht und das jeweilige Niveau des Austauschs zwischen Gesellschaft und Natur, also den Stand der Produktivkräfte anzeigt; andererseits als Interaktionsprozeß, der nach sozialen Normen geregelt ist und den selektiven Zugang zu Macht und Reichtum, also die Produktionsverhältnisse zum Ausdruck bringt.« (DM 101) Dass »Praxis im Sinne normengeleiteter Interaktion […] sich […] nicht nach dem Muster der produktiven Verausgabung von Arbeitskraft und der Konsumtion von Gebrauchswerten analysieren« lässt (ebd.), ist eine nachvollziehbare Aussage. Es fragt sich allerdings, ob ein solcher Reduktionismus tatsächlich in der Marx’schen Ökonomiekritik entwickelt wird. Im Folgenden werde ich darlegen, dass Habermas durch seinen von den Frühschriften ausgehenden Zugang zu Marx konstitutive Veränderungen sozialtheoretischer Kategorien im Zuge der Marx’schen Werkentwicklung nicht wahrnimmt. Dies betrifft vor allem die formanalytische Differenzierung von abstrakter und konkreter Arbeit, die erst im Kapital ausgereift ist. 3 Als Kernproblem der Habermas’schen Gesellschaftstheorie wird sich dabei erweisen, dass mit der Ersetzung des Begriffs ›Produktionsverhältnis‹ durch den des ›institutionellen Rahmens‹ bzw. der ›Interaktion‹ einerseits und des Konzepts des ›Subsystems zweckrationalen Das Nichtsoziale bezieht sich dabei nicht auf die Genese, die nur gesellschaftlich vermittelt sein kann, sondern auf die Regelstruktur und deren Inhalte: In die technischen Regeln instrumentalen Handelns geht Habermas zufolge »allein Kausalität der Natur und nicht Kausalität des Schicksals ein« (TWI 33). Sie führen, mit anderen Worten, zu effektiver Naturbeherrschung, sind aber nicht als soziales Band konzipierbar. 3 Vgl. zum methodischen Bruch, der 1857 einsetzt: Michael Heinrich: »Praxis und Fetischismus. Eine Anmerkung zu den Marx’schen Thesen über Feuerbach und ihrer Verwendung«. In: Christine Kirchhoff/Lars Meyer u. a. (Hrsg.): Gesellschaft als Verkehrung. Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre. Freiburg 2004, S. 249–270; sowie zur Entwicklung des Arbeitsbegriffs seit den Grundrissen: Dieter Wolf: Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den ›Grundrissen‹. http://www. dieterwolf.net/pdf/Arbeit_Grundrisse.pdf (2008). 2
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Handelns‹ andererseits der innovative Gehalt des ökonomiekritischen Gesellschaftsbegriffs verfehlt wird, wobei Sozialtheorie in eine äußerliche Kombination von symbolisch-interaktionistischem Reduktionismus und systemtheoretischer Affirmation gesellschaftlicher Entfremdung transformiert wird. Gesellschaft löst sich in die Dualismen von Arbeit und Interaktion, Technik und Ethik, Mensch-Ding- und Mensch-Mensch-Verhältnissen auf. Dabei vollzieht Habermas eine Trennung des Klassenverhältnisses von seiner gegenständlichen Vermittlung, d. h. seinem im engeren Sinn ökonomischen Charakter, sowie eine Verharmlosung verselbständigter ökonomischer Mechanismen zu vor allem handlungsentlastenden Kommunikationsmedien mit dem Ziel der Nutzenvermehrung und optimalen materiellen Reproduktion.
Synthesis durch Arbeit Habermas bedient sich bereits in seiner Grundlegung der Kritik des Produktionsparadigmas in Erkenntnis und Interesse des Verfahrens, dieses Paradigma aus Textpassagen des Marx’schen Werkes zusammenzusetzen, in denen dieser, wie in den Frühschriften, noch gar keine Kritik der politischen Ökonomie und entsprechend auch noch keinen Begriff des Doppelcharakters der Arbeit entwickelt hat, und in denen, wie im fünften Kapitel des Kapital, erklärtermaßen transhistorische Ausführungen zum Arbeitsprozess unter bewusster Abstraktion der spezifischen Produktionsverhältnisse vorgenommen werden. Das ergibt folgendes Bild einer materialistischen Konzeption von Arbeit: Diese habe hier »den Stellenwert von Synthesis« (EI 40), die als Bildungsprozess der Gattung durch Auseinandersetzung mit der Natur verstanden werde (EI 41). In einem solchen Konzept der Synthesis durch ›Arbeit‹ im Sinne einer konkreten Arbeit im Allgemeinen – oder, wie Habermas sagt, eines »Funktionskreis[es] instrumentalen Handelns« (EI 57) – werde der Bildungsprozess der Gattung aber reduktionistisch konzeptualisiert: »Durch den Arbeitsprozeß«, so Habermas’ Referat, »verändert sich nicht nur die bearbeitete Natur, sondern über die Arbeitsprodukte auch die bedürftige Natur der arbeitenden Subjekte selber.« (EI 41) Die Regeln dieser Synthesis sollen sich schließlich »zu Produktivkräften vergegenständlichen« (EI 49), »die Identität der gesellschaftlichen Subjekte« sich »mit der Reichweite ihrer technischen 125 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Verfügungsgewalt« verändern (EI 50). Der Prozess der sozialen Evolution werde also als eine monologische Dialektik von ›Mensch‹ und ›Natur‹ im Prozess der Arbeit begriffen. Um dieses Bild materialistischer Synthesis zu zeichnen, muss Habermas den für den reifen Marx fundamentalen Begriff der gesellschaftlichen Form ebenso außer Acht lassen wie dessen Erkenntnis des Primats der Produktionsverhältnisse vor den Produktivkräften im Spätwerk. Habermas versteht unter der ›Form‹ lediglich die Veränderung der »Naturalform« von Gegenständen im Prozess konkreter Arbeit, das heißt die Umformung der Natur gemäß menschlichen Zwecken im Arbeitsprozess (EI 48). »Der Mensch«, so wird Marx zitiert, »›kann in seiner Produktion nur so verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern.‹« (MEW 23, S. 57) 4 Nach dieser Aussage über Arbeit als Prozess der Gebrauchswertproduktion folgt bei Marx allerdings der Satz: »Gehn wir nun von der Ware, soweit sie Gebrauchsgegenstand, über zum Waren-Wert« (MEW 23, S. 58) – Habermas geht hier nicht mit. Daher resümiert er den Begriff der Synthesis durch Arbeit als »Synthesis des Stoffes der Arbeit durch die Arbeitskraft«, die ihre Einheit »unter Kategorien des hantierenden Menschen« erhalte (EI 48). Durch Arbeit werde also eine Einheit »von Mensch und Natur« hergestellt, »die einerseits die Objektivität der Natur an die gegenständliche Tätigkeit der Subjekte bindet, aber andererseits die Unabhängigkeit ihrer Existenz nicht aufhebt« (EI 46), wobei von Subjekt eigentlich nur »in der Einzahl« gesprochen werden dürfe, insofern es »der Entwicklungsstand der Produktivkräfte« sei, der »das System der gesellschaftlichen Arbeit insgesamt« (EI 75) bestimme. Produktion soll nichts anderes sein als »sinnliches Arbeiten und Schaffen« (EI 55), 5 das »handgreiflichere Produzieren der Gattung« (EI 60). Den dabei unterstellten Bildungsprozess der Gattung identifiziere »Marx mit einer Aneignung der in der Bearbeitung eines Materials entäußerten Wesenskräfte.« (EI 60). Da Marx derart »Reflexion nach dem Muster der Produktion« (EI 61) begreife, verfehle er den epistemologischen Status der Gesellschaftswissenschaften und begreife »Ökonomie als eine […] ›menschliche Naturwissenschaft‹« (EI 64). Zit. in EI 48; die Hervorhebung stammt ohne Kennzeichnung von Habermas. Wie Habermas Marx’ anthropologischen Arbeitsbegriff aus den Frühschriften zitiert, vgl. auch EI 46.
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Marx konzipiere mit seiner Rede vom Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise die gesellschaftliche Entwicklungslogik »als ein ›Naturgesetz‹« (EI 62). Damit orientiere er sich am szientistischen Zeitgeist und unterschlage die reflexive Spezifik von Kritik, die ihren Gegenstand nicht nur als Registraturapparat betrachte, sondern in Selbstbestimmung einzuholen gedenke. Gegen diese Lesart muss an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass Marx’ Ökonomiekritik in zweifacher Hinsicht als Materialismus der zweiten Natur zu begreifen ist. Einmal als Theorie der realen Verselbständigung und Versachlichung der Produktionsverhältnisse: Wenn Marx daher beansprucht, die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise »als einen naturgeschichtlichen Prozeß« (MEW 23, S. 16) zu fassen, so ist festzuhalten, dass ›Natur‹ bzw. ›Naturwüchsigkeit‹ in diesem Kontext negativ bestimmte Kategorien sind: 6 Unter historisch spezifischen Bedingungen nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen die Form eines tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen an, das ihrer Kontrolle weitgehend entzogen ist. 7 Zum anderen ist Marx’ Ökonomiekritik eine Kritik des gegenständlichen Scheins, der falschen Naturalisierung sozialer Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Er wendet sich also gerade gegen naturalisierende, anthropologisierende und empiristische Konzeptualisierungen des Feldes der politischen Ökonomie und versucht diese zugleich aus den Formen des kapitalistischen Alltagslebens zu erklären. 8 Eine Theorie, die darlegt, dass ihre Gegenstände, die kapitalismusspezifischen Reichtumsformen, »kein Atom Naturstoff« (MEW 23, S. 62) enthalten, als »Naturwissenschaft« (EI 64) zu bezeichnen, wie Habermas das tut, ist also mehr als verwunderlich. 9 Vgl. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. 4. überarb. u. verb. Aufl. Hamburg 1993, S. 35, 201. 7 »Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie [die Produzenten] die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« (MEW 23, S. 89). Diese Bewegung, die Marx auch ein »regelndes Naturgesetz« nennt, das sich »gewaltsam durchsetzt« (ebd.), geht aber nicht von den Sachen aus, sondern vom Bezug der Sachen aufeinander durch Menschen unter historischen Bedingungen. Daher handelt es sich hier um zweite Natur. 8 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Münster 21999, S. 82, 310. 9 Marx wehrt sich auch dagegen, seine Geschichtstheorie in eine deterministische Geschichtsphilosophie zu verwandeln (vgl. MEW 3, S. 27, 63; MEW 19, S. 112). Ein wich6
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Substituierung anonymer durch personale Herrschaft Allerdings muss auch Habermas konstatieren, dass Marx in seinen materialen Untersuchungen keineswegs die »selbstbewusste Kontrolle des Lebensprozesses« mit der »automatischen Steuerung des Produktionsprozesses« identifiziert (EI 69). Diese Differenz weise aber auf den Unterschied zwischen monologischen Arbeits- und intersubjektiven Gewalt-, resp. Anerkennungsverhältnissen hin. Der Vorwurf lautet, wie bekannt, Insuffizienz des Konzepts einer Synthesis durch Arbeit, das eine unzulässige »Reduktion des Selbsterzeugungsaktes der Menschengattung auf Arbeit« (EI 58) beinhalte. Das Konzept bedürfe daher der Ergänzung durch eine als »symbolisch vermittelte […] Interaktion« in einem »institutionellen Rahmen« (ebd.) verstandene »Synthesis durch Kampf« (EI 77), die hier noch der Hegel’schen Dialektik der Sittlichkeit von Verbrecher und Gemeinwesen 10 entnommen ist (EI 78). tiges Element dieser Geschichtsphilosophie ist die Idee der Produktivkraftentwicklung als universalhistorischer Selbstauslöser und Fortschrittsmotor – tatsächlich findet sich dieses Konzept vornehmlich in den Frühschriften, aber auch im Kapital (MEW 23, S. 194 ff.) sind noch derartige Relikte zu finden. Allerdings kann man hier Marx mit Marx kritisieren, der in seiner Theorie der reellen Subsumtion das Determinationsverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umkehrt, womit die Idee einer universellen Entwicklungslogik dahin ist. Habermas meint aber verallgemeinernd, die historisch veränderliche Form von Wissen und Gegenständen ebenso wie die von Individuen und sozialen Beziehungen seien Marx zufolge vom »Entwicklungsstand der Produktivkräfte« (EI 50) abhängig (v. a. EI 54): »die Entfaltung der Produktivkräfte ist es, die jeweils den Anstoß zur Aufhebung einer in Positivität erstarrten […] Lebensform gibt« (EI 60). Diese Idee eines Primats der Produktivkräfte hat Habermas später zu Recht kritisiert (RHM 161), allerdings nicht hinreichend, weil er nur die Determinationskraft der Produktivkräfte gegenüber den Produktionsverhältnissen leugnet, nicht aber eine »endogen verursachte Produktivkraftentfaltung« (RHM 160). Wie ein »spontanes Wachstum des technisch und organisatorisch verwertbaren Wissens« (ebd.) möglich ist, bleibt unklar. 10 »Die strafende Kausalität des Schicksals vollzieht sich an den Herrschenden als Kampf der Klassen, der in Revolutionen mündet. Die revolutionäre Gewalt versöhnt die entzweiten Parteien, indem sie die durch die Repression anfänglicher Sittlichkeit eingetretene Entfremdung des Klassenantagonismus aufhebt […]. Die Positivität des erstarrten politischen Lebens spiegelt die Zerrissenheit der sittlichen Totalität; und die Umwälzung, die eintreten muß, ist die Reaktion des unterdrückten Lebens, die die Herrschenden mit der Kausalität des Schicksals treffen wird.« (EI 78 f.) Erst dann wird die »Zwanglosigkeit des dialektischen Sich-Erkennens-im-Anderen« (EI 81) wieder hergestellt. Diese Herrschaftsfreiheit ist aber nur als kommunikativer Sachverhalt auszubuchstabieren, nicht in Termini von Produktion, Steigerung technischer Verfügungsgewalt und funktionaler Differenzierung.
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Zwar reflektiere Marx faktisch diesen Rahmen, verfehle diese Dimension menschlichen Handelns aber begrifflich (EI 58 f.). Daher bliebe »umwälzende Praxis« heimatlos im »beschränkteren Konzept einer Selbstkonstitution der Gattung allein durch Arbeit« (EI 59). Die »Synthesis durch Arbeit«, so Habermas, »vermittelt das gesellschaftliche Subjekt mit der äußeren Natur als ihrem Objekt. Aber dieser Vermittlungsprozeß ist verschränkt mit einer Synthesis durch Kampf«, die Marx als »ein Verhältnis sozialer Gewalt, nämlich die Macht einer sozialen Klasse über eine andere« verstehe (EI 77). Dieses Gewaltverhältnis werde begründet und sei »ökonomisch bestimmt« durch »die privatrechtliche […] Form des freien Arbeitsvertrages« (EI 70), welche wiederum nichts anderes als eine »Entstellung des dialogischen Verhältnisses« zwischen den Menschen sei, die eine »Kausalität abgespaltener Symbole und vergegenständlichter, […] empirisch zwingender grammatischer Beziehungen« (EI 81) repräsentiere. Es wundert daher nicht, dass der frühe Habermas revolutionäre Praxis mit der »kritischen Aufhebung von Ideologien« durch »Reflexion« identifiziert (EI 59) und die Emanzipation von entfremdeten Formen analog zur kommunikationstheoretisch modifizierten Psychoanalyse deutet: Ganz im Sinne der Bestimmung des Werts als »in der Sache selbst waltende«, objektive »Begrifflichkeit«, als »Schein« und »bloß Gedachtes« 11 bei Adorno, fasst Habermas die Reichtumsformen als »objektive[n] Schein« (EI 81): »Die Warenform der Arbeit«, so behauptet er, »ist Ideologie, weil sie die Unterdrückung eines zwanglos dialogischen Verhältnisses zugleich verheimlicht und ausdrückt.« (EI 82) Für Marx ist die Warenform aber keineswegs Ideologie, objektive Gedankenform oder abgespaltenes (sprachliches) Symbol, sondern an diesem realen sozialen Verhältnis entzündet sich eine ideologische Verkennung dieses Verhältnisses als natürliche Eigenschaft einer Sache. Allerdings wird dadurch die Kritik des späten Habermas verständlich, in der er Marx die seines Erachtens nun unhaltbare Ansicht unterstellt, »daß der systemische Zusammenhang der kapitalistisch organisierten Wirtschaft und ihres staatlichen Komplements bloßer Schein ist, der sich mit der Abschaffung der Produktionsverhältnisse in nichts auflösen wird« (DM 83), bzw. dass er den »von Gebrauchswertorientierungen losgerissene[n] Akkumulationsprozeß buchstäblich [!] als Theodor W. Adorno: »Soziologie und empirische Forschung«. In: ders.: Soziologische Schriften I. Frankfurt a. M. 1979, S. 196–216, hier: S. 209.
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Schein« konzipiere, ja als »Verzauberung« (TkH II 499). Dies kann als eine Selbstkritik an Habermas’ Position in Erkenntnis und Interesse begriffen werden. Der Topos des ›Systemischen als Schein‹ kann allerdings in eine nichthegelianisierende Sprache übersetzt werden, und dann wird deutlich, dass Habermas mit seiner späteren Kritik auch die teilweise naiv anmutende Reduktion der Emergenz sozialer Zusammenhänge auf Entfremdung ins Visier nimmt, die an vereinzelten Stellen der Frühschriften von Marx/Engels und in der Kritischen Theorie anklingt. So tendiert z. B. Alfred Schmidt zu einem methodologischen Individualismus in emanzipatorischer Perspektive, der davon ausgeht, dass der Sozialnominalismus die korrekte Beschreibungsweise für kommunistische Gesellschaften sei: »Sobald die Menschen aufhören, sich […] die dinghafte Herrschaft des Allgemeinen […] gefallen zu lassen, gilt der ›Nominalismus‹ wieder, das heißt, es wird ein Zustand erreicht, in welchem die merkwürdigen Entitäten verschwinden, denen die Menschen ausgeliefert sind […] Das Ganze geht planvoll aus bewußten und vernünftigen Akten der Individuen hervor«. 12 Dadurch verliere auch der Bereich des Geistig-Kulturellen seinen »Überbaucharakter«. 13 Allerdings geht Habermas weit über die Kritik an solchem Idealismus hinaus und will zugleich das »evolutionär vorteilhafte […] Integrationsniveau« (TkH II 499) verselbständigter Formen wie Staat und Kapital loben, womit er ein sozialdemokratisches Lebensweltschutzprogramm in den Rang einer kritischen Gesellschaftstheorie erhebt. 14 Habermas Schmidt: »Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie – Diskussion«. In: ders./Walter Euchner (Hrsg.), Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre ›Kapital‹. Frankfurt a. M. 1972, S. 48–57, hier: S. 52. 13 Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (s. Anm. 6), S. 143. Meinhard Creydt versucht, gegen utopistische Leugnungen der Emergenz und Komplexität moderner Gesellschaften und zugleich gegen deren gestaltungspessimistische Verdinglichung zu argumentieren, wie sie bei Habermas spätestens seit 1981 anzutreffen ist (Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im gesellschaftstheoretischen Denken. Frankfurt a. M./New York 2000). 14 Die Ausblendung klassenspezifischer Probleme des Sozialstaats, die bei Habermas vor allem in den 1980er-Jahren erkennbar wird, ist ein Kapitel für sich. Dass hier die Eigendynamik der Akkumulation und bürokratischen Machtausübung mit kommunikativ rationalisierten Lebensweltstrukturen, sprich: dem, was Habermas noch unter Emanzipation versteht, »versöhnt« (TkH II 530) sei, dass die »Beschäftigtenrolle ihre krankmachenden proletarischen Züge« verliere (TkH II 514), dass »der Kapitalismus« »solange gut [ging]«, wie er sich auf die »materielle […] Reproduktion« (Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt a. M. 51991, S. 194, 12
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behauptet dabei ohne empirische Fundierung, lediglich aus der verharmlosenden definitorischen Zurichtung seines Geld- und Systembegriffes heraus, 15 es ließe sich eine »schmerzlose Entkoppelung des monetär-bürokratischen Komplexes« von der »›schmerzensreiche[n]‹ Kolonialisierung der Lebenswelt unterscheiden«. 16 Ich komme darauf zurück. »Marx«, so jedenfalls Habermas, »hätte sich« des Hegel’schen »Modells bedienen und jene disproportionale Aneignung des Mehrproduktes, das den Klassenantagonismus zur Folge hat, als ›Verbrechen‹ konstruieren können.« (EI 78) Das Modell einer zerrissenen sittlichen Totalität bezieht sich aber, wie Habermas betont, auf einen »aus kultureller Überlieferung gezimmerte[n] institutionelle[n] Rahmen« (EI 79). Die Verkehrsform begreift er daher als Praxis »unter Normen, die mit der Gewalt von Institutionen darüber entscheiden, wie Kompetenzen und Entschädigungen, Obligationen und Belastungen des sozialen Haushaltes auf die Mitglieder verteilt werden« (EI 71). Im Philosophischen Diskurs wird dies, György Márkus zustimmend referierend, wiederholt: »Handlungsnormen« begründen ein System von »Rechte[n] und Pflichte[n]«, das sich in »soziale[n] Rollen« manifestiert, »die ihrerseits Tätigkeiten, Fähigkeiten und Bedürfnisbefriedigungen« ebenso festlegen wie die »Verteilung der Produktionsmittel und des produzierten Reichtums« (DM 100). Gegen diesen rechtsphilosophischen Reduktionismus ist geltend zu machen, dass die von Habermas im Zusammenhang mit dem institutionellen Rahmen erwähnte Privatrechtsordnung die Form eines nichtrechtlichen Inhalts darstellt, der wiederum eine ökonomisch-soziale Form ist. 17 Hier identifiziert Marx Geltungsverhältnisse gänzlich 189, 194) konzentrierte, darf füglich bezweifelt werden. Habermas’ Konsequenz war der Satz: »Ich finde es eleganter [!] und plausibler, dem Kapitalismus zu geben, was des Kapitalismus ist« (ebd.). Lars Meyer stellt fest, dass »wesentliche theoretische Grundentscheidungen« von Habermas sich »an der als Normalzustand antizipierten Dynamik des Fordismus« orientieren. Dieser Fordismus wird dann auch nur noch bürokratiekritisch angegriffen (Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 225). 15 Hans Joas: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«. In: ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 171–204, hier: S. 204. 16 A. a. O., S. 203. 17 Das moderne Recht ist für Marx notwendige Implikation des Warenverhältnisses: Umberto Cerroni bezeichnet es als »Form des Zusammenhangs des Willens der einzelnen Individuen, die durch die wirkliche Vermittlung der Sachen gesellschaftlich auf-
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anderer Art, als sie auf der Ebene bewusster moralisch-juridischer Anerkennungskonflikte zu identifizieren sind, und das macht das eigentlich Ökonomische an seinem Gegenstand aus. 18 Habermas hingegen bildet die Assoziationskette: (Rechts-)Norm – institutioneller Rahmen – Klassenkampf – Gewalt. »Die Klassenbeziehungen erscheinen bei Habermas« damit, wie Klaus Ottomeyer anmerkt, »als personal-unmittelbare«, 19 eben weil er die spezifische Synthesis durch Arbeit, wie Marx sie anhand der Warenform entfaltet, ausblendet. An ökonomischen Verhältnissen nimmt Habermas nur das zwangsbewehrte wechselseitige Willensverhältnis privat-dissoziierter Rechtssubjekte wahr, die ökonomische Form, die sachlich vermittelte Einheit der Arbeiten und Produkte unter der Bedingung ihrer systematischen Dissoziation, existiert für ihn gar nicht. Sie fällt zwischen Mensch-Mensch- (Interaktion) und Mensch-Ding-Verhältnissen (›Arbeit‹) hindurch. Das Eigentumsverhältnis – beim frühen Habermas der Kern des normativ gesteuerten institutionellen Rahmens – ist hingegen ein weit über normativ regulierte Vergesellschaftung hinausgehender Reproduktionskreislauf, 20 der historisch mit der gewaltsamen Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln beginnt und sich anschließend als strukturelle Reproduktion dieser Ausgangssituation vermittelt durch Tausch von Äquivalenten und den darin implizierten Anerkennungsverhältnissen der Tauschsubjekte darstellt. Rechtliche Willensverhältnisse, soziale Kämpfe und staatliche Rechtsgarantien bleiben zwar ein konstitutives Element der modernen Eigentumsvereinander bezogen sind« (Marx und das moderne Recht. Frankfurt a. M. 1974, S. 91). Wenn Marx davon spricht, dass der Rechtsinhalt die Rechtsform bestimmt oder diese jenen ausdrückt bzw. widerspiegelt (MEW 23, S. 99), so nur dahingehend, als dieser Inhalt, das ökonomische Verhältnis, selbst eine spezifische Form aufweist: den Wert als Vergesellschaftungsform privat-dissoziierter Produkte, die sich im Willensverhältnis der Akteure reproduzieren muss. Keineswegs ist damit gemeint, dass sich ein partikulares Klasseninteresse unmittelbar zum Recht aufschwingt. 18 Vgl. Heinrich: Wie das Marxsche »Kapital« lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital«. Stuttgart 2008, S. 119: »Die Geltung, um die es hier geht, ist also weder eine von den Tauschenden vereinbarte noch eine vom Staat auferlegte Geltung. Es ist vielmehr ein mit der auf Tausch beruhenden Ökonomie strukturell gegebenes Verhältnis.« 19 Klaus Ottomeyer: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus. Vorüberlegungen zur systematischen Vermittlung von Interaktionstheorie und Kritik der politischen Ökonomie. 2. durchges. u. erw. Aufl. Gießen 1976, S. 31. 20 »Das bürgerliche Eigentum definieren heißt somit nichts anderes, als alle gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen« (MEW 4, S. 165).
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
hältnisse, die aber eben nicht darauf reduzierbar sind. Die ökonomische Vermittlung, die bei Habermas in der rechtlichen Dimension des »freien Arbeitsvertrages« (EI 70) aufgeht, hängt vielmehr am Wert- qua Tauschverhältnis und dessen Verselbständigungstendenzen. Diese bleiben in der Perspektive von Habermas ausgespart. Zwar gibt es auch Marx zufolge keine Eigentums- und Austauschverhältnisse ohne Recht (Synthesis der Willen unter der Bedingung und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation in privat-isolierte), dieses ist aber zugleich Implikation von normativ unkontrollierten, originär ökonomischen Relationen (Synthesis der Arbeiten und Produkte unter der Bedingung und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation in privat-isolierte). Dieter Wolf stellt daher zu Recht fest, die Konsequenz der Habermas’schen Theoriestrategie sei, dass »die mit dem ›institutionalisierten Gewaltverhältnis‹ angesprochene Gesellschaftlichkeit der Produktion nichts mit dieser in ihrer historisch spezifisch gesellschaftlichen Formbestimmtheit zu tun« habe, weshalb dieses Gewaltverhältnis dann »ohne jegliche Rücksicht auf die Produktion« als »im Rahmen ›symbolischer Interaktion‹« veränderbar erscheine: »Losgelöst von der Produktion, ohne eine historisch spezifische […] Formbestimmtheit zu besitzen, hat sich unter der Hand das Kapitalverhältnis in irgendein ›institutionalisiertes Gewaltverhältnis‹ verwandelt, das wie jedes andere Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis […] ein Verhältnis von Menschen zueinander ist, dessen Spezifik darin besteht, seit Menschengedenken ein ›Zusammenhang symbolisch vermittelter Interaktion‹ zu sein.« 21 Habermas spricht denn auch meist von der Aneignung von Mehrprodukt, der tatsächlich vorkapitalistischen Form der Ausbeutung, nicht von Mehrwert, der tauschvermittelten kapitalistischen Form, die eine Synthesis durch Arbeit voraussetzt. Habermas erscheint der anonyme, wertvermittelte Herrschaftscharakter des gesellschaftlichen Verhältnisses der Produzenten als bloß sachlich verschleierte Gestalt personaler Herrschaft, 22 was sich schließlich auch an seinem SankWolf: Habermas’ Kritik des ›Marxschen Produktionsparadigmas‹. http://www.dieter wolf.net/pdf/Habermas_Schmidt_Produktionsparadigma.pdf (2012), S. 44. 22 Hartmut Neuendorff weist auf diese Verfehlung des Marx’schen Gegenstands hin, wenn er bemerkt, die »entscheidende Differenz« zwischen Normen und Preisen liege darin, »daß das gesellschaftliche Verhältnis der Individuen in ihren produktiven Tätigkeiten im Marktverkehr als ein Verhältnis von Sachen erscheint, und zwar vermittelt durch die in Preisen erscheinenden Wertrelationen der Waren. Eine derartige Verkeh21
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tionsbegriff zeigt: Er unterscheidet zwei Formen von Sanktionen, nämlich Bestrafungen aufgrund konventioneller Normen im Sinne eines »Scheitern[s] an Autorität«, sowie ein »Scheitern an der Realität« im technischen Sinne (TWI 64). Die Sanktionierung, die der Markt bereithält, besteht aber weder in der einen noch in der anderen Form, sondern liegt zwischen materiellen Zwängen, die »aus der Gegebenheit der materiellen Welt und den physischen Merkmalen des Körpers« herrühren und negativen Sanktionen, die »aus bestrafenden Reaktionen einiger Handelnder anderen gegenüber abgeleitet« 23 sind. Sie liegt in sozialstrukturellen Zwängen. Denn die »Bewegungen des Marktes«, so stellt Ottomeyer fest, »gehorchen weder ›technischen Regeln‹ noch Normen, die einer Dialektik der Anerkennung entstammen – es sei denn, man wolle das Wertgesetz, welches sich […] über die Intention [sic!] aller Beteiligten hinweg durchsetzt, auf irgendeine Übereinkunft der betroffenen Subjekte zurückführen«. 24 Statt die über das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen im Tausch vermittelte Reproduktion sozialer Gruppen und die klassenspezifisch vermittelte Reproduktion verselbständigter ökonomischer Formen und Funktionen als notwendigen Zusammenhang zu begreifen, zerteilt Habermas diesen: Während im interaktionistischen Teil seiner Theorie anonyme Zwänge auf personale reduziert werden, wird im technizistischen, später systemrung gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis von Sachen tritt […] nie im normgeregelten Verhalten zwischen Interaktionspartnern auf.« (Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt a. M. 1973, S. 107 cf. Fn.). 23 Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. M./New York 1992, S. 230. 24 Ottomeyer: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus (s. Anm. 19), S. 30. Daher sind Ottomeyer zufolge auch die Begriffe ›Charaktermaske‹ und ›Rolle‹ zu unterscheiden: »Die aus der Eigendynamik der ökonomischen Verhältnisse resultierende Formbestimmtheit der Begegnung konkret-sinnlicher Personen tritt diesen als Charaktermaske gegenüber.« Im Gegensatz zur Rolle seien die mit der Charaktermaske bezeichneten »Anforderungen nicht als Erwartungen von Personen«, sondern als strukturelle Zwänge zu kennzeichnen (ebd., S. 83). Márkus konstatiert, dass im Kapitalismus die »grundlegenden Maximen ökonomischen Verhaltens […] als universelle und wertfreie Vernunftprinzipien« erscheinen (Die Welt menschlicher Objekte (s. Anm. 1), S. 46). Die Verletzung dieser Prinzipien lasse das Verhalten des Akteurs »dank kausaler Zusammenhänge (und nicht aufgrund unmittelbarer sozialer Sanktionen) [als] genauso ›erfolglos‹ erscheinen […], als wenn es gegen die technischen Regeln des Gebrauchs eines bestimmten Werkzeugs verstoßen hätte« (ebd.). Dieser Als-ob-Charakter geht bei Habermas verloren.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
theoretischen, Teil Herrschaft in differenzierungstheoretisch unvermeidliche Sachzwänge aufgelöst. Bezeichnend dafür ist auch die Angabe des Rationalisierungsziels im ›Subsystem zweckrationalen Handelns‹, das Habermas mit »Steigerung der Produktivkräfte; Ausdehnung der technischen Verfügungsgewalt« (TWI 64) angibt. Auch hier erscheint Ökonomie generell als Veranstaltung zur technischen Effizienzsteigerung, nicht zur Profitmaximierung. Die Verfehlung des mit den Kategorien der abstrakten Arbeit und des Werts verbundenen Konzepts ökonomisch-anonymer Zwänge lässt sich schließlich auch in Habermas’ Auseinandersetzung mit Peter Winchs sprachspieltheoretischer Konzeptualisierung des Sozialen entdecken. Winch zufolge sind gesellschaftliche Verhältnisse ausschließlich durch Rekurs auf das Wirklichkeitsverständnis der Handelnden zu begreifen. 25 Für ihn gilt, »daß die sozialen Beziehungen zwischen Menschen und den in den Handlungen der Menschen verkörperten Ideen in Wahrheit dieselbe Sache« 26 sind, gesellschaftliche Verhältnisse »zwischen Menschen nur in ihren Ideen und durch diese« 27 existieren. Solche Ideen seien auch Geld, Eigentum oder ökonomische Transaktionen. 28 Habermas hat zwar bereits 1967 u. a. 29 diesen Idealismus kritisiert. So folgert er: »Die Objektivität eines Überlieferungsgeschehens, das aus symbolischem Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug.« Die »Metainstitution der Sprache als Tradition ist offenbar ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen Zusammenhängen aufgehen.« (LdS 307) Die »nichtnormativen« Zwänge, »die in Sprache als Metainstitution hineinragen«, fasst Habermas aber lediglich als unmittelbare »Gewalt« einerseits, die »Systemen der Herrschaft« zugeordnet wird (LdS 308), als »Zwang der äußeren Natur« andererseits, der sich in »Systemen der Arbeit« geltend machen soll (LdS 309). Wieder fällt spezifisch-ökonomischer Zwang durch dieses anthropologisierende Raster hindurch. Nun könnte eingewendet werden, Habermas spreche doch zumindest an wenigen Stellen den anonymen Charakter ökonomischer Herrschaft an. Tatsächlich liest man in Legitimationsprobleme im SpätVgl. Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt a. M. 1974, S. 34 f. 26 A. a. O., S. 154. 27 A. a. O., S. 157. 28 Vgl. a. a. O., S. 151. 29 Dies ist zugleich gegen Gadamers Hermeneutik gerichtet. 25
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kapitalismus, »das Klassenverhältnis« könne Marx zufolge »in der unpolitischen Form der Lohnabhängigkeit anonyme Gestalt annehmen« (LS 43), oder wird in der Theorie des kommunikativen Handelns erwähnt, Marx spreche von einem »versachlichten, anonym gewordenen Prozeß der Ausbeutung« (TkH II 492). Habermas verbleibt hier aber im personalistischen Paradigma des Traditionsmarxismus. Diese Anonymität ist nämlich wieder nichts anderes als die sachliche Verschleierung von Klassenverhältnissen und Ausbeutung – Habermas geht es lediglich um die »privatrechtlich sanktionierte Macht« von »Produktionsmitteleigentümern« (LS 43), die hinter der ›sachlichen Hülle‹ stecke. Diese Macht existiert zwar auch, doch bezeichnet anonyme Herrschaft gerade die Verselbständigung von Strukturmomenten sachlich vermittelten Handelns allen Akteuren gegenüber – die Herrschaft des Werts bzw. Kapitals, nicht eine bloß verschleierte Herrschaft der Kapitalisten. 30 Zudem dient Habermas dieses Marx-Referat lediglich zur Abgrenzung von dessen Position: Er erwähnt diese Verkopplung von – unbegriffener – Sachlichkeit und Herrschaft lediglich, um sie sogleich zu leugnen und den »evolutionären Eigenwert« (TkH II 499) verselbständigter Subsysteme herauszustellen – sprich: die vermeintlich für alle nützlichen Errungenschaften von Staat und Kapital zu loben.
Normfreie Steuerung mittels Geldmedium In seinen späteren Schriften wird das technizistische Vokabular, mit dem die Sphäre der ›Arbeit‹ charakterisiert wird, systemtheoretisch variiert. Hier ist vor allem das Konzept des Geldes als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu nennen, mit dem Habermas nun die interaktionistisch nicht zu erfassende Dimension moderner Gesellschaften beschreiben will. Der Medienbegriff ist aber kein Ersatz für den ökonomiekritischen Begriff der sozialen Formen Geld und Kapital, weil er deren Herrschaftsaspekt ignoriert, die darin angelegten Krisenpotentiale verdeckt und die Frage der Möglichkeit einer systematischen, sich reproduzierenden Tauschökonomie, in der das Mittel jenseits aller Nutzenerwägungen der Akteure zum Zweck verkehrt ›Anonym‹ ist in der Habermas’schen Begriffsverwendung eine Anonymisierung tatsächlich personal zurechenbarer Verhältnisse – so, wie man einen Autor unkenntlich macht, der aber nach wie vor existiert.
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wird, gerade nicht beantworten kann. 31 Zwar spricht Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns von einem Bereich »normfreie [r] Sozialität« (TkH II 362) und bezeichnet Marktmechanismen als »nicht-normative Steuerung von subjektiv unkoordinierten Einzelentscheidungen« (TkH II 226): Während in der Lebenswelt bzw. dem institutionellen Rahmen ein Prozess normenregulierter Vergesellschaftung über reziproke Abstimmung der Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander stattfinde, werde in den Subsystemen Vergesellschaftung auf entsprachlichte Steuerungsmedien umgestellt (vgl. TkH II 269, 273), wobei der gesellschaftliche Zusammenhang über die »funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen« (TkH II 226) hergestellt werde. Diese Bestimmungen werden allerdings nicht inhaltlich mit der verselbständigten Kapitallogik, anonymen Zwängen und der Reproduktion von Klassenverhältnissen verbunden. Im Gegenteil betrachtet Habermas die Leistungen des Subsystems Wirtschaft als Erfüllung von »Erhaltungsbedingungen soziokultureller Lebenswelten« (TkH II 228). Er schließt sich dem neoklassischen Ansatz von Parsons an, der die Funktion des Wirtschaftssystems »auf die Produktionsleistungen der Wirtschaft« (TkH II 363) bezieht. Oder um es klarer ausdrücken, er strickt mit an der Ideologie, die Wirtschaft sei auch im Kapitalismus eigentlich für den Menschen da. Zwar weist auch Habermas auf Differenzen zwischen Sprache und Geld hin (TkH II 397), doch er konzipiert Geld kritiklos in neoklassischer Weise als Nutzensymbol: Es wird erstens als bloßes Medium des Austauschs und zwar zweitens von Gütern (!) verwendet, wobei es schließlich drittens »messbare Wertmengen verkörpern« soll, »auf die sich […] alle Teilnehmer als objektive Größe beziehen können« (ebd.). Der »generalisierte Wert« des Geldes soll dabei im »Nutzen« liegen und steht in einem nicht Vgl. zur Kritik der Verharmlosung des Geldes als Kommunikationsmedium: Heiner Ganßmann: Geld und Arbeit. Wirtschaftssoziologische Grundlagen einer Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 130–146; Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. (s. Anm. 13), S. 149–151; Hanno Pahl: Zu Begriff und Wirklichkeit des ökonomischen Systems bei Marx und Luhmann. http://www.roteruhr-uni.com/cms/Zu-Begriff-und-Wirklichkeit-des.html (2003). In den Grundrissen findet man folgende Aussage, die auf die unpassende Analogie zwischen in Sprache ausgedrückten Ideen und im Geld ausgedrücktem Wert Bezug nimmt: »Das Geld mit der Sprache zu vergleichen ist […] falsch. Die Ideen werden nicht in der Sprache verwandelt, so daß ihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter neben ihnen in der Sprache existierte, wie die Preise neben den Waren.« (MEW 42, S. 96).
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näher erläuterten Zusammenhang mit dem »Gebrauchswert«, den Habermas als »[r]eale[n] Wert« (TkH II 409) bezeichnet. 32 Heiner Ganßmann weist zu Recht auf den unklaren Nutzenbegriff und die noch unklarere Idee einer Nutzenmessung hin, die Habermas hier unterstellt. Gibt er doch nicht den leisesten Hinweis darauf, wie er sich die Messung von Nutzen vorstellt und was es bedeutet, dass Geld »Wertmengen« »symbolisiert« (TkH II 397), diese misst und speichert. Wenn »eine Quantifizierung von Macht« laut Habermas »nicht möglich« ist (TkH II 402), dann fragt sich, warum dies mit Nutzen der Fall sein soll. Mehr als eine verschwiegene neoklassische Orthodoxie hat Habermas hier nicht zu bieten: er konstatiert mit einem fragwürdigen Autoritätsargument lediglich den »Umstand, daß die Wirtschaftswissenschaft Geld […] bereits gut analysiert hatte« (TkH II 387). 33 Auch die neoklassische Idealisierung des Tausches zur symmetrischen Veranstaltung optimaler reziproker Nutzenmaximierung wird von Habermas reproduziert, stellt er doch fest, dass »die Tauschbeziehung keinen der Beteiligten strukturell in seinem Nutzenkalkül benachteiligt, und der Tauschvorgang, wie wir sagen [!], im beiderseitigen Interesse liegt« (TkH II 405). Die Tatsache, dass Geld die Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum für die Akteure buchstäblich äußerlich werden lässt – es markiert eine Vermittlung, die eine scharfe Trennung vom Gegenstand des Bedürfnisses, das Privateigentum, den Ausschluss vom Reichtum, voraussetzt (vgl. MEW 3, S. 75–77; MEW 42, S. 90, 95 ff., 148, 173 ff.) – wird in diesem Zusammenhang ebenso ignoriert, wie die Möglichkeit der Krise, die bereits mit dem Geld gegeben ist (vgl. MEW 23, S. 128), 34 sowie die Verkehrung des Mediums in ein Ziel der Ökonomie, das sich von allen menschlichen Zwecksetzungen emanzipiert und diese unter Auch diese ›entsprachlichten Medien‹, die die systemische Einheit stiften sollen, werden von Habermas also nicht auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftlicher Arbeit hin durchsichtig gemacht. 33 Zur Kritik des neoklassischen und traditionskeynesianischen Geldbegriffs vgl. Hansjörg Herr: »Geld – Störfaktor oder Systemmerkmal?«. In: Prokla 63 (1986), S. 108–132; Ganßmann: Geld und Arbeit. (s. Anm. 31), S. 128 ff.; Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), S. 69 ff., 250 f. 34 Vgl. auch Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), S. 251: »Der Bezug auf Geld, über den sich überhaupt erst ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang herstellt, impliziert so zugleich die Gefahr einer Zerstörung dieser Kohärenz […] Indem Klassik und Neoklassik das Geld auf die Rolle eines bloß technischen Mittlers reduzieren […], abstrahieren sie von der Möglichkeit der Krise.« 32
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sich subsumiert. Lediglich ein verwaschener Hinweis darauf, dass Geld »von Unternehmern investiert« werden kann (TkH II 397), bleibt davon übrig. Ansonsten will Habermas »[a]uf den systembildenden Effekt« des Geldes unter »bestimmten evolutionären Bedingungen« »hier nicht näher eingehen« (TkH II 399), er benötigte dazu auch einen Begriff von Kapital und Klassen, den er nicht liefert. Im Gegenteil stellt er einseitig auf die Reduzierung von Interpretationsaufwand und die Verringerung von Dissensrisiko ab, welche das Geld mit sich bringen soll (TkH II 392 ff.), womit er es einem bloßen technischen Mittel der Nutzenmaximierung annähert, dessen Imperative nur nicht auf die lebensweltlichen Bereiche übergreifen dürfen, um als tolerabel zu gelten. Solche Übergriffe oder Kolonialisierungseffekte, wie Habermas sie bezeichnenderweise nennt, sind für ihn allerdings rein äußerliche 35 (daher die Kolonialisierungsmetapher) und »zufällige Verselbständigung [en]«, 36 die mit dem universalisierten Geldmedium nicht intrinsisch verknüpft sind. 37 In einem späteren Aufsatz stellt Habermas allerdings fest, dass »die Umstellung auf mediengesteuerte Interaktionen« für den Handelnden »eine objektive Verkehrung von Zwecksetzung und Mittelwahl zur Folge« hat, weil das »Medium selbst […] jetzt die Bestandserhaltungsimperative des zugehörigen Systems« »übermittelt« und solche Interaktionen daher »nicht mehr eine instrumentelle, in der Zweckrationalität der Entscheidungsträger lokalisierte Vernunft [verkörpern], sondern eine den selbstgesteuerten Systemen innewohnende funktionalistische Vernunft« (ND 83). Diese Einsicht bleibt aber abstrakt. Sie wird weder ökonomie- oder politiktheoretisch gefüllt, noch wird überhaupt klar, was Bestandserhaltung inhaltlich bedeutet oder was an der funktionalistischen Vernunft vernünftig sein soll, wenn hier eine Entkopplung von Akteursrationalität jeglicher Art stattfindet. 38 Alles in allem ist Ganßmann zuzustimmen, wenn er mit Habermas’ Kolonialisierungsbegriff ignoriert systemimmanente Friktionen zudem weitgehend, sodass seine Theorie an »ökonomische[n] Krisen und eine[r] hohe[n] Dauerarbeitslosigkeit«, wie sie zunehmend die Zeit seit den 1980er-Jahren prägt, schlicht »vorbeizielte« (Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a. M. 22006, S. 346). 36 Lars Meyer: Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 230. 37 Dies geht so weit, dass Habermas einmal gar die Utopie einer Entkopplung von Marktwirtschaft und Lohnarbeitsverhältnis andeutet (ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 255). Das bleibt allerdings theoretisch folgenlos und m. W. singulär. 38 Meyer kritisiert dies als Versuch, verselbständigte Dynamiken mittels einer »objek35
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Blick auf Habermas’ Geldbegriff feststellt, er führe »durch Begriffsmuster erstaunlicher Ziseliertheit, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, daß das Geld eine komplizierte, aber harmlose Einrichtung ist.« 39
›Arbeit‹ als Modell für Praxis? Zu Recht hält Moishe Postone fest, dass Habermas’ »Kritik der Marxschen Auffassung einer Synthesis durch Arbeit auf einem Verständnis von Arbeit als konkreter Arbeit überhaupt […] beruht.« 40 Marx reduziere Praxis aber nicht auf Arbeit, sondern untersuche, »wie das gesellschaftliche Leben, das in anderen Gesellschaften zwei Dimensionen ausmachen dürfte, im Kapitalismus verschmolzen ist, insofern beide Dimensionen hier durch Arbeit vermittelt werden.« 41 D. h. konkrete Arbeit hat für Marx zwar stets gesellschaftlichen Charakter. Er betont, dass die Menschen nur produzieren, »indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen […] nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur statt« (MEW 6, S. 407). Allerdings, und darauf will Postone hinaus, ist konkrete Arbeit in vorkapitalistischen Verhältnissen wesentlich normativ vermittelt, während sie in kapitalistischen vor allem durch abstrakte Arbeit vermittelt ist. Warum ignoriert Habermas dann aber diese zusätzliche gesellschaftliche Dimension der Arbeit als abstrakte Arbeit? Eine wesentliche Quelle der Unterstellung, Marx favorisiere einen weitgehend monologischen Arbeitsbegriff, ist fraglos der selektive Bezug auf unterschiedliche Ebenen der Darstellung im Kapital: Habermas’ Deutung reißt dabei Aussagen u. a. aus dem 5. Kapitel aus ihrem Zusammenhang und erklärt diese zu Marx’ sozialtheoretischer Grundlegung schlechthin. Was nicht berücksichtigt wird, ist die Tatsache, dass Marx hier bewusst die Abstraktion »des« Arbeiters konstruiert und dessen Tätigkeit in ihren »einfachen und abstrakten Momenten« (MEW 23, S. 198) betrachtet, um zu zeigen, dass es dabei um Bestimmungen geht, tivistische[n] Vernunftmetaphorik« zu erfassen (Absoluter Wert und allgemeiner Wille (s. Anm. 36), S. 235). 39 Ganßmann: Geld und Arbeit. (s. Anm. 31), S. 131. 40 Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003, S. 350. 41 A. a. O., S. 352.
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die allen menschlichen Arbeitsprozessen eigentümlich sind und die sich von der gesellschaftlichen Form unterscheiden, die der Arbeitsprozess im Kapitalismus annimmt – nämlich Verwertungsprozess des Werts zu sein. So kann Marx denn auch sagen, es sei »daher nicht nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen. Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten« (MEW 23, S. 198 f.). Aus einer methodisch bewussten Abstraktion zu schließen, hier würden bestimmte Gestalten des Arbeitsprozesses schlechterdings auf eine einsame handwerklich-künstlerische Tätigkeitsform reduziert, bedeutet also lediglich, die Abstraktionsebenen der Marx’schen Argumentation zu ignorieren. Dieter Wolf weist auf den spezifischen Charakter der Darstellungsebene des einfachen Arbeitsprozesses hin, die einerseits eine Abstraktion von allen gesellschaftlichen Aspekten vollziehe, die die Genese und Reproduktion humanspezifischer Kompetenzen (Denken, Sprache usw.) bewirken, andererseits aber keine Abstraktion von den Resultaten dieser gesellschaftlichen Prozesse beinhalten dürfe, ohne zu einer falschen Abstraktion auf »die instinktartigen Operationen von bestimmten Tieren« zu geraten: Es werde von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit abstrahiert, ohne die Denken und Sprechen nicht zu erklären seien. Dennoch wird, nachdem das geschehen ist, die übrig gebliebene Seite der gesellschaftlichen Arbeit betrachtet, »ohne in ›tierische instinktartige Vorformen der Arbeit‹ zurückzufallen«. 42 Wenn Habermas nun die »Kooperation« als »Form gesellschaftlicher Arbeit« bezeichnet, in der die Abstraktion des einfachen Arbeitsprozesses »immer schon« qua Interaktion verknüpft sei (EI 72 Fn.), so verlässt er Wolf zufolge gar nicht den Arbeitsprozess, sondern geht zum Arbeitsprozess über, der unter dem Einfluss des Kapitalverhältnisses »die auf einfacher innerbetrieblicher Arbeitsteilung beruhende Form der Kooperation erhalten« hat. 43 Mit der Kooperation erfasse man aber nicht die ganze Gesellschaftlichkeit der Arbeit, weil hier die Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung zugunsten der betrieblichen einfach ignoriert werde – und gerade bezüglich gesellschaftlicher Arbeitsteilung gehe es Marx um die synthetisierende Funktion der Arbeit als Wertsubstanz und rein gesellschaftliches Verhältnis. Wir sahen bereits, dass Habermas diese gesellschaftliche Arbeitsteilung wiederum 42 43
Wolf: Habermas’ Kritik des ›Marxschen Produktionsparadigmas‹ (s. Anm. 21), S. 25. A. a. O., S. 36.
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vom »institutionellen Rahmen«, der rein juridisch verstandenen »Eigentumsordnung« (EI 74 Fn.), abhängig machen will, während die Kooperation im kapitalbestimmten Arbeitsprozess eine bewusst kalkulierende instrumentelle Rationalität bezeuge. Wert und gesellschaftliche Synthesis qua abstrakter Arbeit bleiben auch hier unthematisiert.
Naturalistischer Reichtums- und empiristischer Arbeitsbegriff Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Habermas’ Begriff des Reichtums in seinen frühen Schriften in der Tradition einer ricardianischen Marxinterpretation (Robinson, Sweezy, Dobb, Baran u. a.) 44 steht, welche die 50er und 60er Jahre entscheidend geprägt hat. Diese reduziert, anknüpfend an einige missverständliche Passagen im Kapital, in denen in der Tat naturalistisch klingende Charakterisierungen der Wertquelle als »Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (MEW 23, S. 58, vgl. auch S. 61) zu finden sind, die sogenannte Wertsubstanz auf eine physiologische oder wenigstens empirische Größe: Marx versuche, in der Bestimmung der Wertsubstanz »realistisch zu sein, […] etwas Beobachtbares und Wichtiges«, 45 resp. »einen physiologischen Prozeß […] eine Naturbasis-Ebene« 46 zu entdecken. Diese naturalisierende und vornehmlich quantitativ orientierte Interpretation der Marx’schen Kategorien blendet erstens den qualitativen Aspekt der Frage nach Wert- und Wertsubstanz aus und rekurriert hinsichtlich der Bestimmungsgründe des Werts lediglich auf die quantitative Dimension der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeitszeit; sie lässt zweitens den inneren Zusammenhang von Wert und Wertform, resp. Geld außer acht und verhält sich drittens gegenüber der Struktur dialektischer Darstellung ökonomischer Kategorien völlig indifferent. So unterstellt auch Habermas Marx bereits 1960 eine Auffassung von Wert als »naturgeschichtliche[m] Datum« (TP2 257) und spricht von »physischer Ausbeutung« (TP2 256). Dieser naturalistisch verVgl. Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 214. Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 82003, S. 206. 46 Wolfgang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins ›Kapital‹. Berlin/Hamburg 51989, S. 113. 44 45
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engte Blickwinkel liegt auch seiner Deutung Marx’scher Aussagen in den Grundrissen als These einer Wertproduktivität der Maschinerie zugrunde: Marx, so Habermas, habe den Übergang zur automatisierten Produktion in den Grundrissen so verstanden, dass nun »die Wertschöpfung von der unmittelbar produktiven Arbeit auf Wissenschaft und Technologie übergehen wird« (TP2 258). Tatsächlich spricht Marx hier aber von der »Schöpfung des wirklichen Reichtums« im Sinne von Gebrauchswerten, der weniger abhängig werde »von der Arbeitszeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden«, während die kapitalistische Form des Reichtums nach wie vor vom »Quantum angewandter Arbeit« (MEW 42, S. 600) 47 im Rahmen des Klassenverhältnisses abhängig bleibe. Habermas arbeitet in dieser Marx-Interpretation bereits mit einem Reichtumsbegriff, der Gebrauchswert- und Wertproduktion konfundiert. Es ist kaum anders zu erklären, dass er Marx’ These aus den Grundrissen in dieser Hinsicht als »›revisionistischen‹ Gedanken« (TP2 256) auffasst. Es ist andererseits konsequent, weil es natürlich nicht einleuchtet, einer ›psychophysischen Größe‹ namens Arbeit Wertproduktivität zuzusprechen und einer anderen psychophysischen Größe, namens Technologie, nicht. 48 Die darstellungslogische Architektur des Kapital wird von HaVgl. kritisch zu Habermas’ Deutung: Wolfgang Müller: »Habermas und die Anwendbarkeit der Arbeitswerttheorie«. In: Sozialistische Politik 1 (1969), S. 39–53, hier: S. 44 ff.; Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 353 ff. 48 Gegen die These, technische und arbeitsorganisatorische Strukturen seien als solche wertproduktiv, zeigt Thomas Seidl (»Materialistische Geschichtstheorie – Ein Problemaufriß«. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (1996), S. 13–34; hier: S. 22 ff.), dass hier lediglich die stoffliche Produktivität des Kapitals mit der Wertproduktivität der Arbeit konfundiert wird. Tatsächlich gelte der Satz von Marx: »Ihre [der Arbeiter] Kooperation beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören […]. Als Kooperierende, als Glieder eines werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals. Die Produktivkraft, die der Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher Produktivkraft des Kapitals« (MEW 23, S. 352 f.). Der Synergieeffekt kombinierter Produktion wird nicht durch Selbstvergesellschaftung der Arbeiter zu einem produktiven ›Organismus‹, sondern durch das Kapital in Gang gesetzt. Die stoffliche Produktivität, die so erhöht wird – Hervorbringung von mehr Gebrauchswerten in derselben Arbeitszeit – affiziert aber »nicht den Tauschwerth unmittelbar. Ob 100 zusammen oder jeder von den 100 einzeln arbeitet, der Werth ihres Products = 100 Arbeitstagen, ob sie sich in viel oder wenig Producten darstellen, d. h. gleichgültig gegen die Productivität der Arbeit« (MEGA II/3.6, S. 2166 f.). Das nach wie vor von der durchschnittlichen Arbeitszeit der Einzelnen bestimmte Wertprodukt verteilt sich bei Kooperation also nur auf mehr 47
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bermas schließlich ebensowenig berücksichtigt wie der systematische Zusammenhang zwischen Wert und Geld, schließlich schwenkt er später auf die subjektive Werttheorie der Neoklassik um, die ebenfalls naturalistisch ist. 49 Neben diesem frühen Beleg dafür, dass Habermas »die Unterscheidung zwischen Wert und stofflichem Reichtum nicht [erfasst]« 50 und den genuin sozialen Gehalt des Begriffes abstrakter Arbeit verfehlt, ließen sich aus späteren Schriften noch viele weitere anführen. Immer wieder wird Marx vorgeworfen, »[d]ie Werttheorie […] in handlungstheoretischen Grundbegriffen« durchzuführen, »die dazu nötigen, die Genese der Verdinglichung unterhalb der Ebene der Interaktion anzusetzen« (TkH II 504), »Handlung nur als produktiv-gegenständliche Tätigkeit verstehen« zu können (G. Lohmann zit. ebd.). »Die Produktion bildet«, so Habermas, aber »lediglich einen Gegenstand oder einen Inhalt für normative Regelungen« (DM 101), kann deren soziale Dimension nicht erfassen. Wie unspezifisch Habermas’ Umgang mit Marx’schen Kategorien ist, zeigt auch seine Behauptung aus der Neuen Unübersichtlichkeit, »[d]ie Klassiker der Gesellschaftstheorie von Marx bis Weber« seien »sich darin einig, daß die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft durch abstrakte Arbeit […] geprägt ist« 51. Dass Weber einen dem Marx’schen auch nur annähernd ähnelnden Begriff abstrakter Arbeit formuliert habe, ist allerdings nur dann sinnvoll zu behaupten, wenn man, wie Habermas, abstrakte Arbeit als eine besondere Form konkreter Arbeit versteht. Insgesamt macht Habermas’ Rekurs auf die Marx’sche Begrifflichkeit in seinen Spätschriften zunehmend den Eindruck hochgradiger Beliebigkeit. Was soll zum BeiProdukte, wächst aber nicht an, solange die Arbeitszeit nicht verlängert oder die Arbeitsintensität nicht vergrößert wird. So erhöht die kapitalbestimmte Kooperation der Arbeiter die stoffliche Produktivität, ohne mehr Wert hervorzubringen. Die Steigerung der Produktivkräfte durch arbeitsorganisatorische oder technische Innovationen tastet keineswegs die quantitativen Grenzen der Wertbildung – Arbeiteranzahl, Arbeitszeit und -intensität – an, sie umgeht diese Grenzen durch den Prozess relativer Mehrwertproduktion. Die Aufteilung der Arbeitszeit in notwendige und Mehrarbeit ermöglicht, in Verbindung mit der sich auf die Konsumtionsmittel der Arbeitskräfte auswirkenden Produktivkraftsteigerung, eine quantitative Ausdehnung der Verwertung ohne Vergrößerung des Wertprodukts. Es ist also der gebrauchswertproduktive Charakter des Kapitals, der den Schein seiner Wertproduktivität hervorbringt. 49 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), Kap. 2. 50 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 354. 51 Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 145.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
spiel »abstrakte […] Arbeitskraft« (TkH II 494) sein? Meint er dequalifizierte Arbeitskraft, wie Marx noch in der Einleitung zu den Grundrissen nahelegt? Aber auch diese ist nicht abstrakt und niemals Arbeit schlechthin im werttheoretischen Sinne. 52 Auch der These, der Tauschwert sei die Erscheinungsform des Gebrauchswerts (TkH I 477), ist im Rahmen der Marx’schen Theorie keinerlei Sinn abzugewinnen, und einen alternativen bietet Habermas nicht an. Dass schließlich »monetarisierte […] Arbeitskraft« von »Marx ›abstrakte Arbeit‹« genannt werde (TkH II 493), ist schlichtweg falsch. Allein dass Arbeitskraft und Arbeit hier zusammengezogen werden, läßt die zunehmende Tendenz zu einem regellosen Sprachspiel erkennen, in das Habermas sich im Zuge seiner Marxaneignung verstrickt. Einem rein empirischen Arbeitsbegriff verhaftet bleibt schließlich auch die Diagnose einer »Abwertung der lebensweltlichen Relevanz der Arbeit« (VE 485). »Das Produktionsparadigma« so Habermas, »gibt dem Praxisbegriff eine so klare empirische Bedeutung, daß sich die Frage stellt, ob es mit dem historisch absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft seine Plausibilität verliert« (DM 99). Hier ist also der Ort der soziologischen Kritik des Produktionsparadigmas, die Habermas durch Hinweise auf einen Vortrag von Claus Offe aus dem Jahr 1982 andeutet. Dessen Beobachtungen zum Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft stellen zwar primitive Formen des Arbeiterbewegungsmarxismus durchaus in Frage. Doch Offe kann nur glauben, die Erodierung homogener Industriearbeitermilieus oder die Auflösung kontinuierlicher Arbeitsbiographien, das Aufkommen neuer sozialer Konfliktlinien jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses und die Ausdehnung staatlicher Tätigkeiten zur Sicherung allgemeiner Produktionsbedingungen berührten die Ebene der Marx’schen Kapitalanalyse, weil er den Arbeitsbegriff des Produktionsparadigmas auf eine besondere Sorte konkreter Arbeit und spezifische Muster der Organisation des Arbeitsprozesses, nämlich eine spezifische Ausprägung proletarischer Fabrikarbeit, reduziert, die die Lebensverhältnisse vor allem des Kapitalismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert geprägt hätten. Die »in der Arbeitssphäre gemachte Erfahrung und die dort angetroffenen Verhältnisse« 53 sind gemeint, wenn Offe die These vertritt, dass Vgl. dazu Wolf: Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den ›Grundrissen‹ (s. Anm. 3). 53 Claus Offe: »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«. In: Joachim Matthes 52
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die »Produktions- und Arbeitssphäre ihre struktur- und entwicklungsbestimmende Potenz« 54 verliere und eine »Differenzierung innerhalb des Arbeitsbegriffs« 55 zu verzeichnen sei. Er reduziert den Marx’schen Begriff der Arbeit auf die Sphäre unmittelbarer betrieblicher Arbeitsprozesse und die dort vorherrschenden Formen von »technisch-organisatorischer Produktivität«, 56 um die Zunahme funktional unverzichtbarer, vor allem staatlicher »Dienstleistungsarbeit« als Sprengung des Marx’schen Begriffsspektrums zu präsentieren. Hier trete nämlich eine anhand »ökonomisch-strategischer Rationalitätsmaßstäbe« 57 nichtnormierbare, »aus der unmittelbaren Disziplin erwerbsgesellschaftlicher Rationalität und der ihr entsprechenden Leistungs- und Produktivitätskontrolle jedenfalls partiell entlassen[e]« normengeleitete Praxis zu Tage, die zudem Quelle postmaterialistischer Wertorientierungen sei und einen »unverzichtbaren Fremdkörper« 58 im System kapitalistischer Reproduktion darstelle. Offe stellt sich die Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung – Marx zufolge eine »objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewaltsam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht« – als die »subjektive Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten« (MEW 13, S. 45) bzw. als bewusst in Zeit gemessene konkrete Arbeit mit ihrem Kriterium »effizienten Herstellens« 59 innerhalb der betrieblichen Sphäre vor. 60 (Hrsg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt a. M./New York 1983, S. 38–65, hier: S. 41. 54 A. a. O., S. 43 f. 55 A. a. O., S. 48. 56 A. a. O., S. 47. 57 A. a. O., S. 48. 58 A. a. O., S. 49. 59 Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? (s. Anm. 53), S. 50. 60 Parallel zu dieser Subjektivierung Marx’scher Kategorien wird der Klassenbegriff auf das empirische Konzept der sozialen Klasse, auf »in der Arbeit gemachte Erfahrungen« und Konflikte reduziert (a. a. O., S. 42). Ein Argument gegen die Klassentheorie sieht Offe darin, »daß sozialökonomischer Status und die in diesen Indikator eingehenden Einzelvariablen immer weniger geeignet sind, Wahlentscheidungen vorauszusagen.« (ebd.). Sven Ellmers zufolge können solche Cluster von empirischen »Einzelvariablen« den formanalytischen Klassenbegriff von Marx nicht treffen, denn dieser ist Element einer Konstitutionsanalyse sozialformationsspezifischer Reichtumsgestalten (Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur ›neuen Marx-Lektüre‹. Duisburg 2007, S. 47). Er dient zur Erklärung derjenigen sozialen Verhältnisse, die das Wesen des Kapitalismus ausmachen. Dagegen erfasst die empirische Sozialstrukturanalyse nur asymmetrische Reichtumsverteilungen auf der vorausgesetzten Grundlage der
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
Daher sei es der »quantitativ schwer bestimmbare […] Umfang […]« 61 der Leistungen, die die staatlichen Dienstleistungs-, Überwachungsund Reproduktionstätigkeiten auszeichnen, die ihre Fremdkörperfunktion ausmachen und an die zumindest Habermas offenbar emanzipatorische Hoffnungen geknüpft hat. 62
Schluss Aufgrund der wenigen mir hier zur Verfügung stehenden Seiten ist es unmöglich, in auch nur entfernt angemessener Weise zu zeigen, dass Produktion und Arbeit bei Marx im Gegensatz zur Habermas’schen Deutung zweidimensionale Kategorien darstellen, die sehr wohl neben dem Inhalt normativer Regelungen selbst eine Form gesellschaftlicher Einheit im Kapitalismus darstellen. 63 Es müssen daher wenige Bemerkungen genügen. Arbeit hat Marx zufolge in allen arbeitsteiligen Produktionsweisen die Funktion der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, aber nur unter privat-arbeitsteiligen Bedingungen, die systematische Wert-, Geld- und Kapitalform. Zudem ist der Inhalt des empirischen Klassenkonzepts elastisch, da weder die in die Klassenbildung einzubeziehenden Ungleichheitsdimensionen, noch deren quantitativer Aspekt als Grenzwert der vertikalen Unterscheidung zwischen Klassen eindeutig von den empirischen Verhältnissen festgelegt ist. Dagegen ist der formanalytische Klassenbegriff durch die »Theorieanlage alternativlos vorgegeben, da eine weitergehende Ausfächerung sozialer Klassen zu einer Konfundierung von kapitalistischer Kernstruktur und einer bestimmten kapitalistischen Entwicklungsphase führen würde« (a. a. O., S. 54). Für diese Differenz fehlt dem soziologischen Empirismus von Offe/Habermas jegliches Sensorium. 61 Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? (s. Anm. 53), S. 47. Damit wird die Gültigkeit werttheoretischer Aussagen auf die Beschreibung von mit der Stoppuhr und in Stückzahlen messbaren konkreten, manuellen Arbeiten begrenzt und rein gesellschaftliche Relationen, wie die Wertproduktivität von Arbeiten, auf ihre stofflichen Träger reduziert. 62 Vgl. u. a. TkH II 581 ff.; Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 155 ff.; FG 443 ff. 63 Habermas und seine Schule haben diese seit Jahrzehnten bekannte Kritik ignoriert. Wer dies nicht nachahmen will, sei zur Entwicklung eines adäquaten Begriffs abstrakter Arbeit u. a. auf folgende Texte verwiesen: Wolf: Ware und Geld. Der dialektische Widerspruch im Kapital. Hamburg 1985; Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), S. 206–214; zusammenfassend: Ingo Elbe: »Soziale Form und Geschichte. Der Gegenstand des Kapital aus der Perspektive neuerer Marx-Lektüren«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 221–240.
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Tauschverhältnisse implizieren, kommt ihr die zusätzliche gesellschaftliche Funktion zu, einen sozialen Zusammenhang zu stiften. Die Privatarbeiten »befriedigen [hier] […] nur die mannigfachen Bedürfnisse ihrer eignen Produzenten, sofern jede besondre nützliche Privatarbeit mit jeder andren nützlichen Privatarbeit austauschbar ist, also ihr gleichgilt« (MEW 23, S. 87). Die Arbeit des Produzenten erhält einen Doppelcharakter: »einerseits ist sie eine spezifische Art der Arbeit, die besondere Produkte für Andere produziert« – was den gesellschaftlichen Charakter konkreter Arbeit ausmacht – andererseits »dient Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Produzenten als Mittel, die Produkte Anderer zu erwerben.« 64 Diese Funktion kann sie nicht in ihrer konkreten Gestalt ausüben, sondern nur in ihrer Eigenschaft, Arbeit schlechthin zu sein – als abstrakte Arbeit. Wir haben es demnach im Kapitalismus mit dem Sachverhalt der Vergesellschaftung von (konkreter) Arbeit durch (abstrakte) Arbeit zu tun. In allen vorhergehenden Produktionsweisen sind die Arbeiten und Produkte hingegen nur als »qualitativ besondere bestimmt« 65 und sind als solche, in ihrer Naturalform, auf Grundlage spezifischer Interaktionstypen gesellschaftlich anerkannt. 66 Stofflicher Reichtum als Resultat konkreter Arbeit konstituiert demnach als solcher auch für Marx keinen sozialen Zusammenhang. 67 Es ist aber »der gesellschaftliche Zusammenhang, worin die Menschen sich ihre Arbeiten wechselseitig als gesellschaftlich verausgabte anerkennen«, 68 und in vorkapitalistischen Produktionsweisen ist dieser Zusammenhang dabei den Arbeiten vorausgesetzt – ganz im Habermas’schen Sinne eines ›institutionellen Rahmens zwingender Normen‹. Den Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit gibt es zwar in allen Gemeinwesen und zwar als vom theoretischen Betrachter gedanklich fixierbare Eigenschaft aller konkreten Arbeiten, auch menschliche Arbeit schlechthin zu sein. 69 Erst in verallgemeinerten privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen erhält abstrakte Arbeit aber die Funktion, gesellschaftlich-allgemeine Form der konkreten Arbeiten und erst damit Wertsubstanz zu sein: es ist Marx zufolge »nur 64 65 66 67 68 69
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 231. A. a. O., S. 233. Vgl. a. a. O., S. 233. Vgl. a. a. O., S. 239. Wolf: Ware und Geld (s. Anm. 63), S. 67. Vgl. a. a. O., S. 47.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig […], daß […] der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt« (MEW 23, S. 88). 70 Damit wird der abstrakten Arbeit eine Eigenständigkeit zuteil, die sonst »nur dem von ihr verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhang zukommt«, 71 und unterscheiden sich konkrete und abstrakte Arbeit schließlich wie zwei unterschiedliche Entitäten voneinander. 72 Es konnte hier nur angedeutet werden, dass Habermas den Marx’schen Begriff des Doppelcharakters der Arbeit systematisch verfehlt und ihm für die werttheoretische Ebene des Marx’schen Werks der kategoriale Zugang fehlt. Die versachlichte oder entfremdete Form der Anerkennung der konkreten Arbeiten unter privat-arbeitsteiligen Produktionsbedingungen, die mittels abstrakter Arbeit stattfindet, fällt bei ihm zwischen symbolischem Interaktionismus, ricardianischem Naturalismus und später der systemtheoretisch-neoklassischen Theorieanlage hindurch. Abstrakte Arbeit und Wert stellen bei Marx aber keine Produkte konkreter Arbeit in Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur dar, sie stehen für die gesellschaftliche Einheit der Arbeiten (und Produkte) unter Bedingung und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation als Privatarbeiten (und -produkte). 73 Wertgegenständlichkeit kommt den Waren nur innerhalb dieses spezifisch gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen zu, ist eine relationale Eigenschaft, denn kein Gut ist nach Marx für sich allein Ware, »keines für sich solche Werthgegenständlichkeit […]. Diese gesellschaftliche Gegenständlichkeit besitzen sie […] nur als gesellschaftliche Beziehung«. 74 Wert ist Bezug der Arbeitsprodukte als Produkte menschlicher Arbeit schlechthin aufeinander im Tausch – einer historisch bestimmten Form der Vermittlung von Arbeiten, die erst im Kapitalismus allgemeine Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels wird. Wert ist sachlich vermitteltes, sich in Sachen darstellendes und als natürliche Hervorhebung von mir. Wolf: Ware und Geld (s. Anm. 63), S. 317. 72 Vgl. ebd. 73 »Als Gebrauchswerthe oder Güter sind die Waaren körperlich verschiedne Dinge. Ihr Werthsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft« (MEGA II/5, S. 19). 74 MEGA II/6, S. 30. Vgl. auch MEGA II/7, S. 55. 70 71
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Ingo Elbe
Sacheigenschaft verkanntes gesellschaftliches Verhältnis von Privatarbeiten, das bereits in seiner sachlichen Repräsentationsform (Geld) die strukturell gewaltsame Trennung der Menschen von den Gegenständen ihrer Bedürfnisse sowie die Möglichkeit der Krise impliziert und sich im Kapital zum Zweck materieller Reproduktion verselbständigt. Diese der Kontrolle der Menschen entzogene, sachlich-anonyme Form 75 der Vergesellschaftung ihrer Arbeiten geht nicht in normativen Relationen oder technisch-utilitären Objektbezügen auf. Es ist daher ein Rückschritt hinter die Marx’schen Einsichten in die Natur des Kapitalismus, wenn Habermas ökonomische Herrschaft auf normative Rollenzuweisungen reduziert und verselbständigte Reichtumsformen wie Geld und Kapital als neutrale Formen sozialer Einheit konzipiert.
Ökonomische Gegenständlichkeit wird von Marx als historisch spezifisches Verhältnis gedeutet, ohne den Verdinglichungen der volkswirtschaftlichen Theoriebildung oder den differenzierungstheoretischen Neutralisierungen der Systemtheorie zu folgen – ›Wirtschaft‹ wird von ihm als herrschaftlich verfasste Gesellschaft gedacht. Marx verfällt aber nicht in einen symbolischen Interaktionismus, der gesellschaftliche Formen lediglich als Normenkomplexe fasst. Die ökonomischen Formen, so Ulrich Krause, stellen »weder eine Beziehung zwischen Dingen und Subjekten (wie in der subjektiven Werttheorie), noch zwischen Subjekten (wie in Macht- und Handlungstheorien)« dar (»Die Logik der Wertform«. In: Mehrwert. Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie 13 (1977), S. 141–164, hier: S. 148). Marx begreift, dass moderne Produktionsverhältnisse keine bloß sachlich verschleierten interpersonalen Verhältnisse darstellen oder letztlich auf die Herrschaft von Normen zurückführbar sind. »Die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Arbeiten«, so seine lange ignorierte Erkenntnis, »sind und erscheinen daher nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten, sondern als sachliche Verhältnisse der Personen oder gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.« (MEGA II/5, S. 47). Das Kapital bringt einen Typus von anonymer Herrschaft hervor, dessen Kennzeichen nicht in der Unterordnung des Willens einer Person unter den einer anderen besteht. Dieser Herrschaftstyp ist nicht vornehmlich einer des ›gezwungen Werdens durch Akteure‹, sondern des ›gezwungen Seins‹, ohne dass dieser Zwang einer der ersten Natur wäre. Der Kapitalismus ist Marx zufolge eine Gesellschaftsformation, die eine Unterordnung der Willen und Zwecke aller Akteure unter den Akkumulationsimperativ bedingt, der ›Produktion um der Produktion willen‹ erfordert; er läßt »den Kapitalisten von einer andren Seite ganz ebenso sehr unter der Knechtschaft des Capitalverhältnisses erscheinen […] als den Arbeiter.« (MEGA II/4.1, S. 65).
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Entgegnung von Jürgen Habermas Zunächst möchte ich Ingo Elbe dafür danken, dass er einen frischen kritischen Ton in unsere Diskussion hereinbringt, denn die Philosophie verträgt nichts weniger als eine adorierende Haltung. Andererseits betrachte ich seine Kritik als Erlaubnis für eine kurze Metakritik. Was uns beide unterscheidet, ist in erster Linie ein Stil des Umgangs mit dem verzweigten Marx’schen Werk. Entweder man will Probleme lösen und schaut nach, was aus Marx für die Problemlösungen taugt, oder man verfällt einer – leider in Deutschland sehr verbreiteten – historisierenden Manier des Umgangs mit philosophischen Klassikern. Die Absicht, Marx durch Interpretation – und nur durch Interpretation – zu neuem Leben zu erwecken, ist wie ich glaube das Letzte, was dem Marx’schen Selbstverständnis angemessen ist. Der Vortrag erweckt den Eindruck, als wäre der Autor mit einem Suchprogramm durch meine Arbeiten hindurchgebraust, um alle Marx-Zitate bis zum Jahre 1982 herauszusuchen und nachzusehen, wie sich meine Kritik zu einer bestimmten, für orthodox gehaltenen Interpretation der Marx’schen Politischen Ökonomie verhält. Dieses schematische Verfahren verschleiert die verschiedenen Kontexte, in denen ich mich jeweils unter verschiedenen Fragestellungen auf verschiedene Teile der Marx’schen Theorie bezogen habe. Es hätte eines Minimums an hermeneutischer Anstrengung bedurft, um zu überlegen, ob im jeweiligen Kontext – sei es beispielsweise im erkenntnistheoretischen Kontext von Erkenntnis und Interesse oder im Zusammenhang einer Analyse der Krisentendenzen eines durch korporatistischen Staatsinterventionismus völlig veränderten Kapitalismus oder im abschließenden Kapitel der Theorie des kommunikativen Handelns – meine Rekurse auf ganz spezielle Begriffe und Theoreme von Marx passen oder danebengreifen. Wenn man ein systematisches Interesse verfolgt, würde doch eine kontextblinde Marx-Apologetik nur unter der Prämisse der Unfehlbarkeit dieses Autors sinnvoll sein. Marx nennen wir wie Adam Smith oder Hegel einen Klassiker, weil wir trotz des Zeitenabstandes und unter anderen historischen Bedingungen noch etwas von ihnen lernen können. Aber dieses »Etwas« sind Gedanken und Argumente, die man aus ihrem Entstehungskontext lösen muss, um sie auf einem anderen Forschungsstand für unseren Kontext nutzen zu können. Denn für Philosophie und Gesell151 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Ingo Elbe
schaftstheorie gilt erst recht, dass die alltäglichen Evidenzen der Lebenswelt eines Autors auch Einfluss haben auf dessen Theoriebildung. Anhand der Lektüre von Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse in England kann man sich z. B. vergewissern, in welcher zeitgenössischen Umgebung Marx seine Theorie entwickelt hat. Und wie extrem verschieden die kapitalistischen Gesellschaften des Westens nach dem 2. Weltkrieg auf ihrem Wege von einer Arbeits- zu einer Dienstleistungs- und schließlich zu einer Kommunikationsgesellschaft gewesen sind. Diese Überlegung berührt natürlich nicht die Korrektheit oder Falschheit von Textinterpretationen. Es ist das gute Recht eines Kritikers, mir Interpretationsfehler nachzuweisen. Aber zum hermeneutischen Handwerk gehört es eben auch, die Interpretationsarbeit eines Autors auf dessen Fragestellung zu beziehen. Die normale Einstellung, die man gegenüber Marx als dem Anfang einer kritischen Forschungstradition von mehr als anderthalb Jahrhunderten einnimmt, wenn man aus dieser Anregungen für die eigene Arbeit schöpfen möchte, scheint Ingo Elbe fremd zu sein. Sonst hätte er meinen Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas im Philosophischen Diskurs der Moderne als das verstehen müssen, als was ich ihn ausdrücklich – sofort im ersten Absatz – deklariert habe, nämlich als die Auseinandersetzung nicht mit Marx, sondern mit einer auf den frühen Marcuse zurückgehenden praxisphilosophischen Auslegung des Historischen Materialismus, die seinerzeit in Ungarn und Jugoslawien in verschiedenen Varianten verbreitet war. In diesem Text handelt es sich nicht um den im Kapital entwickelten Kern der Marx’schen Werttheorie. Tatsächlich habe ich mich seit 1960, nämlich seit dem in Theorie und Praxis enthaltenen Vortrag über »Marxismus als Kritik«, mit diesem Thema nur noch kursorisch beschäftigt, weil mich das Theorem – obwohl es ein Herzstück der ganzen Theorie ist – nie überzeugt hat. Aber die Grundannahmen des Historischen Materialismus sind davon ganz unabhängig. Ingo Elbes hermeneutische Anstrengung ist komisch und erzeugt skurrile Effekte, weil er so tut, als ginge es mir – sei es bei meinem Rekurs auf erkenntnisanthropologische Annahmen im Kontext einer »Vorgeschichte des Positivismus« in Erkenntnis und Interesse, oder bei der Bezugnahme auf handlungstheoretische Grundbegriffe in meinen ersten Versuchen zu einer Theorie des kommunikativen Handelns in Technik und Wissenschaft als Ideologie, oder bei der Entwicklung eines kategorialen Rahmens für Krisentendenzen des Kapitalismus in 152 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Ingo Elbe
den Legitimationsproblemen – immer um dasselbe. In diesem Fall ist es nur der Kritiker, dem es obsessiv immer um dasselbe geht: Er möchte mir ein Missverständnis des Fetischcharakters der Ware und jener Art von »Wertformanalyse« aus den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nachweisen, die ich tatsächlich nur im Vorbeigehen zur Kenntnis genommen habe.
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Smail Rapic
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus – Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes aus dem Jahre 1973
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Die zeitdiagnostische und gesellschaftstheoretische Relevanz von Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
»Krisen wird man immer sehen, wenn man mit der Doppelbrille von Sollwerten und historischem Bewusstsein auf sie blickt. Das braucht die Zeitgenossen weder zu ängstigen noch zu aktivieren.« Mit dieser Bemerkung quittierte Niklas Luhmann Habermas’ Diagnose sozioökonomischer und sozialpolitischer Krisentendenzen der westlichen Gesellschaften in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 1 Zu Beginn der 1970er-Jahre geriet die Weltwirtschaft in eine Phase der Stagnation; die wachsende Arbeitslosigkeit wurde zu einem gesellschaftlichen Unruheherd. Luhmann sah hierin lediglich eine vorübergehende Abschwächung der kapitalistischen Prosperität. Für ihn sprach aus Habermas’ These, in ökonomischen Krisenzeiten beschädige die ungleiche Reichtumsverteilung kapitalistischer Gesellschaften deren Legitimationsbasis (LS 44 ff.), die illusorische Hoffnung eines Sozialromantikers darauf, dass sich der Kapitalismus früher oder später – wie Marx und Engels prophezeit hatten – selbst zerstören und dadurch Platz für die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft schaffen werde. Drei Jahrzehnte später waren es jedoch die westlichen Regierungen und Wirtschaftsführer selber, die die Bürger mit der Vision eines Kollapses des kapitalistischen Systems ängstigten. Die folgenden Sätze aus Habermas’ Zur Verfassung Europas (2011) konstatieren einen empirischen Befund: »Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte im Herbst 2008 das Rückgrat des finanzmarktgetriebenen Weltwirtschaftssystems nur noch Niklas Luhmann: »Soziologie der Moral«. In: ders. Luhmann/Stephan H. Pfürtner (Hrsg.): Soziologie der Moral. Frankfurt a. M. 1978, S. 8–116, hier: S. 38.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
mit den Garantien der Steuerzahler vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Und diese Tatsache, dass sich der Kapitalismus nicht mehr aus eigener Kraft reproduzieren kann, hat sich seitdem im Bewusstsein der Staatsbürger festgesetzt, die als Steuerbürger für das ›Systemversagen‹ haften müssen.« 2
Habermas vertritt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus die These, dass kapitalistische Gesellschaften »Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen« können (LS 63). Er weist zugleich auf die ökologischen Schranken des mit der Industriellen Revolution einsetzenden, auf den Verbrauch fossiler Ressourcen gestützten Wirtschaftswachstums hin; hierbei nennt er an erster Stelle die globale Erwärmung (LS 62 f.). Wenn es zutrifft, dass das Wirtschaftswachstum das Lebenselement des Kapitalismus bildet, wird dieser in seinen Grundfesten erschüttert, sobald die ökonomische Dynamik an unüberschreitbare ökologische Grenzen stößt. Wann diese Grenzen erreicht sein werden, lässt Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus offen (vgl. LS 60). Seit den 1990er-Jahren weisen die Fachwissenschaftler mit zunehmender Dringlichkeit darauf hin, dass eine Klimakatastrophe nur durch erhebliche Einsparungen beim Energieverbrauch abgewendet werden kann. Im selben Zeitraum vollzog sich infolge des Zusammenbruchs des »real existierenden Sozialismus« in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten ein Globalisierungsschub des Kapitalismus in seiner – seit den 1980er-Jahren dominierenden – neoliberalen Variante, die Wachstumskräfte des Marktes durch den Abbau staatlicher Regulierung freisetzen will. Dass der westliche Kapitalismus nur zwei Jahrzehnte nach seinem vermeintlich säkularen Sieg über seinen osteuropäischen Konkurrenten selber in eine Systemkrise geraten ist, verleiht angesichts der inzwischen unübersehbaren Wachstumsgrenzen der Frage nach den »Chancen« seiner »Selbsttransformation« und damit der Perspektive einer »nachkapitalistische[n] Gesellschaftsformation«, in die Habermas’ Zeitdiagnose 1973 einmündete (LS 60, 49), neue Aktualität (s. u. Abschnitt 2). Die Theoriestruktur der Gesellschaftsanalyse in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus nimmt in Habermas’ Werkgeschichte einen exponierten Platz ein. In diesem Buch wird die methodische Doppelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher TeilnehJürgen Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«. In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117.
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Smail Rapic
merperspektive, die für die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) grundlegend ist und bereits in Habermas’ Beitrag für die Adorno-Festschrift (1963) programmatisch skizziert wird, erstmals konkret ausgestaltet (LS 9 ff.). 3 In Bezug auf die Aufgabenstellung einer kritischen Gesellschaftstheorie besteht zwischen Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus und der Theorie des kommunikativen Handelns allerdings eine wesentliche Differenz: Während Habermas 1973 dazu auffordert, den »ideologische[n] Kern« der kapitalistischen Gesellschaftsformation, der in sozioökonomischen Systemkrisen angreifbar werde, durch Reflexion zu zertrümmern – womit er seine Konzeption einer ideologiekritischen Gesellschaftstheorie in Erkenntnis und Interesse (1968) fortschreibt – (LS 48, vgl. EI 85 f.), vertritt er ein Jahrzehnt später die These, die »Kommunikationsstruktur der entwickelten Moderne«, die durch fortschreitende Rationalisierungsprozesse geprägt sei, berge »keine Nischen mehr für die strukturelle Gewalt von Ideologien« (TkH II 520): An die Stelle des »falschen« sei inzwischen das »fragmentierte Bewusstsein« getreten (TkH II 522); die kritische Gesellschaftstheorie solle daher in erster Linie die »Verarmung und Fragmentierung« der Alltagskommunikation infolge der zunehmend undurchdringlichen Komplexität der Globalzivilisation und der »elitäre[n] Abspaltung der Expertenkulturen« von öffentlichen Diskursen zum Thema machen (TkH II 232 f., 488, 522). Diese Umakzentuierung der Kernaufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie geht mit einer Neubewertung der marxistischen Tradition einher. Die Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive im Abriss der historischen Evolution von Gesellschaftsformationen im Anfangsteil von Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (LS 9–41) ist ein Beitrag zur »Rekonstruktion des Historischen Materialismus«, der Habermas in seiner gleichnamigen Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1976 eine SchlüsselIn der Adorno-Festschrift plädiert Habermas dafür, die Vorgehensweise »kausalanalytischer Wissenschaft« mit einer »Hermeneutik der sozialen Lebenswelt« zu verknüpfen (Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Max Horkheimer (Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1963, S. 473–501, hier: S. 476, 481). Mit dieser Forderung macht Habermas Husserls Entgegensetzung von »naturalistischer« und »personalistischer Einstellung« für die Gesellschaftstheorie fruchtbar (vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (= Husserliana, Bd. IV). Den Haag 1952, S. 173 ff., 180, 281). 3
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
rolle für seine Gesellschaftstheorie zuerkennt. 4 In der Theorie des kommunikativen Handelns wird die Skizze der sozialen Evolution in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus weiter ausgeführt, wobei der Historische Materialismus jedoch in den Hintergrund tritt. Habermas erhebt nun fundamentale Einwände gegen die Analyse der Warenform in Marx’ Kapital, die in den Legitimationsproblemen noch ein Kernelement seiner Darstellung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bildet (TkH II 498–504, vgl. LS 36–49). 5 In methodischer Hinsicht wirft Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns Marx vor, er zwinge in seiner Analyse der Warenform Beobachter- und Teilnehmerperspektive durch einen inadäquaten, der Hegel’schen Logik entnommenen kategorialen Rahmen zusammen (TkH II 498, 501). Zentrale inhaltliche Kritikpunkte lauten, dass im Kapital (1) aufgrund einer »ökonomistisch verkürzten Interpretation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften« deren evolutionärer Eigenwert im neuzeitlichen Rationalisierungsprozess ausgeblendet und (2) die Rolle des Privateigentums bei der Herausbildung der spezifisch modernen Herrschaftsstrukturen überschätzt werde: Max Weber habe Recht darin behalten, »dass die Abschaffung des Privatkapitalismus […] keineswegs ein Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit bedeuten würde.« (TkH II 499 f., 504) 6 Dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns aus seinem Konzept einer zweistufigen, Beobachter- und Teilnehmerperspektive miteinander verschränkenden Gesellschaftstheorie, das in den 1970er-Jahren ein Kernelement seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus bildete, einen kritischen Vorbehalt gegen die Analyse der Warenform im Kapital ableitet, wobei er diese nicht länger – zumindest nirgends explizit – in den Historischen Materialismus einordnet, gibt Anlass zu der Frage, in welchem Verhältnis beide Kernstücke des Marxismus zueinander stehen. Es ist aufschlussreich, dass Habermas in der Theorie Vgl. RHM 129: »Den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus möchte ich mir zu eigen machen.« Der Sammelband Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus enthält eine thesenhafte Zusammenfassung von Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (RHM 304–325). 5 Habermas’ Kritik an Marx’ Kapital in der Theorie des kommunikativen Handelns kann im vorliegenden Beitrag nicht umfassend dargestellt werden. Im Vordergrund stehen diejenigen Aspekte, in denen eine Neubewertung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie zum Ausdruck kommt. 6 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51972, S. 835. 4
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Smail Rapic
des kommunikativen Handelns anerkennend auf Georg Lohmanns Aufsatz »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab. Überlegungen zu Marx« Bezug nimmt (TkH II 494, 497 f. u. ö.): Lohmann wendet sich dort gegen Habermas’ Charakterisierung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie als einer »Teiltheorie« des Historischen Materialismus im Sammelband von 1976 (RHM 144) und wirft zugleich Marx vor, im Kapital »keinen systematischen Begriffsrahmen« für eine normative Kritik der kapitalistischen Ökonomie zu entwickeln; 7 hiermit konstatiert er – wie Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns – einen ökonomistisch verkürzten Blickwinkel auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Kapital. In Abschnitt 3 des vorliegenden Beitrags wird die selbstreflexive Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus nachgezeichnet. In Abschnitt 4 soll (wenn auch nur umrisshaft) gezeigt werden, dass die Theoriestruktur dieses Buches einen Interpretationsschlüssel für die Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus in den Frühschriften von Marx und Engels enthält. In Abschnitt 5 wird – im Anschluss an Lohmann – dafür argumentiert, dass Marx’ Kritik der politischen Ökonomie nicht als Teiltheorie des Historischen Materialismus aufgefasst werden kann. Dies steht mit der sog. »neuen Marx-Lektüre«, die im Umkreis Horkheimers und Adornos initiiert wurde, in Einklang. 8 In Abschnitt 5 soll aber zugleich versucht werden, die Metakritik, die Michael Heinrich und Moishe Postone auf der Basis der »neuen MarxLektüre« an Habermas’ und Lohmanns Vorwurf einer ökonomistisch verkürzten Sicht der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im Kapital geübt haben, zu entkräften. 9
Georg Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab. Überlegungen zu Marx«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität (Theorien des historischen Materialismus 2). Frankfurt a. M. 1980, S. 234–299, hier: S. 235 ff., 281. 8 Vgl. Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik. Freiburg 22011, S. 258–266; Ingo Elbe: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Berlin 22010, S. 18 ff., 184– 227. 9 Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Münster 5 2011, S. 378 f.; Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003, S. 268–293. 7
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
2.
Die Grenzen der kapitalistischen Wachstumsdynamik
Habermas bestimmt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital als das Organisationsprinzip des Kapitalismus, wobei er im Anschluss an Marx’ Kapital in der zum Selbstzweck gewordenen und daher unersättlichen Kapitalakkumulation das Movens der kapitalistischen Dynamik sieht (LS 36 ff., 63). Die These dieses Buches, dass Imperative der Wachstumsbegrenzung die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems in Frage stellen, lässt sich allerdings auch unabhängig von Marx’ Kapital begründen. Adam Smith weist im Wohlstand der Nationen darauf hin, dass in Zeiten ökonomischer Stagnation bzw. Rezession die Unternehmer die Löhne – unter Umständen bis auf das Existenzminimum – herabdrücken können, da die Lohnabhängigen aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit gezwungen sind, jede angebotene Arbeit anzunehmen. 10 In Zeiten der Prosperität können die Arbeiter und Angestellten dagegen aufgrund des wachsenden Bedarfs nach Arbeitskräften Lohnerhöhungen durchsetzen, sofern es den Unternehmen nicht gelingt, menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Hegel betont in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass sich die sozialen Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft in wirtschaftlichen Krisenzeiten in »gefährlichen Zuckungen« entladen und hierdurch eine sozioökonomische Intervention des Staates unabdingbar machen können (§ 236 A). 11 Das marktwirtschaftliche Organisationsprinzip des freien Spiels der ökonomischen Kräfte lässt sich somit nur bei fortschreitendem Wirtschaftswachstum bruchlos aufrechterhalten. Der im 19. Jahrhundert etablierte Liberalkapitalismus wurde nach der Großen Depression von 1929–1932 von einem staatlich geregelten abgelöst. Mit der Applikation des Ausdrucks »Spätkapitalismus« auf diese Wirtschaftsform, in der »der interventionistische Staat in die wachsenden Funktionslücken des Marktes einspringt«, ohne den Privatbesitz an Produktionsmitteln in Frage zu stellen, macht Habermas zunächst darauf aufmerksam, dass ein solches Wirtschaftssystem die kapitalistische Organisationsstruktur nicht mehr in ursprünglicher, Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Übers. von H. C. Recktenwald. München 1974, S. 62. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1969–78. Bd. 7, S. 385. 10
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»klassische[r]« Gestalt bewahrt (LS 50 f., RHM 306); er weist zugleich darauf hin, dass stabilisierende Eingriffe des Staates in die kapitalistische Wirtschaft angesichts der ökologischen Wachstumsschranken eine fundamentale Systemkrise nur hinausschieben, nicht dauerhaft abwenden können. Dass eine solche Systemkrise 2008 ausgebrochen ist, hebt Habermas in Zur Verfassung Europas mit der bereits zitierten Feststellung hervor, dass sich »der Kapitalismus nicht mehr aus eigener Kraft reproduzieren kann« 12. In einem Interview mit der Zeit vom 6. November 2008, das in Zur Verfassung Europas wieder abgedruckt wurde, beurteilt Habermas die »Chancen der Selbsttransformation« des Kapitalismus, die er 1973 zur Diskussion stellte (LS 60), allerdings skeptisch: »Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik gehen.« 13 Habermas betrachtet das Scheitern des Versuchs Gorbatschows, die Ende der 1970er-Jahre einsetzende Dauerkrise der sowjetischen Ökonomie durch demokratische Reformen und die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Initiative zu überwinden, offensichtlich als einen Beweis für die prinzipielle Ineffizienz eines sozialistischen Wirtschaftssystems. Habermas’ Sicht des Endes der kommunistischen Gesellschaftsformation in Osteuropa deckt sich mit derjenigen Manfred Hildermeiers in seinem Standardwerk Geschichte der Sowjetunion 1917–1991: »Wie man es auch dreht und wendet – in der ein oder anderen Form hat sich der Grundgedanke bewahrheitet, dass die Erfordernisse funktionaler Effizienz zunehmend komplexer Organisationen und technisch anspruchsvollerer Produktion auf Dauer nicht mit der monopolistischen Herrschaft einer Einheitspartei und noch weniger mit zentraler Anweisungs- und Planungskompetenz in ihrem Auftrag zu vereinbaren waren.« 14
Gegen diese Deutung kann allerdings eingewendet werden, dass der stürmische wirtschaftliche Aufschwung Chinas seit den 1980er-Jahren durch die Anweisungs- und Planungskompetenz der Kommunistischen Partei nicht gehemmt wurde. Die Verstaatlichung systemrelevanter Banken, die vor dem Zusammenbruch standen, in mehreren S. o. Anm. 2. Habermas: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 2), S. 102. 14 Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Aufstieg und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 1011. 12 13
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
westlichen Ländern nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 zeigt, dass ein gewisses Maß an zentraler Planungskompetenz auch im Kapitalismus unentbehrlich ist. Habermas kennzeichnet in Zur Verfassung Europas die Programme der EU-Leitungsgremien zur Abwendung des Staatsbankrotts überschuldeter Mitgliedsländer, deren Budgethoheit hierbei ausgehebelt wird, als einen Akt der »zentralen Steuerung« des europäischen Wirtschaftssystems. 15 Die von ihm konstatierte Tendenz der Wirtschaftspolitik der EU-Gremien in der Weltfinanzkrise, »Imperative der Märkte an die nationalen Haushalte weiter[zu]geben«, wodurch »postdemokratisch-bürokratischer Herrschaft« der Weg geebnet werde, kommt in der »himmelschreiende[n] soziale[n] Ungerechtigkeit« der Rettungsprogramme zum Ausdruck: Die »sozialisierten Kosten des Systemversagens« werden so verteilt, dass sie »die verletzbarsten sozialen Gruppen am meisten treffen.« 16 Die »Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses« durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der 1980er- und 1990er-Jahre 17 wird demnach in der 2008 ausgebrochenen Weltfinanzkrise von einem interventionistischen Staatsapparat fortgeschrieben. Habermas’ These, dass die westliche Politik zum Getriebenen kapitalistischer Mechanismen geworden ist und sich ihnen auch in der Weltfinanzkrise »unterwirft«, 18 wird durch Colin Crouchs Analyse der wirtschaftspolitischen Resultate des Neoliberalismus erhärtet. 19 Seit den 1980er-Jahren wurden in einer Reihe westlicher Staaten und in hochverschuldeten Ländern des globalen Südens unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds bislang öffentliche Sektoren wie das Verkehrswesen oder die Wasserversorgung zunehmend privatisiert: mit der Begründung, die marktwirtschaftliche Dynamik werde durch die Auflösung bürokratischer Verkrustungen zu einer Effizienzsteigerung führen. Die faktischen Auswirkungen der Privatisierungen Habermas: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 2), S. 81. A. a. O., S. 81, 99. 17 Habermas: »Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Überblick über das kurze 20. Jahrhundert«. In: ders.: Die postnationale Konstellation. Frankfurt a. M. 1998, S. 65–90, hier: S. 80. 18 »Im Teufelskreis zwischen den Gewinninteressen der Banken und Anleger und dem Gemeinwohlinteresse überschuldeter Staaten sitzen die Finanzmärkte am längeren Hebel. Nie zuvor sind demokratisch gewählte Regierungen so umstandslos durch Vertrauenspersonen der Märkte […] ersetzt worden.« (Habermas: »Heraus aus dem Teufelskreis«. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. September 2012, S. 15). 19 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011. 15 16
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laufen ihrer neoliberalen Rechtfertigung jedoch zuwider. Die Übertragung staatlicher Aufgaben an private Unternehmen verschaffte diesen eine oligopolistische oder sogar monopolistische Stellung und dementsprechend maßgeblichen Einfluss auf wirtschaftspolitische Planungsprozesse. 20 Die fortschreitende Verflechtung von Wirtschaft und Staat im Gefolge des Neoliberalismus, die in offenem Widerspruch zu dessen offiziellem Programm einer klaren Grenzziehung beider Sphären steht, wird daran sichtbar, dass Manager von Großkonzernen und Investmentbanker häufig Regierungsämter übernehmen und nach ihrem Ausscheiden in die Wirtschaft zurückkehren. 21 Dass aus der neoliberalen Deregulierungspolitik keineswegs ein langfristiger Wirtschaftsaufschwung resultiert, trat 2008 in der Weltfinanzkrise, die die westlichen Staatshaushalte bis an ihre Kapazitätsgrenzen belastete, unübersehbar zutage. Crouch betont allerdings, dass Großkonzerne im Zeitalter der Globalisierung unentbehrlich sind, da sie in Kernbereichen der Wirtschaft effizienter agieren können als mittelständische Betriebe. 22 Er zieht hieraus den Schluss, es gebe keine grundsätzliche Alternative zu einem »von Großkonzernen dominierten Kapitalismus«. 23 Den politischen Impetus der Frage nach den Chancen einer »Selbsttransformation« des kapitalistischen Systems in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus macht sein Brief an Willy Brandt vom 8. Dezember 1970 deutlich: Darin wirft Habermas der damaligen sozialliberalen Bundesregierung vor, das Ziel einer »Kontrolle von wirtschaftlicher Verfügungsmacht« aus den Augen verloren zu haben; eine solche Zielperspektive werde »mittelfristig unvermeidlich sein, wenn die Regierung sich gesellschaftspolitisch nicht treiben lassen, sondern alternative Prioritäten entwickeln […] will.« 24 Habermas fordert in diesem Brief dazu auf, eine »politische Willensbildung über Prioritäten der gesellschaftlichen Entwicklung« in Gang zu bringen. 25 A. a. O., S. 13, 120 ff. Vgl. a. a. O., S. 186: »Die Vertreter der transnationalen Konzerne der Gegenwart sitzen längst nicht mehr in der Lobby, also vor den Kabinettssälen der Regierungen. Sie sind direkt an politischen Entscheidungen beteiligt. Sie setzen Standards, etablieren private Regulierungssysteme, beraten Minister und Regierungschefs und entsenden sogar Vertreter in die Ministerien.« 22 A. a. O., S. 14, 236. 23 A. a. O., S. 14 f. 24 Zitiert nach: Rolf Wiggershaus: Jürgen Habermas. Reinbek 2004, S. 96. 25 Ebd. 20 21
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
Gegenwärtig gibt es in der marktwirtschaftlichen Theoriebildung programmatische, in den Schwellenländern reale ökonomische und politische Anknüpfungspunkte für die Zielsetzung, eine demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Verfügungsmacht herbeizuführen. Hans Christoph Binswanger, dem niemand ökonomischen Dilettantismus oder marktfeindliches Sektierertum unterstellen wird, 26 plädiert angesichts der ökologischen Wachstumsschranken für eine staatliche Kontrolle der – für die marktwirtschaftliche Dynamik essentiellen – Geldschöpfung. 27 Der Erfolg staatlicher bzw. halbstaatlicher Konzerne von Schwellenländern wie Brasilien und China auf dem Weltmarkt zeigt, dass man aus der unentbehrlichen Bedeutung von Großkonzernen in der globalisierten Wirtschaft nicht – mit Crouch – ohne Weiteres den Schluss ziehen kann, der Kapitalismus sei alternativlos. In China, wo seit dem Ende der 1970er-Jahre eine Mischform von staatssozialistischer und marktwirtschaftlicher Ökonomie praktiziert wird, konstituiert sich seit der Jahrtausendwende eine Zivilgesellschaft, die ökonomische und politische Partizipation einfordert und bereits eine Lockerung der staatlichen Repression durchgesetzt hat; dies gibt Grund zu der Hoffnung, dass sich in den kommenden Jahrzehnten Aspekte eines demokratischen Sozialismus herausbilden könnten. In Lateinamerika haben genossenschaftliche Produktionsformen seit den 1980er-Jahren ökonomische Relevanz gewonnen. 28 Die Frage, ob es im globalen Maßstab eine reale Chance für eine nachkapitalistische Gesellschaftsformation gibt, muss allerdings bis auf weiteres offen bleiben.
Bei Binswanger promovierte (1977) der spätere Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann. 27 Hans C. Binswanger: Vorwärts zur Mäßigung. Perspektiven einer nachhaltigen Wirtschaft. Hamburg 22010, S. 139, 144, 157 ff. Binswanger greift hierbei auf Ansätze zurück, die von Irving Fisher nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickelt und von Joseph Huber und James Robertson weiter ausgestaltet wurden (a. a. O., S. 142 ff.). 28 Vgl. Elmar Altvater/Nicola Segler (Hrsg.): Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac. Hamburg 2006, S. 85–131. 26
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3.
Die selbstreflexive Struktur der kritischen Gesellschaftstheorie in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
Die Analyse konkreter Krisenphänomene der zeitgenössischen westlichen Gesellschaften in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus ist in eine Theorie der sozialen Evolution eingebettet, die sich als Rekonstruktion des Historischen Materialismus versteht (LS 7, vgl. RHM 129 f.). Habermas bezeichnet es in den Legitimationsproblemen als ein Verdienst des Marxismus, erstmals einen sozialwissenschaftlichen Begriff der »Systemkrise«, die aus »strukturell angelegte[n] Widersprüche[n]« einer Gesellschaftsformation resultiert, entwickelt zu haben (LS 10 f.). Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine Aufsatzsammlung Theorie und Praxis (1963, erw. Neuausgabe 1971; LS 10, Anm. 4), wo er die Aufgabe formuliert, sich der »wissenschaftstheoretische[n] Struktur« des Historischen Materialismus »als einer explizit in politischer Absicht entworfenen, dabei wissenschaftlich falsifizierbaren Geschichtsphilosophie« zu versichern (TP2 237, 244). Der politische Impetus der marxistischen Geschichtstheorie schließt die Unterstellung ein, dass die herrschenden Verhältnisse veränderbar sind; diese Annahme soll durch den Nachweis erhärtet werden, dass aktuelle Krisenphänomene in einer weltgeschichtlichen Perspektive als Indizien für eine tiefgreifende Destabilisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung anzusehen sind (vgl. TP2 246). Auf diese Weise soll der »Sinn für das objektiv Mögliche in dem etablierten Wirklichen« geweckt werden (TP2 268). Über den Wahrheitsgehalt der Annahme, dass die bestehenden Verhältnisse brüchig geworden und somit veränderbar sind, kann aber letztlich nicht durch theoretische Reflexion, sondern nur im Medium der Praxis entschieden werden (TP2 246). Indem Habermas den Begriff des »objektiv Mögliche[n]« ins Zentrum der marxistischen Geschichtstheorie rückt, 29 wendet er sich gegen ein im naturwissenschaftlichen Sinne objektivistisches, d. h. geschichtsdeterministisches Verständnis des Historischen Materialismus (TP2 266), für das es bei Marx und Engels durchaus Anknüpfungspunkte gibt: Sie bezeichnen im Kommunistischen Manifest den weltgeschichtlichen Sieg des Proletariats als »unvermeidlich« (MEW 4, 474); Marx Vgl. TP2 438: »Eine ihrem Gegenstand angemessene historische Theorie des Bestehenden ist Theorie seiner Veränderung.«
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
stimmt im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital (1873) der Auffassung eines russischen Rezensenten zu, er analysiere gesellschaftliche Entwicklungen wie »einen naturgeschichtlichen Prozess (MEW 23, 26 f.); Engels stellt im Anti-Dühring (1878) die Natur- und die Gesellschaftsgeschichte auf dieselbe Stufe (MEW 20, 132). Habermas sieht in der »naturalistischen« Selbstinterpretation der marxistischen Gesellschaftstheorie in Marx’ Nachwort zur 2. Auflage des Kapital und in Engels’ späten Schriften ein Selbstmissverständnis der Urheber des Historischen Materialismus (TP2 266 f., EI 62 f.). Im Folgenden (Abschnitte 3–4) soll dafür argumentiert werden, dass mittels der Habermas’schen Doppelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive die Theoriestruktur der Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus in den Frühschriften von Marx und Engels dahingehend rekonstruiert werden kann, dass sich der Begriff des »objektiv Mögliche[n]« als Schlüsselbegriff erweist – was einem »Geschichtsobjektivismus« (RHM 10) zuwiderläuft. 30 In der systemischen Beobachterperspektive, die in den soziologischen Systemtheorien Talcott Parsons’ und Niklas Luhmanns paradigmatisch ausgestaltet wird, werden die »Steuerungsleistungen« einer Gesellschaftsordnung als eines »selbstgeregelten Systems« thematisiert, d. h. die Mechanismen und Strategien, mittels derer es seine Stabilität erhält (LS 14). Hierzu gehört auf der einen Seite eine Ressourcenverteilung, die – sei es auch mit Hilfe repressiver Maßnahmen – die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft sichert, auf der anderen Seite ein normativer Ordnungsrahmen. Dieser wird in der systemischen Beobachterperspektive nicht unter dem »Geltungsaspekt«, d. h. in Hinblick auf seine ethische Legitimität, untersucht (LS 15), sondern ausschließlich in Bezug auf seine systemerhaltende Funktion der sozialen Disziplinierung der Individuen. In der systemischen Perspektive kommen somit – um eine kantische Unterscheidung aufzugreifen – keine »quid juris?«, sondern nur »quid facti?«-Fragen zur Sprache. 31 Die lebensweltliche Teilnehmerperspektive konstituiert sich durch die TheDie Prophezeiung des »unvermeidlich[en]« Siegs des Proletariats im Kommunistischen Manifest lässt sich – mit Wolfgang Streeck – als politische Rhetorik werten, die die Adressaten des Manifests zur politischen Aktion anspornen soll (Wolfgang Streeck: »On Fred Block, Varieties of What? Should we still be using the Concept of Capitalism?« In: Political Power and Social Theory 23 (2012), S. 311–321, hier: S. 319, Anm. 9). S. u. Anm. 60. 31 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 84, B 116. 30
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matisierung von »Geltungsprobleme[n]« als ein eigenständiger methodischer Standpunkt (LS 16). Habermas vertritt die These, dass in der weltgeschichtlichen Abfolge der archaischen Stammesgesellschaft, der »traditionale[n]« Hochkulturen und der modernen, europäisch geprägten Globalzivilisation eine »Entwicklungslogik« normativer Ordnungsstrukturen erkennbar ist: in dem Sinne, dass sich die »Forderung nach diskursiver Einlösung der normativen Geltungsansprüche« immer stärker durchsetzt (LS 19, 23), was in der »quid juris?«-Perspektive als ein Weg zu »wachsender […] Einsicht« in die Begründungsbedürftigkeit normativer Forderungen zu werten ist (LS 27, vgl. RHM 12, TkH II 218). Im magisch-mythischen Weltbild archaischer Stammesgesellschaften, das die Natur und die menschliche Gemeinschaft gleichermaßen als Wirkungsbereich von Geistern auffasst, haben sich normative Strukturen noch nicht als eigene Sphäre herausgebildet. 32 Im religiös-metaphysischen Weltbild traditionaler Hochkulturen werden erstmals normative Argumentationsformen entwickelt, wobei die basalen religiösen Dogmen und metaphysischen Grundannahmen allerdings statuarisch gesetzt werden (RHM 19, TkH II 282). Die neuzeitliche Aufklärung verlangt demgegenüber, normative Geltungsansprüche ohne den Rekurs auf metaphysische Prämissen in der Vernunft zu verankern – womit die normative Sphäre den universalistischen Charakter menschlicher Autonomie gewinnt (RHM 19, TkH II 118 f.). Habermas’ These, dass die »Lernprozesse im Bereich des moralisch-praktischen Bewusstseins« beim Aufkommen der Hochreligionen bzw. metaphysischen Weltdeutungen und in der neuzeitlichen Aufklärung eine »Schrittmacherfunktion« für die soziale Evolution übernehmen (RHM 176), lässt sich mit dem marxistischen Basis/Überbau-Theorem durchaus in Einklang bringen: Die »Kultur« bleibt für ihn ein »Überbauphänomen« (RHM 12); Habermas lehnt lediglich eine reduktionistische Lesart des Basis/Überbau-Theorems ab, demzufolge die Ökonomie alle übrigen gesellschaftlichen Bereiche determiniert. Eine solche Sichtweise wird zwar durch eine Reihe plakativer Aussagen von Marx und Engels nahe gelegt (MEW 3, 27; 13, 8 f., 470), ist jedoch insofern inadäquat, als die politische Publizistik beider auf der Annah»Das moralische ist […] mit dem physischen Versagen, das Böse ist mit dem Schädlichen konzeptuell ebenso verwoben wie das Gute mit dem Gesunden und dem Vorteilhaften.« (TkH I 80). Vgl. RHM 18.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
me beruht, dass eine »Reform des Bewusstseins« (Marx an Ruge, September 1843, MEW 1, 346), d. h. die Entlarvung systemstabilisierender Ideologien, Anstöße zur Veränderung der Gesellschaft – einschließlich ihrer ökonomischen Strukturen – geben kann. 33 Gemäß Habermas’ ›nicht-reduktionistischer‹ Version des Basis/Überbau-Theorems werden die normativen Lernprozesse, denen er eine Schrittmacherfunktion für die soziale Evolution zuerkennt, durch die »evolutionären Herausforderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme« angestoßen (RHM 12, vgl. 154). In diesem Sinne spricht er noch in der Theorie des kommunikativen Handelns vom »strukturbildenden ökonomischen Bereich« (TkH II 265). Die methodische Verschränkung von systemischer Beobachterund lebensweltlicher Teilnehmerperspektive in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus lässt sich im Ausgang von einer programmatischen These in seinem Beitrag zur Adorno-Festschrift nachzeichnen: »Indem die dialektische Betrachtungsweise die verstehende Methode«, d. h. eine »Hermeneutik der sozialen Lebenswelt«, »mit den vergegenständlichenden Prozeduren kausalanalytischer Wissenschaft verbindet und beide in wechselseitig sich überbietender Kritik zu ihrem Recht kommen lässt, hebt sie die Trennung von Theorie und Geschichte auf.« 34 Habermas nimmt im Schlussteil dieses Zitats auf Horkheimers Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die auf ihre Einbindung in die soziale Praxis reflektiert, in dem bahnbrechenden Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« Bezug, auf den er sich in seiner Abhandlung »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik« ausdrücklich beruft (TP2 242 f.). 35 Auch Adorno spielt in seiner Stellungnahme zu Habermas’ Konzept der methodischen Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive auf Horkheimers Bestimmung der kategorialen Differenz von gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis (s. u.) an: Adorno schreibt in seiner Einleitung in Laut Marx’ »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1844) gehört es zu den »inneren Bedingungen« der intendierten Revolution, dass der »Blitz des Gedankens« in den »naiven Volksboden« einschlägt (MEW 1, 391). 34 Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Adorno u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt/Neuwied 1969, S. 155–191, hier: S. 165, 158. 35 Vgl. Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (1937). In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216, hier: S. 185, 189 f. S. u. S. ###. 33
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den Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie – im Rahmen eines kritischen Kommentars zur Systemtheorie Parsons’, worin biologische Paradigmen adaptiert werden 36 –, Habermas habe »den Übergang zur Dialektik als notwendig begründet mit Hinblick auf spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis.« 37 Im Folgenden soll zunächst im Ausgang von Horkheimers Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« Adornos – von ihm selbst nur summarisch erläuterte – These, dass Habermas mittels der Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive die unverzichtbare Bedeutung dialektischer Argumentationsformen für eine selbstreflexive Gesellschaftstheorie aufgewiesen hat, im Rekurs auf Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus expliziert werden. Auf dieser Basis soll in Abschnitt 4 die zum Geschichtsdeterminismus gegenläufige Lesart des Historischen Materialismus, die den Begriff objektiver geschichtlicher Möglichkeiten ins Zentrum stellt, 38 konkretisiert werden. In Abschnitt 5 soll dafür argumentiert werden, dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns der Warenform-Analyse in Marx’ Kapital zu Recht entgegenhält, aufgrund ihrer Orientierung an einer Hegel’schen Begrifflichkeit der methodischen Differenz von Beobachterund Teilnehmerperspektive nicht adäquat Rechnung zu tragen. Horkheimer wendet gegen die Applikation naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle auf die Soziologie ein, dass hierbei der besondere Status gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis verwischt zu werden droht: Die soziale Realität steht der Gesellschaftstheorie nicht als bloßes Objekt der Beschreibung und Erklärung gegenüber; die theoretische Darstellung sozialer Phänomene kann vielmehr auf ihren Erkenntnisgegenstand zurückwirken, indem sie die handlungsleitenden Überzeugungen ihrer Rezipienten beeinflusst. 39 Eine Soziologie, die auf diese mögliche Rückwirkung nicht reflektiert, kann fragwürdige Selbstinterpretationen ihrer Adressaten initiieren bzw. befestigen. Überträgt man etwa das kausale Erklärungsmodell, mit dem die Veränderungen in ökologischen Systemen nach dem Eindringen neuer Tierarten erfasst werden können, auf die Wandlungen von Konsum-
Vgl. Talcott Parsons: Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1975, S. 10. Theodor W. Adorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. (s. Anm. 34), S. 7–79, hier: S. 23 f. S. u. S. ### f. 38 S. o. S. 164. 39 Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (s. Anm. 35), S. 203. 36 37
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
gewohnheiten durch technische Erfindungen wie das Fernsehen, so kann dies der Auffassung Vorschub leisten, die faktische Ausweitung menschlicher Bedürfnisse im Zuge des technischen Fortschritts sei kausal determiniert. 40 Diese Auffassung nimmt den Charakter der zirkulären Selbstimmunisierung eines Vorurteils an, wenn sie dazu verleitet, Alternativen zu den faktischen Entwicklungen nicht einmal mehr ins Auge zu fassen. Eine Gesellschaftstheorie, die sich ihrer möglichen Rückwirkung auf ihren Gegenstand innewird, muss die traditionelle Entgegensetzung von Theorie und Praxis – und damit von Theorie und Geschichte – relativieren. 41 Durch diese methodische Reflexion auf das Spezifikum sozialwissenschaftlicher Erkenntnis gewinnt Horkheimer den Begriff der »realen Möglichkeit« gesellschaftlicher Veränderungen als zentrale inhaltliche Deutungskategorie der von ihm konzipierten kritischen Gesellschaftstheorie, wodurch sich diese von einer rein naturwissenschaftlich orientierten Soziologie grundlegend unterscheidet. 42 Horkheimer weist allerdings zugleich darauf hin, dass man sich der Realität antizipierter Möglichkeiten letztlich nur durch den faktischen Erfolg der Erprobung von Alternativen zum Bestehenden vergewissern kann. 43 Adorno erklärt es in den Minima Moralia (1951) zur Kernaufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie, die von einer bestimmten »Gesellschaft […] entwickelte Potentialität« freizulegen. 44 In vergleichbarer Weise bestimmt Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus den Begriff des Organisationsprinzips einer Gesellschaftsformation dahingehend, dass dieses einen »Raum von Möglichkeiten sozialer Zustandsänderungen festlegt« (LS 18, vgl. 30). Das entscheidende Argument, mit dem die Rede von den realen Möglichkeitsspielräumen einer geschichtlichen Situation gegen den Vorwurf unwissenschaftlicher Spekulation verteidigt werden kann, wird von Adorno prägnant formuliert, indem er Ideologie als »objektiv notwendiges und zugleich
Vgl. Adorno: »Thesen übers Bedürfnis« (1942). In: ders.: Soziologische Schriften I (= Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., Bd. 8). Frankfurt a. M. 1972, S. 392–396. 41 Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (s. Anm. 35), S. 196, 205 f. 42 A. a. O., S. 193. 43 A. a. O., S. 194 f. 44 Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften, Bd. 4). Frankfurt a. M. 1980. Nr. 96, S. 172. 40
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falsches Bewusstsein« bestimmt. 45 Adornos Ideologiebegriff verknüpft einen geltungslogischen mit einem deskriptiv-explanatorischen Aspekt. In geltungslogischer Hinsicht siedelt Adorno das »falsche Bewusstsein« in der Mitte zwischen unverschuldeten Irrtümern und der bewussten Lüge an: »Falsches Bewusstsein« besteht demnach in inkohärenten Selbst- bzw. Weltinterpretationen, deren illusionärer Charakter den Betreffenden aufgrund von Reflexionsdefiziten bzw. Verdrängungsmechanismen verborgen geblieben ist. 46 Um die faktische Wirkungsmacht von Ideologien erklären zu können, muss der Ideologiekritiker nachweisen, dass sie für die Aufrechterhaltung bestimmter Sozialstrukturen »objektiv notwendig« sind; der Ausdruck »notwendig« meint hier nicht: »kausal determiniert« – in diesem Fall wäre das Unternehmen der Ideologiekritik sinnlos –, sondern: für die Funktionsfähigkeit bestehender Sozialstrukturen unentbehrlich. Die geltungslogische Kritik des falschen Bewusstseins muss somit durch eine systemfunktionale Gesellschaftsanalyse ergänzt werden: Wenn es dieser gelingt, die systemstabilisierende Funktion bestimmter inkohärenter Selbst- bzw. Weltdeutungen, deren illusionärer Charakter von den Betreffenden durchschaut werden könnte, aufzuweisen, ist es gerechtfertigt, von der »realen« bzw. »objektive[n] Möglichkeit« zu sprechen, die bestehenden Verhältnisse durch die Aufdeckung falschen Bewusstseins zu verändern. 47 Auf diesem Hintergrund lässt sich Adornos These, dass Habermas den Übergang zur Dialektik im Hinblick auf spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis als notwendig begründet hat, in drei Schritten erläutern: 1. Analysiert man im Anschluss an Horkheimers Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« Reflexionsdefizite, die die Einsicht in die mögliche Rückwirkung sozialwissenschaftlicher Erklärungen auf ihren Gegenstand versperren können – hierbei kommt der zirkulären Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre« (1954). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 457–477, hier: S. 465. Vgl. Adorno: »Soziologie und empirische Forschung« (1958). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 196–216, hier: S. 215. 46 Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre« (s. Anm. 45), S. 465; »Soziologie und empirische Forschung« (s. Anm. 45), S. 215. 47 Zum Begriff der »objektiven Möglichkeit« vgl. Adorno: »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« (1968). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 354– 370, hier: S. 368. 45
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
Selbstimmunisierung von Vorurteilen paradigmatische Bedeutung zu –, so gewinnt man den Begriff des falschen Bewusstseins in seinem eigentümlichen Zwischenstatus zwischen unverschuldeten Irrtümern und bewusster Lüge. 2. Während Horkheimer die Idee der kritischen Gesellschaftstheorie in entschiedener Gegenwendung zur Applikation naturwissenschaftlicher Methoden auf die Soziologie entwickelt, erklärt es Adorno zur entscheidenden Leistung der Habermas’schen Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, vermittels einer immanenten Kritik des anspruchsvollsten zeitgenössischen Programms einer naturwissenschaftlich orientierten Soziologie – der von Parsons initiierten soziologischen Systemtheorie – deren Erklärungspotential in die kritische Gesellschaftstheorie integrieren zu können. 48 Eine Schlüsselrolle kommt hierbei der von Parsons gemeinsam mit Edward Shils verfassten Abhandlung »Values, Motives and Systems of Action« zu. 49 Auf dem von Horkheimer anvisierten Weg der Gewinnung inhaltlicher Grundbegriffe der kritischen Gesellschaftstheorie mittels der methodischen Reflexion auf das Spezifikum sozialwissenschaftlicher Erkenntnis kann der Begriff des falschen Bewusstseins zunächst nur hypothetisch entwickelt werden: durch die Analyse möglicher Reflexionsdefizite der Urheber bzw. Rezipienten sozialwissenschaftlicher Theorien. Der genannten Abhandlung von Parsons und Shils lässt sich ein Argument dafür entnehmen, dass mit diesem hypothetisch eingeführten Begriff des falschen Bewusstseins ein systemstabilisierendes Moment faktischer Gesellschaften erfasst wird. Nach Parsons und Shils lassen sich Widersprüche zwischen den Erfordernissen ökonomischer Effizienz und den normativen Vorschriften einer Gesellschaft nie vollständig vermeiden. 50 Da sowohl eine leistungsfähige Wirtschaft als auch die mehrheitliche Befolgung normativer Vorschriften für die Stabilität einer Sozialordnung unentbehrlich sind, müssen solche Widersprüche – so Parsons und Shils – durch Verdrängungsmechanismen im Freud’schen Sinne niedergehalten werden. 51 Die – von Luhmann aufgegriffene – These von der »Unentbehrlichkeit der IdeologiefunkAdorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (s. Anm. 34), S. 23 f. 49 Talcott Parsons/Edward Shils: »Values, Motives and Systems of Action«. In: dies. (Hrsg.): Toward a General Theory of Action. New York 1951, S. 47–275. 50 A. a. O., S. 153, 174 f., 179. 51 A. a. O., S. 52, 174 f. Vgl. Habermas: TkH II 322 ff. 48
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tion« 52 gibt Anlass zu der Rückfrage, ob das faktische Ausmaß der ideologischen (Selbst-)Täuschungen in den gegenwärtigen Gesellschaften notwendig ist, um deren Absturz in die Anarchie zu verhindern, oder ob sich in den herrschenden Ideologien auch Machtverhältnisse, die überwunden werden könnten, niederschlagen. Aufschluss hierüber lässt sich nur durch den Versuch gewinnen, auf die bestehenden Verhältnisse durch Ideologiekritik einzuwirken; solche Versuche können von der soziologischen Systemtheorie jedoch nicht unternommen werden, da sie hiermit ihren deskriptiv-explanatorischen Beobachterstandpunkt verließe. Adorno hält ihr zu Recht vor, das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum in einer verkürzten Perspektive zu thematisieren: Die Einzelnen erscheinen als Momente systemischer Strukturzusammenhänge, wobei die Frage nach ihrer personalen Verantwortung außer Betracht bleibt. 53 Die soziologische Systemtheorie ebnet somit die kategoriale Differenz von natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis im Horkheimer’schen Sinne dadurch ein, dass sie den Begriff der »realen« bzw. »objektiven Möglichkeit« gesellschaftlicher Alternativen, der in der deskriptiv-explanatorischen Beobachterperspektive keinen Platz hat, als ›unwissenschaftlich‹ werten muss. Der von Habermas geforderte Überschritt von der Beobachterperspektive zur Teilnehmerperspektive, in der aufgrund der Orientierung an »Geltungsprobleme[n]« (LS 16) ideologischer Schein kritisiert werden kann, ergibt sich demnach stringent aus einer immanenten Kritik an der soziologischen Systemtheorie. Die Teilnehmerperspektive der kritischen Gesellschaftstheorie ist aufgrund der Schlüsselrolle, die der Begriff der Möglichkeit im Sinne der Handlungsalternative in ihr spielt, an unsere »Lebenswelt« angebunden. Im Zentrum von Habermas’ Lebenswelt-Begriff steht das »Situationsbewusstsein der handelnden Individuen«: 54 In der »Innenperspektive«, die für unsere personale Existenz konstitutiv ist, stellen sich die Situationen, in denen wir uns jeweils befinden, als Horizonte spezifischer »Handlungsmöglichkeiten« dar (TkH II 10, 187 f.); zu diesen Möglichkeiten verhalten wir uns stets in irgendeiner Weise – sei es auch in dem Sinne, dass wir Luhmann: »Wahrheit und Ideologie«. In: ders.: Soziologische Aufklärung 1. Opladen 1970, S. 54–65, hier: S. 60. 53 Adorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (s. Anm. 34), S. 24. 54 Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik« (s. Anm. 3), S. 476, 480. 52
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
Entscheidungen aufschieben bzw. ihnen ausweichen. Wenn in der Teilnehmerperspektive der kritischen Gesellschaftstheorie Inkohärenzen in den Selbstbeschreibungen von Zeitgenossen aufgedeckt werden, ist der Ideologiekritiker befugt, denjenigen, die einer Auseinandersetzung mit seinen Argumenten aus dem Weg gehen, vorzuwerfen, falschem Bewusstsein verhaftet zu bleiben – sofern es Grund zu der Annahme gibt, dass die Inkohärenzen für sie durchschaubar sind. Dies ist in dem Maße der Fall, wie – im Zuge der Aufklärung – die Blockade von Reflexionsprozessen durch (insbes. religiöse) Tabuisierungen abgebaut worden ist und die Individuen mit der Forderung nach kohärenter Begründung normativer Ansprüche vertraut sind. Die Rekonstruktion einer gattungsgeschichtlichen »Entwicklungslogik« des normativen Bewusstseins im Habermas’schen Sinne weist die fortschreitende Einsichtsfähigkeit der Individuen auf und hat damit eine unentbehrliche Funktion für die Kritik gegenwärtiger Ideologien. Hiermit ist allerdings noch nicht verbürgt, dass die faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Enthüllung ideologischer Inkohärenzen verändert werden können. Die kritische Gesellschaftstheorie muss ihren Anspruch, objektive Möglichkeiten der gegenwärtigen geschichtlichen Situation freizulegen, mit Argumenten stützen, die den methodischen Standards der avanciertesten kausalanalytisch orientierten Sozialwissenschaft genügen, d. h. der soziologischen Systemtheorie. In einer systemfunktionalen Perspektive hat die Kritik an etabliertem falschen Bewusstsein nur dann die Chance, Verdrängungsmechanismen zu durchbrechen, wenn das bestehende soziale System in eine Krise geraten ist, in der es von der herrschenden Ideologie deshalb nicht länger effizient stabilisiert werden kann, weil es selber dysfunktional geworden ist. Wenn der Ideologiekritiker Gründe dafür anführen kann, dass die intendierte Überwindung falschen Bewusstseins den Weg zu einer Reorganisation der Gesellschaftsstruktur ebnet, wodurch die aufgetretenen systemischen Störungen ausgeräumt werden könnten, hat er den für die Teilnehmerperspektive der kritischen Gesellschaftstheorie grundlegenden Begriff der objektiven Möglichkeiten einer geschichtlichen Situation im Durchgang durch die Beobachterperspektive gerechtfertigt. Er ist demnach dazu angehalten, seine eigene Tätigkeit als ein Moment des »objektiven Krisenzusammenhang[s]« auszuweisen, welches diesen »zur Vollendung treibt« und hierdurch einen Ausweg eröffnet, wie Habermas in »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik« konstatiert (TP2 246, 266). In die173 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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sem Sinne schreibt er in »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«: »Damit objektiv sinnverstehend die Geschichte selbst theoretisch durchdrungen werden kann, muss sich […] Historie zur Zukunft hin öffnen.« 55 Dass es hier nicht um Prophetie geht, sondern um die Freilegung offener Möglichkeitshorizonte, zeigt die konkrete Ausgestaltung dieses Programms in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus: Die intendierte Zertrümmerung der in sozioökonomischen Krisen brüchigen ideologischen Verzerrungen in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft soll die »Chancen der Selbsttransformation des Spätkapitalismus« in den Blick bringen (LS 48) – wobei Habermas betont, dass sich aus seiner Analyse keine verlässlichen Prognosen für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte ableiten lassen (LS 60). Habermas’ Forderung nach einer dialektischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive ergibt sich demnach konsequent aus dem methodischen Argumentationsansatz Horkheimers in »Traditionelle und kritische Theorie« unter der inhaltlichen Prämisse, dass der zunächst hypothetisch eingeführte Begriff des falschen Bewusstseins etwas Faktisches trifft; diese Prämisse lässt sich mit der Systemtheorie Parsons’ stützen. Auf der einen Seite ergibt sich aus der (in der Beobachterperspektive formulierten) These Parsons’, Shils und Luhmanns, dass in jeder Gesellschaft Ideologien wirksam sind, die Notwendigkeit, in die ideologiekritische Teilnehmerperspektive zu wechseln, wenn die kategoriale Differenz von natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis nicht verwischt werden soll; auf der anderen Seite ist der Ideologiekritiker dazu genötigt, sein Unternehmen in einen objektiven systemischen Zusammenhang einzuordnen, um plausibel zu machen, dass es nicht »zur Folgenlosigkeit verurteilt« ist (TP2 246) – also sich selbst gegenüber wiederum die Beobachterperspektive einzunehmen. Durch diesen wechselseitigen Umschlag beider Perspektiven ineinander wird ihre jeweilige Einseitigkeit korrigiert. In diesem Sinne kommen sie »in wechselseitig sich überbietender Kritik« jeweils »zu ihrem Rechte« (ebd.). 3. Das in Habermas’ Aufsatz »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik« skizzierte Programm, die Notwendigkeit dialektischer Denkformen für die spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis vermittels einer immanenten Kritik der kausalanalytisch orientierten Soziologie zu erweisen, gelangt ans Ziel, wenn gezeigt werden kann, dass 55
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
der von Parsons und Shils konstatierte Widerspruch zwischen ökonomischen Systemstrukturen und normativen Vorschriften kein marginaler Störfaktor sozialer Funktionszusammenhänge ist, wie Parsons suggeriert, 56 sondern den innersten Kern der historisch-realen Gesellschaften betrifft. Genau das leistet laut Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus der Historische Materialismus: Er siedelt die Organisationsprinzipien der Gesellschaftsformationen, die sich seit der Gründung von Staaten etabliert haben, auf einer Ebene an, »wo sich die normativen Strukturen mit dem materiellen Substrat verschränken«, und weist hierin »strukturell angelegte Widersprüche« auf (LS 30, 11). Dies soll im nächsten Abschnitt (4) im Rekurs auf die Frühschriften von Marx und Engels konkretisiert werden. Die Frage, ob bzw. inwieweit sich Marx’ Kritik der politischen Ökonomie Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus in den 1960erund 70er-Jahren einfügt, ist das Thema von Abschnitt 5.
4.
Die Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in den Frühschriften von Marx und Engels
Im Folgenden sollen zentrale Theoreme der Frühschriften von Marx und Engels – mit dem Fokus auf die Deutsche Ideologie (1845/46) – am Leitfaden von Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus skizziert werden. Hierbei soll zugleich dafür argumentiert werden, dass die Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus gegen die inhaltliche Kritik, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns an Marx’ Analyse der Warenform im Kapital übt – dort werde die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft unter einem ökonomistisch verkürzten Blickwinkel analysiert und die Rolle des Privateigentums an Produktionsmitteln überschätzt 57 – verteidigt werden kann, sofern man bereit ist, das argumentative Potential der Frühschriften von Marx und Engels auf Kosten ihrer utopischen Zielperspektive auszuschöpfen. 58 Parsons: Das System moderner Gesellschaften. Weinheim/München 1985, S. 10, 21 f. Vgl. TkH II 276. 57 S. o. S. 157. 58 Abschnitt 4 enthält eine – z. T. neu akzentuierte – thesenhafte Zusammenfassung des den Frühschriften von Marx und Engels gewidmeten Kapitels meiner Monographie Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie 56
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Marx und Engels vertreten in der Deutschen Ideologie die ihrer kommunistischen Utopie letztlich zuwiderlaufende These, dass die Arbeitsteilung und die hiermit historisch verknüpfte Tauschwirtschaft den Ursprung sozioökonomischer Konflikte bilden, die sich zu Klassengegensätzen verfestigen (MEW 3, 31 ff.). Während jeder Produzent eine möglichst große Gewinnspanne anstrebt, sind die Konsumenten an niedrigen Preisen interessiert. Dies führt zu einem Konkurrenzkampf unter den ›Anbietern‹, dessen Wechselfälle sich in einer sozioökonomischen Hierarchisierung niederschlagen – da die erfolgreichen Produzenten ihren Besitz vermehren und hierdurch sich selbst und ihren Nachkommen eine dauerhafte Überlegenheit sichern können. Die Angehörigen verarmter oder von vornherein mittelloser Familien bilden ein Reservoir von Arbeitskräften, das die Begüterten zur weiteren Vermehrung ihres Wohlstands nutzen können. Die Konflikte zwischen den »durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen« (MEW 3, 33) entwickeln eine Eigendynamik, deren destruktives Potential die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols erforderlich macht. Der Staat kann seine systemische Funktion, eine unkontrollierte Eskalation der aus der Arbeitsteilung und der Tauschwirtschaft entspringenden Konflikte zu verhindern, nur erfüllen, wenn er sich als Sachwalter von Allgemeininteressen präsentiert. Seine normative Selbstbeschreibung tritt somit in »Widerspruch« zum Antagonismus der sozioökonomischen Partikularinteressen (MEW 3, 31 f.). Marx und Engels bringen die Gründung von Staaten mit einem Entwicklungssprung des normativen Bewusstseins in Zusammenhang: der Ablösung der archaischen, magisch-mythischen Religiosität, worin sich die Menschen von den Naturmächten »imponieren lassen wie das Vieh«, durch die Hochreligionen, wo erstmals Gerechtigkeits- und Solidaritätsprinzipien explizit formuliert werden (MEW 3, 31): »von diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren«; die »Theologie, Philosophie, Moral etc.« treten »in Widerspruch mit den« – vorstaatlichen – »bestehenden Verhältnissen« (MEW 3, 31 f.). Die »Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins« ist allerdings gemäß dem Basis/Überbau-Theorem »verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen« (MEW 3, 26). Demzufolge können die »Theologie, Phivon Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse. Freiburg/München 2008, S. 300–339.
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losophie, Moral etc.« nur dadurch in »Widerspruch« zu den »bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen« treten, dass diese »mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch« geraten sind (MEW 3, 31 f.). Beim letztgenannten Widerspruch handelt es sich um die Kollision einer vorwärtstreibenden wirtschaftlichen Dynamik mit den tradierten Sozialstrukturen, die den ökonomischen Innovationen kein adäquates Betätigungsfeld bieten. Hierin sehen Marx und Engels die basale Triebkraft der sozialen Evolution (MEW 3, 73 f.). So machte etwa die Einführung von Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft die Staatsgründung unerlässlich, da die aus den ökonomischen Antagonismen resultierenden sozialen Konflikte von den Ordnungsstrukturen archaischer Stammesgesellschaften nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. In einer – später allerdings gestrichenen – Textpassage der Deutschen Ideologie wird die Gegenwendung des normativen Bewusstseins gegen den Kampf der sozioökonomischen Partikularinteressen zum Konstitutionsprinzip der Staaten erklärt: »das sich emanzipierende, mit der bestehenden Produktionsweise in Widerspruch geratene Bewusstsein bildet nicht allein Religionen und Philosophien, sondern auch Staaten.« (MEGA I/5, 572) Da Marx und Engels auch an der bereits zitierten (nicht gestrichenen) Textstelle von einer Emanzipation des normativen Bewusstseins von den bestehenden Verhältnissen sprechen (MEW 3, 31 f., vgl. MEGA I/5, 21), ist die Streichung offensichtlich dadurch motiviert, dass die Formulierung sozialethischer Prinzipien nicht dem Überbau zugeordnet werden kann, wenn hierdurch die Staaten gebildet wurden. Dass dem normativen Bewusstsein in der Deutschen Ideologie gleichwohl die Fähigkeit zuerkannt wird, sich von den bestehenden Verhältnissen zu emanzipieren, läuft einer reduktionistischen Lesart des Basis/Überbau-Theorems zuwider. Dieses lässt sich in einer ›nicht-reduktionistischen‹ Version in der Weise auf die Staatsgründung applizieren, dass die durch Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft hervorgerufenen Konflikte zum Anstoß eines normativen Fortschritts wurden: der Formulierung sozialethischer Prinzipien durch die Hochreligionen und die metaphysische Philosophie, womit das normative Bewusstsein einen Beitrag zur Staatsgründung leistete (vgl. RHM 175 ff.). Der Widerspruch zwischen der normativen Selbstbeschreibung des Staates als Sachwalter von Allgemeininteressen und den sozioökonomischen Antagonismen wird dadurch verschärft, dass sich in allen bisherigen Gesellschaftsformationen ökonomische Macht in poli177 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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tischer Macht niedergeschlagen hat (MEW 3, 46, 74). Das Organisationsprinzip der aus der Staatsgründung hervorgegangenen Gesellschaftsformationen ist somit »eine Klassenherrschaft in politischer Form« (LS 33). Der privilegierte Zugang der ökonomisch dominierenden Schicht zu den Machtmitteln des Staates leistet der ideologischen Verzerrung seiner normativen Selbstbeschreibung durch Partikularinteressen, die als Allgemeininteressen ausgegeben werden, Vorschub (MEW 3, 74). In den Frühschriften von Marx und Engels ergibt sich der Überschritt von der kausalanalytischen Beobachterperspektive, in der sich die bisherigen Erörterungen bewegen, in die geltungslogisch orientierte Teilnehmerperspektive durch die Frage, inwieweit ideologische Inkohärenzen normativer Selbstbeschreibungen von den jeweiligen historischen Akteuren durchschaut werden können. Marx spricht in Zur Judenfrage (1843/44) von weltgeschichtlichen »Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes« (MEW 1, 349). Obwohl er dies nicht näher ausführt, ergeben sich Parallelen zum Habermas’schen Gedanken einer normativen Entwicklungslogik: Die bürgerlichen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität verdanken sich für Marx wie für Habermas der Säkularisierung der religiösen Sozialethik (MEW 1, 360, TkH II 119, 125). Im Kommunistischen Manifest konzedieren Marx und Engels der politischen Führungsschicht des Feudalismus, sich unter dem Einfluss der mittelalterlichen Religion, die die Standesordnung als gottgewollt hingestellt hat, »Illusionen« über die Ausbeutungsstrukturen, an denen sie partizipierten, gemacht zu haben, d. h. davon überzeugt gewesen zu sein, mit der Ausfüllung ihrer Standesrolle ihre sozialethischen Pflichten zu erfüllen; in diesem Sinne ist im Manifest von den »heiligen Schauer[n] der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung« die Rede (MEW 4, 464). Demgegenüber hat die normative Selbstbeschreibung des bürgerlich-kapitalistischen Klassenstaates den Charakter der »handgreiflichen Lüge« angenommen (Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 60): Die Diskrepanz zwischen seinen normativen Ansprüchen und den faktischen Machtverhältnissen lässt sich der herrschenden Klasse als schuldhaftes Versagen zurechnen, da die Einsichtsfähigkeit der Individuen im Zuge der Aufklärung gewachsen ist. Marx formuliert in »Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie« den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, 178 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). In seinem »Briefwechsel von 1843« mit A. Ruge, M. Bakunin und L. Feuerbach weist er dem Gesellschaftskritiker die Aufgabe zu, »aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck [zu] entwickeln.« (MEW 1, 345) Der Marx’sche kategorische Imperativ ist demzufolge in die »Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes« eingebunden. Dies bedeutet zunächst, dass die Machtverhältnisse der kapitalistischen Klassengesellschaft mittels der bürgerlichen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität immanent kritisiert werden können. Diese Ideen gehören laut dem Kommunistischen Manifest zu den »Bildungselemente[n]« des Proletariats (MEW 4, 471). Sie sind eine unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass der revolutionären Avantgarde die »Erzeugung« eines »kommunistischen Bewusstseins« gelingen kann (MEW 3, 70) – reichen allerdings nicht aus, um den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft zu einer normativen Verpflichtung erklären zu können, da das Privateigentum für die bürgerliche Sozialethik essentiell ist (MEW 4, 480). Um die kommunistische Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel normativ fundieren zu können, müsste die bürgerliche Sozialethik in der »quid juris?«-Perspektive transformiert werden. Diese Aufgabe haben Marx und Engels allerdings nirgends explizit in Angriff genommen. Obwohl Marx und Engels dem Kapitalismus keinen evolutionären Eigenwert zubilligen, kann der Vorwurf einer ökonomistisch verkürzten Interpretation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, den Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns gegen Marx’ Kapital erhebt, auf die Frühschriften beider Autoren m. E. nicht übertragen werden, wenn man die reduktionistische Formulierung in der Deutschen Ideologie: »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein« (MEW 3, 27) als eine plakativ-einseitige Zuspitzung des Basis/Überbau-Theorems liest. Im Kommunistischen Manifest räumen Marx und Engels ein, dass die »Entwicklungsstufen der Bourgeoisie« stets von einem »politischen Fortschritt« begleitet waren (MEW 4, 464). Max Webers Prognose, dass die Abschaffung des Privatkapitalismus nicht zum »Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit« führen werde, 59 findet einen argumentativen 59
S. Anm. 6.
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Anknüpfungspunkt in der These der Deutschen Ideologie, dass aus der Arbeitsteilung und der Tauschwirtschaft per se sozioökonomische Konflikte und Klassenstrukturen entspringen. Marx und Engels folgern aus dieser These, dass Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft in einer kommunistischen Gesellschaft beseitigt werden sollen (MEW 3, 33 u. 68 f.), und zwar dadurch, dass die Arbeit selbst im Sinne der erzwungenen Berufstätigkeit überflüssig wird, indem alle Produkte, die für unseren Lebensunterhalt erforderlich sind, von Maschinen hergestellt werden. Hierbei blenden Marx und Engels jedoch die weitreichenden Auswirkungen der Tatsache aus, dass die Arbeitsteilung auch in einer kommunistischen Gesellschaft nicht verschwinden kann, da im Dienstleistungssektor die fachkundige Arbeit von Menschen unentbehrlich ist. Wenn die kommunistische Wirtschaftsform marktanaloge Strukturen enthält, werden die Interessengegensätze und Konkurrenzstrukturen der Tauschwirtschaft nur modifiziert, aber nicht grundsätzlich überwunden. Überträgt man die Kontrolle aller ökonomischen Austauschprozesse staatlichen Behörden, um dieses Konfliktpotential einzudämmen, so wird erneut eine Machtelite geschaffen. Aus dem Argumentationsansatz der Deutschen Ideologie ergibt sich daher die ernüchternde Konsequenz, dass Herrschaftsstrukturen und damit auch die ideologische Verschleierung realer Verhältnisse integrale Momente jeder Gesellschaft bilden. Die Ideologiekritik bleibt demnach eine unverzichtbare und unabschließbare Aufgabe. Dass die Theoriestruktur der kritischen Philosophie der Geschichte, die Marx und Engels in ihren Frühschriften konzipieren, auf der dialektischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive beruht, zeigt Engels’ programmatische Feststellung in »Die Kommunisten und Karl Heinzen« (1847), dass der Kommunismus keine »Doktrin« ist, sondern »die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats« (MEW 4, 321 f.). Die Kausalanalyse systembedingter Krisentendenzen der zeitgenössischen kapitalistischen Ökonomie in der Beobachterperspektive – im Zentrum steht hierbei die Proletarisierung des handwerklichen Mittelstands durch die Industrialisierung – soll die sozioökonomischen Ausgangsbedingungen der intendierten Gesellschaftsveränderung ans Licht bringen. Marx und Engels vertreten die These, dass diese notwendigen Bedingungen zu hinreichenden werden, wenn der revolutionären Avantgarde die Erzeugung eines kommunistischen Bewusstseins durch die Kritik der normativen Selbstbeschreibung des bürgerlichen Klassenstaates ge180 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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lingt. Die Aussagen ihrer kritischen Geschichtsphilosophie, die Marx und Engels in ihren Frühschriften konzipieren, über die »Bedingungen der Befreiung des Proletariats« haben insofern keinen doktrinären Charakter, als sie nur anhand des Erfolgs oder Misserfolgs von praktischen Versuchen der Gesellschaftsveränderung verifiziert oder falsifiziert werden können. In diesem Sinne beziehen sie sich auf Möglichkeitsspielräume der gegenwärtigen historischen Situation in der Teilnehmerperspektive. 60 Die in der Deutschen Ideologie geforderte Selbstreflexion des Gesellschaftskritikers schließt ein, dass er sich über die Erfolgsaussichten seines Unternehmens Rechenschaft ablegen soll, indem er den Zusammenhang seiner Kritik mit seiner »eignen materiellen Umgebung« untersucht, also sich selbst gegenüber die Beobachterperspektive des Basis/Überbau-Theorems einnimmt (vgl. MEW 3, 20). Die Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Habermas Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus kann somit als Leitfaden für eine zum Geschichtsdeterminismus gegenläufige Rekonstruktion der Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus fungieren. Die Konsequenz, die sich aus dem Argumentationsansatz der Deutschen Ideologie ergibt, wenn man ihn gegen den Strich liest: dass zwischen den Antagonismen der »durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen« (MEW 3, 33) und der normativen Selbstbeschreibung des Staates als Advokat von Allgemeininteressen per se ein ideologieträchtiger Widerspruch besteht, bildet den theoretischen Ausgangspunkt für den Versuch der vorliegenden Beitrags, Möglichkeitsspielräume der gegenwärtigen geschichtlichen Situation zu beschreiben 61: In den kapitalistischen Ländern ist der ideologische Charakter der neoliberalen Doktrin, die Deregulierung der Marktkräfte taste die demokratischen Institutionen des Staates nicht an, offenkundig geworden; der wachsende zivilgesellschaftliche Protest in China demontiert die ideologische Selbstbeschreibung der kommunistischen Führungsschicht als des unbestechlichen Anwalts des Volkes. Die Dynamik, die hieraus entstanden ist, könnte – dies ist zumindest eine Marx erteilt im »Briefwechsel von 1843« jeder geschichtsdeterministischen »Konstruktion der Zukunft« eine Absage (MEW 1, 344). Eine ›doktrinale‹ Lesart des Historischen Materialismus läuft somit dem Selbstverständnis von Marx und Engels in den 1840er-Jahren zuwider. Das Diktum vom unvermeidlichen Sieg des Proletariats im Kommunistischen Manifest (MEW 4, 474) muss demnach als politische Rhetorik gewertet werden. 61 S. o. Abschnitt 2. 60
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realistische Hoffnung – in einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus einmünden.
5.
Habermas’ Stellungnahme zur Analyse der Warenform in Marx’ Kapital
Habermas appliziert die methodische Doppelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus wie auch in der Theorie des kommunikativen Handelns auf Marx’ Analyse der Warenform im Kapital, wobei er seine Rekonstruktion ihrer lebensweltlichen Dimension 1981 umakzentuiert, da er die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie nicht länger als eines der »Teilstücke« des Historischen Materialismus (RHM 41) ansieht. Im Folgenden sollen der systemfunktionale und der normative Aspekt der Warenform-Analyse nacheinander skizziert und Habermas’ Kritikpunkte in der Theorie des kommunikativen Handelns (s. o. S. 157) umrissen werden. Abschließend soll versucht werden, die Metakritik Michael Heinrichs und Moshe Postones an seinen Einwänden zu entkräften. Die Warenform-Analyse hat in der systemfunktionalen Beobachterperspektive die Aufgabe, die Rolle des »Medium[s] Geld« als des »Steuerungsprinzip[s]« des »selbstgeregelten Marktverkehrs« zu explizieren (LS 36, 42 f., TkH II 492). Den Ausgangspunkt der Warenform-Analyse, die den für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft spezifischen Begriff des Geldes entwickeln soll, bildet die Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert von Waren, d. h. ihrer Nützlichkeit für die Befriedigung von Bedürfnissen, und ihrem Tauschwert (MEW 23, 49 ff.). Marx’ Begriff des Tauschwerts beruht auf einer Modifikation von Adam Smith’ Bestimmung der Arbeit als des »Wertmaß[es]« der Waren. 62 Smith vertritt die These, dass die Arbeit auf der ersten »Entwicklungsstufe« der Tauschwirtschaft das »Kaufgeld« gewesen sei, »womit alles übrige bezahlt wurde«: in dem Sinne, dass die Tauschpartner die Arbeitszeit und -mühe berechnet hätten, die sie aufwenden mussten, um eine Ware anbieten zu können, und die Preise auf dieser Basis ausgehandelt worden seien. 63 Marx weist jedoch darauf hin, dass 62 63
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 28 f., 33 f. A. a. O., S. 28, 42
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ein solcher Warentausch in der antiken Ökonomie nur in beschränktem Maße praktiziert wurde: Die Arbeit von Sklaven wurde nicht in der von Smith beschriebenen Weise taxiert (MEW 23, 74, 94 f.). Dominierenden Einfluss auf die Warenpreise gewinnt die jeweils erforderliche Arbeitszeit und -mühe erst in der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder als Personen und damit als Eigentümer ihrer Arbeitskraft anerkennt (MEW 23, 89, 97 ff., 116 f.). Der für diese Gesellschaftsformation spezifische Begriff des Geldes ergibt sich daraus, dass in ihr Arbeitskraft mit Geld gekauft werden kann – und muss. Marx stimmt Smith darin zu, dass sich der Marktpreis einer Ware bei freier Konkurrenz in der Regel der für ihre Produktion erforderlichen Arbeitszeit und -mühe anpasst; 64 Smith’ Begriff des Wertmaßes wird von Marx aber zugleich in einem entscheidenden Punkt korrigiert. Nach Smith kann jeder Marktteilnehmer das Wertmaß seiner Waren selber berechnen, indem er die Zeit und Mühe überschlägt, die er investieren musste; 65 nach Marx bemisst sich dagegen der Tauschwert einer Ware nach dem »Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit«, die für ihre Produktion erforderlich ist (MEW 23, 54): Da die für ein Produkt, das niemand kaufen will, aufgewendete Arbeit offenkundig gesellschaftlich nicht notwendig ist (MEW 23, 122), kann das Quantum der Arbeitszeit und -mühe, das Marx im Auge hat, nicht unabhängig vom Tausch und daher nur in Geld gemessen werden. 66 Hieraus ergibt sich ein zirkuläres Verhältnis zwischen dem Tauschwert von Waren im Marx’schen Sinne und dem spezifischen Begriff des Geldes in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: 67 Auf der einen Seite will Marx mittels des Begriffs des Tauschwerts die »Genesis« der bürgerlich-kapitalistischen »Geldform« rekonstruieren, d. h. den Ursprung der Auffassung aufhellen, dass menschliche Arbeitskraft per se einen Geldwert hat (MEW 23, 62) – in diesem Sinne ist der Tauschwert der bürgerlich-kapitalistischen Geldform vorgeordnet –, auf der anderen Seite kann der Tauschwert als Materialisierung gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit und -mühe nur mittels des Geldes bestimmt werden. Marx appliziert auf dieses zirkuläre Verhältnis Hegels MEW 23, 116 f.; Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 48 ff. – Signifikante Abweichungen ergeben sich z. B. bei begehrten seltenen Produkten. 65 Vgl. a. a. O., S. 42. 66 Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58; MEW 42, 140). Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 215, 219. 67 Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 45 ff. 64
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reflexionslogischen Begriff der Substanz (MEW 23, 53, 58 ff.): Das Geld wird vom Tauschwert der Waren ›gesetzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹. 68 Überträgt man die Marx’sche Kategorie des Tauschwerts, die sich in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als die dominierende Regelstruktur des Warentauschs etabliert, auf die menschliche Arbeitskraft – sie wird in dieser Gesellschaftsformation insgesamt (durch Arbeitsverträge) gekauft bzw. verkauft und hat damit den Status einer Ware –, so bemisst sich ihr Wert nach der für ihre Reproduktion erforderlichen Arbeitszeit (MEW 23, 184 f.). Die ›Arbeitgeber‹ können somit darauf insistieren, dass sie die Arbeitskraft, die die Lohnabhängigen ihnen zur Verfügung stellen, nach ihrem Wert bezahlen, wenn der Lohn für die Befriedigung der Grundbedürfnisse und die Aufzucht von Kindern ausreicht, ohne dass die Lohnabhängigen hieraus den Rechtsanspruch ableiten können, nur so viel zu arbeiten, wie es für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft unabdingbar ist: Die ›Arbeitgeber‹ können sie länger für sich arbeiten lassen, da sie ihre Arbeitskraft gekauft haben; sie können sich demnach den »Mehrwert« an Produkten bzw. Dienstleistungen, den die Lohnabhängigen in den zusätzlichen Arbeitsstunden schaffen, selber – als Profit – aneignen (MEW 23, 201 ff.). Indem die ›Arbeitgeber‹ den Gewinn für Investitionen nutzen und weitere Lohnabhängige einstellen, kommt die Kapitalakkumulation in Gang, in der Marx das Movens der kapitalistischen Ökonomie sieht. Die Lohnabhängigen können sich wiederum dem Bestreben der ›Arbeitgeber‹, die Arbeitszeit maximal auszudehnen, mit dem Argument widersetzen, dass ihre Arbeitskraft nicht durch Überbeanspruchung beschädigt werden darf: Deren Wert wird ja nur dann anerkannt, wenn ihre Reproduktion gewährleistet ist (MEW 23, 248). Die Zielsetzung des systemischen Aspekts der Warenform-Analyse: die ökonomischen Steuerungsfunktionen des bürgerlich-kapitalistischen Geldmediums zu explizieren, erstreckt sich nicht nur auf die Preisbildung und die Kapitalakkumulation, sondern auch auf die Kämpfe zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen um Arbeitszeit und Lohnhöhe. In den ersten Jahrzehnten der Industriellen Revolution konnten die Unternehmer die Arbeitszeit permanent heraufsetzen, da zahlreiche Handwerker ihre Existenzgrundlage verloren hatten und die Bevölkerung zudem kontinuierlich wuchs, woraus ein Überangebot an proletari68
A. a. O., S. 45.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
schen Arbeitskräften resultierte; die gravierenden Folgen für die Gesundheit der Lohnabhängigen gaben in den westlichen Ländern Anlass zu einer staatlichen Reglementierung der Arbeitszeit, die letztlich finanziell motiviert war: Den Armeen der Kolonialmächte fehlten wehrdiensttaugliche Rekruten; die soziale Verwahrlosung infolge der Zerrüttung von Familien, deren Ernährer starben, drohte die wirtschaftliche Expansion zu beeinträchtigen (MEW 23, 253 f., 267 f., 293 ff.). In der Teilnehmerperspektive der Warenform-Analyse wird die »konfliktreiche Interaktion« zwischen den sozialen Klassen unter normativen Gesichtspunkten dargestellt (TkH II 492). Marx nennt den Mehrwert, den sich die Unternehmer aneignen, eine »dem Arbeiter ausgepumpte Beute« (MEW 23, 622). In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus interpretiert Habermas Marx’ Charakterisierung der Lohnarbeit im Kapitalismus als eines Ausbeutungsverhältnisses im Sinne des Historischen Materialismus, für den die normative Selbstbeschreibung des Staates als Anwalt von Allgemeininteressen seit jeher in Widerspruch zu den sozioökonomischen Antagonismen und Klassenstrukturen steht (s. o. S. 176): »Der Widerspruch besteht« – so Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus – »zwischen den Geltungsansprüchen von Normen- und Rechtfertigungssystemen, die Ausbeutung nicht explizit zulassen dürfen, und einer Klassenstruktur, die die privilegierte Aneignung gesellschaftlich produzierten Reichtums zur Regel macht.« (LS 35) Ein solcher Widerspruch »zwischen Idee und Wirklichkeit« bildet laut Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus auch in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft den Angriffspunkt der Ideologiekritik (LS 39). Gemäß der Warenform-Analyse im Kapital entspringt aus der Kategorie des Tauschwerts zwangsläufig die Auffassung, dass die Arbeitskraft von Lohnabhängigen ›nach Wert‹ entgolten wird, wenn ihre (bloße) Reproduktion gewährleistet ist – so dass die ›Arbeitgeber‹ den von den Lohnabhängigen produzierten Mehrwert zu Recht als ihr Eigentum deklarieren können. Laut Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus lässt sich diese Auffassung, mit der die privilegierte Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Kapitalisten legitimiert wird, im Rekurs auf die »universalistische[n] Wertsysteme«, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausbilden, als ideologisch entlarven (LS 38 f.). Habermas vertritt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus allerdings nicht mehr – wie noch in Theorie und Praxis – den Standpunkt, dass zwischen den »liberalen Naturrechtskonstruktio185 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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nen der bürgerlichen Gesellschaft« und der Auffassung, die Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten sei legitim, ein offener Widerspruch besteht (TP2 115 f., 248 ff.): Laut Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus sind die »legitimationswirksamen Traditionsbestände« des bürgerlichen Naturrechts durch die dominierende Rolle, die der Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hat, »von einer in die Basis selbst eingebauten Ideologie abhängig« geworden; Habermas sieht aber zugleich in den »normativen Strukturen«, die die Naturrechtskonstruktionen in Ansatz bringen, einen »Entwicklungsspielraum«, der für eine Kritik der Ansicht, der Mehrwert gehöre den Kapitalisten, fruchtbar gemacht werden könne (LS 41, 39). Marx bezeichnet die Naturrechtslehre Lockes als die »Grundlage« der »ganzen spätren englischen Ökonomie« (Theorien über den Mehrwert, MEW 26/1, 343). Lockes Menschenrechtsidee, der zufolge jeder Mensch Eigentümer seines Körpers, damit auch seiner Arbeitskraft ist und dementsprechend ein natürliches Recht auf das »Werk seiner Hände« hat, 69 bildet den Ausgangspunkt der von Adam Smith paradigmatisch formulierten bürgerlich-kapitalistischen Auffassung, dass sich der Wert einer Ware nach der Arbeitszeit und -mühe bemisst, die in sie investiert wurde, woraus sich wiederum – wie Marx’ Warenform-Analyse zeigt – die Konsequenz ergibt, dass die Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten legitim sei. Hiermit schlägt Lockes Fundierung des Rechts auf Eigentum in der eigenen Arbeit in ihr »direktes Gegenteil um« (MEW 23, 609), denn die Kapitalisten, die mit dem Mehrwert, den die Lohnabhängigen für sie erarbeiten, weitere Arbeitskräfte einstellen, schlagen aus dem Profit, der ihnen zugeflossen ist, neuen Profit heraus, ohne selber hierfür noch arbeiten zu müssen: In diesem Sinne wird Lockes naturrechtliche Fundierung des Eigentums in der Arbeit durch die Kategorie des Tauschwerts ausgehöhlt. Zugleich zeigt ein ungelöstes Problem in Lockes zweiter Abhandlung über die Regierung, dass von seiner Naturrechtskonzeption Anstöße für eine kapitalismus-kritische Weiterführung der bürgerlichen Sozialethik ausgehen könnten. Locke folgert aus seiner Eigentumstheorie, im Naturzustand dürfe sich jeder nur so viel Naturprodukte durch eigene Arbeit aneignen, dass seinen Mitmenschen noch ausreichend Ressourcen für ihren LebensJohn Locke: »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung« (1690), § 27. In: ders.: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a. M. 1977, S. 216.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
unterhalt zur Verfügung stehen; er tendiert zu der Auffassung, dass diese naturrechtliche Eigentumsschranke mit der Einführung der Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft hinfällig geworden sei, da denjenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten können, nun die Möglichkeit offen stehe, als Lohnarbeiter von den Besitzenden eingestellt zu werden; Locke bezieht jedoch nicht eindeutig Position. 70 Wenn sich im Rahmen einer produktiven Fortführung der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption Argumente dafür finden lassen, dass die von Locke für den Naturzustand postulierte Eigentumsschranke auch nach der Einführung der Tauschwirtschaft gilt, können staatliche Beschränkungen der Kapitalvermehrung zugunsten der Lohnabhängigen und Besitzlosen normativ gerechtfertigt werden. Laut Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus tritt in den Krisen der marktwirtschaftlichen Ökonomie, in der sich die Kluft zwischen Reich und Arm zuspitzt, offen zutage, dass die Arbeiter im Kapitalismus ausgebeutet werden, so dass der »ideologische Kern« der bürgerlichen Gesellschaft – die Warenform der menschlichen Arbeit – »durch Reflexion« zertrümmert werden könne, d. h. mittels einer produktiven Weiterführung der bürgerlichen Menschenrechtsidee (LS 46 ff.). Georg Lohmann wendet jedoch in seinem Aufsatz »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab«, den Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns mehrfach heranzieht, gegen die von Habermas zuvor vertretene Auffassung, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie sei in den Theorierahmen des Historischen Materialismus eingebettet (RHM 41, 144), ein, dass Marx in den Grundrissen und im Kapital die Überzeugung zeitgenössischer Sozialisten (etwa Proudhons), man könne die kapitalistische Reichtumsakkumulation auf der Basis der bürgerlichen Sozialethik als ›ungerecht‹ brandmarken, d. h. immanent kritisieren, verwirft (MEW 42, 174; 23, 99, 559). 71 Nach Marx macht seine Analyse der Warenform deutlich, dass der ›dialektische‹ Umschlag der Locke’schen Fundierung des Eigentums in der eigenen Arbeit in die normative Rechtfertigung der Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten, so absurd er auf den ersten Blick erscheinen mag, völlig konsequent erfolgt: Marx spricht von einer »inA. a. O., §§ 34, 36, 46–50, S. 220 ff., 228 ff. Lockes Schwanken ist insbes. in § 36 bemerkbar. 71 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 235, 248. Vgl. TkH II 494, 497 f., 502, 504. 70
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nere[n], unvermeidliche[n] Dialektik« (MEW 23, 609), die ans Licht bringe, dass das kapitalistische »Geldsystem« als »das System der Freiheit und Gleichheit« gewertet werden müsse, wenn man die Begriffe »Freiheit« und »Gleichheit« im Sinne der von Locke geprägten bürgerlichen Menschenrechtsidee versteht (MEW 42, 174, vgl. 170; 23, 189 f.). Marx kann aufgrund seiner These, dass die faktische Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten mit der bürgerlichen Menschenrechtsidee konform gehe, seine Charakterisierung des Tauschwerts als »sich selbst bewegende[r] Substanz« im Hegel’schen Sinne (MEW 23, 169) auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Ganzen ausweiten, diese also als im Tauschwert fundierte »substantielle Totalität« 72 interpretieren. Seine Bestimmung des Verhältnisses des Tauschwerts zur bürgerlich-kapitalistischen Geldform mittels der reflexionslogischen Figur des ›Setzens als Voraussetzen‹ schließt ein, dass auch der normative Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft vom Tauschwert ›gesetzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹ wird. Auf der einen Seite setzt die bürgerlich-kapitalistische Auffassung, dass menschliche Arbeit per se einen Geldwert hat, die Anerkennung jedes Menschen als des Eigentümers seiner Arbeitskraft voraus; auf der anderen Seite appliziert der späte Marx das Basis/Überbau-Theorem in einer reduktionistischen Version auf das bürgerliche »Rechtsverhältnis«: mit der These, dessen »Inhalt« sei »durch das ökonomische Verhältnis gegeben«, werde also vom Tauschwert ›gesetzt‹ (MEW 23, 99). 73 Wie lässt sich Marx’ Diktum, der von den Kapitalisten angeeignete Mehrwert sei eine »dem Arbeiter ausgepumpte Beute« (MEW 23, 622), damit vereinbaren, dass er eine normative Kritik der kapitalistischen Reichtumsakkumulation im Horizont der bürgerlichen Sozialethik für unmöglich erklärt? Habermas schließt sich in der Theorie des kommunikativen Handelns dem Lösungsvorschlag Lohmanns an, demzufolge Marx seine ethische Kapitalismus-Kritik im Kapital von einem Standpunkt außerhalb des »System[s]« der bürgerlichen Gesellschaft (MEW 42, 174) vorbringt. 74 Marx erhebt die schärfsten VorwürPostone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 523. In den Grundrissen bezeichnet Marx den »Austausch von Tauschwerten« als die »reale Basis aller Gleichheit und Freiheit« in der bürgerlichen Gesellschaft (MEW 42, 170). 74 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 255 f., 281 ff.; TkH II 497. 72 73
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fe in seiner historischen Darstellung der Vorgeschichte der kapitalistischen Produktion: Diese komme »blut- und schmutztriefend auf die Welt« (MEW 23, 788, vgl. 770). Marx’ Verdikt ist einerseits auf die Gewalttaten der Kolonialherren gemünzt, andererseits auf die – häufig widerrechtliche – Aufkündigung tradierter Lehnsverhältnisse durch die Grundbesitzer zu Beginn der Neuzeit in Europa: Die Vertreibung von Bauern, die nun gezwungen waren, sich in den Städten als Tagelöhner zu verdingen, machte Platz für gewinnträchtigere Produktionszweige, insbes. die Viehzucht und den Anbau des Rohmaterials für die aufkommenden Textilmanufakturen (MEW 23, 770 ff.). Dass die Vorgeschichte des neuzeitlichen Kapitalismus massive Verstöße gegen die Rechtsnormen und ethischen Verpflichtungen, zu denen sich die Zeitgenossen – zumindest verbal – bekannten, einschloss, steht außer Frage; hieraus folgt jedoch nicht, dass der Mehrwert, den sich die ›Arbeitgeber‹ unter den Bedingungen des etablierten kapitalistischen Systems aneignen, als »Beute« zu deklarieren ist. Da der späte Marx »keinen systematischen Begriffsrahmen« für eine normative Kritik am Kapitalismus entwickelt, kommt es unter geltungstheoretischen Gesichtspunkten zu einem – mit Lohmann zu sprechen – »Kollaps« der kapitalismus-kritischen Zielsetzung des Kapital. 75 Lohmann sieht den einzigen Ausweg darin, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie vermittels einer kritisch-systematischen Rekonstruktion, die sich von seiner eigenen Intention entfernt, in den Historischen Materialismus einzuordnen. 76 Lohmann plädiert hierbei für eine ›nicht-objektivistische‹ Lesart des Historischen Materialismus am Leitfaden von Habermas’ Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive. 77 Habermas hat die These, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie sei eine Teiltheorie des Historischen Materialismus, in der Theorie des kommunikativen Handelns fallen gelassen. Sein Vorwurf, Marx habe den »Versuchungen des Hegel’schen Totalitätsdenkens nicht widerstanden« (TkH II 501), besagt auf der »quid facti?«-Ebene, dass »Ökonomie und Staatsapparat« im Kapital nicht als »zwei SteuerungsLohmann: a. a. O., S. 281; ders: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx. Frankfurt a. M. 1991, S. 278. 76 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 236, 281. – Dies berührt sich mit Engels’ ›historistischer‹ Lesart des Kapital (MEW 13, 473 ff.). Vgl. Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 229 ff., 258 ff. 77 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff., 280 f. 75
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medien« der sozialen Evolution, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, konzipiert werden, ihre Relation im Kapital vielmehr reduktionistisch bestimmt wird, indem die reflexionslogische Figur des ›Setzens als Voraussetzen‹ auf das Verhältnis von Tauschwert und bürgerlichem Rechtsverhältnis appliziert wird (TkH II 504). Auf der »quid juris?«-Ebene besagt Habermas’ Vorwurf, Marx’ Warenform-Analyse trage aufgrund ihres Rekurses auf Hegels Logik der methodischen Differenz von Beobachter- und Teilnehmerperspektive nicht adäquat Rechnung, dass Marx eine normative Kritik am Kapitalismus im Ausgang von der bürgerlichen Sozialethik zu Unrecht für unmöglich erklärt: Er kann nicht ausschließen, dass eine solche Kritik mittels einer produktiven Weiterführung der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption formuliert werden kann; in den 1840er-Jahren haben Marx und Engels einen solchen Weg selber anvisiert. 78 Auf beiden Ebenen leistet die Orientierung der Warenform-Analyse an Hegels Substanzbegriff somit einer »ökonomistisch verkürzte[n] Interpretation« der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Vorschub (TkH II 504). Fasst man diese als eine in sich kreisende substantielle Totalität auf, kann man sie nur als Ganzes akzeptieren oder verwerfen. Hierdurch geraten die Rationalitätsgewinne aus dem Blick, die die bürgerlichen Rechtsverhältnisse mit der Kodifizierung von Menschenrechtsnormen und der Beseitigung feudalistischer Standesgrenzen mit sich bringen (vgl. TkH II 499). Zugleich wird die Illusion befördert, durch die Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln würden die Klassengegensätze, die alle bisherigen Gesellschaftsformationen seit der Staatsgründung durchherrschen, prinzipiell überwunden. Während sich Lohmann in »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« explizit für die Einbettung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie in einen – ›nicht-objektivistisch‹ verstandenen – Historischen Materialismus ausspricht, legt Habermas dessen Theorierahmen, worin dem »Widerspruch« zwischen der Ebene normativer Selbstbeschreibungen und den sozioökonomischen Antagonismen eine Schlüsselfunktion zukommt (MEW 3, 31 f.), in der Theorie des kommunikativen Handelns implizit als kritischen Maßstab an den »MonisS. o. S. 179. Der späte Marx »rutscht« mit seinem Rekurs auf Hegels Logik demnach »begrifflich in die Fiktion«, dass »den historisch-sozialen Lebenswelten kein begrifflich angebbarer, und daher prinzipieller Widerstand« gegen das Kapitalsystem eigne (Lohmann: a. a. O., S. 278).
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mus« der Warenform-Analyse in Marx’ Kapital (TkH II 504) an. Michael Heinrich und Moishe Postone halten es demgegenüber – im Sinne der »neuen Marx-Lektüre« – für einen Gewinn, dass Marx seine Kritik der politischen Ökonomie vom Historischen Materialismus ablösen wollte. 79 Sie versuchen ihren Standpunkt durch eine Metakritik am Einwand, die Warenform-Analyse im Kapital trage der Dualität von Beobachter- und Teilnehmerperspektive nicht adäquat Rechnung, zu erhärten. 80 Heinrich führt seine Auseinandersetzung mit Habermas und Lohmann allerdings nicht konsequent auf der systematischen Ebene; er argumentiert primär textphilologisch, da er beiden Autoren zu Unrecht unterstellt, das Kapital missverstanden zu haben: »Dass es Marx darum gegangen wäre aufzuzeigen, dass der Kapitalismus seinen eigenen normativen Standards widerspreche, wurde von Habermas 81 und Lohmann 82 vertreten«; Marx intendiere jedoch im Kapital »keine immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft.« 83 Dies wird von Lohmann in seinem Aufsatz »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab«, den Heinrich nicht erwähnt, ausdrücklich konstatiert; 84 Habermas schließt sich dem Standpunkt Lohmanns in der Theorie des kommunikativen 79 Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 164–179; Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 390. 80 Bereits Tom Rockmore hat es in seiner Monographie Habermas on Historical Materialism (Bloomington/Indianapolis 1989) für verfehlt erklärt, die Unterscheidung zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive als kritischen Maßstab an Marx’ Warenform-Analyse anzulegen (a. a. O. S. 135 ff., 146). Hierbei betrachtet er im Unterschied zu Heinrich und Postone Marx’ Kritik der politischen Ökonomie als integralen Teil des Historischen Materialismus (a. a. O. S. 128, 146), wobei er jedoch auf die Argumente der »neuen Marx-Lektüre« und Lohmanns gegen diese Sichtweise nicht eingeht. Die Einwände, die im Folgenden gegen Heinrichs und Postones Metakritik an Habermas’ Marx-Kritik in der Theorie des kommunikativen Handelns vorgebracht werden, können m. E. auf die These Rockmores, die Applikation der Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive auf die Warenform-Analyse sei als »basic methodological flaw« zu werten (a. a. O. S. 145), übertragen werden. S. u. Anm. 113. 81 Heinrich führt als Beleg Theorie und Praxis an (TP 114 ff.). A. a. O., S. 179. 2 82 Heinrich verweist an dieser Stelle (ohne Seitenangaben) auf Indifferenz und Gesellschaft (s. Anm. 76) und Lohmanns Aufsatz »Zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit in Marx’ Kapitalismuskritik«. In: Emil Angehrn/Georg Lohmann (Hrsg.): Ethik und Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie. Königstein/Ts. 1986, S. 174–194. 83 Ebd. 84 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 248, 254 f., 278.
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Handelns an (TkH II 497). Dass der späte Marx eine normative Kritik am Kapitalismus im Ausgang von der bürgerlichen Sozialethik für ausgeschlossen hält, ist für Heinrich unproblematisch: »Es geht Marx […] gar nicht um eine eigene normative Argumentation, sondern darum, die (strukturelle und nicht etwa historische) Genese der in der bürgerlichen Gesellschaft als evident betrachteten Normen aufzuzeigen.« 85 Marx will mit seiner Analyse der Warenform eine solche »strukturelle« Genese rekonstruieren. Mit dem Aufweis der Genese einer normativen Überzeugung ist über ihren Geltungsanspruch noch nichts entschieden. Die Geltungsfrage spricht Heinrich im folgenden Zitat an: »Die für die bürgerliche Sozialphilosophie fundamentale Legitimation des Eigentums durch eigene Arbeit ist keine klug ausgedachte Rechtfertigungsideologie. Sie ist vielmehr einem objektiven, von den bürgerlichen Verhältnissen selbst hervorgebrachten Schein geschuldet.« 86 Die Rede vom »objektiven […] Schein« der bürgerlichen normativen Überzeugungen wird von Heinrich folgendermaßen erläutert: »Die Marxschen Argumente zielen darauf ab, dass die scheinbare Offensichtlichkeit von moralischen Maßstäben und Gerechtigkeitsvorstellungen gerade nichts ›natürliches‹ ist, sondern selbst noch ein historisches und gesellschaftliches Produkt darstellt.« 87 Diese Aussage ist jedoch wiederum auf der »quid facti?«-Ebene verortet: Sie bezieht sich auf einen Kernaspekt des Basis/Überbau-Theorems. Die entscheidende geltungstheoretische Frage, die durch Heinrichs Charakterisierung der bürgerlichen Normierungen als ›scheinhaft‹ aufgeworfen sind, lautet, ob allen oder einigen dieser Normierungen in dem Sinne der Status der Unwahrheit zuzusprechen ist, dass sie in künftigen Gesellschaftsformationen zu revidieren sind. Hierbei muss insbes. geklärt werden, ob die ›kapitalistische‹ Überzeugung, die Aneignung von Mehrwert durch die ›Arbeitgeber‹ sei legitim, in geltungstheoretischer Hinsicht auf derselben Stufe steht wie die bürgerliche Menschenrechtsidee, der zufolge jeder Mensch Eigentümer seines Körpers ist und daher nicht misshandelt oder versklavt werden darf. Heinrichs Charakterisierung der bürgerlichen Sozialethik als eines »objektiven […] Schein[s]« im obigen Zitat bezieht sich auf deren Genese: Hiermit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die bürgerlichen Normierungen – im Sinne der 85 86 87
Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 378. Ebd. Ebd.
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reduktionistischen Version des Basis/Überbau-Theorems – »von den bürgerlichen Verhältnissen« hervorgebracht wurden. 88 Die geltungstheoretische Frage, welche Dignität diesen Normierungen zukommt, wird von Heinrich abgewiesen: Gesellschaftskritik auf einer »normativen Grundlage« sei nach Marx »nicht mehr möglich«. 89 Verknüpft man diese Aussage mit Heinrichs Feststellungen, dass der späte Marx eine immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft für ausgeschlossen hält und auch keine eigene normative Argumentation entwickelt, 90 so folgt, dass in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie die geltungstheoretische Ebene insgesamt obsolet ist. Heinrich kommentiert die ethischen Vorwürfe, die Marx im Kapital erhebt, 91 dahingehend, dass er »zuweilen recht drastische Begriffe« benutze: »nicht nur Ausbeutung klingt pejorativ, auch ist davon die Rede, dass das Kapital die Arbeit ›vampyrmäßig‹ einsaugt.« 92 Nach Heinrich prangert Marx hiermit nicht »die Verletzung bestimmter Normen« an, er wolle die Arbeiter vielmehr dazu anspornen, um des »eigenen Interesses« willen politisch aktiv zu werden. 93 Heinrich betrachtet Marx’ ethische Vorwürfe im Kapital somit als politische Agitation ohne jede normative Grundlage. Nach Heinrich geht Lohmanns Diagnose des »Kollaps[es]« von Marx’ Gesellschaftskritik am Kapital deshalb vorbei, weil Marx die »quid juris?«-Ebene, auf der sich Lohmann hiermit bewegt, verabschiedet habe – worin Heinrich kein Defizit sieht. 94 Er will den »Monismus« der Marx’schen Warenform-Analyse (TkH II 504) somit dadurch retten, dass er die Applikation der methodischen Differenz von systemfunktionaler Beobachter- und geltungstheoretischer Teilnehmerperspektive auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie verwirft. Dieser Rettungsversuch bestätigt Habermas’ Einwand in der Theorie des kommunikativen Handelns, dass Marx’ Warenform-Analyse den Blick auf eine evolutionäre Transformation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verstellt (TkH II 499): Für eine Verständigung von protestierenden Arbeitern und Kapitalisten gibt es in der 88 89 90 91 92 93 94
A. a. O., S. 378 (s. o.). A. a. O., S. 380. A. a. O., S. 378 (s. o.). S. o. S. 188 f. A. a. O., S. 384, Anm. 12. A. a. O., S. 384. A. a. O., S. 378; Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft (s. Anm. 76), S. 278.
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Interpretation Heinrichs keinerlei normative Grundlage. Der entscheidende Einwand gegen seine Position lautet, dass sie auch jede Möglichkeit abschneidet, in einer künftigen Gesellschaftsformation Konsens über die fortdauernde Gültigkeit bestimmter bürgerlicher Normierungen zu erziehen: Wenn allen bürgerlichen Normen gleichermaßen der Status des »objektiven […] Schein[s]« zuzusprechen ist – wie Heinrich behauptet –, kann man nicht mehr plausibel machen, dass der Überzeugung, jeder Mensch sei Eigentümer seines Körpers, eine höhere Dignität zukommt als der Auffassung, die Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten sei legitim. Während Heinrich seine Metakritik am Einwand Habermas’ und Lohmanns, Marx verwische im Kapital mit seiner Interpretation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität die Differenz von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive, implizit vorbringt, zieht Postone dieses Begriffspaar explizit heran, stellt es jedoch inadäquat dar: Er spricht von einer »quasi-ontologischen Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt« bei Habermas, 95 während es sich tatsächlich um eine methodische Dualität handelt, für die die Differenz von »quid facti?« und »quid juris?«Fragen konstitutiv ist. Postone will Marx’ Konzeption der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität gegen Habermas’ Kritik mit der Feststellung verteidigen, Marx untersuche, »wie das gesellschaftliche Leben, das in anderen Gesellschaften zwei Dimensionen ausmachen dürfte« – nämlich von »Arbeit« und sozialer »Interaktion« –, »im Kapitalismus verschmolzen ist, insofern beide Dimensionen hier durch Arbeit vermittelt werden.« 96 Postone übersieht hierbei, dass sich Habermas’ Kritik am »Monismus« der Marx’schen Warenform-Analyse auf zwei Ebenen bewegt. Postone hat im angeführten Zitat lediglich die »quid facti?«-Ebene im Auge: Indem er gegen Habermas geltend macht, Marx konstatiere zu Recht die Verschmelzung der »Dimensionen« von Arbeit und sozialer Interaktion, die zuvor eine gewisse Eigenständigkeit gewahrt hätten, im Kapitalismus, vertritt er die These, dass die Rechtssphäre nicht – wie Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns behauptet (TkH II 504 f.) – als eigenständiges Steuerungsmedium der bürgerlich-kapitalisti-
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Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 382. A. a. O., S. 352.
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schen Gesellschaft begriffen werden könne. 97 Über diese – auf der »quid facti?«-Ebene angesiedelte – Kontroverse muss letztlich empirisch entschieden werden. Hiermit ist Habermas’ zentraler Einwand gegen den »Monismus« der Warenform-Analyse: dort komme die methodische Eigenständigkeit der geltungstheoretisch orientierten Teilnehmerperspektive zu kurz, aber noch gar nicht berührt. Ob Postones Metakritik an Habermas plausibel ist, entscheidet sich somit auf der »quid juris?«-Ebene. Für Postones eigene Interpretation der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie ist eine Textpassage aus Marx’ Grundrissen, aus der – wie er vermerkt – auch Habermas in Erkenntnis und Interesse zitiert (EI 67 f.), von zentraler Bedeutung: 98 »In dem Maße […], wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden […] Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein […] Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen […] Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« (MEW 42, 600 f.)
Der angeführte Passus aus den Grundrissen 99 antizipiert einen technischen Entwicklungsstand, auf dem die gesamte Produktion von Maschinen bewerkstelligt werden kann, so dass keine Arbeiter mehr – sondern nur noch technologische Führungskräfte – an ihr mitwirken müssen. Habermas sieht in Marx’ Prognose, dass die (mit der Kategorie des Tauschwerts untrennbar verknüpfte) kapitalistische Produktionsweise infolge des technischen Fortschritts zusammenbrechen werde, einen Beleg dafür, dass er in seiner Kritik der politischen Ökonomie in der Tat eine Analogie zwischen Naturprozessen und der sozialen Evolution herstellt (MEW 23, 26 f., s. o. S. 164 f.) – wobei Habermas allerdings darauf hinweist, dass es zur zitierten Passage aus den Grundrissen im Kapital kein Pendant gibt (EI 62 f., 65 ff.). Postone hält A. a. O., S. 380 f. A. a. O., S. 62, 349, 354, 561. 99 Die zitierten Sätze sind einer 1 1/2-Seiten langen Passage entnommen, aus der Habermas (EI 67 f.) und Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 62 unterschiedliche Abschnitte wiedergeben. 97 98
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Habermas deterministische Lesart der betreffenden Passage für verfehlt. 100 Marx’ Behauptung, dass der Begriff des Tauschwerts einer Ware als Materialisierung menschlicher Arbeitszeit und -mühe im Zuge des technischen Fortschritts hinfällig werden »muss« (MEW 42, 601), spricht allerdings für Habermas’ Deutung. 101 Postone interpretiert die zitierte Passage aus den Grundrissen dahingehend, dass auf der technologischen Entwicklungsstufe, die Marx dort im Auge hat, ein »Widerspruch« im »Wesenskern des Kapitalismus« virulent wird, wenn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aufrecht erhalten werden, so dass ein Großteil der Bevölkerung auch weiterhin gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen; durch den fraglichen Widerspruch« breche die »immanente Möglichkeit einer neuen gesellschaftlichen Ordnung« auf: 102 Der »prozessierende Widerspruch«, von dem in der Passage aus den Grundrissen die Rede ist, besteht nach Postone darin, dass auf der einen Seite die Aneignung von Mehrwert durch die ›Arbeitgeber‹ nur solange gerechtfertigt werden kann, wie die Kategorie des Tauschwerts von Waren als der Materialisierung menschlicher Arbeitskraft in Geltung bleibt, auf der anderen Seite die (im Begriff des Tauschwerts implizit enthaltene) bürgerlich-kapitalistische Auffassung, menschliche Arbeit habe per se einen Geldwert, jedoch in dem Maße unplausibel wird, wie der gesellschaftliche Reichtum durch maschinelle Produktion geschaffen wird, wobei diese von den Kapitalisten vorangetrieben wird, da sie kostengünstig ist. 103 In dieser Situation kann – so Postone – eine normative Kritik an der Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten mit durchschlagendem Erfolg vorgetragen werden: Ihnen kann entgegenA. a. O., S. 349. Auch Heinrich fasst die zitierte Formulierung als Vorhersage des »notwendigen ›Zusammenbruch[s]‹ der kapitalistischen Produktionsweise« auf (Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 349). Er sieht in der angeführten Passage aus den Grundrissen allerdings einen bloßen »Gedankenblitz«, den Marx »recht schnell ad acta legte – ganz im Unterschied zu manchen seiner Interpreten.« (a. a. O., S. 350) Wenn diese Deutung zutrifft, wird Postones Interpretation der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie der Boden entzogen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch – und gerade – dann, wenn man Postones ›nicht-deterministische‹ Lesart der Passage aus den Grundrissen akzeptiert und ihm darin Recht gibt, dass sie einen Interpretationsschlüssel für das Kapital enthält, sein Versuch scheitert, Marx’ Bestimmung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität gegen Habermas’ Kritik zu verteidigen. 102 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 68 f., 537 ff. 103 A. a. O., S. 53, 61. 100 101
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
gehalten werden, dass die Beschäftigung von Lohnarbeitern in der Produktion »überflüssig« geworden ist, die Institution der Lohnarbeit also nur deshalb aufrechterhalten wird, damit die Kapitalisten durch die Aneignung von Mehrwert ihr privates Profitstreben befriedigen können. 104 Diese Kritik zielt auf die endgültige »Abschaffung« der im Zuge des technologischen Fortschritts brüchig gewordenen Kategorie des Tauschwerts ab und findet in der Änderung der Eigentumsverhältnisse ihren institutionellen Niederschlag. 105 In der nach-kapitalistischen Gesellschaftsformation, die hiermit errichtet wird, soll – so Postone – mittels einer »kritische[n] soziohistorische[n] Auseinandersetzung mit dem Charakter moderner Universalität und Gleichheit«, d. h. mit den neuzeitlichen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität, ein normativer Rahmen etabliert werden, der die »Ungleichverteilungen von Reichtum und Macht, die Klassengesellschaften charakterisieren«, eindämmt. 106 Indem Postone den »prozessierende[n] Widerspruch«, von dem in der zitierten Passage aus den Grundrissen die Rede ist, ins Zentrum von Marx’ Bestimmung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität rückt, schreibt er dieser eine »Logik der historischen Entwicklung« zu, die auf das Ende des Kapitalismus zusteuere. 107 Postone muss hierbei die vom Textbefund nahe gelegte deterministische Lesart der Passage aus den Grundrissen verwerfen, 108 da sich andernfalls die groteske Konsequenz ergäbe, dass die Auflösung des Tauschwerts, den Marx als die »sich selbst bewegende Substanz« der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet (MEW 23, 169), im Zuge des technischen Fortschritts den Kollaps der bürgerlichen Menschenrechtsnormen nach sich zieht. Postone bringt mit seiner These, dass die Umstellung auf maschinelle Produktion die »Möglichkeit« der Überwindung des Kapitalismus eröffnet, 109 der Übergang zu einer postkapitalistischen Gesellschaft aber nur vermittels einer normativen Kritik an der Kategorie des Tauschwerts vollzogen werden kann, selber die Differenz von »quid facti?«- und »quid juris?«-Fragen A. a. O., S. 534, 541 f. A. a. O., S. 544 f., 548 f. 106 A. a. O., S. 543, 550. 107 A. a. O., S. 542 ff. 108 Vgl. a. a. O., S. 62: »Der Kapitalismus lässt die Möglichkeit seiner eigenen Negation entstehen, aber er evolviert nicht automatisch in irgend etwas anderes.« 109 S. Anm. 102. 104 105
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Smail Rapic
in Ansatz. Seiner Kritik am Habermas’schen Begriffspaar »System/Lebenswelt« liegt somit das Missverständnis zugrunde, dass es sich hierbei um eine »quasi-ontologische« Doppelung handelt. 110 Postone gesteht sich nicht ein, dass er mit seiner Forderung, zentrale bürgerliche Normen in eine postkapitalistische Gesellschaft zu integrieren, 111 den Monismus von Marx’ Warenform-Analyse verabschiedet. Seine These, dass »nicht alle Formen« der normativen »Universalität« in der bürgerlichen Gesellschaft »an den [Tausch-]Wert gebunden« sind, 112 ist mit Marx’ Bestimmung des Werts als »sich selbst bewegende[r] Substanz« unvereinbar: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft kann nur dann als substantielle Totalität, in deren Zentrum die Kategorie des Tauschwerts steht, begriffen werden, wenn das »Geldsystem« und das »System« der bürgerlichen »Freiheit und Gleichheit« zusammenfallen. Hieran scheitert Postones Versuch, Habermas’ Kritik an Marx’ Warenform-Analyse in der Theorie des kommunikativen Handelns zu entkräften. 113 Angesichts der systematischen Defizite, die Habermas und Lohmann in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie in geltungstheoretischer Hinsicht aufgedeckt haben, erweist sich der Historische Materialismus – in einer ›nicht-objektivistischen‹ Lesart, wie sie am Leitfaden der selbstreflexiven Theoriestruktur von Habermas’ LegitimationsproA. a. O., S. 381. A. a. O., S. 552 f. 112 A. a. O., S. 551. 113 Mit dem zentralen Argument, das in den voranstehenden Ausführungen gegen Heinrichs und Postones Antworten auf Habermas’ Marx-Kritik in der Theorie des kommunikativen Handelns vorgebracht wurde: dass die Unterscheidung zwischen der »quid facti?«- und einer »quid juris?«-Ebene in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie unhintergehbar ist, von ihm jedoch nicht angemessen thematisiert wird, lässt sich m. E. auch die These Rockmores entkräften, Habermas’ Einwände gegen die WarenformAnalyse beruhten auf der dogmatischen Setzung seines eigenen gesellschaftstheoretischen Konzepts und blieben daher Marx’ Kritik der politischen Ökonomie äußerlich, so dass sie »keine ernsthafte Herausforderung« für sie bildeten (Rockmore: Habermas on Historical Materialism (s. Anm. 80), S. 134, 140 ff.). Rockmore geht hierbei so weit zu behaupten: »Habermas abandons any pretense of an immanent critique of the Marxian value theory« (a. a. O. S. 140), was dem Textbefund der Theorie des kommunikativen Handelns zuwiderläuft. Gegen Rockmores These: die Theorie des kommunikativen Handelns »fails […] even to demonstrate the existence of the problem which Habermas claims to discern« (a. a. O. S. 138), ist einzuwenden, dass in Marx’ Kapital der Status der moralischen Kritik, die dort am zeitgenössischen Kapitalismus geübt wird, wie auch die historische Rolle der bürgerlichen Menschenrechtsidee unklar bleiben. 110 111
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Entgegnung auf Smail Rapic
bleme im Spätkapitalismus entwickelt werden kann – als der überlegene Theorierahmen, in den auch Marx’ Kritik der politischen Ökonomie vermittels einer kritischen Reformulierung einzubetten wäre. 114
Entgegnung von Jürgen Habermas Ich bin Smail Rapic für diesen Vortrag dankbar, weil er mich über die philosophischen und politischen Motive aufklärt, die unseren – mir bis jetzt persönlich unbekannten – Gastgeber motiviert haben, zu dieser Tagung die Initiative zu ergreifen. Die ausführliche Bezugnahme auf die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus veranlasst mich zu einer Bemerkung. In diesem Text schlägt sich eine Diskussion nieder, die wir zu Beginn unsrer Arbeit am Starnberger Institut geführt haben, als wir überlegten, welche empirischen Projekte wir in Angriff nehmen sollten. Der Text ist 1972 entstanden, also kurz vor dem Ende jener Nachkriegsperiode, die Hobsbawm im Rückblick auf das Zeitalter der Extreme als »Goldenes Zeitalter« beschrieben hat. In den westeuropäischen Staaten, die ihre sozialen Sicherungssysteme aufgebaut hatten, traten die Krisentendenzen des Kapitalismus damals nicht in der Gestalt von manifesten Wirtschaftskrisen, sondern in der verschleierten Form von Inflationstendenzen in Erscheinung. Das erklärt, warum Claus Offe und ich eine Theorie der Verschiebung des Krisenpotentials in den Steuerstaat und in die kulturellen Muster der Sozialisation entwickelt haben. Unter anderen Vorzeichen hat damals Daniel Bell ganz ähnlich über Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus geschrieben. Unter heutigen Bedingungen haben die Legitimationsprobleme zwar wieder eine gewisse Aktualität gewonnen, aber der inzwischen eingetretene Szenenwechsel sollte uns auch an die Fallibilität mehr oder weniger geistreicher Hypothesen erinnern. Wolfgang Streeck und andere kritisieren diesen Ansatz im Lichte der jüngsten Krise aus guten Gründen wegen des seinerzeit suggerierten Vertrauens in die ökonomische Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus. Auf die 114 Vgl. Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff., 280 f. – Den Anknüpfungspunkt dieses Programms bildet Engels’ ›historistisches‹ Verständnis des Kapital, das wiederum von den naturalistischen Zügen seines Spätwerks abgelöst werden muss.
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Entgegnung auf Smail Rapic
Weltfinanzmarktkrise passen unsere damaligen Hypothesen wie die Faust auf’s Auge. Die neuen Krisentendenzen des Weltwirtschaftssystems können freilich die Aufmerksamkeit der kritischen Gesellschaftstheorie auch dieses Mal über das Wirtschaftssystem hinaus auf die Überforderung nationalstaatlicher Steuerungs- und Interventionsfähigkeiten und auf die marktkonforme Aushöhlung der nationalstaatlich verfassten demokratischen Willensbildung lenken. Weil die ökonomischen Ursachen der Krise heute sichtbar in Erscheinung treten, finde ich es richtig, dass Smail Rapic eindringlich vor einer ökonomistischen Verengung der Perspektive warnt und an die »Ursprungsgestalt« des später von Friedrich Engels so genannten Historischen Materialismus erinnert. Nach dieser Lesart bildet das ökonomische System die Antriebskraft des Komplexitätswachstums, aber trotz dieses evolutionären Primats wurzeln Entstehung und Verarbeitung von Krisentendenzen in »Klassenverhältnissen« oder der Organisationsform der Gesellschaft im Ganzen. Allerdings greift Smail Rapic zu sehr auf meine frühen Schriften aus den 50er- und 60er-Jahren zurück, um alle die Splitter, die im Prozess der allmählichen Ausdifferenzierung dieser Anfänge zu der komplexen Gestalt der Theorie des kommunikativen Handelns abgefallen sind, aufzulesen und wieder zusammenzusetzen. Dadurch wird die Zäsur des Übergangs zur sprachtheoretischen Grundlegung der Gesellschaftstheorie, über die ich in den Einleitungen zur Studienausgabe Rechenschaft abgelegt habe, doch etwas verwischt. Mit Recht hebt er die sonst kaum bemerkte Kombination von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, die den Aufbau meiner Theorie schon seit dem Positivismusstreit bestimmt haben soll, hervor. Nicht uninteressant und für mich überraschend ist der Vorschlag, diese folgenreiche methodologische Entscheidung als eine Differenzierung zwischen zwei, in der dialektischen Methode eng zusammengeführten Operationen zu verstehen. Dieser auf Kontinuitäten fixierte Blick führt dann aber doch zu einem Kurzschluss zwischen der praktischen Absicht der Ideologiekritik und der gesellschaftstheoretischen Arbeit selbst. Die »empirisch falsifizierbare Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht« war eine ungare Idee aus dem Jahre 1957. Diese habe ich ebenso aufgegeben wie den hegelmarxistischen Begriff der gesellschaftlichen Totalität, der noch für die meisten Aufsätze in Theorie und Praxis 1963 den Hintergrund gebildet hat. Den Ideologiebegriff habe ich aus zwei Gründen aus dem Verkehr 200 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Smail Rapic
gezogen. Zum einen ist das politisch relevante öffentliche Bewusstsein der Wahlbevölkerungen kaum noch durch strukturierte Weltanschauungen religiöser oder philosophischer Herkunft geprägt. Nehmen wir als Beispiel das Politikmuster des Neoliberalismus. Dieses Hayek’sche Programm ist von einer ungewöhnlich erfolgreichen scientific community in die Ministerien ebenso einflussreicher Regierungen lanciert und dort, angesichts einer bedrohlichen Inflationsentwicklung, als Heilmittel kritiklos rezipiert und dann unter den politischen Eliten weiter verbreitet worden. Aber nicht die Theorien von Hayek und Friedman, sondern die daraus abgeleiteten neoliberalen Rezepte und Faustregeln sind in die breite politische Öffentlichkeit eingedrungen und dort diskutiert worden. Man kann nicht sagen, dass sich hinter den entsprechenden Parolen noch große Geheimnisse verbergen, die gelüftet werden müssten. Für den Rest an Transparenz sorgen die Wirtschaftsredaktionen der Tageszeitungen – was ja nicht heißt, dass diese nicht einäugig wären und der fälligen Kritik an der gegen die Tatsachen immer noch festgehaltenen Schulmeinung einen fairen Platz einräumten. Soweit die politische Öffentlichkeit über relevante Tatsachen, Themen und Gründe – wie heute in der Europapolitik – unaufgeklärt bleibt, ist das in erster Linie auf eine interessegeleitete Dethematisierung, also auf unterlassene, selektive oder unterdrückte Informationen vonseiten der Regierungen und Parteien zurückzuführen. Diese Strategien bleiben beim Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit in den von Massenmedien beherrschten Öffentlichkeiten unauffällig. Ablenkung, Fragmentierung und Zerstreuung beschreiben einen für Stimmungen und kontingent ausgelöste Erregungen anfälligen Zustand des öffentlichen Bewusstseins besser als »Ideologisierung«. Daher würde heute eine in praktischer Absicht auf Ideologiekritik angelegte Gesellschaftstheorie ins Leere laufen. Auf der Ebene des Verhältnisses von Theorie und Praxis geht es deshalb eher um die Entkoppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive. Eine unmittelbare Koppelung würde die kritische Anlage der Gesellschaftstheorie beeinträchtigen. Der Theoretiker kann nur zu informativen Zeitdiagnosen gelangen, wenn er die Rolle des auf Objektivität verpflichteten Wissenschaftlers mit der Rolle des politischen Akteurs nicht verschränkt. Seine Aussagen über Tendenzen und Gegentendenzen umschreiben Spielräume für mögliche politische Interventionen, in diesem Sinne für »objektive Möglichkeiten«. Die kritische Anlage der Theorie erklärt sich freilich ihrerseits aus 201 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Smail Rapic
einer Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive, gerade wenn die Gesellschaftstheorie nicht auf normative, sondern auf deskriptive, allerdings für die Selbstaufklärung moderner Gesellschaften relevante Aussagen abzielt. Die Verschränkung kommt zustande durch die Einbeziehung von Wissen, das aus der Teilnehmerperspektive gewonnen wird, in Beschreibungen, die aus der Perspektive einer dritten Person vorgenommen werden. Diese Operation bildet auf einer trivialen, aber oft übersehenen Ebene schon die methodische Grundlage für die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt. Der Tatsachenblick dieser neuen, erst um die Wende zum 19. Jahrhundert entstandenen Wissenschaften konstituiert sich durch die Vergegenständlichung des bis dahin nur performativ gegenwärtigen oder aus der Teilnehmerperspektive berichteten Wissens. Er transformiert die alltagspraktischen Erfahrungen von Teilnehmern, die bisher in Literatur und Reiseberichten, in Tagebüchern und Chroniken, in Wirtschaftsund Verwaltungsstatistiken, Kriegsberichten, historischen Erzählungen, praktischen Anleitungen zu Ökonomie, Rechtspraxis, Handwerk usw. festgehalten worden waren, in »Quellen« oder in Datensätze. Die Theorie des kommunikativen Handelns erfordert allerdings zwei weitere Operationen dieser Art. Die aus der analytischen Teilnehmerperspektive des Sprachphilosophen entwickelte Formalpragmatik lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Sorte von idealisierenden, also teilweise kontrafaktischen Unterstellungen, ohne die unsere eingewöhnten lebensweltliche Praktiken zusammenbrechen würden. Die rationale Rekonstruktion solcher Unterstellungen kann sich der Sozialwissenschaftler zu Eigen machen, beispielsweise im Fall der kontrafaktischen Erwartung eines Klägers, vor Gericht Recht zu bekommen. Dabei geht die aus der Teilnehmerperspektive vorgenommene Rekonstruktion des im Feld vorgefundenen performativen Wissens in die empirische Beschreibung dieser Praktiken ein. Auf höherer Stufe kann schließlich die rationale Rekonstruktion von Lernprozessen zu einer Beschreibung von latenten Potentialen führen, etwa in der Gestalt überschüssiger Produktivkräfte oder gültiger, aber systematisch uneingelöster Legitimationsansprüche. Die sozialen Pathologien, die unausgeschöpfte oder unterdrückte Rationalitätspotentiale anzeigen, werden dann an Maßstäben gemessen, die die Gesellschaft selbst erzeugt und die nicht einfach mit dem vermeintlich realistischen Achselzucken einer zynisch über sich selbst aufgeklärten Gesellschaft beiseitegeschoben werden können. 202 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Stefan Müller-Doohm
Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
»Gewiß sind die theoretischen Grundlagen der marxschen Kapitalismuskritik überholt. Aber eine kalte Analyse der zugleich befreienden und entwurzelnden, der produktiven und destruktiven Auswirkungen unserer ökonomischen Organisation auf die Lebenswelt haben wir heute nötiger denn je.« 1
Smail Rapic, der um meine lebens- und werkgeschichtlichen Forschungsinteressen in Bezug auf Habermas weiß, 2 hat angeregt, dass ich in meinem Vortrag die Marx-Rezeption und die Phasen der Kapitalismusanalyse von Habermas rekonstruiere. Wenn man darauf einige Schlaglichter wirft, worauf ich mich hier beschränke, dann stößt man auf eine frühe Habermas’sche Lektüre von Marx, bei der dessen Entfremdungstheorie aus den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 im Vordergrund steht. Ich verweise hier auf die Aufsätze von 1954/55 über »Dialektik der Rationalisierung« oder über »Marx in Perspektive«. 3 Schon in diesen Arbeiten meldet Habermas in technikkritischer Perspektive Zweifel an, dass den Produktivkräften ein emanzipatorisches Potential zuzuschreiben sei. In dem umfangreichen Review-Artikel von 1957 »Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus«, den Habermas auf Einladung von Gadamer in der Philosophischen Rundschau veröffentlicht hat, interessiert er sich für den Stellenwert, den das marxistische Jürgen Habermas: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften VIII. Frankfurt a. M. 1995, S. 92. Das Zitat ist einem Interview entnommen, das Habermas am 18. Juni 1994 im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht hat. 2 Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a. M. 2008. 3 Habermas: »Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum«. In: Merkur 8, Nr. 78 (August 1954), S. 701–724; ders.: »Marx in Perspektiven«. In: Merkur 9, Nr. 94 (Dezember 1955), S. 1180–1183. 1
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Erbe einer Einheit von Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie beanspruchen kann. 4 Kaum zwei Jahre später präzisiert Habermas seine Marx-Kritik in seinem Vortrag »Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik«. Dort meldet er erstmals Zweifel an, dass der Klassenantagonismus Motor einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft sei. 5 In dem Aufsatz »Arbeit und Interaktion« aus der Karl LöwithFestschrift von 1967 6 sowie in Erkenntnis und Interesse knüpft Habermas an den Begriff weltkonstituierender Arbeit von Marx an, ergänzt dessen Theorie aber durch das Interaktionsparadigma, womit der Weg zu einer zweistufigen Gesellschaftstheorie gewiesen ist. In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus von 1973 steht die Revision der Krisentheorie von Marx im Vordergrund: Nämlich die systembedingte Art und Weise, in der Entscheidungen des Staates so getroffen werden, dass sie mit den Kapitalverwertungsbedingungen des ökonomischen Systems sowie den normativ verankerten Prinzipien der demokratischen Verfassung bzw. ihren Legitimationserfordernissen im Einklang stehen. Das Präfix ›Spät‹ steht bei Habermas für einen Kapitalismus, der nach dem Liberalkapitalismus entstanden ist (so schon im Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962), und zwar vor allem in der Folge von Unternehmenskonzentration und der Beseitigung von Marktkonkurrenz auf der einen und einer interventionistischen Staatstätigkeit auf der anderen Seite. In seinem 1976 erschienenen Buch nimmt Habermas den Historischen Materialismus auseinander, um zwar nicht das Ganze, aber einzelne seiner Elemente wieder als mehrdimensionale Theorie sozialer Evolution zusammenzusetzen. Roter Faden der Aufsätze in diesem Band mit dem programmatischen Titel Zur Rekonstruktion des HisHabermas: »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus«. In: Philosophische Rundschau 5 (1957), S. 165–235, wieder abgedruckt in TP2 387–464. 5 TP 228–289; Max Horkheimer brachte sein Missfallen über diesen Neomarxismus in 2 einem langen Brief an Adorno zum Ausdruck, einem Brief, den der Empfänger mit Verwunderung gelesen haben muss. Das geht aus den handschriftlichen Annotationen hervor. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt a. M. 1996, S. 437– 452. 6 Habermas: »Arbeit und Interaktion: Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes‹«. In: Hermann Braun/Manfred Riedel (Hrsg.): Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967, S. 132–155, wieder abgedruckt in TWI 9– 47. 4
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torischen Materialismus ist die These, dass die Rationalitäts- und Bewusstseinsstrukturen eine unabhängige Entwicklungslogik besitzen und Schrittmacher der sozialen Evolution sind. An Marx kritisiert er folgerichtig, dass er übersehen habe, welche evolutionäre Rolle die Strukturen sprachlich hergestellter Intersubjektivität als strukturelle Grundtatsache sozialen Lebens spielen. Dennoch stimmt er mit Marx überein, »die Produktivkraftentfaltung als problemerzeugenden Mechanismus [zu] verstehen, der die Umwälzung der Produktionsverhältnisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produktionsweise zwar auslöst, aber nicht herbeiführt.« (RHM 161) 7 Ich bilanziere in so groben Zügen, wie ich referiert habe: Habermas gelangt Ende der siebziger Jahre zu zwei Einsichten: Erstens versucht er nachzuweisen, dass der Spätkapitalismus durch den neuartigen Typus der Legitimationskrise gefährdet ist. Zweitens zeigt er, dass es eine von der materiellen Produktion unabhängige Entwicklung in der Dimension des moralisch-praktischen Bewusstseins gibt, ein Lernprozess, der zur Bewältigung systemischer Krisen beizutragen vermag. Seitdem kritisiert Habermas einen Marxismus, der »an einem einzigen, im Äquivalententausch zentrierten Vergesellschaftungsmechanismus« fixiert ist (FG 62–66, hier S. 66). Mit der Erinnerung an diese komplementären Einsichten kann ich diese mehr als schlaglichtartige Rückblende auf die Diskontinuitäten der Marx-Rezeption von der Entfremdungs-, zur Revolutions- bis zur Krisentheorie abbrechen und das Thema aufnehmen, das Habermas seit der Theorie der kommunikativen Handelns vielfach variierend immer wieder aufgegriffen hat: Das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Diese für ihn bis heute gültige diagnostische Aussage will ich in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen. Ich will so vorgehen, dass ich im ersten Schritt ganz kurz auf die Konzeptualisierung der Verdinglichungstheorie eingehe, wie sie im zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns nachzulesen ist. Im zweiten Schritt will ich zur Diskussion stellen, ob die Demokratietheorie von Habermas Elemente enthält, die konkrete Hinweise darauf geben, wie der Kapitalismus mit politischen Mitteln gezähmt werVgl. Müller-Doohm: »Zukunftsprognose als Zeitdiagnose. Habermas’ Weg von der Geschichtsphilosophie zur Evolutionstheorie bis zum Konzept lebensweltlicher Pathologien«. In: Victor Tiberius (Hrsg.): Zukunftsgenese. Theorie des zukünftigen Wandel. Wiesbaden 2012, S. 159–178.
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den kann. Im dritten Schritt geht es darum, jenen Komplexitäten nachzuspüren, die mit der Globalisierung des Kapitalismus gegeben sind: Wie muss Demokratie unter postnationalen Vergesellschaftungsformen beschaffen sein, dass sie als normative Verfassung ein dauerhaftes Gegengewicht bildet gegenüber einem weltweit operierenden Kapitalismus, dessen Prozesslogik blind ist für politisch verbindliche Postulate der Gerechtigkeit.
1.
Verdinglichungstheorie
In der Theorie des kommunikativen Handelns reformuliert Habermas seine Kapitalismuskritik auf systemtheoretischer Ebene. Er geht davon aus, dass der Kapitalismus die fortgeschrittenste Form eines Wirtschaftssystems ist, das sich als Subsystem mit eigenen Umwelten beschreiben lässt. Er versucht, die Marx’sche Analyse der Wertform als Ware-Geld-Beziehung für eine zeitgemäße soziologische Theorie einer systemisch induzierten Verdinglichung anschlussfähig zu machen, die sich an dem von ihm eingeführten Begriffsdualismus System/Lebenswelt orientiert. 8 Marx scheitert daran, so Habermas, dass er »Systemund Handlungstheorie noch zusammenzwängt, um das Ganze der Gesellschaft als Einheit einer zerrissenen Totalität zu erfassen. Aus diesem Grund kann er nicht hinreichend trennen »zwischen dem in der Moderne ausgebildeten Niveau der Systemdifferenzierung und den klassenspezifischen Formen seiner Institutionalisierung« (TkH II 498, 500 f.). Statt an die Werttheorie von Marx anzuknüpfen, deren Schwächen Habermas im Einzelnen aufzuweisen versucht, verfolgt er die Die Arbeitswerttheorie von Marx erklärt die Realabstraktion des Tauschs: Die im Tauschakt sich vollziehende Gleichsetzung unterschiedlicher Waren sowie die Verkehrung von Produktion und Konsum in ein Durchgangsstadium der Kapitalverwertung. Die Wertform der Waren verweist auf eine gesellschaftliche Paradoxie, die darin besteht, dass die an Gebrauchswerten orientierten Bedürfnisse der abstrakten, auf Tauschwerte fixierten Vermittlungsform unterworfen werden. Mit der Verselbständigung des Geldes wird die Mehrwertproduktion um des Mehrwerts zu einem eigendynamischen System. Vgl. die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung der Marx-Interpretation von Habermas durch Furio Cerutti: »Habermas und Marx«. In: Leviathan 11 (1983), S. 352–375, der »in einem philologisch gut belegten Artikel Marx gegen die von mir erhobenen Bedenken verteidigt.« (Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 395).
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Absicht, das nun ganz in den Vordergrund gestellte Problem der Verdinglichung in Begriffen systemisch induzierter Lebensweltpathologien zu bestimmen. Damit soll es gelingen, Licht auf das selektive Muster der kapitalistischen Modernisierung zu werfen. Fokus der Kapitalismuskritik von Habermas ist keineswegs die Art und Weise kapitalistischen Wirtschaftens, sondern das, was er die »Monetarisierung der Lebenswelt« nennt: Monetarisierung ist die Erscheinungsform einer verkürzten und verselbständigten Systemrationalität (TkH II 489 ff.). Gegenüber der systemischen Eigenrationalität der ökonomischen Reproduktion meldet Habermas in seiner Analyse keinen Widerspruch an. Dass die Sicherung der wirtschaftlichen Güterproduktion und Güterverteilung durch die selbständigen Vermittlungsleistungen des Geldes geschieht, ist aus seiner Sicht – konträr zur orthodoxen Theorie des Geldes als Kapital von Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt 9 – ein unproblematischer Vorgang. Aber nur, solange das von Habermas als neutrales Steuerungsmedium definierte Geld innerhalb des Wirtschaftssystems zirkuliert. Geld ist seiner Theorie zufolge ein entsprachlichtes Medium der Handlungskoordinierung und nicht (in Form von Kapital) Ausdruck eines Klassenverhältnisses. Mit den weiteren Schritten seiner Gegenwartsdiagnose kommt er zu dem Ergebnis, dass das ökonomische System wegen seiner profitbedingten Expansionstendenzen über das Steuerungsmedium Geld in die verständigungsorientierte kommunikative Alltagspraxis eindringt, wodurch die sozialen Beziehungen verdinglicht werden. Insofern ist es überzogen zu behaupten, 10 in der Sozialtheorie von Habermas gäbe es überhaupt keine kapitalismuskritischen Motive mehr. 11 Vielmehr wird die philosophische Entfremdungs- und Revolutionstheorie der 50er und 60er Jahre neu grundiert und die Krisentheorie der 70er Jahre ergänzt durch eine allgemeine Theorie systemisch erzeugter Sozialpathologien – Pathologien, die sich prinzipiell korrigieVgl. Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Freiburg 1997; Helmut Reichelt: Der Zusammenhang von Werttheorie und ökonomischen Kategorien bei Marx. Bremen 1998. 10 Vgl. Michael Th. Greven: »Die fehlende Demokratietheorie der Kritischen Theorie«. In: Wolfgang Merkel/Andreas Buch (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Frankfurt a. M. 1999, S. 73–89. 11 Im Unterschied zu Marx beschränkt sich die Kapitalismusanalyse von Habermas keineswegs auf die »innere Natur des Kapitals« (Marx: Das Kapital. Bd. 3, MEW 23, S. 335). 9
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ren lassen. 12 Mit solchen Soziopathologien zu rechnen und die Notwendigkeit, ihnen präventiv zu begegnen, hat einen seiner Gründe darin, dass die materielle Reproduktion der Gesellschaft auf einer kapitalistischen Ökonomie basiert, auf deren Produktivität sie angewiesen ist. 13 Mit seiner Kritik an der Verdinglichung kommunikativ strukturierter Handlungsbereiche im zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns will Habermas keineswegs die normative Idee herrschaftsfreier Gesellschaftsverhältnisse zu neuem Leben erwecken. Vielmehr geht es ihm darum, Diskrepanzen zwischen Kapitalismus und Demokratie herauszuarbeiten, insofern beide an konträre Prinzipien gesellschaftlicher Integration und Organisation gebunden sind. 14 Diese aktuelle Frage, wie die kapitalistische Dynamik durch die Demokratie zivilisiert und gezähmt werden kann, hat Habermas zuletzt nach der Finanzmarktkrise Ende 2008 in der ZEIT unter dem Titel »Nach dem Bankrott« thematisiert. 15 Als Auftakt kritisiert er, dass die Kosten der Finanzkrise jenen sozialen Schichten aufgebürdet würden, deren Einkommen kaum mehr zulässt als die Sicherung ihres Lebensstandards. So wachse nicht nur die soziale Ungleichheit, sondern es müsse mit der Zunahme von materieller Armut inmitten von Reichtum gerechnet werden. Die Finanzkrise sei nicht dadurch zu erklären, dass sich einzelne Personen wie Bankmanager aus Habgier verspekuliert hätten. Vielmehr resultiert die Finanzkrise nach Habermas aus der Gravierende Ungleichgewichte zwischen Wirtschaft und Staat einerseits, zwischen den systemischen Funktionsmechanismen und der lebensweltlichen Sphäre andererseits führen zu Krisenerscheinungen. Demgegenüber sind jene spezifischen Lebensweltpathologien die Folge davon, dass Störungen des Wirtschaftskreislaufes oder der staatlichen Politik auf die Lebenswelt abgewälzt werden und/oder mediengesteuerte Subsysteme durch Geld und Macht genau jene verständigungsorientierten Kommunikationsweise substituieren, mittels derer sich die Lebenswelt erhält. 13 Dieses Angewiesen-Sein ist der Grund für die Skepsis von Habermas im Hinblick auf marxistisch inspirierte Konzepte einer politisierten Arbeitsgesellschaft. So wie Gewerkschaften auf die »radikal demokratischen Verspreche[n] verzichten« mussten, war seiner Meinung nach die Idee der Arbeiterselbstverwaltung zum Scheitern verurteilt, ebenso wie die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft als vorpolitischer Ordnung (FG 616–622 (Zitat: S. 618); vgl. auch Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V. Frankfurt a. M. 1985, S. 255). 14 Vgl. TkH II 507 ff.; Vgl. David Ingram: Habermas: Introduction and Analysis. Ithaca/ London 2010, S. 260 ff. 15 DIE ZEIT vom 06. 11. 2008; Habermas: Zur Verfassung Europas. Frankfurt a. M. 2011, S. 99–111, hier S. 99, S. 101 und S. 102. 12
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»Logik der Gewinnmaximierung«. Das Versagen der einzelnen nationalen Staaten bestehe darin, dass diese mit Rücksicht auf die Interessen von Kapitalanlegern und gemäß ihres neoliberalen Konzepts umfassender Privatisierung öffentlicher Aufgaben von ihren Sanktionsmöglichkeiten kaum Gebrauch gemacht hätten und glaubten, das Marktgeschehen sich selbst überlassen zu können. Dagegen wendet sich Habermas mit Vehemenz: »Im demokratischen Verfassungssaat«, so betont er, »gibt es auch öffentliche Güter wie die unversehrte politische Kommunikation, die nicht auf die Renditeerwartungen von Finanzinvestoren zugeschnitten werden dürfen«. 16 Dieses Argument zielt darauf, den Kapitalismus einzubinden, ihn im Zaum zu halten, gerade auch den aus den Fugen geratenen Finanzkapitalismus. Der Kapitalismus müsse – ich wiederhole dieses Postulat – durch Demokratie, also mit den Mitteln einer demokratisch legitimierten und öffentlich praktizierten Politik, in seine Schranken gewiesen werden. Diese Art der Kritik am Kapitalismus hat ihren Fluchtpunkt in den Versuchen, seinem destruktiven Potential zu begegnen, bevor es manifest wird. Denn, so wiederholt Habermas in seinem Zeitungsbeitrag, seit dem Ende der bipolaren Welt zu Beginn der neunziger Jahre »gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung […] der kapitalistischen Dynamik von innen gehen.« So alternativlos der Kapitalismus sei, so sehr bedürfe er der Regulierung. 17 Somit ist der Kapitalismus für Habermas – darin unterscheidet er sich von Exponenten, die in der Tradition der kritischen Theorie stehen, die auf der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise nicht zuletzt wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Demokratie insistieren – eine Notwendigkeit hochentwickelter Gesellschaften, eine Notwendigkeit, die nur dann zum Übel werden kann, wenn der Kapitalismus nach dem neoliberalen Credo dereguliert bleibt, also an Stelle des Spannungsverhältnisses von Kapitalismus und Demokratie das Ungleichgewicht zwischen beiden tritt. Der Kapitalismus gehorcht dann blind dem Imperativ der Profit- und Wettbewerbslogik. Dann beherrschen die Märkte die Politik, statt umgekehrt. Habermas geht es um das Primat der Politik, genauer: um die Habermas: »Nach dem Bankrott« (s. Anm. 15). Habermas: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik«. In: Peter Niesen/Benjamin Herborth (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Frankfurt a. M. 2007, S. 406–459, hier: S. 428.
16 17
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»Idee einer über Gesetze programmierten Selbsteinwirkung«. Diese Selbsteinwirkung bezieht »ihre Plausibilität allein aus der Unterstellung, daß die Gesellschaft«, so ist in Faktizität und Geltung nachzulesen, »insgesamt als eine Assoziation im ganzen vorgestellt werden kann, die sich über die Medien Recht und politische Macht selbst bestimmt.« (FG 621). Fassen wir zusammen: Für Habermas ist eine stabile Demokratie mit dem Kontrollorgan einer politischen Öffentlichkeit das Gegengewicht zu einem Kapitalismus, auf dessen Produktivität komplexe, funktional differenzierte Industriegesellschaften für ihre materielle Reproduktion ebenso angewiesen sind wie sie die ökonomisch hervorgerufenen Krisenzyklen etwa durch Programme der Konjunktur- und Subventionspolitik bearbeiten müssen – eine Bearbeitung, die freilich selbst wieder politischen Sprengstoff in sich birgt. Denn die politische Exekutive gerät in die Gefahr, sich in eine Schieflage im Hinblick auf die Kriterien der Gemeinwohlorientierung und Neutralität gegenüber Partikularinteressen zu manövrieren. So kommt die Politik, die angesichts der Budgetdefizite europäischer Staaten eine Rekapitalisierung auf dem Rücken der Steuerzahler anstrebt, nicht aus dem von Habermas beschriebenen Dilemma heraus, »für die Lösung der integrationsgefährdeten Probleme der Gesellschaft eine Art Ausfallbürgschaft« zu übernehmen. Und zwar – ich beziehe mich erneut auf Faktizität und Geltung – mit Hilfe des anerkannten Rechts als Instrument einer reflexiv gewordenen legitimen Ordnung, mit dessen Hilfe sich Habermas zufolge kommunikative Macht in administrative Macht umsetzen, demokratische Politik ermöglichen lasse. 18 Aber wie, so stellt sich als zentrale Frage, lässt sich angesichts einer dramatischen Dynamik bestandsgefährdender Krisen das Steuerungspotential einer demokratisch legitimierten Politik erhöhen?
2.
Demokratietheorie
Damit sind wir bei der Demokratie als der Errungenschaft der Moderne. Ihr traut Habermas zu, dass sich mit ihrer Hilfe der Gordische Knoten jener schier unlösbaren Probleme zerhauen lässt. 19 Mit dieser 18 19
FG 99, 366; Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a. M. 1996, S. 292. Habermas: Vergangenheit als Zukunft. Zürich 1990, S. 128 f.
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Fokussierung demokratischer Entscheidungsprozesse sowie dem Verweis auf jene »schier unlösbaren« Probleme einer kapitalistischen Ökonomie, an der sich der Staat – fast im Wortsinn – seine Zähne ausbeißt, wird sehr deutlich, welche enorme Bürde eine Demokratie zu tragen hat. Als allgemeine Voraussetzung von Demokratie müssen zum einen verfassungsmäßig verankerte individuelle Freiheitsrechte gegeben sein, die die private Autonomie eines jeden Bürgers im Rechtsstaat schützen. Die Basis einer demokratischen Verfassung, mit der das Prinzip der Maximierung von Freiheit durch Selbstbestimmung rechtsgültige Gestalt annimmt, ist zum anderen eine autonome, pluralistisch strukturierte Öffentlichkeit. Damit sich innerhalb der Öffentlichkeit die rationalitätsfördernde Kraft politischer Auseinandersetzungen in der Form von Deliberationen freisetzen kann, muss sie als ein Raum der Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert werden, der von einzelnen Akteuren, aber gerade auch von Assoziationen, Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und Protestgruppierungen ausgefüllt wird. Deren politisches Engagement – bis hin zum zivilen Ungehorsam – zielt auf eine Aktivierung von Öffentlichkeit, die – vermittelt über die Medien der Massenkommunikation – Druck auf das politische System ausübt. Neben den Grundfreiheiten und der Öffentlichkeit ist schließlich ein Komplex politischer Teilnahmerechte für die Demokratie konstitutiv. Er sichert die Möglichkeit der Mitwirkung am politischen Prozess durch die Praxis politischer Selbstbestimmung. Habermas übersetzt die Idee der Volkssouveränität der klassischen Demokratietheorien kommunikationstheoretisch: Das Volk spielt insofern die Rolle des Souveräns, als es Diskurse über seinen Willen führt. Ich komme nun auf den springenden Punkt: Die durch Öffentlichkeit gebildete kommunikative Macht, deren legitime Geltung die subjektiven Freiheits- und demokratischen Teilnahmerechte garantieren, hat eine doppelte Funktion: Einerseits stellt sie ein Gegengewicht wider die Verselbständigung von Eigeninteressen des Staatsapparates gegenüber den Bürgern der Zivilgesellschaft dar. Andererseits muss sich kommunikative Macht auch als Richtgröße gegenüber der Ökonomie durchsetzen. Zwar können komplexe ökonomische Systeme Habermas zufolge nicht durch Formen direkter Partizipation gesteuert werden. Aber er geht ja davon aus, dass durch die Verfahren demokratisch legi211 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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timierter Meinungs- und Willensbildung »die systemischen Imperative eines interventionistischen Staatsapparates ebenso wie die des Wirtschaftssystems in Schach zu halten« sind. 20 Dieses Postulat, dass gerade auch ein anarchischer Kapitalismus, der globale Ausmaße annimmt, mit den politischen Mitteln der Demokratie domestiziert werden muss, ist auf den ersten Blick überzeugend. Beim zweiten Blick fällt freilich auf, dass Habermas in seiner Konzeption eines in Demokratie eingebundenen Kapitalismus zwei Dinge offen lässt: Erstens ist unklar, wo eine Zivilisierung des Kapitalismus ansetzen müsste. Welche Reichweite und Grenze haben solche Versuche, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten? 21 Zweitens fragt sich, wie sich die Rettung des Kapitalismus vor sich selbst politisch mit Hilfe rechtlich legitimierter Regulative in die Tat umsetzen lässt. Der wiederholte Hinweis ist zu allgemein, dass eine Balance zwischen den Gewalten der gesellschaftlichen Integration – Geld, Macht, Solidarität – gefunden werden müsse, so dass sich die Produktivkraft Kommunikation durchsetzen »und damit die an Gebrauchswerten orientierten Forderungen der Lebenswelt zur Geltung bringen kann.« 22 Dass nicht zuletzt die Operationsspielräume nationaler Staaten selbst in Bereichen ihrer eigenen Zuständigkeit begrenzt sind, zeigt sich daran, dass noch Jahre nach Ausbruch der Finanzmarkt- und dann der Schuldenkrise in Europa die Staaten der Gemeinschaft trotz permanenter Beratungen auf höchsten multilateralen Ebenen politischer Exekutive in Form exklusiver Gipfeltreffen der G 8- und G 20-Staaten sowie diverser fiskalischer sowie geldpolitischer Maßnahmen in der Form von Rettungsschirmen und Stabilitätskriterien kaum in der Lage waren, gegen die ›Märkte‹ eine erfolgreiche Euro-Rettungspolitik in die Tat umzusetzen. Hier neigt Habermas keineswegs dazu, dieses Scheitern alleine dem Kleinmut, der Hilflosigkeit und Überforderung der politischen Funktionselite zuzurechnen. Vielmehr führt er den Kollaps des Finanzsystems auf die Restriktionen einzelstaatlicher Poli-
Habermas: Entgegnung (s. Anm. 8), S. 393. Wolfgang Streeck: »Und wenn jetzt noch eine Krise käme«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 08. 09. 2009. 22 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, S. 36. 20 21
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tik zurück, die jedoch, so seine These, durch Erweiterung ihrer Legitimationsgrundlage auf transnationalem Niveau zu überwinden wären. Aber auch bei diesem Konzept einer transnationalen Demokratie eines vereinigten Europas bleibt ungeklärt, welcher politischen Programme und staatlichen Initiativen es im Einzelnen bedarf, um auf das kapitalistische System gemäß jenen Rechtsregeln Einfluss zu nehmen, die mit demokratischen Legitimationskriterien übereinstimmen. Immerhin spricht einiges dafür, dass das Ziel einer Domestizierung des Kapitalismus durch Demokratie angesichts der engen Grenzen der Governance-Politiken zu nichts anderem gerät als zum Programm einer Sanierung der gegebenen Wirtschaftsverfassung. 23 Das lässt sich kaum von der Hand weisen für jene 6 Vorschläge, die Habermas am 20. Mai 2010 in der ZEIT gemacht hat 24: Dass die großen Banken ihr Eigenkapital erhöhen, die Hedgefonds durchleuchtet, die Börsen und die Ratingagenturen kontrolliert werden. Darüber hinaus, so fordert Habermas, seien die Praktiken der Geldspekulation zu begrenzen, Finanztransaktionen zu besteuern, Investment- und Geschäftsbanken zu trennen. Selbst wenn die Chancen einer Politik genutzt werden, die darin bestehen, dass staatliche Instanzen im Namen des demokratischen Gemeinwohlprinzips die Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaftsweise abfedern, dann wächst ein anderes, gerade auch von Habermas anvisiertes Gefahrenpotential: Das eines neuartigen Etatismus, der einen Rückfall in technokratisch verkürzte Entscheidungsformen befördert. Habermas ist sich darüber im Klaren, dass der Kapitalismus ein Danaergeschenk ist: Ohne Krisen und pathologische Nebenfolgen ist er nicht zu haben. Folglich bleiben die schon aufgeworfenen Fragen auf der Agenda: Erstens: Wie können seine destruktiven Kräfte in Schach gehalten, wie also kann die Profitlogik der Ökonomie durch den demokratischen Souverän politisch unter Kontrolle gebracht werDass die staatlichen Instrumente der Makrosteuerung eben nicht auf eine Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat hinauslaufen, sondern in erster Linie Maßnahmen zum Wohle von Banken der prosperierenden europäischen Staaten sind, also letztlich »allein auf die Rettung der vor der Selbstzerstörung stehenden marktwirtschaftlichen Systeme« hinauslaufen, konstatiert Jens Beckert in seiner Analyse »Die Anspruchsinflation des Wirtschaftssystems«. (MPIfG Working Paper 09/10. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, September 2009: http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp0910.pdf, S. 12–18, hier: S. 17.) 24 Habermas: »Wir brauchen Europa«. In: DIE ZEIT vom 20. 05. 2010, S. 47. 23
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den, ohne dass die gouvernementalen Operationen zu kurz greifen oder zu einem staatsbürgerlichen Paternalismus führen? Zweitens: Wie vermag die Gesellschaft mit politischen Mitteln auf sich selbst beziehungsweise die krisenhaften Erscheinungen ihrer kapitalistisch organisierten Marktwirtschaft einwirken? Ich habe anzudeuten versucht, dass Habermas bis heute an seiner Programmatik festhält, dass Wege gefunden werden müssen, die Ökonomie durch die Demokratie zu zähmen. Aber die Perspektive erweitert sich. Denn aufgrund der weltweit vernetzten, global operierenden und zugleich deregulierten Ökonomie bedarf es eines die Nationalstaaten übergreifenden, weltgesellschaftlich umfassenden Ausbaus demokratischer Strukturen und Gegengewichte. Ein für Habermas immer bedeutsamer gewordenes politisches Element dieser Demokratisierung im globalen Maßstab sind jene Impulse, die ihm zufolge von einem vereinigten Europa ausgehen könnten und müssten, Impulse für eine Internationalisierung demokratischer Politik. Denn »nur regional übergreifende Regime wie die Europäische Gemeinschaft könnten überhaupt noch auf das globale System nach Maßgabe einer koordinierten Weltinnenpolitik einwirken.« 25
3.
Europa als Teil einer demokratisch verfassten Weltordnung
Mit dem Modell einer supranationalen Integration europäischer Staaten verbindet sich für Habermas die Hoffnung, Kräfte gegen den befürchteten »Substanzverlust der Demokratie« 26 zu mobilisieren. Für ihn besteht die Zukunft der Europäischen Union darin, Wegbereiter einer kosmopolitischen Demokratie zu sein. Ich möchte drei Begründungsaspekte hervorheben. Zum einen: Weil in einer demokratisch verfassten Weltordnung alle Betroffenen einbezogen sind und jede Stimme im Beratungsprozess zählt, erhöht sich die Chance, bei Konflikten zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Zum anderen: Aus dem demokratischen Prozess resultiert nicht nur eine kollektive Identität Europas in Form staatsbürgerlicher Solidarität, sondern auch ein Patriotismus, der sich aus der gemeinsam beschlossenen Verfassung speist. Schließlich: Als regional übergreifendes Regime vermag Europa 25 26
Habermas: Die Einbeziehung des Anderen (s. Anm. 18), S. 187. Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008, S. 13.
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an Gewicht innerhalb jener globalisierten Welt zu gewinnen, in der ökologische, militärische und wirtschaftliche Risiken keine territorialen Grenzen kennen. Eine europäische Gesellschaft in der Gestalt einer postnationalen Demokratie wäre für Habermas nicht nur der historische Durchbruch für eine Politik der Selbstbestimmung und der Menschenrechte auf transnationalem Niveau. Vielmehr hätte ein demokratisches Europa gerade auch die Funktion, jenen so wichtigen Gegenpol zur Anarchie eines global entfesselten Kapitalismus zu bilden. Dieser Gedanke ist die Quintessenz des Aufrufs mit Jaques Derrida. Dort heißt es: Um für »eine zukünftige Politik der Zähmung des Kapitalismus« gerüstet zu sein, muss die europäische Gemeinschaft neue Formen des »Regierens jenseits des Nationalstaates« praktizieren. Diese Zähmung des Kapitalismus ist eines der Hauptziele, wenn nicht das Hauptziel einer zukünftigen Weltinnenpolitik, ausgehend von der historischen Erfahrung, dass angesichts der geringen »Leistungsfähigkeit des Marktes« die »Steuerungskapazitäten des Staates« umso mehr genutzt werden müssen. 27 Abgesehen von dieser Forderung in der Rolle des öffentlichen Intellektuellen hat Habermas die dysfunktionalen Mechanismen eines globalen Kapitalismus in der »Weltgesellschaft ohne Weltregierung« 28 nicht eigens analysiert. Die Hauptaufgabe einer supranationalen Weltorganisation als Teil eines mehrstufigen föderalen Systems sieht er in einer Politik, die sich auf die drei Felder der Friedenssicherung, der Menschenrechte und der Umwelt konzentriert. Der primäre Funktionsbereich der Weltinnenpolitik, für die regionale Körperschaften verantwortlich sein sollten, besteht Habermas zufolge darin, »einerseits das extreme Wohlstandsgefälle der stratifizierten Weltgesellschaft zu überwinden, ökologische Ungleichgewichte umzusteuern und kollektive Gefährdungen abzuwehren, andererseits eine interkulturelle Verständigung mit dem Ziel einer effektiven Gleichberechtigung im Dialog der Weltzivilisationen herbeizuführen.« 29
Habermas: »Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet«. In: ders.: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt a. M. 2004, S. 47 und S. 48. 28 Habermas: »Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?« In: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005, S. 324–367, hier S. 329. 29 A. a. O., S. 346. 27
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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
So wie für Habermas ein vollständig liberalisierter Weltmarkt mehr als suspekt ist, äußert er in der Studie »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?« wenig Zuversicht, dass sich die Krisen auf den kapitalistischen Weltmärkten alleine mit politischen Mitteln eindämmen lassen. Wie aber dann? Wie schon ausgeführt, vertraut Habermas in erster Linie dem normativen Eigensinn des Rechtsmediums. Seine Hoffnung bei der Zivilisierung des weltweit operierenden Kapitalismus gilt den »Steuerungsressourcen Recht und legitime Macht«. 30 Im Maße wie das ökonomische System angesichts epochaler Globalisierungsprozesse zur Hegemonialität drängt, muss der Expansion dieses Machtpotentials etwas entgegengesetzt werden. Es ist nicht die Beharrungskraft kultureller oder ethnischer Traditionen, sondern es ist das Potential kommunikativer Macht, die aus jenen demokratischen Verfahren entspringt, die die Bürger in Gang bringen müssen. Es ist der Diskurs innerhalb der Moderne über die normativen Aspekte der eigenen Lebensführung, auf den Habermas baut. Wie realistisch diese Erwartung ist, wäre zu diskutieren. Auch und gerade wenn man davon überzeugt ist, dass in der Binnenstruktur unserer Kommunikationsgemeinschaft ein Potential intersubjektiv verfasster praktischer Vernunft angelegt ist.
Entgegnung von Jürgen Habermas Es gibt wohl kaum jemanden, der – aus naheliegenden Gründen – mit meinen Gedankeninnereien so gut vertraut ist wie Stefan MüllerDoohm. Das erklärt, warum jeder Impuls zu einer Metakritik fehlt. Denn die Kritik, mit der dieser Vortrag endet, muss ich akzeptieren. In den letzten beiden Jahrzehnten habe ich die These von der demokratischen Zähmung des Kapitalismus zwar im Zusammenhang mit publizistischen Interventionen immer wieder vorgetragen, aber nicht mit einem erneuten gesellschaftstheoretischen Anlauf untermauert. Wissenschaftlich beschäftige ich mich seit meiner Emeritierung eher mit Fragen der politischen Theorie, der Rechtstheorie und der »ReligionsHabermas: »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?« In: ders.: Der gespaltene Westen (s. Anm. 27), S. 113–193, hier: S. 175.
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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
philosophie«; oder genauer mit der Selbstverständigung des nachmetaphysischen Denkens, sodass ich für die gesellschaftstheoretische Aufmöbelung von Krisendiagnosen nicht mehr die Zeit und die Kraft habe. Aber andere Kollegen wie Claus Offe, Wolfgang Streeck und Hauke Brunkhorst bleiben ja am Ball. Andererseits betrachte ich das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus auch heute weiß Gott nicht blauäugig oder, wie mir Axel Honneth vorhält, nur noch aus einer normativen Perspektive. Ich habe auch meine Demokratie- und Rechtstheorie von vornherein in den Rahmen einer rekonstruktiv verfahrenden Gesellschaftstheorie eingebettet. Allerdings muss uns bewusst sein, dass Sozialwissenschaften sichere Prognosen nicht hergeben. Und aus historischer Perspektive beobachte ich, dass sich der Kapitalismus, dem ja eine krisenhafte Verlaufsform innewohnt, immer wieder stabilisiert hat. Die Kritische Theorie ist am Ende der Weimarer Periode auf Horkheimers und Pollocks Initiative aus der Fragestellung entstanden, zu erklären, warum der Kapitalismus nicht zusammengebrochen ist. Daher sollte man selbst aus empirisch gut belegten Krisendiagnosen (wie denen, die Streeck in seinen Adorno-Vorlesungen vorgetragen hat) keine voreiligen Schlüsse ziehen. 31 Erst dieses fallibilistische Bewusstsein sichert auch dem Krisentheoretiker den nötigen Spielraum für eine Praxis, die gerade dann für eine demokratische Gegensteuerung Partei ergreift, wenn die Finanzmärkte wie heute kraftlose politische Eliten vor sich her treiben. Seit meinen Assistententagen am Frankfurter Institut – wo ja in den 50er-Jahren entgegen dem Eindruck, den man aus Adornos schwarzen Büchern gewonnen hat, ein reformistisches Klima geherrscht hat – bin ich in meinen politischen Einstellungen ein radikaler Reformist geblieben. Diesem Revisionismus kommt ein theoretischer Ansatz entgegen, der nicht am »Grundwiderspruch« der Ökonomie und den »Bewegungsgesetzen« des Kapitalismus ansetzt, sondern an dem Widerspruch, an dem sich in kapitalistischen Demokratien der Staat und die Politik abarbeiten. Diese müssen in demokratisch organisierten Wirtschaftsgesellschaften die Politiken suchen, die auf einem schmalen Krisenpfad die konkurrierenden Imperative der Wirtschaft und der Wahlbevölkerung temporär ausgleichen: die eine Seite will die Sicherung Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin 2013.
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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
von profitablen Anlagemöglichkeiten, die andere die Befriedigung der drängendsten Legitimationsbedürfnisse. Wann Umstände, unter denen das nicht mehr gelingt, anomische Konsequenzen haben, die nicht mehr »aufgefangen« werden können, lässt sich kaum prognostizieren. Für diese Frage bieten ja heute die Zustände in Griechenland, Spanien oder Portugal einen traurigen Anschauungsunterricht. Deshalb hat mich die Frage »Zivilisierung oder Überwindung des Kapitalismus?« zu keinem Zeitpunkt umgetrieben. Zwar habe ich jetzt beim Durchblättern der Legitimationsprobleme ein Schema wiedergefunden, worin die aufsteigende Folge der Gesellschaftsformationen mit einer »postkapitalistischen« Gesellschaft endet. Aber darüber zu spekulieren ist nicht wirklich interessant. Interessant ist vielmehr, auf welche Weise sich der finanzmarktgetriebene Kapitalismus der Gegenwart erneut stabilisieren könnte – beispielsweise in der autoritären Form von Konsolidierungsstaaten (Streeck) oder in der harmloseren Form technokratisch ausgehöhlter Fassadendemokratien (was ich für wahrscheinlich halte) oder in der Form supranationaler Demokratien (für die wir kämpfen sollten). Was man auf dieser Stufe der Verallgemeinerung theoretisch noch am ehesten verteidigen kann, ist die Luhmann’sche Aussage, dass jeder revolutionäre Gedanke der klassischen Art an der Komplexität einer Weltgesellschaft, die jeden Tag komplexer wird, scheitert. Daran scheitert jeder Gedanke, der, wie verkleidet auch immer, davon ausgeht, dass eine Art Zauber auf diesem System liegt, der wie bei Rumpelstilzchen durch das Aussprechen des richtigen Wortes gelöst werden könnte.
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Diskussion Moderation: Rita Casale
Sabine Doyé (Wuppertal): Ich möchte eine Bemerkung zu Fragen der Theoriekonzeption machen: Sicher ist es verlockend, Herrn Habermas in seiner Rolle als öffentlicher Intellektueller anzusprechen, aber die Tagung ist doch wohl als fachwissenschaftliche angelegt und will die Aufgabenfelder thematisieren, die zum Habermas’schen Theorieprogramm gehören. Dass nun die unterschiedlichen Themengebiete auch unterschiedlich rezipiert werden, versteht sich – dass aber die Grundimpulse des Unternehmens nur noch schwer auszumachen sind, irritiert angesichts der Vorträge von Ingo Elbe und Smail Rapic doch erheblich. So misst Elbe die Aneignung zentraler Theoreme der Marx’schen Ökonomiekritik bei Habermas am Maßstab einer Lesart, deren Kriterien er nicht nur im innermarxistischen Diskurs für unüberholbar hält, sondern die er auch ohne weiteres der Entwicklung einer kritischen Gesellschaftstheorie als verbindliche Richtschnur vorhält. Auf dieser Grundlage erübrigt sich dann der Versuch, einem Ansatz gerecht zu werden, der die Gesellschaft zweistufig, als Lebenswelt und System, konzipiert: ein Ansatz, den Habermas bekanntlich u. a. auf Grundannahmen der Marx’schen Kritik zurückführt. So kommt es im Zuge von Elbes »Fehleranalysen« zu gravierenden Verstellungen der Habermas’schen Intentionen; zum Beispiel will Elbe den Primat lebensweltlicher Kategorien in der Analyse des spezifisch kapitalistischen Charakters von Herrschaft entdecken, den Habermas im Rechtsinstitut des Arbeitsvertrags (dem Tausch von Arbeitskraft gegen variables Kapital) aufweist: dieser habe den anonymen Charakter der Herrschaft, der in diesem Vertragsverhältnis kaschiert werde, nicht verstanden und begreife Herrschaft nach dem Muster des Hegel’schen Begriffs entzweiter Sittlichkeit als unter dem Schein sachlicher Beziehungen verborgenes Verhältnis persönlicher Herrschaft. Das Verstörende dieser Analyse, dass nämlich gerade in diesem von Habermas registrierten 219 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
nicht-personalen, anonymen Charakter kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse die gesellschaftliche Realität selbst die Prinzipiendifferenz von System- und Sozialintegration unkenntlich macht, und damit die normativen Grundlagen des Projekts der Moderne bedroht werden, bringt Elbes verengter Blickwinkel nicht vor Augen. Smail Rapic empfiehlt Habermas die Rückkehr zu den Anfängen der Kritischen Theorie, wie sie Horkheimer in der Idee einer nicht in ontologischer, sondern in praktischer Absicht betriebenen Theorie konzipiert hatte; die Grundannahmen dieses Theorietyps, die der junge Habermas mit Adorno im sog. »Positivismusstreit« verteidigte, liegen dem Konzept von Erkenntnis und Interesse zugrunde. Eine Theorie dieses Zuschnitts versteht sich als Gesellschaftstheorie, die in Form der Ideologiekritik durchzuführen ist: gut marxistisch durch die Rückführung geltend gemachter Herrschaftslegitimationen auf Überbaufunktionen, die gemessen am Stand der Produktivkräfte objektiv überholt sind, und hegelisch, weil am Leitfaden eines Gattungssubjekts entfaltet, das die Theorie – analog zur Geschichte des kraft Selbstreflexion stufenweise von selbstproduzierten Einschränkungen sich befreienden Bewusstseins – als Träger eines objektiven Entwicklungsprozesses begreift; das sich reflexiv seiner Subjektivität im Medium der Theorie versichert. Es ist dies zweifellos ein Theoriekonzept, dem Habermas mit der Abkehr von der Subjektphilosophie und der Wende zum Paradigma kommunikativer Rationalität den Boden entzogen hat. Aber, so wendet nun Rapic mit Hinweis auf das Aufkommen neuer religiöser Fundamentalismen und die Beharrungskraft alter ideologischer Rechtfertigungsmuster ein, ist die Preisgabe des Konzepts der Gesellschaftstheorie als Ideologiekritik denn schon an der Zeit? Hat die moderne rationalisierte Lebenswelt wirklich die strukturellen Möglichkeiten für Ideologiebildung eingebüßt, so dass, wie Habermas behauptet, der Begriff des seiner synthetisierenden Kraft beraubten, kulturell verarmten fragmentierten Alltagsbewusstseins an die Stelle der überkommenen Vorstellung falschen Bewusstseins zu treten hat? Und ist die Aufgabe, die Habermas der Philosophie »in praktischer Absicht« zuspricht, nämlich in der Orientierung an der Idee des »freien Zusammenspiels« der radikal ausdifferenzierten Vernunftmomente das Projekt der Moderne zu verteidigen, nicht doch zu bescheiden? – Diese auf empirisch-zeitdiagnostischer Grundlage geäußerten Einwände, Erwartungen und Empfehlungen dürften bei den Habermas-Lesern, die das Selbstverständnis einer im Begriff prozeduraler Rationalität fundierten 220 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
kritischen Theorie verinnerlicht haben, zu blanker Ratlosigkeit führen! Oder ist es einfach nur so, dass wir beobachten, wie die Grenzen zwischen den Diskussionsbeiträgen des/der öffentlichen Intellektuellen und den thematischen Debatten im Umkreis eines diskurstheoretisch gesicherten Theoriekonzepts ins Schwimmen geraten? Und da sollte man ganz entspannt zuschauen? Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Herrn Elbe und dann eine etwas polemische Bemerkung dazu und indirekt vielleicht auch eine Frage an Herrn Baum zum gestrigen Vortrag. Also ich habe gar nicht gesehen, was eigentlich das positive Ziel Ihrer Interpretation ist. Geht es um einen irgendwie nicht richtig beachteten Kontext bei Marx, aus dessen Begrifflichkeit man da etwas machen kann? Also ich sehe gar nicht – das ist meine Frage –: Für was wollen Sie diesen Marx, den Sie da sozusagen mit Wertform und ähnlichen Begriffen umschrieben haben, gebrauchen? Für welche Probleme soll das taugen? Und auf die Bemerkung, die Sie am Schluss gemacht haben, dass Ihr Vortrag ein Beispiel für eine neue Marxlektüre sei, möchte ich polemisch antworten. Hier in Wuppertal gibt es traditionellerweise viele Freikirchenbildungen, und ich habe den Eindruck, wir sind hier Zeugen einer neuen, und ich würde jetzt sagen, »sektenhaften« MarxInterpretation geworden. Aber neu kann das gar nicht sein, was Sie vorgeschlagen haben; es erinnert mich an die orthodoxen Marx-Interpretationen in den 70er-Jahren, und die hatten m. E. viel von dem vergessen, was an kritischer Marx-Lektüre seit den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts gemacht worden war. Und das irritiert mich. Ich glaube hingegen, man kann nur – und das war ja auch Marxens Umgang mit allen Klassikern gewesen – in kritischer Weise mit diesen Autoren und auch mit Marx selbst umgehen. Und Marx würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sieht, dass an ihm jetzt Dinge festgehalten werden, ohne dass eine kritische Interpretation, die Marx heute erst Recht bräuchte, überhaupt vorgenommen wird. Aber wenn man das nicht macht, dann entsteht m. E. ein neoorthodoxes Zeug und ich sehe überhaupt nicht, dass das für irgendetwas nötig ist, außer – und Luhmann hat gesagt, Selbstbefriedigungen sind in der Wissenschaft verboten – außer für eine wissenschaftliche Selbstbefriedigung von Marxologen.
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Diskussion
Hauke Brunkhorst: Ich möchte noch einmal an die Frage der Ideologiekritik anschließen. Es ist ziemlich klar, dass die Hoffnung auf Ideologiekritik und auf die Auflösung falschen Bewusstseins gewissermaßen durch ein Wort die Hoffnung eines intellektuell immer schon überdehnten Hegel-Marxismus war, wie ihn Lukács paradigmatisch verkörpert hat, und der dann interessante Debatten ausgelöst hat, nämlich über die systematischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie, die bis Habermas’ Erkenntnis und Interesse reichen. Aber die Hoffnung, damit politische Verhältnisse direkt zu verändern, indem man das falsche Bewusstsein einfach zerstört, für diese Hoffnung gibt es übrigens bei Marx nicht die geringste Evidenz – es ist auch egal, ob Marx es so gesehen hat –, aber dass das intellektualistisch überdehnt ist, sieht man eigentlich sofort. Wobei es natürlich falsches Bewusstsein gibt und Ideologiekritik ihre Gegenstände hat. Wenn ich so fernsehe, erinnere ich mich immer an einen Satz von Adorno: dass Bewusstsein töte, sei ein Ammenmärchen, tödlich sei nur falsches Bewusstsein. Ja, das ist wahr, wenn man sich das Fernsehen so anguckt, und da entsteht eine Form von Ideologie, die zeigt, dass diese neoliberale Episteme völlig undurchdringlich geworden ist. 2008, als die Finanzkrise im September loskrachte mit Lehman Brothers, da sah ich eine Talkshow, ich weiß nicht mehr genau von wem, und die Moderatorin sagt, »ja also jetzt können wir uns ja nicht mehr auf Herrn Ackermann und die Banken verlassen, an wen sollen wir uns denn noch halten?«, nachdem sie zwei, drei, vier, fünf Jahre die Politiker gemobbt und die Banken hochgejubelt hatten. Dann ein zweiter Fall, da wird das richtig plastisch greifbar: eine sehr intelligente und scharfe Moderatorin dieser ZDF-Nachrichtensendung fragt einen dieser vielen Chef-Ökonomen der Deutschen Bank – weil man ja immer Chef-Ökonomen fragen muss, weil sie so unabhängig sind, weil sie Ökonomen sind, und weil sie die wissenschaftliche Meinung darlegen. Und da fragt sie den nach dem letzten Rettungsschirm kurz vor Weihnachten: »Also erklären sie uns doch jetzt einmal, hat die Bundesregierung jetzt das Problem gelöst?« – »Ja, also das weiß ich nicht«, sagt er, »das entscheiden ja nicht wir, das entscheidet bei uns der kleine Sparer.« Und jetzt passiert folgendes: jetzt fragt sie pseudo-scharf nach, aber nicht nach dem kleinen Sparer, nach dem, was er gesagt hatte, und der erzählt geschlagene fünf Minuten lang, dass bei der Deutschen Bank der kleine Sparer alles entscheidet. Das ist eine Form von Ideologie, von der man denkt, da würde ein Wort an der richtigen Stelle genügen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu 222 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
machen. Da hat Wolfgang Streeck einen sehr schönen kleinen Aufsatz im Internet veröffentlicht, 1 der einfach darauf hinweist, dass die Soziologie als Kritik ausgerechnet von der Ökonomie abgelöst worden ist, die gar keine Wissenschaft der Gesellschaft ist oder allenfalls eine komische Wissenschaft der Gesellschaft, die mit einer fiktiven Vorstellung einer Gesellschaft rational agierender Homunculi arbeitet und sie in ein analytisches leeres Formelwerk presst und auf dieser nicht vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Grundlage scharfe politische Optionen und strategische Optionen für bestimmte Positionen vertritt, über die in der Öffentlichkeit gar nicht mehr diskutiert werden können, die einfach einen transzendentalen Rahmen der Debatte darstellen und eine einfach formulierbare Linie im Stil der »schwäbischen Hausfrau« (Merkel) absolut setzen, wie: »Ohne ausgeglichene Haushalte keine gesunde Ökonomie. Kein Wachstum auf Pump. Alles für die nationale Wettbewerbsfähigkeit. Sparen, Sparen, Sparen.« Dadurch werden Alternativmöglichkeiten, von denen die Demokratie lebt, von vornherein zugestellt und ausgeschlossen. Also die neue Transformation der Öffentlichkeit zur »Fassadendemokratie« (Habermas), das ist schon, glaube ich, ein Thema auch für Ideologiekritik. Ingo Elbe: Dann fange ich mal an, ich bin ja ein paar Mal auch direkt angesprochen worden. Ich finde es erst einmal sehr interessant, wie hier das Wissen verbreitet ist, was Marx alles so denken würde und wie er sich im Grabe umdrehen würde. Das finde ich immer hochinteressant. Ich möchte Herrn Lohmanns Wortbeitrag mit dem von Herrn Habermas verknüpfen und auch auf die Kritik von Frau Doyé eingehen. Zunächst einmal: Meine Kritik an Habermas ist kontextfrei in dem Sinne, dass sie eine Kontinuität in der Marx-Deutung bei Habermas herausgearbeitet hat. Da ist es völlig irrelevant, ob die Quelle Erkenntnis und Interesse ist – ein erkenntnistheoretischer Zusammenhang – oder Der philosophische Diskurs der Moderne – ein philosophiegeschichtlicher Zusammenhang –; Habermas’ Kritik an Marx bleibt bezüglich des Arbeitsbegriffes identisch, und deswegen ist von mir eine berechtigte Dekontextualisierung dieser Aussagen vorgenommen worden. Das wäre der erste Punkt. Wolfgang Streeck: »Public Sociology as a Return to Political Economy«, abrufbar unter: http://publicsphere.ssrc.org/streeck-public-sociology-as-a-return-to-politicaleconomy/ (zuletzt abgerufen am 30. Juli 2014).
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Diskussion
Ich halte es für einen Taschenspieler-Trick, wenn Sie behaupten, was ich betreibe, sei lediglich Marx-Philologie. Dann wird man so ein bisschen getätschelt, weil Sie ja inhaltlich nichts dagegen anführen können; aber man wird als Philologe in die Ecke gestellt, und angeblich bearbeiten andere demgegenüber ja eigentliche Probleme. Also meine Motivation, mich mit Marx zu beschäftigen, ist schon ein Problem, ein Problem mit dem Markt, ein Problem mit dem Kapitalismus, ein Problem mit Krisen. Und da möchte ich als Beispiel nur einen Aspekt anbringen: Herr Müller-Doohm hat – wie ich finde völlig zu Recht – erwähnt, dass Habermas einen neutralen Begriff des Geldes hat. Ein neutraler Begriff des Geldes ist genau ein zentrales Problem in der Krisentheorie der Neoklassik. Und das kann man mit Marx sehr gut kritisieren, weil ihm zufolge im Geld schon die Möglichkeit der Krise steckt. Ein neutraler Begriff des Geldes hingegen verkennt das und kann Krisen immer nur als zufällige, extern verursachte begreifen. Das ist nur ein Beispiel für das, was man mit dieser Marx-Rekonstruktion machen kann. Natürlich will man damit Probleme lösen. Aber auf der anderen Seite: Es geht doch hier auch um Wissenschaft oder um Philosophie. Daher ist es doch erst einmal wichtig, dass ich den Theoretikern, auf die ich mich beziehe, wenn ich ein Problem lösen will – und das ist ja völlig berechtigt, dass Herr Habermas ein Problem lösen will –, Gerechtigkeit widerfahren lasse. Ich muss auch ihre Texte erst einmal wahrnehmen, versuchen, sie so zu verstehen, wie sie vermutlich verstanden werden wollten, oder ihre wissenschaftliche Revolution, ihren wissenschaftlichen Beitrag erst einmal rekonstruieren. Und wenn – Herr Müller-Doohm hatte das zitiert – Herr Habermas sagt, die theoretischen Grundlagen der Marx’schen Kapitalismus-Kritik sind überholt, und Habermas über Jahrzehnte hinweg den Begriff der abstrakten Arbeit bei Marx nicht erfasst, dann ist da ein Problem, und darauf wollte ich hinweisen. Das ist der Punkt. Und das ist weder Selbstbefriedigung noch Philologismus, weil es inhaltliche Konsequenzen für das Verständnis des Kapitalismus hat. Ein zweiter Punkt: Frau Doyé hat darauf hingewiesen, dass Habermas einen Begriff des Arbeitsvertrages und des Klassenverhältnisses hat. Natürlich hat er den, aber worauf ich hinweisen wollte war, dass er den werttheoretischen Gehalt dieses Verhältnisses nicht rekonstruiert, der fundamental ist, wenn man den apersonalen Herrschaftscharakter des Kapitals verstehen will. Genau diese werttheoretischen Begriffe fallen bei Habermas immer durch. Und dann kommen diese 224 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
merkwürdigen Begriffskonstruktionen zustande wie »Tauschwert als Erscheinungsform des Gebrauchswerts« oder »abstrakte Arbeitskraft« oder ähnliche Dinge. Das hat schon Züge eines regellosen Sprachspiels, wie Jean Améry den Jargon der Dialektik genannt hat. Und darauf wollte ich hinweisen. Noch einmal zu Herrn Lohmann, zu der neuen Marx-Lektüre. Die ist wirklich nicht so neu, da haben Sie vollkommen Recht. Ich beziehe mich in der Tat auf die Deutungen, die seit 1965 weltweit entstanden sind. Mir leuchtet aber nicht ein, warum die alles vergessen haben sollen, was in den 20er-Jahren zu Marx geschrieben wurde. Die haben es erst einmal wiederentdeckt, was in den 20er-Jahren gewesen ist, nämlich solche bedeutenden Denker wie Isaak Iljitsch Rubin oder Eugen Paschukanis, die in den Stalin’schen Lagern ermordet wurden und die ganz wichtige Beiträge nicht nur für eine »Marx-Philologie«, sondern auch für ein Verständnis der politischen Ökonomie und der Rechtstheorie geliefert haben. Also insofern »neu« ist die Lesart nicht in dem Sinne, dass sie in diesem Jahrzehnt oder vor zwei Jahren begründet wurde; da hat man es vielleicht mit einem Benennungsproblem zu tun. »Neu« wurde sie genannt, weil sie sich gegen die vorherrschende parteioffizielle Marx-Deutung gewendet hat. Also, meine Antwort auf die Diskussionsbeiträge ist: Ich halte die Trennung von Philologie und Problemorientierung für eine Immunisierungsstrategie. Reden wir doch über Marx-Interpretationen auch in dem Sinne, dass Marx uns ein theoretisches Instrumentarium liefert, um Krisenphänomene, aber auch den normal funktionierenden Kapitalismus zu analysieren. Ich finde nämlich, dass der normal funktionierende Kapitalismus auch genug Leid produziert, und nicht nur die Krisen im Kapitalismus. Manfred Baum: Zur Frage von Herrn Lohmann: Ich habe in meinem Vortrag gesagt, dass es mir hier nicht darum geht, die Detailgenauigkeit der Habermas’schen Kurzbeschreibung der Marx’schen »Realabstraktion« in Begriffen seiner Kommunikationstheorie zu diskutieren. Mir ging es nur darum, darauf hinzuweisen, dass Hegels unglücklicherweise großer Einfluss auf Marx nicht auch dazu führte, dass dieser mit Hegel das kapitalistische System als zerrissene sittliche Totalität dachte, sondern – zumindest in seinen Anfängen – als eine Folgeerscheinung des Privateigentums, das er, mit Rousseau und sehr gegen Hegel, für das Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft hielt. 225 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
Stefan Müller-Doohm: Weil es offensichtlich eine Frage zu meinen Ausführungen nicht gibt, gehe ich zunächst einmal über die Thesen meines Referats hinaus. Was mich an dem Referat von Ingo Elbe und der Diskussion irritiert, sind dogmatischen Einstellungen gegenüber einer Theorie, die für sich beansprucht, kritisch zu sein. Das ist höchst problematisch, weil die kritischen Theorien in der Tradition von Marx, vor allem in der Tradition von Horkheimer und Adorno, davon ausgehen, dass aller Wahrheit ein Zeitkern innewohnt. Kritische Theorien haben ihren zeitgeschichtlichen Kontext und ihre Aussagen sind keineswegs überzeitlich gültig. Also ich glaube, am Prinzip des Fallibilismus sollten wir nicht rütteln. Was an Theorien meines Erachtens interessant ist, ist folgende Frage: wenn wir uns der Gesellschaftstheorien bedienen, ist zu prüfen, was wir mit diesen Theorien erklären können? Haben Sie eine Reichweite für die Erklärung der Phänomene, die uns heute unter den Nägeln brennen? Und das ist doch das Entscheidende. Der Erklärungsgehalt, der ihnen eigen ist, macht Theorien interessant, abgesehen natürlich von empirischen Projekten, die parallel zu Theorien durchzuführen wären und an deren Ergebnissen sich Theorien zu bewähren hätten. Das ist das eine. Das andere: Ich habe den Eindruck, dass es uns nicht an guter Normativität mangelt. Die demokratische Verfassung ist ja in vieler Hinsicht vorbildlich und wir können uns darauf beziehen. Es ist die beste Verfassung und politische Ordnung, die es in Deutschland – bislang jedenfalls – gegeben hat, sage ich jetzt bewusst etwas euphorisch. Aber das Problem, ein uraltes, besteht doch darin, diese gute Normativität zu einer legitimierbaren politischen Praxis werden zu lassen. Darauf zielten auch meine Fragen an Herrn Habermas, die ich in meinem Vortrag formuliert hatte: wie man solche fundamentalen Probleme, die mit der Zivilisierung des Kapitalismus verbunden sind, praktisch in den Griff bekommen kann, genauer: wie man andere wirtschaftspolitische Konzepte wie Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum realisieren kann. Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum sind immer noch die großen Fetische, aus diesem Grund gefährdet sich die Gesellschaft durch selbst induzierte Risiken immer wieder. So drängt sich die Frage auf: Wie kriegen wir etwas hin, das anders ist als das, was wir schon immer ökonomisch und politisch machen bzw. gemacht wird? Aus meiner Sicht hat das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie ja etwas Positives, und da bin ich ganz bei den Habermas’schen Überlegungen. Es ist ja in der Tat nichts Schlechtes, dieses Spannungs226 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
verhältnis, allerdings nur, wenn das Spannungsverhältnis in die richtige Richtung drängt, nämlich, wenn die Demokratie den Kapitalismus in Schach hält, und nicht umgekehrt. Smail Rapic: Ich möchte das Thema der Ideologiekritik ins Zentrum stellen, das mehrfach angesprochen wurde. Nach meiner Überzeugung ist das Problem der Ideologie unvermindert aktuell. Hierzu einige Beispiele: Ich habe 2000/2001 und 2005–2007 in Kopenhagen gelebt und bei meinem zweiten Aufenthalt eine tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Klimas erlebt: in Richtung Xenophobie bis hin zu offener Fremdenfeindlichkeit. Für die in Dänemark lebenden Ausländer war es in der Zwischenzeit erheblich schwieriger geworden, einen Arbeitsplatz zu finden; dies führte zu einer Ghettoisierung und zu wachsender Aggressivität unter den Nicht-Dänen. Bei meinem ersten Aufenthalt wohnte ich in einem traditionell proletarisch geprägten Viertel, beim zweiten in einem relativ wohlhabenden; dort sagte mir ein Nachbar: »Seien Sie froh, dass Sie jetzt hier sind. In dem Viertel, wo Sie früher gewohnt haben, leben so viele Ausländer.« Da meinem Namen unschwer zu entnehmen ist, dass ich einen Migrationshintergrund habe, fügte er hinzu: »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Rassist.« Der Nachbar wollte mich auf eine reale Gefahr hinweisen: In der Straße, in der ich bei meinem ersten Aufenthalt gewohnt hatte, war kurz zuvor ein Mord passiert. Es ist hinreichend belegt, dass die konsequente Benachteiligung und Ghettoisierung einer Minderheit Aggressivität seitens der Betroffenen hervorruft; und es ist eine klassische ideologische Struktur, die durch Diskriminierung hervorgerufene Gewalttätigkeit als einen Beleg dafür hinzustellen, dass man sich vor einer bedrohlichen Randgruppe schützen müsse. Untersuchungen zu den Ausschreitungen in mehreren englischen Städten 2011 haben gezeigt, dass zu den Ursachen der Gewalttaten die Tatsache gehörte, dass Farbige viel häufiger als Weiße von der Polizei auf der Straße angehalten und kontrolliert wurden: Den Farbigen wurde hiermit das Gefühl vermittelt, Bürger zweiter Klasse zu sein. In Jugoslawien – wo ich geboren bin – haben sich die Jahrzehnte lang tradierten, zum Teil religiös gefärbten Vorurteile der verschiedenen Volksgruppen gegeneinander in einem Bürgerkrieg entladen, der 200.000 Menschen das Leben gekostet hat. Auch der sogenannte »Krieg gegen den Terror« der USA und ihrer Verbündeten nach dem 11. September 2001 war ideologiedurchtränkt. Der islamische Fundamentalismus wurde in den 1980er227 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
Jahren von den USA gefördert, weil er sich im Kampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan als nützlicher Verbündeter erwies. Osama Bin Laden versteckte sich nach dem Angriff der USA auf Afghanistan in der Höhlenfestung Tora-Bora, die er Jahre zuvor mit Hilfe der CIA gebaut hatte. Es ist eine klassisch ideologische Struktur, die Bundesgenossen von gestern zu Erbfeinden zu erklären, nachdem sich die Machtkonstellation verändert hat. Als George W. Bush 2004 wiedergewählt wurde, fragten deutsche Fernsehjournalisten ihre US-amerikanischen Kollegen, wie es zu erklären ist, dass ein Präsident mit einer so katastrophalen Bilanz ein zweites Mal gewählt wird: Die wirtschaftliche Lage hatte sich verschlechtert, das internationale Ansehen der USA war aufgrund der Folterungen in Guantanamo und Abu Ghraib auf dem Tiefpunkt angelangt. Die Antwort der US-amerikanischen Journalisten lautete: Bush hatte es geschafft, dass die Angst vor dem islamischen Fundamentalismus alle anderen Themen überdeckte, wobei sich niemand mehr daran erinnern wollte – oder konnte –, dass der islamische Fundamentalismus in Afghanistan von US-amerikanischen Regierungen viele Jahre gefördert worden war. Diese Beispiele belegen meines Erachtens, dass die Ideologiekritik eine Kernaufgabe der kritischen Gesellschaftstheorie geblieben ist. Zum Einwand von Herrn Brunkhorst, dies sei ein intellektualistisch überdehnter Ansatz: Eine Antwort hierauf finde ich bei Habermas in Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus, wo er betont, dass die Ideologiekritik nur in Zeiten der Krise wirksam ist. In der gegenwärtigen Krise des globalisierten Kapitalismus haben wir nach meiner Überzeugung die Chance, eine kritische Öffentlichkeit zu erreichen. Zu den Einwänden von Frau Doyé: (1) Ich habe versucht, mit Hilfe der Habermas’schen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive von einem objektivistischen Verständnis des Historischen Materialismus, an dem Sie festhalten, wegzukommen. (2) Empirische Zeitdiagnosen bilden nach meiner Überzeugung den Ausgangspunkt kritischer Gesellschaftstheorien, die Alternativen zum Bestehenden ins Auge fassen.
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Regina Kreide
Die verdrängte Demokratie Kommunikations- und Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt 1
Es ist unbestritten, dass die Demokratie gegenwärtig von mehreren Seiten bedrängt wird. Zum einen schaffen der Klimawandel, aber auch andere Risiken mit transnational spürbaren Auswirkungen (etwa Fukushima) eine schiere Notwendigkeit, Modi transnationalen Handelns und transnationaler Regulierung zu kreieren. Nationale demokratische Parlamente allein können eine wie auch immer geartete Einhegung von Krisenfolgen nicht mehr leisten. Die Demokratie wächst jedoch diesem Regelungsdruck äußerst langsam und auch nur in wenigen Teilen der Welt hinterher. Zweitens lässt sich eine Erosion nationaler Souveränität durch Globalisierungsprozesse und die trotz der Krise weiter erstarkten Finanz- und Wirtschaftssysteme erkennen. Unter anderem Colin Crouch hat das Phänomen, dass Expertenkomitees, internationale Organisationen und globale Unternehmen an die Stelle des Volkswillens treten, als »Postdemokratie« beschrieben. 2 Und drittens sind moderne Gesellschaften durch einen Wertepluralismus und tiefreichende politische, religiöse und soziale Konflikte gekennzeichnet. Das Subjekt der Demokratie, der souveräne Volkswille, ist längst nicht mehr homogen und einheitsstiftend, sondern plural und dissensanfällig. Ein Problem stellt dies dar, wenn politische Entscheidungen nicht mehr im Sinne dessen getroffen wird, was gut für alle sein könnte, sondern Interessenvertretungen und Lobbygruppen in den Entscheidungsprozessen die Oberhand gewinnen. Wir sind somit mit drei Formen der Verdrängung von Demokratie konfrontiert: Bürger sind von transnationalen Regeln betroffen, auf die sie keinen Einfluss mehr nehmen können. Das bisherige, demokratische und staatliche Repräsentativsystem wird zunehmend machtlos. Ich möchte Hauke Brunkhorst für hilfreiche Kommentare und Smail Rapic für wertvolle Hinweise zum Text danken. 2 Colin Crouch: Post-Democracy. Cambridge 2004. 1
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Regina Kreide
Und schließlich wird der Demos, also das Volk, selbst nach innen und auf globaler Ebene pluraler, was eine konsensuelle Einigung auf das Gemeinwohl schwieriger werden lässt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich für die politische Theorie und Philosophie die Frage, ob die Demokratie den Kampf mit den unversöhnlichen Folgen einer kapitalistischen Weltgesellschaft schon verloren hat oder ob es eine Transformation der Demokratie geben kann, die trotz der repressiven Bedingungen selbst demokratisch verläuft. Es überrascht, dass sich weite Teile der gegenwärtigen politischen Theorie bislang nicht sonderlich intensiv mit diesen neueren Herausforderungen auseinandergesetzt haben. Während verschiedene ›Governance-Theorien‹ auf Basis einer funktional-einseitigen Gesellschaftsanalyse kaum auch nur Demokratiepotentiale zu erkennen glauben, gehen ›idealistische Ansätze‹ davon aus, moralphilosophisch begründete Prinzipien könnten ohne den Umweg demokratischer Prozeduren auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ›angewendet‹ werden, und ›Dissenstheorien‹ wiederum gehen von einer zu einseitig beschriebenen kontingenten Verfasstheit politischer Prozesse aus (I). Demgegenüber vertrete ich die These, dass die normative Demokratietheorie auf eine empirisch informierte Gesellschaftstheorie angewiesen ist (II). Ein solcher wechselseitiger Verweis von Demokratieauf Gesellschaftstheorie ist bereits in Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« angelegt. Ich möchte zeigen, dass eine revidierte, den aktuellen Gegebenheiten angepasste Version der ›Kolonialisierungsthese‹ die notwendigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Werkzeuge bietet, um eine gesellschaftstheoretische Rekonstruktion von Demokratieblockaden und -potentialen zu gewährleisten (III). Diese Analyse wiederum lässt Rückschlüsse auf eine Demokratietheorie zu, bei der neben der Reflexivität des demokratischen Verfahrens vor allem die außer-institutionelle kommunikative Macht zentral ist. Sie könnte, trotz einer unverrückbaren Übermacht des Marktes und privatrechtlicher, technisierter Politik, Triebfeder für Umwandlungsprozesse sein (IV).
I.
Die Verdrängung der Demokratie
Auf die hier nur kurz skizzierten Herausforderungen hat die politische Theorie auf unterschiedliche Weise, jedoch nicht sonderlich überzeu230 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die verdrängte Demokratie
gend reagiert. Ich werde mich hier auf die Diskussion dreier Strömungen beschränken, um grundlegende Probleme des vorherrschenden Umgangs mit der Demokratie in der politischen Theorie herauszuarbeiten. 3 1. Idealistische Theorien sind um die Entwicklung globaler Ethiken bemüht. 4 Die Implosion der Sowjetunion, des letzten gewaltsam zusammengehaltenen Imperium, kann als einschneidender Punkt dieser Theorieentwicklung gesehen werden. Durch den Aufschwung normativer, idealistischer Theorien Anfang der 1990er Jahre wurde die bis dato übliche Hegemonie der politikwissenschaftlich-realistischen Standpunkte in Frage gestellt. Es ist zweifellos ein Verdienst idealistischer Theorien, dass sie uns ins Bewusstsein rufen, was realistische Theorien systematisch verdrängen, nämlich die bahnbrechende Rolle der Ideen in der Evolution von Gesellschaften. Man denke an Olympe de Gouges und ihren Kampf für die Frauenrechte während der Französischen Revolution, den sie mit ihrem Leben bezahlte, oder an den französischen Arbeiterführer Auguste Blanqui, der vor Gericht angab, sein Beruf sei Proletarier, wie der von Millionen Franzosen. Trotz dieser Hinwendung zu Werten und Visionen, oder gerade deshalb, basieren idealistische Theorien nicht auf empirischen Untersuchungen. Vielmehr konstruieren sie, ausgehend von einem moralischen Standpunkt, zunächst globale normative Prinzipien, beispielsweise globale Gerechtigkeits- oder Tauschprinzipien, die dann in einem zweiten Schritt auf die politische Realität ›angewendet‹ werden. Ein wesentliches Problem dieser methodischen Vorgehensweise liegt darin, dass die systemische Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, vom internationalen Recht über die globale Ökonomie hin zu interessengeleitetem Widerstand in politischen Kämpfen, nur als
Die folgenden Unterscheidungen finden sich, wenn auch ausführlicher und mit einer etwas anderen Ausrichtung, in Regina Kreide/Andreas Niederberger: »Politik – Das Politische«. In: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hrsg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Auflage (als: Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung). Wiesbaden 2011, S. 292–307. 4 Bei aller Verschiedenheit lassen sich beispielsweise die Theorien von Simon Caney, Darrell Moellendorf und Otfried Höffe unter das Dach der idealistischen Theorien subsumieren. Simon Caney: Justice Beyond Borders: A Global Political Theory. Oxford 2005; Darrell Moellendorf: Cosmopolitican Justice. Notre Dame 2002; Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München 1999. 3
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Regina Kreide
Randerscheinungen politischen Handelns thematisiert werden können. Da der von den idealistischen Theorien verwendete Begriff der Vernunft durch die ›richtige‹ Vorstellung von Moral oder Gerechtigkeit legitimiert wird, kann er nicht durch so etwas wie ›unfreundliche‹ materielle und politische Bedingungen erschüttert werden. Idealistische Theorien lassen jedoch nicht nur den Bezug zur gesellschaftlichen Realität vermissen, sondern sie verfehlen auch die dialektische Pointe. Der dualistische Charakter von Moral – zwischen Freiheit und Pflicht hin- und hergerissen zu sein – wird nur halbwegs aufgelöst: ›Idealisten‹ betonen zwar die Freiheit, die normative Ideale bergen können, und berufen sich häufig auf die Menschenrechte, aber sie lassen die so gar nicht freiheitsspendende, bevormundende Seite von idealen Vorstellungen außer Acht. Doch auch die Idee der Menschenrechte kann, wie wir wissen, zu unterdrückerischen Interventionen, einer imperialistischen Geopolitik oder auch für die Rechtfertigung neokolonialer Politik missbraucht werden. Die Aufgabe der Demokratie liegt in diesen Szenarien entweder darin, Gerechtigkeitsvorstellungen, die die gesellschaftliche Grundstruktur prägen sollen, in einem »Anwendungsschritt« durch öffentlichen Vernunftgebrauch zu legitimieren. 5 Oder aber Demokratie wird als bestmögliche Bedingung für die Verhinderung von Armut deklassiert und damit in den Dienst der Entwicklungsarbeit gestellt. 6 Beide Male werden Demokratie und Politik, mit Raymond Geuss gesprochen, zu einer Art angewandter Ethik, die die gesellschaftlichen Bedingungen verkennt. 7 2. Eine weitere, einflussreiche Reaktion auf die skizzierten Herausforderungen stellen die inzwischen breit ausgefächerten Governance-Theorien dar. 8 Sie wurden tonangebend, als sich die erste EuJohn Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1992, S. 333–363. Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities and Reforms. Second Edition. Cambridge 2008, S. 152–173. 7 Raymond Geuss: Philosophy and Real Politics. Princeton 2008, S. 8 ff. 8 In frühen Ansätzen zur Steuerungs-Problematik erschien der demokratische Staat als Objekt und die Bürger als Subjekt. Das änderte sich in späteren Governance-Theorien, die sich mit der Besonderheiten der transnationalen (europäischen und globalen) Governance beschäftigten und die Subjekt-Objekt-Beziehung umkehrten. Während in frühen Ansätzen Forscher wie Renate Mayntz und Streeck/Schmitter eine Politik-Analyse betrieben, bei der die Regelungsmöglichkeiten des demokratischen Staates, beispielsweise auf den Gebieten von Finanzen, Gesundheit, Bildung auf der einen Seite und die Handlungsspielräume der Akteure (Bürger) auf der anderen Seite untersucht wurden (Renate Mayntz: »Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive«. In: Burth/Görlitz: 5 6
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Die verdrängte Demokratie
phorie nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums und die Vorstellung einer weltumspannenden Demokratisierung nicht erfüllt hatten. Eine angemessene Beschreibung davon, wie das Regieren in einer ausdifferenzierten, globalisierten Welt jenseits des Nationalstaates aussehen könnte, könne nur gelingen, so die Schlussfolgerung angesichts der in den 1990er Jahre fortschreitenden Globalisierung, wenn keine starken normativen Annahmen vorausgesetzt werden. Diese Vorbehalte gehen einher mit der – bei aller Verschiedenheit – ebenfalls geteilten Annahme, eine Gesellschaft könne losgelöst von konkreten Akteuren als sich koordinierende, soziale Systeme beschrieben werden, die über funktionale Erfordernisse in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Politik integriert sind. Regieren wird dann inner- wie zwischenstaatlich als effiziente Regulierung verstanden, die es erlaubt, jenseits des Staates auch andere, nicht-staatliche Akteure (wie Unternehmen und NGOs) zu erfassen. Statt einer Analyse staatlicher Politik und Verwaltung, die stets die vertikale Beziehung zwischen staatlichen Institutionen und den Bürgern im Blick hat, werden nun Regelungen zwischen funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen aus horizontaler Sicht analysiert. Transnationale Koordinationsleistungen und Entscheidungsprozesse zwischen staatlichen Finanz-, Wirtschafts-, Antiterror-, und Bildungsabgeordneten sowie zwischen ebenfalls trans- und zwischenstaatlich operierenden Sport-, Gesundheits-, Verkehrsexperten unterschiedlicher Verbände, Firmen, NGOs
Politische Steuerung in Theorie und Praxis. München 2001, S. 17–28, siehe online: http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp01-2/wp01-2.html; Wolfgang Streeck/Philippe Schmitter: Private Interest Government. Beyond Market and State. London 1985), wurde recht bald schon diese Akteursperspektive aufgegeben. Die ökonomische Transaktionstheorie, vertreten etwa durch Olivier Williamson, beschrieb Governance als das Bestehen von Regeln und als Art und Weise, diesen Regeln in ökonomischen Prozessen Geltung zu verschaffen. Oliver Williamson: »Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations«. In: Journal of Law and Economics 22 (1979), S. 233–261. Unter anderem die Politikwissenschaftler Ouchi 1980 und Powell 1990 übertrugen diesen Begriff auf die Regulierung (regulation) von Clans, Vereinigungen und Netzwerken, die man alle ebenfalls in der Wirtschaft antreffen konnte. W. G. Ouchi: »Markets, Bureaucracies, and Clans«. In: Admininistrative Science Quarterly 25 (1980), S. 129– 141 und W. W. Powell: »Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization«. In: Organizational Behavior 12 (1990), S. 295–336. Aus systemtheoretischer Sicht siehe auch Helmut Wilke: Entzauberung des Staates. Königstein 1983.
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Regina Kreide
und Lobbygruppen erscheinen dann als nicht-hierarchische Aktivitäten zwischen gleichgestellten Partnern. 9 Das mag wie ein kritischer Gegenentwurf zu hierarchisch organisierten Steuerungsprozessen anmuten, doch die Analyse aus Sicht vermeintlich nicht-hierarchischer Netzwerke birgt erhebliche praktische und theoretische Schwierigkeiten. Zum einen wird der Unterschied zwischen Steuerungsobjekt und Steuerungssubjekt verwischt, was nicht ohne Folgen für das Verständnis von Bürgern und Öffentlichkeit bleibt. Das Steuerungssubjekt, einstmals das Volk, nun private Akteure, erscheint als hochgradig abstrakt und zugleich fragmentiert. Geteilte Interessen können, so die Unterstellung, nicht mehr ausgemacht werden. Im »Schatten der Hierarchie« 10 (Scharpf 1993) internationaler und europäischer Gewaltmonopole wird die Effektivität nicht-hierarchischer Steuerungsformen analysiert, ohne dass die Rolle einer transnationalen oder auch lokalen kritischen Öffentlichkeit einschließlich Bürgerprotesten, -initiativen, Aufständen und Revolutionen theoretisch erfasst werden könnte. 11 Damit greifen Governance-Theorien empirisch viel zu kurz. Zweitens wird als Objekt der Steuerung nicht mehr allein der Staat angesehen, sondern auch die Politik selbst. Die Analyse gilt insbesondere den öffentlich-privaten Kooperationen (Public-Private-Partnerships), die durch Unterstützung finanzstarker Investoren kollektive Anliegen wie Wasser-, Renten- und Gesundheitsversorgung übernehmen und als Paradebeispiel nicht-hierarchischer Regelungsformen gelten. Verschwunden ist die Machtasymmetrie jedoch nur vordergründig. Denn zur Hierarchie zwischen staatlichen Institutionen und Bürgern ist stärker denn je jene zwischen besitzenden und nicht-besitzenden Bürgern, zwischen denen, die zahlen können und wollen, und den have-nots hinzugetreten. Gerade diese Machtasymmetrie jedoch können Governance-Theorien begrifflich nicht einfangen. Und schließlich wird Politik auf technisch bestimmbare Regulierungseffekte reduziert. Die Legitimität politischer Planung und Durchsetzung wird an der Effizienz der Ergebnisse bemessen, losgelöst 9 Adrienne Héritier: »Introduction«. In: ders. (Hrsg.): Common Goods. Reinventing European and International Governance. Lanham 2002, S. 1–12. 10 Fritz W. Scharpf: »Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen«. In: Adrienne Héritier (Hrsg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. PVS Sonderheft 24, Opladen 1993, S. 57–83, hier: S. 67–68. 11 Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit (hrsg. von Hartmut Weßler). Frankfurt a. M. 2007.
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von der Input-Frage, wer Autor dieser Resultate hätte sein sollen. Governance wird somit zum Werkzeug marktgerechter Regelung und zum bloßen Substitut der Demokratie. 12 3. Einer dritten Position schließlich geht es weder um die Verortung der Politik in Bezug auf Tatsachen oder Ideen noch um eine angemessene Beschreibung trans- und internationaler Regelwerke: »Dissenstheorien« interessieren sich dafür, auf welche Art und Weise sich Politik mit Konflikten auseinandersetzt und zu Entscheidungen findet. Im Denken einiger französischsprachiger Philosophen (Nancy, Lyotard, Mouffe) ist das Politische zentrales Element. Die öffentliche Auseinandersetzung und kontroverse Entscheidung wird damit Kernbestand politischer Aktivitäten. Im Unterschied dazu ist Politik die »im Machbaren befangene Ordnung des Empirischen« 13. Politik verkörpert das Statische, das politische System, den Staat. Während sich das Politische auf das Sichtbarmachen der Differenz zwischen Politik und Nicht-Politik bezieht, auf das, was sich, ähnlich wie bei Arendt, den Zwängen gesellschaftlicher Reproduktion und des Ökonomischen entzieht, geht Politik als Ort der Entscheidungen im institutionellen Apparat auf. 14 Die genannten Position teilen eine Annahme, die sie von Carl Schmitt entlehnen: Jede politische Entscheidung ist stets nur vorläufig und im Moment der Entscheidung unbegründet, sie überwindet den Dissens nicht. Demokratie trägt daher ein Element der Dezision in sich. 15 Dissens-Theorien suggerieren, sie könnten die große Pluralität der Ansichten und Interessen bestens integrieren. Doch die Inklusion vor allem marginalisierter Teile der Bevölkerung muss letztlich arbiträr Auch ein demokratischer Governementalismus wie der von Ann-Marie Slaughter offeriert nur eine ›halbierte Demokratie‹, da bei einer indirekten Legitimation politischer Entscheidungen die gewählten Repräsentanten den Bürgern gegenüber doch nur Rechenschaft schuldig sind, aber direkte politische Partizipation auf transnationaler Ebene nicht vorgesehen ist. Ann-Marie Slaughter: A New World Order. Princeton 2004. Hierzu ausführlich und kritisch: Markus Patberg: Against Democratic Intergovernementalismus – A Case for a Theory of Global Constituent Power. Unver. Manuskript. 13 Thomas Bedorf: »Das Politische und die Politik«. In: ders/Röttgers (Hrsg.): Das Politische und die Politik. Frankfurt a. M. 2010, S. 13–37, hier: S. 14. 14 Chantal Mouffe: »Deliberative Democracy or Agonistic Pluralism«. In: Social Research 66 (1999), S. 745–758. 15 Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London 1985. 12
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bleiben. Es wird kein normativer Rahmen bereitstellt, der Auskunft darüber geben könnte, wer in politische Entscheidungen einbezogen wird, wer teilnehmen und sprechen sollte bzw. welche Gründe diejenigen geltend machen können, die ausgeschlossen sind. Aber nicht allein politische Entscheidungen bleiben unbegründet, auch die Frage, wie verhindert werden könnte, dass nur die ohnehin starken, politisch mächtigen, wortgewaltigen und ökonomisch erfolgreichen Bürger am politischen Geschehen beteiligt sind, bleibt offen. Dissens-Theorien beziehen dazu ganz bewusst keine dezidierte Position, weil sie in jeder Begründung selbst schon ein Unrecht vermuten, deren Vorläufigkeit nur durch die Annahme der Unentscheidbarkeit gewährleistet werden kann. Ohne Begründung jedoch bleibt von Politik nur die Irrationalität übrig. 16 Während also, so lässt sich festhalten, idealistische Theorien den Bezug zur gesellschaftlichen Gegebenheit verlieren und Demokratie nur als Anwendungsfall einer globalen Ethik missverstehen, reduzieren Governance-Theorien ihre Analysen transnationaler Interessenvertretungen ohne die Berücksichtigung von normativen Ideen und kämpferischen Öffentlichkeiten auf sozial-technokratische Untersuchungen. Nur jedoch, wenn das Einfallstor zum weltlosen Moralisieren geschlossen wird und das emanzipatorische Potential von Ideen theoretisch eingefangen wird, kann die normative Theorie mit Erfolg die Hegemonie realistischer Ansätze überwinden. Die Dissens-Theorien hingegen gehen davon aus, eine überzeugende Vorstellung von Demokratie zu bieten, wenn sie politische Konflikte in dezisionistischer Manier dem Spiel irrationaler Kräfte überlassen. Sie übersehen dabei, dass sie keine theoretische Handhabung besitzen, die Exklusion der Ausgeschlossenen zu kritisieren und begründete Alternativen angeben zu können. Dieser kursorische Durchgang durch einige Ansätze der politischen Theorie und Philosophie, die sich auf die eine oder andere Weise mit den gegenwärtigen Herausforderungen befassen, muss an dieser Stelle unvollständig bleiben. Dennoch lässt er einen beunruhigenden Schluss zu: Die Verdrängung der Demokratie in der Praxis spiegelt sich auf fatale Weise in der politischen Theorie wider. Wir sehen uns nicht nur einer Krise demokratischer Politik gegenüber, sondern offensichtMicha Brumlik: »Neoleninismus und Postdemokratie«. In: Blätter 8 (2010), S. 105– 116.
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lich auch einer Krise der politischen Theorie, da eine ganze Reihe prominenter Positionen nicht adäquat auf die gegenwärtigen Probleme reagieren. Das Verdrängen der Demokratie wird so noch einmal, psychoanalytisch gesprochen, in der Theorie verdrängt.
II.
Warum Gesellschaftstheorie?
Die Frage, die sich unmittelbar anschließt, ist, wie die politische Theorie vorgehen müsste, um einerseits den Herausforderungen eines globalisierten Kapitalismus mit seinen desaströsen Nebenfolgen gerecht zu werden, auf der anderen Seite aber die normativen Anforderungen an die Demokratietheorie nicht so weit zu verwässern, dass von politischer Selbstbestimmung der Bürger nicht viel mehr übrigbleibt als das Skelett eines erlegten Tieres. Die politische Theorie, so meine These, müsste sich vermehrt der Gesellschaftstheorie zuwenden, um Handlungs- und Kommunikationsblockaden analysieren zu können, die einer Demokratisierung im Wege stehen. Dies wiederum ließe dann Rückschlüsse auf mögliche Demokratisierungspotentiale unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu. Zunächst aber muss ich erläutern, wieso überhaupt eine Verbindung zwischen politischer Theorie und Gesellschaftstheorie für beide Seiten von Vorteil sein sollte. Ich denke, es sind vor allem vier Gründe, die für ein solches Vorgehen sprechen. Erstens sehe ich in der Fokussierung auf Politische Theorie eine unnötige Beschränkung, die den Ansprüchen sozialer Wirklichkeit nicht gerecht wird. Die politische Theorie verschließt sich damit den realen Voraussetzungen von Demokratie und der Frage danach, wer in den politischen Prozess ein-, wer ausgeschlossen ist; welche Mechanismen zur gesellschaftlichen Exklusion führen; welche Hindernisse, welche motivationalen, welche strukturellen Blockaden einer gleichen politischen Teilnahme im Weg stehen. Nun könnte man einwenden, dass eine Analyse gesellschaftlicher Bedingungen keine Auskunft über die normative Richtigkeit von Prinzipien gibt, die einer begründeten Demokratievorstellung zugrunde liegen. Denn wie sollte man, so das klassische Sein-Sollen-Problem, von den empirischen Bedingungen zu normativen Begründungen gelangen? Die Kritische Theorie hat darauf von Anfang eine Antwort gegeben: Keineswegs nämlich erschöpft sich die praktische Vernunft im bloßen Sollen, sondern entfaltet ihre Wirk237 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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samkeit in der Wirklichkeit. Es ist die Aufgabe rekonstruktiver Wissenschaft, jene performativen, normativen Ideale herauszuarbeiten, mit deren Hilfe die Verzerrungen des falschen Bewusstseins bloßgelegt werden können. In der Habermas’schen Theorie artikuliert die rationale Rekonstruktion die Voraussetzungen von kommunikativer Verständigung, während die Gesellschaftskritik die Defizite tatsächlicher Verständigung in konkreten Situationen aufzeigt. 17 Dieses Vorgehen bietet sich auch für die Demokratietheorie an. 18 Vor der Folie der Rekonstruktion von Handlungs- und Kommunikationsblockaden lassen sich zugleich mögliche Demokratisierungspotentiale bestimmen. Zweitens ist Theorie ohne den Bezug zur Praxis nicht denkbar. Es war maßgeblich das Verdienst von Marx und Horkheimer, dass die transzendentale Philosophie überwunden wurde. Während für Hegel die theoretische Reflexion im absoluten Wissen der Philosophie ihren Abschluss findet, wandte sich Marx den wirklichen »materiellen« Prozessen zu. Theorie selbst muss sich, wie dann Horkheimer hervorhob, als einen Teil des Lebenszusammenhangs, den sie zu erfassen versucht, beschreiben. 19 Damit reflektiert Theorie von vorneherein ihre eigenen Bedingungen und versteht sich als Teil der Praxis, die sie beschreibt. Konsequenterweise können Phänomene wie Ausbeutung, Entfremdung, Ausgrenzung nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis überwunden werden. 20 In anderen Worten: Theorie wird zur Praxiswissenschaft. Das ist zugleich nochmals der Hinweis auf die Schwäche der ›idealistischen‹ Theorie. Drittens bringt die Gesellschaftstheorie die Subjekt-Perspektive wieder ins Spiel. Es ist Habermas, der Marx dafür kritisierte, nicht hinreichend zwischen empirischen und kritisch-reflexiven Formen der Erkenntnis unterschieden zu haben und der den selbst-reflexiven Charakter der Gesellschaftskritik hervorhebt. Im Akt der Selbstreflexion 21 Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999, S. 187; Mattias Iser: »Rationale Rekonstruktion«. In: Hauke Brunkhorst/ Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 364– 366, hier: S. 364. 18 Daniel Gaus: »Rational Reconstruction as a Method of Political Theory between Social Critique and Empirical Political Science«. In: Constellations 20, 4 (2013), S. 553– 567. 19 Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«. In: Zeitschrift für Sozialforschung 2 (1937), S. 245. 20 EI 14 ff., 84. 21 EI 14 ff.; Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung (s. Anm. 17), S. 215. 17
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sieht sich das Subjekt als ein in den Zwängen von durchorganisierten Arbeitsprozessen gefangenes, den Anforderungen einer hochtechnisierten, hoch mobilen Welt ausgeliefertes und politischer Machtlosigkeit preisgegebenes Subjekt vor sich – und erkennt die katastrophale Lage. Mit dieser Selbsterkenntnis beginnt die eigentliche theoretische Arbeit. Denn es ist das Interesse, über die Alltagszwänge und die Bedingungen der Selbsterhaltung Bescheid zu wissen, das zu der berühmten Einsicht geführt hat, dass eine radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich ist. Theorie muss von einer Subjektperspektive ausgehen – nicht von den Strukturen, wie es die GovernanceTheorie propagiert. Und schließlich kann Gesellschaftstheorie die generalisierende Kraft der Negation nutzen. 22 Dann geht sie von einem Gefühl der Ungerechtigkeit aus 23, das sich in den ausgebeuteten Klassen, den unterdrückten Völkern und den exkludierten Bevölkerungsteilen zeigt. In der Theoriegeschichte wurde die reflexive Dynamik der Negation meist ignoriert, obwohl es immer wieder Ausnahmen gab. Kant etwa macht für die Begründung des Rechts die Rechtsverletzung stark, die von jedem an jedem Ort der Welt empfunden werden kann. Negative Gefühle haben, wie Adorno und Habermas wissen, einen kognitiven Gehalt, der in ihrer Intersubjektivität begründet liegt. Wer in Wut gerät, so Lutz Wingert, weil er ausgebeutet wird, hat einen guten Grund, den er oder sie mit anderen teilen kann. Darum ist das moralische Gefühl der Demütigung von Sklaven kein Ressentiment, sondern Ausdruck von Ungerechtigkeit. 24 Gesellschaftstheorie geht dieser Kraft der Negation nach, um mögliche Emanzipations- oder eben auch Demokratisierungspotentiale aufspüren zu können. Mit der Gefahr der »Ohnmacht des Sollens«, dem notwendigen Praxisbezug, der Erkenntniskraft des Subjektes sowie dem generalisierenden Potential der Negation sind nur einige methodologische wie theoretische Gewinne einer Verbindung zwischen empirisch informierter Gesellschaftstheorie und normativer politischer Theorie genannt. Die sich anschließende Frage ist nun, welche Theorie für eine ZusamHauke Brunkhorst: »Neustart – Kritische Theorie Internationaler Beziehungen«. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17 (2010), S. 293–315. 23 Barrington Moore Jr.: Injustice: The Social Bases of Obedience and Revolt. London 1978; Judith Shklar: The Faces of Injustice (Storrs Lecture on Jurisprudence 1988). New Hampshire 1992. 24 Lutz Wingert: Gemeinsinn und Moral. Frankfurt a. M. 1993, S. 79. 22
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menführung beider Perspektiven in Frage kommt. Anbieten würde sich zum einen die Systemtheorie, zum anderen die Kritische Theorie. 25 Es ist allein die Kritische Theorie, und besonders ›Die Theorie des kommunikativen Handelns‹ von Jürgen Habermas, die, ausgehend von gesellschaftlichen Problemen, eine Verbindung von Gesellschaftsanalyse und reflexiver Praxis aus normativer Sicht offeriert.
III. Die ›Kolonialisierungsthese‹ revisited Die Theorie des kommunikativen Handelns, die Jürgen Habermas 1981 vorlegte, gilt heute als Klassiker der Sozialphilosophie und Soziologie. Dennoch könnte man meinen, das ›Klassiker-Dasein‹ tue dem Werk nicht sonderlich gut, denn die Rezeption wichtiger Thesen des Werkes findet gegenwärtig in durchaus überschaubarem Rahmen statt. 26 Zu Unrecht, wie mir scheint. Gerade mit der »Kolonialisierungsthese« kann man erneut einen kritischen Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen eines gelingenden Lebens werfen. Diese Behauptung bedarf der genaueren Erläuterung. Ich möchte zunächst in gebotener Kürze die ›Kolonialisierungsthese‹ wieder in Erinnerung rufen (1) und dann vier, zugegebenermaßen eher kursorisch dargestellte Formen gegenwärtiger Kolonialisierungen und ihre Folgen analysieren (2). 1) Modernisierungsprozesse führen zwangsläufig zu Freiheitsverlusten. Habermas knüpft damit unmittelbar an Max Webers pessimistische Diagnose an. Es sind vor allem Rationalisierungsprozesse, wie etwa die Differenzierung der Lebenswelt, die Dezentrierung des WeltBrunkhorst: Neustart (s. Anm. 22). Ausnahmen sind unter anderem Harald Müller: »Internationale Beziehungen als kommunikatives Handeln. Zur Kritik der utilitaristischen Handlungstheorien«. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1, 1 (1994), S. 15–44; Rainer SchmalzBruns: »Die Theorie des kommunikativen Handelns – eine Flaschenpost? Anmerkungen zur jüngsten Theoriedebatte in den Internationalen Beziehungen«. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2, 2 (1995), S. 347–370. Zum 25jährigen Geburtstag der Theorie des kommunikativen siehe Robin Celikates/Arnd Pollmann: »Baustelle der Vernunft, 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns – Zur Gegenwart eines Paradigmenwechsels«. In: WestEnd 3, 2 (2006), S. 97–113 und jüngst Brian Milstein: Commercium. Critical Theory from a Cosmopolitan Point of View. Unver. Manuskript. 2013 sowie David Strecker: Spätkapitalismus 2.0: Überlegungen zum Strukturwandel der Kolonialisierung der Lebenswelt. Unver. Manuskript 2013. 25 26
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verständnisses und die Formalisierung von Weltbildern, die zur Herausbildung verschiedener »formaler Weltkonzepte« (objektive, soziale, subjektive Welt) und analog zu entsprechenden Rationalitätsstandards (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) geführt haben (TkH II 191). Bei Habermas sind die Rationalisierungsprozesse jedoch stärker als noch bei Weber paradoxer Natur (TkH II 277 ff.). Sie ermöglichen einerseits, dass moderne Gesellschaften ein höheres Maß an Komplexität entwickeln können. Andererseits jedoch führen sie dazu, dass die soziale Ordnung in Lebenswelt und System auseinandertritt. 27 Die systemischen, organisationsförmigen und mediengesteuerten Bereiche drängen lebensweltliche normenkonforme Einstellungen und identitätsbildende soziale Zugehörigkeiten in den Hintergrund. Für die Handelnden werden die rein zweckrational organisierten Sphären Markt und Staat »wie zu einem Stück naturwüchsiger Realität – in den Subsystemen zweckrationalen Handelns gerinnt die Gesellschaft zur zweiten Natur« (TkH II 231). Zwangsläufig besitzen daher die ökonomischen und staatlichen Sphären erheblichen Einfluss auf lebensweltliche Zusammenhänge. Dieser Prozess der ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ (TkH II 471) zeigt sich vor allem dann, wenn die Hand-
Die Lebenswelt beschreibt Habermas als Sinnstruktur, als »Vorrat an Deutungsmustern« (TkH II 189), mit denen die Subjekte ihre Handlungen koordinieren (TkH II 187). Die Lebenswelt lässt sich nicht, wie systemisch integrierte Teile der Gesellschaft, einseitig auf rein zweckrationales Handeln reduzieren. Die Dimensionen »Kultur«, »Gesellschaft« und »Personen« beschreiben gesellschaftliche Bereiche, die für die kulturelle Reproduktion, die soziale Integration und die personale Sozialisation zuständig sind. Es sind Bereiche symbolischer Reproduktion, die durch kommunikatives Handeln bestimmt werden. Der systemische Bereich der Gesellschaft hingegen hat sich, wie auch schon Durkheim, Weber und Parsons beschrieben, mit der zunehmenden Komplexitätssteigerung moderner Gesellschaften aus dem lebensweltlichen Bereich herausgebildet. Wirtschaft und Staat, die beiden zentralen ›Subsysteme‹ werden nicht mehr mithilfe eines kommunikativ zu erzielenden Einverständnisses koordiniert, sondern durch die beiden entsprachlichten Medien Geld und administrative Macht. In den Subsystemen haben sich die systemischen Zusammenhänge zu »normfreien Strukturen« verdichtet. Zur Kritik an der Unterscheidung Lebenswelt und System aus Sicht der Handlungstheorie siehe Hans Joas: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt a. M. 1986, S. 144–176. Eine Überbetonung systemischer Aspekte, die Habermas’ eigene Vorstellungen von Demokratie unterminieren, sieht Thomas McCarthy: »Komplexität und Demokratie – die Versuchungen der Systemtheorie«. In: Honneth/Joas (Hrsg.): a. a. O., S. 177–215.
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lungskoordinierung nicht mehr auf Verständigung basiert, sondern durch Geld und administrative Macht ersetzt wird und damit auch die Möglichkeit normativer und expressiver Ausdrucksformen marginalisiert wird. Kultureller Sinn, gesellschaftliche Solidarität und persönliche Ich-Stärke können nur auf Grundlage eines Einverständnisses ausgebildet werden. Doch wenn die Monetarisierung durch Marktimperative und die Bürokratisierung durch staatliche Steuerungsversuche nicht nur lebensweltliche Zusammenhänge bestimmen, was nicht ausbleibt, sondern auch kommunikatives Handeln ersetzen, kommt es zu pathologischen Veränderungen lebensweltlicher Handlungszusammenhänge. Die Privatsphäre, weite gesellschaftliche Bereiche und auch die Öffentlichkeit werden den strukturfremden Medien des Geldes und der administrativen Macht unterworfen: Privatpersonen werden zu Konsumenten des Marktangebots, Staatsbürger zu Leistungsempfängern des Wohlfahrtsstaates, und die Gesellschaftsmitglieder sind der Gefahr ausgesetzt, dass ihre politische und soziale Autonomie massiv durch sozialpathologische Erscheinungen wie Identitätskrisen und Entfremdungsphänomene beeinträchtigt wird. Die »Verödung der kommunikativen Kapazitäten der Lebenswelt« 28 hat viele Facetten: »Die Instrumentalisierung der Berufsarbeit, der Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule, der Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Lebenszeiten, der konsumistischen Umdefinition des persönlichen Lebensbereichs […], die Bürokratisierung und Verrechtlichung von privaten, informellen Handlungsbereichen, vor allem die politisch-administrative Erfassung von Schule, Familie, Erziehung, kultureller Reproduktion überhaupt – diese Entwicklungen bringen eine neue Problemzone zu Bewußtsein, die an den Grenzen zwischen ›System‹ und ›Lebenswelt‹ entstanden ist.« 29
Die Bürger leiden an Verunsicherung, sozialer Entfremdung und IchStörungen (TkH II 216). Doch die deformierenden Eingriffe in die Lebenswelt durch Geld und Macht sind nur ein Aspekt der Kolonialisierungsthese. Ein zweites, aber mindestens ebenso wichtiges Element der These wird häufig vernachlässigt. 30 Die Bürger, so Habermas, können Jürgen Habermas: Kleine Politische Schriften I–IV. Frankfurt a. M., S. 432. Habermas: Kleine Politische Schriften (s. Anm. 28), S. 432. 30 Nicht so Celikates/Pollmann: Baustelle der Vernunft (s. Anm. 26); David Strecker/ Mattias Iser: Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg 2010. 28 29
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die Ursachen ihres Leidens nur schwer erkennen. Und die Frage ist, woran dies liegt. Die Erklärung ist, dass die Kolonialisierung die Assimilation an bestehende Strukturen erzwingt, aber dieses Spiel von Markt und Bürokratie angesichts zerstreuter kultureller Perspektiven von den Bürgern nicht mehr durchschaut werden kann. Zu sehr sind wir in den Fängen systemischer Logik verstrickt, zu sehr hat bereits das zweckrationale Denken die letzten Poren gesellschaftlichen Lebens durchdrungen. Die Aufklärung über das eigene Leiden wird durch »den Mechanismus der Verdinglichung« verhindert (TkH II 522). Für Habermas bietet es sich an, da man nicht mehr vom ›falschen‹ Bewusstsein sprechen kann, vom fragmentierten Bewusstsein auszugehen. Er nennt dies die »kulturelle Verarmung« (TkH II 522). Anstelle des verlorengegangenen revolutionären Bewusstseins tritt die Suche nach dem verlorenen vitalen Alltagsbewusstsein in einer rationalisierten Welt. Nun liegt es nahe einzuwenden, diese Diagnose der Kolonialisierung und der kulturellen Verarmung sei den damaligen Entwicklungen geschuldet. Es könne nicht überraschen, dass unter dem Eindruck keynesianischer Theorie Anfang der 1970er Jahre die Annahme vorherrschend war, ökonomische Krisen könnten durch politische Eingriffe und Korrekturen aufgefangen und überwunden werden – mit den entsprechenden kolonialisierenden Nebenfolgen. In der Tat sieht die Situation mit Blick auf die bereits eingangs erwähnten weltgesellschaftlichen Probleme in mancher Hinsicht anders aus: das globale Kapital ist eine Verbindung mit dem ebenso globalisierten Privatrecht eingegangen und diktiert den ökonomischen ›Fortschritt‹ ; der Finanzmarkt hat sich weitestgehend unkontrolliert verselbstständigt; die nationalstaatliche Politik ist auf vielen Gebieten entmachtet, der Sozialstaat ausgehöhlt und einem neuen, marktgängigen Paradigma des ›aktivierenden Staates‹ unterworfen. Was kann nun die These von der ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ durch bürokratische und rechtliche Übergriffe eines steuernden Staates für die gegenwärtige Untersuchung leisten? Der heuristische Wert der Kolonialisierungsthese wird besonders dann deutlich, wenn man sie perspektivisch vom Nationalstaat löst und für eine Analyse globaler systemischer Prozesse und deren Auswirkungen auf lebensweltliche Zusammenhänge mobilisiert. Ich möchte zunächst vier Aspekte neuer Kolonialisierungsformen skizzieren, die ein neues Licht auf globale Ökonomisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung werfen können.
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a)
Ökonomische und emotionale Ausbeutung
Gegenüber den 1970er-Jahren hat der Kapitalismus (einmal mehr) ein neues Gesicht angenommen. Hatte der Keynesianismus einen sozialstaatlich eingebetteten Kapitalismus kreiert, der unter den Anforderungen der Globalisierung versagen musste, so passt die neoliberale Ideologie scheinbar mühelos zu einem globalen Kapitalismus, dem die politischen Verfassungen ohnehin im Wege waren und der Investitionen versprach, die die ›öffentliche Hand‹ nicht mehr aufzubringen vermochte. Der Staat ist inzwischen zum ›market embedded state‹ geworden. 31 Ausbeutungsverhältnisse, auch wenn sie nie verschwunden waren, erhalten durch ›sweatshops‹, unterbezahlte Minijobs, Zeitverträge und unbezahlte Praktika eine neue Dimension. Marx zufolge versteht man unter Ausbeutung, dass sich die Eigentümer der Produktionsmittel durch Verkauf des hergestellten Produktes auf Kosten der Arbeiter bereichern, da diese nur für die entrichtete Arbeit entlohnt und nicht am Gewinn beteiligt werden. Kapitalistische Gesellschaften lassen sich demnach als inhärent ungerecht verstehen, da manche Menschen keine Alternative besitzen, als ihre Fähigkeiten allein für die Ziele und Vorteile anderer zu entwickeln und einzusetzen. 32 Inzwischen dringt die Ausbeutung allerdings auch in gesellschaftliche Bereiche vor, die zuvor nicht durch den Markt in dieser Weise unterworfen waren. In der häuslichen Alten- und Kinderpflege manifestiert sich eine globale Art der Monetarisierung von Interaktion, die auf die emotionale Seite der Arbeiterinnen abzielt. Dabei verläuft die Grenze zwischen denen, die ausbeuten, und denen, die ausgebeutet werden, nicht nur zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern zwischen einer globalen Elite und globalen Arbeitern. Ein Beispiel ist die ›globale Service-Industrie‹. 33 Haushaltsarbeit in wohlhabenden Industriestaaten – es sind allein 6,5 Millionen Philippinnen, Hauke Brunkhorst: Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft. Baden-Baden 2012, S. 244. 32 Iris Marion Young: »Fünf Formen der Unterdrückung«. In: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hrsg.): Politische Theorie, Differenz, Lebensqualität. Frankfurt a. M. 1996, S. 99–139, hier: S. 113. 33 Brigitte Young: »Financial Crises and Social Reproduction: Asia, Argentinia and Brazil«. In: Isabella Baker/Stephen Gill (Hrsg.): Power, Production and Social Reproduction: Human In/Security in the Global Political Economy. Basingstoke 2003, S. 103– 124, hier: S. 116. 31
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die als Haushaltshilfen und Kinderfrauen in privaten Haushalten in den USA, Europa, Hongkong oder Saudi-Arabien arbeiten – ist für die Immigrantinnen oft die einzige Möglichkeit, wenigstens so viel Geld zu verdienen, dass die Familie zu Hause überleben kann und ein oder vielleicht mehrere Kinder eine Ausbildung erhalten können. 34 Und für das Herkunftsland ist die nötige Devisenbeschaffung darüber hinaus besonders attraktiv. Auf der aufnehmenden Seite sind Immigrantinnen zu einem entscheidenden Faktor in der Kosten- und Zeitkalkulation von Familien geworden, in denen beide Partner arbeiten möchten oder müssen. Wie schwierig die Gratwanderung zwischen ökonomischem Freiheitsgewinn und Ausbeutung ist, zeigt sich mit Blick auf das emotionale Engagement der Fürsorgekräfte. Der Umgang mit den Kindern des Arbeitgebers erinnert die Kinderfrauen täglich an ihre eigenen Kinder, die sie nicht mitnehmen können und die zu Hause entweder von den Großeltern, nahen Verwandten oder wiederum Kinderfrauen betreut werden. Die Frauen ›übertragen‹ die Fürsorge auf die fremden Kinder – was für die aufnehmende Familie ein Glücksfall, für die Arbeiterinnen, wie Studien von Rhacel Parreñas zeigen, ein Alptraum ist. 35 Im Kontext eines gravierenden Armut-Reichtumsgefälles werden Pflege und affektive Zuwendung zur Ware. Das eigene Familienleben muss den globalen ökonomischen Zwängen untergeordnet werden. Gegenwärtige Ausbeutung im Zuge eines globalen Service-Kapitalismus hat nicht nur eine rein monetäre Seite. Ausgebeutet werden auch emotionale Ressourcen, die zum ›Mehrwert‹ der angebotenen Arbeit werden. 36 Daher unterliegen auch affektive Bindungen vermehrt der Sprache von Effizienz und Kosten-Nutzen-Kalkulation. Und utilitaristische Überlegungen, die eine bessere Zukunft der eigenen Kinder im 65 % aller Immigranten aus Indonesien sind Frauen, ähnlich hoch liegt der Anteil der Frauen bei philippinischen Immigranten im Unterhaltungsbereich und in der Hausarbeit, ebd. 35 Rhacel Salazar Parreñas: Servants of Globalization. Women, Migration, and Domestic Work. Stanford, California 2001; Arlie R. Hochschild: »Global Care Chains and Emotional Surplus Value«. In: Anthony Giddens/Will Hutton (Hrsg.): On the Edge: Globalization and the New Millennium. London 2000, S. 130–146; Susanne Schwalgin/Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. Opladen 2006. 36 Annette Treibel: »Migration als Form der Emanzipation? Motive und Muster der Wanderung von Frauen«. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. Opladen 2003, S. 93–110, hier: S. 103. 34
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Blick haben, müssen den Verlust eben jener Kinder im Aufnahmeland überdecken helfen. Eine ähnliche Verdrängung sprachlicher Verständigung in Nahbeziehungen zeigt sich in den globalen Anforderungen an den flexiblen, allzeit einsetzbaren und hochmobilen Arbeitnehmer. Schon längst gehört es zu einem globalen Anforderungsprofil, dass Arbeitnehmer der Arbeit und dem gewünschten Gehalt hinterherziehen und sie auf die Arbeitsbelastungen und Arbeitsanforderungen flexibel reagieren. 37 Die schier grenzenlose Mobilitätsunterstellung setzt Familie, Freundschaften, Liebesbeziehungen und Zukunftsplanungen einem enormen Druck aus. Der ›flexible Mensch‹ (Sennett) bezahlt einen hohen Preis: eine Spirale aus Erschöpfung und Selbstoptimierung, den Verlust belastbarer und emotional stabiler Beziehungen bei gleichzeitigem, uneinholbaren Freiheitsversprechen. 38 Unter solchen Arbeitsbedingungen werden Zeit und Kontextwissen zur knappen Ressource und damit zum entscheidenden Faktor des meist ausbleibenden öffentlichen Engagements. Globale Arbeitsverhältnisse mit hoher geographischer Flexibilität – was das obere und mittlere Management ebenso betrifft wie die Pflegekraft und die Kinderfrau – hindern Menschen daran, sich mit lokalen Begebenheiten auseinanderzusetzen. 39
b)
Kulturelle Ökonomisierung
Eine andere Form der Ökonomisierung zeigt sich mit Blick darauf, wie kulturell eingelebte Handlungsmuster, die die Verteilung öffentlicher Güter betreffen, durch Marktimperative ersetzt werden. Die MonetaMartin Hartmann/Axel Honneth: »Paradoxien des Kapitalismus«. In: Berliner Debatte Initial 15, 1 (2004), S. 4–17. 38 Sighard Neckel/Greta Wagner: »Erschöpfung als »schöpferische Zerstörung«. Burnout und gesellschaftlicher Wandel.« In: dies. (Hrsg.): Leistung und Erschöpfung. Berlin 2013, S. 203–218. 39 Franz Walter/Felix Butzlaff/Stine Marg/Lars Geiges (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen? (BP-Gesellschaftsstudie), Hamburg 2013. Eine kleinere Untersuchung von Claudia Landwehr zeigt wiederum, dass Bürger aller Alters- und Bildungsschichten sich auf lokaler Ebene sehr wohl politisch engagieren möchten, selbst dann, wenn es ›nur‹ um Verfahrensfragen geht. Claudia Landwehr: »Die Diagnose ohne den Patienten gestellt. Anmerkungen zu Postdemokratie und Bürgerbeteiligung«. In: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 55, 1 (2014), S. 18–32, im Erscheinen. 37
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risierung hat sich mittlerweile auch auf gesellschaftliche Ressourcen ausgebreitet, die zuvor entweder als nicht vermarktbar galten – wie das menschliche Genom – oder die als gemeinschaftliches Gut angesehen wurden, wie etwa Boden oder Trinkwasser. Am Beispiel des Trinkwassers lässt sich die (Teil-)Privatisierung, die unter neoliberalen Vorzeichen in den 1980er und vor allem 1990er-Jahren stattfand, gut nachzeichnen. In vielen Entwicklungsländern wurde von internationalen Finanzorganisationen die Vergabe von Krediten und Finanzhilfen an eine wirtschaftliche Liberalisierung und die Verkleinerung des als aufgebläht empfundenen Staatsapparats geknüpft. Davon betroffen war auch die bis dato überwiegend öffentlich betriebene Wasserversorgung, die vielfach unter Missmanagement, Korruption und chronisch leeren Kassen litt. 40 Wassermultis wie Suez Environment, Véolia, RWE, erhofften sich große Gewinnchancen und wurden aktiv: Gab es Anfang der 1990er Jahre kaum eine private Beteiligung bei der Wasserund Abwasserversorgung in Entwicklungsländern (und auch nicht in Industrieländern), so waren nur zehn Jahre später in der Hälfte aller Länder weltweit private Unternehmen involviert. 41 Auch die Stadt Berlin hat schlechte Erfahrung mit der Privatisierung des Trinkwassers gemacht. 42 Die neuen Formen der Wasserversorgung führten zu einer Veränderung und Zerstörung bisheriger, eingespielter Praktiken der Wasserversorgung, besonders deutlich etwa in Bolivien. Wo es zuvor ein Gemeinschaftsrecht auf Wasser gab und Dorf- und Kleinstadtgemeinschaften ihre eigenen, funktionierenden Regeln der Verteilung besaßen, die auf die Befriedigung des Allgemeininteresses abzielten, herrschten in kurzer Zeit Gewinnmaximierung und Marktanpassungsüberlegungen vor. Schon nach wenigen Jahren allerdings erlitt die »marktbasierte« Wasserreform erste Rückschläge – genährt durch BeiZugleich versuchte die Weltbank, private Anbieter zu notwendigen weltweiten Investitionen von 60 bis 79 Milliarden US-Dollar zu bewegen, indem sie langfristige Konzessionsverträge und Kostendeckung in Aussicht stellte. Nicht zuletzt auf der DublinKonferenz 1992 wurde Wasser zum Wirtschaftsgut deklariert, und es wurden die Bedingungen für seine Vermarktung geschaffen, Regina Kreide/Michael Krennerich: »Das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung: Vereinbar mit Privatisierungen im Wassersektor?«. In: dies./Tessa Debus et al (Hrsg.): Zeitschrift für Menschenrechte 2 (2010), S. 166–175. 41 Petra Dobner: Zur politischen Theorie, Praxis und Kritik globaler Governance. Frankfurt a. M. 2010. 42 Ebd. S. 149. 40
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spiele misslungener privater Beteiligungen, bei denen es zu Bestechungen kam, keine transparente Rechenschaftslegung des Staates und der Unternehmen gegenüber der Bevölkerung erfolgte, die Investitionen und die Versorgungsreichweite hinter den Versprechungen zurückblieben und die Preise für arme Konsumenten mitunter ins Unerschwingliche stiegen. Und auch die von der EU zunächst vorgesehene europaweite Ausschreibungspflicht für Konzessionen wurde auf Eis gelegt. 43 Dennoch sind dies nur Zwischenerfolge. Die Umdeutung des Wassers von einem Gemeinschafts- zu einem Wirtschaftsgut hat bereits eine kulturelle Ökonomisierung verursacht, bei der öffentliche und gut funktionierende kulturelle Praktiken zerstört wurden. 44
c)
Verrechtlichung
In der Theorie des kommunikativen Handelns, wie auch in Habermas’ späterem Werk Faktizität und Geltung, spielt das Recht im Rahmen von Kolonialisierungsprozessen eine ambivalente Rolle. Als moralnahe Rechtsnorm, etwa in Form von Verfassungsrechten, Prinzipien des Straf- und des Strafverfahrensrechts, bietet es Ermöglichungsbedingungen für staatsbürgerliche Partizipation und schafft die notwendigen Freiräume für die Uminterpretation tradierter kultureller Überlieferungen. Auf der anderen Seite dient das Recht als Organisationsmittel für mediengesteuerte Subsysteme und erstreckt sich auf formal organisierte Handlungsbereiche, die sich gegenüber den normativen Kontexten des verständigungsorientierten Handelns verselbstständigt haben (TkH II 536). Die Ermöglichungsbedingungen politischer Partizipation können unter globalisierten Bedingungen nicht mehr in gleicher Weise ausgemacht werden. Ausgehend von einer innergesellschaftlichen, funktionalen Differenzierung, haben sich transnationale Rechtssysteme bereichsspezifisch pluralisiert. 45 Dies führt zur Herausbildung hegeEU lenkt ein bei Wasserprivatisierung, Süddeutsche Zeitung vom 21. Juni 2013, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/reaktion-auf-buergerinitiativeeu-lenkt-bei-debatte-um-wasserprivatisierung-ein-1.1702673 (zuletzt abgerufen am 2. Februar 2014). 44 Hans Achterhuis: De Utopie van de vrije markt. Amsterdam 2010, S. 257. 45 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner: Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts. Frankfurt a. M. 2006. 43
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monialer und pluralisierter Rechtsstrukturen. Diese funktionale Pluralisierung des Rechts hat nicht etwa die Partizipationsmöglichkeiten kleinerer politischer Akteure wie NGOs gestärkt. Vielmehr haben sich die bisherigen Machtkonstellationen zugunsten der ›global players‹ verschoben und damit zu einer Entpolitisierung geführt. Besonders deutlich wird dies an einer zunehmenden Inkongruenz von Rechtsautoren und Rechtsadressaten auf transnationaler Ebene. 46 Es gilt als historische Errungenschaft, dass es im demokratischen Verfassungsstaat bei der Erzeugung primärer und sekundärer, das Verfahren betreffender Normen keinen ausgesparten Bereich gibt, der den Normsetzungsaktivitäten der Bürger entzogen wäre. Genau das aber ist auf transnationaler Ebene gegenwärtig der Fall. Während im demokratischen Verfassungsstaat die politische Autonomie neben der Sicherung der privaten Autonomie die gesellschaftliche Inklusion sicherte, löst sich durch die Pluralität der Rechtssysteme die Kongruenz von Rechtsautoren und Rechtsadressaten auf. Internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und auch die EU vertreten durch die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten wenigstens indirekt den Willen ihrer Bürger. Dies trifft auf nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nicht mehr zu. Internationales Recht – etwa die Lex mercatoria – wird zum hegemonialen Recht, das heißt zum Recht, das ohne hinlängliche und direkte Repräsentation aller betroffenen Interessen auf nationalstaatliche Anliegen zugreift. 47 Die Verrechtlichung besitzt allerdings noch weitere negative ›Begleiterscheinungen‹. Durch eine stärkere Privatisierung der internationalen Beziehungen kommt es nicht zu verbindlicheren Rechtsregeln, sondern, im Gegenteil, zu einer schleichenden Entrechtlichung. Ein Aspekt ist die sogenannte Entformalisierung des Rechts. Gerade die Ausweitung des Rechts auf inhaltlich unbestimmtes und damit entformalisiertes Privatrecht treibt dessen willkürliche Auslegung und poli-
Jürgen Habermas: Im Sog der Technokratie. Berlin 2013, S. 77. Anders als Bill Scheuerman in seinem erhellenden Aufsatz in Constellations 2013 bin ich der Ansicht, dass Habermas auch in Faktizität und Geltung ›Verrechtlichung‹ nicht mit ›Kapitalismuskritik‹ gleichsetzt; William Scheuerman: »Capitalism, Law, and Social Criticism«. In: Constellations 20, 4 (2013), S. 571–586.
46 47
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tische Instrumentalisierung voran. 48 Ihr Antrieb sind Privatisierungsprozesse im Gesundheits-, Bildungs-, Medien-, Energie-, Sicherheitsund Militärbereich. Sie führen zu einer »grenzenlosen Selbstermächtigung« der ohnehin ökonomisch mächtigen Akteure 49, da Rechtssetzungen nicht an Verfahrensregeln gebunden sind und globale, nichtstaatliche Akteure selbst Recht setzen und neue Tatbestände auf dem Gebiet des Arbeit-, Sozial- und Gesundheitsrecht schaffen. Die Entrechtlichung verläuft dabei nicht ausschließlich rechtsimmanent, was ein weiteres Problem mit sich bringt. Politische Macht und Markt gehen eine Verbindung ein, die, ohne auf legalem Machterwerb zu basieren, die funktionale Differenzierung zwischen Recht und Unrecht, Regierung und Opposition, Haben und Nichthaben überlagert. 50 Der Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung vom Zugang zu Geld, Wissen, Macht und gerichtlichen Klagemöglichkeiten zeugt davon, dass die Differenzen von Exklusion und Inklusion zu einem entscheidenden Maßstab für die Beschreibung der Ent- und Verrechtlichungsprozesse geworden sind. Kolonialisierung bedeutet hier, dass entformalisiertes, unbestimmtes Recht diejenigen, die nicht einmal mehr über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft verfügen und auf die wechselseitige Abhängigkeit von Arbeit und Kapital bauen können, aus dem Rechtssystem völlig ausgeschlossen werden. Die Verrechtlichung transnationaler, politischer Prozesse reduziert nicht nur die sprachlichen Möglichkeiten politischer Beteiligung auf einseitige Rechtsformeln, sie führt auch zum Ausschluss von Bürgern, die nicht in der Sprache des Rechts zu Hause sind.
d)
Bürokratisierung und staatliche Kontrolle
Die Kolonialisierung lebensweltlicher Zusammenhänge hat sich nicht allein global ausgeweitet, sondern auch innerstaatlich verändert. Das lässt sich anhand der Bürokratisierung sozialstaatlicher Leistungen zeiMartti Koskenniemi: »Global Governance and Public International Law«. In: Kritische Justiz 37, 3 (2004), S. 241–254. 49 Ingeborg Maus: »Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der Demokratie«. In: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hrsg.): Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a. M. 2002, S. 226–259, hier: S. 255. 50 Hauke Brunkhorst: Solidarität. Frankfurt a. M. 2002, S. 166. 48
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gen. Man könnte meinen, dass in Zeiten von Hartz IV, gravierender Sparparolen und der Rede vom schlanken, nicht mehr intervenierenden, sondern nur noch moderierenden Staat die Bürokratisierung zurückgegangen oder gar keine besondere Aktualität mehr besäße. Aber das ist nicht Fall. Inzwischen befinden wir uns, mit Berthold Vogel gesprochen, im »Nachmittag des Wohlfahrtsstaates«. 51 Ende der 1970er Jahre, als durch die Ölkrise dem Wohlfahrtsstaat die Geldquelle wegbrach, fand ein Paradigmenwechsel statt. Statt im Wohlfahrtstaat leben wir nun in der ›Aktivierungsgesellschaft‹. 52 Das Paradigma ist nicht mehr, eine materielle Kompensation dafür zu erhalten, dass man vorübergehend nicht oder gar nicht mehr in den Markt integriert ist. Vielmehr sind nun die Verantwortung des Einzelnen und dessen Engagement, sich selbst zu integrieren, zentral. Die staatliche ›Aktivierungsverordnung‹ greift dabei direkt auf die Subjektebene durch: Dem Einzelnen wird nicht nur zugemutet, seine Lebensplanung unabhängig von den sozialen Umständen zu verantworten, sondern seine Aktivitäten so auszurichten, dass sie sowohl im Einklang mit ökonomischen Anforderungen stehen als auch Vorstellungen der Gemeinschaft bedienen. Jeder ist aufgefordert, sich zu engagieren und präventiv gegenüber möglichen zukünftigen misslichen Situationen zu versichern und dem anderen nicht ›auf der Tasche zu liegen‹. 53 Diente sozialstaatliche Unterstützung ursprünglich der ›Dekommodifizierung‹, die eine teilweise Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Stellung vom Marktgeschehen sichern sollte, so ist nun der Sozialstaat selbst immer mehr kommodifiziert. Die sozialstaatlichen ›Aktivierungsprogramme‹ haben dabei nicht dazu geführt, dass die Regelungsdichte und die staatliche Verwaltungstätigkeit abgenommen hätten. Vielmehr ist der Staat durch ein dichtes Netz an Kontrollen von Arbeitslosen und Beziehern von ALG 2 etwa durch Mittelkürzungsandrohungen, Hausbesuche, Meldungspflichten präsenter denn je. 54 Das greift Hand in Hand mit staatlichen, regionalen und überseeBerthold Vogel: »Der Nachmittag des Wohlfahrstaates. Zur politischen Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit«. In: Mittelweg 36, 13, 4 (2004), S. 36–55. 52 Stephan Lessenich: »Mobilität und Kontrolle«. In: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/ Hartmut Rosa (Hrsg.): Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Frankfurt a. M. 2009. S. 126– 180. 53 Ebd. S. 126 ff. 54 Vogel: Nachmittag des Wohlfahrtsstaats (s. Anm. 51); Lessenich: Mobilität und Kontrolle (s. Anm. 52), S. 150. 51
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ischen Überwachungsaktivitäten und elektronischer Datenspeicherung. 55 Die Kontrolle der ›Leistungsempfänger‹ (und nicht nur der) lässt die staatliche Überwachung fast unbemerkt weiter ins Alltagsleben vordringen. Sicher könnte man an dieser Stelle einwenden, dass der Zuwachs an Selbstverantwortung die Kehrseite eines Autonomiegewinns ist, der sich in der Aktivierungsgesellschaft einstellen soll. Doch dieser »Autonomiegewinn« ist teuer bezahlt: Der verrechtlichte Sozialstaat der 1970er Jahre würdigte den Bürger zum Klienten herab, dessen Verhältnis zum Recht jedoch noch äußerlich blieb. Nun haben Bürokratisierung und Kontrolle eine Form gefunden, die ins Subjekt selbst hineingelegt worden ist und zur Verinnerlichung einer Sprache der Selbstoptimierung zwingt. In den 1980er-Jahren propagierte Michel Foucault, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Heute sind wir, die jeder Zeit verfügbaren, hoch anpassungsfähigen Menschen, aufgefordert, unser Leben als Projekt zu planen. Die hier vorgeschlagenen Formen der Kolonialisierung beanspruchen keineswegs vollständig zu sein. Vielmehr bedürfte es der Erweiterung und der tiefer gehenden empirischen Sättigung der einzelnen Aspekte, was aber an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Nichtsdestotrotz sollten ›systemische‹ Übergriffe aufgezeigt werden, die als Folge verschiedener Facetten neoliberaler Globalisierung auftreten. Emotionale Ausbeutung, kulturelle Ökonomisierung, eine entpolitisierende, transnationale Verrechtlichung sowie die Bürokratisierung und Überwachung des Subjekts der ›Aktivierungsgesellschaft‹ sind Anzeichen einer weitreichenden Überformung gesellschaftlicher Ordnungen, kultureller Wissensbestände und persönlicher Verhaltensmuster durch zweckrationales, effizienzorientiertes Handeln. Die gestörte Verständigung zwischen Subjekten in der Öffentlichkeit und im Privatleben wirft nicht nur ein Schlaglicht auf gesellschaftliche Pathologien in einer globalisierten Welt, sie steht auch einer politischen Teilnahme im Weg. Ausbeutungsbeziehungen sind nicht nur zutiefst ungerecht, sie verhindern demokratische Partizipation. Zeit wird zum entscheidenden, knappen Gut, was dem politischen Engagement Grenzen setzt. Die emotionale Ausbeutung bindet überdies weitere zeitliche und soziale Ressourcen. Eine Vermarktung lebensnotwendiger Güter Zygmunt Bauman/David Lyon: Liquid Surveillance. A Conversation. Cambridge 2013.
55
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löst deren bislang in kulturellen Praktiken eingespielte, öffentliche Verteilung durch Marktgesetzlichkeiten und Gewinnstreben ab. Die transnationale Verrechtlichung depolitisiert das Politische, indem Privatrechtsinstitutionen an die Stelle politischer Institutionen treten. Und die Überwachung sozialstaatlicher Maßnahmen und anderer Aktivitäten der Bürger legt Verhaltenserwartungen nahe, die auf ›Marktgängigkeit‹ und Flexibilität, nicht aber auf politische Partizipation zielen.
IV. Kommunikative Macht Eine Analyse der Partizipationshindernisse ist für die Beantwortung der Ausgangsfrage nach den Bedingungen einer demokratischen Transformation der Demokratie ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Theorie der Demokratie in der Weltgesellschaft. Dem müssten sich weitere Analysen der Partizipationspotentiale anschließen, die Entwicklungsspielräume für das Politische identifizieren. Denn noch ist offen, was die skizzierten Kommunikations- und Handlungsblockaden für die Demokratietheorie bedeuten. Welcher normative Maßstab sollte für die Beschreibung der Partizipationsblockaden gelten? Noch ist die Frage unbeantwortet, warum eine Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt gerechtfertigt ist. Dafür benötigt man einen normativen Bezugsrahmen. Dies kann eine Theorie der Gerechtigkeit, des guten Lebens oder eben der Demokratie sein. Ein normativer Begriff – ich muss es hier bei dieser Andeutung belassen –, der tragfähig genug ist, um eine solche Potentialanalyse zu erlauben, scheint mir der der kommunikativen Macht zu sein. Dem möchte ich mich abschließend zuwenden. Man würde die Demokratie missverstehen, wenn man übersähe, dass Demokratie immer auch mit Macht zu tun hat. Demokratie übt Macht aus, sie kann die Bürger zur Einhaltung von Gesetzen zwingen und die Exekutive an Gesetze binden. Aber aus Sicht der Volkssouveränität schafft Demokratie auch Macht: Macht, die von den Bürgern ausgeht. Für einige Positionen – die neorepublikanische etwa – besteht die Macht der Bürger darin, nicht dominiert zu werden. 56 Dies verfehlt aber den Punkt aktiver Partizipation und reduziert die Bürger auf die Ausübung passiven Widerstandes. In einer anderen, rechtspositivisti56
Philip Pettit: Republicanism: A Theory of Freedom and Government. London 1997.
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schen Lesart wird die Macht der Volkssouveränität direkt an die Legitimität erzwingbaren Rechts gebunden. 57 Dies betont die institutionelle Seite der Demokratie, unterschätzt aber die Macht des Volkes jenseits des politischen Systems. Und schließlich lässt sich politische Macht deuten als Macht, die niemand besitzt, sondern die zwischen Menschen entsteht, wenn sie politisch handeln – jenseits von einer Verengung auf die Durchsetzung eigener Interessen, die Verwirklichung kollektiver Ziele oder gar administrativ bindender Entscheidungen. 58 Nach Hannah Arendt drückt sich in der Ausübung politischer Macht Freiheit aus, nämlich zum einen die negative Freiheit, nicht beherrscht zu werden und nicht zu herrschen, und die positive Freiheit, einen Raum zu kreieren, »in dem jeder sich unter Seinesgleichen bewegt«. 59 Jürgen Habermas hat diese Idee aufgegriffen und als kommunikative Macht umgedeutet. 60 Kommunikative Macht ist eine Form politischer Macht. Allgemein gesagt, ist damit die ungehinderte Ausübung öffentlicher Freiheit der Bürger gemeint. Spezifischer ausgedrückt lässt sich die kommunikative Freiheit durch drei Aspekte charakterisieren. Die kognitive Seite kommunikativer Freiheit fordert erstens freies, deliberatives Prozessieren, den freien öffentlichen Austausch von Informationen und Argumenten zu wichtigen Themen. Sie basiert auf der Annahme, dass Ergebnisse durch ein gerechtes Verfahren zustande kommen und deshalb für sich in Anspruch nehmen können, rational zu sein (FG 183 ff.). Zweitens kann kommunikative Macht nur kollektiv ausgeführt werden, sie kreiert geteilte Überzeugungen, die immer wieder aufs Neue debattiert werden können, die aber durchaus intersubjektive Anerkennung finden können. Diese geteilten Überzeugungen entfalten zugleich eine motivationale Kraft. Kommunikative Macht ist treibende Kraft, weiter zu deliberieren, neue Machtpotentiale zu generieren und für die Akzeptanz handlungsrelevanter Pflichten zu 57 Thomas Nagel: »The Problem of Global Justice«. In: Philosophy & Public Affairs, 33, 2 (2005), S. 113–147. 58 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. (Originalausgabe: On Violence. New York 1970). München/Zürich 1970, S. 45. 59 Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von Ursula Ludz. München/Zürich 1993/2003, S. 9–136, hier: S. 9. 60 Ich danke Hauke Brunkhorst für hilfreiche Diskussionen zu diesem Punkt. Zum Begriff kommunikativer Macht bei Habermas siehe auch den erhellenden Beitrag von Gunnar Hindrichs: »Kommunikative Macht«. In: Philosophische Rundschau, 56, 4 (2009), S. 273–295. Hindrichs jedoch interpretiert kommunikative Macht platonistisch als übergreifendes Prinzip des guten Lebens.
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werben. Und drittens ist kommunikative Macht, um noch einmal Arendt zu bemühen, Macht, durch die eine gemeinsame Willensbildung unter Bedingungen nicht erzwungener Kommunikation geschaffen werden kann. Macht korrespondiert mit der menschlichen Fähigkeit, nicht nur einfach zu handeln, sondern orchestriert, im Einvernehmen zu handeln. 61 Macht ist weder ein Mittel, seine Interessen durchzusetzen, noch ist Macht gleichbedeutend mit administrativer Macht, kollektiv bindende Entscheidungen implementieren zu können. Vielmehr ist es eine autorisierende Kraft, die sich in der Rechtsgenese ausdrückt, in der Schaffung legitimen Rechts und der Begründung von Institutionen. Es ist dieser Aspekt kommunikativer Macht, den Habermas aufgreift. Und doch legt er ein stärkeres Gewicht auf das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, diskursiv herbeigeführten und intersubjektiv geteilten Überzeugungen (FG 184 ff.). Auch wenn kommunikative Macht auf die Bildung legitimen Rechts gerichtet ist, so wäre es eine Verkennung, sie nur darauf festzulegen. 62 Denn vor der eigentlichen Rechtssetzung kann viel passieren. Die Durchsetzungskraft von Rede, Meinungsbildung und Argumenten erstreckt sich auf alle Angelegenheiten der Bürger. Von städtebaulichen und architektonischen Plänen, Privatisierungen, Renten- und Gesundheitsreformen über Parteiprogramme, Kriegs- und Friedensverhandlungen bis hin zu Gewalt in der Privatsphäre: alles kann politisch und öffentlich werden und dies zunächst einmal ohne, dass es darum gehen würde, die Ergebnisse dieser Kommunikation »in die Beschlüsse legislativer Körperschaften« münden zu lassen (FG 211). Kommunikative Macht kann sich nur, so Habermas noch einmal in Anlehnung an Arendt, in einer nicht-deformierten Öffentlichkeit bilden, aus Strukturen unversehrter Kommunikation (FG 184), aus der Produktivkraft dessen, was Arendt die »erweiterte Denkungsart« nannte. 63 Kommunikative Macht hat die Kraft des Infragestellens – von bestehenden Institutionen, Praktiken, Verhältnissen. Und diese zeigt sich besonders unverblümt in Akten des Aufbegehrens gegen Repression, im Widerstand, im Augenblick, wenn die
Arendt: Macht und Gewalt (s. Anm. 58), S. 45; FG 184. Habermas spricht von der »Verschwisterung der kommunikativen Macht mit der Erzeugung legitimen Rechts« (FG 185). 63 Hannah Arendt: Das Urteilen: Texte zu Kants Politischer Philosophie. München 1982, S. 17–103. 61 62
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Chance zur Revolution genutzt wird, in Momenten, in denen »Revolutionäre die Macht ergreifen, die auf der Straße liegt; wenn eine zum passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung fremden Panzern mit bloßen Händen entgegentritt« (FG 184), wenn Bürger der früheren DDR mit Schweigemärschen dem autokratischen Regime den Todesstoß versetzten, wenn Proteste in Madrid damit begannen, dass sich jemand auf der Plaza del Sol niederlässt und sagt, er sei zu erschöpft von den Mühen zu überleben, dass er so nicht weitermachen wolle. Kommunikative Macht findet nicht, wie gelegentlich fälschlicherweise unterstellt, allein im Seminarraum eines philosophischen Instituts statt. Kommunikative Macht ist Widerstand – wortgewaltig oder auch schweigend. Sie hat ihren Grund in gesellschaftlichen Krisen, in Ungerechtigkeiten und Kolonialisierungen. Sie kann sich daher genau dort entfalten, wo demokratische Strukturen nicht hinreichen und wo politische Partizipation ausweglos scheint: am Arbeitsplatz, im Haushalt, in Organisationen, unter repressiven, einschüchternden, demütigenden Bedingungen. Kommunikative Macht kann sich darauf richten, bestehende Institutionen zu verändern, abzuschaffen oder überhaupt erst zu schaffen. Protest auf nationaler und globaler Ebene, TwitterRevolutionen und ziviler Ungehorsam gehören demnach zur Demokratie wie der Bodensatz zum Mokka. Demokratien sind verwirrende Unternehmungen, mit einer gewissen Informalität, ebenso wie Probedurchläufe, Experimente oder die Verschiebung von Grenzen und Begrenzungen dazugehören; sie sind facettenreich, laut und manchmal auch irrational. Eine demokratische Transformation kann jedoch nicht auf Dissens, Agitation und Revolution beschränkt sein. Kommunikative Macht wurde in reflexive Deliberation 64, Rechtssetzung 65 und argumentative Rechtfertigung 66 übersetzt. Allerdings ist dies nur eine Seite der kommunikativen Macht. Die andere Seite ist die der Institutionen. Denn wie kann es Demokratie ohne Institutionen geben? Eine Antwort darauf ist, dass ein erweiterter Begriff ›radikaler Demokratie‹ gerade die nicht-institutionelle mit der institutionellen Seite der Demokratie verbindet. KomSchmalz-Bruns: Reflexive Demokratie. Baden-Baden 1995. Seyla Benhabib: Another Cosmopolitanism (Berkely Tanner Lectures). Oxford 2008. 66 Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2007. 64 65
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munikative Macht ist Widerstand und Konstruktion zugleich. Sie ist kritische Praxis in argumentativer Absicht. Wichtiges Ziel der Demokratie sollte es sein, Institutionen zu kritisieren, sich mit ihnen nicht allzu sehr einzulassen und doch zugleich Verfahren anbieten zu können, die Volkssouveränität gewährleistet. Ohne die Kraft der öffentlichen Proteste bliebe die kommunikative Macht allzu affirmativ, aber ohne die Organisationsmacht allzu machtlos. 67 Ich möchte daher abschließend kurz auf die institutionelle Seite der Demokratie eingehen. Von Locke über Kant bis Sieyès teilen die Theorien der Volkssouveränität eine wesentliche Einsicht: Das Volk ist ein unteilbares Ganzes. 68 Jeder und jede gehört zum Volk. Das Volk selbst kann nicht in die Herrschenden und die Beherrschten aufgespalten werden. Demokratische Repräsentation basiert, so John Dewey, auf der strikten »Identität« der »Interessen der Regierenden mit den Regierten«. 69 Dieses Kongruenzprinzip, das in rechtlich-normativer Begrifflichkeit die Spaltung in Herrschende und Beherrschte, Regierende und die Regierte überwindet, trennt den modernen Begriff der Volkssouveränität von dem antiken Begriff der Volksherrschaft. Während »Volksherrschaft« bedeutet, dass manche frei sind, während die anderen wenigstens zeitweise in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, steht das Wort »Volkssouveränität« für die permanente gleiche Freiheit aller Rechtssubjekte. 70 Doch was heißt dies, angesichts der oben genannten globalen Herausforderungen und der identifizierten Partizipationshindernisse? Demokratie ohne Demos ist unmöglich. Eine maßgebliche etatistische Position betont, dass wir staatliche oder doch wenigstens staatsähnliche Institutionen benötigen, die mit administrativer Macht und effizienten Zwangsinstrumenten und einem Gewaltmonopol ausgestattet sind, um so die Gleichheit politischer Partizipation angesichts potentieller Verletzungen sichern zu können. 71 Es ist jedoch fraglich, 67 Hauke Brunkhorst: Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Demokratie und Kapitalismus. Berlin 2014, im Erscheinen, S. 125. 68 Brunkhorst: Solidarität (s. Anm. 50), S. 97 ff. 69 John Dewey: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Frankfurt a. M. 1996, S. 87. 70 Ingeborg Maus: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, S. 22–43. 71 Mathias Albert/Rainer Schmalz-Bruns: »Antinomien der globalen Governance: Mehr Weltstaatlichkeit, weniger Demokratie?«. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demokratie in der Weltgesellschaft (Soziale Welt, Sonderband 18). Baden-Baden 2009, S. 57– 74; Nagel: Global Justice (s. Anm. 57); William Scheuerman: »Postnational Democracies Without Postnational States?«. In: Ethics & Global Politics 2, 1 (2009), S. 41–63.
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ob Volkssouveränität tatsächlich auf einen Staat angewiesen ist. Volkssouveränität bedeutet, dass diejenigen, die von den bindenden Regeln betroffen sind, als freie und gleiche Mitglieder im Regelsetzungsprozess als Autoren beteiligt sein sollten. So formuliert, ist der erste Anspruch der Bürger der auf Autorenschaft, nicht auf staatliche Institutionen, insbesondere, da Staatsgrenzen nicht länger Umfang und Reichweite von Entscheidungsprozessen, von denen Bürger betroffen sind, bestimmen. 72 Anstelle einer empirisch nicht mehr standfesten Verbindung von Staat und Volkssouveränität sollte eine normative Konzeption der Demokratie auf prozedurale Garantien und deren sozialen und politischen Bedingungen wertlegen, damit Demokratie gegenüber den beschriebenen Formen der Kolonialisierung, der Ausgrenzung und Ausschließung sensibel wird. Überzeugender scheint mir zu sein, Selbstregierung in der Weltgesellschaft anders zu verstehen: nicht basierend auf einen einzelnen demos, sondern als die Regierung der vielen demoi. 73 Dies erlaubt es den Bürgern, ihre politische Macht in einem Bereich sich überlappender demoi (national, regional, international) und in verstreuten politischen Einheiten auszuüben. Das bietet die Chance, dort, wo Bürger ausgegrenzt, unterdrückt, marginalisiert werden, Widerstand zu leisten – lokal und unabhängig davon, ob dies Eine nationalstaatliche Konzeption der Demokratie betont die Idee, dass es in einer pluralen Weltgesellschaft keine andere Möglichkeit gebe, als die verschiedenen nationalen demoi (Völker) unter dem Dach eines einzigen demos zusammenzufassen. Ähnlich, wie wir das schon von Europa kennen, gäbe es innerstaatliche Demokratien, über die auf supranationaler Ebene eine Weltdemokratie herrschen würde (Albert/SchmalzBruns), oder, wie Kant es ausdrückte, eine Weltrepublik, bei der alle Bürger als Weltbürger über internationale Anliegen entscheiden. Kant hat in »Zum ewigen Frieden« die Vorstellung der Weltrepublik bekanntermaßen für philosophisch geboten, aber für politisch nicht durchsetzbar abgelehnt. Ich denke, dass eine Weltrepublik nicht nur ein neues, militärisch-zwangsbewährtes Empire bedeuten, sondern auch auf eine Verringerung der demokratischen Kontrolle von »unten nach oben« hinauslaufen würde. Denn wer würde sich in einem Weltrepublik-Moloch noch auskennen? 72 Hauke Brunkhorst: »A Polity Without a State? European Constitutionalism between Evolution and Revolution«. In: E. O. Eriksen/J. E. Fossum/A. J. Menedez (Hrsg.): Developing a Constitution for Europe. London 2004, S. 90–108, hier: S. 99. 73 James Bohman: Democracy Across Borders: From Dêmos to Dêmoi. Cambridge 2007. Allerdings beschränkt sich die Möglichkeit der demokratischen Partizipation der Bürger bei Bohman auf das Anstoßen deliberativer Prozesse. Zur Kritik siehe auch Cristina Lafont: »Alternative Visions of a New Global Order. What should Cosmopolitans hope for?«. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demokratie in der Weltgesellschaft (Soziale Welt, Sonderband 18). Baden-Baden 2009, S. 231–250.
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auf einem bestimmten nationalen Territorium oder innerhalb einer speziellen nationalen politischen Agenda geschieht. Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob das nicht der Vorstellung zuwiderläuft, dass Volkssouveränität unteilbar ist. Widerspricht dies nicht der grundlegenden Identität von Regelunterworfenen und Regelautoren? Es bedarf, so habe ich an anderer Stelle argumentiert, demokratischer Elemente, die nicht zwangsläufig an den Staat gebunden sein müssen, die aber dennoch gewährleisten, dass es zu einer Identität von Unterworfenen und Autoren kommen kann. 74 Wichtig sind hier zwei Aspekte: Deliberative Prozesse allein können die Legitimationslücke, die sich auftut, wenn internationale Verhandlungen und Entscheidungen nur indirekt durch einen demokratischen Prozess legitimiert sind, nicht schließen. Dafür bedarf es formeller Partizipationsstrukturen, die über das Wahlprozedere hinausgehen und eine niedrigschwellige Beteiligung vor Ort anbieten. Das ist die demokratische Voraussetzung dafür, dass die beschriebenen Handlungs- und Kommunikationsblockaden von den Betroffenen selbst in der Öffentlichkeit thematisiert werden können. Und zweitens kann Deliberation nur unvollständig die Positionen von Minderheiten und anderen Ausgeschlossenen repräsentieren. Im Prozess der Deliberation können nicht gleichermaßen diejenigen berücksichtigt werden, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht das Wort ergreifen, die sich weniger eloquent ausdrücken können oder über geringe Informationen verfügen. 75 Genau deshalb bedarf es einer soziologisch informierten Rückbindung der Demokratie an die Gesellschaftstheorie. Nur so können Partizipationsblockaden offengelegt und mögliche Instrumente ausgelotet werden, die Auskunft darüber geben, wie deliberative Freiheit in effektive Partizipation umgemünzt werden könnte.
Regina Kreide: »Ambivalenz der Verrechtlichung. Probleme legitimen Regierens im internationalen Kontext«. In: dies./Andreas Niederberger (Hrsg.): Transnationale Verrechtlichung. Demokratien im Kontext globaler Politik. Frankfurt a. M. 2008, S. 260– 282. 75 Iris Marion Young: »Activist Challenges to Deliberative Democracy«. In: Political Theory 29, 5 (2008), S. 670–690. 74
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Schlussbemerkung Die Verdrängung der Demokratie, die sich auch in der politischen Theorie widerspiegelt, ist ein düsteres Symptom für den Zustand der Demokratie. Demokratie braucht Raum für eine breit angelegte öffentliche Kritik von unterdrückerischen Praktiken, von Werten, Institutionen, Regeln und Maximen unserer Gesellschaft – etwa für eine Kritik an der neoliberalen Politik oder der Aushöhlung der Begriffe von Freiheit und Gleichheit. Ohne demokratische Verfahren und Institutionen jedoch, die auch international die Identität von Beherrschten und Autoren der verschiedenen Demoi sichern, bleibt die Legitimation von Politik nur nackte Herrschaft. Doch ohne nicht-institutionalisierte Formen der Demokratie, ohne kommunikative Macht, erstarrt sie zu einem Verwaltungsapparat, dessen »stählernes Gehäuse« (Weber) die Freiheit der Bürger verkümmern lässt. Demokratie muss eine andauernde Neu-Interpretation des Regelsystems und eine Neuerfindung der bestehenden Institutionen ermöglichen. In diesem Sinne hat Demokratie immer noch sehr viel mit Hannah Arendts Begriff der Natalität zu tun: Demokratie ist ein niemals endender Prozess der Erneuerung. Um Erneuerung und vor allem deren Verhinderung erkennen zu können, ist die Demokratietheorie auf die Gesellschaftstheorie angewiesen. Auf diese Weise können Handlungs- und Kommunikationsblockaden entlarvt und Demokratisierungspotentiale freigelegt werden. Der heuristische Wert einer global gewendeten Habermas’schen ›Kolonialisierungsthese‹ liegt darin, ökonomische und rechtlich-administrative Eingriffe in lebensweltliche Zusammenhänge aufzeigen zu können, die die Verständigung darüber, wie wir leben wollen, erschweren. Den globalen Marktzwängen ausgeliefert, der staatlichen Kontrolle, den internationalen Organisationen und deren Finanzpolitik unterworfen, steht uns kaum noch eine Sprache zur Verfügung, die uns aus dem Zustand gesellschaftlicher Erschöpfung und Depression herausholen könnte. Die Demokratie ist da nur ein schwaches Gegenmittel. Aber das einzige, das uns als Gesellschaft zur Verfügung steht.
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Diskussion 1 Moderation: Rita Casale
Herbert Fuge (Wuppertal): Ich möchte das Stichwort der »kommunikativen Macht« aufgreifen. In der Mediengesellschaft stellt sich die Frage, wer die Herrschaft über diese Kommunikation ausübt. Nach meinem Empfinden geraten wir da an ein Tabu. Es wird vorgegeben, die veröffentlichte Meinung sei gleich der öffentlichen Meinung. Das heißt: es findet eine Verwechselung statt zwischen den Meinungsmachern, den Inhabern der Meinungsmacht, und der öffentlichen Meinung der demokratischen Gesellschaft. Das Tabu führt dazu, dass die Macher im Anonymen bleiben. Wenn ein Redakteur der Bild-Zeitung den Bundespräsidenten in die Situation eines Bittstellers bringen kann, dann macht das doch deutlich, wer auf dem Meinungsmarkt die Macher, die Inhaber sind. Niemand greift diese Herren an, die die Meinung dominieren, die zum Beispiel einen Schummler für ministrabel erklären und dies auch noch als Volkes Meinung hinstellen. Ist unter diesen Bedingungen der Diskurs der herrschaftsfreien Macht nicht unter die Räder gekommen? Regina Kreide: Vielen Dank. Das ist ein wichtiger Punkt, der auf das Problem verweist, wie Handlungs- und Kommunikationsblockaden freigelegt werden können, wenn die Öffentlichkeit selbst in einer Weise vermachtet ist, die das Vertrauen in die kritische Rolle kommunikativer Macht schwer erschüttert. Nun, ich sehe die Rolle kritischer Theorie gerade darin, sozialwissenschaftliche und normative Werkzeuge bereitzustellen, mit deren Hilfe Hindernisse einer politischen Beteiligung der Bürger aufgezeigt werden können, etwa wenn Bürger über politische Entscheidungen gar nicht oder zu spät informiert werden, wie im Fall von ›Stuttgart 21‹ oder beim ›Euro-Rettungsschirm‹, oder Die Entgegnung von Jürgen Habermas auf Regina Kreides Beitrag nimmt auch auf die nachfolgende Diskussion Bezug und ist ihr daher nachgestellt.
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Diskussion
wenn ökonomische und politische Rahmenbedingungen Bürger in ein ›Hamsterrad‹ von Einkommenserwerb, Schuldentilgung und privater Daseins- und Altersvorsorge zwingen, oder aber wenn es zu wenig Partizipationsmöglichkeiten jenseits von regulären Wahlen gibt, und eine nationale und europäische Elite Entscheidungen hinter verschlossenen Türen trifft. Dazu gehört auch – Hauke Brunkhorst wies bereits darauf hin – zu analysieren, wie die Machstrukturen im Mediengeschäft aussehen, wer ein Interesse daran hat zu verhindern, dass mögliche Hintergrundinformationen in die Öffentlichkeit gelangen, aber auch, wer eigentlich Zugang zu medialen Auftritten besitzt, und wer ausgeschlossen bleibt. Kommunikative Macht, die sich in der öffentlichen Thematisierung gesellschaftlicher Anliegen zeigt, spielt beim Aufdecken eben jener Handlungs- und Kommunikationsblockaden eine entscheidende Rolle, gerade weil sie Teil der bestehenden Praxis ist. In Anlehnung an Adorno ist kommunikative Macht als Bestand der Gesellschaft zugleich die Negation davon. Sie generiert Kritik an bestehenden Verhältnissen, indem sie verschiedene Geltungsansprüche gegenüber den dominierenden zweckrationalen, auf Effizienz und Verwertbarkeit ausgerichteten Ansprüchen formuliert. Ihr emanzipatives Potential liegt gerade darin, gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen, beispielsweise zwischen Freiheitsgewinn durch eine schier grenzenlose Mobilität und Freiheitsverlust, den diese Mobilitätserwartung für viele Arbeiternehmer bringt. Genau diese dialektischen Entwicklungen gilt es aufzuzeigen. Ein solches – vielleicht würden Sie sagen – eher schwaches Instrument der Analyse ist, was uns angesichts der Übermacht kapitalistischer Kolonialisierungen bleibt. Georg Lohmann: Regina, ich wollte Dich gerne etwas fragen, aber ich bin nicht sicher, ob ich das klar genug herausbringe. In der Theorie des kommunikativen Handelns hat Habermas eine eher skeptische Einschätzung von Recht, währenddessen in Faktizität und Geltung das Recht viel positiver gesehen wird. Die Kolonialisierung der Lebenswelt hat ja laut der Theorie des kommunikativen Handelns einmal Freiheitsverlust und Sinnverlust zur Folge und bedient sich bei den Medien Macht und Geld der Verrechtlichung, greift also in die Lebenswelt ein und strukturiert sie um. Das wird auch negativ gesehen, nicht bloß positiv. In Faktizität und Geltung ist das dagegen eher positiv, und Du hast ja sogar gesagt, dass die kommunikative Macht darauf abzielt, 262 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die verdrängte Demokratie
rechtsetzende Prozesse in Gang zu setzen. Könnte man nicht sagen, dass das, was Du als Blockaden diagnostiziert hast, nach diesen Änderungen in der Einschätzung von Recht noch einmal unterschieden werden müsste? Die Lebenswelt in einem emphatischen Sinn basiert ja auf Verständigungsprozessen, die zunächst einmal nicht rechtlich sind. Mit Kant gesprochen, wären das tugendhafte Einstellungen oder moralische Pflichten, während den systemischen Verrechtlichungen von Geld und Macht Rechtspflichten (im kantischen Sinne) entsprechen. Ich habe den Eindruck, dass in der Theorie des kommunikativen Handelns eher die Spannung zwischen diesen Aspekten im Vordergrund steht, während in Faktizität und Geltung gewissermaßen das Rechtsförmige das vernünftige Ziel ist. Und zu fragen ist, ob hinsichtlich subjektiver Verletzungserfahrungen (Freiheitsverlust) und den Phänomenen kultureller Aushöhlung (Sinnverlust), von denen Du gesprochen hast, jene Unterschiede zur Sprache gebracht werden können, oder ob man das vielleicht dann anders differenzieren müsste, wenn man an diese unterschiedlichen Wertungen denkt. Regina Kreide: Ich teile Deine Diagnose, dass in der Theorie des kommunikativen Handelns das Recht eine andere Rolle spielt als in Faktizität und Geltung – eine andere, nicht unbedingt aber eine weniger kritische. Die Sicht auf das Recht ist in beiden Werken ganz unterschiedlich. Während es in der Theorie des kommunikativen Handelns darum geht, die Bedingungen der Kolonialisierung aufzuzeigen und darzulegen, wie das Recht zur Kolonialisierung der Lebenswelt beiträgt – Habermas nennt als Beispiel die Maßnahmen des Sozialstaates, die weit in die Lebenswelt vordringen –, ist die Herangehensweise in Faktizität und Geltung eine andere. Hier wird die Begründung des Rechts untersucht und der Frage nachgegangen, was einen legitimen Rechtsstaat ausmacht. Rechtsstaatlichkeit wird als Voraussetzung und zugleich als Ergebnis demokratischer Prozesse identifiziert. Das Recht wird als ›Transmissionsriemen‹ beschrieben, der das politische System mit der Öffentlichkeit verbindet und so eine demokratische Meinungsund Wissensbildung ermöglicht. Diese begründungtheoretische Sicht auf Recht bedeutet aber nicht, dass Recht als etwas bloß ›Positives‹ angesehen wird. Eine nicht-legitime Verrechtlichung, die letztlich zu einer vermehrten Technokratisierung politischer Verhältnisse führt, wird auch in Faktizität und Geltung als drängendes Problem dargestellt. 263 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
Heute habe ich zu zeigen versucht, wie mithilfe einer aktualisierten Kolonialisierungsthese neue Deformationen lebensweltlicher Praktiken durch Übergriffe transnationalen Rechts sichtbar gemacht werden können: Verrechtlichungen ausgelöst durch internationale Organisationen, transnationale Unternehmen und andere private Akteure, die ohne demokratische Beteiligung Rechtsregeln schaffen, wie bei der bereits erwähnten globalen Wasserprivatisierung, sind nur ein Beispiel. Aber nicht nur ist die demokratische Mitbestimmung innerhalb von Organisationen und Unternehmen eingeschränkt bzw. unmöglich, auch die Gesetzesbindung transnational operierender Unternehmen und anderer internationaler Akteure durch Parlamente ist noch im embryonalen Zustand und in Ansätzen überhaupt nur auf europäischer Ebene vorhanden. Auf der anderen Seite, und hier zeigt sich die ganze Ambivalenz des Rechts, muss man sehen, wie schwach in den internationalen Beziehungen globale Akteure, Unternehmen, aber auch NGOs aufgestellt sind, wenn sie sich nicht auf bestehendes transnationales Recht berufen können, d. h. auf menschenrechtliche Konventionen, internationales Arbeitsrecht oder Rechtsinstrumente, die eine extraterritoriale Klage erlauben. Ohne Recht gibt es kaum Möglichkeiten, Auswüchse kapitalistischer Prozesse einhegen zu können. NGOs in den USA sind darauf spezialisiert, internationale Unternehmen über Klagen zum Einhalten von Arbeitsstandards auch in anderen Ländern gerichtlich zu zwingen. Dabei sind sie jedoch auf eine gut informierte und lebhafte Öffentlichkeit angewiesen, durch die Menschenrechtsverletzungen und andere Vergehen ans Tageslicht gebracht werden. Ich denke, man muss weiter an diesen Ambivalenzen arbeiten, um zeigen zu können, welche Formen der Verrechtlichung hochproblematisch sind, welche Deformationskräfte im Recht angelegt sind, aber auch, welche Potentiale ausgemacht werden können, um gegen negative Folgen von Ökonomisierungen, Ausbeutung und Verrechtlichung öffentlich vorgehen zu können. Christian Thies (Universität Passau): Prinzipiell stimme ich Ihrem Ansatz völlig zu. Aber ich möchte fragen, ob man nicht im nächsten Schritt differenzieren müsste. Wenn man nämlich über globalisierten Kapitalismus spricht und auch über Probleme, die mit der Reform des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats verbunden sind, wären dann nicht Vari-
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anten des Kapitalismus und Varianten des Sozialstaates stärker zu berücksichtigen? Regina Kreide: In der Tat haben sich die Bedingungen des Sozialstaates und auch die des Kapitalismus verändert. Ich habe versucht zu zeigen, dass das neue Paradigma der Sozialstaatsdiskussion – die sogenannte ›Aktivierung‹ der Bürger – dazu geführt hat, dass staatliche Ermächtigungen noch weitreichender sind, als sie es ohnehin schon waren. Diese neuen Aktivierungsmaßnahmen, gepaart mit einer Überwachung der Bürger, die tief in das Privatleben reicht, unterscheidet sich von einem Sozialstaat der 1970er Jahre, der noch auf Zuweisung von Leistungen, weniger aber auf gezielte Aktivierung von Bürgern ausgerichtet war. Insofern ist meine Herangehensweise immer schon kontextbezogen. Sicherlich haben Sie Recht, wenn Sie meinen, dass man auch noch weitergehend differenzieren sollte und beispielsweise verschiedene Typen des Sozialstaates unterscheiden müsste. Die Unterstellung ist womöglich, dass ein globaler Kapitalismus weniger einschneidende Effekte in einem ohnehin »liberalen« Wohlfahrtsstaatsmodell haben könnte, dessen Leistungen sich nur auf die Kompensation ausfallender Berufstätigkeiten beziehen: Weniger Leistungen, weniger staatliche Kontrolle? Ich denke aber, dass sich die grundlegenden Probleme der Kolonialisierung auch bei unterschiedlichen Ausformungen heutiger Wohlfahrtsstaaten nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die zunehmende Bürokratisierung und Überwachung der Bürger, aber auch die Privatisierung vormaliger gesellschaftlicher Güter ähneln sich angesichts globaler kapitalistischer Imperative in den europäischen Ländern, den USA, Australien und einigen Ländern Lateinamerikas. Matthias Kettner (Universität Witten-Herdecke): Vielen Dank, Regina, für diese inspirierende Aktualisierung der Kolonialisierungsthese aus der Theorie des kommunikativen Handelns gewissermaßen unter Bedingungen einer ökonomisch dominierten Globalisierung. Durch Deine Aktualisierung ist deutlich geworden, dass die Kolonialisierungsphänomene unterschiedliche Dimensionen haben, ganz unterschiedliche Beschreibungen erfordern und wahrscheinlich nicht alle gleich gut über einen einzigen Leisten, etwa Ökonomisierung, zu ziehen sind. Wenn also die Diagnose insgesamt stimmt, gleichsam die großgeschriebene Kolonialisierungsthese, dann müsste man jetzt wie265 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
der neu überlegen, wie das emanzipatorische Projekt einer Dekolonialisierung der Lebenswelt aussehen könnte, und soweit es ein politisches Projekt ist, was für eine Art von Politik die Dekolonialisierung der Lebenswelt sein müsste. Ansetzend bei Deinen schon vier – und wahrscheinlich könnte man noch mehr Phänomenbereiche und damit noch mehr Heterogenität aufweisen –, also ansetzend bei dieser Differenzierung der Kolonialisierungsthese, wäre meine Vermutung, dass eine Politik der Dekolonialisierung der Lebenswelt so etwas wie eine Politik der Rationalitäten sein müsste. Ich meine das, weil eigentlich jeder der Bereiche, die Du aufgezählt und skizziert hast, in gewissem Sinne die Steigerung einer bestimmten Rationalität ist, sei es jetzt die administrative Rationalität in kontrollgesellschaftlichen Überwachungen und Registrierungen, sei es ökonomische Rationalität, sei es die Rationalität des Rechts usw. Man kann ja die Entformalisierung des Rechts nicht als Rückschritt in der Ausbreitung juristischer Rationalität, sondern muss sie als einen Fortschritt in der Ausbreitung, ja als eine Steigerung juristischer Rationalität sehen. Und das finde ich sehr interessant und es deckt sich genau mit Deiner Bemerkung von großer Tragweite, dass nämlich Lernprozesse durchaus negativ sein können, und dasselbe gilt für Steigerungen von Rationalisierungsprozessen. Die Dekolonialisierung hätte mithin genau zu blicken auf die verschiedenen Durchformungen mit Teilrationalitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen und müsste eigentlich eine rationalitätskritische Einstellung kultivieren, die erlauben würde zu sagen – da kommt man dann in hegelianisches Fahrwasser –, welche Art von Rationalitätssteigerungen in bestimmten Praxisbereichen für diese Praxisbereiche überhaupt förderlich und welche deformierend sind oder sein würden. Ich muss es bei dieser Andeutung belassen. Es gibt allerdings ein Problem, wenn man sagen möchte, dass die kommunikative Macht auf dem Weg durch Habermas’ Verwendung dieses Begriffs am Ende nur noch heißt: kommunikative Macht ist kritische argumentative Praxis, dann entsteht daraus das Problem, wie man das noch Macht nennen will, wenn man zugleich mit Habermas sagen muss: Argumentation ist per se die Antithese zu Macht? Regina Kreide: Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass sich sicherlich neben den von mir beschriebenen Kolonialisierungsprozessen zweifellos weitere typische Deformationen lebensweltlicher Zusammenhänge ausmachen lassen. Die staatliche Überwachung und die 266 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Vereinnahmung der Medien durch »human interest«-Berichterstattung und Reality-Shows bei gleichzeitigem Quoten- und Privatisierungsdruck sind nur einige Beispiele, denen gezielt nachgegangen werden müsste. Ich möchte aber noch auf zwei Deiner Punkte eingehen. Erstens: Worin bestünde der emanzipatorische Aspekt der Untersuchung? Ein emanzipatorisches Projekt der ›Dekolonialisierung‹ müsste sich an der Entfaltung kommunikativer Macht messen lassen, also daran, inwieweit eine kritische Praxis des Infragestellens von Strukturen und Machtverhältnissen neue Facetten der Unterdrückung, Ausschließung und Ausbeutungen aufdecken und verändern könnte. Es ist also in der Tat eine rationalitätskritische Haltung geboten, die sich zugleich gegen bestimmte rationalisierende Praktiken richtet, Praktiken, die unsere Handlungsfreiheit einschränken und die die Sprache, mit der wir Kritik üben, infiltrieren. Das ist etwa dann der Fall, wenn das Lehren an der Universität nur noch unter dem Gesichtspunkt späterer Lehrevaluationen betrieben oder die Forschung vor allem in termini von Drittmittel-Geldstrom bewertet wird. Nicht alle Formen der Rationalisierung sind problematisch. Ob sie es sind, zeigt sich in der Beschreibung ihrer Folgen für die Betroffenen. Zum zweiten Punkt: Ich sehe nicht ganz, warum kommunikative Macht selbstwidersprüchlich sein sollte. Nicht jede Form der Macht ist ›bedenklich‹. Kommunikative Macht setzt auf die Kraft der Argumentation und darauf, der administrativen und ökonomischen Macht etwas entgegenhalten zu können, nämlich eine andere Sicht auf die Dinge, die sich durch nicht-instrumentelle Geltungsansprüche ihren Weg bahnt. Sie entfalten ihre Wirksamkeit in öffentlicher Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und widerständigen Praktiken, die bestehende Strukturen in Frage stellen. Michael Quante: Ich habe eine Verständnisfrage: Sie hatten bei der Beschreibung der Prozesse immer einen impliziten normativen Oberoder Unterton. Eine Kategorie – und das passt zu den Fragen von Lohmann und Kettner –, die viel Arbeit leistet, war die der Entfremdung. Mir ist nicht ganz klar, wie diese Kategorie bei Ihnen funktioniert. Je nach Tradition kann Rationalität schon Entfremdung sein oder Verrechtlichung oder Ökonomisierung. Ist Entfremdung immer negativ oder gibt es zulässige Maße von Entfremdung als Gewinn von Verrechtlichung und Rationalisierung? Vielleicht können Sie etwas zu Ihrer Verwendung dieser Kategorie sagen. 267 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
Regina Kreide: Entfremdung spielt keine tragende Rolle in dieser Untersuchung. Ein nicht-essentialistischer Begriff der Entfremdung, wie ihn beispielsweise Rahel Jaeggi vorschlägt, besagt, dass wir dann entfremdet sind, wenn wir in einer Beziehung der Beziehungslosigkeit leben. Eine entfremdete Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass wir unser Leben nicht selbst gestalten und verändern können. Die Beziehung zwischen Menschen bzw. deren Misslingen ist jedoch nur ein Aspekt jener gesellschaftlichen Deformationen, die durch Verrechtlichung, ökonomische oder emotionale Ausbeutung und kulturelle Ökonomisierung auftreten. Die Beschreibung von Entfremdungsprozessen allein gibt keine hinreichende Auskunft über Handlungs- und Kommunikationsblockaden, da sie auf einen rein expressiven Weltbezug beschränkt ist. Ungerechtigkeiten oder strukturelle Pathologien können damit nur schwer thematisiert werden. Dafür bedarf es einer Konzeption gelingender kommunikativer Rechtsfertigungsverhältnisse, die verschiedene Weltbezüge zulässt. Zu Ihrem anderen Punkt, der sich auf die Dialektik von Entfremdung und anderen Deformationen bezieht und der ja auch schon bei Matthias Kettner anklang: Sicherlich lassen sich gesellschaftliche Freiheitsgewinne durch Rationalisierungsprozesse ausmachen: Bessere Berufschancen im Ausland, die Freiheit beruflicher und privater Mobilität, Investitionsmöglichkeiten durch Finanzspritzen privater Investoren, internationale Gerichte, die Flüchtlingen an Europas Außengrenzen zu ihrem Recht verhelfen sind Beispiele dafür. Aber es gibt keine andere, freiheitsverbürgende Seite von Ökonomisierung, Ausbeutung und Unterdrückung. Es mag Freiheitsgewinne in unserer Gesellschaft geben, aber es gibt keine positive Seite der Kolonialisierung. Hauke Brunkhorst: Ich sehe das Recht nicht so optimistisch, ich glaube, auch Regina Kreide hat das nicht so optimistisch gemeint, und ich sehe übrigens auch keinen großen Rechtsoptimismus in Faktizität und Geltung. Das Recht als Schrittmacher der Evolution: das heißt ja noch nicht, dass das etwas Gutes ist. Ich hatte einmal eine Diskussion in Kopenhagen mit Phillip Allott und David Held. David Held und ich hatten die großen Errungenschaften des internationalen Rechts nacheinander vorgeführt, und da platzte Philip Allott – das ist ein alter Völkerrechtler aus England – der Kragen, und er sagte: »Wisst Ihr Jungs nicht, dass das Recht immer im Dienst der herrschenden Klasse ist?« Nun, mir jedenfalls war das immer schon klar. Aber auch wenn 268 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Regina Kreide
das in dem Vortrag nicht so herüberkam: die Schrittmacherfunktion, die kann natürlich in die eine Richtung wie in die andere führen. Das Recht stabilisiert immer die Gesellschaft, aber es stabilisiert auch Errungenschaften der Freiheit, wie es genauso Herrschaftsverhältnisse stabilisiert. Nichts stabilisiert Herrschaftsverhältnisse besser, deswegen ja auch die Kolonialisierungsthese. Die Kolonialherren kommen mit Recht in die kolonialisierte Gesellschaft und etablieren dort ihr Recht, auch wenn es eine bestimmte Form des Rechts ist, meistens Maßnahmenrecht oder Autoritätsrecht. Aber eben Recht. Und die Pointe des Referats habe ich darin gesehen, dass genau mit dieser internationalen Verrechtlichung und Entrechtlichung der Rechtsstaat oder das rule of law in dem Moment zu einem nahezu reinen Herrschaftsinstrument und in dem Maße zu einem reinen Herrschaftsinstrument wird, in dem die demokratische Legitimation schwächer wird und wegbricht. Genau das ist doch die Diagnose der gegenwärtigen Weltsituation, um es etwas klotzig zu sagen.
Entgegnung von Jürgen Habermas Am Ende dieser Diskussion, die Regina Kreide noch einmal die Gelegenheit zur Klärung einiger Aspekte Ihres wichtigen Vortrages gegeben hat, bleibt mir nur noch der Dank für die überzeugende Behandlung der Kolonialisierungsthese, die ja auf das Engste mit dem auf Lukács zurückgehenden Paradigmenkern der Kritischen Theorie zusammenhängt. Diese Tradition entstand mit dem Versuch zu erklären, warum »Rationalisierungsfortschritte« nicht nur in der Dimension der kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, sondern auch in der von Max Weber hervorgehobenen Dimension der bürokratischen Ausübung politischer Herrschaft sozialpathologische Folgen erzeugen. Der Vortrag hat aus meiner Sicht ein doppeltes Verdienst. Wie ihre Beispiele zeigen, kann Regina Kreide zunächst die Kolonialisierungsthese angesichts einer erdrückenden Evidenz der Unterwerfung privater und öffentlicher Lebensbereiche unter widerstandslos hingenommene Imperative der Vermarktung in Erinnerung rufen. Mit dem Wechsel vom Muster der Keynesianischen zur neoliberalen Wirtschaftspolitik hat sich allerdings die Aufmerksamkeit für sozialpathologische Ambivalenzen von der einen auf die andere Dimension ver269 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Regina Kreide
lagert: Der diagnostische Blick ist von den Verrechtlichungsfolgen des wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus der 1970er Jahre auf viel breiter gestreute, auch sublimer gewordenen Symptome gelenkt worden. Diese erklären sich aus der Monetarisierung von bisher verschonten lebensweltlichen Bereichen; denn damit gehen Aktivierungs- und Anpassungszwänge Hand in Hand, die tief in Berufsarbeit, Sozialisation und Erziehung, in kulturelle Reproduktion und schulische Bildung, in Gesundheit, persönliche Beziehungen und den sozialen Zusammenhalt im Ganzen eingreifen. Mit dem Blick auf ihr Thema – Entdemokratisierung – bringt Regina Kreide zum anderen das Rechtsmedium in Spiel, das in dem engeren Kreis der älteren Kritischen Theorie keine große Rolle gespielt hatte. Das entformalisierte bürgerliche Recht kam damals allenfalls als Organisationsmittel der totalitären Herrschaft in den Blick; es gab damals keinen Anlass, von der anderen Funktion, die das Medium im Zuge der egalitären Verrechtlichung und Demokratisierung der öffentlichen Gewalt auch gespielt hat, zu sprechen. In dieser anderen Funktion verbürgt vor allem das öffentliche Recht Freiheit und Gerechtigkeit – oder verspricht es wenigstens in Form eines erkennbaren normativen Überschusses über die Rechtswirklichkeit. Regina Kreide macht solche Defizite am Beispiel der unerfüllten Rechtsansprüche demokratischer Bürger zum Thema. Sie setzt bei den bekannten postdemokratischen Tendenzen an, die der Ausübung demokratischer Beteiligungsverfahren immer mehr den Charakter einer bloßen Simulation verleihen. Da die Demokratie einstweilen nur im nationalstaatlichen Rahmen institutionalisiert ist, verlieren demokratische Bürger mit dem schrumpfenden politischen Handlungsspielraum ihrer Staaten in einer politisch unbeherrschten Weltgesellschaft automatisch ihre Bühne. Denn im gleichen Maße schrumpft der Radius ihrer möglichen Einflussnahme. Die politisch gewollte Selbstentmächtigung der kapitalistischen Demokratien des Westens hat zunächst nichts mit einer Kolonialisierung der Lebenswelt zu tun. In dem Maße, wie sich die Gewichte von der Politik zum Markt verschoben, wie sich die systemischen Zwänge eines globalisierten Marktgeschehens gegen die Kontroll- und Steuerungsfähigkeit von Staaten und der (ohnehin unzureichend legitimierten) internationalen Organisationen durchgesetzt haben, ist der Kolonialisierungsthese sogar die wesentliche Prämisse entzogen worden. Diese ist ja in der Annahme entwickelt worden, dass sich die auf den 270 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Regina Kreide
ersten Blick politisch beherrschbar gewordenen ökonomischen Krisen gewissermaßen in andere gesellschaftliche Bereiche verschieben. Daher manifestieren sich heute die Folgen des kapitalistischen Wachstums und der Wirtschaftskrise in den handfesten materiellen Erscheinungsformen einer drastisch zunehmenden sozialen Ungleichheit – sowohl innerhalb der OECD-Gesellschaften wie quer über den Globus. Die schreienden sozialen Ungerechtigkeiten bedürfen keiner feinsinnigen Interpretation: die Suppenküchen sind allenfalls zu »Tafeln« semantisch verharmlost worden. Aber die Phänomene, auf die sich Regina Kreide bezieht, sind ein Beleg dafür, dass die Kolonialisierungsthese auch unter diesen veränderten Umständen ihre Erklärungskraft nicht verloren hat. Denn der finanzialisierte Kapitalismus frisst sich immer weiter in jene Hintergrundkontexte ein, von denen der Kapitalismus bisher stillschweigend und gewissermaßen kostenlos gezehrt hat. 1 In dem Maße, wie die Polster der Lebenswelt (und des Naturhaushaltes, Regina Kreide erwähnt das Beispiel der Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung) auf dem Wege der Kommerzialisierung durchgescheuert werden, bildet sich im Rücken der öffentlich wahrgenommenen, statistisch registrierten und klassenspezifischen Erscheinungen von Unterprivilegierung, Verelendung und Exklusion eine Schicht von unauffälligeren und sozial sehr viel breiter gestreuten Sozialpathologien, die sich einer simplen, verteilungstheoretisch ansetzenden Erklärung entziehen.
Diese »background conditions« behandelt auf interessante Weise Nancy Fraser: »Behind Marx’s Hidden Abode. For an Expanded Conception of Capitalism«. In: New Left Review 86, March/April 2014.
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
Welchen normativen Status hat das Privatrecht? Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus
Die Kritik des Kapitalismus ist das Lebensthema der Frankfurter Schule. Bekanntlich verfolgte Max Horkheimer, als er diese Schule am Frankfurter Institut für Sozialforschung etablierte, die Absicht, ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu institutionalisieren, in dem die sozialen Pathologien kapitalistischer Gesellschaften analysiert und die Möglichkeiten alternativer institutioneller Arrangements geprüft werden. 1 Wenngleich die Art und Weise, auf welche Horkheimer dieses Projekt glaubte bearbeiten zu können, zu Recht kritisiert worden ist, 2 sind die Ziele, die er auf diesem Wege erreichen wollte, für die Frankfurter Schule im Wesentlichen noch immer aktuell. Auch den heutigen Vertreterinnen und Vertretern dieser Theorietradition ist es ein zentrales Anliegen, Klarheit über die problematischen Auswirkungen des zeitgenössischen Kapitalismus sowie den normativen Status alternativer Gesellschaftsformationen zu gewinnen. 3 Die Erforschung der Grundlagen und Perspektiven einer Kritik des Kapitalismus bildet also nach wie vor einen Schwerpunkt der Arbeit der Frankfurter Schule. Möchte man sich über die Möglichkeiten der Grundlegung einer Kapitalismuskritik verständigen, wird man den normativen Status des Privatrechts zu untersuchen haben. Privatrechtliche Regelungen (welche etwa den Erwerb, die Nutzung und die Veräußerung von Eigentum Vgl. z. B. Max Horkheimer: »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hrsg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, S. 20–35. 2 Vgl. z. B. Axel Honneth: »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie«. In: Christoph Halbig, Michael Quante (Hrsg.): Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung. Münster 2004, S. 9–31. 3 Das zeigt beispielsweise die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth über Anerkennung und Umverteilung. Vgl. hierzu Nancy Fraser, Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M. 2003. 1
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
oder die Freiheit, als Privatperson Verträge abzuschließen, betreffen) bilden den institutionellen Rahmen marktwirtschaftlicher und kapitalorientierter Austauschrelationen. Deshalb macht es hinsichtlich der Fundierung einer Kapitalismuskritik einen erheblichen Unterschied, ob das Privatrecht ein normativ gehaltvoller Institutionenkomplex ist oder nicht. Diese Bedingung könnte etwa dadurch erfüllt sein, dass das Privatrecht spezifische Arten der menschlichen Freiheit schützt, und es ist sogar denkbar, dass es Arten der Freiheit gibt, die nur durch das Privatrecht geschützt werden können. 4 Befunde wie diese wären im vorliegenden Zusammenhang relevant, denn sie geben Aufschluss über ›die normativen Kosten‹, welche eine Ersetzung des kapitalistische Märkte strukturierenden Privatrechts durch andere Institutionen haben würde. Sollte sich hingegen herausstellen, dass privatrechtliche Regelungen keinen normativen Gehalt haben, könnten derartige Kosten nicht anfallen. Vom Standpunkt der Kritik des Kapitalismus würde damit ein möglicher Einwand gegen dieses Vorhaben nicht geltend gemacht werden können. Einer der bedeutendsten Vertreter der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, hat sich zeit seines akademischen Lebens mit Themen wie diesen beschäftigt. In den 1970er-Jahren hat er die Grundzüge eines Forschungsprojekts entwickelt, durch das er klären wollte, ob sich die Kapitalismuskritik des Historischen Materialismus in modifizierter Form verteidigen lässt, und in diesem Zusammenhang hat er sich eingehend mit dem normativen Status und »evolutionären Stellenwert« des modernen Rechts befasst. 5 Soweit ich sehe, hat Habermas dieses Projekt aber nicht im Einzelnen ausgearbeitet und in seinen späteren Schriften eine andere Systematik entwickelt. 6 Aus diesem Grunde sind Der zuletzt genannte Standpunkt wird sowohl von Rechtslibertaristen (wie Robert Nozick) als auch von Linkslibertaristen (wie Hillel Steiner) vertreten. Ob auch Hegel, dessen Anerkennungstheorie für die zeitgenössische Frankfurter Schule eine entscheidende Inspirationsquelle ist, der Ansicht war, dass bestimmte Arten von Freiheit nur durch privatrechtliche Institutionen geschützt werden können, ist umstritten. Vgl. hierzu auch meine Überlegungen in »Anerkennung« als Prinzip der Kritischen Theorie. Berlin/New York 2011. 5 Vgl. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Einer der Aufsätze dieser Textsammlung trägt den Titel »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. 6 Ich beziehe mich hier vor allem auf Habermas’ Hauptwerke, Theorie des kommunikativen Handelns und Faktizität und Geltung. Vgl. zu den Grundlagen von Habermas’ Überlegungen in diesen Schriften auch die erhellenden Analysen in Hugh Baxter: »Sys4
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
die Aufsätze, die in der Schrift Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus gesammelt sind, als Habermas’ letzter Beitrag zu diesem Forschungsprojekt anzusehen. Welche sachliche Relevanz hat Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus? Haben seine Überlegungen lediglich ein theoriegeschichtliches Interesse oder können sie zeitgenössische Kritiken des Kapitalismus systematisch bereichern? Angesichts des Umstands, dass Habermas selbst das Projekt der Rekonstruktion des Historischen Materialismus preisgegeben hat, würde man Letzteres nicht vermuten. Andererseits lässt sich seit einiger Zeit ein disziplinenübergreifendes Wiedererstarken evolutionstheoretischer Forschung beobachten. 7 Darüber hinaus erlebt die Marx’sche Theorie eine Renaissance, und es gibt heutzutage nicht wenige Denker, die der Meinung sind, dass diese Theorie hinsichtlich der Entwicklung des zeitgenössischen Kapitalismus eine explanatorische Funktion erfüllen könne. 8 Es ist deshalb nicht ausgemacht, ob Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus tatsächlich nur in theoriegeschichtlicher Hinsicht von Interesse sein kann. In dem vorliegenden Beitrag werde ich die Frage untersuchen, ob Habermas’ Überlegungen eine geeignete Grundlage für eine Bestimmung des normativen Status des Privatrechts zur Verfügung stellen. Ich werde mich hierbei allein auf Habermas’ Schrift Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus beziehen; dies scheint mir angesichts des oben genannten Umstandes, dass Habermas in seinen spätetem and Lifeworld in Habermas’s Theory of Law«. In: Cardozo Law Review, 23, 2 (2002), S. 473–616. 7 Einen Überblick über diese Entwicklung bietet Hauke Brunkhorst: »Die große Geschichte der Exkarnation«. In: Michael Kühnlein, Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Frankfurt a. M. 2011, S. 44–77. 8 Zu diesen Denkern zählt auch Oskar Negt, der die folgende Auffassung vertritt: »Gerade in dem Augenblick, da der Kapitalismus nicht enden wollende Triumphgesänge über alles anstimmt, was auch nur den symbolischen Geruch von Sozialismus und Marxismus vermittelt, funktioniert das Kapital zum ersten Mal in seiner ganzen Entwicklungschronik genau so, wie Karl Marx es in seinem Kapital beschrieben hat.« (In: Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2003, S. 80). Vgl. zur Aktualität der philosophischen Grundlagen der Marx’schen Theorie auch die Beiträge von Daniel Brudney, Andrew Chitty, Jean-Philippe Deranty, Michael Quante und Emmanuel Renault in Hans-Christoph Schmidt am Busch (Hrsg.): Karl Marx and the Philosophy of Recognition. Sonderband der Zeitschrift Ethical Theory and Moral Practice, 16, 4 (2013), S. 679–758.
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
ren Abhandlungen eine andere Systematik entwickelt hat, sinnvoll zu sein. Um beurteilen zu können, ob das Privatrecht im Rahmen des von Habermas rekonstruierten Historischen Materialismus angemessen erörtert werden kann, ist es erforderlich, diese Theorie zunächst in ihren Grundzügen darzustellen und zu analysieren. Ich tue dies, indem ich eine auf Marx zurückgehende Fassung des Historischen Materialismus, mit der Habermas sich auseinandersetzt, rekonstruiere (I.), darlege, warum Habermas diese Theorie als unbefriedigend ansieht (II.), und im Lichte dieser Überlegungen die Grundannahmen und Kernelemente des von Habermas vertretenen Historischen Materialismus diskutiere (III.). Mit meinen weiteren Ausführungen (IV.) möchte ich verständlich machen, warum der Historische Materialismus in der von Habermas rekonstruierten Version keine einheitliche Grundlage für eine Bestimmung des normativen Status des Privatrechts zur Verfügung stellt und deshalb zeitgenössische Kapitalismuskritiken in dieser Hinsicht – zumindest ohne Weiteres – kaum wird sachlich bereichern können. Möchte man heute an die Habermas’sche Fassung des Historischen Materialismus anschließen, wird man diese Theorie also zumindest präzisieren müssen. Welche Erfordernisse eine solche ›Rekonstruktion‹ des Historischen Materialismus hinsichtlich der Bestimmung des normativen Status des Privatrechts zu erfüllen hat, versuche ich abschließend kurz darzulegen.
I. Im »Vorwort« seiner 1859 erschienen Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie skizziert Marx in programmatischen Worten eine Theorie der sozialen Entwicklung, die für den Historischen Materialismus grundlegend ist. Da sich Habermas im Rahmen seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus eingehend mit dieser Theorieskizze auseinandersetzt, ist es sinnvoll, Marx’ Ausführungen zunächst in Erinnerung zu rufen. Marx schreibt: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher be-
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stimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« (MEW 13, S. 8 f.) 9
Mit diesen Worten skizziert Marx die Grundzüge einer Theorie der sozialen Entwicklung, die zugleich eine Theorie der Weltgeschichte zu sein beansprucht – wie aus seinen Überlegungen zum »Ende der Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« hervorgeht. Ich werde im Folgenden einige Grundannahmen und Kernelemente der Marx’schen Theorie analysieren, und zwar im Hinblick auf die angestrebte Erörterung von Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich den Marx’schen Text in vier Abschnitte gegliedert.
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Mit meinen weiteren Ausführungen beanspruche ich also nicht, Marx’ oben wiedergegebene Überlegungen in allen Einzelheiten zu behandeln. 10 Im Zentrum der Marx’schen Theorie der sozialen Entwicklung steht die Beziehung zwischen dem, was Marx »Produktionsverhältnisse« und »materielle Produktivkräfte« nennt. 11 In den Bereich der materiellen Produktivkräfte fallen Dinge wie die Arbeitskraft der Menschen, die in der Gesellschaft vorhandenen Werkzeuge und Maschinen sowie das gesellschaftlich verfügbare produktionsrelevante Wissen und Know-how. Produktionsverhältnisse sind für Marx wesentlich »Eigentumsverhältnisse«, welche die Möglichkeiten der rechtmäßigen Nutzung der materiellen Produktivkräfte regeln. Spezifische Konstellationen von Produktionsverhältnissen und materiellen Produktivkräften bilden in Marx’ Verständnis spezifische gesellschaftliche »Produktionsweisen des materiellen Lebens«. Folgt man Marx’ oben zitierten Ausführungen, dann ist es die Produktionsweise des materiellen Lebens, die »den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt bedingt«. Wenngleich er nicht erläutert, was er im vorliegenden Zusammenhang unter »bedingen« versteht, scheint Marx zumindest der Meinung zu sein, dass einer spezifischen »ökonomischen« Produktionsweise spezifische rechtliche (»juristische«) und staatliche (»politische«) Institutionen sowie spezifische »gesellschaftliche Bewusstseinsformen« entsprechen. Darüber hinaus behauptet Marx, dass diese Bewusstseinsformen durch die gesellschaftliche Produktionsweise bzw. das »gesellschaftliche Sein« der Menschen »bestimmt« werden – eine Aussage, die nahelegt, dass die Produktionsweise einer Gesellschaft in Marx’ Verständnis die Ursache der Existenz spezifischer gesellschaftlicher Bewusstseinsformen ist. Ob Marx’ Rede von der »realen Basis« und dem »Überbau« einer Gesellschaft besagt, dass die Produktionsweise des materiellen Lebens die institutionellen Gegebenheiten in den anderen gesellschaftIm vorliegenden Zusammenhang muss ich auch die Frage unbehandelt lassen, ob Marx’ Werk als Ausarbeitung der im »Vorwort« der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie skizzierten Theorie der sozialen Entwicklung verstanden werden kann oder nicht. 11 Vgl. hierzu nun auch Quante: »Geschichtsbegriff und Geschichtsphilosophie. Ein analytischer Kommentar (S. 28–36)«: In: Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (Reihe: Klassiker Auslegen). Hrsg. v. Harald Bluhm. Berlin 2010, S. 83–99 und Marco Iorio: Einführung in die Theorien von Karl Marx. Berlin 2012. 10
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lichen Bereichen in einem kausalen Sinne determiniert, ist unter Marx-Interpreten umstritten. 12 Soziale Entwicklung (»eine Epoche sozialer Revolution«) erklärt Marx mit Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Produktionsweise, genauer: aus dem Zusammenspiel der Produktionsverhältnisse und materiellen Produktivkräfte einer Gesellschaft. In diesem Kontext unterscheidet Marx zwischen zwei Arten von Relationen: der Relation der Entsprechung und der des Widerspruchs. Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse entsprechen den materiellen Produktivkräften, wenn sie »Entwicklungsformen« derselben, und sie widersprechen den materiellen Produktivkräften, wenn sie »Fesseln« derselben sind. In jenem Fall ermöglichen die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse eine weitere Entwicklung der materiellen Produktivkräfte, in diesem Fall machen sie eine solche Entwicklung unmöglich. Offenbar ist Marx der Meinung, dass bestehende Produktionsverhältnisse bezüglich derjenigen Produktivkräfte, deren Nutzungsmöglichkeiten sie regeln, entweder »Entwicklungsformen« oder »Fesseln« sind. Folgt man Marx, dann ist die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte der Motor jeder sozialen Evolution. Durch die fortschreitende Entwicklung der materiellen Produktivkräfte tritt nämlich früher oder später eine Situation ein, in der die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ihnen nicht mehr entsprechen, sondern im Gegenteil widersprechen. Ist eine solche Situation erreicht, findet nach Marx eine »soziale Revolution« statt, in deren Verlauf »neue höhere Produktionsverhältnisse«, die den entwickelten Produktivkräften entsprechen, an die Stelle der bisherigen Produktionsverhältnisse treten und der gesellschaftliche »Überbau« eine der neuen Produktionsweise entsprechende Gestalt annimmt. Wie sich Marx’ Theorieskizze entnehmen lässt, ist die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte, durch welche diese in einen Widerspruch mit den bestehenden Produktionsverhältnissen geraten, für das Eintreten einer »sozialen Revolution« sowohl notwendig als auch hinreichend – das geht hervor aus den oben zitierten Aussagen »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist« und »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […] Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein«. Folg12
Vgl. hierzu auch RHM 157–163.
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lich bildet die Kategorie der materiellen Produktivkräfte den Schlüssel zum Marx’schen Verständnis von sozialer Entwicklung.
II. In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus setzt sich Jürgen Habermas eingehend mit der soeben skizzierten Fassung des Historischen Materialismus auseinander, und er macht deutlich, warum er sie als unbefriedigend ansieht. Habermas’ Kritik betrifft vor allem die folgenden Punkte: 1. Bejaht man den Historischen Materialismus in der soeben betrachteten, auf Marx zurückgehenden Fassung, dann versteht man die »Gattungsgeschichte« als »die einlinige, notwendige, ununterbrochene und aufsteigende Entwicklung eines Makrosubjekts« (RHM 154). Ein solches Geschichtsverständnis ist aber nach Habermas’ Auffassung mit philosophischen Mitteln nicht zu rechtfertigen, 13 und es ist erheblichen empirischen Einwänden ausgesetzt. 14 Grundsätzlich weist Habermas deshalb die in Rede stehende Fassung des Historischen Materialismus als »dogmatisch« (ebd.) zurück. 2. Näher kritisiert Habermas eine Fassung des Marx’schen »Überbautheorems«, die er als »ökonomistisch« (RHM 157) charakterisiert: »Dieser Interpretation zufolge gliedert sich jede Gesellschaft (je nach dem Grad ihrer Komplexität) in Teilsysteme, die sich hierarchisch in der Reihenfolge des ökonomischen, des administrativ-politischen, des sozialen und des kulturellen Bereichs einordnen lassen. Das Theorem besagt dann, dass Prozesse der höheren Teilsysteme von Prozessen der jeweils niedrigeren Teilsysteme im Sinne kausaler Abhängigkeit determiniert sind.« (ebd.)
Im vorliegenden Zusammenhang begnügt sich Habermas damit, auf die »bekannten Einwände gegen den Objektivismus des geschichtsphilosophischen Denkens« (RHM 154) hinzuweisen. 14 Diese Einwände betreffen etwa die auf Marx zurückgehende Annahme, dass sich die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« in eine bestimmte Anzahl spezifischer »ökonomischer Gesellschaftsformationen« gliedern lasse (vgl. RHM 153–154). 13
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Habermas gibt zunächst zu bedenken, das diese »Interpretation« des Überbautheorems sich gar nicht auf Marx’ Ausführungen stützen könne – da diese nicht die »ontologische Verfassung der Gesellschaft« im Allgemeinen betreffen, sondern lediglich »die Abhängigkeit des Überbaus von der Basis […] für die kritische Phase« behaupten, »in der eine Gesellschaft zu einem neuen Entwicklungsniveau übergeht« (RHM 158). 15 Sachlich macht Habermas geltend, dass die von Marx nahegelegte Gleichsetzung von »realer Basis« und »ökonomischer Struktur« nur auf kapitalistische Gesellschaften zutrifft, nicht aber eine allgemeine geschichtliche Gültigkeit beanspruchen kann. Deshalb könne die oben skizzierte »ökonomistische« Interpretation des Marx’schen Überbautheorems nicht richtig sein. Auch die Marx’sche Analyse des Zusammenspiels (»Dialektik«) von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – eine weitere »Grundannahme« (RHM 157) des Historischen Materialismus – wird von Habermas zurückgewiesen. Unter Bezugnahme auf empirische Befunde kritisiert Habermas die von Marx vertretene These, dass die Entwicklung der Produktivkräfte, durch welche diese in Widerspruch zu den bestehenden Produktionsverhältnissen geraten, eine notwendige Bedingung sozialer Evolution sei: »Wohl sind einige Beispiele dafür bekannt, daß infolge einer Steigerung der Produktivkräfte Systemprobleme entstanden sind, welche die Steuerungskapazität verwandtschaftlich organisierter Gesellschaften überfordert und die Urgemeinschaftsordnung erschüttert haben – so offenbar in Polynesien und Südafrika. Aber die großen endogenen Entwicklungsschübe, die zur Entstehung der ersten Hochkulturen oder zur Entstehung des europäischen Kapitalismus geführt haben, hatten eine nennenswerte Entfaltung der Produktivkräfte nicht zur Bedingung, sondern zur Folge. In diesen Fällen kann nicht die Produktivkraftentfaltung zur evolutionären Herausforderung geführt haben.« (RHM 161)
Darüber hinaus kritisiert Habermas die Marx’sche These, die Entwicklung von Produktivkräften sei eine hinreichende Bedingung der Etablierung »höherer Produktionsverhältnisse«. In Habermas’ Urteil kann diese These nicht richtig sein. Denn die Entwicklung Ob diese Einschätzung, die Habermas von Karl Kautsky übernimmt (vgl. RHM 158), in Marx-interpretatorischer Hinsicht überzeugend ist, kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben.
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der gesellschaftlichen Produktivkräfte mag zwar in einzelnen Fällen »die Entstehung von Systemproblemen erklären, die, wenn die strukturellen Unähnlichkeiten zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu groß werden, den Bestand der Produktionsweise bedrohen«; was die Produktivkraftentwicklung jedoch nicht erklären kann, ist die Art und Weise, »wie die entstandenen Probleme gelöst werden« (RHM 160). Aus diesem Grund hält Habermas die Marx’sche Analyse der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen für lückenhaft: Um die Etablierung höherer Produktionsverhältnisse erklären zu können, bedarf es seines Erachtens einer Theorie, die verständlich macht, warum in einer bestimmten historischen Situation gesellschaftliche Probleme so und nicht anders gelöst worden sind.
III. Es ist überraschend, dass Habermas den Historischen Materialismus nicht als eine im Ansatz verfehlte Theorie verwirft. Angesichts seiner soeben betrachteten Kritik an Grundannahmen und Kernelementen des Historischen Materialismus würde man genau dies erwarten. Doch Habermas glaubt, dass der Historische Materialismus so rekonstruiert werden kann, dass er eine »aussichtsreiche« (RHM 144) theoretische Position bildet – aus diesem Grunde ist es seine »erklärte Absicht, an den Historischen Materialismus anzuknüpfen« (RHM 38). Um zu verstehen, warum Habermas diese Überzeugung teilt, sind zwei Dinge herauszuarbeiten: erstens die Ziele, die Habermas mit seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus verbindet, und zweitens die Grundzüge dieser Rekonstruktion selbst. Diese beiden Gegenstände werde ich nun der Reihe nach behandeln. Mit seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus verfolgt Habermas im Wesentlichen zwei Ziele: Er möchte erstens sozialtheoretische Klarheit bezüglich der Grundlagen moderner Gesellschaften gewinnen und zweitens in der Lage sein, unterschiedliche Gesellschaftsformationen unter evolutionären Gesichtspunkten zu klassifizieren. 16 Habermas konstatiert, dass es bezüglich der zu jener Auch von heutigen Gesellschaftstheoretikern wird die Verfolgung dieser Ziele als wichtig angesehen. Das zeigt etwa die Diskussion der Frage, ob der zeitgenössische
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Zeit existierenden kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften eine Vielzahl an »rivalisierenden« (RHM 42) Sozialtheorien gebe, die das evolutionäre Niveau ihres Untersuchungsgegenstandes zum Teil unterschiedlich beurteilten. Als Beispiel verweist er auf die »Einordnung der bürokratisch-sozialistischen Gesellschaften«: »[N]ach der einen Version haben die Gesellschaften des bürokratisch-sozialistischen Typs gegenüber den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften eine höhere evolutionäre Stufe erreicht; der anderen Version zufolge handelt es sich in beiden Fällen um Varianten derselben Entwicklungsstufe.« (RHM 43)
Um in Fällen wie diesem beurteilen zu können, welche Theorien ihren Gegenstand in sozialtheoretischer Hinsicht angemessen analysieren und klassifizieren, ist es nach Habermas’ Auffassung erforderlich, das »Organisationsprinzip« moderner Gesellschaften »aus der Perspektive der Entstehung dieser Gesellschaftsformation« (RHM 42) zu bestimmen. Verfügt man nämlich über dieses Wissen, so Habermas, dann lässt sich prüfen, ob spezifische institutionelle Neuerungen Bestandteile des Organisationsprinzips moderner Gesellschaften sind oder nicht, und mithin angeben, welchen institutionellen Variationsspielraum diese Gesellschaften besitzen. Damit aber gewinnt man beispielsweise die Möglichkeit zu beurteilen, ob kapitalistische und sozialistische Gesellschaften »Varianten derselben Entwicklungsstufe« sind oder unterschiedlichen »evolutionären Stufe« entsprechen. Wie gesehen, glaubt Habermas, seine soeben genannten Ziele mithilfe einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus erreichen zu können. Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass diese Rekonstruktion »in mancher Hinsicht« eine »Revision« (RHM 9) des dogmatischen Historischen Materialismus erforderlich mache (vgl. RHM 144). Wenngleich sie vielschichtig ist und sich auf Forschungsergebnisse aus zahlreichen Disziplinen stützt, lässt sich die von Habermas vertretene Fassung des Historischen Materialismus in ihren Grundzügen thesenartig darstellen: 17 Kapitalismus, der durch Prozesse der Globalisierung charakterisiert ist, Tendenzen der Refeudalisierung aufweise oder nicht. Entgegengesetzte Positionen vertreten in dieser Frage Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. Köln 2010 und Wolfgang Streek: Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy. Oxford 2010. 17 Bei der Ausarbeitung der folgenden Darstellung war mir Thomas McCarthys Erörterung der Habermas’schen Position (in: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1989, S. 265–308) eine große Hilfe.
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Die für den Historischen Materialismus basale Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit – also der arbeitsteiligen Produktion und Distribution von Gütern – wird nicht nur durch Regeln des instrumentellen und strategischen Handelns (welche die Herstellung von Gütern und die Koordinierung von Arbeitsleistungen betreffen), sondern auch durch Regeln des kommunikativen Handelns und mithin durch ein spezifisches Niveau des »moralisch-praktischen Bewusstseins« (RHM 163) strukturiert: »Die Verteilung der erzeugten Produkte verlangt […] Interaktionsregeln, die auf dem Niveau sprachlicher Verständigung intersubjektiv als anerkannte Normen oder Regeln kommunikativen Handelns von einzelnen Situationen abgelöst und auf Dauer gestellt werden können.« (RHM 146) Bezüglich des moralisch-praktischen Bewusstseins gilt: Es durchläuft auf der Ebene der menschlichen »Gattung« (RHM 162) eine Entwicklung, deren »Logik« (RHM 163) von der Entwicklung des »technisch verwertbaren Wissens« (RHM 162) unabhängig ist. Die verschiedenen Stufen dieser Entwicklung lassen sich im Rückgriff auf die Ergebnisse der kognitivistischen Entwicklungspsychologie als »präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Muster der Problemlösung« (RHM 13) beschreiben und analysieren. Eine Gesellschaft hat ein spezifisches Organisationsprinzip. »Unter Organisationsprinzipien«, stellt Habermas fest, »verstehe ich diejenigen Innovationen, die durch entwicklungslogisch nachkonstruierbare Lernschritte möglich werden und die ein jeweils neues Lernniveau der Gesellschaft institutionalisieren.« (RHM 168) 18 Darüber hinaus vertritt er die These, dass »neue gesellschaftliche Organisationsprinzipien neue Formen der sozialen In-
18 Nach dieser Definition ist jede Innovation, die eine Entwicklung (»Lernschritt«) des moralisch-praktischen Bewusstseins ermöglicht und institutionalisiert, ein Bestandteil des Organisationsprinzips der fraglichen (neuen) Gesellschaft. An anderen Stellen von RHM scheint Habermas aber der Ansicht zu sein, dass nur bestimmte Innovationen dieser Art zum gesellschaftlichen Organisationsprinzip zu zählen sind (vgl. z. B. RHM 237). Je nach dem, welche dieser beiden Auffassung man teilt, wird man den institutionellen Variationsspielraum von Gesellschaften unterschiedlich beurteilen. Eine Präzisierung des in Rede stehenden Zusammenhangs ist deshalb nach Maßgabe der von Habermas selbst ausgearbeiteten Version des Historischen Materialismus wichtig. Siehe unten, Teil IV.
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tegration bedeuten« (RHM 35), und »mit Durkheim« versteht er »unter sozialer Integration die Sicherung der Einheit der Lebenswelt über Werte und Normen« (RHM 159). Aus diesen Gründen ist die oben genannte Entwicklung des moralisch-praktischen Bewusstseins für Habermas hinsichtlich der Möglichkeit der Etablierung »neuer gesellschaftlicher Organisationsprinzipien« entscheidend. 19 5. Die Entwicklungslogik des moralisch-praktischen Bewusstseins ist begrifflich von dessen »Entwicklungsdynamik« (RHM 12) zu unterscheiden: Jene betrifft die für die verschiedenen Stufen des moralisch-praktischen Bewusstseins charakteristischen Arten der Problemlösung, diese die kausal relevanten Faktoren (»Mechanismen«; ebd.), aufgrund welcher ein Wandel normativer Strukturen – und mithin die Etablierung neuer gesellschaftlicher Organisationsprinzipien – zustande kommt. 6. Eine Untersuchung der Entwicklungsdynamik des moralischpraktischen Bewusstseins hat systemtheoretisch anzusetzen: »In seiner Entwicklungsdynamik bleibt dieser Wandel normativer Strukturen abhängig von den evolutionären Herausforderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme, und von Lernprozessen, die darauf antworten.« (ebd.) Der so rekonstruierte Historische Materialismus ist nach Habermas’ Ansicht den oben genannten Einwänden nicht ausgesetzt. 20 Unter Bezugnahme auf die Entwicklung des moralisch-praktischen Bewusstseins kann er erklären, warum in einer bestimmten historischen Situation systemische Probleme so und nicht anders gelöst worden sind; darüber hinaus analysiert er die Struktur von Gesellschaften nicht »ökonomistisch« (in dem oben explizierten Sinne); und schließlich behauptet er »weder Unilinearität, noch Notwendigkeit, noch Kontinuität, noch Nichtumkehrbarkeit der Geschichte« (RHM 154), sondern weist »kontingenten Randbedingungen« und »empirisch erforschbaren Lernprozessen« (RHM 155) eine Schlüsselfunktion im Rahmen der Erklärung von Prozessen sozialer Evolution zu. Auf der Grundlage des von ihm ausgearbeiteten Historischen Materialismus gelangt Habermas zu der Einschätzung, dass das Organisa»Ich möchte sogar die These vertreten, daß die Entwicklung dieser normativen Strukturen der Schrittmacher der sozialen Evolution ist.« (RHM 35) 20 Siehe oben, Teil II. 19
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tionsprinzip moderner Gesellschaften durch das moralisch-praktische Bewusstsein auf der postkonventionellen Stufe geprägt sei. Dieses Bewusstsein ist in dem Sinne »universalistisch« verfasst, dass es von der »grundsätzlichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit« (RHM 266) der die menschlichen Interaktionen regelnden Normen überzeugt ist und den Standpunkt vertritt, dass Normenkonflikte allein durch eine »prinzipiengeleitete Moral«, nicht aber durch Bezugnahme auf sittliche Traditionen oder religiöse Autoritäten gelöst werden können. Wie Habermas zu zeigen versucht, sind universalistische Strukturen, die in »Weltbildern« (RHM 243) bereits ausgebildet und verfügbar waren, zu Beginn der europäischen Moderne zur Lösung von systemischen Problemen genutzt worden, welche die mittelalterliche Feudalordnung belasteten und überforderten. Demnach erklärt sich die Etablierung des für moderne Gesellschaften charakteristischen Organisationsprinzips aus einem Zusammenspiel von kollektiven »Lernprozessen« (des moralisch-praktischen Bewusstseins) und systemischen Problemen, welche durch die gesellschaftliche Fruchtbarmachung des kollektiv Erlernten gelöst werden konnten.
IV. Welche sozialtheoretische Tragweite hat Habermas’ Rekonstruktion des Organisationsprinzips moderner Gesellschaften? Und welche Perspektiven eröffnet sie einer zeitgenössischen Kapitalismuskritik? Erinnern wir uns: Habermas möchte eine Theorie entwickeln, die es ihm ermöglicht, zeitgenössische Gesellschaften in sozialtheoretischer Hinsicht angemessen zu analysieren und unter evolutionären Gesichtspunkten zu klassifizieren, und in diesem Zusammenhang fragt er beispielsweise, ob kapitalistische und sozialistische Gesellschaften dasselbe Entwicklungsniveau verkörpern oder unterschiedlichen Entwicklungsstufen entsprechen. Welches Potential also hat der von ihm rekonstruierte Historische Materialismus hinsichtlich der Beantwortung von Fragen wie dieser? Um sich über das Entwicklungsniveau von kapitalistischen im Vergleich zu sozialistischen Gesellschaften zu verständigen, wird man zu klären haben, welchen normativen Status das Privatrecht hat. Dieses Recht bildet nämlich – als »die institutionelle Garantie des Eigentums mit den Konnexgarantien der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des 288 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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Erbrechts« (RHM 262) – den strukturellen Rahmen marktwirtschaftlicher und kapitalorientierter Austauschrelationen. Sofern man die Grundannahmen dieses Theorietyps teilt, 21 wird man die Erwartung haben, dass der Historische Materialismus in der von Habermas rekonstruierten Fassung eine methodisch kontrollierte Bestimmung des normativen Status des Privatrechts ermöglicht. Zu diesem Zweck, so ist in Anbetracht unserer bisherigen Überlegungen zu vermuten, wird zu untersuchen sein, ob das Privatrecht eine »Verkörperung« von postkonventionellen Strukturen des moralisch-praktischen Bewusstseins ist und mithin zu denjenigen »Innovationen« gehört, durch die das für die moderne Gesellschaft charakteristische Organisationsprinzip institutionalisiert wird. 22 Falls das Privatrecht diese Bedingung adäquat erfüllt, ist nicht zu erkennen, wie sozialistische Gesellschaften, die den fraglichen sozialen Bereich durch andere Institutionen regeln, aufgrund dieses Reglements ein höheres Entwicklungsniveau als kapitalistische Gesellschaften erreichen können; 23 falls das Privatrecht jene Bedingung nicht adäquat erfüllt, ist es hingegen denkbar, dass sozialistische Gesellschaften aufgrund von alternativen institutionellen Arrangements ein höheres Entwicklungsniveau als kapitalistische Gesellschaften erreichen – aus Sicht des Historischen Materialismus Habermas’scher Prägung wäre dies dann der Fall, wenn diese alternativen Institutionen als »Verkörperungen« von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen ausgewiesen werden könnten.
Ob diese Annahmen plausibel sind oder nicht, müsste im Einzelnen untersucht werden. Denn es ist natürlich denkbar, dass sich die Entwicklung des moralisch-praktischen Bewusstseins der menschlichen Gattung im Rückgriff auf die kognitivistische Entwicklungspsychologie nicht angemessen analysieren lässt; dass Gesellschaften nicht genau ein Organisationsprinzip haben; oder dass soziale Entwicklungsprozesse nicht durch systemische Probleme ausgelöst werden. Allerdings muss eine Erörterung dieser Themen nach Maßgabe unserer hier entwickelten Überlegungen nicht unmittelbar erfolgen; sie kann vielmehr sinnvoll im Zuge einer Klärung der am Ende unseres Beitrags genannten Fragen durchgeführt werden. Siehe unten. 22 Siehe oben, Teil III. 23 Allerdings ist es denkbar, dass die von sozialistischen Gesellschaften in diesem Bereich etablierten Institutionen nach Maßgabe des moralisch-praktischen Bewusstseins auf der postkonventionellen Stufe genauso gut ›abschneiden‹ wie privatrechtliche Regelungen in kapitalistischen Gesellschaften. Ist das der Fall, dann verkörpern diese beiden Gesellschaftstypen in dem fraglichen Bereich aus Habermas’ Sicht dasselbe Entwicklungsniveau. 21
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Habermas erörtert das Privatrecht im Rahmen von »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. 24 Im Lichte unserer bisherigen Betrachtungen ist es keine Überraschung, dass er das moderne Recht als eine Verkörperung von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen ansieht und deshalb in normativer Hinsicht als einen Fortschritt (»Rationalitätszuwachs«) beurteilt: »Entwicklungslogisch betrachtet, kann die Form des modernen Rechts als eine Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen werden; insofern bemisst sich der Rationalitätszuwachs des modernen Rechts an seiner Normrationalität.« (RHM 266) Diesen Standpunkt begründet Habermas mit Überlegungen zur Struktur des modernen Rechts. Nach seiner Auffassung wird diese Struktur durch die »Konventionalität«, den »Legalismus«, die »Formalität« sowie die »Allgemeinheit« 25 des modernen Rechts geprägt. Worin bestehen diese Merkmale? Konventionell ist das moderne Recht für Habermas, weil es nicht von der »Interpretation anerkannter und geheiligter Traditionen« zehrt, sondern vielmehr »den Willen eines souveränen Gesetzgebers aus[drückt], der mit rechtlichen Organisationsmitteln soziale Tatbestände konventionell regelt« (RHM 264); legalistisch ist das moderne Recht, weil es nicht »böse Gesinnung«, sondern allein »normabweichende Handlungen« (ebd.) sanktioniert; formal, weil es »Bereiche der legitimen Willkür von Privatpersonen […] negativ auf dem Wege der Einschränkung von prinzipiell anerkannten Berechtigungen (anstelle einer positiven Regelung über konkrete Pflichten und materiale Gebote)« (ebd.) etabliert; schließlich ist das moderne Recht in dem Sinne allgemein, dass es »[s]einem Anspruch nach […] aus allgemeinen Normen bestehen [soll], die grundsätzlich keine Ausnahmen und keine Privilegierungen zulassen.« (RHM 265) Ein so beschaffenes Recht zehrt in Habermas’ Urteil von den Leistungen des moralisch-praktischen Bewusstseins auf der postkonventionellen Stufe und sei ohne dieselben nicht möglich. Deshalb sei die oben genannte Einschätzung gerechtfertigt, nach der das moderne Recht eine Verkörperung von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen ist. Habermas erläutert diesen Zusammenhang wie folgt: Allerdings finden sich diese Überlegungen in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus nicht nur in dem so betitelten Aufsatz. 25 Zur Bezeichnung dieses vierten Strukturmerkmals des modernen Rechts verwendet Habermas auch die Ausdrücke »Generalität« und »Universalität« (vgl. u. a. RHM 266). 24
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»Das moderne Recht setzt die sittliche Neutralisierung der einer rechtlichen Regelung vorbehaltenen Handlungsbereiche voraus. Die Konventionalisierung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts bedeutet, dass es nicht länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen zehren kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf. Einer solchen Forderung kann aber das moralische Bewusstsein erst auf postkonventioneller Stufe genügen, hier erst entsteht die Idee der grundsätzlichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen, die Unterscheidung zwischen Handlungsnormen und Handlungsprinzipien, der Begriff einer prinzipiengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vorstellung der vernünftigen Vereinbarung über Normen, auch die eines Kontraktes, der Vertragsbeziehungen erst möglich macht, die Einsicht in den Zusammenhang der Allgemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen, die Konzepte der allgemeinen Rechtsfähigkeit, der abstrakten Rechtsperson, der rechtssetzenden Kraft der Subjektivität usw. Diese postkonventionellen Grundbegriffe, die in Philosophie und Rechtstheorie auch schon vorher entwickelt worden waren, konnten mit dem Übergang zur Moderne das geltende Recht durchdringen und umstrukturieren.« (RHM 266)
Welchen normativen Status und »evolutionären Stellenwert« (RHM 260) hat das Privatrecht, also derjenige Teilbereich des modernen Rechts, welcher der »institutionellen Garantie des Eigentums mit den Konnexgarantien der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des Erbrechts« dient? Möchte man diese Frage beantworten, wird man zu untersuchen haben, ob das Privatrecht in dem oben genannten Sinne konventionell, legalistisch, formal und allgemein ist. Denn von der Realisierung der entsprechenden Strukturmerkmale hängt ja nach Habermas’ Einschätzung ab, ob rechtliche Institutionen und Regelungen als Verkörperungen von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen anzusehen sind oder nicht. Kommen dem Privatrecht also die Merkmale der Konventionalität, des Legalismus, der Formalität und der Allgemeinheit zu? Erstaunlicherweise wird diese Frage in der Schrift Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus nicht einheitlich beantwortet. An einigen Stellen dieser Aufsatzsammlung wird die Einschätzung geäußert, das Privatrecht sei konventionell, legalistisch, formal und allgemein, an anderen Stellen wird diese Auffassung kritisiert. Durchgängig vertritt Habermas die These, dass das Privatrecht konventionell, legalistisch und formal sei – das zeige eine Analyse der Interaktionen und Konfliktlösungen in privatrechtlich strukturierten Bereichen moderner Gesellschaften –; schwankend ist demgegenüber seine Haltung 291 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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in der Frage, ob dem Privatrecht auch das Merkmal der »Allgemeinheit« oder »Universalität« zukomme. Einerseits finden sich in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus Textstellen wie die folgende, an denen Habermas auf diese Frage eine positive Antwort gibt: »Die Institution des Lohnarbeitsvertrages, mit dem eine soziale Klasse der freien, von Traditionsbindungen der berufsständischen und feudalen Arbeitsorganisation freigesetzten Produzenten möglich wird, wird zum Kern eines freilich erst im 18. Jahrhundert voll entwickelten Privatrechtssystems. Dieses verkörpert universalistische Prinzipien und regelt den Verkehr der privaten Rechtssubjekte nach allgemeinen Normen, die Bereiche strategischen Handelns ausgrenzen – Bereiche für eine von konkreter Sittlichkeit entbundene Interessenverfolgung vereinzelter Privatleute.« (RHM 237 f.) 26
Andererseits enthält Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus Aussagen, mit denen ausdrücklich bestritten wird, dass das Privatrecht das Merkmal der »Allgemeinheit« tatsächlich aufweist. So stellt Habermas beispielsweise fest: »Gewiss hat die marxistische Kritik des bürgerlichen Rechts nachweisen können, dass Allgemeinheit der Gesetzesnorm in vielen Fällen nur dem Wortlaut und der Form nach, nicht aber in Ansehung der tatsächlichen Konsequenzen gesichert ist. Auch diese Kritik setzt aber noch den Anspruch voraus, der mit dem abstrakten Recht verbunden worden ist.« (RHM 265) Deshalb bediene »die Ideologiekritik […] sich der funktionalistischen Analyse von Rechtssystemen nur, um die uneingelösten normativen Geltungsansprüche einzuklagen, nicht um diese zu suspendieren« (RHM 267). Hält man sich an den Wortlaut der soeben zitierten Textstellen, dann wird man feststellen, dass Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus keine einheitliche Grundlage für die Beantwortung der Frage zur Verfügung stellt, ob das Privatrecht eine Verkörperung von postkonventionellen Strukturen des moralischpraktischen Bewusstseins ist oder nicht. Wie gesehen, wird diesem Recht das Merkmal der Allgemeinheit bzw. der Universalität nämlich sowohl zu- als auch abgesprochen. Wenn aber unklar ist, ob das Privatrecht postkonventionelle Bewusstseinsstrukturen verkörpert, ist ebenfalls unklar, welchen normativen Status dieses Recht hat und ob es gemäß dem Organisationsprinzip moderner Gesellschaften ein genuiner Bestandteil derselben sein kann. Denn für jenen Status und Auch an anderen Stellen seines Buches betont Habermas den »universalistischen« Charakter des Privatrechts. Vgl. z. B. RHM 37 und 173.
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
dieses Prinzip sind ja, wie erläutert, aus Habermas’ Sicht spezifische Strukturen des moralisch-praktischen Bewusstseins maßgebend. 27 Treffen diese Überlegungen zu, dann ist kaum zu erkennen, wie der von Habermas rekonstruierte Historische Materialismus die ihm eigenen Ziele erreichen kann. Wie gesehen, geht es dieser Theorie ja darum, zeitgenössische Gesellschaftsformationen im Rückgriff auf das Organisationsprinzip moderner Gesellschaften zu analysieren und zu klassifizieren. Sollte es ihr tatsächlich nicht gelingen, auf diesem Wege Klarheit über die für kapitalistische Austauschrelationen konstitutive Institution des Privatrechts zu erzielen, ist diese Variante des Historischen Materialismus aber in Gefahr, ihre Ziele zu verfehlen. Hier liegt der Einwand nahe, dass die von uns herausgestellte Unklarheit (bezüglich der Frage, ob das Privatrecht allgemein bzw. universalistisch ist) einen sachlichen Grund hat: Dort nämlich, wo dem Privatrecht dieses Merkmal zugesprochen wird, ist allein von der formalen Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen, nicht aber von den Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto Einkommens- und Vermögensverteilung (den »tatsächlichen Konsequenzen«) die Rede; dort hingegen, wo dem Privatrecht dieses Merkmal abgesprochen wird, bezieht sich »Allgemeinheit« bzw. »Universalität« nicht nur auf die formale Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen, sondern auch auf die Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto Einkommens- und Vermögensverteilung (die »tatsächlichen Konsequenzen«). Folglich hat die Kategorie der Allgemeinheit oder Universalität in unterschiedlichen Kontexten eine unterschiedliche Bedeutung. Diese Unterscheidung ist angemessen und sicherlich erhellend; allerdings beseitigt sie nicht die von uns herausgestellte Schwierigkeit bezüglich der Bestimmung des normativen Status des Privatrechts, sondern wirft im Gegenteil eine Reihe von Anschlussfragen auf, von denen unklar ist, ob sie im Rahmen des von Habermas vertretenen Historischen Materialismus zufriedenstellend erörtert werden können. Unterscheidet man zwischen einer formalen privatrechtlichen Allgemeinheit, deren »normative Geltungsansprüche« nicht »eingelöst« sind (nennen wir sie A-1), und einer Allgemeinheit, die sich sowohl auf die privatrechtlichen als auch auf die tatsächlichen »Gegebenheiten« bezieht und deren »normative Geltungsansprüche« »eingelöst« 27
Siehe oben, Teil III.
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Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch
sind (nennen wir diese Allgemeinheit A-2), dann wird man anzugeben haben, unter welchen sozialen Umständen A-2 gegeben ist. Bedarf es hierzu unter den Bürgerinnen und Bürgern materieller Gleichheit, fairer Chancengleichheit oder spezifischer anderer Verhältnisse? Und warum verhält es sich so und nicht anders? Darüber hinaus wird man darzulegen haben, warum A-2 in normativer Hinsicht A-1 überlegen ist. In Übereinstimmung mit dem methodischen Profil des Habermas’schen Historischen Materialismus wird man zu diesem Zweck den Nachweis erbringen müssen, dass A-2 in einem umfassenderen Sinne postkonventionelle Bewusstseinsstrukturen verkörpert als A-1 und deshalb gegenüber A-1 einen »Rationalitätszuwachs« realisiert. Nur wenn er eine zufriedenstellende Erörterung dieser Fragen ermöglicht, wird der Historische Materialismus in der von Habermas befürworteten Fassung in der Lage sein, zeitgenössische kapitalistische Gesellschaften angemessen zu analysieren und im Vergleich zu sozialistischen Gesellschaften auf methodisch kontrollierte Weise evolutionär zu klassifizieren. Und nur dann wird er auf dem Feld der zeitgenössischen Kapitalismuskritik ein ernst zu nehmender Kandidat sein können. Ob der Historische Materialismus diese Bedingungen erfüllen kann, ist eine Frage, die durch eine nähere Ausarbeitung dieses Theorietyps zu beantworten wäre. Eine solche Fortführung des Habermas’schen Forschungsprojekts würde auch zu erkennen geben, welche Tragweite und Plausibilität die Grundannahmen 28 des von ihm rekonstruierten Historischen Materialismus besitzen. 29
Entgegnung von Jürgen Habermas Es ist eine kluge Strategie, die komplexe Anlage einer Theoriekonstruktion dadurch zum Einsturz zu bringen, dass man ein Element herauszieht, das für die Statik des Ganzen entscheidend ist. Hans-Christoph Schmidt am Busch möchte der Evolutionstheorie, in der die Rechtsentwicklung einen prominenten Stellenwert genießt, nachweiSiehe oben, Teil III. Ich danke Smail Rapic für seine freundliche Einladung, ein Kapitel zu dem vorliegenden Buch beizusteuern. Michael Quante danke ich für einige wertvolle Hinweise zu einer früheren Fassung meines Beitrags.
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Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch
sen, dass sie von den Grundlagen des Privatrechts keine widerspruchsfreie Beschreibung geben kann. Dabei sitzt er allerdings einem schlichten Missverständnis auf. Er verkennt nämlich die Absicht meiner kurzen, als Seminarvorlage gekennzeichneten »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. Das Argument, das später den Grundgedanken von Faktizität und Geltung bilden wird, richtet sich auch hier schon gegen ein funktionalistisches Verständnis des modernen Rechts. Demnach dient das bürgerliche Privatrecht aufgrund der subjektivrechtlichen Form der Wirtschaftsfreiheiten zwar auch den Funktionen, die die Wirtschaftsbürger in einer kapitalistischen Gesellschaft erfüllen. Aber das moderne Recht, das ja nicht nur aus Privatrecht besteht, geht in der Erfüllung dieser Funktionen nicht auf. Auf der postkonventionellen Stufe der Rechtsentwicklung unterliegen vielmehr alle Rechtsnormen einem grundsätzlichen Rechtfertigungsbedarf. Und diese »strukturell notwendig gewordene Rechtfertigung« (RHM 267), so heißt es in dem herangezogenen Papier ausdrücklich, kann allein durch eine Interessen verallgemeinernde demokratische Gesetzgebung befriedigt werden. Das Argument, das Christoph Schmidt am Busch gegen mich wenden möchte, ist die Pointe der ganzen Überlegung: An den Verhältnissen jeder Klassengesellschaft ist abzulesen, dass die Form subjektiver Rechte allein die Rechtsinhaltsgleichheit nicht gewährleisten kann. Marx, der Jurist, hat übrigens seine Mehrwerttheorie auf dem Gedanken der systematischen Verwechslung von formaler und inhaltlicher Rechtsgleichheit aufgebaut: Beim Tausch des Gebrauchswerts Arbeitskraft gegen den als Lohn entrichteten Tauschwert, den die Arbeitskraft für den Unternehmer hat, verdeckt die formale Rechtsgleichheit der Vertragspartner die durch die Transformation der »lebendigen« Arbeit in eine Ware besiegelte Differenz des Mehrwertes. Was der Aristoteliker Marx nicht gesehen hat, ist der Umstand, dass der von ihm für die Verteilungsgerechtigkeit umstandslos unterstellte Maßstab des »Äquivalententauschs« noch nicht die Frage nach dem Gesichtspunkt der Rechtsinhaltsgleichheit beantwortet, unter dem jeweils Gleiches als gleich und Ungleiches als ungleich behandelt werden sollen. Das ist eine moralisch-praktische Frage der Interessenverallgemeinerung, die nach Maßgabe des modernen Rechts selbst nur auf dem Wege einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung legitim beantwortet werden kann.
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Michael Quante
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens: Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur »Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.« Karl Marx
Über das Verhältnis zwischen dem Werk von Jürgen Habermas und dem Historischen Materialismus, den man primär mit den Namen Karl Marx und Friedrich Engels verbindet, nachzudenken, oder gar sich öffentlich zu äußern, ist kein leichtes und ein in mancher Hinsicht riskantes Unterfangen. Denn die Theorie von Jürgen Habermas ist komplex und hat sich ständig weiterentwickelt. Sie wird von ihrem Betreiber seit mehr als fünfzig Jahren mit politischer und philosophischer Intelligenz durch die diversen Krisenzeiten gesteuert und bietet deshalb kein sicheres Ziel. Auch das »Historischer Materialismus« benannte Theoriegebäude stellt keinen eindeutigen Bezugspunkt dar, denn es ist weder klar, welche Annahmen von seinen Erbauern hinzugezählt worden sind, noch trivial zu bestimmen, was diese Aussagen genau besagen (von der Frage ihrer angemessenen Begründung ganz zu schweigen). 1
Hinzu kommt, dass Theoriengebäude und Fragestellungen dieses Kalibers für mein persönliches philosophisches Gemüt eine Nummer zu groß sind und ich lieber in den Kapillaren der philosophischen Argumente und Begriffe arbeite als auf solchen Abstraktionshöhen; die immer noch ausführlichste Darstellung des durch die Tagung benannten Zusammenhangs ist Tom Rockmore: Habermas on Historical Materialism. Bloomington 1989.
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
Aus diesem Grund möchte ich sowohl das Gebirgsmassiv »Historischer Materialismus« umgehen als auch der Flugbahn des Werks von Jürgen Habermas ausweichen, um von der Seite herkommend an einer Flanke bzw. auf dem Nebenschauplatz der biomedizinischen Ethik anzusetzen. Ich hoffe dabei, mit meinen Nachfragen fast bis ins Zentrum der Habermas’schen Philosophie vorzudringen und gleichzeitig ein Minimalverständnis davon anklingen zu lassen, was wir heute systematisch fruchtbar als Historischen Materialismus verstehen können. Der Titel dieses Beitrags verweist auf einen zentralen Bestandteil der philosophischen Konzeption von Karl Marx, von dem ich hoffe, dass er – wie das Gespenst des Kommunismus im Manifest – in die gegenwärtigen Debatten der Praktischen Philosophie zurückkehren kann. 2 In den letzten Jahren hat Jürgen Habermas zumindest mich zwei Mal überrascht. Die eine Überraschung war seine Hinwendung zur philosophischen Beschäftigung mit Religion und seine Debatte mit (vor allem der katholischen) Theologie. Stellt dies, zumindest in einer bestimmten Hinsicht, eine Rückkehr zu früheren Themen und Motiven seines Denkens dar, so scheint dies bei der zweiten Überraschung anders zu sein: Vor gut einem Jahrzehnt hat Habermas mit seinem Buch Die Zukunft der menschlichen Natur in die deutsche Bioethikdebatte eingegriffen und, so der Untertitel dieses Bandes, die Frage gestellt, ob wir auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik sind oder diesen Weg beschreiten dürfen. 3 Meine Rückbesinnung auf Marx nimmt zwei Prämissen in Anspruch, die in diesem Beitrag nicht begründet werden können: Erstens verstehe ich die Marx’sche Theorie in ihrem Kern als eine kritische philosophische Anthropologie; und zweitens unterstelle ich, dass es auf der basalen begrifflichen Ebene der philosophischen Theoriebildung bei Marx eine Kontinuität der zentralen Prämissen, Konzeptionen und Beweisziele gibt. Vgl. hierzu Michael Quante »Kommentar«. In: Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, herausgegeben und kommentiert von Michael Quante. Frankfurt a. M. 2009, S. 209–410 und ders.: »Karl Marx«. In: Michael Forster & Kristin Gjesdal (Hrsg.): Oxford Handbook to German 19th Century Philosophy. Oxford (im Erscheinen), sowie zur systematischen Relevanz der Marx’schen Konzeption des gegenständlichen Gattungswesens Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Berlin 2011 und ders.: »Das gegenständliche Gattungswesen. Bemerkungen zum intrinsischen Wert menschlicher Dependenz«. In: Rahel Jaeggi & Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin 2013, S. 69–88. 3 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001. Ich verweise auf diesen Band mit Die Zukunft und zitiere unter Verwendung der Sigle Z unter Angabe der Seitenzahl direkt im Haupttext. 2
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Michael Quante
Es geht in meinem Beitrag darum, eine Klärung über die Konzeption der menschlichen Natur, die Habermas in Die Zukunft vorgelegt hat, herbeizuführen. Dabei habe ich dem übergeordneten Thema »Habermas und der Historische Materialismus« Rechnung getragen, indem ich der Frage nachgegangen bin, ob sich in Die Zukunft Spuren der Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit der Philosophie von Karl Marx entdecken lassen. Wie ich glaube, bin ich dabei nicht nur fündig geworden, sondern durch diese Perspektive auf den Text auch in der Lage, eine philosophisch hoffentlich attraktive Einladung zu formulieren. Es geht also nicht um das Aufstellen von Gegenthesen, sondern um Aufklärung bei Verständnisproblemen, die sich einstellen können, wenn man Die Zukunft unter der Fragestellung liest, welchen Status Habermas der menschlichen Natur darin zuschreibt und welche Rolle der Gattungsethik und dem Gattungswesen, das in Die Zukunft an einigen Stellen sein Wesen treibt, zukommen. Bedauerlicherweise verfügt dieser Band über kein Register, aber meine Spurensuche zeigt, dass sich dort Kategorien wie Instrumentalisierung, Naturwüchsigkeit, Verdinglichung und der prominente Hinweis auf ökonomische Interessen finden, also Denkfiguren, die man genauso gut in einer Abhandlung über die Pariser Manuskripte von Marx vermuten könnte. 4 Liest man Die Zukunft unter dem Aspekt eines möglichen Bezugs zur philosophischen Anthropologie von Marx, wird eine affine Begrifflichkeit in der Argumentation sichtbar. Hierbei handelt es sich, dies ist zumindest die Vermutung, der ich im Folgenden nachgehen möchte, nicht nur um eine oberflächliche Reminiszenz. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden und die Diskussion nicht auf ein anderes Feld zu verlagern, sei vorab explizit gesagt, dass meine Überlegungen in diesem Beitrag nicht dazu gedacht sind, mit Jürgen Habermas über biomedizinische Fragen zu streiten. Ich gehe so vor, dass ich einige für mein Anliegen wichtige Aspekte der Konzeption der menschlichen Natur aus Die Zukunft darstelle und anschließend einen Rückblick einschalte, der aber nicht einer philosophiehistorischen Einordnung und Stilllegung des Werkes und des Denkens von Jürgen Habermas dienen soll. Die Absicht ist vielmehr, einige kleine Splitter aus der Habermas’schen Beschäftigung mit dem Historischen Materialismus zu präHier eine kleine, keine Vollständigkeit beanspruchende Aufstellung: »Verdinglichung« (Z 41, 89, 90, 92 und 123), »Instrumentalisierung« (Z 58, 70, 117 und 122), »Gattungswesen« (Z 45, 50, 54, 71–77 und 115) und »Naturwüchsigkeit« (Z 49).
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sentieren, die ich gerne in Die Zukunft einpflanzen möchte, um zu sehen, ob sich auf dieser Grundlage eine produktive Perspektive entwickeln lässt. Dabei werde ich meinen Klärungs- und Diskussionsbedarf artikulieren, bevor ich am Ende dieses Beitrags einen kleinen, allerdings sehr fragilen und vorläufigen Ausblick gebe.
I. 1. Ein fundamentales, die Gesamtkonzeption der Praktischen Philosophie betreffendes Thema, das in Die Zukunft eine zentrale Rolle spielt, ist das Verhältnis von Moral und Gattungsethik (vgl. Z 124). Jürgen Habermas kommt angesichts bestimmter humangenetischer Optionen zu dem Ergebnis, dass man diese neuen Möglichkeiten in normativer Hinsicht allein mit den Mitteln einer rein deontologischen Moral, die den Standards nachmetaphysischer Universalisierbarkeit und Neutralität genügt, nicht in den Griff bekommt (vgl. Z 70 f. und 121). Hier müsse man andere normative Ressourcen aktivieren, die er dann unter der Überschrift von Gattungsethik und Gattungswesen, aber auch von Anthropologie ist die Rede, ins Spiel bringt. Dabei ist für ihn die Frage leitend, wie die im strengen deontologischen Sinne verstandene Unantastbarkeit der Person in dem, was Habermas die Unverfügbarkeit ihres natürlich-leiblichen In-der-Welt-Seins nennt, verankert und verwurzelt ist (vgl. Z 62 f.). Die Leitfrage des Buches ist nicht nur deshalb interessant, weil man, von Hegel herkommend, das Verhältnis von universalistischer deontologischer Moral zur Hintergrundsittlichkeit ohnehin immer schon genau andersherum verstanden hat, als es die Konzeption von Habermas vorsieht. 5 Diese Gedankenbewegung ist auch bedeutsam, weil sich die Geschichte von Kant über Hegel und Feuerbach zu Marx als eine Bewegung der Verleiblichung und Sozialisierung der menschlichen praktischen Vernunft sowie der Betonung ihrer sozialen Situiertheit verstehen lässt. Die von Jürgen Habermas in Die Zukunft aufgeworfene Problemstellung bringt sein Projekt in die Nähe von Fragestellungen, die man zwanglos mit dem Historischen Materialismus verbinden kann. Er kommt damit auch der mich selbst systematisch beschäftigenden Frage sehr nahe, wie man das Verhältnis von anthropologischem Fundament 5
Vgl. dazu Kapitel 13 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).
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Michael Quante
sowie gattungsethisch unverzichtbaren Elementen der Vorstellung eines guten und gelingenden Lebens zur deontologischen Moral, die viele als Zentrum des Normativen und philosophisch einzig gut begründbaren Kern einer modernen Moral ansehen, bestimmen sollte. 2. Der zweite große Themenbereich in Die Zukunft wird durch das Wort »Unverfügbarkeit« markiert, das die eine Seite der Dichotomie (oder des Verhältnisses) von Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit ausmacht. Wenn ich richtig sehe, wird »Unverfügbarkeit« in Die Zukunft auf zwei unterschiedliche Weisen verwendet: deskriptiv steht es für dasjenige, worüber wir faktisch, d. h. unter gegebenen technischen Bedingungen, nicht verfügen können. Trotz seiner durchaus deutlichen Abgrenzung von und Zurückweisung des Projekts der Transhumanisten stellt Habermas in diesem Kontext selbst Hochrechnungen (in Form von Gedankenexperimenten) an und fragt, was uns aus dem technischen Fortschritt und der Steigerung der Beherrschung der (menschlichen) Natur erwachsen könnte. Doch auch diese prognostische Dimension verbleibt auf der Ebene der deskriptiven Unverfügbarkeit. Neben diese deskriptive tritt, als eine zweite Verwendungsweise, was man die normative Unverfügbarkeit nennen könnte. Gemeint ist hiermit, dass etwas als aus normativen Gründen unverfügbar ausgewiesen werden kann, wobei dies nicht als direkte »Moralisierung der menschlichen Natur […] im Sinne einer fragwürdigen Resakralisierung« durchgeführt werden soll, sondern im Sinne einer Reflexions- und Begründungsfigur, die der »Selbstbehauptung eines gattungsethischen Selbstverständnisses« (Z 49) dient. 3. Als dritter, für meine Überlegungen wichtiger Aspekt ist die Opposition ›naturwüchsig‹ versus ›geplant‹ zu nennen, die in Die Zukunft eine tragende Rolle spielt, weil Habermas aus ihr einen Großteil seiner Besorgnis oder auch des normativen Gegengewichts gegen bestimmte Möglichkeiten der Humangenetik gewinnt (vgl. Z 81 ff.). Im Kern geht es mir darum zu verstehen, was ›menschliche Natur‹ in Die Zukunft heißt, wie ihr normativer Status bestimmt und wie diese Konzeption normativ angelegt ist. Die sich dahinter verbergende Frage scheint zu sein: Sollten wir diese humangenetischen und andere Biotechnologien als Humanisierung der (menschlichen) Natur, so vielleicht die Perspektive von Marx Mitte der 1840er Jahre, ansehen oder müssen wir sie als eine bloße Instrumentalisierung des Individuums, so die gegenwärtige Einschätzung von einigen strikten Deontologen, aber auch von (katholischen) Naturrechtslehrern, begreifen? Die Argumen300 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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tation in Die Zukunft hat bei mir, als ich sein Essay mit Blick auf den Historischen Materialismus wieder gelesen habe, ein uneinheitliches Bild ergeben: Verfolgt Habermas klar die eine oder die andere Linie, steht er irgendwo dazwischen oder gelingt es ihm, diese Opposition zu unterlaufen? Mit anderen Worten: Was ist aus moralphilosophischer und gattungsethischer Perspektive zu diesem Spannungsverhältnis zwischen einem humanistischen Naturalismus und einem reduktionistischen Humanismus zu sagen? Diese Frage, die auch Jürgen Habermas meinem Eindruck nach in Die Zukunft umtreibt, benennt eine der grundlegendsten Herausforderungen unserer biotechnologischen Weiterentwicklung, die sich in vielen Bereichen der Medizin – aber nicht nur dort – vollzieht.
II. Im ersten Schritt möchte ich kurz auf zwei ältere Arbeiten von Jürgen Habermas eingehen, die für unsere Fragestellung aufschlussreich sind. In dem Aufsatz über die Rekonstruktion des Historischen Materialismus findet sich folgende Aussage: »Ich habe ein Problemspektrum der Selbstkonstituierung der Gesellschaft vorgeschlagen, das von der Abgrenzung gegen die Umwelt, über die Selbststeuerung und den selbstgesteuerten Austausch mit der äußeren Natur bis zum selbstgesteuerten Austausch mit der inneren Natur reicht.« (RHM 183) Das ist ein Programm der zunehmenden Humanisierung der Naturvorgegebenheiten. So lässt es sich zumindest lesen – als eine Entwicklungslinie, die es geben kann. Mein zweiter Rückblick bezieht sich auf Die Rolle der Philosophie im Marxismus. Dort wird ausgesagt, dass der Diamat sehr unvorsichtig gewesen sei, weil er bestimmte Inhalte wie z. B. Grundauffassungen vom Wesen der Natur, der Geschichte und des Denkens dogmatisiert und als invariant dargestellt habe (vgl. RHM 56). Vermutlich ist nicht nur der Diamat, sondern auch die (katholische) Naturrechtslehre dieser Versuchung erlegen; und wir werden gleich noch fragen müssen, ob sie auch in Die Zukunft Spuren hinterlassen hat. Mit Blick auf die gesellschaftliche und politische Dimension, die Aussagen im Kontext der biomedizinischen Ethik unweigerlich haben, ist für uns auch noch folgende Überlegung von Habermas interessant: Die Rolle der Moralphilosophie, heißt es mit Bezug auf die Studentenrevolte sinngemäß in diesem frühen Aufsatz, könnte sein, eine 301 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Michael Quante
»geschärfte Sensibilität für die Verletzung universalistischer Grundsätze und das Fehlen solidarischer Lebensformen« zu erzeugen, die »eine Herausforderung für jedes System« ist, eine integrierende Wirkung jedoch »allenfalls für Gegenkulturen, aber gewiss nicht für eine Gesellschaft, die ihre Legitimationsbeschaffung den Einrichtungen einer Konkurrenzdemokratie unterwirft und zugleich Klassenstrukturen aufrecht erhält«, haben kann (RHM 52). Eine bestimmte Form des praktischen Denkens taugt also nur für die betroffenen Gruppen oder für die an den Rand Gedrängten, und ist gerade nicht für die allgemein normative Selbstverständigung in kapitalistisch verfassten Gesellschaften geeignet. Vor diesem Hintergrund habe ich mich gefragt, ob die normative Intervention von Die Zukunft diesem Projekt zuzuordnen ist. Vielleicht ist das Leitmotiv die Einschätzung, dass wir gegenwärtig angesichts der geballten Kraft des neoliberalen, naturalistischen und ökonomistischen Denkens als kritische Intellektuelle wieder nur noch eine Position formulieren können, die fast nur noch den Betroffenen und den an den Rand Gedrängten, die den ökonomischen Interessen ausgeliefert sind, verständlich zu machen ist, weil nur sie über die entsprechenden Leiderfahrungen mit den Schattenseiten dieser Technisierung verfügen. Diese Lesart, die bei mir persönlich auf große Sympathie stieße, passt allerdings nicht besonders gut zu dem starken normativen Anspruch, den Habermas der Moralphilosophie insgesamt zuerkennt und zu der eingeräumten Chance einer normativen Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse trotz all unserer gegenwärtigen Probleme. 6
III. In Die Zukunft stellt Habermas einen konstitutiven Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und gelingendes Leben in Freiheit zu führen, und der Voraussetzung eines darin enthaltenen natürlich Unverfügbaren als Vorgabe dieser individuellen Selbstbestimmung her; er spricht von »Erhaltungsbedingungen« (Z 49) und Zu denken ist hier beispielsweise an seine Interventionen in die gegenwärtige Krise der Europäischen Union, in der er normativ fundierten Kontrollmöglichkeiten rein ökonomischer Interessen durchaus Chancen einräumt.
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einem Passungsverhältnis (vgl. Z 74). Zu fragen ist aber, was der Hinweis auf die Natürlichkeit dieses Unverfügbaren argumentativ austrägt? Macht es für das jeweilige Individuum mit Blick auf seine eigene Lebensführung wirklich einen so bedeutenden Unterschied, ob diese Vorgaben aus der unbeherrschten Natur stammen anstatt soziale oder technisch induzierte Ursprünge zu haben? Mit der Möglichkeit, bestimmte Merkmale eines Menschen durch humangenetische Eingriffe zu verändern oder auch nur auf der Grundlage genetischer Informationen zu selektieren, ergeben sich neue und ethisch nicht triviale Probleme der Zuschreibung von Verantwortung. Doch die Frage ist, ob dieser Unterschied so gravierend ist, dass man mit ihm kategorische Verbote begründen und hier eine prinzipielle moralische Kluft verorten kann. Habermas ist an dieser Stelle vorsichtig und bekundet, dass er zwar das Motiv, hier eine kategoriale Grenze anzusetzen, teilt, aber nicht glaubt, dass wir gut beraten sind, sie mit dem starken Begriff der Menschenwürde zu begründen, weil sich dies nicht in einer Weise durchführen lässt, die den auch von ihm postulierten Anforderungen an universalistisch starke Moralbegründungen genügt (vgl. Z 70 f.). 1. Versagt man sich diesen Weg, dann bleibt erstens zu fragen, ob wir uns hier in einem Abwägungsprozess befinden? Jenseits der naturrechtlichen, auf eine kategoriale moralische Differenz drängenden Obertöne erzählt Die Zukunft eine zweite Geschichte. Dieser zufolge fällt uns, wenn wir keine kategorialen Grenzen ziehen können, die Aufgabe zu, mit schwächeren Begründungsinstrumentarien zu arbeiten, wenn wir vermeiden wollen, aufgrund der Grenzen der universalistischen Moral alle Wunschvorstellungen, die eventuell auf der Grundlage von pervertierten oder marktkonformen individuellen Präferenzen, die weder moralisch noch ethisch gefiltert sind, als Ausdruck individueller Selbstbestimmung schlicht zu legalisieren: »Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen Wegweiser halten.« (Z 121) Diese zweite Option wird durch die starken moralischen Deklarationen in Die Zukunft gelegentlich überlagert, sodass es schwer fällt, sie überhaupt klar zu erkennen. Deshalb wäre es gut zu wissen, wie in den Augen von Jürgen Habermas ein verantwortungsvoller Umgang mit der menschlichen Natur im Zeitalter ihrer humangenetischen Veränderbarkeit aussehen könnte, mit welchen philosophischen Mitteln wir, und an welchen Stellen, ethische Grenzen ziehen und auch gegen identifizierbare Verwertungsinteressen mit den Mitteln der Gattungs303 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Michael Quante
ethik verteidigen sollen. So klar wie die (bloße) Fiktion einer vollständigen Vorherbestimmung der Individualität eines Menschen durch Planungsentscheidungen der Erzeuger auf die verbotene Seite fällt, so klar fällt die vielleicht in nicht mehr allzu ferner Zukunft mögliche Chance, schweres Leiden durch Beseitigung eines monokausal wirksamen Gendefekts zu vermeiden, auf die des ethisch (mindestens) Erlaubten. 2. Ein zweiter Fragenkomplex zielt auf einige in Die Zukunft aktivierte Unterscheidungen, die in unserem alltäglichen Weltverständnis tief verankert sind und auf eine letztlich aristotelisch-lebensweltliche Ontologie zurückgehen: die Unterscheidung von Natürlichem und Artifiziellem, von Natürlichem und Gemachtem sowie von Subjektivem und Objektivem. 7 Werden diese tief verwurzelten Unterscheidungen als diagnostisches Instrument eingesetzt, um die Quelle für bestimmte ethische Besorgnisse, die sich im gesellschaftlichen, politischen und bioethischen Diskurs artikulieren, zu identifizieren? Dies legt seine Formulierung nahe, er wolle »etwas zur diskursiven Klärung unserer aufgescheuchten moralischen Gefühle« (Z 44) beitragen. Oder werden sie in der Argumentation, die Habermas in Die Zukunft entwickelt, letztlich doch zu einer ontologisch invarianten Struktur umgedeutet, um auf diesem Wege aus ihnen kategorische normative Differenzen gewinnen zu können (so etwa Z 101 und 115)? Die Überlegungen von Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur sind, wenn ich richtig sehe, in diesem Punkt nicht eindeutig. Seine Sympathie (und vielleicht auch sein politisches Bedürfnis) gilt der stärkeren Variante einer Verankerung kategorischer moralischer Differenzen entlang dieser Unterscheidungen; die Argumentation verfährt aber zumeist eher entlang einer hermeneutisch-kritischen Selbstverständigung, die mit wesentlich schwächeren Ansprüchen auskommen muss, dafür aber auch mit wesentlich weniger anspruchsvollen Beweislasten auskommen kann. Der gesamte Duktus von Die Zukunft passt jedenfalls sehr gut zu diesem Projekt einer hermeneutisch-kritischen Orientierung, geht es doch primär darum, die »aufgescheuch-
Hinsichtlich der philosophischen Verortung dieser Unterscheidungen besteht, soweit ich sehe, zwischen Habermas und mir Einigkeit, vgl. Quante: »Ein stereoskopischer Blick?« In: Dieter Sturma (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 124–145.
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ten« ethischen Intuitionen des beunruhigten Bürgers mittels dieser Denkfiguren und Kategorien besser zu verstehen. 3. An zumindest einer Stelle wird in Die Zukunft nahe gelegt (oder zumindest die Hoffnung ausgesprochen), dass sich aus all den im bioethischen Diskurs vorfindlichen anthropologischen, religiösen oder philosophischen Selbstreflektionen doch eine minimale invariante Essenz herausdestillieren lässt, die auf der anthropologischen Seite als Korrespondent der universalistischen Vernunftmoral fungieren könnte: »Es geht nicht um die Kultur, die überall anders ist, sondern um das Bild, das sich verschiedene Kulturen von ›dem‹ Menschen machen, der überall – in anthropologischer Allgemeinheit – derselbe ist« (Z 72). Da dieser Kern als Fundament der universalistischen Vernunftmoral, die, wenn die Differenz zur Ethik wasserfest bleiben soll, a priori, invariant und strikt universal ist, dienen soll, steht zu vermuten, dass auch dieser anthropologische Kern invariant und universal zu sein hätte. Daran änderte auch die Tatsache oder das Zugeständnis nichts, dass wir diese Essenz a posteriori empirisch gewonnen haben. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei dem fraglichen anthropologischen Kern der menschlichen Natur, der diese Last tragen soll, letztlich doch um eine Art Naturrechtssurrogat des Wesens des Menschen handeln muss. 8 Im Rahmen einer auf Orientierung zielenden kritischen Hermeneutik würde man bei der schwächeren Annahme bleiben, dass es einen historisch und sozial variablen, jedem Individuum und jeder Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt aber vorgegebenen strukturellen Rahmen gibt, innerhalb dessen jedes Individuum und jede Gesellschaft das menschliche In-der-Welt-Sein auszubuchstabieren hat. Dieser Rahmen ist inhaltlich bezüglich nahezu all unserer materialen Fragen unterbestimmt, sobald man sich diesseits des Prinzipiellen bewegt. Wenn es um komplexe Abwägungen geht, müssen wir bei allen Eingriffen und technischen Optionen mit in unsere Überlegungen einbeziehen, welche Effekte sie für den gegebenen anthropologischen Rahmen und das an ihn gebundene Selbstverständnis des Menschen haben (oder hätten). In dieser Konstellation fungiert dieser Rahmen als Indikator für Störphänomene oder zu ihrer philosophischen Auf-
Die von Habermas verwendete Redewendung »geradezu transzendental« (Z 76) trägt leider auch nicht wirklich zur Aufklärung dieses Sachverhalts bei.
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Michael Quante
hellung; er dient nicht als normativ-ontologische Tiefengrammatik für die moralische Tabuisierung von Optionen. Wie die Argumentation in Die Zukunft letztendlich gedacht ist, wird meinem Leseeindruck nach nicht ganz klar; und man muss fairer Weise sagen, dass Jürgen Habermas nur einmal so weit aus der Deckung geht zu sagen, dass wir durch die Auswertung all dieser kulturellen Selbstdeutungen vielleicht eine universale Kernessenz des Menschen als Gattungswesen identifizieren können. Festzuhalten bleibt jedoch, dass damit ein Bild entworfen wird, welches mit einer historischen, eher situierten und offenen Form der Selbstverständigung anthropologischer Art nicht zusammen passt. Letztlich geht es um die intendierte Begründungsstärke der vorgetragenen Argumente (oder darum, welche Beweislasten man sich selbst bzw. der praktischen Vernunft zutraut): Will man mit diesen Überlegungen prinzipielle moralische Einwände formulieren oder Indikatoren für Gesellschaftskritik identifizieren? Ist Naturwüchsigkeit im Sinne der nicht durch Handlungsintentionen geplanten leiblich-genetischen Ausstattung von Individuen ein Dogma, das unangreifbar über dem Recht der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung steht? Oder besteht unsere Aufgabe darin, immer wieder zu definieren, was wir an unseren zwischenmenschlichen Beziehungen verändern, wenn wir die Naturwüchsigkeit neu und anders gestalten? Selbst bei den verrücktesten transhumanistischen Visionen bleibt am Ende ja immer noch irgendetwas an Naturwüchsigkeit – zumindest aus der Sicht des jeweiligen Individuums – erhalten. Folgt man der Argumentation von Habermas in Die Zukunft, dann ist die für die normative Bewertung allein entscheidende Frage, ob das dem Individuum naturwüchsig Vorgegebene technisch induziert oder Resultat individueller (oder auch sozialer) Entscheidungen ist oder aber Resultat unverfügbarer Natur. Aus dieser Differenz soll sich, so zumindest die eine Linie der Argumentation, die moralische Unzulässigkeit jeder Form von ›eugenischen‹ Eingriffen begründen lassen, und zwar in Form einer kategorischen Ablehnung, die sich nicht auf das komplexe und zu differenzierenden Antworten führende Feld der Abwägung begibt. Es ist unbestreitbar, dass die Grenzziehung zwischen Therapie und Enhancement in den Grenzgebieten nicht klar zu ziehen ist; und der Übergang zwischen Krankheit und optimierter Gesundheit weist sicher eine Grauzone auf. Es gibt jedoch auch klare Fälle und somit stellt sich die Frage, was gegen therapeutische oder auch milde 306 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
optimierende Eingriffe spricht, wenn diese als Ermöglichungsbedingungen dafür, dass das jeweils betroffene Individuum ein selbstbestimmtes Leben überhaupt oder in höherem Maße führen kann, intendiert sind und auch so wirken. Mit anderen Worten: Es gibt nicht nur die klaren Fälle einer manipulativen Eugenik, die jede plausible Ethik verbieten wird und von denen die Argumentation in Die Zukunft unterschwellig lebt; es gibt auch die vielen realistischen Konstellationen, in denen eine prinzipielle moralische Tabuisierung wenig plausibel erscheint. Wenn man auf der Suche nach den Spuren ist, die der Historische Materialismus im Denken von Jürgen Habermas in seiner bioethischen Intervention hinterlassen hat, ergibt sich folgender Befund: Der Begriff der Naturwüchsigkeit wird in Die Zukunft anders eingesetzt als in den Kontexten, die sich mit dem philosophischen Marx beschäftigen (vgl. Z 49). In letzteren benennt Naturwüchsigkeit primär die Aufgabe ihrer Überwindung, im Sinne der Aufhebung der Undurchschautheit von Abhängigkeitsverhältnissen sozialer und natürlicher Art, die uns in verdinglichter Weise als invariante Natur erscheinen. An die Stelle dieser Undurchschaubarkeit soll, hier liegt sicher ein aufklärerisches Erbe im Denken von Karl Marx, eine transparente und gerechte, die Individuen in ihrer individuellen Bedürftigkeit anerkennende Selbstbestimmung treten, die wir im Rahmen einer Gattungsethik auszubuchstabieren und in geeigneten sozialen Institutionen zu realisieren haben. Die mich umtreibende Frage lautet: Ist dies terminologisch ein bloßer Zufall, oder wird hier bewusst die Seite gewechselt? Mit Marx würde man sagen, Naturwüchsigkeit soll durch rationale Selbstbestimmung – im Lichte nicht von ökonomischen, sondern allgemeinen humanen Werten – soweit aufgehoben werden, wie dies für eine selbstbestimmte Lebensführung des leiblich und sozial verfassten Gattungswesens Mensch erforderlich ist. So gelesen wäre aber eine kategorische Ablehnung sämtlicher humangenetischer Eingriffe nicht zu begründen. Darüber hinaus könnte man auch an die These der Deutschen Ideologie erinnern, dass eine Interpretation der Natur als invariantes und normative Geltung verbürgendes Fundament selbst noch Ausdruck der Erfahrung von Ohnmacht gegenüber einer übermächtigen Natur ist, die sich dieser Abhängigkeit in mystischer oder naturreligiöser Form bewusst wird (vgl. MEW 3, S. 31). Es gibt also Klärungs- und Diskussionsbedarf: Gelten die zu jedem Zeitpunkt vorgegebenen Rahmen unserer Natürlichkeit und Leiblich307 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Michael Quante
keit, die sich melden, wenn wir neue Optionen der Technisierung unserer menschlichen Natur entwickelt haben oder hypothetisch erwägen, als invariante, sozusagen existential-ontologische oder naturrechtlich-ontologische side-constraints, die wir generell zu respektieren haben? Oder sind sie, dies wäre die Alternative, als kontingentkonstitutive Voraussetzungen gedacht? 9 Damit ist gemeint, dass diese Vorbedingungen unser Selbstverständnis zu einem gegebenen Zeitpunkt faktisch konstituieren, aber weder im Sinne einer begrifflichen noch einer naturgesetzlichen Notwendigkeit invariant oder unverfügbar sind. So konzipiert funktionieren sie nicht als deontologische, für Abwägungen nicht zur Verfügung stehende side-constraints: Sie prägen unser evaluatives Selbstverständnis als menschliche Personen und wenn wir sie modifizieren wollen, müssen wir in unsere Abwägung mit einbeziehen, wie wir uns zu den sich aus den Änderungen des Rahmens ergebenden Veränderungen unseres individuellen und gattungsmäßigen Selbstverständnisses verhalten wollen. Die Tatsache, dass es diesen kontingent-konstitutiven anthropologischen Rahmen gibt, reicht als moralische Begründung, an ihnen nicht rühren zu dürfen, nicht aus. Es macht, sowohl philosophisch als auch gesellschaftlich und politisch, einen großen Unterschied, ob man Natürlichkeit als Tabu aufstellt, oder als eine in der Ethik zu berücksichtigende Größe einführt. Es wäre hilfreich zu wissen, ob die Suche nach dem Schutzwall gegen eine instrumentalisierte humangenetische Indienstnahme des Individuums in Die Zukunft von der Überzeugung geleitet wird, wir könnten ihn nur halten, wenn wir über ein invariantes Fundament verfügen. Das würde die Suche nach einer unverfügbaren Essenz der menschlichen Natur und den Schutz der Naturwüchsigkeit als solcher erklären. Und das Motiv für diesen Zug in der Argumentation von Habermas wäre dann nicht die mystische Verarbeitung eines Ohnmachtgefühls gegenüber einer übermächtigen Natur, sondern Ausdruck seines tiefen Skeptizismus, dass selbst eine demokratisch verfasste Gesellschaft prinzipiell nicht in der Lage ist, die institutionellen Rahmenbedingungen bereitzustellen, die dafür notwendig sind, mit den neuen Handlungsoptionen, die uns die Fortschritte in den Lebenswissenschaften an die Hand geben, in moralisch verantwortbarer Weise umzugehen. Als Alternative, die meines Erachtens zum Grundtenor Vgl. dazu Vieth, Andreas & Quante, Michael: »Chimäre Mensch?« In: Kurt Bayertz (Hrsg.): Die menschliche Natur. Paderborn 2005, S. 192–218.
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der Praktischen Philosophie von Jürgen Habermas wesentlich besser passt, bliebe die Möglichkeit, auf geltungstheoretisch schwächeren Fundamenten genauso kämpferisch für eine humane Gesellschaft einzutreten und die Strukturen unserer Gesellschaft zu identifizieren, die einen humanen Einsatz der neuen Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung erschweren oder gar verhindern können.
IV. In Die Zukunft findet sich an einer Stelle ein kurzer Hinweis darauf, dass es im Vorfeld der Veröffentlichung dieses Textes eine Diskussion um die geltungstheoretische Strategie, die Habermas hier verfolgt, gegeben hat. Da sie dazu dienen kann, die argumentative Linie, die ich in diesem Beitrag verfolge, klarer zu machen, zitiere ich die Passage in ganzer Länge – Jürgen Habermas schreibt: »Rainer Forst hat mich mit scharfsinnigen Argumenten davon zu überzeugen versucht, dass ich mit diesem Zug vom Pfade der deontologischen Tugend ohne Not abweiche.« (Z 121, Fn. 70) Es wäre leicht, diese Bemerkung in dem Sinne zu verstehen, dass es um die Möglichkeit einer letztbegründeten im Gegensatz zu einer auf schwächeren Fundamenten stehenden modernen Moral geht. Ruft man sich das Gedankenexperiment, welches Habermas in Die Zukunft dazu bringt, den Pfad der deontologisch reinen Lehre zu verlassen, noch einmal vor Augen, erkennt man, dass der systematische Punkt an anderer Stelle zu verorten ist. Die Frage, die Habermas aufwirft, lässt sich so formulieren: Was wäre, wenn wir aufgrund humangenetischer Interventionen die Vorbedingungen dafür, dass wir uns wechselseitig und auch selbst als freie und moralische Subjekte auffassen können, abschaffen könnten? Habermas ist der Auffassung, dass man diese Vorbedingungen der Moral als solcher, eben weil sie Voraussetzung für sie sind, nicht mehr innerhalb der Moral selbst begründen kann, sondern dazu auf die allgemeinere Ethik, die er mit dem Stichwort der Gattungsethik andeutet, zurückgreifen muss. Dem gegenüber scheint Rainer Forst in der erwähnten Diskussion die Position vertreten zu haben, dass sich die durch das Gedankenexperiment aufgeworfene Frage mit den Mitteln der modernen Moral beantworten lässt. Der Unterschied ist aufschlussreich und lässt sich von der Frage nach Letztbegründung abkoppeln, wenn wir die Unterscheidung zwischen 309 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Michael Quante
interner und externer Begründung einführen. Forst geht davon aus, dass die Moral auch ihre Vorbedingungen intern moralisch einholen kann. Das würde bedeuten, dass sich aus dem im Gedankenexperiment unterstellten Zusammenhang heraus begründen lässt, dass solche Eingriffe, welche die Bedingung von Moral abschaffen, aus moralischer Sicht unzulässig sind. Habermas geht im Gegensatz dazu davon aus, dass diese Vorbedingungen, weil sie die Vorbedingungen der Moral als Ganzer sind, eine außerhalb der Moral liegende Geltungsgrundlage benötigen: »Eine Bewertung der Moral im Ganzen ist nicht selbst ein moralisches, sondern ein ethisches, ein gattungsethisches Urteil« (Z 124). Diese sucht und findet er dann in einer anthropologisch angereicherten Gattungsethik, in der die menschliche Natur eine zentrale Rolle spielt. Diese Begründungsfigur bleibt, dies ist in Abgrenzung zu Programmen eines szientistischen Naturalismus zu sagen, im Rahmen der praktischen Vernunft (und ist in diesem Sinne intern). Unter Voraussetzung des Unterschieds von moderner Moral mit ihren strikten Bedingungen und Gattungsethik handelt es sich dagegen um eine externe Begründung der Moral mit den Mitteln der Gattungsethik. Dieser kollegiale Streit zwischen Forst und Habermas dreht sich nur um den extremen Fall, der in dem Gedankenexperiment angedeutet wird und von den gegenwärtigen Möglichkeiten weit entfernt ist. Deshalb folgt aus der Position von Rainer Forst auch nicht, dass man mit den Mitteln der Moral für alle Formen humangenetischer Eingriffe eindeutige moralische Antworten formulieren kann (oder können müsste). Letztlich geht es ihm darum, die Geltungsgrundlage der Moral nicht durch die Anerkennung einer nur durch Ethik zu begründenden externen Voraussetzung zu schwächen. Da ich selbst das Verhältnis von (moderner) Moral und Ethik genau anders herum bestimme und Moral als Kriseninstrument der Ethik für fundamentale Konfliktfälle, nicht aber als normative Grundlage der Ethik ansehe, ist mir die Tatsache, dass Habermas in Die Zukunft den Pfad der reinen Deontologie verlässt, natürlich sympathisch. Und selbst wenn Forst damit Recht hätte, dass dies mit Blick auf die radikale Situation des Gedankenexperiments ohne Not geschieht, würde ich ergänzen, dass diese Umorientierung spätestens dann unumgänglich wird, wenn man sich auf die realistischen und nur durch komplexe Abwägungen normativ plausibel zu bewertenden Optionen humangenetischer Diagnostik und Therapie philosophisch einlassen will. Es ist daher zu begrüßen, dass Habermas in Die Zukunft diese Erweiterungs310 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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und Anreicherungsstrategie verfolgt, weil schwächere gute Argumente immer noch besser sind als nicht funktionierende strikte Argumente oder gar keine Argumente. Ich glaube, dass es Sinn macht, in der angewandten biomedizinischen Ethik die ganze Palette dessen, was wir zur Verfügung haben, um unsere Sorgen zu artikulieren, einzusetzen und uns nicht, verschreckt vom Dekret der strikten Universalisierung, Redeverbote aufzuerlegen. In die dadurch diskursiv entstehenden Leerräume stoßen sonst schnell andere, die keine solchen Bedenken haben, mit normativen oder religiösen Vorstellungen, deren Verallgemeinerbarkeit und gesellschaftliche Zumutbarkeit sicher wesentlich geringer ist als die derjenigen Argumente, die wir aus einer Gattungsethik ziehen können, die das selbstbestimmte Individuum ins Zentrum stellt. So gesehen lautet die Frage: Muss man in Kontexten, in denen man mit einer rein universalistischen Moral nicht weiterkommt, schweigen oder darf man sich auf schwächere Argumente stützen? Die Strategie, die starken moralischen Begründungsansprüche aufrecht zu erhalten, indem man anthropologische Aspekte naturrechtlich überhöht und eine als invariant angesetzte Natur ins Feld führt, scheint mir jedenfalls nicht sinnvoll zu sein. Wenn ich richtig sehe, sind die Überlegungen von Jürgen Habermas zur Zukunft der menschlichen Natur von einigen, die das sehr gerne dankend angenommen haben, genau so gelesen worden. Mir scheint, dass es hier eine Parallele zu der Rezeption der religionsphilosophischen Überlegungen von Habermas gibt, dessen Versuch, gewisse religiöse Inhalte in einem politischen Diskurs zu aktivieren, gerne zum Anlass genommen wird, um einen Schritt weiterzugehen, als es einem lieb sein kann. Es wäre daher gut zu wissen, ob die Zweideutigkeit, die sich bei meiner Lektüre von Die Zukunft ergeben hat, ausgeräumt werden kann. Dies wäre möglich, ohne die Streitfrage zwischen Forst und Habermas in die eine oder andere Richtung zu entscheiden. 10 Ich halte es für evident, dass die begeisterte Rezeption einiger von Jürgen Habermas zur Rolle der Religion vorgebrachten Überlegungen nur sehr begrenzt seinen Intentionen entspricht, bin mir hinsichtlich ähnlicher Phänomene mit Bezug auf seine bioethische Intervention jedoch nicht ganz so sicher. Eine für die Interpretation von Die Zukunft Ich danke Rainer Forst, der durch seinen in diesem Band dokumentierten Diskussionsbeitrag wesentlich zur Klärung meines Gedankengangs in diesem Abschnitt beigetragen hat.
10
311 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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entscheidende Frage ist, ob eine Auslegung im Sinne einer naturrechtlich auf normative Invarianz abzielenden Lehre der menschlichen Natur in seinem Sinne ist, oder ob die Alternative, eine als philosophische Anthropologie entfaltete Besinnung auf die menschliche Natur auf dem von Habermas intendierte Wege wäre. Wir können uns jedenfalls seine Reflexionen zur Zukunft der menschlichen Natur auch als eine Form der Gesellschaftskritik verständlich machen, in der Naturwüchsigkeit nicht als Dogma formuliert, sondern als Warnschild für mögliche Irritationen aufgestellt wird, das uns vor die Aufgabe stellt, immer wieder danach zu fragen, ob wir in einer dieser veränderten Gesellschaften leben wollen. Es gibt natürlich viele, die an dieser Stelle: Wehret den Anfängen! ausrufen und der Meinung sind, wir bräuchten hier einen normativ maximal robusten Halt. Ich frage mich dagegen, ob wir nicht realistischer Weise und auch, wenn wir die Menschen mit ihren lebensweltlichen Artikulationen dieser Probleme mitnehmen wollen, diese Sorgen etwas weniger anspruchsvoll, weniger universalistisch und deutlich fallibler, dafür aber auch signifikant kontextspezifischer philosophisch artikulieren sollten; auch um den Preis, dass wir unsere Resultate nur als ein Orientierungsangebot und nicht als starke moralische Forderung in den politischen Raum stellen können. Wo die Moral mehr leisten kann, ist es gut, aber dort, wo wir auf diese Weise nicht weiterkommen, sollten wir nicht einer Hypostasierung ethischer Vorstellungen der menschlichen Natur als ontologisch invariante Seinsverfasstheit des Menschen Vorschub leisten.
V. Mein unbequemes Fazit lautet: Wir müssen uns in diesen Fragen im Unbehaglichen einrichten. Es wird nicht gelingen, unser Unbehagen gegenüber den neuen Optionen und der uns damit zukommenden Verantwortung in einer Naturrechtstheorie oder in einer irgendwie gearteten Form einer Deontologie mit normativen Mitteln völlig zu beseitigen. Es ist ethischer Natur und in unserem leiblich-anthropologischen Selbstverständnis verankert; solange es um Medizinethik geht, können wir auf Vorstellungen des guten und gelingenden Lebens nicht verzichten. Es geht um Krankheit, um Therapie, um die Erfahrung von Sinn und Sinnverlust. Die dort benötigte reichhaltigere Ethiksprache ist geltungstheoretisch schwächer, weshalb wir unser 312 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
Vorgehen als reflexiv-kritisch begreifen sollten, um mit diesen fragilen philosophischen Mitteln Diagnosen zu entwickeln und Orientierungsangebote zu machen. Auch dieses normativ abgespeckte Projekt hat noch genügend Gegner: ein (latenter) Szientismus in den Lebenswissenschaften, diverse Formen des reduktiven Naturalismus, der durchaus eine Hintergrundideologie in manchen Teilen der Gesellschaft darstellt, sowie bestimmte Formen von Ökonomismus, die gut zu diesen anderen beiden Tendenzen passen. Gegen dieses Syndrom gilt es mit normativen und ethischen Argumenten anzugehen, um historisch errungene individuelle und soziale Freiheiten zu verteidigen. Hierfür, so meine Einschätzung, brauchen wir eine breite Allianz und sollten deshalb auch nicht die leistungsstarken, beispielsweise aus der Feuerbach-Marx-Linie stammenden ethischen Ansätze mit Kampfbegriffen wie »neoaristotelisch« verbannen. Dass es mir nicht um die Rehabilitierung jeder Metaphysik und die geltungstheoretische Nivellierung von Unterschieden geht, die sich mit guten und nachvollziehbaren Argumenten begründen lassen, sollte aus den obigen Bemerkungen klar geworden sein. Wenn es um die humane Zukunft der menschlichen Natur geht, sollten wir den innerphilosophischen Zwist zwischen Moral und Ethik nicht allzu hoch hängen und das selbst durchaus explikationsbedürftige Qualitätssigel »nachmetaphysisch« nicht länger exkludierend einsetzen. Ein philosophisch in meinen Augen wichtiger Punkt ist, bei den Unterscheidungen von Gemachtem und Gewordenem, bei der Redeweise von »das Subjektive und das Objektive« nicht, wie gerne im Szientismus gemacht, an invariante ontologische Schichten zu denken. Es handelt sich bei diesen Gegensatzpaaren vielmehr um reflektionslogisch zu explizierende Ausdifferenzierungen im Selbstwerdungsund Selbstverständigungsprozess des Menschen. 11 Mit Marx, und in der Tradition des Historischen Materialismus, sollten wir diesen Prozess als eine Entwicklung mit offenem Ausgang verstehen, der sich unter jeweils klar zu benennenden leiblich-materialen Rahmenbedingungen in jeweils spezifischen Gesellschaftsformationen vollzieht. Dieses Projekt passt meines Erachtens viel besser zur Kompetenz der Philosophie als reflexiv-kritisches Bewusstsein, die in dieser Selbstbeschreibung die Bewegung, in der wir uns als Gattungs- und Individualwesen befinden, adäquat erfassen kann. Mit Hegel gesprochen: 11
Vgl. hierzu die Kapitel 5 und 6 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).
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Michael Quante
nicht ›naturwüchsig‹ und ›gemacht‹, sondern ›setzen‹ und ›voraussetzen‹ als formale Begriffe, die inhaltlich immer wieder unterschiedlich gefüllt werden und bei denen wir immer wieder austarieren müssen, ob und wie wir sie füllen wollen. Ich plädiere also dafür, das Buch Die Zukunft als eine Art negative Dialektik zu lesen. Die dissonanten Obertöne dieses Textes mögen daher rühren, dass Jürgen Habermas selbstverständlich weiß, dass ein Essay von ihm zur Medizinethik nicht nur (vermutlich nicht einmal primär) fachphilosophisch wahrgenommen wird. So lassen sich manche naturrechtliche Bausteine verstehen, die im politischen Raum den Schutzwall errichten sollen, in Die Zukunft jedoch philosophisch immer wieder in ein »So könnte es sein.« zurückgenommen werden. Was in jedem Fall bleibt, ist der aufklärerisch-liberale Auftrag, gegen Fremdsteuerungsmechanismen der Humantechnologie, die wir in der staatlichen wie privaten Forschung im Medizinsektor sehen, gegen übermächtige ökonomische Interessen, aber auch gegen zu kurz gegriffene individuelle Präferenzen anzugehen. In unserer Gesellschaft gilt es, gegen die von manchem Transhumanisten und EnhancementEnthusiasten marktwirksam platzierte Verlockung eines technisch induzierten Glücks philosophisch aufgeklärte und in liberalen Grundhaltungen verankerte Alternativangebote vom gelingenden und guten Leben zu stellen. Wir haben keine andere Chance, als auf die Kraft der normativen Argumente der Philosophie, aber eben in ihrer Breite, zu setzen. Vielleicht können wir uns derzeit bei manchen Themen nicht mehr primär an die Gesetzgeber richten, sondern müssen uns direkt an die betroffenen Gruppen richten. Das knüpfte dann an Einsichten des frühen Habermas, die ich eingangs in meiner Rückblende zitiert habe, nahtlos an. Für Habermas eigentlich untypisch, hat manche Passage in Die Zukunft einen resignativen Ton: Gelegentlich heißt es dort, dass etwas zwar im Prinzip normativ vertretbar, unter deformierenden neoliberalen Abhängigkeitsverhältnissen aber sehr unwahrscheinlich sei, dass wir die ethische Kultur aufbringen, innerhalb derer wir die humanen Potentiale der neuen Möglichkeiten ausschöpfen können, ohne unverantwortbare Risiken einzugehen. Da es nicht um ort- und kraftloses Moralisieren in Form nicht haltbarer Tabuisierungen gehen kann, wir aber auch nicht fatalistisch diesen gesellschaftlichen Tendenzen den Gestaltungsraum einfach überlassen wollen, führt kein Weg an einer kritischen Analyse derjenigen durchaus veränderbaren Rahmenbedin314 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Michael Quante
gungen vorbei, die es verhindern, die humanen Potentiale zu realisieren, die im Bereich der Humangenetik und der Lebenswissenschaften erreichbar sind. Vielleicht ist Jürgen Habermas nicht aus Not heraus vom Pfad der deontologischen Tugend abgewichen, wohl aber mit dem ihn seit vielen Jahrzehnten auszeichnenden politisch sicheren Instinkt, dass wir für eine humane Gestaltung der Zukunft der menschlichen Natur streiten müssen. Dabei wäre es, aus den in diesem Beitrag dargelegten Gründen, gut gewesen, wenn er dem anthropologischen Erbe des Historischen Materialismus mehr zugetraut hätte als den kategorischen Argumenten, die unter Berufung auf Die Zukunft in den letzten Jahren im politischen Diskurs fast ausschließlich wirksam geworden sind. 12
Entgegnung von Jürgen Habermas Michael Quantes glänzender Vortrag enthält sehr subtile Überlegungen, die mich zu neuem Nachdenken über diese bioethische Grundsatzfrage anregen werden. Aber an Ort und Stelle muss ich etwas weiter ausholen. Denn bevor ich auf die gestellten Fragen eingehen kann, muss ich an den Einwand gegen eugenische Optimierungen erinnern, den ich im »Postskriptum« noch einmal präzisiert habe. Diesen grundsätzlichen Einwand hat inzwischen Anja Karnein in ihrem Buch A Theory of Unborn Life aufgenommen und mit großer analytischer Brillanz weiterentwickelt. 13 Gehen wir einmal von dem Gedankenexperiment aus, wir würden eines Tages über fortgeschrittene Biotechnologien verfügen, die uns erlauben, wichtige monogenetisch bedingte phänotypische Ausprägungen von Eigenschaften, Dispositionen und Fähigkeiten zu manipulieren. Das würde die gezielte Modifikation von Anlagen gestatten, aus denen die künftige Person bei der Verfolgung ihres jeweils eigenen Lebensentwurfs Vorteile ziehen soll. Das Argument gegen solche verbessernden eugenischen Eingriffe stützt sich Ich danke Manon Westphal für ihre wertvolle Unterstützung beim Verfassen dieses Beitrags. 13 Anja Karnein: A Theory of Unborn Life: From Abortion to Genetic Manipulation. Oxford 2012. 12
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Entgegnung auf Michael Quante
(1) auf die Tatsache, dass die Intervention ohne die informierte Zustimmung der künftigen Person erfolgen muss, und (2) auf die Annahme, dass das Ergebnis irreversibel ist; und ferner auf die Überlegung, dass (1) der Designer nicht wissen kann, ob die vermeintliche Verbesserung des Genpools im besten Interesse der künftigen Person ist, und dass (2) die Art der Abhängigkeit von diesen fixen Ressourcen nicht zu vergleichen ist mit der Abhängigkeit von Sozialisationseffekten, die insofern revidierbar sind, als sie der Reflexion zugänglich sind und auf Distanz gebracht werden können. Unter deontologischen Gesichtspunkten ist eine solche genetische Modifikation nicht erlaubt, weil diese sowohl die (1) ethische wie die (2) moralische Autonomie der künftigen Person einschränkt: (1) Sie verletzt eine notwendige Bedingung für die ethische Freiheit im Sinne eines ungehinderten »Selbstseinkönnens« der künftigen Person. Diese kann nämlich retrospektiv in der fremdbestimmten Zusammensetzung ihrer genetischen Ressourcen die Absicht eines Designers erkennen, der den Spielraum für mögliche Lebensentwürfe im Voraus festgelegt und insofern nachhaltig in ihre ethische Freiheit als die Sphäre ausschließlicher Selbstbestimmung eingegriffen hat. Eine derart behandelte Person kann die für den Eingriff verantwortliche Person für die Folgen des pränatalen Eingriffs zur Rechenschaft ziehen, wenn sich aus dem fremdbestimmten Design unerwünschte Konsequenzen für die eigene Lebensplanung ergeben. Die Möglichkeit eines solchen Vorwurfs verrät, dass sich der Betroffene gegebenenfalls nicht mehr als »Herr im eigenen Hause« fühlt. (2) Darüber hinaus beeinträchtigt die genetische Modifikation eine notwendige Bedingung für die reziprok gleiche Achtung aller Personen. Die fortbestehende Abhängigkeit der genetisch manipulierten Person von der Entscheidung eines Designers verhindert nämlich jene Autonomie, die Voraussetzung dafür ist, von Anderen als separate und selbständige Person anerkannt zu werden. Ein Anzeichen für den symbiotischen Status, die merkwürdige Asymmetrie, die sich in der sozialen Beziehung dieser beiden fortsetzt: Der eine kann die Rolle des anderen nicht übernehmen, weil er dieser askriptiven Beziehung verhaftet bleibt, sich nicht als eigene Person von ihr zurückziehen kann. Die Unterstellung eines prinzipiell möglichen Rollentauschs ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Beteiligten gegenseitig als Per-
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Entgegnung auf Michael Quante
son überhaupt, also in ihrer rollenungebundenen Eigenschaft, eine eigene Person zu sein, anerkennen können. Dieses kurz zusammengefasste Argument bedarf natürlich weiterer Erklärungen. In unserem Zusammenhang ist der Umstand wichtig, dass es als moralisches Argument auf eigenen Beinen steht, also von anthropologischen Hintergrundüberlegungen ganz unabhängig ist. Allerdings begründet es eine moralisch relevante Beziehung zwischen einerseits der technischen Unantastbarkeit des Genoms eines Ungeborenen (sofern das Embryo in der Rolle einer künftigen Person begegnet), und andererseits der Integrität der heranwachsenden Person, auf deren soziale Verletzbarkeit sich die Moral der gleichen Achtung unmittelbar bezieht. In beiden Fällen ist von »Unantastbarkeit« in einem normativen Sinne die Rede, denn die Schutzbedürftigkeit besteht ja nur unter der Voraussetzung der faktischen Verletzbarkeit von Personen und der möglichen Manipulierbarkeit ihrer Erbanlagen. Auf diese Weise kommt die »Naturwüchsigkeit« in der von Michael Quante zu Recht unterschiedenen doppelten Bedeutung ins Spiel. Ich beziehe mich auf Naturwüchsigkeit im biokonservativen Sinne, soweit es unter moralischen Gesichtspunkten darum geht, in die natürliche Lotterie der Kombination der elterlichen Gene nicht einzugreifen; und ich verwende denselben Ausdruck kritisch im Marx’schen Sinne der sekundären Natürlichkeit sozial eingewöhnter, aber normativ fragwürdiger Verhältnisse, wenn es darum geht, vor der weitgehend unbeachteten Dynamik einer schnell voranschreitenden biomedizinischen Industrieforschung zu warnen, deren Verwertung uns unbesehen, also an Gesetzgebung und politischer Öffentlichkeit vorbei, die Segnungen einer liberalen Eugenik bescheren könnte. In dieser Hinsicht ziehen Michael Quante und ich an einem Strang. Auch er wendet sich gegen die von »Enhancement-Enthusiasten marktwirksam platzierte Verlockung eines technisch induzierten Glücks.« Andererseits verteidigt er das Ziel, »die humanen Potentiale, die im Bereich der Humangenetik zu erreichen sind«, auszuschöpfen. An dieser Aussage mag sich ein Dissens entzünden, je nachdem, wie man sie interpretiert. Aber Michael Quante vermutet den Dissens an der falschen Stelle, wenn er mir ein »Naturrechtssurrogat« im Sinne der verschleierten Ontologisierung eines Kernbereichs der menschlichen Natur zuschreibt. Wir können uns schnell über die von Haus aus kulturelle und wandelbare »Natur« des Menschen verständigen. Wenn 317 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Michael Quante
man so will, besteht die »menschliche Natur« aus der organischen Ermöglichung eines Ensembles einzigartiger Fähigkeiten zur technischen Beherrschung einer riskanten Umwelt im Dienste der Reproduktion und Entwicklung des kulturellen Lebens. Woraus besteht dieses Ensemble einzigartiger Fähigkeiten? Ich halte das instrumentelle Handeln und die soziale Kooperation, die sich (a) auf ein intentionales Verhältnis zur objektivierend auf Abstand gebrachten Welt, (b) auf die gegenseitige Perspektivenübernahme und (c) auf die Verwendung einer propositional ausdifferenzierten Sprache stützen, für die »menschlichen Monopole«, die so etwas wie die Natur des Menschen definieren. Diese formal bestimmten Kompetenzen sind allgemein, d. h. für menschliche Lebensformen überhaupt charakteristisch. Ich gehe also nicht von einem metaphysischen Menschenbild aus, das erklärt, warum die Zufallskombination der elterlichen Gene unter »Naturschutz« gestellt werden soll. Vielmehr lasse ich mich von Grundsätzen eines deontologischen Verständnisses von Moral leiten, um Zweifel an der Zulässigkeit der pränatalen Eingriffe einer verbessernden Eugenik zu begründen. Der erwähnte Einwand bezieht sich ausdrücklich nicht auf gentechnologische Eingriffe, die in unzweideutig therapeutischer Absicht vorgenommen werden. Um »unzweideutige« Fälle einer negativen Eugenik handelt es sich freilich nur bei der Diagnose von Erbkrankheiten, die so schwer sind, dass ein demokratischer Gesetzgeber nach gewissenhaften Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit gute Gründe gewonnen zu haben meint, von der kontrafaktisch antizipierten Zustimmung der davon betroffenen »künftigen Personen« ausgehen zu dürfen. Wir haben mit unseren politischen Verfassungen, also mit der Anerkennung von Menschenrechten und Demokratie Maßstäbe, die eine solide Grundlage für die Beurteilung moralisch empfindlicher technischer Neuerungen bieten. Aber warum können wir uns nicht, wie Rainer Forst meint, mit einem moralischen Einwand, der gegebenenfalls in Gesetzgebungsprozesse Eingang findet, begnügen? Der Rekurs auf eine gattungsethische Abwägung wird nötig, weil mit dem Auftreten »posthumanistischer« Menschenbilder eine neue Situation entstanden ist. Eugenische Utopien gibt es schon lange; aber erst die Erforschung verschiedener konvergenter Entwicklungen in Biogenetik, Neurologie, Nanophysik und Kybernetik (d. h. künstlicher Intelligenz) hat den Anstoß zu einer libertären Literatur über verbessernde Eingriffe in das organische Substrat des Menschen gegeben, die 318 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Michael Quante
einstweilen Fiktion sind, aber zwischen science und science fiction merkwürdig oszilliert. Der Posthumanismus hat insofern einen aufklärenden Effekt, als er uns Deontologen die Zufälligkeit moralischer Vergesellschaftungsformen bewusst macht. Er entwirft Szenarien, die den Modus der uns bekannten kommunikativen Vergesellschaftung sprach- und handlungsfähiger Subjekte hinter sich lassen. Diese Art von Spekulationen richtet sich nämlich auf die technologische Leistungsoptimierung des einzelnen Organismus, und zwar auf die Verbesserung der sinnlichen Wahrnehmung, des körperlichen und psychischen Wohlbefindens, der Gesundheit, der Intelligenz, insbesondere der Gedächtnisleistung und allem voran der Lebensdauer. Abgesehen wird von jenen Dimensionen der Vergesellschaftung und der Kooperation, worin solidarisches Verhalten und die Lösung moralischer Handlungskonflikte erst möglich werden. In den abstrusen Menschenbildern mancher Technofreaks sind nicht einmal mehr die Voraussetzungen für ein Zusammenleben erfüllt, das einer moralischen Beurteilung unterzogen werden könnte. Die humane Lebensform, die die Grundlage der Moral bildet, erscheint dann, wenn nicht als Sackgasse des rückständigen Teils der Menschheit, bestenfalls als eine Option unter mehreren. Im Lichte dieser Alternativen drängt sich die gattungsethische Frage auf, ob wir an Lebensformen mit moralischer Verhaltensregulierung überhaupt festhalten wollen. Die Frage »Warum moralisch sein?« stellt sich der Gattung im Ganzen. Die naturalen Voraussetzungen der Moral in Gestalt der uns bekannten Infrastruktur verständigungsorientierten Handelns und gesellschaftlicher Integration sind ja tatsächlich ein kontingentes Ergebnis der natürlichen Evolution und fallen nicht mehr in den Gegenstandsbereich der Moral selber.
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Diskussion Moderation: Heinz Sünker
Arnim Regenbogen (Universität Osnabrück): Die Welt hat mich zur Diskussion bioethischer Art gefragt, die ich vereinfache auf die uralte Frage: Darf man Menschen züchten? Und Philosophen, Moralphilosophen sollten darüber entscheiden. Wie wäre es, wenn es sich durchgesetzt hätte, was in einer Kommission beraten worden ist, welche die Charta der Grundrechte der europäischen Union (beschlossen im Jahre 2000) diskutiert hat? Dort wurde allen Ernstes der Vorschlag gemacht, festzulegen: Es ist ein Menschenrecht, dass wir genetisch nach Zufallsgesichtspunkten zusammengesetzt werden. Dieses Prinzip als ein Menschenrecht zu deklarieren, hat sich nicht durchgesetzt. Aber hätte man es in die europäische Deklaration der Grundrechte aufgenommen, dann wäre die heutige Diskussion anders verlaufen. Meine Frage an die Beteiligten, sofern sie Stellung nehmen wollen, lautet: Sollte man dieses Prinzip als Menschenrecht positivieren? Wenn ja, bin ich darauf gespannt, mit welchen philosophischen Argumenten dafür und dagegen gestritten wird. Rainer Forst (Universität Frankfurt a. M.): Meine Frage bezieht sich auch auf diese Diskussion, und ich will den Ball, den Michael Quante mir freundlicherweise zugeworfen hat, auffangen und vielleicht ein wenig retournieren – und eine Frage stellen. Jürgen Habermas hat ja in seiner Antwort auf Dich, Michael, dargestellt, dass er zunächst einmal versucht, innerhalb des deontologischen Denkrahmens die Frage zu beantworten: Warum ist das »Programmieren« zukünftiger Personen ein moralisches Problem? Die Antwort ist, dass die künftige, so programmierte Person ein gestörtes Selbstverhältnis haben könnte: dass sie sich, so die Annahme, nicht als autonome Person ethisch und moralisch wird wahrnehmen können. Das Wort »moralisch« ist dabei zu unterstreichen. Das bedeutet in meinen Augen: Wenn es so wäre, dass solche Eingriffe dazu führten, dass der moralische Selbstrespekt 320 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
und damit auch das moralische Verantwortlich-Sein-Können gefährdet würden, folgte daraus ein rein deontologisches Argument gegen solche Praktiken, und ich sehe nicht, wieso man hier mit dem ethisch guten oder gelingenden Leben operieren muss. Ob dieses moralische, sich selbst und andere respektierende Leben das gute Leben ist, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass es moralisch geboten ist. Der mögliche Dissens zu Jürgen Habermas, und den lokalisierst Du ganz richtig, besteht dort, wo es bei ihm – das war der zweite Teil seiner Antwort, wenn ich recht verstehe – so scheint, als ob die »gattungsethische« Frage – angesichts der Möglichkeit, dass sich unsere Lebensform gravierend verändern könnte durch bestimmte Eingriffe, die noch in der Zukunft liegen – eine genuin ethische Frage wäre, also die Frage, ob wir solche Lebensformveränderungen im Sinne des guten Lebens wollen können. Mir hingegen scheint es so, dass in dem Fall, in dem daraus eine Lebensform entstünde, in der moralisches Verantwortlich-Sein seine Grundlagen verlöre, wir nicht moralisch befugt sind, diese Veränderungen vorzunehmen. Wenn man es als eine gattungsethische Frage beschreibt, dann ist es die Frage: »Wollen wir so eine Lebensform?« Mein Kantianismus aber sagt, dass das keine Frage des ethischen Wollens ist, sondern eine Frage des moralischen Verpflichtet-Seins, so eine Welt nicht herzustellen. Die ethische Freiheit, das zu entscheiden, haben wir moralisch gesehen nicht. Das ist der Punkt an dieser wichtigen Stelle gewesen. Nun meine Frage an Dich, Michael: Du hast so wunderbar mit der Betonung der Selbstbestimmung geendet. Aber: Wenn Deine Vorschläge dazu führen, dass man Eltern künftiger Personen verbietet, bestimmte Dinge zu tun, dann greift man natürlich in deren Selbstbestimmung ein, und dann hätte man besser ein deontologisches Argument als Trumpf an der Hand und keines, das auf einer Vorstellung des guten Lebens beruhte, denn die haben vielleicht eine ganz andere Vorstellung davon. Georg Lohmann: Ich würde gerne die Frage noch einmal aufnehmen und sowohl Dich, Michael, als auch Herrn Habermas nach den Verhältnissen zwischen Gattungsethik, universalistischer Moral und Unverfügbarkeit fragen. Wenn ich das richtig sehe, hängen die ja zusammen. Und ich glaube, die Hintergrundfrage ist: welcher von diesen Aspekten gibt den Ton an; dominiert die anderen? Und ich habe den Eindruck, Herr Habermas, dass Sie eher dualistisch argumentieren. Ich werde in 321 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
meinem Vortrag darauf eingehen, was vielleicht die Hintergrundmotivation dafür ist, dass Sie sagen, die universalistische Moral kann nicht alle Probleme mit ihren eigenen Mitteln lösen, sie ist von Voraussetzungen abhängig, die Sie sonst immer »entgegenkommende Lebensformen« nennen. Die Bestimmungen und der Schutz dieser entgegenkommenden Lebensformen sind von kulturellen Wertungen abhängig, wie wir uns als Menschen in Bezug auf unsere Natur, unser In-derWelt-Sein usw. und in Bezug auf das, was gattungsethisch uns sowohl deskriptiv als auch normativ unverfügbar ist, verhalten. Hier haben wir historisch eingespielte Wertungen, die sich heute auf rationalisierte Lebensformen beziehen und beziehen müssen. Insofern Habermas den Universalismus der Moral nicht aufgibt, steht er auf Deiner Seite, Michael. Aber die universalistische Moral bleibt von etwas abhängig, was wir mit wechselseitigem Respekt und moralischer Fürsorge nur pflegen und hegen können, nicht aber schaffen. Und das ist, glaube ich, der Punkt, an dem jetzt Gattungsethik hereinspielt. Die Gattungsethik wird entworfen aus den Notwendigkeiten der Stützung, gewissermaßen der sozialen und kulturellen Akzeptanz einer universalistischen Ethik, aber sie bezieht sich auf die wertende Anerkennung dessen, was für uns Menschen unverfügbar ist oder sein sollte. Damit überschreitet sie die Leistungen einer universalistischen Ethik. Die Frage, die sich mir aus dieser Konstellation ergibt, ist: Würdest Du, Michael, deshalb einen Aristotelischen oder einen Hegel’schen Ansatz nehmen, um aus einer »ethischen« Perspektive des sittlich guten Lebens diese Spannung zu überwinden, oder sollte es (wie m. E. Habermas es versucht) bei einem Dualismus bleiben, indem akzeptiert wird, dass keine von den beiden Seiten zurecht beanspruchen kann, die andere Seite mit den eigenen Mitteln zu relativieren. Michael Quante: Zur letzten Frage von Georg Lohmann: Die Diagnose ist richtig, das hat mich umgetrieben, weil ich die Sorge habe, dass an manchen Stellen in Die Zukunft der menschlichen Natur aus einem starken Unverfügbarkeitsbedürfnis der Naturbegriff oder die Naturwüchsigkeit von einer kontingenten, aber für unsere Lebensform konstitutiven Vorgabe zu einer Art naturrechtlich objektiven Verpflichtung geworden ist. Das war meine Sorge, und dass dieser Übergang politische Konsequenzen hätte, und dass der vielleicht sogar als politischer Eingriff in Kauf genommen worden ist, das ist das eine. Ich habe nichts gegen Dualität, die Frage ist nur, wie man sie beschreibt. Es gibt 322 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
Leute, die beschreiben die universalistische Moral als die Grundlage, auf die man dann etwas anderes noch aufsetzen kann. Ich habe ja gesagt, ich betrachte sie als den Grenzbereich der Ethik, als Krisenmanagement. Aber Moralphilosophie schon als Krisenmanagement aufzufassen – ein Zeichen der Moderne –, zerstört möglicherweise Gebiete, wo wir gar nicht mit so starken Elementen herangehen müssten, und auch besser nicht sollten, weil wir dann die Obertöne, die sich anders artikulieren, nicht mehr in den Griff bekommen. Also wie viele Dinge in bioethischen Debatten als unaufgeklärtes Zeug einfach zurückgewiesen werden, obwohl sich ernsthafte Sorgen artikulieren, das gefällt mir nicht, das ist eine Ausgrenzungsfunktion. Und mit Bezug auf die reine Deontologie teile ich auch die Sorge einer großen Nähe zur Verrechtlichung. Das ist auch ein Phänomen, das wir beobachten. Gegen all das kann man ansteuern. Ich glaube nicht, dass wir die moderne Moral wieder auflösen können. Die Frage ist, wie sich Moralität und Sittlichkeit zueinander verhalten, und ich halte die Moral mit Hegel für eine ganz wichtige Errungenschaft für Krisenphänomene, aber nicht für das normative Fundament aller Diskurse im Sinne einer notwendigen Vorbedingung. Da haben wir einen Unterschied, glaube ich. Zu Rainer Forst ganz kurz: Ich glaube, es ist besser, mit guten Gründen paternalistisch anmutende Angebote zu machen, als den Paternalismus damit zu verschleiern, dass man den Leuten sagt: »Das ist im Grunde die reine rationale Vernunft in dir selbst, du musst nur lange genug Kant oder anderes lesen, um das einzusehen«. Ich bekenne mich dazu, dass wir Vorschläge machen müssen in diesem Bereich und dass wir das riskieren müssen, aber die Suggestion, alles andere sei entweder nicht rational oder transzendentalphilosophisch nicht auf der Höhe – ich polemisiere jetzt natürlich ein bisschen – ist nicht besser. Ich glaube, eine objektivistisch gedeutete praktische Vernunft ist genauso paternalistisch wie eine zu partikulare Folie für ein gelingendes Leben, und welchen Preis man lieber zahlt, ist vielleicht sogar ein Folgeschaden der eigenen philosophischen Sozialisation. An dieser Stelle sollten wir weiter nachdenken. Zum ersten Redner [Arnim Regenbogen, Anm. d. Hrsg.]: Ein Menschenrecht auf genetische Zufälligkeit würde ich nicht in dieser unbeschränkten Form gelten lassen, denn ich glaube, wenn wir zum Beispiel monokausale schwerste Krankheiten reparieren könnten, dann sollten wir diese Zufälligkeit rechtzeitig ausschalten, anstatt wie bisher 80–90 % von Menschen mit Down-Syndrom einfach abzutreiben. Das 323 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
ist faktisch ja unsere Antwort auf die Naturwüchsigkeit in dieser Gesellschaft. Also deswegen wäre mir das zu stark. Es ist ein Extrembeispiel, die vollständige Geplantheit als ein Gedankenexperiment zu nehmen. Da sind wir uns einig, da gibt es viele gute Gründe, das abzulehnen. Da ist sogar die Deontologie, glaube ich, stark genug, dies abzulehnen. Aber wir haben andere Probleme, die real sind, wo wir heute Regelungen treffen müssen; und sich dort so herauszuziehen mit einer formalen, abstrakten, generellen Überlegung, das überzeugt mich einfach nicht, wenn man einmal mit den betroffenen Menschen redet. Trotzdem muss man ihnen auch sagen, wo sie naive Vorstellungen haben, wo sie sich noch einmal selber aufklären lassen müssen. Und es gibt Fälle, wo man sagen muss: »Das geht nicht, weil wir es nicht wollen«. Ich glaube, in letzter Instanz bin ich auch jemand, der sagt: »Wir wollen diese moralische, ethische Lebensform und ich will die szientistische Perspektive nicht«. Und dafür brauche ich keine Letztbegründung, dafür setze ich mich einfach ein. Das ist der letztlich entscheidende Punkt. Jürgen Habermas: Nur im Hinblick auf die Intervention Menschenrecht. Ich wusste das nicht, dass das mal diskutiert worden ist. Das wäre ja eine Normativierung der natürlichen Lotterie, also der genetischen Zufälle im Augenblick der Befruchtung. Ich habe das nicht durchdacht, obwohl eine Implikation meines Essays damals schon ähnlich lautete, also die Unverfügbarkeit der Natur in einem normativen Sinne zu sichern. Dennoch zögere ich nicht nur im Hinblick auf alle die Argumente, die Herr Quante mit Recht bringt. Ich meine, natürlich muss man unter therapeutischen Gesichtspunkten da flexibel sein, und man weiß, dass das keine Kleinigkeit ist. Nach meinen Vorstellungen wird in demokratisch organisierten Gesellschaften letztlich vom Gesetzgeber entschieden, was noch als eine therapeutische Verbesserung anzusehen ist oder was nicht. Wie gesagt, ich habe nicht darüber nachgedacht, und kann also jetzt nicht definitiv sagen, ich wäre dafür oder dagegen. Ich belasse es mal dabei.
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V. Die Selbstverständigung der Moderne
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Georg Lohmann
Ernüchterte Geschichtsphilosophie Zur Rolle der Geschichtsphilosophie in Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie
1.
Vorbemerkungen
Auch eine »ernüchterte« Geschichtsphilosophie ist Geschichtsphilosophie in dem Sinne, dass sie eine Deutung von Geschichte ist. 1 Unter Geschichte verstehen wir einmal die zeitlich aufeinander folgenden Ereignisse, die unumkehrbar und unwiederholbar vergangen sind oder vergehen (res gestae), und Geschichte nennen wir ihre erzählende und um Verstehen bemühte Darstellung (historia rerum gestarum). 2 Gesellschaften als umfassende soziale Handlungszusammenhänge unterliegen Veränderungen in der Zeit, die im Bewusstsein ihrer Akteure als geschichtliche Verläufe konstruiert werden. Geschichtsphilosophien unternehmen die Deutungen dieser Geschichten aufgrund bestimmter Annahmen, von denen ich einige beispielhaft andeute: es sind Annahmen über die Erkennbarkeit der Geschichte, z. B. weil sie vom Menschen gemacht sei oder in narrativen Sätzen dargestellt werde; über die Verlaufsrichtung, z. B. linearer Fortschritt oder Verfall oder zyklische Wiederkehr; über das Ziel der Geschichte, z. B. Weltgericht und Erlösung oder weltbürgerliche Gesellschaft; über den Sinn der Geschichte, z. B. Bewährung, Gnadenfrist oder praktische Ermutigung; über das Subjekt der Geschichte, z. B. die Menschheit, die Freiheit oder die Gesellschaft; und schließlich darüber, ob es eine Universalgeschich-
Ich übernehme im Folgenden überarbeitete Teile von Georg Lohmann: »Kritische Gesellschaftstheorie ohne Geschichtsphilosophie? Zu Jürgen Habermas’ verabschiedeter und uneingestandener Geschichtsphilosophie«. In: Frank Welz, Uwe Weisenbacher (Hrsg.): Soziologie und Geschichte. Zur Bedeutung der Geschichte für die soziologische Theorie. Opladen 1998, S. 197–217. 2 Siehe hierzu Emil Angehrn: Geschichte und Identität. Berlin 1985; Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin/Köln 1991, mit Hinweisen auf weitere Literatur. 1
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Georg Lohmann
te oder nur eine Pluralität von Geschichten gibt. 3 Die Geschichte der Geschichtsphilosophien macht diese Vielfalt unterschiedlicher Kennzeichnungen als zunehmenden Reflexionsprozess auf Wandlungen im Geschichtsbewusstsein plausibel 4, gleichwohl wird oft unter der Geschichtsphilosophie eine klassisch neuzeitliche Variante verstanden, nach der die eine Universalgeschichte einen idealen Zustand der Menschheit zum Ziel hat, und dies in der Weise eines objektiv notwendigen, linearen Fortschrittsprozesses anstrebt. Mir kommt es darauf an, dass dies keineswegs die einzige Auffassung von Geschichtsphilosophie ist, sondern dass es unterschiedliche Arten gibt, und es vielmehr darum geht, eine dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein angemessene philosophische Deutung der Geschichte zu erlangen. Geschichtsphilosophische (aber auch evolutionäre) Konzeptionen von Gesellschaftstheorie sind Verzeitlichungen von Selbstthematisierungen 5, die Gesellschaft als das beschreiben, was sie geworden ist oder noch nicht ist oder noch wird. Sie eröffnen damit die Möglichkeit, die gegenwärtige Gesellschaft daran zu messen, was sie einmal war oder noch nicht ist. Eine geschichtsphilosophisch begründete kritische Gesellschaftstheorie liegt dann vor, wenn der Maßstab der Kritik vornehmlich durch Annahmen über den Verlauf der Geschichte begründet wird. In dem Maße, wie solche Theorien auf ihre zeitliche Struktur und deren Bedingungen reflektieren, nehmen sie eine Differenz in ihr Selbstverständnis mit auf. Sie reflektieren sowohl auf ihren gegenwärtigen »Entstehungskontext« wie auf ihren zukünftigen Verwendungsoder »Anwendungszusammenhang« 6 und verstehen sich selbst in praktischer Absicht: als geschichtsphilosophische Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst. Die ihrem Selbstverständnis nach aufklärerischen und/oder kritischen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegel, Marx, Comte) waren mit expliziten oder impliziten geschichtsphilosophischen Konstruktionen verknüpft, in denen Fortschrittsannahmen im SelbstSiehe dazu jetzt Jürgen Osterhammel: »Von einem hohen Turme aus«. In: FAZ v. 31. 10. 2012, S. 6. 4 Siehe Angehrn: Geschichtsphilosophie (s. Anm. 2). 5 Vgl. Niklas Luhmann: »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft«. In: Zeitschrift für Soziologie 16. Jg., Heft 3 (1987), S. 161– 174, hier: S. 166. 6 Vgl. Jürgen Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte«. In: ders. Kultur und Kritik, Frankfurt a. M. 1973, S. 389–398, hier: S. 392. 3
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
verständnis der Gesellschaft ihren theoretischen Ausdruck fanden. Diese waren angeregt durch Erfahrungen des Fortschrittes von Wissenschaft und Technik, durch Produktivitätssteigerungen von Industrie und Handel, und konnten dabei auf Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhunderts zurückgreifen, die Annahmen über den Fortschritt der Wissenschaften mit Annahmen über die moralische Verbesserung der Menschheit zu Vorstellungen eines zivilisatorischen Fortschritts verbanden. Sie sind dabei nicht nur zukunftsorientiert, auch ihr Maßstab und dessen mögliche Rechtfertigung erscheinen als etwas Zukünftiges. Kant bedachte die geschichtsphilosophische Annahme eines »beständigen Fortschreiten(s)« des menschlichen Geschlechtes »zum Besseren« 7 mit Skepsis, und er sah ihren Sinn allein in der praktischen Beförderung eines solchen besseren Zustandes. Jene Kantianische Skepsis hat freilich in der Folge den Ton nicht angeben können. Mit Fichte und Hegel setzte sich die vernunftphilosophische, letztlich optimistische Gewissheit durch, dass trotz aller gegenstehenden Übel die Geschichte der Menschheit zum Besseren fortschreite. 8 Die Geschichte von Gesellschaften wird eingespannt in den notwendig fortschreitenden Prozess der Geschichte, dessen teleologische Gerichtetheit dann die praktischen Probleme der Umsetzung der geschichtsphilosophischen Annahmen in historisch-konkretes Handeln und deren Rechtfertigung als Probleme letztlich auflöst. 9 Gesellschaftstheorien, die in der Tradition der Hegel’schen Geschichtsphilosophie stehen – und das gilt für Marx wie für die frühe Kritische Theorie und, mit umgekehrten Vorzeichen als Verfallsgeschichte, auch noch für die Dialektik der Aufklärung – haben das Verhältnis von praktischer Philosophie und Geschichtsphilosophie zuungunsten der ersteren aufgelöst. Diese Ersetzung von praktischer Philosophie durch Geschichtsphilosophie ist einer zunehmenden Kritik unterzogen worden, die theoretisch initiiert wurde durch den Historismus und Nietzsche und die praktisch durch die grauenhaften Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus sich bestätigt fand. Mit einigen Verzögerungen hat das Immanuel Kant: Streit der Fakultäten. AA VII, S. 79 ff. Immer noch informativ Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1953. 9 Vgl. zu Hegel: Angehrn: »Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Geschichtsphilosophie«. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung Bd. 35, Heft 3/4 (1981), S. 341–364, hier: S. 362. 7 8
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Georg Lohmann
ganz allgemein zu einem »Abschied« von der Geschichtsphilosophie geführt 10.
2.
Die Abtrennung der Geschichtsphilosophie von der kritischen Gesellschaftstheorie bei Habermas
Seit Anfang der siebziger Jahre stößt man in den Schriften von Jürgen Habermas auf Überlegungen, die zeigen, dass er seine kritische Gesellschaftstheorie von geschichtsphilosophischen Annahmen befreit wissen will. Mitbedingt durch die zur gleichen Zeit begonnene Rezeption der Systemtheorie und des Funktionalismus wird die Verzeitlichung der Gesellschaftstheorie ab da im Rahmen einer Theorie der sozialen Evolution konzipiert. Damit legt Habermas einen Schnitt in seinen eigenen theoretischen Werdegang, der mit einer Dissertation zu Schelling über Das Absolute und die Geschichte (1954) geschichtsphilosophisch begann, in den Sechzigerjahren eine »empirisch gesicherte Geschichtsphilosophie« »in praktischer Absicht« (TP1 179 ff., 206 ff., 301 ff.) ins Auge fasste und noch mit Erkenntnis und Interesse die Konzeption einer Gattungsgeschichte entwarf. Dieser Schnitt hat zunächst die erwünschte Folge, dass seine Gesellschaftstheorie von, wie er sagt, »geschichtsphilosophischem Ballast« (VE 526) befreit wird. Darunter versteht Habermas die »pseudonormativen Aussagen über eine objektive Teleologie der Geschichte« (ebd.), die im Historischen Materialismus und noch für die Kritische Theorie der dreißiger Jahre Geltung hatte. Näher hin versteht er darunter Annahmen, die die Unilinearität, Notwendigkeit, Kontinuität und Nichtumkehrbarkeit der Geschichte implizieren (vgl. RHM 154 ff.). 11 Obsolet geworden sind auch die Konstruktion eines Subjektes Exemplarisch: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 1974; Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1973; Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1972; Reinhart Koselleck/WolfDieter Stempel (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973; Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München 1974. 11 In gleicher Weise weist Luhmann für die Evolutionstheorie auf die Aufgabe von »Einzelattributen« hin, die wie Unilinearität, Kontinuierlichkeit, Endogenität, Irreversibilität und Notwendigkeit in den älteren Evolutionstheorien impliziert waren; auch er wirft, mit der »Herauslösung der Prozeß-Prämisse aus den Voraussetzungen der Evo10
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der Geschichte 12 und die damit verbundene Annahme der Machbarkeit von Geschichte. Man muss sagen, von dieser Art der Geschichtsphilosophie will Habermas Abstand nehmen, ohne, und das ist wichtig, die »theoretisch leitenden Intentionen« preisgeben zu wollen (VE 526), die mit dem geschichtsphilosophischen Denken verknüpft waren. Die Gesellschaftstheorie soll »der geschichtsphilosophischen Selbstgewissheit« entsagen, »ohne den kritischen Anspruch aufzugeben« 13. Die dann aber umstandslos generalisierte Abkehr vom geschichtsphilosophischen Denken führt zu grundlegenden Wandlungen im Theorieaufbau (VE 526; vgl. TkH II 561 f.). Die Wandlungen, die sich aus diesem »Abschied« von der Geschichtsphilosophie für die kritische Gesellschaftstheorie ergeben, will ich stichpunktartig nennen. Er führt: a) methodisch zu einer Ersetzung des Verfahrens einer hermeneutisch aufgeklärten, interpretativen Ideologiekritik durch ein Verfahren der Rekonstruktion; b) mit der Trennung von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik zu einer Abspaltung von Geschichte aus dem theoretisch erfassten Gegenstandsbereich der Theorie: diese rekonstruiert in einem ersten, »unhistorischen«, gleichsam horizontalen Schritt die Rationalitätsstandards, aus denen dann in gleichsam vertikaler Richtung die Logik der gesellschaftlichen Evolution hinsichtlich unterscheidbarer Lernniveaus rekonstruiert wird, ohne dabei etwas aussagen zu wollen über geschichtliche Ereignisse und Prozesse zur Erreichung solcher Niveaus. Die Verzeitlichung der Gesellschaftstheorie geschieht so im beschränkten Rahmen der Evolutionstheorie, wobei offenbar in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus ein noch stärkerer Erklärungsanspruch erhoben wird als in der Theorie des kommunikativen Handelns, in der die Evolutionstheorie oft (aber nicht immer) einen nur illustrativen Charakter zu haben scheint. c) hinsichtlich des Selbstverständnisses der Kritik zu der Unterscheidung einer Kritik durch Selbstreflexion (Freud-Modell) von einer Kritik durch Nachkonstruktion (Piaget-Modell) und einer zunehmenden Beschränkung auf letztere (s. u.); lutionstheorie, ja aus dem Evolutionsbegriff selbst, […] einigen Ballast ab«, der seine Parallele im Leichterwerden der Gesellschaftstheorie bei Habermas hat; siehe Luhmann: Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S. 183 u. 187. 12 Siehe Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte« (s. Anm. 6). 13 So Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 391.
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d) hinsichtlich des normativen Maßstabes der Kritik zu einem Verzicht auf die Bewertung ganzer Epochen und Lebensformen, was sich in der kommunikativen Ethik als Abspaltung von Fragen der Gerechtigkeit von solchen des Guten Lebens äußert. Insgesamt ist damit der Vorrang der praktischen Philosophie, jetzt auf Moral- und (seit Faktizität und Geltung) Rechtsphilosophie eingeschränkt, gegenüber geschichtsphilosophischen Ausführungen bezüglich des normativen Maßstabes der Theorie gesichert. Dabei fällt auf, dass Habermas mit dem »Abschied« von jener objektivistischen Geschichtsphilosophie sich keineswegs von jeder Art von Geschichtsphilosophie trennt, insbesondere nicht von der empirisch falsifizierbaren Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, die er selber vorher zu exponieren versucht hat. Diese orientierte sich an Kant und MerleauPonty, um sich so gegen den überzogenen Objektivismus von Hegel und Marx der Möglichkeit einer nicht-objektivistischen Geschichtsphilosophie zu versichern (TP1 211 ff., 302 ff.). 14
3.
Kommunikative Vernunft als »rächende Gewalt«
Es gibt einige Stellen, in denen Habermas auf den (geschichtlichen) Status der kommunikativen Vernunft zu sprechen kommt und die wie eine uneingestandene geschichtsphilosophische Spekulation über die kommunikative Rationalität erscheinen. Habermas spricht davon, dass die kommunikative Vernunft »in der Geschichte als rächende Gewalt« operiert (VE 489). 15 Damit interpretiert er geschichtsphilosophisch den historischen Status der kommunikativen Rationalität, die, »gerade als unterdrückte, in den existierenden Formen der Interaktion bereits verkörpert ist und nicht als ein Gesolltes erst postuliert werden muß« (VE 488 f.). Wirksam soll die kommunikative Vernunft sein, nicht weil sie mit der Macht eines Ideals die Geschichte beherrscht, sondern weil sie
Siehe dazu auch Harald Pilot: »Jürgen Habermas’ empirisch falsifizierbare Geschichtsphilosophie«. In: Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969. Die internen Folgen einer geschichtsphilosophisch erleichterten Gesellschaftstheorie habe ich in Lohmann 1998 (s. Anm. 1) genauer untersucht. 15 Siehe auch Hauke Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Gewalt«. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau Jg. 6 (1983), H. 8–9. 14
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als unterlegene Partei in den historischen Spuren von Unterdrückung und Revolte aufzufinden ist. Darin liegt zum einen, dass der Status der Wirksamkeit »ein Mittleres ist zwischen faktischem Dasein und bloßem Ideal«. 16 Zum anderen aber enthalten die Zeugnisse historischer Wirksamkeit den normativen Gehalt der kommunikativen Vernunft nur unvollständig. Habermas begrenzt, wie wir oben aufgezeigt haben, den Bereich dieser kommunikativen Vernunft auf Fragen der im engeren Sinne moralischen »Sittlichkeit legitimer Ordnungen« und will so einer schicksalhaften Mystifizierung dieser »rächenden Gewalt« vorbeugen. Dabei zeigt der Kontext ganz deutlich, dass die »Kausalität des Schicksals«, mit der hier die kommunikative Vernunft in der Geschichte operiert, an Hegels Theorie der Rache in der Rechtsphilosophie 17 abgelesen ist. Rache aber ist für Hegel (wie schon für Aristoteles) eine defiziente Form von Sittlichkeit im weiten Sinne; die wiedervergeltende Rache muss durch moralische Gerechtigkeit gezügelt (»aufgehoben«) werden, weil sie sonst nur immer wieder neue Verletzungen perpetuiert. Hinsichtlich ihrer geschichtlichen Wirksamkeit operiert die kommunikative Vernunft danach unterhalb ihres eigenen Standards und deshalb braucht Habermas einen nicht-historischen, »quasi-transzendentalen« Ansatz, der die formalen und prozeduralen normativen Standards rekonstruiert. Man kann freilich den Zusammenhang auch umgekehrt beleuchten. Weil Habermas in der Rekonstruktion des normativen Gehalts der kommunikativen Vernunft sich nur ihrer formalen Gerechtigkeitsprozeduren glaubt versichern zu können, bleibt für die Deutung ihrer Geschichtlichkeit nur die Spekulation ihrer moralisch-defizienten Geschichtswirksamkeit als rächende Gewalt. Aus diesen Gründen aber kann diese geschichtsphilosophische Spekulation nicht die angemessene Geschichtsphilosophie für eine kritische Gesellschaftstheorie sein.
16 Michael Theunissen: »Zwangszusammenhang und Kommunikation«. In: ders.: Kritische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin/New York 1981, S. 41–57, hier: S. 52; siehe auch die dort angegebenen weiteren Stellen bei Habermas. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, besonders die §§ 101 ff.
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Georg Lohmann
4.
Der Sinn einer nicht-objektivistischen, »ernüchterten« Geschichtsphilosophie für eine kritische Gesellschaftstheorie
Mit der Abkehr von der Geschichtsphilosophie verabschiedet Habermas sich auch vom emphatischen Verständnis der emanzipatorischen und aufklärerischen Wirkungen einer Kritischen Theorie. Seit Faktizität und Geltung wird die Einlösung des emanzipatorischen und aufklärerischen Versprechens der Theorie dem Bereich der praktischen Politik überantwortet, für den die Theorie aber nur eine Option unter anderen möglichen anbietet. Zwar hat Habermas vollkommen Recht, dass es in einem Aufklärungsprozess nur Beteiligte gibt, aber gerade der Aufklärung der Handlungspräferenzen und der Situationseinschätzungen von Beteiligten sollte ja eine kritische Gesellschaftheorie als Selbstthematisierung der Gesellschaft dienen. Aus dieser Perspektive ist es aber immer eine historisch bestimmte Gesellschaft, die in einer spezifischen Situation sich über ihre Lage und Handlungschancen verständigt. In dieser Situation einer praktischen Selbstverständigung ist die kritische Gesellschaftstheorie auch auf eine nicht-objektivistische Geschichtsphilosophie angewiesen. Ansätze und Spuren dazu lassen sich bei Habermas trotz des Vorgesagten noch aufdecken. Schlagwortartig deutet sie den Zukunftsbezug mit Kant, den Vergangenheitsbezug mit Benjamin. Es geht ihr um die Bewertung vergangenen Unrechts und Leidens, um das Offenhalten der Gegenwart für zukünftige Verbesserungen, um das Geschichtsbewusstsein einer angemessenen Vergegenwärtigung der kontingenten und doch bedeutungsvollen Vergangenheiten und, auf die Zukunft bezogen, um die pragmatische Verwirklichung normativer Ideale.
4.1 Der spekulative Hintergrund einer ernüchterten Geschichtsphilosophie Einer Ernüchterung geht normalerweise ein Rausch voraus – und so auch hier. Denn die ernüchterte Geschichtsphilosophie, sprich philosophische Deutung der Geschichte, die Habermas meines Erachtens nun praktiziert, ist nicht einfach nur ein Rückbezug auf Kant, und es ist auch nicht der nicht-spekulative Rest, ein »nachmetaphysisches« Resi334 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Ernüchterte Geschichtsphilosophie
duum der verabschiedeten Geschichtsphilosophie Hegel’scher – und Marx’scher Provenienz. Die ernüchterte Geschichtsphilosophie ist vielmehr in ihren kantianischen Momenten in eine zu Hegel alternative Geschichtsphilosophie eingeschrieben: Sie folgt jener rauschhaft spekulativen Geschichtsphilosophie Schellings, die der junge (25 jährige!) Habermas in seiner Dissertation »Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken« 18 1954 so beeindruckend dargelegt hat. Habermas hat in seinem späteren Aufsatz »Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus« (TP1 108–161) die, so der Untertitel des Aufsatzes, »geschichtsphilosophische(n) Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes« nochmals ausgezeichnet. Manfred Frank hat beiden Arbeiten eine stupende Rezension gewidmet 19 und ich kann, für die Zwecke dieses Vortrages, seiner Interpretation folgen. In Anknüpfung an die kabbalistische Tradition des Isaak Luria und der Mystik Jakobs Böhmes entwickelt Schelling, so zeigt Habermas, eine spekulative Deutung der Geschichte. 20 Ich kann mich hier nur grob vereinfachend darauf beziehen. Der »wirkliche Anfang«, die Schöpfung, wird als Contraction Gottes in sich verstanden, sie wird dem von Gott abgefallenen Menschen (Adam Kadmon) überantwortet, der wiederum eine Natur als unverfügbare vorfindet. Geschichte ist nun der komplexe Prozess, in dem der Mensch, von Gott freigesetzt, handeln und arbeiten muss, in seinem Kampf ums Überleben aber an die Notwendigkeiten und Unverfügbarkeiten einer ihm entfremdeten Natur gebunden bleibt. 21 Für die Deutung der menschlichen Geschichte sind nun folgende Punkte entscheidend: 1. Das Ziel der Geschichte menschlichen Handelns ist durch Gott (und durch Vernunft) vorgegeben: Ein »Reich der Freiheit«, das einmal als durch Liebe bestimmt Kants Idee eines zwangsfreien, »ethisch-bür-
Die (leider) nicht veröffentlichte Dissertation ist mir als Kopie aus dem UB Bestand der Universität Bonn verfügbar. 19 Manfred Frank: »Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie«. In: Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.), Habermas Handbuch. Stuttgart Weimar 2009, S. 133–147. 20 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (unv. Diss.) Bonn 1954. 21 Nur als Anmerkung: In der Dissertation und im Aufsatz zeigt Habermas, wie sehr hier Thesen von Marx vorgedacht sind und diesen beeinflusst haben. 18
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Georg Lohmann
gerliche(n)« 22 Zustandes nach Tugendgesetzen entspricht und damit gegen einen auch vernünftigen Staat gerichtet ist, zum anderen aber (auch kritisch gegen Schelling und mit Kant) als ein rechtlich-bürgerlicher Zustand unter öffentlichen Zwangsgesetzen zu verstehen ist. 2. Es gibt aber in der Geschichte keine (objektivistische) Notwendigkeit, dass die Menschen dieses Ziel auch erreichen. Die Korruption des Menschen und die Unverfügbarkeit der Natur lassen es offen, ob diese geschichtlichen Anstrengungen gelingen oder misslingen. 3. Deshalb kann auch eine gelungene Geschichte, eine Verwirklichung des »Reiches der Freiheit«, nicht total sein, sondern sie »könnte«, wie Habermas über Schelling hinausgehend rauschhaft formuliert, »das Missverhältnis […] beseitigen, das in der Geschichte der Menschheit bisher zwischen der Ohnmacht in der Verfügung über das Verfügbare einerseits und der Gewalt in der Verfügung über das Unverfügbare andererseits besteht.« (TP1 137). Die praktische, geschichtsphilosophisch geläuterte Intention zielt daher auf »Verkümmerung« der »Herrschaft inmitten einer Menschheit« (ebd.), nicht auf totale Herrschaftsfreiheit. Meine These ist, dass Habermas, nach seiner Verabschiedung der Geschichtsphilosophie, seine ernüchterte Version einer philosophischen Deutung der Geschichte im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie in diese nachhallenden und erinnerten Strukturen einer spekulativen Geschichtsphilosophie a là Schelling eingeschrieben hat und in diesem Rahmen sich auf die pragmatische Geschichtsphilosophie Kants zurückzieht. Habermas hat dazu unterschiedliche Ansätze formuliert und durchgespielt. Die Begrifflichkeiten wandeln sich, aber die Grundmotive und Grundansichten werden weitgehend beibehalten. Ich kann hier nur einige Punkte davon aufnehmen.
4.2 Die Geschichtlichkeit der Selbstverständigung Zunächst hat Habermas die Art der emanzipativen Leistung der kritischen Gesellschaftstheorie in ihrer Anwendungssituation mit der Unterscheidung von Kritik als Nachkonstruktion und Kritik als Selbstreflexion differenziert. Albrecht Wellmer hat diese Unterscheidung Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants Werke, AA VI, S. 95 ff.
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kritisch beleuchtet 23 und herausgearbeitet, welche Optionen nach dem jeweiligen Kritik-Modell (Freud-Modell oder Piaget-Modell) die kritische Gesellschaftstheorie für den Übergang zu post-kapitalistischen oder stärker emanzipatorischen Gesellschaften anbietet. Nach dem Piaget-Modell zeigt eine rekonstruktiv verfahrende Evolutionstheorie der Gesellschaft Stufen von Rationalisierungsmöglichkeiten auf. Die durch Kritik angeregten Lernprozesse bestehen dann darin, auf deren ungenutzten oder unausgeschöpften Potentialen zu insistieren. Im Falle des Freud-Modells wird hingegen vorausgesetzt, dass solche genetischen Lernprozesse schon stattgefunden haben. Die kommunikative Vernunft wird bemüht, um unbewusste Zwänge durch Einsicht aufzulösen. Hier gibt es keine formalen Kriterien im Sinne von Entwicklungsstufen, die zu erreichen wären, sondern es handelt sich um Fragen des Gelingens eines angemessenen Umganges mit sich und anderen, für die etwa Gesichtspunkte des Glücks und der Gesundheit leitend wären. Besteht aber Grund zu der Annahme, dass die Gesellschaft sich in relevantem Maße auf den höchsten oder letzten Stufen der gesellschaftlichen Rationalisierung und der Rationalisierung der Lebenswelt befindet, so wird eine Kritik nach dem Piaget-Modell in merkwürdiger Weise defensiv. Sie verteidigt die letzte erreichte Rationalitätsstufe auch da, wo sie sich kritisch gegen Ungerechtigkeit und Kommunikationsverzerrungen wendet. In dieser Situation hofft sie auf die lösende Kraft eines kritischen Selbstverständigungsprozesses, ohne doch für diesen Kriterien bereitstellen zu können. Wellmer zieht daraus zwei Konsequenzen: In der ersten folgt ihm Habermas, wenn er zugesteht, dass der normative Gehalt der kommunikativen Vernunft kein Ideal einer Lebensform auszeichnet, sondern dass bestenfalls aus den formalen Kriterien einer kommunikativen Ethik notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für vernünftige Lebensformen abgeleitet werden können. Aber schon das impliziert ja eine Diskriminierung von Lebensformen überhaupt: zumindest die werden moralisch abgewertet, die solchen notwendigen Bedingungen nicht genügen. Die moralphilosophische Engführung der kommunikativen Ethik auf Gerechtigkeitsfragen führt aber darüber hinaus zu einer IndienstVgl. Albrecht Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a. M. 1986, S. 180 ff.
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nahme von historisch-sittlichen Lebensformen, die als »entgegenkommende« Lebensformen 24 die sittliche Kraft rationalisierter Lebenswelten sichern sollen. Jene werden danach beurteilt, wie weit sie »einen Kontext bilde(n), der den Angehörigen die Ausbildung prinzipiengeleiteter moralischer Einsichten ermöglicht und deren Umsetzung in die Praxis fördert.« 25 Darin liegt, dass jetzt das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gutem Leben in einer bedenklichen Weise umgewertet wird: damit Gerechtigkeit möglich wird, muss eine nur als Zusammenspiel differenter Rationalitätssphären begriffene »gute« Lebensform historisch vorausgesetzt werden. Weil die kritischen und die emanzipatorischen Intentionen der Theorie nicht im schlechten Sinne idealistisch bleiben sollen, muss die Theorie annehmen, dass, obwohl in der Geschichte »alles hätte anders kommen können«, der »Geschichte der Menschenrechte […] Indizien dafür« zu entnehmen sind, »dass die Urteilskraft zur praktischen Vernunft nicht akzidentell hinzutritt.« 26 Damit wird ein historisch sittlicher Fortschrittsprozess aus pragmatischen Gründen unterstellt, der die frühere Formel vom »nicht nicht lernen können« in schwächerer Form wieder aufnimmt. Motiviert ist diese kontrafaktische Unterstellung durch die, für ein praktisch-politisches Handeln notwendige, Unterstellung eines möglichen Gelingens. Würde der kritische Theoretiker allein der Erfahrung der immer scheiternden Geschichte der Menschen folgen, so würde ihn, in den Worten Kants, »Trostlosigkeit« und Verzweiflung ergreifen. Praktisches Handeln bedarf aber einer »tröstende(n) Aussicht in die Zukunft«, die Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›rational‹ ?« In: Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Frankfurt a. M. 1984, S. 218–235, hier: S. 228; siehe auch FG 140. Von »entgegenkommenden« Lebensformen spricht Habermas zum ersten Mal 1961 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Fortschrittsannahmen der schottischen Moralphilosophie: »Die Soziologie der Schotten konnte sich im Zusammenspiel mit einer ihr ohnehin ›entgegenkommenden‹ politische Öffentlichkeit auf Orientierung individuellen Handelns, auf eine im engeren Sinne praktische Beförderung des geschichtlichen Prozesses beschränken«. Siehe Habermas: »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie«. In: TP2, S. 48 ff. Wie bei den »Schotten« verteilen sich seitdem bei Habermas die geschichtsphilosophischen Fortschrittsannahmen auf die gesellschaftlichen Evolutionen einerseits und »entgegenkommenden« moralisch-politischen Öffentlichkeiten anderseits. 25 Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›rational‹ ?«. A. a. O., S. 228. 26 A. a. O., S. 235. 24
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»hoffen« 27 lässt. Die geschichtsphilosophische Hoffnung entsteht aus der Abwehr einer uns sonst ergreifenden Verzweiflung. Wie in Kants skeptischer Geschichtsphilosophie wird damit ein empirischer Fortschritt zum Besseren 28 unterstellt, für den historische Ereignisse als Indizien fungieren 29, um die praktisch-kritische Intention der Theorie vor einer Verzweiflung zu bewahren, die sie ergreifen müsste, wenn jede Aussicht auf Einlösung ihrer kritischen Intentionen illusorisch wäre. 30 In der zweiten Konsequenz folgt Habermas Wellmer nicht: Dieser verabschiedet nämlich einen rationalistischen Vernunft- und Freiheitsbegriff vor allem deshalb, weil dieser »diejenigen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen, die gleichsam jeder menschlichen Situation einen Partikularindex verleihen, nur als mögliche Begrenzungen rationaler Selbstbestimmung und rationaler Kommunikation, […] nicht aber als die im Begriff der Vernunft mitzudenkenden Momente der Situiertheit und der begrenzenden Perspektive als einer Ermöglichung von Wahrheit« 31 denken kann. Moniert wird mithin die sich ungeschichtlich verstehende Rationalität selber, die den normativen Maßstab der kritischen Gesellschaftstheorie begründet. Darin steckt die Aufforderung an Habermas, den Anspruch der rekonstruktiven Methode durch Reflexion auf die Geschichtlichkeit ihres Maßstabes einzuschränken. In diese Richtung kann Habermas Wellmer nicht folgen, weil er in der dann akzeptierten historischen Situierung der kommunikativen Vernunft nur eine Aufgabe ihres universalen Anspruches sehen kann. Die historische Relativierung führt aber nicht notwendig zu einem moralischen Partikularismus, sowenig, wie ein moralischer Universalismus nur absolut begründet werden kann. 32 Nur wenn jenes Missverständnis aufgehoben wäre, fände auch eine empirische (nichtVgl. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. AA VIII, S. 30. 28 A. a. O., S. 27 ff. 29 Siehe Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit« (s. Anm. 24), S. 229. 30 Z. B. FG 535: es ist »eine – eher aus Verzweiflung geborene – Hoffnung«, dass der »Anfang einer neuen universalistischen Weltordnung« signalisiert ist. 31 Wellmer: Ethik und Dialog (s. Anm. 23), S. 198 f. 32 Diese These habe ich ausgeführt in Lohmann: »Kulturelle Besonderung und Universalisierung der Menschenrechte«. In: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hrsg.): Universelle Menschenrechte und partikulare Moral. Stuttgart 2010, S. 33–47, hier: S. 34 ff. 27
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objektivistische) Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht wieder ihren Ort in Habermas’ (freilich dann verändertem) Theorieprojekt. Folgt man der Kritik am »quasi-transzendentalen« Ansatz der Diskursethik und hält man den kantianischen Weg einer durch Vernunft allein begründeten Moral für einen Irrweg, 33 dann erhält die Verständigung über die Geschichte der abendländischen Kultur, in der eine universalistische Moral entstanden ist, eine anders gelagerte, philosophische Bedeutung. Sie wird, als geschichtsphilosophische Deutung, nicht den Begründungspart der Moralphilosophie übernehmen können, aber sie wird die Geschichtlichkeit, und das heißt auch Begrenztheit und Kontingenz, der Begründungskonzepte des moralischen Universalismus mit einem Verständnis »unserer« geschichtlichen Kultur im Ganzen zu verbinden haben. In dieser Perspektive diskutiert Habermas selbst die Funktion von »entgegenkommenden Lebensformen« oder die Funktion einer Gattungsethik 34, in der es ja bezeichnender Weise um die Anerkennung der Unverfügbarkeit der menschlichen Natur geht.
4.3 Die Ambivalenz der ernüchterten Geschichtsphilosophie Von seiner Position aus und unter einer bestimmten Fragestellung kommt Habermas auf den letzten Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns mit einer historischen Reflexion auf den Entstehungskontext seiner Gesellschaftstheorie zu sprechen. Durch ihren rekonstruktiven Ansatz sei die Theorie vor fundamentalistischen Abwegen gefeit. Weil sie unlösbar an das lebensweltliche Wissen von Beteiligten gebunden sei, erschließe sich ihr der rationale Gehalt der Lebenswelt in dem Maße, wie auch den Teilnehmern der Lebenswelt diese erschlossen sei. Dabei sei sie von »objektiven Herausforderungen« abhängig, »angesichts deren die Lebenswelt im ganzen problematisch würde« (TkH II 590). Diesen ja geschichtlichen Vorgang interpretiert Habermas in Parallele zu Marx. Für Marx lasse sich erst, wenn die impliziten AbstrakDie These ist, dass wir nicht irrational handeln, wenn wir unmoralisch handeln; siehe Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993, S. 65 ff. u. 161 ff. 34 Siehe Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Frankfurt a. M. 2002, S. 70 ff.; dazu auch Lohmann: »Unantastbare Menschenwürde und unverfügbare menschliche Natur«. In: Menschenwürde. La Dignité de l’etre humain. Studia Philosophica Vol. 63/2004. Jahrbuch der schweizerischen philosophischen Gesellschaft. Redaktion Emil Angehrn/Bernard Baertschi. Basel 2004, S. 55–75. 33
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tionen seines kritischen Grundbegriffes »abstrakte Arbeit« »praktisch wahr« geworden sind, dieser als zutreffende »Kategorie der modernen Gesellschaft« begreifen. 35 Wenn diese Parallele ernst gemeint ist, dann stellt Habermas hier seine ganze Theorie in einen historischen Entstehungskontext, dessen Problematischwerden ja nicht einfach nur zu dem glücklichen Umstand führen kann, dass der Theoretiker jetzt seine Begriffe finden kann, sondern dessen Problematischwerden in der Erfahrung der Gefährdung der historischen Lebenswelt, aber auch des Gesamtsystems im Ganzen, liegen muss. Es geht also nicht nur um die kulturelle Reproduktion der Lebenswelt, sondern auch um die Erhaltung der Subsysteme, die die materielle Reproduktion der Lebenswelt sichern sollen, mithin um die ökologischen, militärischen, politischen und wissenschaftsbewirkten (z. B. durch Gentechnologie) Selbstgefährdungen der modernen Gesellschaft. Auf solche, die Gegenwart und das Gegenwärtige als Ganzes gefährdende und thematisierende Prozesse, reagieren wir mit Stimmungen, die auch den Entstehungskontext einer kritischen Gesellschaftstheorie als zugleich geschichtliche Selbstverständigung der Gesellschaft bestimmen. 36 Hier kann eine ernüchterte Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht anknüpfen. Sie hat den rationalen Gehalt solcher Stimmungen herauszuarbeiten und zu interpretieren. Sie bleibt hypothetisch, aber hält gerade dadurch Zukunft offen. Dabei müssen jene Erfahrungen des Problematischwerdens keineswegs zu einer einseitig entweder optimistischen oder pessimistischen Sicht der Dinge treiben. Man hat den Eindruck, dass die Ambivalenz, mit der Habermas eingestandenermaßen auch sonst auf seine Welt reagiert, auch hier seine theoretische Reaktion in der Annahme einer Paradoxie der Rationalisierung bestimmt: die Lebenswelt ist gefährdet und entbirgt zugleich die Potentiale ihrer Rettung. Vielleicht sind es solche, auch affektiven Grunderfahrungen des Theoretikers, die ihn eine Selbstthematisierung der Gesellschaft entwerfen lassen, die von Fortschrittshoffnungen und Regressionsängsten zugleich bestimmt erscheint. Eine mit den kritischen Intentionen verbündete Geschichtsphilosophie könnte diese Ambivalenz festhalten, und ohne dass Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 25. Siehe dazu Lohmann: »Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen«. In: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993, S. 266–292. 35 36
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er den Ausdruck »Geschichtsphilosophie« hier benutzt, bestimmt Habermas ihre Aufgabe entsprechend: »Heute sind alle Gesellschaftstheorien hochabstrakt. Sie können uns bestenfalls für die Ambivalenz von Entwicklungen empfindlich machen; sie können dazu beitragen, daß wir die Ambivalenzen, die auf uns zu kommen, als ebenso viele Appelle an wachsende Verantwortlichkeiten in schrumpfenden Handlungsspielräumen verstehen lernen. Sie können uns die Augen öffnen über Dilemmata, denen wir nicht entgehen können und mit denen wir doch fertig werden müssen.« 37 Dass wir aber mit den ambivalenten Entwicklungen fertig werden müssen, kennzeichnet den praktischen Sinn, den Habermas’ ernüchterte Geschichtsphilosophie mit Kant und Schelling teilt. Das geschichtsphilosophisch konstitutive Vertrauen, dass wir mit ihnen »trotzalledem« fertig werden können, sichert er ebenfalls wie Kant (aber gegen Schelling) ab mit der (problematischen) Annahme einer Vernünftigkeit der Natur (jener »vernünftige Gehalt anthropologisch tiefsitzender Strukturen«) und einer empirisch indizierten Vernünftigkeit der bisherigen Geschichte. Dabei orientiert er sich, wie Kant, nicht an der Möglichkeit einer Verbesserung der Moralität des Menschengeschlechts, vorrangig ist eine »Vermehrung der Producte ihrer Legalität« 38. Es ist die historische Entwicklung der politischen Rechtsverfassungen, auf die Habermas (mit Kant) sich dabei stützt. Wie bei Kant ist es die Vorstellung einer weltbürgerlichen Gesellschaft, auf die sich die Deutung der europäisch-westlichen Geschichte bezieht, wenn sie in praktischer Absicht den erhofften und hypothetisch angenommenen Fortschritt geschichtsphilosophisch konstruiert. Auf den Einwand freilich, dass hier eine einseitig selektive und zu optimistische Deutung der westlichen Rechtsgeschichte vorgenommen werde, antwortet Habermas (wiederum in den Strukturen von Schellings Geschichtsspekulation) mit einer durch Benjamins Fortschrittsskepsis inspirierten Deutung des Vergangenen. Das geschichtsphilosophische Eingedenken unabgegoltener Vergangenheiten und irreversiblen Unrechts kann den Makel aller Fortschrittskonstruktionen deutlich machen. Wie bei Schelling lässt sich dieser Konflikt nicht ausräumen, und deshalb auch bleibt jene Ambivalenz 39 unaufhebbar, die die Entste37 38 39
Habermas, Vergangenheit als Zukunft (s. Anm. 19), S. 153 f., Hrvh. v. Vf. Kant: Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 91. Siehe zur entsprechenden Diskussion zwischen Benjamin und Horkheimer Hans
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
hungskontexte der kritischen Gesellschaftstheorie und, nach »Faktizität und Geltung«, der rechtspolitischen Konzepte kennzeichnen. Auch hier bleibt die ernüchterte Geschichtsphilosophie ambivalent. Darauf will ich zum Schluss noch kurz eingehen. In seinen Schriften zu einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts und in seinem Engagement für eine Verfassung Europas streitet Habermas für eine »realistische Utopie« 40. Diesen Begriff übernimmt er von John Rawls, und wie bei diesem handelt es sich um eine ernüchterte (bei Rawls wohl um eine schlicht nüchterne) Geschichtsdeutung eines zukünftigen gesellschaftlichen und internationalen Zusammenlebens der Menschen im Lichte von Kants Idee eines »Reichs der Zwecke«. Obwohl in Rawls trocken nüchternem Stil keine Spuren eines vormaligen Rausches der Vernunft zu finden sind, weist seine Konzeption einer realistischen Utopie erstaunlich ähnliche geschichtsphilosophische Konnotationen auf. 41 Rawls nennt seinen idealen Entwurf eines »Rechts der Völker« »in einem realistischen Sinne utopisch« (13). Der Entwurf verbindet Rawls bekanntes Modell einer fairen gerechten Gesellschaft mit einem Entwurf »eine annehmbar gerechten Gesellschaft von Völkern« (13). Realistisch ist dieser Entwurf, weil in ihm, wie Rawls in Anknüpfung an Rousseau sagt, »die Menschen genommen (werden), wie sie sind« (15) und utopisch, über das Gegebene hinausgehend, weil er die politischen und rechtlichen Institutionen und »die Gesetze« entwirft, »wie sie sein könnten« (15) und nach Maßgabe der »öffentlichen Vernunft« (62 ff., 165 ff.) sein müssten. Interessant ist, dass auch Rawls ambivalente Gefühle mit diesem Zukunftsprojekt verbindet und sich dabei auf Kant beruft. Die geschichtsphilosophische Hoffnung auf die Realisierbarkeit seiner realistischen Utopie antwortet auf den Einwand, dass es keine Sicherheit gibt, dass nicht Auschwitz oder ein ähnliches »schreckliches Übel« das Projekt zum Scheitern bringt: »Wir dürfen es […] nicht zulassen, dass diese großen Übel der Vergangenheit oder Gegenwart unsere HoffnunPeukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie. Düsseldorf 1976, S. 273 ff., und VE 515 ff. 40 Siehe Habermas: »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«. In: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a. M. 2011, S. 13–38. 41 Ich beziehe mich im Folgenden, mit den Seitenzahlen in Klammern im Text, auf John Rawls: Das Recht der Völker. Berlin New York 2002, S. 13 ff.
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Entgegnung auf Georg Lohmann
gen untergraben […]. Andernfalls würde auch uns das falsche, böse und dämonische Handeln anderer zerstören.« (24). Wie bei Kant (und ihm folgend bei Habermas) ist auch bei Rawls die geschichtsphilosophische Hoffnung eine pragmatische Notwendigkeit, die auf eine angesichts der Fehlschläge und Gräueltaten der menschlichen Geschichte sonst uns ergreifende Verzweiflung (siehe auch 163) antwortet und sie überwindet oder zumindest mindert, und wie bei Kant und Habermas ist der, geschichtsphilosophisch motivierte, theoretische Vorschlag selbst ein Mittel, um die »vernünftige Hoffnung« zu »stärken und (zu) bekräftigen« (25). Wenn Habermas daher seine politische »Parallelaktion« zu Rawls »Recht der Völker«: die »Konstitutionalisierung des Völkerrechts«, immer bescheidener werdend, als realistische Utopie vorstellt und betreibt, so steht er auch weiterhin in den Bahnen dieser ernüchterten Geschichtsphilosophie. Dass bei einem ja nun in die Jahre gekommenen Denker der Rausch einer in jungen Jahren beherzt ergriffenen Geschichtsspekulation so lange nachhallt, erstaunt, und die intellektuelle Kraft, mit der im jungen wie im hohen Alter diese philosophischen Gedanken vertreten werden, verdient Bewunderung.
Entgegnung von Jürgen Habermas Ich habe das Glück, dass Georg Lohmann meine Versuche seit langem kommentiert und kenntnisreich kritisiert; dabei klopft er die Texte mit einem vielleicht auch von seinem Lehrer Michael Theunissen inspirierten Blick auf verborgene spekulative Motive ab. Ich erinnere mich an eine ähnliche Spurensuche in seiner tiefschürfenden Rezension der Theorie des kommunikativen Handelns in der »Philosophischen Rundschau«. Solche Versuche, mir auf die spekulativen Schliche zu kommen, lese und höre ich natürlich nicht ohne Ambivalenzen. Ich möchte mich einerseits gerne in diesen gewissermaßen entschlüsselnden Texten wiedererkennen, weil sie mir das Gefühl geben, mich besser verstehen zu lernen. Aber andererseits wäre es mir nicht ganz geheuer, wenn mein explizit als nachmetaphysisch angezeigtes Selbstverständnis von unausgewiesenen spekulativen Antrieben lebte. Lassen Sie mich damit beginnen, dass Lohmann eine Disposition richtig be344 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Georg Lohmann
schreibt, die meine zeitdiagnostischen Wahrnehmungen aus der Perspektive eines Zeitgenossen gewiss mitbestimmt – die Ambivalenz eines gleichzeitig auf Risiken und rettende Potentiale gerichteten Blicks: »Vielleicht sind es solche, auch affektiven Grunderfahrungen des Theoretikers, die ihn eine Selbstthematisierung der Gesellschaft entwerfen lassen, die von Fortschrittshoffnungen und Regressionsängsten zugleich bestimmt erscheint.« Diese Diagnose erklärt mir selbst, warum ich auf Zuschreibungen, sei es einer optimistischen oder einer pessimistischen Grundeinstellung, oder auf die Aufforderung, zwischen dieser Alternative zu wählen, ratlos, ja eigentlich verständnislos reagiere. Richtig ist auch, dass mir die Lektüre von Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen nicht nur die Augen über die Verwandtschaft der protestantischen Mystik eines Jakob Böhme mit der jüdischen Mystik des Luria von Safed die Augen geöffnet hat. Aus diesem Rückblick habe ich auch gesehen, welche Bedeutung das Motiv der »Natur in Gott« oder einer »Kontraktion Gottes« für das spekulative Motiv meiner Schelling-Dissertation gehabt hatte: Adam reißt mit seinem Fall eine im Intelligiblen bereits vollständig ausgebildete Welt mit in den Abgrund, woraufhin Gott sich in sich selbst zurückzieht, gewissermaßen ein Exil in sich selbst antritt und so den Wiederaufbau, die Rekonstruktion der zertrümmerten Schöpfung ganz dem Menschen überlässt. Die alleingelassene und auf sich selbst gestellte Menschheit wird von Gott zur Selbstermächtigung genötigt – zu einer Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Nun verstand ich auch, warum mich die Dissertation unbefriedigt gelassen hatte. Denn aus den Ruinen der ersten Schöpfung konnte die alleingelassene Menschheit wenigsten das ursprüngliche Programm entziffern – der Vorschein einer zu restituierenden Welt. Das Motiv der Resurrektion der Natur! Aber woher sollte heute – nachdem die Quellen von Religion und Metaphysik versiegt waren – eine solche normative Anleitung gewonnen werden? Das war die Ratlosigkeit nach Abschluss der Dissertation, die mich – unter anderem auch – von der Philosophie zu Soziologie und Gesellschaftstheorie, d. h. zum Frankfurter Hegelmarxismus geführt hat. In diese zweite Hälfte der 50er Jahre gehören die vom frühen Marx inspirierten Überlegungen zu einer empirisch falsifizierbaren Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht. Während meiner Assistentenzeit am Frankfurter Institut lag es nahe, an Hegels Motiv der »rächenden Gewalt« anzuknüpfen (in He345 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Georg Lohmann
gels Frühschriften gibt es ein Fragment über »Verbrechen und Strafe«). Der Verbrecher zerstört durch seine Tat die vorausgesetzte sittliche Totalität der Gemeinschaft und setzt dadurch eine Dynamik der Exklusion in Gang, die in der dialektischen Gesetzmäßigkeit systematisch verzerrter Kommunikation angelegt ist und auf den Verbrecher zurückschlägt. Damit war der Weg zur kommunikationstheoretischen Deutung der Psychoanalyse in Erkenntnis und Interesse vorgezeichnet. Diese Spur habe ich zwar heute, in den Arbeiten zur rituellen Kommunikation und zur Versprachlichung des Sakralen, wieder aufgenommen. Aber die Rationalitätspotentiale der sprachlichen, aus profanen Handlungszusammenhängen hervorgehenden Kommunikation haben mich damals zunächst zu jener Entwicklungslogik hingeführt, die Piaget in seiner kognitivistischen Entwicklungspsychologie untersucht hatte. Albrecht Wellmer hat die beiden, einerseits an Freud, andererseits an Piaget anknüpfenden Modelle der Entwicklung richtig unterschieden, und Georg Lohmann beschreibt jetzt die Umrisse der kantianisch ernüchterten Geschichtsphilosophie (die ich nicht mehr so nennen würde). Heute neige ich dazu, eine anspruchsvolle Theorie der sozialen Evolution, an der z. B. Hauke Brunkhorst arbeitet, mit dem falliblen, aber nicht-defätistischen Bewusstsein eines kantischen Ethos zu verbinden – wenn Sie wollen das lutherische Ethos, das uns verpflichtet, auch dann noch etwas zur Verbesserung der Welt beizutragen, wenn uns die Theorie vom wahrscheinlichen Untergang der Welt überzeugt. Gegen die Verzweiflung anzudenken, das ist letztlich nicht nur ein Motiv, sondern eine Verpflichtung, weil wir sonst in vielen Situationen nicht mehr handeln, sondern nur noch erstarren könnten.
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Ernest Wolf-Gazo
Habermas and Young Hegelian Dialectics
Introduction This essay focuses on a specific aspect of Habermas’ Dissertation submitted to the Philosophical Faculty of Bonn University, in the newly founded Federal Republic of Germany, at the beginning of Winter Semester 1953/54. The topic of the Dissertation dealt with the later philosophy of Schelling, entitled Das Absolute und die Geschichte: Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, promoted by his Doktorvater Erich Rothacker and Oskar Becker (Koreferent) and evaluated with the highest grade possible, ›egregia‹. In fact, we will not deal directly with the treatment of Schelling, but with the »Einleitung« (pp. 1–13) and »Kapitel I« (pp. 16–86) entitled »Die zeitgenössische Kritik an Hegel (1829–50)«, part of »Erster Teil« of the Dissertation with the title »Freiheit und Wirklichkeit«. There is a good reason for drawing attention to this specific aspect of the thesis, since it turns out to be a stepping stone for the continuous development of Habermas’ thinking in his Auseinandersetzung with Marx and the heritage of classical German idealism. After his completion of the Bonn dissertation young Habermas pursues the theme that he started, projected in the early parts of the thesis, the significance of Wirklichkeit and Praxis in the real world, in contrast to the apparent imagined one in classical German ideal philosophy. He does not turn Marxist, but receives his cues from the young Marx of the Paris Manuscripts 1844 and the Grundrisse, which had been republished in 1953, a year before completing his Schelling topic. 1 Historically and philosophically this is important for the subsequent course of intellectual and emotional confrontation of the young genera1 Karl Marx: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart 1971. (Habermas cites the Kröner Verlag Edition 1953 and the Berlin (Ost) Dietz Verlag Edition 1953 for Grundrisse).
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Ernest Wolf-Gazo
tion of 1968 with a new Germany, getting their cues from a mature Habermas, by now situated in Frankfurt. From the Bonn thesis 1954 to his Habilitationsschrift, Strukturwandel der Öffentlichkeit, published in 1962, to the first major work that attained public notoriety Erkenntnis und Interesse, published with Suhrkamp in 1968, Habermas became a spokesman for a new Zeitgeist steeped in Kritik and Praxis. The syndromes of 1968 can be rediscovered in the pre-revolutionary ferments of the 1840s, a decade in which Young Hegelian Dialectics, as we may call it, commanded the stage as major opposition against the Prussian State, spearheaded by the Young Hegelians that included the young Marx and Friedrich Engels. 2 However, within this context attention must be drawn to the significance of Habermas’ Rezeption and Auseinandersetzung, in terms of the 1840s Kritik, dealing with the existing political, social, economic, and religious order in the old Europe. In addition, we must draw specific attention to the fact that we are dealing with Habermas’ generation that survived a disastrous war and tried to find, somehow, a solid foundation to build their future life. In a way, we can say, with half-century hindsight, that Habermas’ generation was involved in a project of Re-education finding intellectual tools in order to come to terms with the evils that had befallen Germany. The aspect of Habermas’ thesis that we focus on gives us a quick glimpse of the initial stepping stone of that post-war Re-education in terms of adjusting to a new reality. Bonn becomes the capital of a newly established state, known as Federal Republic, and a Cold War is in progress, between East and West, while an ideological confrontation takes place among the more intellectual minded younger generation at the universities in the United States and Western Europe. 3 We found a few voices witnessing the direct intellectual confrontation in which Habermas’ generation found themselves: Hans Tietgens, a former student at Bonn during the post-war years tells us, »Versuche einer unbefangenen Auseinandersetzung mit Marx unterlagen dem Verdikt des Subversiven.« 4 Considering the atSee William Hagen: German History in Modern Times. Cambridge, UK. 2012. See Max Braubach: Kleine Geschichte der Universität Bonn, 1818–1968. Bonn 1968; Georg Satzinger (Hrsg.): Das Kurfürstliche Schloss – Residenz der Kölner Erzbischöfe – Friedrich-Wilhelms-Universität. München 2007. 4 Cf. Hans Tietgens: »Studieren in Bonn nach 1945 (Versuch einer Skizze des Zeitgeistes)«. In: Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler (Hrsg.): Kommunikation in Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik: Antworten auf Karl-Otto 2 3
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
mosphere during the Adenauer years young Habermas finds himself in a bind: on the one hand he needs to meet the academic requirements of the traditional university curriculum with, if possible, traditional topics and themes; yet, on the other hand, he finds himself in a process of selfawareness and Kritik of the existing arrangements he finds in the conservative Adenauer Republic. In short, to deal with Marx, or close to socialist thinking, in western Germany, during the 1950s was no small feat. It took some intelligence, if not to say cunning, to circumvent traditional institutions and their guardians, the German professoriate who survived the war, physically and politically. Needless to say, the psychological tension between the old guard professoriate and the postwar academic youth had its special psycho-sociological dimension. The Bonn student Habermas must have noticed this tension existing in the post-war German academy. In a recent work on German history in modern times, the eminent American historian William W. Hagen has this to say on the situation of the German universities of the pre-war decade: »A 1931 opinion poll at the republic’s eighteen universities showed that, at the fourteen of these, 40 per cent and more of the students favored the National Socialists. At eight universities, more than 50 per cent were pro-Hitler. These were proportions much higher than in the country at large.« 5
Needless to say, it is no surprise that young Habermas should have chosen a passage from Schelling’s Weltalter heading the main text of the thesis, »[…] wie alles so unendlich persönlich zugeht, daß es unmöglich ist, irgendetwas eigentlich zu wissen.« 6 Translated into the Zeitgeist of 1950s Germany that meant one had to start all over again, be skeptical, be critical, and don’t simply believe what is being told by any authority, and always ask (hinterfragen) as to what the real interest is that motivates any sort of information or knowledge. Critique, in the Kantian sense, Kritik in the Young Hegelian sense, Praxis in the ArisApel. Frankfurt a. M. 1982, pp. 720–744; relevant Christian George: Studieren in Ruinen: Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit, 1945–1955. Göttingen 2010. 5 See Hagen: German History in Modern Times (cf. Fn. 2), p. 253. 6 Cf. Jürgen Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Bonn Diss. 1954; new discussions on the theme, see Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ›Die Weltalter‹. Freiburg 1989; and Markus Gabriel: Das Absolute und die Welt in Schellings Freiheitschrift. Bonn 2006.
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totelian-Marxian sense, and the confrontation with Wirklichkeit (Reality) must be part of Re-education of a new society to be built. The aspect of his thesis is an inkling of this Aufbruch in the psychology of Habermas’ generation, then exploding onto the public sphere in the 1960s. On the anniversary of his 50th birthday in 1979 Habermas describes his Bonn student days as follows: »Der Lukács stand in der Seminarbibliothek, die war relativ klein, da war man zuhaus, da lebte man drin. Da kannte man jedes Buch. Durch Löwith bin ich zunächst mal auf den jungen Marx gestoßen. Das war der Anlaß, daß ich nachträglich zu meiner Dissertation eine Einleitung geschrieben habe – was man ihr vielleicht ansieht: über die Junghegelianer.« 7
Although living in modest material conditions, Habermas and his student friends lived in an intense exchange of political-philosophic dialogues, promoting a level of self-consciousness aiming at a different kind of society they had experienced as children and teenagers. 8 His student life moves between Bonn’s Weberstraße (Studentenbude), Nassestraße (Mensa), and the library of Philosophisches Seminar A, venues of the intense discussions. It was a provincial existence, but enmeshed with high hopes and a strong will to acquire the intellectual tools to make a difference in a future Germany. Considering the immediate philosophy professoriate who had a »checkered« background, such as Erich Rothacker, Oskar Becker, but also showed steadfastness such as Johannes Thyssen and Theodor Litt; the Hegel scholar Johannes Hoffmeister, the linguist Leo Weisgerber, not to forget the art historian Heinrich Lützeler. 9 In fact, it was not easy to find the right kind of tone and style within the Re-education project. Bonn had a proud tradition, the Old Cemetery in downtown Bonn testifies to that, where anyone can pay Interviewed by Detlef Horster/Willem van Reijen in Starnberg March 23, 1979. In: Horster: Habermas. Hannover 1980, pp. 70–94. 8 Interview of Otto Pöggeler: »Erinnerungen. Hegel, Heidegger und Gadamer«. In: Information Philosophie 5 (2006), pp. 30–35. 9 See the enlightened work by Ralph Stöwer: Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen. Göttingen 2012; and by Rothacker’s assistant Wilhelm Perpeet: Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule. Bonn 1968; highly informative and entertaining on Rothacker and Max Scheler: Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten. Freiburg 1978; Lützeler who knew Rothacker personally well had this to say about him: »Der Griff ins Leben war ihm wichtiger als der Begriff von Leben. […] Rothacker war nie langweilig.« (pp. 47/48) 7
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their respects to August Wilhelm Schlegel, or Clara and Robert Schumann, the 18th Century Enlightenment, the Catholic Rhineland adopted the Napoleonic Code, then Prussian Educational Reforms, and students including Karl Marx, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, or Aby Warburg. 10 Most visitors to Bonn know that it is the birthplace of Beethoven, but few know that it is also the birthplace of Moses Hess, compatriot of Marx and Engels, founder of the oppositional Rheinische Zeitung in Cologne, and author of the visionary ideal communist society. 11
Aspects of the Bonn Dissertation 1954 The year before young Habermas passed his rigorosum on February 24, 1954, was important in the German-speaking world, namely, Marx’s Frühschriften edited and introduced by Siegfried Landshut, were published with Kröner Verlag in West Germany, as well as Marx’s Grundrisse with the complete German text with Dietz Verlag in East Berlin. 12 Habermas used the Kröner edition of 1953 to work out his preliminaries in his Schelling thesis as well as the Grundrisse, but less so. And, as pointed out in the introduction, it was a risky undertaking in the Adenauer Era, considering the Cold War, to publish and show intellectual interest in Marx, specifically at the university. His Doktorvater Erich Rothacker may have been liberal in dealing with Marx on an academic and intellectual level, but on a formal level, such as a formal doctoral procedure and publication was another matter. This overseas student remembers the year 1968, when his student friend Gerhard Pfafferott, an assistant to Professor Wilhelm Perpeet at the time, published his Bonn dissertation on Marx mentored by Professor Klaus Hartmann, winning the university prize of the most outstanding dissertation of the year; times, indeed, had been changing. 13 No doubt, the last-minute addition to the main body of this thesis was only a hint as Cf. Edith Ennen et al.: Der alte Friedhof in Bonn. Bonn 1958 (expanded 2nd edition). See Jonathan Sperber: Karl Marx: A Nineteenth-Century Life. New York 2013. 12 See Rainer Nicolaysen: Siegfried Landshut, Die Wiederentdeckung der Politik. Frankfurt a. M. 1997. 13 In the Wintersemester 1970/71 and Sommersemester 1971 Klaus Hartmann, Professor at Bonn University, delivered excellent lectures on the philosophic aspects of Marx, based on his masterful treatment published as, Die Marxsche Theorie. Berlin 1970. 10 11
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to which direction the Re-education of young Habermas would take; it was not only American publications in the social sciences, but also a thorough Marx Rezeption that we can see in his 1950s articles, published in the magazines Merkur and Frankfurter Hefte, including a sociological piece in honor of Erich Rothacker in 1958. Reading some of these articles on the rationalization of work, the function of leisure time, even the illusions produced by prospective partner searches in West German newspapers of the 1950s, we see clearly the influence of Marx’s Frühschriften. The sharp and clever analyses, the sense of humor, but also cynical remarks as to the public relations announced in the name of the Wirtschaftwunder, in which Germany found itself in the mid-1950s. Habermas focuses his attention on Marx’s »entfremdete Arbeit« (alienated labor); especially in the first manuscript of the so-called Paris Manuscripts 1844, where Marx deals with estranged and alienated labor. 14 Reviewing the Habermas articles of the 1950s we find the direct influence of the Marx critique of Hegel adopted, scrutinizing the newly emerging society in West Germany. Habermas is keenly interested in the processes, structures and conditions under which the western part of Germany emerges into a full fledge western-oriented modern society. Bonn was not Weimar – as a headline had it in a well-known German mass circulation newspaper. And work, or labor (Arbeit) was at the center of West Germany society. Thus, Marx’s Hegel critique was a useful anchor for Habermas in order to start his Re-education project: a critique of his society. We want to recall the following pages in the Landshut/Kröner Edition that served Habermas as a starting point for his societal critique, specifically in reference to the basic category of Arbeit and, anthropologically speaking, der Mensch in the process of modernization (for Marx in the mid-19th century, for Habermas in the mid-20th century): »Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er faßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewahrende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakte geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die EntCf. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hrsg. v. Barbara Zehnpfennig. Hamburg 2005, p. 61 f.
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äußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen […].« 15
In the previous paragraph Marx uses a philosophic tone in order to construct his systematic Hegel critique: »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinizp – ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung, und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift.« 16
These two passages make clear that the dialectic method as a negation, in form of a moving and producing principle, turns out to be the heart of Habermas’ early work. At this point it is clear that Hegel recognized the potential of negation in Aristotle’s de Anima, which he immediately applied to build into his Wissenschaft der Logik. Thus, in a sort of quixotic way, Aristotle more subtle combination of logic and psychology reemerges in Hegel, transformed in Marx, and adopted by Habermas. The basic motor of the dialectic, Negation der Negation, is the producing element of Geist in the form of, as it turned out, historical materialism. Although Marx wants to emancipate himself from philosophy (as a product of Bildungsbürgertum), but not to deny it as an educational experience, likewise, Habermas the Bonn student, escapes into the direction of sociology. Part of his Re-education is putting cautious distance between himself and the classical forms of German idealism, in order to pick up the hints from the Marx of 1844, and move on to sociological analysis of modernity, of the newly emerging West German society (also known as Bonn Republic). Yet, this overseas student has the suspicion that neither Marx nor Habermas were able to break with the heritage of their respective classical education in philosophy. No doubt, Marx or Habermas never would have been able to handle a comprehensive analysis of structures and multifarious elements that make up a modern society, without the assistance of dialectic methodology, spiced with Kritik of contemporary conditions in which a society find itself. This is the reason why American or Anglo-Saxon edu15 16
Marx: Die Frühschriften. A. a. O. (cf. Fn. 1), pp. 269–270. Ibid., p. 269.
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cated students find the »Continental Way« so difficult to follow and comprehend. A specialist expert in sociology, or any empirically oriented sub-social science field, in the 21st Century, without a philosophic background, has serious difficulties comprehending and appreciating systematic thinkers, dealing with societal processes in specific historical epochs, such as Aristotle, Ibn Khaldun, Hegel, Marx, Weber, Simmel, Foucault, Derrida, Elias, Hobsbawm, or Habermas. Aside the critique of Hegel’s Geist and issues of economic history, we find that another watchword was important for the 1840s, as well as the 1960s: it was the notion of Kritik. In that sense Habermas showed a critical sensitivity towards the coming Zeitgeist of the Bonn Republic; after its tremendous economic success, the newly forming society had to face itself, as well as its unresolved psychological problems (Vergangenheitsbewältigung), that turned up as consequences of Germany’s moral bankruptcy after total defeat and procrastinating attempts, of a society, playing at being normal in the post-war era. It was the time everyone talked about Fresswelle, an unkind word that simply describes pure culinary needs and desires. Again, in terms of Hegel’s Rechtsphilosophie the critique we find by the Young Hegelians, especially Max Stirner and Ludwig Feuerbach, were not sufficiently radical for Marx, since he demanded a total critique of Hegel. This total critique was to be expanded to a whole civilization producing the modern capitalistic system; in the following passage we find this anticipation of the total critique going beyond the Young Hegelian position, emerging in the mature Marx by 1867, the year the first volume of Das Kapital was published. The complete German text of the Grundrisse was not yet known to the public until 1953, for ideological reasons, the text was not published in full, but »edited« in Moscow. The Grundrisse turn out to be a transitional stage, a workshop in dialectic thinking in terms of philosophy and economics, ushering into Das Kapital. Prior to that we find in Marx the tenor and rationale for Kritik in all areas of human activity: »Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der
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Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.« 17
In fact, that too was part of Habermas’ Re-education, to scrutinize his newly emerging society in terms of Kritik, while keeping an eye on the historical dimension by which a society is conditioned. Marx puts it nicely: »Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutschen unsere Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.« 18
Habermas immediately understood that he did not want simply to do philosophy, to merely understand »what happened«, but wanted to engage in Wirklichkeit, in Praxis, in action of his society, be part of the formation of that society, and not simply an observer (Zuschauer). He wanted to be part as Zeitgenosse and not simply a bystander, applauding authority, or prevailing public opinion; he wanted to be a part of that public opinion, participating in its formation. By 1960 Habermas challenged himself, he wanted not only to understand Marx and his critical implications, he wanted to go beyond Marx, or, as he puts it in the formulation of the so-called Hermeneutic Circle, »Marx besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat.« 19 At that time he had completed studying interpretations by standard works on Marx, reported and made public in his Literaturbericht of 1957. These sketches are important to understand why Habermas decided in a last-minute attempt »to add« about eighty pages to the main body of the text of the thesis, before he took his rigorosum (oral examination as part of the doctorate requirement in the German university system), with approval for printing and distributing the 250 copies of the dissertation by Bonn University. The bifurcation in Schelling’s thinking, according to Habermas, was to be understood as a materialist critique of Schelling, especially his later philosophical development, which was witnessed, first hand, in Schelling’s Berlin Humboldt University lectures attended by Engels, Kierkegaard, and Bakunin. 20 17 18 19 20
Ibid., pp. 208–209. Ibid., p. 214. Cf. Habermas: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1971 (4th edition), p. 244. See the documents and reports on Schelling’s Berlin Humboldt University Lectures
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The »Einleitung« to the Dissertation Let us take a closer look at Habermas’ Einleitung added to the main text of his Bonn Dissertation. The subject matter was the later Schelling that had been dealt with in conventional and traditional academic literature. However, the young Doktor notes the works of prominent Schelling scholar Horst Fuhrmans, as well as the Tübingen philosopher Walter Schulz, and the former Frankfurt protestant theologian and philosopher-in-exile Paul Tillich, in a positive tone. 21 Yet, in order to make his case, the strategic attempt is made to develop a subtle relationship between the later Schelling and the young Marx, emerging in the early pages of the thesis; that is to say, Jakob Böhme and Jewish mysticism in the form of the Kabbalah is introduced. 22 In many ways there are basic hints that we find in Habermas’ later writings, but treated in a more certain explication. The jest of the matter is that there is a red thread leading from the Kabbalah to Jakob Böhme and Swabian Pietism (Oetinger) via Hegel to Schelling, then Marx. This »stream of unconsciousness« can be followed deep into the philosophic mode of Ernst Bloch, Walter Benjamin, and Herbert Marcuse. Of course, that line of thinking had not yet been worked out in the thesis, but was continued in subsequent years, reinforced by the modern scholarship methodology of Gershom Scholem having its roots in Jewish mysticism. In the essay of 1978 honoring Gershom Scholem, Habermas remembers: »Mir war, zu alldem, ein merkwürdiges Buch über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik in die Hände gefallen, das mich mit Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der Theosophie Jakob Böhmes und der Lehre eines Mannes namens Isaak Luria überraschte. Hinter Schellings Weltaltern und Hegels Logik, hinter Baader standen also nicht nur, wie wir es gelernt hatten, die schwäbischen Geistesahnen, nicht nur Pietismus und protestantische Mystik,
in 1841, Manfred Frank (Hrsg.): Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/1842. Frankfurt a. M. 1977, pp. 393–501. 21 The academic literature in Habermas’ Dissertation is based on the publications of the pre-war and post-war years; especially the works by Karl Löwith, Kuno Fischer, Nicolai Hartmann, Erich Rothacker, Oskar Becker are cited and in particular the voluminous work by Richard Kroner on classic German idealism is noted, as well as the work by Georg Lukács, Der junge Hegel (Zürich 1948) and Carl Schmitt’s political romanticism book of 1919 laudet. 22 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (ef. Fn. 6), p. 2 ff.
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sondern, vermittelt durch Knorr von Rosenroth, jene Version der Kabbala, in deren antinomistischen Konsequenzen deutlicher als irgendwo sonst die Denkfigur und Antriebe der großen dialektischen Philosophie vorausgedacht worden waren.« 23
Systematically we find the following passage in a more mature form that was hinted at in the Thesis-»Einleitung«: »An das Konzept, daß Gott in seine eigenen Urgründe hinabsteigt, um sich selber aus ihnen zu schaffen, kann Isaak Luria (wie auch Jakob Böhme) anknüpfen, um die Schöpfung aus dem Nichts nach dem dialektischen Bild eines Gottes zu denken, der sich zusammenzieht oder kontrahiert, womit er in sich selbst einen Abgrund erzeugt, in den er herabsteigt, in den er sich zurückzieht und so den Raum erst freigibt, den die Kreaturen einnehmen werden. Der erste Akt der Schöpfung ist eine Selbstnegation, durch die Gott sozusagen das Nichts hervorruft – eine Lehre, die sich in strikten Gegensatz zu den aus dem Neuplatonimus stammenden Emanationsvorstellungen setzt. […] Die Selbstverschränkung Gottes ist die archetypische Form des Exils, der Selbstverbannung, […] Von dieser Konzeption des Abgrundes oder der Materie oder des Zorns […] führen verschiedene Linien über Schelling und Hegel zu Marx.« 24
Habermas points out that the first station of the dialectic allegory of creation ex nihilo ushers into a materialist natural dialectic. Translated into modern terms of social and political revolution he concludes, »Vom frühen Marx bis zu Bloch und dem späten Benjamin heißt es dann: keine Resurrektion der Natur ohne Revolutionierung der Gesellschaft.« 25 Needless to say, if the promotion committee in Bonn of 1954 would have read these passages in detail they would find them highly speculative, very risky, and subversive. The »Einleitung« makes hints only, in order to suggest, that the direction of his Schelling interpretation was not following the signs of conventional Schelling scholarship. In the thesis’ »Einleitung« we find Schelling moving away from the historical school turning to a more philosophic anthropological mode of explication and towards a Kantian-Fichtian Neuansatz. This is the reason why Schelling’s Freiheitsschrift became the focus of later scholarship in order to deal with the tension of negation of freedom and Cf. Habermas: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1998 (Erw. Ausg. 3. Aufl.) 1998, p. 378. 24 Ibid., p. 386. 25 Ibid., p. 388. 23
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evil. 26 History is introduced and with it the alienation of the human species from nature, thereby introducing a modern tension that still persists between the modern Mensch and Natur. Irony has it that Martin Heidegger is introduced in the »Einleitung«, more as a go-between of the historical school and the Destruktion of the notion of the Absolute. Habermas exercises the tactics in his first public eye-brow-raising article in the Frankfurter Allgemeine Zeitung of July 1953, in which he proposes to think along with Heidegger, against him. This was half a year before the Dissertation was handed in to the Bonn Philosophical Faculty. On the very first page of the »Einleitung« we read: »Uns interessiert hier lediglich dies: daß Heidegger, wenn auch nicht ausdrücklich, die Frage des Historismus entlarvt hat als Frage nach dem geschichtlichen Absoluten.« 27 Clearly young Habermas had learned something from the Freiburg master, despite feeling a sort of antagonism toward him. His Bonn mentor and friend Karl-Otto Apel, who had the real experience of five years soldering in the Wehrmacht, developed a sensitive ear and eyesight in terms of language used in post-war Germany. The horrible experience of total destruction and moral bankruptcy turned into a Trieb of heightened awareness against anything dealing with Volk, Gemeinschaft, or Bewegung. As Habermas pointed out, in another reminiscence of the Bonn years, that is to say, it was Apel who discovered the curious passage in Heidegger’s introduction to metaphysics, reissued in 1953, without notes, or historical explanation: »Apel verzehrt sich im philosophischen Gespräch; er verkörperte bis in die Sprache seiner lebhaften Gesten hinein das, was man damals ›engagiertes Denken‹ nannte. […] Er war es, der mir ein druckfrisches Exemplar der Einführung in die Metaphysik gab und mich auf jenen unkommentierten Satz von der ›inneren Wahrheit und Größe der Bewegung‹ hinwies, den wir – weit weg von den Freiburger Querelen – nicht erwartet hatten.« 28
That is to say the 1953 newspaper article reads, »Die Vorlesung von 1935 demaskiert schonunglos die faschistische Färbung jener Zeit. 26 Cf. Schelling: Über das Wesen der Menschlichen Freiheit. (With Einleitung by Horst Fuhrmans). Stuttgart 1968 (based on original publication of 1809), pp. 3–38. 27 Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), Einleitung, p. 1. 28 See Habermas: »Ein Baumeister mit hermeneutischem Gespür: Der Weg des Philosophen Karl-Otto Apel«. In: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck: Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1997, p. 86.
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[…] Es scheint an der Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken.« 29 Here, again, we see a skeptical development towards the conventional understanding of history and the kind of historical consciousness that the Historische Schule had promoted. At first sight his Schelling Dissertation seems, somehow, a typical academic event that needed to be absolved in a standard fashion. Yet, it seems, again, that there is no accident that he added the »Einleitung« to the final text of the dissertation, signifying that the later Schelling was an important transitional stage towards a timely, more modern, materialist conception of history and human Wirklichkeit. On that road young Habermas develops doubts about philosophy, in the traditional sense of the word, and intends to move into sociology with consideration of empirical methodology, as he finds in Peter F. Drucker, Helmut Schelsky, or Friedrich Pollock. 30 His subsequent works on the sociology of the Frankfurt students, their family background, and psychological disposition bear this out. Yet, in the meantime he discovers Freud and Herbert Marcuse. Habermas sensitized himself to the form of historical criticism we find in the Kritik of the Young Hegelians, of Hegel’s system and the European order in the 1830s and 1840s. By working on Schelling Habermas discovers many dimensions that traditional scholarship, at least the way he encountered the academic Rezeptionsliteratur in Göttingen, Zürich, and Bonn, did not satisfy his curiosity. We read in the »Einleitung«, »Es geht uns lediglich darum, die Physiognomie der Fragesituation herauszubringen, die aus dieser Kritik selbst geschichtlich geworden ist.« 31 Thus, the Fragesituation deals with historicity and historical existence (Wirklichkeit), the Absolute and Freedom, as well as the material condition of the human species in history. They are not platonic forms, but practical confrontations with issues and items at hand during the course of world history. And it is the tool called Kritik, Habermas uses in order to come to terms in the form confrontations (AusHabermas: Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), pp. 70 and 72. Cf. Habermas: »Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit«. In: Gerhard Funke (Hrsg): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, pp. 219–231; contributors to the Festschrift were Johannes Thyssen, Theodor Litt, Oskar Becker, Vinzenz Rüfner, Karl-Otto Apel, Michael Landmann, Arnold Gehlen, Heinrich Lützeler, Hermann Schmitz, Ernst Benz, Heinz Heimsoeth, Bruno Liebrucks, Josef Derbolav, and Helmuth Plessner. 31 Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 6. 29 30
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einandersetzungen), showing the contradictions and paradoxes of the situation, operating on the assumption that critique (in the Kantian sense) as well as Kritik in the Young Hegelian sense (including the young Marx) provides the key to a dynamic world, perpetually developing itself. He did not forget and remembered well Marx’s 1844 positive comments of Hegel’s logic and the definition of Kritik thereof, »Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip.« 32 This dialectic is already operating in his Bonn thesis, in which he sees cross-currents of ideas and paradoxical situations that influence and negate each other. Neither Hegel, nor the young Marx, had forgotten the power of negation that influenced them via Aristotle’s de Anima. Thinking as a dialectic movement, generated in terms of negation, promotes progression in treating the problems and issues at hand. Resolutions are possible, but only in terms of the apparent contradictions and paradoxes that plague the human species. Yet, the Achilles heel of that species has always been the maxim that human affairs ought to be rational. Perhaps, this is exactly why Schelling provides such a fascination, even in the 21st Century, that he senses, »[…] das Ich in uns kein Ding, keine Sache sein kann, die einer objektiven Bestimmung fähig ist. […] daß das handelnde Ich, obgleich in jedem einzelnen Fall bestimmt, doch zugleich nicht bestimmt ist, weil es nämlich jeder objektiven Bestimmung entflieht, und nur noch durch sich selbst bestimmt sein kann, also zugleich das bestimmte und das bestimmende ist.« 33
These words were quoted by Oskar Becker from a Schelling text, another one of Habermas’ philosophy teachers, and published in May 1954. No doubt, Becker, a former assistant of Heidegger and friend of Löwith, had discussed Schelling with his student in a dialectic manner. As a learned mathematician he grasps the heights of abstractions, but also understood the spiritual dimensions involved in abstraction, aside formalisms, being part of the dialect situation of the human species. At this point Schelling was a good starting point for the young Habermas, aside the fact that in 1954 philosophers, on both sides of the Iron Cur-
Ibid., Marx (Kröner Edition), p. 133. Oskar Becker quotes this paragraph from Schelling’s Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), under the heading »Schelling über transfinite Reflexionen«, in his: Grundlagen der Mathematik. Freiburg/München 21964 (original publication 1954), p. 387. 32 33
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tain, with their own respective agenda, remembered Schelling in the centennial year of his death. In 1956, in honor of the one-hundred birthday of Sigmund Freud, the Universities of Frankfurt and Heidelberg jointly celebrated the occasion. The importance of this celebration had many reasons among them, first, that Germany was to be integrated into the realm of civilized nations, second, Freud was to be celebrated, considering that among the established medical profession in Germany, he was not exactly welcomed and considered not-scientific, and third, it were psychiatrist Alexander Mitscherlich and the director of the re-established Institute for Social Research, Max Horkheimer, who promoted the event. Amongst the visitors was Adorno’s assistant: Habermas. Frankfurt is not too far from Bonn, but worlds separated them, even more so in the 1950s, during the time of this overseas student in the late 1960s, early 1970s. 34 Habermas shares his memory of that important event, for his own development and the intellectual integration of German society into the western fold, as part of the Re-education project on a national level: »Ich erinnere an die große Freud-Veranstaltung aus Anlaß des 100. Geburtstags, als Mitscherlich, zusammen mit Horkheimer, die internationale Prominenz des Faches, Franz Alexander, Michael Balint, Gustav Bally, Ludwig Binswanger, E. H. Erikson, René Spitz (übrigens auch Herbert Marcuse) zu einer glanzvollen Vorlesungsreihe in Heidelberg und Frankfurt versammelt. Ich hatte Psychologie studiert, etwas von ›Tiefenpsychologie‹ gehört; daß aber Freud als seriöser Wissenschaftler zählte, gar eine systematisch fruchtbare und lebendige Forschungstradition geschaffen hatte, das ging mir erst damals, 1956, auf. Ein ganzer Kontinent der Wissenschaft war auf deutschen Universitäten nicht zur Kenntnis genommen, uns Studenten jedenfalls nicht zur Kenntnis gebracht worden.« 35 Cf. Frankfurter Universitätsreden Heft 18. Frankfurt a. M. 1956: the main speaker (Festvortrag) on May 16, 1956 was Erik H. Erikson entitled, »Freuds psychoanalytische Krise«, pp. 16–37; relevant to Habermas’ concerns the work by Erich Fromm: Marx’s Concept of Man. New York 1961; also see Habermas’ essay: »Soziologie in der Weimarer Republik«. In: Wissenschaftsgeschichte seit 1900: 75 Jahre Universität Frankfurt. Frankfurt a. M. 1992, pp. 29–53. At this point I would like to thank Dr. Karl-Heinz Gerschmann (1924–2010), formally of Münster University and a native from Frankfurt, for suggesting to read the beautiful little book on Frankfurt’s intellectual life in the 1920s, Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung: Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt a. M. 1985. 35 Habermas, Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), pp. 187–188. 34
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No doubt the fascination of this event had great impact on the psyche of young Habermas; especially his meeting with Herbert Marcuse. Since his thesis he grappled not only with his own Re-education project, but also how to deal with Heidegger. At what point should we go along with him, use his Ansatz to develop issues in a more detailed and timely fashion, on the other hand ask, at what point was Kritik necessary? Suddenly, a third dimension opened: Herbert Marcuse. It was he who made Marx’s Frühschriften known in 1935, republished in 1953 by Siegfried Landshut, whose edited version Habermas used for quotations in his thesis. Now, with the event in Frankfurt and the new dimension of a Freudian Tiefenpsychologie, plus Marcuse’s publication in 1955 of Eros and Civilization, Habermas saw a new possibility added to the Schelling constellation. Due to Erich Fromm’s social psychological Ansatz there seemed to have been serious differences between Horkheimer and Fromm that, however, were not known to Habermas. The fascinating addition to the complex paradigm from Jakob Böhme via Schelling to Marx, was suddenly: Freud and Heidegger. Marcuse studied with Heidegger and worked on the notion of Bildungsroman, being steeped into the romanticism of Novalis and the Schlegels. What fascinated young Habermas was, however, how could someone integrate Heidegger with Freud and Tiefenpsychologie, considering Freud’s predilection for mythology? At the end of the 1950s, it is clear, young Habermas made an enormous leap in his Re-education project: from an environment of disintegrating bildungsbürgerliche Kultur (bourgeois culture), to the integration of a newly emerging Young Hegelian dialectics applied to the Bonn Republic Society, ushering into a constellation that stretched from Schelling to Freud via Marx, and finally the pragmaticism of C. S. Peirce. It is a sort of Bildungsroman in which the Weimar Republic Outsiders, as the German-born American Yale historian Peter Gay put it, become Insiders of the newly formatting Bonn Republic, with Habermas leading the post-war generation out of Plato’s Cave into the sunlight of 1968. We note the passage on the Versöhnung between the Weimar exiles, and the Bonn Republic, which included the exiled members of the Frankfurt School, especially Marcuse: »[…] ja, ältere Schüler haben, merkwürdig nur auf den ersten Blick, von ›Sein und Zeit‹ den Zugang zu Marx gefunden, um dann freilich die Begriffe der Daseinsanalytik in die einer Geschichtsphilosophie der Triebe zu übersetzen.« 36 36
Ibid., p. 74.
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It was Marcuse’s Heidegger-Marxism that fascinated Habermas. However, it becomes clear in hindsight that, if we see the formative structures of his Schelling thesis and the convergence between Heidegger, the Young Marx, and the later Schelling, not to mention the thread from Jakob Böhme to Freud, it is not surprising that we would find a general and inclusive attempt, in the later Habermas, at a more comprehensive framework, updated by modern terminology and modern tools of analytical philosophy, to provide a modern framework in which to make sense of the 20th century, and beyond. Thus, his formal intention, as explicated in the »Einleitung« to his thesis, gives us a hint as to how the subsequent program, starting with the Young Hegelian dialectic, would shape a new sense of history in the spirit of Kritik and Communicative Rationality. We read at the end of the »Einleitung« the goal of the thesis formulated: »Uns kommt es darauf an zu zeigen, daß Schelling neben dem in so vielen Farben schillernden Lebensverständnis der Identitätsphilosophie, und gegen es, seit 1806 ein anderes zur Geltung bringt, das – in der Tradition Böhmes – einen anderen Sinn von Geschichtlichkeit herausarbeitet als die Historische Schule, wesentlich anthropologisch orientiert und die Kantisch-Fichteschen Freiheitsmotive wieder aufnehmend, die in der Identitätsphilosophie ganz verloren gegangen waren.« 37
A variation of interpretation is introduced by connecting Schelling’s Ansatz at reassessing the notion of history and reality in terms of the epistemic consciousness of the human species. Clearly, the thesis wants to demonstrate that a different sort of understanding is possible, unlike the traditional notion that was promoted by Ranke and followers, in that they felt God’s hand involved in the making of historical events, despite the famous dictum, »wie es eigentlich gewesen«.
Kritik and the Anthropological Turn At this point we want to focus more narrow on the first chapter of part one of Habermas’ thesis, interpreting the contemporary Hegel critique in the years 1830s and 1840s, including aspects of Schelling’s later philosophy as well as the consequences. Entitled, »Die zeitgenössische Kritik an Hegel (1829–1850)«, this part of the thesis actually functions as 37
Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 9.
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the real introduction to Habermas’ major theme, the ambivalence (Zwiespältigkeit) in the thinking of the later Schelling as regards Weltalter and the dialectic relationship between the Absolute and History. We find summaries of discussions on the Young Hegelian (the Left side) such as Bruno Bauer, Max Stirner, especially Ludwig Feuerbach as well as Søren Kierkegaard, and not the least the young Marx of the Frühschriften and, to some extent, Grundrisse are anticipated. We should, again, recall that the Paris Manuscripts 1844 was reissued in 1953 as well as the Grundrisse. This did not leave much time for young Habermas to see, immediately, the systematic possibilities of connecting the early Marx to the later Schelling via Jakob Böhme. There is reason to believe that the publication of the Marx’s Frühschriften left not much time to integrate the insights of young Marx into the Schelling studies. The reason why he mentions that, if possible, he would have added another fifty, or so, pages to the already voluminous thesis. In that sense we can read the well-known essay, »Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes«, published along with other essays related to the Marx’s Frühschriften and Grundrisse, in the volume of 1963. 38 This essay can be read as a continuation of Habermas’ »Einleitung« as well as the first chapter of part one of the Bonn Dissertation. No doubt, he used this material, added with available up-dated scholarly literature on hand, introducing himself to Heidelberg University in 1961, supported by Hans-Georg Gadamer, on the first step of the academic ladder of the German university system, after he earned his Habilitation with Strukturwandel der Öffentlichkeit at Marburg University, under his mentor Wolfgang Abendroth. In the Dissertation, or thesis, Habermas takes what we may call an »anthropological turn«; already in Bonn philosophical anthropology and social psychology were promoted in the seminars of Rothacker, in addition to a conscious Rezeption of the works by Max Scheler, Helmuth Plessner, and Arnold Gehlen. 39 It is in Scheler’s work that the Habermas: TP2 172–227. Cf. Erich Rothacker: Philosophische Anthropologie. Bonn 1966; and his Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1965 (original publication 1948), or Schichten der Persönlichkeit. Bonn 1965 (original publication 1938), and the posthumous publication Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins. Bonn 1966; some results of these Rothacker works was summarized by Habermas in his philosophical anthropology Fischer Lexikon article, published in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973;
38 39
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Bonn circle of students got to know the newly developed discipline called Philosophische Anthropologie which remains, to this day, a specific product of the German academic tradition. 40 The sociology of knowledge, also developed by Scheler in such monographs as Wissen und Erkenntnis, comes closer to home, since Karl Mannheim did not advertising in this direction in his London exile. Nevertheless, in the 1950s philosophical anthropology, especially in the works of Rothacker in Bonn, was an important philosophic enterprise in which many, including Habermas and Apel, benefitted. In Habermas’ case, however, this anthropological turn had a deeper impulse, namely to redirect and explore, along with Marx’s Frühschriften, the strategy and tactics of Young Hegelian dialectics. Hegel’s Geist had to take an examination through the thorny filter of historical materialism, including questions on Mensch as a species (Gattungswesen), Nature as Leib (old fashioned German term for human body), another form of human nature, and Arbeit as menschliche Tätigkeit (human activity). That is to say, Geist now had to confront itself with the reality of the social, economic, and political conditions in which, during a specific historical epoch, the human species found itself. It was not simply the story of the owl of Minerva spreading its wings with the falling of dusk, but it was a modern show in which the forces of production (Produktionskräfte) and instruments of production resulted in an alienated Geist, as in consequence alienated labor (entfremdete Arbeit). »Für Marx ist Wirklichkeit immer schon gesellschaftlich bestimmte Wirklichkeit, eine Existenz also, die mit ihrer Essenz, dem Wesen der menschlichen Gesellschaft materiell, das heißt durch Veränderung der ökonomischen Bedingungen, vermittelt werden muß. Hegels große Entdeckung ist nach a useful overview of the development of the academic discipline »philosophical anthropology« by Wilhelm Perpeet: Kulturphilosophie. Aufgabe und Probleme. Bonn 1997. The very first book this Bonn overseas student read arriving in Bonn 1969 was Erich Rothacker: Heitere Erinnerungen. Bonn 1963. 40 Philosophical Anthropology as an academic discipline was never part of the American college philosophy curriculum; somewhat later, in the 1960s the Sociology of Knowledge was introduced to sociology departments. At this point, however, I would like to thank my undergraduate philosophy teacher at George Washington University, prior to my Bonn studies, the late Professor emerita Thelma Z. Lavine (1915–2011) who introduced me to both subject matters, having known many German exiled scholars at New York City and Harvard University, and thereby preparing me for my German academic adventure. She was authentically engaged in Vermittlung between the New World and Old Europe.
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Marx, daß er die Selbsterzeugung des Menschen als Akt der Arbeit, als dialektischen Prozeß der Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, der Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung begreift. Sein Fehler ist nach Marx, daß dieses Begreifen noch innerhalb der Entfremdung bleibt, da sich die Philosophie als abstrakte Gestalt des ökonomisch gesellschaftlich entfremdeten Menschen zum Maßstab der von ihm entwickelten Entfremdung nimmt.« 41
With the help of the published Paris Manuscripts of 1844 (first in 1935 by Herbert Marcuse, then in 1953 by Siegfried Landshut) the philosophical anthropology of the Young Hegelians, especially Ludwig Feuerbach, is transformed into a materialist conceived history in which the »metaphysical status« of Materie had to be determined in Schelling’s later philosophy in terms of a Rezeptionsgeschichte of Böhme via the Kabbalah then Schelling, and finally debated by the Young Hegelians and ›settled‹ by Marx. The Antrieb of this new conception of history had its tool in Dialektik which provided the energy towards successive stages of material formations depending not on Geist, but Produktionsverhältnisse. Suddenly there was light at the end of the Cave, thanks to Jakob Böhme, thereby Schelling was saved from darkness, as Hegel so nicely put it, in which all cows are black; yet, young Habermas, this time mit Heidegger finds the ironic words, »Die Nacht, in der all Kühe Schwarz sind, beginnt sich zu lichten.« 42 Thus, the anthropological turn of young Habermas is summarized in his Dissertation in the following passage, »Für Feuerbach, Marx und Kierkegaard hat Realität den Index des Aufgehens und Sichzeigens in einer leiblich-mitmenschlich, ökonomisch-gesellschaftlich oder religios-geschichtlich bestimmten Situation.« 43 It was that Situation which the thesis wanted to clear, in order to determine new rules for a new game, in terms of a new anthropology called historical materialism which, apparently had its seeds sowed in the Böhme-Kabbalah-Axis, but could not be resolved by the later Schelling. Those who made the pilgrimage to Berlin University in 1841, amongst them the young Engels, Bakunin, or Kierkegaard, were, unfortunately, disappointed since they sensed that the elderly gentleman who spoke from the Katheder in Berlin had no clear
41 42 43
Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 58. Ibid., p. 217. Ibid., p. 65.
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solution to their problems. 44 The revolutionary signs were everywhere to be seen in central Europe, but the older Schelling, representing classical German idealism, had no alternative plans to pronounce in the filled lecture hall, while a former Bonn student, Carl Marx (the Bonn University archives has the name spelled with ›C‹, under student ID No. 270), discovered the tool of Kritik to be used dissecting Hegel’s concept of Staat in the same year. 45 Young Habermas discovered Marxist literature in a workers’ social welfare bookshop, run by the social-democratic party (SPD) in the provincial town of Gummersbach, where he grew up. Aside that he discovers the Young Hegelians in books by Karl Löwith dealing with a comparison between Marx and Max Weber, as well as the period of German classic culture, from Goethe to Nietzsche. On this road young Habermas discovers the Young Hegelians and Marx. By the time he reaches his junior professorship in Heidelberg, Kritik became his watchword to be followed, in order to tackle the contradictions and paradoxes of the real world (Wirklichkeit), with Dialektik. He had this to say about his intellectual mentor and senior colleague in Heidelberg in 1963, »Ja, Löwiths Kritik an dem junghegelianisch entfalteten Bewusstsein der historischen Dialektik enthüllt sich zugleich selber als seine Radikalisierung der junghegelianischen Religionskritik; und seine Apologie der natürlichen Weltansicht wäre Feuerbachs kosmologisch noch einmal reflektierte Anthropologie – wenn nur Feuerbach philosophisch gedacht hätte.« 46
In fact, it was Habermas who continued to think philosophically, despite wanting to »escape« sociology in the interm period between Bonn and Frankfurt. The Strukturwandel work shows that the interdisciplinary work style of the Bonn Rothacker Kreis had an impact on Habermas. There is no doubt that his Schelling Dissertation had been structured and demonstrated in such a way, that it was only possible with an interdisciplinary mind at work, which could be learned with Rothacker in Bonn.
44 See Frank (Hrsg.): Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/1842. A. a. O. (cf. Fn 20), Anhang II. 45 Ibid., Marx (Kröner Edition), pp. 208–209. 46 Habermas: Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), p. 213.
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Conclusion In hindsight all things and events become clear. No doubt, a careful reading and studying of Habermas’ Dissertation tells the reader a great deal about the academic atmosphere in post-war Germany universities, in this case Bonn. The circle around Rothacker consists of talented young individuals who were treated as individuals and not a potential constellation of forming a philosophic school, as was the case at Münster University, Westphalia, were we can observe the development of a »Ritter School«, headed by Joachim Ritter. Another center was in Heidelberg and Gadamer, not to mention the Freiburg center that lived from the Heidegger myth. At »Zero Hour« (Stunde Null), with Germany finding itself in total moral bankruptcy, Habermas and his generation had to start from scratch in order to reinvent their identity. The project was named Re-education and especially in the realm of the university and Kultur that was a difficult undertaking. Many conservative forces still held on to the basics of a Bildungsbürgertum ideology that may have foster knowledgeable students in the classics, but in view of the barbaric onslaught of National Socialism, that ideology failed completely. The young Habermas never forgot and wanted to make sure that Bildung without a political engagement is blind. For Germany’s non-academic youth, the majority of the population, it was the newly arriving popular American culture known as Rock’n Roll, by Bill Haley and personified by Elvis Presley soldiering for the US Army in Frankfurt. This onslaught from overseas must have seemed to the bearers of Bildung like savagery undeserved for the country of Denker und Dichter. It was the first signal for the storm to come by the baby boom generation reconciling Elvis, the Beatles, and Beethoven. Yet, for Habermas and his generation the order of the day was a moral protest and rejuvenation of political viability against their parents and grandparents generation. Habermas and Apel were at the forefront of that struggle and thereby engaged in the actual moral and political formation of the newly developed Bonn Republic, which succeed beyond expectations. The added Einleitung to his Dissertation was not an accident, but a last minute decision, to give a signal that Re-education must take on a different course from the traditional Rezeptionsgeschichte, in this case, Schelling. Habermas’ Re-education project leads him to reconsider the roots of classic German idealism and discovers, in the meantime, that 368 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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there were other perspectives and tracks that could be followed. Philosophically speaking, Hegel, or Schelling, or Heidegger, revealed genius, no doubt, however, even genius may, at one point or another, fall into a trap of deluding themselves into some sort of illusions about Wirklichkeit. This is true in case of Rothacker and certainly of Heidegger, who had, each in his own way, private visions of the future in which they would play an important role. However, both young Habermas and his friend Apel, or their fellow student Otto Pöggeler noticed, that the older generation of teachers had much to offer, but failed in the realm of the political. This experience made an impression on the post-war generation of students, including the Bonn peer group in which Habermas moved. The record needed to be set straight, for Habermas in Frankfurt with Adorno, for Pöggeler in Paris with Celan, others became active during the student revolt of 1968. The cultural and intellectual ramification of Habermas’ Bonn in the 1950s, during the Adenauer Era, was very different from the Bonn when this overseas student arrived in 1969, at the time when Willy Brandt was elected Chancellor of the Federal Republic. Brandt, a former exiled journalist, returned home in order to set the record straight, without malice. It was not an easy road for him and his compatriots. In Frankfurt Habermas meets the other returned exiles, Horkheimer and Adorno and Marcuse. And there was plenty to contemplate about the moral disaster in the modern world between Pöggeler and Celan. Habermas’ development from a provincial town called Gummersbach onto a global stage is quite remarkable, considering that many of his issues and themes are related to European, or better, German affairs. But these issues and themes arise out of the philosophic concerns that stretch back to German idealism, in amalgamation with the Kabbalah, Spinoza, a Martin Buber, or a Gershom Scholem. To move from Kant to Hegel and Schelling, via Jakob Böhme, then to the Young Hegelians and Marx, then to the Pragmaticism of C. S. Peirce (along with his friend Karl-Otto Apel), to Max Weber and Talcott Parsons, then the Speech Act perspective of J. L. Austin and John Searle, is quite a feat. From philosophical anthropology of a Max Scheler and Arnold Gehlen to the social psychology of Erich Fromm, Erik Erikson, and the developmental moral stage perspective of Lawrence Kohlberg is another dimension. What these tracks and avenues do for us is that they show how everything is actually connected in Wirklichkeit and can’t be subsumed under one specialist department of any modern university curriculum. 369 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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All of this reminds us somewhat of the exiled philologist Erich Auerbach in Istanbul, during the Second World War, where he produced the magnificent work called Mimesis: The Representation of Reality in Western Literature, without the aid of his personal notes or bibliography. 47 That too was a moral project in which Auerbach wanted to show, that in face of book burning, it is of utmost importance to write books, even though they might too be put to the flames. Habermas, spending a semester in Zürich must have known the book, since it was published in Berne, Switzerland, in 1946. Mimesis was part of a constellation that formatted the western communication of dialogue, in toto, and reminded us of Habermas’ later attempts at a universal communicative paradigm in which human beings recognize themselves im Gespräch, as Gadamer used to say, and recognize menschliches Antlitz, as Habermas tends to say. The fear amongst some that Bonn might turn out to be another Cf. Erich Auerbach: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946 (this masterpiece was written in his Istanbul exile between May 1942 and April 1945); the 50th Anniversary Edition was introduced by Edward W. Said, based on the 2nd Edition published by Princeton University Press in 1953; much neglected, the refugee situation of German exile scholars during the 1930 and 1940s in Turkey. See the pioneering work by Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige akademische Emigration in der Türkei nach 1933. Bern 1973; the only serious treatment on the subject matter in English, Arnold Reisman: Turkey’s Modernization, Refugees from Nazism and Atatürk’s Vision. Washington, D.C. 2006; relevant Ernest Wolf-Gazo: »John Dewey in Turkey«. In: Journal of American Studies of Turkey 3 (1996), pp. 15– 42; a memoir on the leading scholar of American philosophy, the late Yale philosopher John E. Smith, who was a student of Richard Kroner exiled in the United States, see Wolf-Gazo: »Remembering John E. Smith: Philosopher and Mensch«. In: Vincent M. Colapietro (ed.): Experience, Interpretation, and Community: Themes in John E. Smith’s Reconstruction of Philosophy. Cambridge, U.K. 2011, pp. 171–194. It should be added that Erich Rothacker delivered five lectures at the University of Istanbul in 1950 titled, »Geschichtliche Entwicklung und geschichtliche Krisen« (see Perpeet: Bibliography Erich Rothacker. Bonn 1968, p. 108); also Joachim Ritter spent some time, during the 1950s in Turkey, as well as the sociologist Hans Freyer with whom the young Habermas discussed his Turkey experience, as related in the latter’s Merkur, March 1956, Essay. A former Turkish colleague at METU in Ankara, Professor emeritus Teo Grünberg, related stories to me about some German exile scholars in Istanbul, as well as the philosophers Hans Reichenbach and Ernst von Aster. Prof. Grünberg’s uncle, on his mother’s side, Dr. David F. Markus, wrote his Dissertation under Benno Erdmann with the topic, Die Associationstheorien im XVIII. Jahrhundert und Ihre Geschichte«. Bonn Diss. 1901. As we can see this Turkish connection has been much neglected and should be addressed in terms of cultural dialogue and multiculturalism. 47
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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo
Weimar did not materialize. In fact the Bonn Republic was a great success story of Germany and Europe. Habermas and his generation should accept some credit for this success story and the fact that he was honored, globally, tells us that it was the recognition of a job well done – rejoining and integrating into civilization. In his Dissertation, dealing with the importance of the introduction of »Du« in the communicative act by Ludwig Feuerbach, young Habermas writes, »Alle Ideen entspringen aus der Kommunikation der Menschen untereinander.« 48 Indeed, in March 1998, during his visit to Cairo, near Tahrir Square, an Egyptian student asked the professor emeritus Habermas, after delivering a lecture as to what we can learn from disasters, about personal identity, considering the fragile national identities of countries in the Middle East, he replied in German, »Ich bin Rheinländer«. This former overseas student, now an expat professor in philosophy, sitting next to him at the podium, as his host, could not help breaking into a big smile, thinking about Bonn.
Entgegnung von Jürgen Habermas Zu diesem Vortrag kann ich nur in der Art eines autobiographischen Kommentars Stellung nehmen. Ein amerikanischer Student, der 1969 nach Bonn kam und dort das Philosophische Seminar und dessen Umgebung kennenlernte, muss eine politisch ziemlich gewievte Nase gehabt haben, um noch das politische Klima zu wittern, das in dieser Universität während meines Studiums und der beiden Jahre danach (1951 bis 1956) dort geherrscht hatte. Jedenfalls beschreibt Ernest Wolf-Gazo ganz richtig meine Reaktion auf das Unausgesprochene einer in den Personen unserer Lehrer verkörperten Mentalität, die aus der beschwiegenen Nazizeit in die Gegenwart hineinragte. Man begegnete damals der unterdrückten Dissonanz zwischen der oft nur geahnten politischen und intellektuellen Vergangenheit dieser Professoren und ihrer stillschweigenden Anpassung an die brüchigen Normen der Gegenwart, die ja von Adenauer auf die Integration der alten Eliten getrimmt wurde. Ebenso treffend ist die Beobachtung meiner eigenen intellektuellen Verfas48
Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. cf. Fn. 22), p. 66.
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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo
sung, für die die Rückkehr zum Marx meiner Schulzeit eine doppelte Bedeutung hatte. Zum einen hat mich der ansteckende, vom Aktualitätsbewusstsein geprägte Denkstil der Junghegelianer 1953 dazu ermuntert, zwischen meinen bis dahin parallel nebeneinander herlaufenden philosophischen und politischen Überzeugungen eine Verbindung herzustellen. Zum anderen hat die Lektüre der Marx’schen Frühschriften – die übrigens auch für viele meiner Generationsgenossen unter den späteren Kollegen, beispielsweise für Dahrendorf oder Popitz typisch war – den Weg von der Philosophie zur Soziologie geebnet. Die zufällig zustande kommende Begegnung mit Adorno war nur noch der Auslöser für die Abwendung von der Philosophie und hin zu Soziologie und Gesellschaftstheorie, eine Umorientierung, die ich damals für definitiv gehalten habe. Als ich dann aber von Gadamer 1959 nach Heidelberg eingeladen wurde, ohne zu wissen, dass ich für die Besetzung eines Extraordinariats »vorsingen« sollte, habe ich auf Schelling zurückgreifen müssen, denn ich hatte den Kontakt zur Philosophie verloren und musste aus der Not eine Tugend machen. Inzwischen hatte ich Blochs Das Prinzip Hoffnung kennengelernt und auch bei Adorno und Marcuse die tiefen, wenn auch verdeckteren Spuren entdeckt, die die Vorstellung der Resurrektion der gefallenen Natur bei ihnen allen hinterlassen hatte. Vor diesem Hintergrund hat mir die Notwendigkeit einer retrospektiven Anknüpfung an das Thema meiner Dissertation erst jene untergründige Traditionslinie eines auf Emanzipation gerichteten materialistischnaturphilosophischen Denkens zu Bewusstsein gebracht, die von Jakob Böhme über Baader und Schelling bis zu Marx und vielleicht sogar bis zu Freud reicht. Auch das hat Ernest Wolf-Gazo ausgegraben. Am Ende weist er auch noch auf mein durchgängiges Interesse an philosophischer Anthropologie und auf einen von Rothacker beeinflussten interdisziplinären Denkstil hin. Mit diesem Fokus auf die weiterwirkenden Motive aus der Bonner Studienzeit stellt er allerdings mein Selbstverständnis, wonach der Wechsel von Bonn nach Frankfurt eine tiefere Zäsur darstellt, auf die Probe.
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Klaus Erich Kaehler
Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
Die Erste Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Hegel steht in einer engen, nämlich kritischen Kontinuität mit der Moderne, die als »nachmetaphysisches Denken« die Moderne in singulärer Bedeutung ist. Lässt sich für die Philosophie der Neuzeit ein Zusammenhang stiftendes Prinzip ausmachen und ausweisen, nämlich das Prinzip Subjekt, so muss dieses auch den kritischen Leitfaden durch den philosophischen Diskurs der Moderne bilden können. Dass dies so sei, ist meine grundlegende These. Deren inhaltliche Füllung und Rechtfertigung hat zu viele Aspekte, als dass ich sie hier kohärent vortragen kann. Worauf es aber zuerst ankommt, ist, den Bruch der Moderne (im engeren Sinne) mit der Metaphysik der Neuzeit philosophisch zu rechtfertigen, und zwar gerade aus deren eigener Vollendungsgestalt bei Hegel; mit anderen Worten: eine philosophische Begründung und Genese von Moderne wenigstens zu umreißen, um dadurch einen philosophischen Begriff derselben – im Sinne nach-metaphysischen Denkens – zu gewinnen. In dieser genetischen Begründung der Moderne aus einer immanenten Krisis von Vorgängerpositionen – und zwar hier mittelbar einer ganzen Kette solcher Positionen unter dem Namen ›Metaphysik‹ – liegt eine reflektierte Rückbindung an das, was in der Philosophie schon getan ist und dem von einem späteren Rezipienten, unabhängig von dessen historischem Standort, die »Authentizität einer vergangenen Aktualität« 1 zuerkannt werden kann. Vergangen ist die Aktualität allerdings nur im historischen Sinne, philosophisch bedeutet das Vergangensein nur, dass es kein letztes Wort war, was eine solche Philosophie zu sagen hatte. Darin aber bleibt sie authentisch als philosophischer Wahrheitsanspruch mit und in ihrem bestimmten Sinnentwurf und -zusammenhang. 1
Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Leipzig 31994, S. 34.
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Klaus Erich Kaehler
Inwiefern ich meine, Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie erweisen zu können, ist hier nicht zu rechtfertigen. 2 Vielmehr werde ich aus Zeitgründen sogleich mit Hegels Metaphysik der absoluten Subjektivität beginnen, um gerade an dieser extremen Position des Subjekt-Prinzips dessen endogene Krisis deutlich zu machen. Daraus wird sich ein von Grund auf veränderter Begriff von Subjekt ergeben, von dem ich zeigen möchte, dass er einen selber kritischen Maßstab abgibt für das, was Jürgen Habermas als philosophischen Diskurs der Moderne thematisiert und problematisiert, um dann seinen »Ausweg aus der Subjektphilosophie« (DM 344 ff.) als Lösung und umfassende Konzeption der Moderne zu explizieren. Es soll gezeigt werden, dass darin durchaus noch Subjektivität, jedoch in prinzipiell gewandelter Bestimmung, in Anspruch genommen werden muss und kann, obgleich sie eigentlich diskreditiert sein sollte durch die von Habermas im Laufe dieses Diskurses seit Hegel herausgestellten Aporien und Defizite der sog. Subjektphilosophie und der zugehörigen »subjektzentrierten Vernunft« (DM 344, 354, 361, 444 u. pass.). Meine These ist jedoch, dass diese Probleme nicht unbedingt dem Konzept des Subjekts zuzuschreiben sind, nämlich dann nicht, wenn dieses von vornherein aus der Entscheidung der endogenen Krisis des absoluten Subjekts gegen Hegels spekulativen Wahrheits- und Vernunftbegriff bestimmt wird. 3 Nur auf dem kritischen Umweg über den begreifenden Durchgang durch diesen äußersten Anspruch der suisuffizienten Vernunft und ihres Subjekts kann dieses sich als endliches und das heißt: immer zugleich als soziales, individuelles und naturales Subjekt so etablieren, dass es von jenem metaphysischen ÜberSubjekt nicht mehr aufgehoben und zu dessen bloßem Moment herabgesetzt werden kann. Dann ist allerdings der Anfang der Moderne als nachmetaphysisches Denken nicht bei Kant zu haben und erst recht bei Hegel gerade nur ex negativo. 4 Damit ist vorab schon die Differenz zum Ansatz der Moderne von Jürgen Habermas bezeichnet. Zwar wird die inhaltliche Ausführung der Philosophie der Moderne nach dem Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf mein Buch Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010. 3 S. dazu ausführlich ebd., Abschnitt D.I. 4 – jedenfalls gemäß einer Rekonstruktion, die sich streng an das in der Philosophie schon Getane hält und eine (Re-)Aktualisierung älterer Positionen nicht dadurch erkauft, dass sie deren innersystematische Zusammenhänge und Begründungen soweit wie möglich außer Betracht und Geltung hält. 2
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Maßstab des nachmetaphysischen Subjekts – es kann von innen betrachtet als das dezentrierte Subjekt bezeichnet werden 5 – mit der kritischen Darstellung der Moderne und ihres normativen Gehalts bei Habermas im Wesentlichen konvergieren, doch wird diesem eine andere philosophische Begründung, nämlich im Sinne einer kritischen, negativen Vermittlung unterlegt. Kurz gesagt: Ein »Ausweg aus der Subjektphilosophie« wird nur dann nötig erscheinen, wenn der SubjektBegriff der Moderne nicht von Anfang an in prinzipieller Schärfe geschieden wird von demjenigen Subjekt, das intradisziplinär als das Prinzip der Philosophie von Descartes bis Hegel in Geltung war.
I.
Hegels Vollendung des Prinzips der neueren Philosophie – der Unterschied von Neuzeit und Moderne
Habermas betont zunächst mit Max Weber den Zusammenhang zwischen Modernität und Rationalisierung, näher dem »okzidentalen Rationalismus«. Wird dieser Zusammenhang ignoriert, wie in neokonservativen einerseits und sog. postmodernen Kritiken der Moderne andererseits, so führt das leicht dazu, Modernisierung zu »stilisieren« »zu einem raumzeitlich neutralen Muster für soziale Entwicklungsprozesse überhaupt« (DM 10). Mit einer derartigen, primär sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise wird aber das Vernunftpotential verdeckt, das die Moderne seit ihren historischen Anfängen in sich trägt und das ihr im Laufe ihrer krisenreichen Entfaltung auch immer wieder das Korrektiv liefert gegen Vereinseitigungen, Verkürzungen und Verdeckungen. Aber auch die Diagnose Max Webers bleibt zweideutig, insofern sie als modern zwar einerseits die Ausdifferenzierung eigensinniger Wertsphären auszeichnet, andererseits jedoch einer auf Zweckrationalität verengten Auffassung der Rationalität der Modernisierungsprozesse Vorschub leistet. Um jedoch die Entstehung der Moderne aus dem »begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus« (DM 11) zu bedenken und daraus einen tragfähigen Begriff der Moder-
Dieser Begriff stützt sich nicht auf alltägliche oder sozialwissenschaftliche Befunde, die abstrahiert sind von zeitgenössischen Phänomenen der Alltagswelt, wenngleich er auf diese zutrifft. Vielmehr soll der Begriff ›dezentriertes Subjekt‹ eingeführt werden als grundbegriffliche Fassung des Resultats einer innerphilosophischen Krisis, die das Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik insgesamt betrifft.
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ne zu gewinnen, ist es erforderlich, die gesellschaftliche und die kulturelle Moderne zumal in ihren philosophischen Konzeptionen zu rekonstruieren. Nach Habermas ist Hegel »der erste Philosoph, der einen klaren Begriff der Moderne entwickelt hat« (DM 13), und zwar, um gleich zum Zentrum dieses Begriffs zu kommen, entdeckt Hegel, so Habermas, »als das Prinzip der neuen Zeit – die Subjektivität. Aus diesem Prinzip erklärt er gleichzeitig die Überlegenheit der modernen Welt und deren Krisenhaftigkeit: diese erfährt sich als die Welt des Fortschritts und des entfremdeten Geistes in einem. Deshalb ist der erste Versuch, die Moderne auf den Begriff zu bringen, gleichursprünglich mit einer Kritik an der Moderne.« (DM 27)
Ehe wir diese Feststellungen im Zusammenhang der Philosophie Hegels genauer betrachten, ist zunächst klären, von welcher »neuen Zeit« bzw. von welcher Moderne hier – bei Hegel – die Rede ist. Es kann nun wohl kein Zweifel sein, dass Hegel das meint, was wir heute als »Neuzeit« von der eigentlichen Moderne unterscheiden – Hegel konnte schon aufgrund seines historischen Standortes gar nichts anderes meinen mit der »neuen Zeit«, weil die Moderne im engeren Sinne noch gar nicht zu erkennen war als eigenständige Epoche eines Denkens, das die Metaphysik prinzipiell verabschiedet hat. So ist in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte der »Dritte Abschnitt« des »Vierten (und letzten) Teils« (»Die germanische Welt«) überschrieben mit »Die neue Zeit« (12.491). 6 Diese beginnt mit der Reformation und reicht bis in Hegels Gegenwart. Diese Zeit »in Gedanken zu fassen« 7 ist die Aufgabe der Hegel’schen Philosophie der absoluten Subjektivität. Habermas aber unterstellt in seinen Ausführungen zu Hegel stattdessen von vornherein das, was er als Moderne versteht und intendiert. Das führt konsequenterweise dazu, dass Hegels Äußerungen zu den Verhältnissen der endlichen Bereiche, insbesondere des Geistes, als Zeichen für »Modernität« gedeutet werden, während die bei Hegel allein affirmative Ebene, die des absoluten Geistes, als Verfehlung der Moderne beurteilt werden muss. Nun sind aber die berühmten »EntIn: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. Im Folgenden zitiert mit Angabe der Bandzahl. Seitenzahl. 7 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 7.26. 6
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zweiungen«, in deren Auflösung Hegel seit der Differenzschrift das »Bedürfnis der Philosophie« 8 setzt, gerade nur die negative, weil endliche Seite des Prinzips, worin dieses sich zwar notwendig auseinanderlegt, aber nur als die eigene Bestimmung der Vernunft und ihres Subjekts. Versöhnung durch Vernunft kann nicht im Endlichen entspringen, wenngleich sie dort, im Bewusstsein und Selbstbewusstsein endlicher Subjekte und damit in der »absoluten Form« der Selbstgewissheit 9, als selbstbezügliche Negativität auszutragen ist. Derjenige Begriff aber, den Hegel entwickelt für den philosophischen Gehalt der »modernen Zeit«, ist der Begriff der »absoluten Wissenschaft«, und zwar näher als die »Wirklichkeit, die der Geist sich in seinem eigenen Elemente erbaut« (PhG, »Vorrede«, Abs. 25/ 3.29). Nur weil diese ist, gibt es überhaupt einen »intersubjektiven Lebenszusammenhang«, – dieser wird nicht erst »intersubjektiv konstituiert« (DM 41), nämlich nicht von unten, sondern wo er besteht, handelt es sich um eine Objektivation des Geistes, d. h. einer Erscheinung, deren Realität zwar im Bewusstsein der Individuen von ihrer gemeinsamen Welt und ihrer je besonderen Stellung in dieser Welt besteht, worin der Geist aber insgesamt sich selbst weiß und betätigt. Wenn Habermas ferner als Grundzüge der von ihm gemeinten Moderne angibt, dass sie sich ablöst »von den außerhalb ihrer liegenden Normsuggestionen der Vergangenheit« (DM 26) sowie dass sie »ihre Normativität aus sich selber schöpfen« (DM 16) muss, dann lassen sich diese Grundzüge in der Philosophie Hegels wohl erkennen, aber in einer Bedeutung, die mit einer nachmetaphysischen Moderne prinzipiell unverträglich ist: Wohl gibt es zumindest für das voll entwickelte System Hegels keine Vorgabe, der ein unabhängiger Wahrheitswert zugesprochen wird, die also nicht erst dann, wenn sie als ein »Moment« im Ganzen des Systems gerechtfertigt wird, auch als wahrheitsfähig anerkannt wird. Doch zugleich ist gerade damit das System auch auf intern kontrollierte Weise geöffnet für die Inhalte und Wertvorstellungen der Philosophien der Vergangenheit und deren religiöse, kulturelle, politische und soziale Hintergründe, so wie sie von der Philosophie ihrer Zeit jeweils »in Gedanken gefasst« worden sind. 10 In Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 2.20 ff. Siehe Phänomenologie des Geistes, »Vorrede«, Abs. 26 (im Folgenden zitiert als PhG), in: Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 3.30. 10 So sagt Hegel in Bezug auf die Philosophiegeschichte: »Älteres ist zu ehren, seine 8 9
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dieser Weise emanzipiert sich die Philosophie als absoluter Selbstvollzug von jeder fremden, bloß gegebenen Voraussetzung – dem, was der junge Hegel als »Positivität« der Religion 11 (und auch der »Sittlichkeit«) kritisiert hat. 12 So lässt sich mit Habermas wohl sagen, dass (wie zitiert) Hegel sowohl die »Überlegenheit der modernen Welt« als auch »deren Krisenhaftigkeit« aus dem Prinzip der Subjektivität erklärt, – das erste aus demjenigen, dessen Erscheinung diese Welt von Grund auf und bis in alle Einzelheiten ist, nämlich der Geist; und die Krisenhaftigkeit dieser Welt daraus, dass sie als Welt überhaupt nur das Negative, Begründete, selber Wandelbare und Übergängliche ist, das allerdings nicht gänzlich außerhalb der Wahrheit bleibt, insofern es, als Erscheinung, doch Produkt der Selbstbestimmung des Subjekts als Geist ist. Der »Fortschritt«, dessen Erfahrung Habermas dem Hegel’schen Prinzip der Subjektivität zuschreibt, besteht gerade in dieser Qualifikation des Endlichen, Erscheinung des Absoluten zu sein, während die ebenfalls auf Subjektivität zurückgeführte Erfahrung der Entfremdung (Habermas: »Welt des entfremdeten Geistes«) daraus entspringt, dass das Endliche noch als Positives, Unvermitteltes genommen wird, außer seiner wahrhaften Einheit. Schließlich erhellt die völlige Divergenz des Moderne-Begriffs bei Habermas und bei Hegel in dem auf das soeben betrachtete Zitat folgenden Satz: »Deshalb« – wegen der Doppelseitigkeit des Subjekt-Prinzips: Überlegenheit und Krisenhaftigkeit, Fortschritt und Entfremdung – »ist der erste Versuch, die Moderne auf den Begriff zu bringen, gleichursprünglich mit einer Kritik an der Moderne.« (DM 27). Aber da die Moderne Hegels die der historischen Neuzeit und ihrer Philosophie ist und nicht die nachmetaphysische Moderne i. e. S., hat Hegels »Kritik« seiner Vorgänger in der neueren Philosophie von vornherein die Bedeutung der Weiterentwicklung, d. h. was er »kritisiert«, wird in systematischer Reflexion und in seinem Sinne »aufgehoben«; und so ist diese »Kritik« der Weg zur VollNotwendigkeit, dass es ein Glied in der heiligen Kette ist, aber auch nur ein Glied. Die Gegenwart ist das Höchste.« (Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 20.456). 11 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 1.104 ff., bes. 108, 219 ff. 12 Die zeitgeschichtlichen Diagnosen und Kritiken sind als Motive für die Entwicklung des Hegel’schen Denkens nicht zu leugnen, aber ihre philosophische Berechtigung und Bedeutung erhalten sie doch – gemäß Hegels eigener Intention und Einschätzung – nur in der systematisch zu entwickelnden Begrifflichkeit, auf die er in der Jenaer Zeit unverkennbar hingearbeitet hat.
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endung, nicht aber der »erste Versuch«, den Geist der Neuzeit auf den Begriff zu bringen, vielmehr die Vollendung derselben Sache und Aufgabe, für die auch die Kritisierten gearbeitet haben. Einen Anfang darin zu sehen, heißt, was vor Ort eine Vollendung war, bereits aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen, und zwar im Blick auf etwas erst zu Entwickelndes, dessen adäquater Begriff noch nicht gefunden ist. Darauf werde ich im zweiten Teil zurückkommen. Die Epoche aber, deren Vollendungssinn Hegel seine philosophische Aufgabe entnimmt, schließt sich für ihn in der Idee der Philosophie als absoluter Wissenschaft. Dieses Selbstverständnis wird allerdings erst mit der Phänomenologie des Geistes manifest und darstellungsfähig. Wenn Habermas zu Recht feststellt: »Hegel operiert in seinen frühen Schriften mit der versöhnenden Kraft einer Vernunft, die sich nicht bruchlos aus Subjektivität herleiten lässt« (DM 39), so wird doch diese Differenz von endlicher Subjektivität und Vernunft schon in den Jenaer Schriften seit 1801 zunehmend systematisch aufgehoben, indem er sie als Ausdruck einer untergeordneten, unselbständigen Stufe begreift. Allerdings hat Hegel erst am Ende seiner Jenaer Entwicklung, also in der PhG, die Subjektivität selbst als das Wesen der Vernunft begriffen. Darauf beruht, dass er in Aussicht stellt, die Philosophie »dem Ziele« näher zu bringen, »ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (»Vorrede«, Abs. 5/ 3.14). Der systematische Grundbegriff für die Darstellung dieser »Wirklichkeit« des Wissens aber wird erst jetzt der Begriff des Subjekts. Es ist doch höchst bemerkenswert, dass Hegel im Abs. 25 der »Vorrede« zum ersten Mal (in diesem Text) den Begriff des Geistes einführt – immerhin den Begriff, von dessen »Erscheinung« das ganze Werk handeln soll –, und dass er diesen Grundbegriff des Geistes nochmals vorbereitet durch eine umfangreiche Explikation der Momente und Konsequenzen des Subjekts bzw. der These, das Wahre sei »nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« (Abs. 17/ 3.23). Worum es wesentlich geht, ist, alles Werden, somit Veränderung und Entwicklung durchgängig als die Negativität »eines und desselben« zu denken und darzustellen, denn dieses Selbe »muss sich verschieden gestalten« (Abs. 15/ 3.21), so dass es als »sich vollendende[s] Wesen« erst »das Ganze« und als solches »Resultat«, also erst »am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (Abs. 20/ 3.24). Diese absolute, weil selbstbezügliche, Negativität aber ist die Wirklich379 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
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keit des Subjekts und dessen begrifflich bestimmte Entwicklung ist die innerphilosophische Aufgabe, die Hegel 1807 vor sich sieht und konzipiert. Aus dieser Subjektivität entwickelt Hegel die Grundbestimmungen seiner spekulativen Philosophie; bzw. der »Natur« des »Erkennen[s] der absoluten Wirklichkeit« (Abs. 16/ 3.22), nämlich dass dieser die Vermittlung und Reflexion immanent sei, weil sich allein dadurch das Wesen als selbstbewusste Vernunft und als Selbstbewegung der Form realisiere; dass diese Entwicklung aber die Selbstentfaltung sei, die in ihrer Unmittelbarkeit bereits die Negativität des Werdens habe, die »Unruhe«, welche das Selbst ist (Abs. 22/ 3.26); so dass, auf das immanente Telos der vollkommenen Selbstverwirklichung bezogen, die Vernunft »das zweckmäßige Tun« (ebd.) ist, sowie schließlich dieses Verwirklichen als Sich-Wissen ein in sich geordnetes Ganzes oder System des Wissens sein muss – und dies alles: »Dass das Wahre nur als System wirklich, oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist«, fährt Hegel fort, »ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, der der neuern Zeit und ihrer Religion angehört.« (Abs. 25/ 28) 13 Welche Philosophie daraus wurde, ist (zumindest nominal) bekannt: Zunächst die Darstellung des »erscheinenden Wissens«, die zugleich – von unten – die Bildung des Bewusstseins, der »absoluten Form« (Abs. 26/ 3.30 ob.), zu seinem an und für sich wahren Inhalt ist; dann, vom Resultat dieser Darstellung aus, dem »in Geistsgestalt sich wissenden Geist« (3.582), die Entwicklung der »reinen Wesenheiten« (5.17), des Logos in ihm selbst, dessen Realität seine Bestimmtheit ist; dann darüber hinaus die absolute Entäußerung dieses in sich vollendeSo aber ist das Subjekt nicht nur der endliche Pol zu einer selbständig entgegenstehenden anderen Realität (wie im Bewusstseinverhältnis, als das der Geist erscheint), sondern dem zuvor in der Tat »der vermittelnde Prozess der sich bedingungsfrei produzierenden Selbstbeziehung« (DM 46). Da jedoch diese Selbstbeziehung in ihrer Totalität die Form des Sich-Wissens hat, ist sie Geist: Subjekt in absoluter Bedeutung; und so ist dies Hegels entwickelter Begriff des »Absoluten«. Statt wie Habermas (mit Dieter Henrich) sagt, das Absolute sei »weder Substanz noch Subjekt« (ebd.) – wobei dann ›Subjekt‹ nur das endliche sein kann –, wäre zu sagen, es sei sowohl Substanz als auch Subjekt, allerdings so, dass dieses »die entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit« der Substanz ist (Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 8.368, im Folgenden zitiert als Enzyklopädie § 213 Anm.), wie die schon herangezogenen Absätze 17–26 der PhG (von 1807) auch bereits unmissverständlich ausgeführt haben. Zu diesem übergreifenden Begriff des Subjekts s. auch Enzyklopädie § 213, Ende der Anm., § 215 und Anm., Vorlesungen über die Ästhetik I: 13.129 (u. a.).
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ten Logos, der »absoluten« logischen Idee – ihr Außersichsein als Natur und die stufenweise Aufhebung dieses äußeren Unterschieds durch seine Transformation in die Unterscheidungen in sich, welche die bestimmten Begriffe sind, in denen die Idee sich als das Wahre in allem bewährt. 14 – Wie weit all dies von irgendeinem Selbstverständnis der Moderne entfernt ist, ist wohl unübersehbar, und doch sind wir nun an dem Punkt, von dem aus die eingangs erwähnte kritische Kontinuität zwischen Moderne und Philosophie der Neuzeit zu zeigen wäre. Der Ort dieses negativen Zusammenhangs aber liegt in der endogenen Krisis des absoluten Subjekts, deren Grundzüge nun kurz darzulegen sind.
II.
Die endogene Krisis des absoluten Subjekts und das Prinzip des nach-metaphysischen Denkens
Gehen wir sogleich von der Feststellung über das Ganze aus, dass die in Hegels »System der philosophischen Wissenschaften« beanspruchte Wahrheit als Wirklichkeit des Sich-Wissens des absoluten Geistes in Allem sich verschließt gegen ihren Unterschied im Ganzen. Dieser Unterschied tritt hervor, wenn wir die interne Negativität der logischen Idee in sich unterscheiden von der externen auf dem Felde ihrer Entäußerung, d. h. der Realphilosophie. In der internen Negativität (des reinen Begriffs, d. h. in der Wissenschaft der Logik) wird jede Differenz gesetzt als Grenze des je bestimmten Begriffs und aufgehoben in einen neuen, höheren Begriff; in der externen Negativität hingegen tritt die Differenz grundsätzlich hervor als Äußerlichkeit der in sich vollendeten logischen Idee insgesamt. Die »realphilosophischen« Aufhebungen dieser Äußerlichkeit, dieser Indifferenz gegen die Bestimmtheit des Begriffs, lassen auf jeder Stufe (von der Natur bis zum absoluten Geist) qualitative Reste zurück, die unter dem spekulativen Wahrheitsanspruch für »nichtig« zu halten sind – sie machen für die Wahrheit aus dem Begriff keinen Unterschied, sind somit wahrheitsindifferent; und dennoch sind sie nicht »nichts«, sondern werden sogar als ein dem
So kann Hegel für den Geist, als die in Allem sich setzende und bewährende Idee, sagen: »[…] die Kraft des Geistes ist […], in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu bleiben […]« (3.588). Das »Alles«, worin die Idee sich zu setzen und zu bewähren hat, ist hierbei keine fremde Vorgabe, sondern es ist nur da unmittelbar als die äußere, deshalb negative Kehrseite der in sich vollendeten logischen Idee.
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Begriff äußerliches Dasein permanent mitproduziert mit der universalen Realisierung der Idee, denn die Vollendung der logischen Idee in sich ist unmittelbar und eo ipso ihre Entäußerung. Damit erhält das vom Begriff auch freigelassene Dasein des Endlichen ontologisch einen gleichursprünglichen Status, so dass die Differenz zum Begriff auf dem Felde der Realphilosophie unaufhebbar wird – ungeachtet aller Aufhebungen, durch welche die Idee sich erinnernd wiederherstellt und »bewährt«. Dass die hiermit vollzogene spekulative Erhebung des Endlichen immer auch die Kehrseite einer Reduktion und qualitativen Elimination hat, lässt sich an den Inhalten jeder realphilosophischen Sphäre von der Natur bis in die Geschichtlichkeit des absoluten Geistes zeigen. 15 Diese qualitativen Reste, die Nachtseite des spekulativen Begriffs, sind also der Sache nach alles Endliche in der Natur und im Geiste, also im psychischen, bewussten, theoretischen und praktischen Leben des Menschen, darüber hinaus in der sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Welt mit ihrer Geschichtlichkeit – alles Endliche darin, insofern und insoweit es Qualitäten, Bestimmtheiten, Daseinsweisen hat, die gleichgültig sind gegen die begrifflichen Bestimmungen, unter die alles, was es gibt, irgendwie fällt. Denn in allen Bereichen der Natur und des endlichen, also subjektiven und objektiven Geistes und seinen Realitäten, besteht eine Differenz zwischen Begriff und Realität, z. B. des Menschen, des Rechts, des Guten und des Staates, – so sehr die Einheit von Begriff und Realität als Idee die Wahrheit alles Seienden ist, so sehr bleibt in jeder realen Existenz auch eine Verschiedenheit zu ihrem Begriff. Die Realisierungen der Idee in ihrem äußerlichen Dasein, welche bestimmten realphilosophischen Begriffen gemäß vollzogen werden, bringen die Äußerlichkeit eben nicht mit einem Schlage zum Verschwinden, sondern sie enthalten außer den bestimmten Inhalten, die das Begreifbare als solches ausmachen, auch noch eine unbestimmbare Mannigfalt von Bestimmtheiten, die unter diese Begriffe nur fallen, ohne einen Unterschied für deren philosophische Bedeutung und ihren systematischen Stellenwert zu machen. Sofern diese Bestimmtheiten identifizierbar sind, ist dies nur empirisch möglich, und ihre Erklärung muss auf kontingente, dem Begriff äußerliche Fakten zurückgreifen (spekulativ: »Richtigkeit« versus »Wahrheit«). Solche dem spekulativen Begriff unangemessene Bestimmtheiten und 15
Dazu sei verwiesen auf Verf. 2010 (s. Anm. 2), S. 697–738.
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Entitäten sind »äußerer Bestimmbarkeit ausgesetzt«, 16 d. h. zufällig. Aber auch die positiven Begriffe selbst, welche die Realphilosophie ausmachen, enthalten Bestimmtheiten, Realitäten, die über die logischen Bestimmungen hinausgehen. In ihnen erweitern sich die logischen Bestimmungen um Sachgehalte, die aus ihnen in keiner Weise gewonnen werden können. Sie müssen faktisch immer zuerst durch die Bewusstseins- und Wissensweisen des Subjekts in seiner Endlichkeit selbst vorgegeben sein. 17 In dieser Differenz von spekulativ begreifbarer Realität und faktischer, in ihrer Bestimmtheit vom Begriff frei gelassener, durch ihn nicht vollständig bestimmbarer Realität liegt – geschieht – die perennierende Krisis des Subjekts als Prinzip der absoluten Metaphysik. Diese systematisch endogene Krisis ist durch die wesentlichen Positionen der Philosophie seit Feuerbach entschieden worden gegen den spekulativen Wahrheitsanspruch, und zwar durch die Anerkennung des von dieser Wahrheit Ausgeschlossenen als eigene vor- und außerbegrifflich bestimmte und gegebene Realität und Qualität – als Positivierung des vormals Nichtigen. 18 Indem das nachmetaphysische Denken insistiert auf dem irreduziblen Eigenwert des Endlichen in seiner qualitativen Mannigfalt und Diversität, wozu grundlegend die nun unhintergehbare Zeitlichkeit gehört, vollzieht es also eine Umwertung der metaphysischen Wertung: Das Endliche mit der Seite seiner Indifferenz gegen den Begriff ist nicht mehr als abhängiges Produkt des metaphysischen Subjekts zu Enzyklopädie § 250: »Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen.« (9.234). 17 Davon zeugt nicht nur die gesamte Phänomenologie des Geistes, die auf jeder Stufe eine zunächst als positiv genommene Realität in einer »Gestalt des Bewusstseins« voraussetzt, sondern auch die Realphilosophie der Enzyklopädie, in der bereits zu Beginn (§ 1) darauf hingewiesen wird, dass »der denkende Geist sogar nur durchs Vorstellen hindurch und auf dasselbe sich wendend zum denkenden Erkennen und Begreifen fortgeht«. 18 Vgl. dazu Verf.: »Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezentrierte Subjekt der Moderne«. In: Dirk Westerkamp/Astrid v. d. Lühe (Hrsg.): Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart (Festschrift für Claus-Artur Scheier). Würzburg 2007, S. 177–193; sowie ders.: »Das Unendliche im Endlichen. Feuerbachs anthropologische Verkehrung des spekulativen Wahrheitsanspruchs«. In: Claudia Bickmann et al. (Hrsg.): Religion und Philosophie im Widerstreit? Amsterdam/New York 2008, S. 93–102. 16
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begreifen – seine bloße »Entäußerung« –, sondern in jener Anerkennung der vor- und außerbegrifflichen Realitäten formiert sich zugleich und unmittelbar das Subjekt von Grund auf neu. Es findet und versteht sich in dem nun unhintergehbaren Bezogensein auf Anderes als unaufhebbar endlich: Es existiert genau nur in dieser nun ursprünglichen Beschränkung durch ein unverfügbares und unerschöpfliches Anderssein – Leiblichkeit und Sinnlichkeit, faktische Existenz, Geschichte und Ökonomie, Macht, Welt, Sprache, Nicht-Identität, Sein, der Andere, das Heterogene, die différance … Dieses ganze, unmittelbar differentielle Grundverhältnis von Selbst und Anderssein ist, noch diesseits dieser neuen Bestimmungen des Anderen, welche die diversen Positionen der Moderne hervorbringen, das dezentrierte Subjekt: Es ist weder selbst das in sich ruhende und geschlossene Zentrum für anderes, wie das absolute Subjekt der spekulativen Metaphysik; noch ist es, wie das Hegel’sche endliche Subjekt, in ein solches zentriertes Ganzes immer schon eingeordnet, zu dem es sich als zu seinem an und für sich wahren Bildungsziel denkend und handelnd – als »Geist vom Geiste Gottes« – erheben könnte. Seiner kritischen Genesis entsprechend ist es zwar als das vorherige Subjekt zu fassen, aber – hierin liegt die kritische Kontinuität – von Grund auf verwandelt, nämlich gebunden an und beschränkt auf seine endlichen Sphären: die Natur, den subjektiven und den objektiven Geist. In diesen irreduziblen Sphären der Endlichkeit hat es sich nun ohne jede Vorgabe, die darüber hinausginge, existenziell zu situieren, zu erhalten und zu bilden. Diese Sphären sind nicht mehr aufhebbar in eine höhere. Das Subjekt muss deshalb so gefasst werden, dass es zumal als natürliches, individuelles und soziales Subjekt existiert; und auch hierin waltet keine Hierarchie mehr, vielmehr ist das Subjekt gemäß diesen drei Parametern der Endlichkeit eingesetzt in drei verschiedene Qualitäten des Andersseins, mit welchem das nach-metaphysische Subjekt unhintergehbar behaftet ist: So nur existiert es, 19 und so nur »Die Junghegelianer« »klagen das Gewicht der Existenz ein« (DM 68). Indem sie damit – dies ist ein Ausdruck für die »Positivierung des Nichtigen« – grundsätzlich den Bannkreis des Subjekt-Prinzips als Prinzip der Ersten Philosophie verlassen, ist der verbleibende »Hegelianismus« auch nur eine Täuschung – für ein »radikal [!] geschichtliches Denken«, das meint, »den nun disponibel gewordenen Reichtum an Strukturen« und »Hegels Differenzierungsgewinne« für sich »fruchtbar machen« zu können, fällt die letzte und höchste Begründung dieses »Geistes der Welt«, dessen Entwicklung in der Zeit die menschliche Geschichte ist, weg – die Begründung in seiner eigenen
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kann es ein bewusstes, erkennendes und selbstbestimmtes Verhältnis zur Andersheit erlangen. So sind Naturalität, Individualität und Sozialität des Subjekts für die theoretische Beschreibung als seine drei Parameter zu verstehen, während sie existenziell, am wirklichen Subjekt selber, eher als seine drei Dimensionen zu bezeichnen sind, in denen es je seine Existenz auszulegen und auszutragen hat. Darin ist jede Dimension für jede andere ein Ursprung, unausweichlich als eine Realität, die unaufhörlich mitwirkt an dem, was die anderen Dimensionen in der Existenz des Subjekts sein können. Aufgrund der qualitativ irreduziblen Verschiedenheit der drei Existenz-Dimensionen des dezentrierten Subjekts ist seine Existenz nichts als ihr Zusammenspiel in mehr oder weniger starker, aber permanenter Veränderung und Verschiebung ihrer Relationen. Das dezentrierte Subjekt ist dieser Gesamtprozess, und in jeder Dimension realisiert es sich als ein Verhältnis zu einem Anderssein seiner selbst, der Signatur seiner Endlichkeit. – Sehen wir nun auf einige Konsequenzen des in dieser Grundstruktur konzipierten Subjekts der Moderne hinaus.
III. Die Moderne als Durchführung der Dezentrierung des Subjekts in den drei ursprünglichen Dimensionen der Endlichkeit In der Nachfolge Hegels und in mehr oder weniger genauer Kritik an ihm haben sich sogleich drei wirkungsmächtige Positionen herausgebildet, die jeweils eine der Dimensionen des dezentrierten Subjekts als ursprünglich angesetzt haben, so dass die jeweils übrigen nur in der Beziehung auf die erste zur Wirkung und Geltung gelangen können: Während Ludwig Feuerbach die Naturalität des Subjekts als ursprünglich ansieht, 20 darum die Sinnlichkeit und Leiblichkeit als die Basis seiner Individualität zugleich mit seiner Sozialität und allen ihren Inhalten und Werten festhält, kurz, während also Feuerbach das Subjekt von Absolutheit, dem begreifenden Denken, welches die Zeit tilgt (PhG, 3.584, auch 590 f.). Damit bleibt solche Philosophie unhintergehbar »auf dem Boden der Endlichkeit« (Enz. § 483). Dies aber ist in der Tat der »Boden« der Moderne. 20 Es liegt bereits in der Konsequenz der naturalistischen Anthropologie Feuerbachs, die eigentliche Qualität des existenziellen Subjekt-Seins als Besonderheit des Lebewesens Mensch evolutionstheoretisch einzuordnen, wie es der Einseitigkeit entspricht, die sich aus dem Primat der ursprünglichen Naturalität des Subjekts ergibt.
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vornherein als natürlichen Menschen versteht bzw. verständlich machen will, 21 reflektiert Kierkegaard das Subjekt ganz in seine Individualität als irreduzible, wenngleich in permanentem Selbstverständigungsprozess sich bildende Qualität; was nicht ausschließt, sondern als notwendige Folge davon untrennbar ist, dass dieser existenzielle Prozess sich den Voraussetzungen der Naturalität und den Einwirkungen und Forderungen der Sozialität nicht entziehen kann, so dass die individuelle Selbstverständigung wesentlich ethischen Charakter hat; und schließlich hebt Marx die Naturalität und die Individualität auf in die dritte Dimension: Hier hat die Sozialität des Subjekts den Vorrang. Natur und Individuum sind nur in ihr, durch sie immer schon überformt und in Dienst genommen; d. h. ihre Bestimmtheiten sind nur als gesellschaftlich vermittelte zugänglich und relevant. So stellt jede der drei Positionen eine Synthesis der drei Dimensionen des nachmetaphysischen Subjekts unter dem Primat je einer dieser Grundbestimmungen dar. Die Synthesis unter dem Primat der Sozialität bei Marx ist jedoch von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Moderne. Sie zeigt, wie der gesamte Bereich der Intersubjektivität im nachmetaphysischen Denken – und zwar erst in ihm – zum Fundamentalproblem der Philosophie werden konnte und auch werden musste. Unter der Prämisse der dreidimensionalen Endlichkeit des Subjekts, welche letztlich keinen qualitativen, positiven Primat, sondern nur die perennierende Differenz zu jeder Bestimmtheit zulässt, bleibt jede Einheitsbildung partikular und problematisch, und dennoch eine notwendige Aufgabe, weil Bedingung jeder Orientierung im Ganzen. Die Einheit des Bewusstseins ist gebunden an existenziellen Vollzug, also Individualität; die Einheit der Gesellschaft hingegen ist gebunden an geschichtlich gewordene und werdende, sich verändernde Formen und Grade der Sozialintegration. 22 Sie besteht deshalb nur als deren Funktion, bleibt stets Voraussetzung und Aufgabe von Praxis, kann aber weder gesellschaftlich noch individuell jemals eigentlich vollzogen werden; und so bleibt sie überhaupt als Gedanke stets formal und abstrakt vorausgreifend, inhaltlich aber fallibel und stets wieder revisionsbedürftig. Das letztere gilt zwar auch für das andere Extrem zum Individuum, die Natur, da, was ihre Einheit sein Dazu s. ob. Anm. 14. Habermas: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« In: ders./Henrich: Zwei Reden. Frankfurt a. M. 1974, S. 25–84.
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könnte, nur im Netzwerk objektivierender Wissenschaft projiziert werden kann. Diese aber ist immer schon Produkt der intersubjektiven Sphäre, und in diese gehen wiederum die Ergebnisse der Wissenschaft auf vielerlei Weisen ein, sowohl hinsichtlich ihrer technischen Verwertbarkeit zur Steigerung der Produktivkräfte, 23 als auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die kulturelle Orientierung und das Selbstverständnis der Gesellschaft. In der Tat erweist sich auch die in der intersubjektiven Sphäre vollzogene höchste und umfassendste Synthesis bei näherer Betrachtung als relative und ergänzungsbedürftige Zentrierung. Sollen Natur und Individualität erst als gesellschaftliche Produkte »wahrhaft« existieren, so kommt zunächst alles an auf die Art und Weise, wie dieses gesellschaftliche Produzieren selbst organisiert und gesteuert werden kann. Zwar gibt es keine übergeordnete Instanz, von der eine normative Orientierung zu akzeptieren wäre. Doch auch die gesellschaftliche Synthesis selbst erzeugt ihre Vorgaben nicht völlig aus sich selbst. Diese behalten eine Seite der Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit gegenüber ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung und Reproduktion. Da die eigentlich subjektiven Momente in diesem Prozess, nämlich Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, nach dem Verschwinden (oder auch: »Entzug«) des absoluten Geistes nur noch in zerstreuter Pluralität und inhaltlicher Diversität existieren, da ihnen also die reale, sachhaltige und zugleich universale Einheit des Geistes überhaupt mangelt, so reichen sie nicht aus, um die Organisation und Steuerung der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens zu leisten. Aber dieser Mangel ist kein Defizit der sog. »Subjektphilosophie«, nichts, was »das Subjekt« als Prinzip zu leisten vorgibt und deshalb eigentlich leisten sollte, sondern notwendige Folge der beschränkenden Transformation des Subjekts als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie bis Hegel in das dezentrierte Subjekt der Moderne. Wohl aber bleiben diese intrinsisch subjektiven Faktoren im Gesamtprozess des dezentrierten Subjekts relevant, nämlich von der Ebene der Individualität aus, auf der alles, was geschieht, auf irgend eine, und zwar jeweils unvertretbare Weise erlitten werden muss. In dieser Perspektive wird aber auch erkennbar, dass die Individuen nicht, und zwar prinzipiell nicht mit der Gattung koinzidieren und dass die materiellen Bedingungen des Lebens, die primär gesell23
Dazu: TWI.
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schaftlich zu erfüllen sind, selber auch unter subjektiven Kriterien stehen und daraufhin zu reflektieren und zu bewerten sind, obgleich die Erfüllung jener materiellen Bedingungen zuerst immer eigenen, funktionalen Zwängen und Gesetzen genügen muss. Hat hier das instrumentelle (und in Teilbereichen auch das strategische) Handeln seine unverzichtbare Bedeutung, so werden in diesem Handeln doch zugleich immer auch Interaktionsbeziehungen zwischen Individuen ausgeübt. Die Bindung dieser Beziehungen an die Rahmenbedingungen der historisch jeweils etablierten Produktionsweisen und der entsprechenden Produktionsverhältnisse bedeutet nicht nur eine Determination des Überbaus durch die Basis, weil die Dimension der Sozialität (unter dem Prinzip des dezentrierten Subjekts) von vornherein zu begreifen ist als mehrschichtiges Beziehungsgeflecht einer Pluralität von existierenden Subjekten, die bereits natural differenziert sind. Darin sind sowohl die gesellschaftliche Organisation der materiellen Reproduktion als auch – und in eins damit – die intersubjektiven Beziehungen, also die faktischen und normativen Beziehungen von Individuen aufeinander institutionalisiert. Dies geschieht nachmetaphysisch gedacht nicht durch ein übergeordnetes Allgemeines, sondern nur durch die Vergesellschaftung von Subjekten, die als Individuen in ihrer notwendigen Vergesellschaftung – sie existieren prinzipiell nur als Pluralität – sich zugleich in ihrer sozialen Verortung und ihrer Einbindung in geltende Interaktionsstrukturen reflektieren können. Damit aber setzen sie sich eo ipso in ihrer Besonderheit und als Mitglieder der Gesellschaft auch in eine Differenz zu dieser, wie auch zugleich in Differenz zu anderen ihresgleichen, d. h. den anderen Individuen; und dadurch wiederum eröffnet sich ihnen als Teilnehmern zugleich die Möglichkeit einer kritischen Perspektive auf das Gegebene. Zwar bleibt alles, was sich daraus objektiv entwickeln mag, abhängig vom Stand der Produktivkräfte bzw. deren Entfaltung sowie der gesellschaftlichen Verteilung der Verfügungsgewalt über sie. Aber diese Möglichkeit einer innersubjektiven kritischen Perspektive auf die Sozialität, an die sie existenziell gebunden ist, ist zugleich die innerste Bedingung für jene andere Qualität sozialer Beziehungen, nämlich das kommunikative Handeln, – derjenigen Beziehungen, die das praktische Feld des Vernunftpotentials und des normativen Gehalts der Moderne ausmachen. 24 24
Deshalb stellt Habermas allgemein fest: »Die Regeln kommunikativen Handelns ent-
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Im Blick auf Marx wird also deutlich, dass die – von Marx vollzogene – völlige Integration der Dimensionen des dezentrierten Subjekts in die eine, wenngleich konkreteste, nämlich die Sozialität, wiederum der Gefahr unterliegt, zu einer Verkürzung bzw. Verzerrung der Naturalität einerseits und der Individualität andererseits zu führen. Abgeblendet wird zum einen die elementare Unverfügbarkeit der Natur, die immer nur partiell und temporär »gestellt« und angeeignet, auf Zwecke hin rationalisiert werden kann; und zum anderen, für die in einer kosmischen Gegenwart je gerade lebenden Menschen noch folgenreicher: die unableitbare Qualität des konkreten, existenziellen Subjektseins kann und muss mit dem Gefüge der Intersubjektivität nur noch vorausgesetzt werden. Ihre Erklärung aus der Dimension der Sozialität bleibt von Grund auf defizitär, weil sie nur ontogenetisch das faktische Erwachen des Selbstbewusstseins und die »Individuierung durch Vergesellschaftung« (ND 187 ff.), nicht aber die ursprüngliche Vollzugsweise individueller Existenz selbst – mit Husserl gesprochen: das »Eigenwesentliche des Psychischen« 25 – erreicht. Diese phänomenologisch aufweisbare Differenz ist in der Tat mitkonstitutiv für das Prinzip dezentrierter Subjektivität, demzufolge ja alle drei Dimensionen gleichberechtigt und in ihrer qualitativen Verschiedenheit gleichursprünglich zu realisieren und zu erfüllen sind. Wegen der perennierenden Differenz kann keine Dimension die anderen ohne Rest integrieren, wenngleich die Sozialität von sich aus, in allen ihren Strukturen, die beiden anderen in höherem Maße als umgekehrt ideell wie reell zu bestimmen vermag. Doch aufgrund der ursprünglichen Irreduzibilität jeder Dimension muss auch der Sozialität aus den beiden anderen Dimensionen, der Naturalität und der Individualität, beständig qualitativ irreduzible Realität zuwachsen, da sie nicht wie der hegel’sche Geist sich dirimiert in seine besonderen Sphären, sich nicht in sich besondert wie das spekulativ Allgemeine, kurz: da die Sozialität als wickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik.« (RHM 163) Daraus folgt, in Bezug auf Marx (und die an ihn anschließende »Praxisphilosophie«) die Kritik, dass die gesellschaftliche Praxis nicht »primär als Arbeitsprozess« zu denken sei (DM 396), weil nicht zu erklären sei, wie »die emanzipatorische Praxis aus der Arbeit selbst […] hervorgehen« kann (DM 82). 25 S. Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Husserliana Bd. IX, Den Haag 1968, § 24 (S. 140); Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Bd. VI, Den Haag 21962, § 78 (S. 261); u. ö.
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»Welt des Menschen« 26 keine metaphysische Entität ist, sein kann, sein darf. Es gibt keinen Ersatz für die substantielle sittliche Totalität, wenn deren absolutes Zentrum auf dem Felde seiner Entäußerung, im Endlichen, Zufälligen und Besonderen, als einer eigensinnigen Wirklichkeit, die ihm immer auch unangemessen ist, seine Macht verloren hat. 27 Aus dieser sowohl prinzipiell einsehbaren als auch phänomenologisch sich zeigenden Differenz entspringt insbesondere die Problematik des von Habermas kritisierten Marx’schen Konzepts der Gattung, das bereits Feuerbach eingeführt hat. Denn hier zeigt sich, trotz scheinbarer Nähe, die Differenz zum Hegel’schen Geist als absolutem Zentrum, das der absolute produktive Grund von allem, zumindest dem Sein nach, wenngleich nicht aller Bestimmtheit des Seienden, ist. Wenn Habermas es kritisiert, dass Marx die Gattungsgeschichte letztlich als Selbsterzeugungsprozess auffasst und darstellt, so kritisiert er damit zurecht den Versuch, ein materielles Makrosubjekt äquivalent an die Stelle des hegel’schen Geistes zu setzen. Doch die Stoßrichtung seiner Kritik geht nur dahin, dass Marx sich damit »dem hegelschen Totalitätsdenken nicht entzogen« habe (DM 396) und dass er, wie Hegel, den »grundbegrifflichen Zwängen der Subjektphilosophie« erliege (DM 79). Nun kann jedoch die Marx’sche Position schwerlich als Subjektphilosophie bezeichnet werden, wenn darunter eine »Fortsetzung des hegelschen Projekts« (DM 75) verstanden werden soll. Was bei Hegel als »Projekt« zu finden sein sollte, ist sicherlich bereits durch ihn selbst systematisch erledigt worden. Für die Marx’sche Position aber kommt Subjektivität schon prinzipiell nur noch in ihrer nach-metaphysischen Neubestimmung in Betracht, also vor allem als unüberwindlich endliche. Doch gerade bei Marx wird vom eigentlich subjektiven Element in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, ihren Konflikten und Krisen abgesehen. Die sich selbst wissende und bestimmende Subjektivität Karl Marx: Frühschriften (ed. S. Landshut). Stuttgart 1971, S. 208. Dann muss Hegels Grundgedanke, dass das Endliche »ideell« ist (Wissenschaft der Logik I: 5.172), dass es das Gesetztsein und die Besonderung des Unendlichen, der absoluten Negativität, des Allgemeinen ist, – muss dieser Gedanke, geltend gemacht im Verhältnis des Staates zu den übrigen Sphären der Sittlichkeit, als »logischer, pantheistischer Mystizismus« und »Mystifikation« des Endlichen, Empirischen überhaupt erscheinen, wie Marx in seiner Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie behauptet (Marx: Frühschriften (s. Anm. 26). S. 23).
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geht ganz über in das selbstlose Element ihrer Entäußerung. Wird in den Frühschriften, vor allem mit dem Entfremdungsgedanken, noch eine reflexive Struktur endlicher Subjektivität in Anspruch genommen, so verliert doch Subjektivität in den späteren Schriften seit den Grundrissen jede sachliche Relevanz. Wohl aber werden hier Realitäten analysiert, die selber nur deshalb Relevanz haben, weil sie subjektunabhängige Bedingungen der Wirklichkeit von Subjekten sind. Nicht das Subjekt-Sein und Bewusst-Sein überhaupt werden aus diesen Bedingungen erklärt, wohl aber ihre Inhalte und Denkweisen. Die Marx’sche Position bringt in die philosophische Entwicklung der Moderne und die Bewährung des Prinzips dezentrierter Subjektivität die irreduzible Eigenbedeutung der Dimension der Pluralität, und damit der Intersubjektivität und Sozialität ein: In allen Aspekten der individuellen Existenz, grundlegend in ihren naturalen, psychischen und geistigen Qualitäten, ist ihre intersubjektive Bedingtheit zu berücksichtigen, wenn sie im Sinne nachmetaphysischen Denkens begriffen werden sollen. Die konkrete, geschichtlich gewordene und werdende Intersubjektivität ist der Ort der Entscheidungen, der Praxis und ihrer Aufgabe, die Pluralität zur Sozialität zu gestalten. Jene »grundbegrifflichen Zwänge der Subjektphilosophie« 28, die Habermas konstatiert, können sich also nur auf die systematischen commitments der Dialektik des absoluten Subjekts beziehen. Sie hindern zwar in der Tat den Aufbau eines modernegemäßen Pendants dessen, was vormals »sittliche Gemeinschaft« hieß, nämlich ihren Aufbau von unten (ohne eine vorgängige Sicherung für das Gelingen von oben), insbesondere durch die von Habermas aufgebotenen komplementären Bereiche des kommunikativen Handelns und der Lebenswelt; und sie können auch, genau genommen, die »moderne« Form der Selbstverwirklichung eines jeden Einzelnen durch Vergesellschaftung in solidarischer Selbstbestimmung aller, 29 nämlich im Medium offener und damit riskanter kommunikativer Vernunft gar nicht erst zulassen – aber das gilt eben nur für die Philosophie, deren Subjekt noch Prinzip einer Metaphysik gewesen ist und damit auch Subjekt einer Vernunft, die der Menschenwelt und deren Subjekten, von denen
Vgl. DM 306 f., 323, 341, 344 f., 369, 376 (u. a.). Vgl. DM 391 (unten): Dies sollten die »Konnotationen« sein, »die die Subjektivität einst als uneingelöstes Versprechen mit sich geführt hatte«.
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allein eine Philosophie der Moderne handeln kann, immer schon voraus ist. 30
IV. Kommunikative Vernunft und dezentrierte Subjektivität Begreifen und rekonstruieren wir Habermas’ »Projekt« und den zugrundeliegenden Begriff der Moderne aus dem skizzierten Prinzip des dezentrierten Subjekts, so zeigt sich – entsprechend der eingangs behaupteten kritischen Kontinuität zwischen dem philosophischen Prinzip der Neuzeit und dem der Moderne – in der Tat eine Schnittmenge zwischen dem neuzeitlich metaphysischen Prinzip der Subjektivität und dem Habermas’schen Begriff der Moderne, zumindest dessen Implikationen. Diese Schnittmenge liegt in der Subjektivität als solcher, der unvertretbaren Qualität des Subjekt-Seins. 31 Um aber von diesem gemeinsamen Kern von Subjektivität aus nicht aufgrund von Konsequenzen, die nur dem metaphysischen Subjekt zuzuschreiben, mit dem dezentrierten Subjekt der Moderne hingegen unverträglich sind, zu einer prinzipiellen Zurückweisung von »Subjektphilosophie« überhaupt gedrängt zu werden, muss eben die Stellung und Bedeutung von ›Subjekt‹ als metaphysisches, transzendentales und spekulativ-absolutes 32 scharf geschieden werden von derjenigen Stellung und Bedeutung, die es als Subjekt der Moderne in der Bindung an unverfügbare Das gilt nicht nur für die ältere Tradition der Ersten Philosophie, sondern auch (noch) für die kantische Vernunft, deren »Gesetzgebungen« für Natur und Freiheit »auf dem Boden der Erfahrung« (s. Kritik der Urteilskraft, Einl., II. Abschnitt) nicht durch menschliche Kommunikation und Praxis erst konstituiert werden können, sondern dem Menschen schon »vor aller Erfahrung« zeigen sollen, »was« er in der Erfahrung ist bzw. sein soll. 31 Dies ist es, was Theodor W. Adorno dem idealistischen Subjekt- bzw. Geistbegriff als »Erfahrungsgehalt« zugesteht, aber zugleich auch gegen seinen systematischen universalen Begründungsanspruch einklagt, s. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt a. M. 1963, S. 28 f.; Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966, S. 51 ff., 143, 176 ff. (u. a.). 32 Diese drei Bestimmungen beziehen sich auf die drei Phasen der neuzeitlichen Metaphysik bis Hegel, wobei die erste noch in der objektiven Metaphysik verbleibt, deren Subjekt insofern noch zweideutig ist, als es sowohl der selbstreflexive Ort der Erkenntnis als auch ein besonderes Seiendes und als solches bloßes Objekt der Erkenntnis ist, das nicht methodisch immanent gewonnen werden kann, sondern nur als gegeben vorauszusetzen ist. Das spekulativ-absolute Subjekt hingegen bringt im absoluten Selbsterkennen als Setzen des Endlichen seine eigene Objektivität immanent hervor. Es ist deshalb metaphysisch im methodischen und realen Sinne. 30
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und unausschöpfliche Andersheit allein noch haben kann, und zwar in jeder der drei gleichursprünglichen Dimensionen der Endlichkeit. Die näheren Bestimmungen des nach Habermas neuen Paradigmas der Intersubjektivität bzw. der »Verständigung« (DM 346), insbesondere die sprachlichen Bedingungen kommunikativer Kompetenz und das darauf beruhende Gefüge der drei fundamentalen Sprachfunktionen bzw. Geltungsansprüche sind allesamt nur möglich als soziale Ausübung von existierender Subjektivität, als sozialintegrative Praxis von Subjekten, die im Zuge dieser Art ihrer Vergesellschaftung ihre biologisch, also natural vorgegebene Differenz ausbilden zur personalen und – sit venia verbo – geistigen Individuation. 33 Nur durch solche Praxis und in ihr gibt es kommunikative Vernunft. Indem Habermas gegenüber der quasi naturalistischen (»naturwüchsigen«) Geschichtsauffassung bei Marx, gegenüber den systemischen Rationalitäten der Ökonomie und der Bürokratie sowie auch gegenüber den »Aporien der Machttheorie« (DM X., 313 ff.) und der »systemtheoretischen Aneignung« – die in Wahrheit Elimination ist – »der subjektphilosophischen Erbmasse« (DM 416 ff.) bei Luhmann die verständigungsorientierte Interaktion vor allem im Medium der kreativen multifunktionalen Sprachverwendung geltend macht, bindet er eo ipso das Gesamtverständnis der Moderne an eine nachmetaphysisch konzipierte Subjektivität, die von Grund auf einer unverfügbaren, stets nur transitorisch bestimmbaren und reduzierbaren Alterität ausgesetzt ist – der Alterität nicht nur der äußeren und der inneren Natur der einzelnen Subjekte, sondern auch ihrer Pluralität, als seinesgleichen in der Differenz. Von dieser Differenz real existierender Subjekte geht auch Habermas schon aus, wenn er kommunikative Kompetenz für Sprecher und Hörer verlangt und analysiert, wenn er voraussetzt, dass im Sprachgebrauch Geltungsansprüche der verschiedenen Art erhoben, verstanden und gerechtfertigt werden können, und auch, wenn er überhaupt symbolisch vermittelte Interaktionen für möglich hält. So wie Geltungsansprüche überhaupt personale Qualitäten voraussetzen, vergesellUm die in allen Formen und Funktionen kommunikativen Handelns eo ipso ausgeübte bzw. vorauszusetzende Subjektivität auch als solche zu erkennen und in ihrem »Eigenwesentlichen« (s. Anm. 25) zu analysieren trägt die seit Husserl in vielen Varianten entwickelte Phänomenologie der Intersubjektivität auf eine unersetzliche Weise bei. Darin wird Subjektivität bereits prinzipiell als Pluralität in transzendentaler Intersubjektivität angesetzt und verstanden, wie es das Prinzip des dezentrierten Subjekts verlangt.
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schaftete Individuen, deren jedes ein »inneres Zentrum der Selbststeuerung individuell zurechenbaren Verhaltens« 34 bildet, so auch die diskursethische Begründung moralischer Normen; denn diese bilden zwar eine Autorität gegenüber den Meinungen und Dezisionen der Einzelnen, doch sie sind grundsätzlich auch zu rechtfertigen hinsichtlich ihres »unpersönlichen« 35 (überindividuellen) Geltungsanspruchs. Das aber bedeutet, jeder Einzelne muss das Allgemeine, das die Norm enthält, selbst einsehen, er muss zu einem »rational motivierten Einverständnis« 36 gelangen. Mit dem Prinzip des dezentrierten Subjekts gedacht: Die je individuell zu vollziehende Subjektivität ist immer auch schon bezogen auf eine Pluralität von seinesgleichen in der existenziellen Differenz, aber nie nur Teil dieser Pluralität und ihrer intersubjektiven Ordnungen. So ist dem Prinzip des dezentrierten Subjekts zufolge diese Differenz in der Tat mitkonstitutiv für die Gesamtwirklichkeit des Subjekts der Moderne und so auch insbesondere konstitutiv für die Individuen als den koexistierenden Elementarbedingungen jeder Orientierung an Verständigung und Mitteilung im Sprechen und Handeln – es muss ihnen dies alles, im Gelingen wie im Scheitern, etwas bedeuten, es muss sie angehen, ihr Interesse berühren, bestimmen und zu weiterer Praxis entfalten. 37 Habermas: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität«. In: ND, S. 187–241, hier: S. 190. 35 Vgl. Habermas: »Diskursethik«. In: ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 59, 60 (u. a.). 36 Vgl. a. a. O. S. 68, 72; TkH I, 55. 37 Es mag hier offen bleiben, ob diese Hervorhebung der irreduziblen individuell-subjektiven Dimension an den Grundzügen und Strukturen der Intersubjektivität bei Habermas tatsächlich als eine Kritik verstanden werden muss, oder ob damit nicht eigentlich nur geltend gemacht wird, was ohnehin in der Theorie des kommunikativen Handelns impliziert ist, aber in den meisten Texten von Habermas kaum thematisiert wird, da diese das Verhältnis von Individualität und Sozialität überwiegend (gemäß dem »Paradigma der Verständigung«) von der Seite der Intersubjektivität angehen und darstellen – von der aus zwar überhaupt erst irgendetwas thematisiert werden kann, das dennoch nicht in diesem intersubjektiv geregelten Verfahren der sprachlichen Thematisierung erst erzeugt werden muss. Deshalb darf auch der Intersubjektivität kein Primat eingeräumt werden. Insofern scheint hier nach dem Kriterium des Prinzips des dezentrierten Subjekts doch eine letzte Einseitigkeit vorzuliegen, denn dieses verlangt mit der konstitutiven Gleichursprünglichkeit von Naturalität, Individualität und Sozialität (des Subjekts) auch deren strenge Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. Dem entspricht die Grundthese von Henrich in dieser Frage (in: »Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas«. In: Konzepte. Frankfurt a. M. 1987, 34
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
Subjektivität wäre also nur dann im Diskurs der Moderne etwas zu Überwindendes, wenn damit eine Subjektivität gemeint wäre, die sich als unabhängiges Erstes und Zentrum zu allem etabliert, nicht aber die von Grund auf dezentrierte Subjektivität, die als Medium des Verstehens in allen symbolisch vermittelten Interaktionen und ihrer kommunikativen Vernunft unentbehrlich ist. Oder, wie Habermas selbst zu Beginn des Schlusskapitels (des Philosophischen Diskurses) sagt: Die Zurückweisung von Subjektivität darf nicht undialektisch erfolgen (DM 391), wenn der normative Gehalt der Moderne überhaupt erkannt und in Geltung gesetzt werden soll. Verstehen und rekonstruieren wir die hiermit geforderte Dialektik als bestimmte Negation des neuzeitlich metaphysischen Subjekt-Prinzips, so ergibt sich daraus zugleich der innerphilosophisch legitimierbare Ursprung der Moderne.
Entgegnung von Jürgen Habermas Ich bin Klaus Erich Kaehler sehr dankbar für eine produktive Gegenlektüre zu der Stellung, die ich Hegel im historischen Zusammenhang des Philosophischen Diskurses der Moderne eingeräumt habe. Im sachlichen Ergebnis stimmen wir überein, freilich nicht in der Herleitung und der begrifflichen Fassung dieses Resultats. Kaehler gelangt auf dem Wege einer immanenten Kritik Hegels zu jenem Argument, das zum Bruch der Junghegelianer von ihrem Lehrer und damit zum »Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Löwith) geführt hat. Was die Junghegelianer zu unseren Zeitgenossen macht, ist der Respekt des endlichen Geistes vor dem kontingenten und nur erfahrungswissenschaftlich zugänglichen »Rest«, den die »Differenz von spekulativ S. 11–43): »[…] dass sich die Sprachfähigkeit nur in einem mit dem spontanen Hervorgang von Selbstverhältnis entfalten kann« (a. a. O., S. 35). Mir scheint allerdings, dass dies nichts ist, was Habermas unbedingt bestreiten müsste, wenngleich er es selten so deutlich ausdrückt wie im folgenden Satz: »Die Identität vergesellschafteter Individuen bildet sich zugleich im Medium der sprachlichen Verständigung mit anderen und im Medium der lebensgeschichtlich-intrasubjektiven Verständigung mit sich selbst.« (In: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität« (s. Anm. 34), S. 191). Das ist strenge Reziprozität und zugleich verschiedener, qualitativ irreduzibler Vollzug beider Seiten! Formell gesagt: Sie bilden füreinander wechselseitig notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen.
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
begreifbarer Realität und faktischer, in ihrer Bestimmtheit vom Begriff frei gelassener, durch ihn nicht vollständig bestimmbarer Realität« übrig lässt. Das nachmetaphysische Denken insistiert »auf dem irreduziblen Eigenwert des Endlichen in seiner qualitativen Mannigfaltigkeit, Diversität und unhintergehbaren Zeitlichkeit.« Dieses Argument zielt über die triviale erkenntnisrealistische Verteidigung einer objektiven, von unseren Beschreibungen unabhängigen Welt hinaus. Es bewahrt nämlich den Bezug zur Spontaneität der welterzeugenden Subjektivität. Feuerbach geht es um die materialistische bzw. existentialistische Betonung der Faktizität der Natur, die als kontingente Herausforderung begegnet und zugleich subjektiv, als eigene organische Natur gelebt wird; Marx geht es um die Faktizität gesellschaftlicher Praktiken, in welche die beteiligten Subjekte ebenso verstrickt sind, wie sie diese ihrerseits im Vollzug interpretieren und verändern; Kierkegaard geht es um die Faktizität von Geschichte und Lebensgeschichte, die das erlebende Subjekt durchdringen und prägen, aber zugleich auf seine je eigene und unvertretbare Individualität verweisen. Sie alle rekurrieren jeweils auf die Naturalität, die Vergesellschaftung und die radikale Innerlichkeit des Subjekts als den Grund der Heterogenität von Begriff und Wirklichkeit. Diese junghegelianischen Denkrichtungen, die aus dem »Verwesungsprozess des absoluten Geistes« (Marx) hervorgegangen sind, haben mich schon in der Einleitung zu meiner Dissertation beschäftigt. Allerdings habe ich damals noch nicht die Lücke gesehen, die erst die radikaldemokratischen amerikanischen Pragmatisten – gewissermaßen in Ergänzung zu Marx – ausgefüllt haben. Sie bilden eine vierte junghegelianische Partei. Die Pragmatisten haben nämlich, wie schon Hamann, Herder und Humboldt, die zentrale Bedeutung von Sprache und sprachlicher Kommunikation entdeckt. Vor allem Peirce, Royce und Mead, aber auch William James haben die beim frühen Hegel angelegte Denkfigur der Individuierung durch Vergesellschaftung kommunikationstheoretisch aufgenommen. Ihr Egalitarismus war gegen jede Art von Kollektivismus geimpft. Die Differenz zu der – insoweit geteilten – Interpretation von Klaus Erich Kaehler ergibt sich im Hinblick auf den Stellenwert, den die sprachliche Kommunikation für die junghegelianische Wende der Subjektphilosophie einnimmt. Aus meiner Sicht genügt es nicht, die Dezentrierung des absoluten Subjekts in den drei Dimensionen von Leiblichkeit, Sozialität und Geschichtlichkeit zu beschreiben. Wir müssen die Detranszendentali396 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
sierung von Kants ursprungslos transzendentalem Bewusstsein jenseits von Raum und Zeit oder die Dezentrierung des Geistes, den Hegel als eine alle raumzeitlichen Prozesse in sich begreifende Totalität denkt, erklären. Dafür bietet sich die Sprache als das Medium an, das den Gedanken der Detranszendentalisierung der schöpferischen Subjektivität und der Dezentrierung des sich selbst bewegenden Geistes auf doppelte Weise erklären kann, sowohl philosophisch wie empirisch. Philosophisch fallen wir nicht (wie der Empirismus, dessen geistesgeschichtliche Linie zum heutigen, szientistisch verengten Naturalismus führt) auf das vor-Kantische Niveau zurück, wenn wir, gut materialistisch, von einer naturgeschichtlichen Zäsur ausgehen, nämlich von der kommunikativen Vergesellschaftung von individuellen Exemplaren einer hochentwickelten Spezies von Schimpansen. Denn aus philosophiehistorischer Sicht geht damit die welterzeugende Spontaneität vom erkennenden transzendentalen Subjekt auf eine in der Welt existierende Sprachgemeinschaft über. Deren kommunikativ vergesellschafteten individuellen Mitglieder finden sich dann zwar jeweils im sprachlich erschlossenen Raum ihrer intersubjektiv geteilten Lebenswelt vor, aber im kommunikativen Umgang miteinander können sie nicht nur Nein sagen, sie müssen zu Geltungsansprüchen Stellung nehmen. Auf diesem Boden eines andauernden Dissensrisikos verarbeiten sie, im intelligenten Umgang mit einer überraschenden Umgebung, innovative Erfahrungen und schöpfen aus diesen Lernprozessen die revisionäre Kraft, die vorgeschossenen Interpretationen durch bessere zu ersetzen sowie tradierte Lebens- und Abhängigkeitsverhältnisse zu revolutionieren. Auch unter empirischen Gesichtspunkten der sozialen Evolution führt der Ansatz beim Medium der Sprache auf die richtige Spur – es ist offenbar die einschneidende Umstellung auf den Modus der sprachlichen Vergesellschaftung, die zur Rekonstruktion der Bewusstseinsleistungen unsrer in der natürlichen Evolution nächsten Vorfahren geführt hat. Der neuerdings von Tomasellos Untersuchungen beleuchtete evolutionäre Pfad vom selbstbezogenen subjektiven Geist der Schimpansen zum objektiven Geist des homo sapiens, also zum symbolisch erschlossenen Raum intersubjektiv geteilter Bedeutungen, hat nicht nur das kognitive Potential eines an Umfang und Gewicht gewachsenen Gehirns stimuliert und entbunden, sondern das entdifferenzierte Antriebspotential in einem ganz neuen Netz rituell eingeübter Normen eingefangen. Mit dem Stichwort »objektiver Geist« kommt philosophie397 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
geschichtlich die spezifische Leistung ins Spiel, mit der sich Hegel gegenüber Kant profiliert. Er gehört nach Hamann und Herder und mit Humboldt und Schleiermacher zu den ersten, die das neue historische Denken philosophisch ernstnehmen. Hegel ist der erste Philosoph, der systematisch die von den entstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften erforschten Objektbereiche von Kultur und Gesellschaft, also die Welt der Symbole und sprachlich vermittelten Interaktionen in die Entwicklung des »sich selbst bewegenden« Geistes einbezieht. Das bedeutet eine Transformation der Erkenntnistheorie in eine ganz neue Philosophie des Geistes und die Erweiterung der klassischen Themen der Philosophie um die Aufgabe einer Selbstverständigung der Moderne. Dem entspricht Hegels Unterscheidung der »neuen« von der »neuesten Zeit«. In diesen Hinsichten geht Hegel über Kant wesentlich hinaus. Aber in anderer Hinsicht will Hegel hinter diesen ersten nachmetaphysischen Denker zurückgehen, weil er das – aus nachmetaphysischer Sicht verstiegene – Ziel hatte, die Subjektphilosophie der Neuen mit der Ontologie der Alten zusammenzuführen. Deshalb scheint mir die lineare Konstruktion der neueren Philosophiegeschichte, die Klaus Erich Kaehler anbietet – vom metaphysischen über das transzendentale zum spekulativen Subjekt – die wirklichen Schübe in der Geschichte des modernen Denkens eher einzuebnen. Kant markiert die Wende zum nachmetaphysischen Denken; und diese wird, nachdem Hegel für die Einholung des historischen Denkens einen überschwänglichen Preis bezahlt hatte, von den Junghegelianern (einschließlich der amerikanischen Pragmatisten) – allerdings auf einem von Herder, Hamann und Humboldt vorbereiteten Boden – vollzogen. Als ein Paradigmenwechsel erscheint diese Revolution der Denkungsart allerdings erst aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts.
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Hauke Brunkhorst
Marxismus und Evolution
Wie die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien ist die Theorie von Marx Evolutionstheorie. Obwohl er die historische Untersuchung der Klassenkämpfe von der Entwicklungslogik des kapitalistischen Systems trennt, unterscheidet Marx nicht deutlich genug, so ein alter Einwand von Habermas, zwischen Arbeit und Interaktion und muss deshalb den Klassenkampf der Logik des Kapitals assimilieren (1). 1 Obwohl Marx die großen Revolutionen in seinen historischen Arbeiten immer als Rechtsrevolutionen verstanden hat, hindert die begriffliche Vorentscheidung für den – von Habermas, Apel und vielen andern zu Recht kritisierten – Primat der Ökonomie ihn daran, den normativen Eigensinn der Revolution und die Rolle des Rechts als – wie Habermas sagt – Schrittmacher der Evolution richtig zu verstehen (2). 2 Obwohl Marx den inneren Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und funktionsabhängiger Klassenbildung richtig erkannt hat, reduziert er ihn, statt ihn zu generalisieren, auf das ökonomische Subsystem (3). 3 Schließlich bleibt Marx im Europa der weißen Arbeiterklasse. Obwohl er – am Beginn des global age 4 – erkannt hat, dass wir längst im Zeitalter der Weltmärkte, Weltliteraturen und Weltrevolutionen leben, hat er doch keinen adäquaten Begriff der Weltgesellschaft und der Globalisierung (4).
Jürgen Habermas: »Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes‹«. TWI, S. 9–47; ders.: Erkenntnis und Interesse. 2 Ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. 3 Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns II. 4 Charles Bright/Michael Geyer: »Benchmarks of Globalization: the Global Condition, 1850–2010«. In: Douglas Northrop (Hrsg.): A Companion to World History. Malden (Mass.) u. a. 2012, S. 285–300. 1
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1.
Take-off der sozialen Evolution: Arbeit und Interaktion
Weil alles Evolution ist, kennen die Erfinder des Historischen Materialismus nur eine »einzige Wissenschaft«, »die Wissenschaft der Geschichte«. 5 Aber die verschiedenen Disziplinen beziehen sich auf sehr verschiedene Antriebsmechanismen und Emergenzniveaus der Evolution. Schon für Marx gilt Parson’s Diktum, in der sozialen Evolution habe die Variation symbolischer Formen die genetische Variation ersetzt und die organische Evolution in die Umwelt des Gesellschaftssystems abgedrängt. 6 Der Antriebsmechanismus der sozialen Evolution ist bei Marx das Wachstum der Produktivkräfte. Er kennt aber noch einen zweiten Antriebsmechanismus, den Klassenkampf, den er in einem so weiten Sinn versteht, dass »alle Geschichte« als »die Geschichte von Klassenkämpfen« begriffen werden kann. 7 Dieser weite Sinn von Klassenkämpfen ist auch bei Marx, das zeigen seine historischen Arbeiten, der eines interessegeleiteten Konflikts um Normen und Werte. 8 Aber Marx neigt dazu, den grundlegenden Unterschied zu verwischen und dem Klassenkampf die rein instrumentelle Rolle eines revolutionären Geburtshelfers kräftig wachsender Produktivkräfte zu reservieren. Das Wachstum der Produktivkräfte ist dann die Quelle von Variation, der Klassenkampf der Selektionsmechanismus. Deshalb erklärt Marx den take-off der sozialen Evolution durch Arbeit, also dadurch, dass instrumentelles und strategisches Handeln durch soziale Interaktion gelernt werden. Aber genau das können, wie Tomasellos Untersuchungen zeigen, auch große Affen – »(They) learn instrumental actions from others socially« 9
Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. MEW 3, S. 18. Talcott Parsons: »Evolutionary Universals in Society«. In: American Sociological Review 29 (1964), S. 339–357, hier S. 341. 7 Marx/Engels: Das Manifest der der kommunistische Partei. Stuttgart 1997, S. 19. Zur Unterscheidung zweier Antriebsmechanismen der Evolution bei Marx: Klaus Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution: Towards a Theory of Class Conflict in Modern Society«. In: Tidskrift för Rätssociologi 1 (1983), S. 23–36. 8 Zuletzt: Hauke Brunkhorst: »Kommentar« In: Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt a. M. 2007; Volkan Cidam: Geschichtserzählung im Kapital. BadenBaden 2012. 9 Vgl. Michael Tomasello: Origins of Human Communication. Cambridge 2008, S. 213, s. a. S. 181 ff. 5 6
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– ohne dass deren symbolische Kommunikation je eine soziale Evolution in Gang hätte setzen können. 10 Das liegt daran, dass die großen Affen (wie der homo oeconomicus oder der Spieler der rational-choice theories) zwar instrumentell oder strategisch kommunizieren und lernen können. Aber sie können nicht verständigungsorientiert kommunizieren und lernen. 11 Sie können deshalb den normativen Symbolgebrauch nicht verstehen, keiner Norm folgen und ihr privates Wissen auch nicht an die nächste Generation weitergeben. Der Variationspool der Evolution bleibt leer, weil weder eine Aussage noch eine Norm noch eine Evaluation je bestritten werden könnten. Erst durch die Einführung von reziprok bindenden Normen wächst das Streitpotential kommunikativ handelnder Tiere ins Unermessliche und »der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen« kann beginnen. 12 Noch die aggressivsten Affen, die Schimpansen, haben, wie Wingert feststellt, deshalb einen besseren Menschenrechtsrecord als ihre gerechtigkeitsbesessenen Verwandten. 13 Insofern hatte Nietzsche Recht, wenn er der moralischen Einstellung die Schuld am menschlichen Elend gab. Darin aber hat er zu Unrecht eine aufhebbare Degeneration der Evolution gesehen, ist der Streit um Normen doch – mit Apel – konstitutiv für die menschliche Evolution. 14 Nur weil wir nicht umhin können, uns wechselseitig an Normen zu binden, füllt sich der Variationspool der Evolution mit kommunikativen Negationsleistungen und es kommt zum take-off einer spezifisch sozialen Evolution. Variation kommt in menschlichen Gesellschaften nur durch das, was Habermas und Tugendhat nein-Stellungnahmen 10 A. a. O., S. 213; vgl. a. Tomasello: Why We Cooperate. Cambridge 2009, S. 23, 25 f., 33 f. Weitere Forschungsergebnisse: Ian C. Gilby: »Meat sharing among the Gombe chimpanzees«. In: Animal Behavior 71, (2009), S. 953–963 (http://www.duke.edu/~ ig25/gilby_2006.pdf); Gilby et al., »Ecological and social influences on the hunting behaviour of wild chimpanzees«. In: Animal Behavior 72 (2009), S. 169–180 (http://www. duke.edu/~ig25/gilby_etal_2006.pdf). 11 Zur verständigungsorientierten Kommunikation: Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns I und II. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1955, S. 24. 13 Lutz Wingert: »Die elementaren Strukturen menschlicher Sozialität«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 158–163, hier: S. 162. 14 Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral. Sämtliche Werke Bd. 8. München 1980; zur Kritik: Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988, 388–390.
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nennen, zustande. 15 Soweit befindet sich Habermas ganz in Übereinstimmung mit Luhmann, für den der take-off der sozialen Evolution sich auch nur »durch eine Kommunikationsinhalte ablehnende Kommunikation« erklären lässt: »Die Ablehnung widerspricht der Annahmeerwartung oder auch einfach einer unterstellten Kontinuität des ›so wie immer‹. Alle Variation tritt mithin als Widerspruch auf – nicht im logischen, aber im ursprünglicheren dialogischen Sinn.« 16 Wenn es aber der versprachlichte Konflikt um Normen ist, der Evolution zustande bringt, dann ist das genau das, was Marx in seinen historischen Arbeiten unter Klassenkampf versteht, steht in ihm doch »Recht wider Recht.« 17 Kurz: das Zustandekommen sozialer Evolution kann nicht durch Arbeit, auch nicht – wie bei Tomasello – durch helping intention und das kooperative Wesen des Menschen erklärt werden, sondern nur durch Streit erzeugende Interaktion. Durch kommunikative Negationen werden jedoch, und hier trennen sich Apel und Habermas von Luhmann und Marx, nicht nur Erwartungen enttäuscht, sondern immer auch Geltungsansprüche bestritten (Apels »drittes Paradigma«). 18 Das aber bedeutet, dass gerade der revolutionäre Streit, in dem Recht gegen Recht steht, nicht nur mit »Gewalt« »entschieden«, sondern immer auch diskursiv fortgesetzt werden kann und muss. 19 Würde der Streit nur durch Gewalt entschieden und der Diskurs unterdrückt, käme die Evolution mangels Negationszufuhr rasch zum Erliegen. Nicht zuletzt daran ist der bürokratische Sozialismus gescheitert. 20 Alle großen Revolutionen sind denn auch ein einziges »großes Rauschen des Diskurses« (Foucault). Das freilich hat vor der kommunikativ-linguistischen Transformation der Philosophie (Apel) und der Sozial- und Geschichtswissenschaften (Luhmann/ Habermas), die sich erst im späteren Verlauf des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat, kaum 15 Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt a. M. 1976; Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 16 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. (mit durchgehender Seitenzählung). Frankfurt a. M., S. 461. 17 Marx: Das Kapital. Bd. I. MEW 23, S. 249; eine interessante Alternative zu dieser Marx-Interpretation entwickelt die brillante Arbeit von Cidam: Geschichtserzählung im Kapital. A. a. O. (s. Anm. 8). 18 Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie. Frankfurt 2011. 19 Marx: Das Kapital. Bd. I. MEW 23. 20 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7).
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jemand systematisch in Rechnung gestellt. 21 Im großen Rauschen des revolutionären Diskurses sind Argumentation, Macht und Gewalt zwar immer ineinander verschlungen, was aber nicht heißt, dass nicht jeweils zwischen Argumenten und Gewalt unterschieden werden könnte und von den Akteuren auch tatsächlich unterschieden wird.
2.
Normative constraints: Klassenkampf und Revolution
Anders als Marx muss man den Klassenkampf mit Klaus Eder deshalb als eigenständige, vom Wachstum der Produktivkräfte unabhängige Quelle evolutionären Wandels verstehen. 22 Ein und dieselbe Evolution wird von zwei sehr verschiedenen Mechanismen evolutionären Wandels fortgetrieben. Diese Unterscheidung lässt sich an jüngere, wenn auch noch sehr umstrittene Entwicklungen des Neo- und Postdarwinismus anschließen. 23 Einmal gibt es wie in der klassischen Theorie natürlicher Selektion auch in der Gesellschaft adaptiven, inkrementelVgl. Brunkhorst: »Contemporary German Social Theory«. In: Gerard Delanty (Hg.): Handbook of Contemporary European Social Theory. London/New York, S. 51–68. 22 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7), S. 23. 23 S. nur Ernst Mayr: »Speciational Evolution or Punctuated Equilibria«. In: Albert Somit/Steven A. Peterson (Hg.): The Dynamics of Evolution. Ithaca (New York) 1982, S. 21–48 (http://www.stephenjaygould.org/library/mayr_punctuated.html); Niles Eldredge/Stephen Jay Gould: »Punctuated equilibria: an alternative to phyletic gradualism«. In: T. J. M. Schopf (Hg.), Models in Paleobiology. San Francisco 1972, S. 82–115 (http://www.blackwellpublishing.com/ridley/classictexts/eldredge.pdf); Stephen Jay Gould/Richard C. Lewontin: »The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptationist Programme«. In: Proceedings of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences, Vol. 205, No. 1161, The Evolution of Adaptation by Natural Selection. (Sep. 21, 1979), S. 581–598 (http://www.life.illinois.edu/ib/ 443/Gould%20&%20Lewontin.pdf); Gould: »Episodic change versus gradualist dogma«. In: Science and Nature 2 (1978), S. 5–12; Gould: The Structure of Evolutionary Theory. Cambridge 2002; Connie J. G. Gersick: »Revolutionary Change Theories: A Multilevel Exploration of the Punctuated Equilibrium Paradigm«. In: The Academic Management Review 16 (1991), S. 10–36; Gisela Kubon-Gilke/ Ekkart Schlicht: »Gerichtete Variationen in der biologischen und sozialen Evolution«. In: Gestalt Theory 20 (1998), S. 48–77, hier S. 68 (www.semverteilung.vwl.uni-muenchen.de); Quentin D. Atkinson/Andrew Meade/Chris Venditti/Simon J. Greenhill/Mark Pagel: »Languages evolve in punctual bursts«. In: Science 319 (2008), S. 588; Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967; Imre Lakatos: The Methodology of Scientific Research Programmes. Philosophical Papers V.I. London 1974. 21
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len oder graduellen Wandel durch soziale Selektion. Er kann durch das Wachstum der Produktivkräfte bzw. allgemeiner durch das Wachstum der Systemkomplexität erklärt werden. Aber schon für Darwin war natural selection zwar der wichtigste, aber nicht der einzige Mechanismus evolutionären Wandels. 24 Daneben gibt es auch (relativ) plötzlichen, katalytischen oder revolutionären Wandel. Revolutionärer Wandel kann nun aber nicht durch verbesserte Anpassung und natural oder social selection erklärt werden, denn für evolutionäre Anpassungsleistungen fehlt ganz einfach die Zeit. In der Biologie entspricht diese Form nicht-adaptiven Wandels den punctuated equilibria, die Gould, Lewontin und Mayr entdeckt haben und (u. a.) durch speciation, die Isolation von Teilpopulationen, erklären. In der Wissenschaftsevolution wird ähnlich zwischen normal und revolutionary science (Kuhn) unterschieden und der revolutionäre Wandel durch plötzliche Krisen degenerierender Forschungsprogramme erklärt (Lakatos). Dabei geht es, wie in den großen sozialen Revolutionen, aber nicht nur um Verdrängungswettbewerb (Kuhn), sondern immer auch um das bessere Argument (Lakatos, Apel). In der sozialen Evolution verhält es sich ähnlich. Revolutionärer Wandel wird nicht durch das Wachstum der Produktivkräfte oder der Systemkomplexität hervorgerufen, sondern durch die Eigenlogik diskursiv eingebetteter sozialer Kämpfe. Das Wachstum der Systemkomplexität verbessert, wenn es gut geht, zwar die Anpassung der sozialen Systeme an ihre Umwelt. Dadurch werden »sozial integrierte Gruppen«, wie Habermas schreibt, »systemisch stabilisiert«. 25 Die systemgesteuerte Verbesserung der Anpassungsleistung ist aber blind für die Opfer und Verlierer der Geschichte. Recht und Unrecht spielen nur eine Rolle, sofern sie der verbesserten Anpassung dienen. In Revolutionen geht es aber um etwas anderes, das Kant trotz des offensichtlichen Terrors und der normativen Unmöglichkeit, ein solches Experiment ein zweites Mal empfehlen zu können, in moralischen Enthusiasmus versetzt hat. Die Revolution hat ihn deshalb moralisch erregt, weil er in ihr ein »Geschichtszeichen« des Fortschritts zum Besseren zu erkennen glaubte. 26 Revolutionen sind nämlich Ausdruck von Klassenkämpfen, in denen sich die immer Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23). Habermas: TkH II, S. 228; vgl. Amin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 2006, S. 126 f. 26 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Werke XI, Frankfurt a. M. 1977, S. 361. 24 25
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wieder zum Schweigen gebrachten Opfer und Verlierer der Geschichte für einen historischen Augenblick zu Wort melden. In Revolutionen wird der verletzte »sense of injustice« (Barrington Moore) unterdrückter und ausgebeuteter Klassen und Gruppen der Gesellschaft zur rächenden Gewalt. Der »symbiotische Mechanismus« (Luhmann) rächender Gewalt ist die Deckungsreserve kommunikativer Vernunft. 27 Es ist fast wie bei den Propheten: Nicht die Gerechtigkeit soll sich der Anpassung, die Anpassung soll sich der Gerechtigkeit unterwerfen. »Der Mensch revoltiert nicht fürs Brot allein« schreibt der Chicagoer Revolutionshistoriker Robert I. Moore. 28 Zumindest in den großen Revolutionen geht es niemals nur um materielle Klasseninteressen, sondern immer auch um Ideen egalitärer Freiheit. Sie »stellen«, in leichter Abwandlung Max Webers, der Evolution die »Weichen«. 29 Ganz so wie der katalytisch erzeugte neue »Bauplan« (Gould) eines Organismus der sich fortsetzenden adaptiven Evolution physiologische constraints (Gould) auferlegt, 30 so setzen auch die großen und erfolgreichen Revolutionen der erblindeten Selbsterhaltung normative Schranken. In diesem Sinne sind Klassenkämpfe und Revolutionen normative, gleichermaßen individuelle wie kollektive Lernprozesse – oft genug mit tödlichem Ausgang (Kluge) 31. Die normativen Anpassungsbeschränkungen der Revolution müssen sich, um im Guten wie im Bösen wirksam zu werden, in einer neuen Verfassungsordnung und einem neuen Recht verkörpern. Alle großen Revolutionen sind deshalb, wie schon Marx wusste und wie mittlerweile eine lange Reihe historischer Studien zeigt, Rechtsrevolutionen. 32 In ihnen ergreift eine neue Idee egalitärer Freiheit die Massen 27 Barrington Moore: Injustice. The Social Bases of Obedience and Revolt. New York 1978. Zum Vorrang des Negativen im Prozess normativer Universalisierung: Jean Piaget: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt 1973, S. 311. Vgl. a.: Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes 2: Das Wollen. München 1979, S. 91 (mit Bezug auf Augustinus). Zur rächenden Gewalt: Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Gewalt«. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 6 (1983), S. 7–34; mit weiteren Differenzierungen: Brunkhorst: »The Man Who Shot Liberty Valence – Von der rächenden zur revolutionären Gewalt«. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 15 (Heft 1) (2006): Performanz des Rechts, S. 159–167. 28 Robert I. Moore: Die Erste Europäische Revolution. München 2001, S. 169. 29 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1978. 30 Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23). 31 Alexander Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt a. M. 1999. 32 S. nur Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter
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und prägt sich in einer neuen Rechtsform aus. In diesem Sinne ist das Recht der Schrittmacher der Evolution. Das heißt: das in revolutionären Legitimationskrisen geschaffene Recht gibt der nachfolgenden, graduell und inkrementalistisch fortlaufenden Evolution eine neue Richtung vor, erschließt ihr einen neuen Entwicklungspfad, auf dem der breite und unübersichtliche Strom alltäglicher Kommunikation sie dann ziel- und planlos forttreibt, und der Revolution, so Marx, in der die »Extase […] der Geist jedes Tages« ist, folgt oft genug »ein langer Katzenjammer«. 33 Die revolutionären Ideen, Verfassungs- und Rechtsprinzipien können (und werden) in der Folge verraten, verbogen, ad acta gelegt oder in ihr Gegenteil verkehrt, neuen Herrschaftsinteressen dienstbar gemacht und die verfassungsrechtlich verwirklichten Menschenrechte schließen die Schwarzen vom Menschen aus. Aber die revolutionären Ideen »vergessen sich nicht mehr« (Kant). Die Sklaven Haitis werden die ersten sein, die die Menschenrechte ernst nehmen, und, in Kenntnis der Französischen Menschenrechtserklärung und mit der Marseillaise auf den Lippen, gegen das französische Menschenrechtsregime in die Schlacht ziehen: »Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. Sie können zurückschlagen.« 34 Das ist der ganze Unterschied zwischen objektivem Geist und der Realabstraktion funktionaler Systemimperative. Das Recht ermöglicht es jedenfalls den Akteuren, selbst zwischen seiner verdinglichenden Indienstnahme für die Stabilisierung von Herrschaft und Ausbeutung und der Stabilisierung ihrer egalitären Freiheit zu unterscheiden. Die revolutionären Bauern, Bürger und Handwerker von 1525 haben sich auf den Schwaben- und Sachsenspiegel und das kanonische Recht berufen, um es gegen seine herrschaftskonforme Auslegung durch eine submissive Juristenklasse stark zu machen. der Nationen. Stuttgart 1958 (1931); Harold Berman: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition. Cambridge (Mass.) 1983; Berman: Law and Revolution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition. Cambridge (Mass.) 2006; James A. Brundage: Medieval Canon Law. London 1995; Brian Tierney: Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought 1150–1650. Cambridge 1982; John Witte: Law and Protestantism: The Legal Teachings of the Lutheran Reformation. Cambridge 2002. 33 Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. A. a. O. (s. Anm. 8), S. 13. 34 Friedrich Müller: Wer ist das Volk? Eine Grundfrage der Demokratie. Elemente einer Verfassungstheorie VI. Berlin 1997, S. 56.
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3.
Funktionale Differenzierung und Klassenkampf
Karl Marx erklärt die Verschränkung von Evolution und Revolution mit dem krisenhaften Verlauf funktionaler Differenzierung. Die funktionale Differenzierung des Wirtschaftssystems beruht auf den, aus der Philosophie des Selbstbewusstseins bekannten Paradoxien selbstreferentieller Schließung – im Kapital stehen dafür die Kreislaufformeln des »Profits um des Profits willen« (G-W-G’) und des »sich selbst heckenden Werts« (G-G’). 35 Die Paradoxien selbstreferentieller Schließung schaffen – wie jeder Computerbenutzer weiß – eine hoch riskante Lage jederzeit möglicher Systemabstürze. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers war ein solcher Systemabsturz. Das Risiko von Systemabstürzen ist unvermeidlich, lässt sich aber durch zeitliche Unterbrechung in Quellen einer nie zuvor ereichten, marktwirtschaftlichen Produktivität verwandeln und durch den richtigen Gebrauch von Macht zumindest minimieren. 36 Dengs (Maos Nachfolger) Formel war, der Sozialismus braucht die Marktwirtschaft, um die Produktivkräfte zu entfesseln. Nun wird auch China die Geister, die es rief, nicht mehr los. Denn das System des Kapitals verdankt seine ungeheure Produktivität seiner inhärent katastrophischen Tendenz. 37 Da dieses System jedoch auf die beständige Umwandlung lebendiger in tote Arbeit angewiesen ist, erzeugt die realwirtschaftliche Abhängigkeit des Kapitals vom Arbeitsmarkt zwangsläufig soziale Klassengegensätze und andere, »kapitalorientierte Konflikte«. 38 Sofern Klassengegensätze politische Unterdrückung, ökonomische Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit hervorbringen, gesellt sich zu den hohen Systemrisiken des modernen Kapitalismus ein latent mitlaufendes Legitimationsproblem. Es kann dazu führen, dass sich Wirtschaftskrisen zu Legitimationskrisen ausweiten und dann katalytische ProMarx: Theorien über den Mehrwert; Marx: Das Kapital I, Kapitel 4. Zur Logik der Paradoxie vgl. Thomas Kesselring: Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik. Frankfurt 1984. 37 Wolfang Streeck: »Sectoral Specialization: Politics and the Nation State in a Global Economy«. Vortrag auf dem 37. World Congress of the International Institute of Sociology, Stockholm 2005 (abstract unter: http://www.scasss.uu.se/IIS2005/total_webb/ tot_html/abstracts/sectoral_specialization.pdf); s. a. Streeck: »Noch so ein Sieg, und wir sind verloren. Der Nationalstaat nach der Finanzkrise«. In: Leviathan 38 (2010), S. 159–173. 38 Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. Oxford 1995. 35 36
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zesse der Devolution und Regression, aber auch der Reform und Revolution auslösen. Im Übergang von der ökonomischen zur Legitimationskrise wechselt jedoch die Systemreferenz vom ökonomischen zum politischen System, wie Marx selbst erkannt hat, insistiert er doch auf der kategorialen Unterscheidung rein ökonomischer Klassenkämpfe, in denen es um Verbesserungen in einer einzelnen Fabrik geht, von politischen Kämpfen um Parlamentsgesetze (und Marx wusste noch, was das ist, ein Parlamentsgesetz). 39 Da er jedoch im ökonomisch erzeugten Klassengegensatz von Kapital und Arbeit den evolutionären Führungsprimat gesehen hatte, hat er die gleichurprüngliche Verschiedenheit politischer und ökonomischer Konflikte nicht erkannt. Statt den exemplarisch erkannten Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und Klassenkampf, von Funktionsstörung und Legitimationskrise auf die Ökonomie zu reduzieren, hätte er ihn generalisieren müssen – aber wer konnte das im Geburtszeitalter der großen Industrie auch nur ahnen? 40 Nicht nur • die Ausdifferenzierung des ökonomischen Systems erzeugt eine strukturelle Konfliktkonstellation im Kampf ums Kapital, auch • die historisch mit dem Zeitalter der protestantischen Revolutionen ohne Willen und Bewusstsein von »Baxters Heiligen« (Weber) vollzogene Ausdifferenzierung des politischen Systems erzeugt eine andersartige Konfliktkonstellation im Kampf um den Staat. 41 Und die Konflikte zwischen dem power-bloc (Laclau) und dem von der Macht ausgeschlossenen Volk – »We are the People« skandieren die Leute von Occupy Wall Street – überlagern sich mit den Konflikten zwischen Kapital und Arbeit zu einer neuen, komplexen Konfliktkonstellation. Auch • das ausdifferenzierte Recht erzeugt eine Art Klassenkonflikt zwischen denen, die es einschließt, und denen, die es ausschließt (oder Marx: Brief an Friedrich Bolte v. 23. Nov. 1871. MEW 33, S. 332. Vgl. a. Stuart Hall: »The ›Political‹ and the ›Economic‹ in Marx’s Theory«. In: Alan Hunt (Hg.): Class and Class Structure. London 1977, S. 15–60, hier: S. 36 f. 40 Dazu ausführlich: Brunkhorst: »Return of Crisis«. In: Poul F. Kjaer/Gunther Teubner/Alberto Febbrajo (Hg.): The Financial Crisis in Constitutional Perspective. The dark Side of Functional Differentiation. Oxford 2011, S. 133–172. 41 S. a. Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. A. a. O. (s. Anm. 37). 39
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durch Einschluss ausschließt): den Häretikern, Sklavenarbeitern, Farbigen, Juden, Trotzkisten, Schurkenstaaten, unzivilisierten Völkern, »merciless Indian Savages« (Declaration of Independence), usw. Nur wo sie ein entsprechend entwickeltes System modernen Rechts schon im Rücken haben, können die vom Recht ausgeschlossenen Akteure sich überhaupt als zu Unrecht ausgeschlossene artikulieren. Die emanzipatorische Dimension des alten römischen Rechts war viel zu schwach entwickelt und das System bei weitem nicht ausdifferenziert genug, um sich im Recht gegen das Recht stellen zu können. 42 Funktional differenzierte Systeme erzeugen also in der Regel sehr verschiedene, sich nur teilweise überlappende Klassen von Gewinnern und Verlieren. Dadurch wird die Konstellation der Klassenkämpfe, die das Medium normativer Lernprozesse sind, sehr viel komplexer als bei Marx, zumal auch noch die von Marx ausgeblendeten Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Staaten, zwischen Weltregionen usw. hinzukommen. 43 Die strukturellen Konflikte der funktional differenzierten Gesellschaft sind gleichursprünglich und lassen sich nicht hierarchisieren. Mittlerweile scheint es so, und hier ließen sich viele Beobachtungen vom späten Parsons bis Bourdieu einfügen, als würde auch • das vollständig globalisierte Erziehungssystem, das mit derselben Geschwindigkeit wie der Markt Lebenschancen zwischen oben und unten zuteilt (Schelsky) – und das insofern der Kolonialisierung durch das Kapital (Bologna) auch von innen entgegenkommt (immer stehen eine Menge Leute am Ufer, die den Kolonialherren freudig begrüßen) –, ein riesiges Prekariat der 99 % erzeugen, die weltweit, von Peking bis Kairo, von Teheran bis Berlin, von Athen bis San Francisco, besser ausgebildet sind als je zuvor und sich gleichzeitig der Lebenschancen beraubt sehen, die ihnen die AkDas alte römische Recht war das »Recht der vornehmen Leute. Klassisch heißt zwar vorbildlich. Und so wird das römische Recht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts genannt. Aber klassisches Recht war auch Klassenrecht, das Recht der Besitzenden untereinander, also Zivilrecht. Mit den anderen machte man kurzen Prozess, außerhalb des Rechts.« Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. München 1997, S. 156. 43 Vgl. Tobias ten Brink: Kapitalistische Entwicklung in China. Entstehungsformen, Verlaufsformen und Paradoxien eines eigentümlichen Modernisierungsprozesses. Habilitation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt 2012. 42
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kumulation akademischer Zertifikate versprochen hat und die sie nur durch solche Zertifikate erreichen könnten. Das erzeugt eine gewaltige Motivationskrise (LS 106 ff.). Die nicht endende Kette neuer sozialer Bewegungen, die von Berkeley über Madrid und Kairo bis Occupy Wall Street reicht, sind erste Indikatoren dafür, dass eine Art Klassengegensatz zwischen dem täglich besser qualifizierten und gebildeten Prekariat und der immer winziger werdenden Schicht derer, die in den Hochsicherheitsghettos der großen Städte und ihrer Umgebung leben und kaum noch öffentliche Schulen und Verkehrswege benutzen, zu entstehen scheint. Alle diese systemisch erzeugten Konflikte sind heute globale Konflikte, die sich in einer komplexen Weltgesellschaft überlappen und überlagern, sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder aufheben.
4.
Globalisierung und Weltgesellschaft
Der klassische Marxismus war immer davon ausgegangen, dass der nationale Staat prinzipiell in der Lage sei, die kapitalistische Wirtschaft zu kontrollieren und zumindest die desaströsen Beschädigungen der sozialen und natürlichen Umwelt des Systems zu kompensieren, wenn nicht gar den Kapitalismus durch eine staatliche Planwirtschaft zu ersetzen – eine Idee der russischen Kommunisten, die diese aber nicht von Marx, sondern von den Zaren kopiert haben. 44 Nun haben die Weltrevolutionen und Weltkriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Modelle hervorgebracht, die zu einer mehr oder minder erfolgreichen, im Westen sozial- und wohlfahrtsstaatlich, im Osten sozialistisch eingebetteten Marktwirtschaft geführt haben – mal mit mehr, mal mit weniger Markt, mal produktiver, mal unproduktiver. Die Globalisierung hat Marxisten wie Keynesianer gleichermaßen unvorbereitet getroffen. Seit den späten 1970erJahren hat sich der kapitalistische Markt infolge konterrevolutionärer politischer Grundsatzentscheidungen aus seiner Einbettung in den nationalen und sozialistischen Staat befreit und eine Weltlage geschaffen, die man mit Wolfgang Streeck als great transformation der state-embedded markets des Spätkapitalismus in die market-embedded states
44
Harold Berman: Justice in the USSR. Cambridge 1963.
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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
des globalen Turbokapitalismus beschreiben muss. Eine Verkehrung der Weltproduktionsverhältnisse, die dramatischer nicht sein könnte. Die einzige Theorie der »ideologischen Antike«, wie Alexander Kluge die intellektuelle Konstellation zwischen Adam Smith, Marx und Eisenstein treffend genannt hat, die auf diese Entwicklung bestens vorbereitet war, wohl präpariert auf sie gewartet, sie aktiv unterstützt und Politiker und Parteiführer wie Reagan und Thatcher gefunden hat, um sie politisch durchzusetzen, war der Neoliberalismus. Er hat sich zu einer globalen Diskursmacht verselbständigt, die heute überall – und nicht nur in der Wirtschaft (Bologna, Exzellenzcluster usw.) – das Verhalten und den Habitus der Akteure auch dann noch formt, wenn sie das Gegenteil sagen und glauben. Dafür ist die neoliberale Austeritätspolitik des sozialdemokratisch geprägten europäischen Kontinents das beste Beispiel. Die kulturelle Hegemonie der neoliberalen Episteme hat schließlich zur Marginalisierung sozialwissenschaftlicher Ideologiekritik und zur Unterwerfung der Öffentlichkeit unter die neoliberale Diskursmacht geführt. 45 Die Waffen der Ideologiekritik wieder zu schärfen und, wie Colin Crouch es in seinem jüngsten Buch versucht hat, zu erklären, warum der Neoliberalismus die anhaltende Wirtschaftskrise von 2008 überlebt hat, obwohl er komplett widerlegt worden ist, ist heute die wichtigste Aufgabe einer Gesellschaftstheorie, die Erklärungsleistungen mit der Kritik und Selbstkritik ihres Gegenstands zu verbinden versucht. 46
Entgegnung von Jürgen Habermas Hauke Brunkhorst berichtet über seine Fortsetzung einer Theorie der sozialen Evolution, die den Klassenkampf als einen Kampf um Gerechtigkeit in seinem normativen Eigensinn ernst nimmt und die diesen von der Entwicklung der Produktivkräfte als eine eigene Quelle des
Streeck: »Sectoral Specialization«. A. a. O. (s. Anm. 36). Colin Crouch: The Strange Non-Death of Neo-Liberalism. Cambridge 2011. Inzwischen habe ich das hier vorgestellte Programm in einem Buch weiter ausgeführt: Hauke Brunkhorst: Critical Theory of Legal Revolutions. Evolutionary Perspectives. New York/London 2014.
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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
evolutionären Wandels unterscheidet. Damit berührt er den Kern des Streits um das sog. Produktionsparadigma. Bei der Differenzierung zwischen zweckrationalem und kommunikativem Handeln – »Arbeit und Interaktion« ist ja eine Kontrastformel, die sich nur aus dem Bezugstext eines meiner frühen Aufsätze, also aus Hegels Jenenser Realphilosophie, erklärt – handelt es sich vordergründig um die Klärung handlungstheoretischer Grundbegriffe. Aber die Handlungstheorie hat in der Soziologie immer die Weichen für die Theoriekonstruktion im Ganzen stellt. So auch in unserem Fall. Die Einführung eines Interaktionsbegriffs, der sich nicht auf die rationale Wahl von Strategien, letztlich auf zweckrationales Handeln zurückführen lässt, bringt nämlich die sozialkognitive Dimension der gegenseitigen Perspektivenübernahme ins Spiel. Während für die zweckrationale Mittelwahl technisch-praktisches Wissen relevant ist, ist die Übernahme der Perspektive des Anderen und die Ausbildung sowie Erweiterung einer gemeinsamen Perspektive die Grundlage für moralisch-praktisches Wissen. Für die Anlage einer Theorie der sozialen Evolution ist nun die Annahme wichtig, dass Lernprozesse in beiden Dimensionen stattfinden können. Im einen Fall fördern Fortschritte in Technik und Wissenschaft die Entfaltung der Produktivkräfte, im anderen Fall affizieren Fortschritte in der gegenseitigen moralisch-praktischen Einbeziehung von Fremden die dominanten Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft, welche sich dann sowohl in den Legitimationsstandards wie in den Rechtspraktiken niederschlagen. Die sozialkognitiven Fortschritte im moralisch-praktischen Bewusstsein bedeuten unter funktionalen Gesichtspunkten allerdings nur die Ausdehnung von Verfahren konsensueller Streitbeilegung im sozialen Raum, nicht etwa Annäherungen an Ideale des guten oder glücklichen Lebens. Die soziale Evolution kann keine Fortschritte im vollmundigen Sinne klassischer Geschichtsphilosophien versprechen. Die politischen Eliten und die Bürger der Euroländer würden keine besseren Menschen, wenn sie, wie wir einstweilen nur kontrafaktisch hoffen können, bei der Bearbeitung der gegenwärtigen Krise lernten, die nationalen Perspektiven der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu übernehmen und die anstehenden Probleme aus einer gemeinsamen Perspektive zu lösen. Für die Evolutionstheorie genügt es nicht, die Dimensionen der beiden Lernprozesse, die sich nach einer jeweils anderen Logik vollziehen, bloß zu unterscheiden. Im Hinblick auf ihr Zusammenwirken 412 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
folgt Brunkhorst einer zuerst von Klaus Eder an der Entstehung der Staatsbildung in frühen Hochkulturen belegten Hypothese, wonach die Entwicklung der Produktivkräfte insofern eine Schrittmacherfunktion erfüllt, als sie funktionale Probleme für eine bestehende Gesellschaftsorganisation erzeugt, während nur ein verändertes moralischpraktisches Bewusstsein eine Lösung dieser Probleme ermöglicht. Daher konzentriert sich Brunkhorst auf Legitimationskrisen, auf Kämpfe um die Verschiebung der Parameter der Gerechtigkeit, schließlich auf die Revolutionierung der Rechtsinstitutionen. Er stellt dann anhand eines ausgedehnten historischen Materials eine Grundannahme der Systemtheorie auf den Kopf: Nicht die Gerechtigkeitsvorstellungen folgen Imperativen der Anpassung, sondern Anpassungsprozesse sind ihrerseits den normativen Beschränkungen der Gerechtigkeitsstandards unterworfen.
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Diskussion Moderation: László Tengelyi
Smail Rapic: Wenn wir dem Neoliberalismus nicht das Feld überlassen wollen, müssen wir nach meiner Überzeugung das Thema eines »Dritten Weges« zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem Staatskapitalismus im »real existierenden Sozialismus« erneut auf die Agenda setzen. Wir können ja zu dem Schluss gelangen, dass der Dritte Weg nicht funktioniert, aber diskutieren sollten wir m. E. darüber. Colin Crouch betont in seinem Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, das Herr Brunkhorst gerade angesprochen hat, dass die reine Lehre des Neoliberalismus, Markt und Staat voneinander zu trennen, überhaupt nicht umgesetzt wurde. Stattdessen haben infolge der Privatisierungs- und Deregulierungspolitik seit Beginn der 1980erJahre Großkonzerne in einem bisher ungeahnten Ausmaß Einfluss auf den Staat gewonnen. Hiermit hat sich Habermas’ Diagnose in der Theorie des kommunikativen Handelns bewahrheitet, dass »das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes« und nicht das Volk als demokratischer Souverän die Politik bestimmt (TkH II 522). Crouch beruft sich u. a. auf den ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds, Simon Johnson, der 2009 konstatierte, die Finanzbranche kontrolliere »die US-Regierung inzwischen auf eine Weise, die man sonst nur von Entwicklungsländern kennt«. 1 Ich möchte meine Frage ein bisschen provokativ stellen: Können wir die Demokratie wirksam stärken, ohne die Idee einer Vergesellschaftung von Produktionsmitteln von Neuem ins Auge zu fassen – und zwar im Sinne von Marx’ Pariser Manuskripten, wo er hervorhebt, dass im Sozialismus der Privatkapitalismus nicht durch einen Staatskapitalismus ersetzt werden solle? Sind nicht genossenschaftliche Produktionsformen wieder aktuell? Im Grundgesetz ist auch die Möglichkeit der Enteignung vorgesehen. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 wurde die Verstaat1
Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011. S. 103.
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Die Selbstverständigung der Moderne
lichung der Schwerindustrie gefordert. Hat die Perspektive des Dritten Weges nicht doch eine Zukunft? Hauke Brunkhorst: Ich weiß es nicht. Man kann Evolutionen nicht vorhersagen. Das einzige Land, wo sich in der Tat möglicherweise Bedingungen finden, die sich sehr unterscheiden von den anderen Ländern; das einzige Land, das den Dritten Weg gewählt hat und erfolgreich war, ist China. China ist eine – bestenfalls meritokratische – Parteidiktatur. Auf der anderen Seite kombiniert es irgendeine Form von Sozialismus, der im Maoistischen China bestanden haben mag, mit der Marktwirtschaft. Das war Dengs ursprüngliche Idee und ganz orthodox marxistisch gedacht. Wir haben den Sozialismus in unsern Produktionsverhältnissen, war sein Argument, aber wir haben völlig unterentwickelte Produktivkräfte, und um die zu entfesseln, kennen Marx und Engels nur ein Mittel: die von allen systemischen Schranken des Geld-, Waren-, Güter-, Arbeitskraft- und Grundeigentums entfesselte, auf der Trennung von Betrieb und Haushalt basierte Marktwirtschaft, die es nirgends in der vormodernen Welt je gegeben hat. Deng glaubte jedoch (wie viele westliche Intellektuelle auch), eine so voraussetzungsvolle Marktwirtschaft wäre ohne Kapitalismus zu haben. Aber das war ein Irrtum, und so steht China heute vor einem ähnlichen Problem wie der Westen, der zwei sich ausschließende Prinzipien, das des Kapitalismus und das der Demokratie, unter einen Hut bringen muss, und es kann entweder der Hut der auch sozial egalitären Demokratie sein oder der Hut des Kapitalismus, der dann von der Demokratie nicht viel übrig lässt, und das ist heute die Lage im Westen. Und so scheint es auch dem (moderat) autoritären Sozialismus Chinas heute zu ergehen, zumal es in China zwar freie Krankenversorgung und viele sozialistische Errungenschaften auf dem Papier gibt, aber ihr Institutionalisierungsgrad scheint immer sehr viel schwächer gewesen zu sein als in der Sowjetunion, die ja im Unterschied zu China auch ein durchprofessionalisiertes Rechtssystem hatte. Trotzdem ist China offenbar das einzige Land, wo sich vielleicht etwas Neues, Drittes entwickeln könnte. Aber auch in demokratischen Großgesellschaften wie Indien oder Brasilien könnte das geschehen. Aber das sind so Prognosen, die man im Fernsehen, im Kommentar machen könnte, aber nicht in der Wissenschaft. In ein paar Jahren sind die vielleicht völlig überholt. Die Frage, ob sich irgendein dritter Weg entwickelt, ist eine völlig offene Frage. Dritter Weg ist eine Kategorie der Vergangenheit. Slavoj Žižek hat das, fand 415 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
ich, sehr richtig benannt, dass die Menschen im Osten eigentlich den Dritten Weg wollten, aber der Westen sie einfach überrannt hat. Im größten ex-sowjetischen Land, in Russland, hat sich ein Raubtierkapitalismus etabliert. Das unterscheidet sich ja auch nicht mehr – wenn man das Zitat des Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds nimmt – so sehr von dem, was wir im Westen heute insgesamt haben, und ist sogar noch schlimmer. Eine andere Formel für den Dritten Weg war Gerhard Schröder. Gerhard Schröders »Dritter Weg« war der zwischen Neoliberalismus und Sozialdemokratie, also mehr Neoliberalismus. Das ist leider immer noch die Gegenwart und wird durch eine selbstmörderische Austeritätspolitik in Europa noch verstärkt. Heute haben wir eine Situation, in der wir in der Tat – China eingerechnet – nur noch eine Welt des kapitalistischen Systems haben. Das, was Colin Crouch sagt, habe ich ja genau beschrieben mit der Formel von Streeck: Vorher hatten die Staaten halbwegs das (immer noch nationale) Kapital unter Kontrolle, jetzt hat das (erstmals wirklich internationale) Kapital die Staaten unter Kontrolle. In dieser Situation werden die Karten neu gemischt, da wird die Praxis entscheiden, was daraus wird, alles kann daraus werden. Sozialismus ist im Moment nicht aktuell, aber Formen radikaler Demokratie sind in jeder Form denkbar. Sie haben das Grundgesetz erwähnt. Das Grundgesetz enthält technisch alle Möglichkeiten, ob das dann viel bringt, ist eine andere Frage, aber der Artikel 20 (2) Grundgesetz schreibt z. B. zwingend vor, dass das Volk durch Wahlen und Abstimmungen seine Macht ausüben soll. Das heißt, Abstimmungen, nämlich Volksabstimmungen, sind gleichursprünglich zu Parlamentswahlen vorgeschrieben. Dreier hat diesen Gedanken gerade ausbuchstabiert. 2 Ob das dann viel bringt, ist eine zweite Frage. Die Verstaatlichung der Schwerindustrie – da kommt auch nicht mehr heraus als Spätkapitalismus, aber der war immerhin in ein sozialdemokratisches, egalitäres Wohlfahrtssystem eingebettet, eben demokratischer Kapitalismus und nicht, was wir jetzt haben, kapitalistische Demokratie – ein ganz anderes System, bei dem sich in der Tat die längst vergessen geglaubte »Systemfrage« wieder stellt.
Horst Dreier: »Das Volk als Gesetzgeber.« In: Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 2012, S. 16. Online abrufbar unter: http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160100/ Elektronische_Texte/Volk_als_Gesetzgeber_SZ.pdf (zuletzt abgerufen am 30. Juli 2014).
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Die Selbstverständigung der Moderne
Georg Lohmann: Zum Dritten Weg: Ich glaube, normativ gesehen gibt es keinen dritten Weg. Die Rede vom »Dritten Weg« scheint mir historisch geworden zu sein und bezog sich auf eine Möglichkeit, die weitgehend gescheitert ist. Geblieben sind freilich die Fragen nach den möglichen Organisationsformen, in denen das Verhältnis zwischen demokratischen Strukturen und kapitalistischer Markwirtschaft gefasst werden kann, also die Fragen nach dem Vorrang demokratischer Verfassungen gegenüber nationalen und globalen Marktwirtschaften. Normativ scheint mir das entschieden, aber offen ist, wie man es durchsetzen und organisieren kann. Man kann natürlich fragen, ob es in organisatorischer Hinsicht einen dritten Weg gibt, z. B. ob die Entwicklung in China so etwas darstellt. Man muss die Chinesen auf der einen Seite sehr loben, sie haben die Menschenrechte seit 2004 in der Verfassung, aber sie haben natürlich – was die normative Ebene angeht – in der sozialen und politischen Wirklichkeit sehr viel nachzuholen. Und deshalb ist es eher die Frage, ob wir uns einen autoritären Kapitalismus denken können, in dem ein großer Bereich von Freiheitsrechten systematisch eingeschränkt wird, und das kompensiert wird durch Entwicklungen im ökonomischen Bereich; also gewissermaßen eine marktwirtschaftliche Entwicklungsdiktatur. Ich vermute nur, dass – wenn sie Krisen haben – sich dann im Sinne von Klassenkämpfen entscheiden wird, wie die Gewichtung zu legen ist, und die politischen Grenzen einer Marktwirtschaft neu ausgehandelt werden. Organisatorisch ist das offen, aber normativ, wie es ein sollte, scheint es mir klar. Peter Trawny (Universität Wuppertal): Eine Frage an Herrn Brunkhorst und sein Verständnis der Revolution oder des Revolutionsbegriffs: Sie haben gesagt, es habe immer eine Koppelung der Gewalt mit dem großen Rauschen des Diskurses gegeben. In Bezug auf die Amerikanische Revolution – und die Französische ohnehin und vielleicht sogar noch auf die Russische – scheint das sehr plausibel zu sein, weil, wenn man die Äußerungen der Founding Fathers liest, dann ist es ja in der Tat ein großes Rauschen eines Diskurses. Sie haben dann den Bogen geschlagen zu unserer heutigen Zeit und der Occupy-Bewegung, dem großen Prekariat, das sich da formiert. Wenn wir jetzt diese Doppelung von Gewalt und dem großen Rauschen des Diskurses auf heute übertragen würden, sehen Sie da nicht eine Krise des Diskurses, wodurch sich dann auch die Frage nach der Gewalt verändern könnte? Denn so viel Neues wie die Founding Fathers haben sich wahrschein417 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
lich heutzutage die Leute, politisch und philosophisch betrachtet, nicht zu sagen. Stefan Müller-Doohm: Meine Frage richtet sich ebenfalls an Hauke Brunkhorst. Ich würde gerne diese These noch einmal aufnehmen, dass das Recht ein Janusgesicht hat. Ich frage mich: ist diese Janusgesichtigkeit des Rechts historisch bedingt? Oder ist diese Janusgesichtigkeit ein systematischer Sachverhalt? Ist sie überwindbar oder müssen wir mit dieser Janusgesichtigkeit des Rechts leben wie mit einem Kapitalismus – Du hast das ausgeführt –, der inhärent katastrophisch ist, aber zugleich produktiv? Ich erweitere meine Frage: Gibt es da nicht doch noch – ich meine keinen »Dritten Weg« im überlieferten Wortsinne – aber eine ganz andere Lösung für die Zähmung des Kapitalismus? Und welche Rolle könnte dabei das Recht spielen? Hauke Brunkhorst: Heute haben wir ja keine revolutionäre Situation – in keiner Weise. Wir hatten sie im Westen seit ewigen Zeiten nicht mehr. Andererseits ist es natürlich klar: Revolutionen kommen meistens plötzlich – und keiner hat mit ihnen gerechnet. Darüber kann man wenig sagen. Aber in Bezug auf eine Krise des Diskurses habe ich keine Bedenken, denn auf die Krise des Diskurses antwortet der Diskurs immer nur mit noch mehr Rauschen. Die Diskursenergien sind völlig unerschöpflich. Genauso wie Sinn, das ist das Unzerstörbarste im Menschenleben überhaupt, hätte ich fast gesagt. Natürlich ihre Institutionalisierung – das ist das Riesenproblem. Aber das Gequassel geht immer weiter. Zum Dritten Weg: Es gibt ja keine Frage des Dritten Weges mehr. Wir haben eine Weltgesellschaft, inklusive China, eine kapitalistische Weltgesellschaft. Eine einzige. Überall gleichermaßen modern, das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Dass sie überall gleichermaßen dieselbe moderne Gesellschaft ist; da ergeben sich möglicherweise viele Wege, viele Alternativen, und jetzt haben wir vielleicht so ein Zeitfenster, wo sich Alternativen ergeben, und da kann man vielleicht vom Neoliberalismus, wenn nicht gleich triumphalistisch siegen lernen, aber man kann vielleicht vom Neoliberalismus lernen. Zeitfenster kann man nutzen oder verpassen, und das Zeitfenster kommt mit der Krise. Auch der Neoliberalismus kam mit einer viel kleineren Krise des damaligen Spätkapitalismus. Zum Janusgesicht des Rechts: das ist doch schon der größte Fortschritt, den wir haben.
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Die Selbstverständigung der Moderne
Ulrich Richter (Münster): Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Mir scheint, der Begriff der »Moderne« bleibt etwas im Unklaren. Was heißt eigentlich Moderne oder was soll Moderne hier in diesem Kontext heißen? Wenn man vom Terminus »Moderne« ausgeht, dann heißt das »modernus – neu«, und wenn man das auf die Zeit bezieht, dann gibt es immer ein Moment in der Gegenwart, der als »neu« erfahren wird, und immer Momente, die als vergangen, als »alt« erlebt werden. Ich meine, man sollte eine strikte Unterscheidung treffen zwischen Geschichte, Geschichtsphilosophie und Historia. Ich verwende den Ausdruck »Historia« für das, was die Historiker machen, wenn sie ihre Dokumente sichten, wenn sie versuchen, festzustellen, was überhaupt Tatsache ist, und dann an die Dokumente herangehen und den Sinn dieser Dokumente interpretieren. Worauf bezieht sich jetzt die Diskussion: auf die Geschichte, das heißt auf die Interpretation, oder auf die Dokumente der Historia, nämlich das, worüber diskutiert wird? Und hier fallen ja ständig zwei Namen – heute jedenfalls – Hegel und Habermas. Das sind im Grunde genommen Dokumente der Historia, über die wir hier diskutieren und versuchen, einen Sinn zu entwickeln, und dieser Sinn ist eigentlich das, was in der Geschichtsphilosophie betrachtet wird. Und jetzt die Frage: Können wir in dieser Form über die Dokumente der Historia diskutieren – Hegel, Habermas usw. – oder unsere Realität hier zum Gegenstand machen? Klaus E. Kaehler: Zur Frage von Herrn Richter nach dem Begriff der Moderne und der Geschichte: Das ist natürlich ein großes Thema, für alle Philosophie wesentlich. »Unsere« Moderne, die sich in den philosophischen Positionen des nachmetaphysischen Denkens artikuliert, versteht sich nicht nur als »neu«, sondern auch inhaltlich als Moderne in epochaler und singulärer Bedeutung. Diese aber ist zu rechtfertigen auf selber philosophische Weise nur, indem sie sich von Grund auf ins Verhältnis setzt zu dem, was schon getan ist – nicht durch Zurechtbiegen des Älteren für angeblich zeitgemäße Bedürfnisse. Vielmehr kommt es darauf an, nach einer philosophischen Entwicklung zu suchen, aus deren Resultat sich inhaltlich argumentierend einsehen lässt, was »an der Zeit« ist. So findet das Geschehen der »Geschichte« der Philosophie im Medium der Dokumente selber statt; es ist nichts anderes als die möglichst kohärente Rezeption, Kritik und Transformation der philosophischen Probleme und Inhalte 419 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Diskussion
– im permanent selbstreflexiv zu haltenden Bewusstsein der prinzipiellen Differenzen.
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Jürgen Habermas
Schlusswort
Mein Dank gilt natürlich in erster Linie Herrn Rapic, aber auch den Veranstaltern insgesamt, den Damen und Herren, die das Gelingen dieser Konferenz erst möglich gemacht haben. Die Stadt WuppertalElberfeld, aus der Friedrich Engels stammt, stiftet für eine Diskussion über den Historischen Materialismus einen beziehungsreichen Kontext. Für mich verbindet sich die Hauptstadt des bergischen Landes außerdem mit Jugenderinnerungen, aber auch mit der Person von Johannes Rau, der mich als den Landsmann aus Gummersbach zu begrüßen pflegte. Andererseits will ich nicht die Skepsis verhehlen, mit der ich zunächst der Einladung zum Thema Historischer Materialismus begegnet bin. Trotz des Bezuges zur gegenwärtigen Krise schien mir dieser Titel nicht den einleuchtendsten Zugang zu meinen Arbeiten zu signalisieren. Aber die gemischten Gefühle haben sich schnell gelegt. Ich schulde im Gegenteil meinen Kollegen aufrichtigen Dank für ihre hervorragenden Beiträge. Ich bin der eigentliche Nutznießer ihrer keineswegs selbstverständlichen Bereitschaft, sich auf eine produktive, einfallsreiche, luzide und scharfsinnig an die Wurzeln gehende Auseinandersetzung mit meinen Dingen und den Themen, die uns gemeinsam interessieren, einzulassen. Die letzte Diskussion, die durch Herrn Rapics Frage nach der möglichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel ausgelöst worden ist, hat noch einmal den Geist, der über den Wassern dieser Konferenz schwebte, zum Ausdruck gebracht. Die wenigsten von uns werden je ihre Hoffnungen direkt auf das gescheiterte Experiment des Sowjetmarxismus gesetzt haben. Aber auch die vagen Hoffnungen auf einen »dritten Weg« waren insofern indirekt mit diesem verbunden: Nur unter dem Druck dieser existierenden Alternative mussten der kapitalistischen Dynamik immerhin sozialstaatliche Zügel angelegt werden. Aber kann die krisenhafte Zuspitzung der nach dem Untergang der Sowjetunion entfesselten Dynamik eine Wiedererweckung der unbe421 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Jürgen Habermas
stimmten Vision eines »dritten« Weges rechtfertigen? Etwas anderes ist es, aus der Idee der Vergesellschaftung der »Produktionsmittel«, die heute nicht mehr nur in der Realwirtschaft konzentriert sind, im Hinblick auf das Finanzsystem etwas zu lernen. Ich glaube nicht, dass heute Vorstellungen, die sich einmal mit der »Aufhebung des Kapitalismus« verbunden haben, weiterführen. Aber nicht erledigt hat sich die Frage, ob sich der Kapitalismus ohne Rücksicht auf seine empörenden »externen Kosten« zu einem versiegelten Universum abschließt, oder ob er noch mit Mitteln des demokratisch gesetzten Rechts in zivilisierte Bahnen gelenkt werden kann. Gute normative Gründe sprechen für eine Fortsetzung des in diesem Sinne verstandenen sozialistischen Projekts. Nicht einmal die Idee einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist obsolet, wenn man sie sinngemäß auf den außer Kontrolle geratenen Finanzsektor anwendet. Die »systemrelevanten« Banken, deren Bilanzsummen die Wirtschaftsleistung ihrer Staaten zum Teil weit überschreiten, treiben die europäischen Regierungen nun schon im fünften Krisenjahr vor sich her und pressen ihnen das Geld ihrer Steuerzahler ab. Wann endlich wehren sich die europäischen Bürger gegen die Politik ihrer markthörigen Regierungen? Wann überwinden sie ihre nationale Engstirnigkeit und bündeln die Kräfte ihrer Regierungen, um die wildgewordenen Finanzmärkte zu regulieren?
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Kurzbiographien
Karl-Otto Apel ist Professor emeritus der Universität Frankfurt am Main. Seit 1970 zahlreiche Gastprofessuren u. a. in Belgien, Korea, Italien, Spanien und Brasilien. Er trägt den Ehrendoktortitel der Universität Jaume I, Castellón, Spanien, der Universitäten Santiago del Estero, Buenos Aires und Rosario, Argentinien, der Freien Universität Berlin, sowie den Professor Principal h. c. der Universidad Nacional de San Agustin, Arequipa, Peru. Seine Arbeitsgebiete liegen in der Ethik, Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Transformation der Philosophie (2 Bd.). Frankfurt a. M. 1973; Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988; Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998; Paradigmen der Ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte. Berlin 2011. Manfred Baum ist Professor emeritus für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal, Mitherausgeber der Kant-Studien und 2. Vorsitzender der Kant-Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Erkenntnistheorie, Metaphysik und der praktischen Philosophie. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986; »Freiheit bei Marx«. In: Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung 14 (2003), S. 67–79. Hauke Brunkhorst ist Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Flensburg und Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Management der Universität Flensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie, Gesellschafts- und Evolutionstheorie, Politische Soziologie sowie Recht und Demokratie in der Weltgesellschaft. Einschlägige Veröffentlichungen 423 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Kurzbiographien
u. a.: »Jürgen Habermas. Die rächende Gewalt der kommunikativen Vernunft«. In: Jochem Henningfeld, Heinz Jansohn (Hrsg.): Philosophen der Gegenwart. Darmstadt 2005, S. 198–215; Habermas. Stuttgart 2006; Karl Marx. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst. Frankfurt a. M. 2007; mit Regina Kreide und Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009; Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives. New York/London 2014. Ingo Elbe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Philosophie an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und Vorstandsmitglied des Instituts für Sozialtheorie e. V. Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie und Kritische Theorie. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. 2., korr. Aufl., Berlin 2010; »Staat der Kapitalisten oder Staat des Kapitals? Rezeptionslinien von Engels’ Staatsbegriff im 20. Jahrhundert«. In: S. Salzborn (Hrsg.): ›… ins Museum der Altertümer‹. Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels. Baden-Baden 2012; »Entfremdete und abstrakte Arbeit. Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte im Vergleich zu seiner späteren Kritik der politischen Ökonomie«. In: Oldenburger Jahrbuch für Philosophie 2012. Oldenburg 2014; »Neue Marxlektüre«. In: Michael Quante/David Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch. Stuttgart (erscheint 2015). Jürgen Habermas ist Professor emeritus für Philosophie und Soziologie der Universität Frankfurt am Main. Er trägt den Ehrendoktortitel u. a. der New School for Social Research, New York und der Universitäten von Jerusalem, Buenos Aires, Utrecht, Athen und Tel Aviv. Zahlreiche Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in den USA und Europa. Für die Tagung relevant waren v. a. die folgenden Texte: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968; Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a. M. 1968; Theorie und Praxis: sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. 1971 (erw. u. neu eingeleitete Aufl.); Kultur und Kritik. Frankfurt a. M. 1973; Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973; Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976; Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bd.). Frankfurt a. M. 1981; Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokrati424 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Kurzbiographien
schen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992; Die Postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt a. M. 1998; Zur Verfassung Europas. Berlin 2011. Nachmetaphysisches Denken II., Berlin 2012. Ágnes Heller ist Professorin emerita der New School for Social Research in New York. Sie trägt den Ehrendoktortitel der Universität La Trobe, Melbourne, und der Universität Buenos Aires. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ethik, politische Philosophie, Hegel, Marx, Lukács und der Existentialismus. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Alltag und Geschichte: Zur sozialistischen Gesellschaftslehre. Neuwied 1970; Theorie der Bedürfnisse bei Marx. Berlin 1976; Das Alltagsleben: Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Frankfurt a. M. 1978; Philosophie des linken Radikalismus: ein Bekenntnis zur Philosophie. Hamburg 1978; Ist die Moderne lebensfähig? Frankfurt a. M. 1995. Klaus Erich Kaehler ist Professor emeritus für Philosophie an der Albertus-Magnus-Universität Köln, Direktor des Husserl-Archivs und Mitglied im Vorstand der Leibniz-Gesellschaft und des Conseil scientifique der Phaenomenologica. Seine Forschungsschwerpunkte sind Metaphysik und Erkenntnistheorie der Neuzeit, Subjekt-Theorie, Phänomenologie und Ästhetik. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: »Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezentrierte Subjekt der Moderne«. In: D. Westerkamp/A. von der Lühe (Hrsg.): Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart. Festschrift für Claus-Artur Scheier. Würzburg 2007, S. 177– 193; Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2009. Regina Kreide ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Arbeitsgebiete sind Internationale Politische Theorie, Ideengeschichte, Soziologische Theorie und Rechtstheorie, Theorie und Politik der Menschenrechte, Gerechtigkeitstheorie – globale Gerechtigkeit, Governance- und Demokratietheorie, Legitimität transnationalen Regierens, Feministische Theorie und Policy-Forschung. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: mit Hauke Brunkhorst und Cristina Lafont (Hrsg): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009; mit Andreas Niederberger (Hrsg.): Staatliche Souveränität und trans425 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Kurzbiographien
nationales Recht. München 2010; mit Claudia Landwehr und Katrin Toens (Hrsg.): Gerechtigkeit und Demokratie in Verteilungskonflikten. Baden-Baden 2011. Georg Lohmann ist Professor emeritus für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und leitet mit Prof. Dr. K. Peter Fritzsche die Arbeitsstelle Menschenrechte. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab. Überlegungen zu Marx«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Frankfurt a. M. 1980, S. 234–299; mit Emil Angehrn (Hrsg.): Ethik und Marx: Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie. Königstein/Ts. 1986; »Zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit in Marx’ Kapitalismuskritik«. In: Ethik und Marx. Hrsg. v. Emil Angehrn, Georg Lohmann. Königstein/Ts. 1986, S. 174–194; Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx. Frankfurt a. M. 1991; »Marxens Kapitalismuskritik als Kritik an menschenunwürdigen Verhältnissen«. In: Rahel Jaeggi/ Daniel Loick (Hrsg.): Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik. Berlin 2013, S. 67–77. Stefan Müller-Doohm ist Professor emeritus des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg, Leiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie und Gründer der Adorno-Forschungsstelle. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Soziologische Theorien/Gesellschaftstheorie, Kommunikationsforschung/Medientheorie/Kultursoziologie und Intellektuellensoziologie. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: mit Wolfgang Schopf, Franziska Thiele (Hrsg.) »… die Lava des Gedankens im Fluss.« Jürgen Habermas. Eine Werkschau. Oldenburg 2009; »Parteilichkeit für Vernunft. Jürgen Habermas als Philosoph und öffentlicher Intellektueller«. In: Forschung Frankfurt 2/2009; »Nationalstaat, Kapitalismus, Demokratie. Philosophisch-politische Motive im Denken von Jürgen Habermas«. In: Leviathan 37 (2010), S. 501–517; »Wie kritisieren? Gemeinsame und getrennte Wege in der Frankfurter Tradition der Gesellschaftskritik«. In: Felicitas Herrschaft/Klaus Lichtblau (Hrsg.): Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz. Wiesbaden 2010, S. 141–161. »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« In: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hrsg.): Soziologische Kontroversen. Frank-
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Kurzbiographien
furt a. M. 2010; Jürgen Habermas. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 2014. William Outhwaite ist Professor für Soziologie an der Universität Newcastle und Mitglied der British Sociological Association, der European Sociological Association und der International Sociological Association. Seine Forschungsschwerpunkte sind Social theory (esp. critical theory); philosophy of social science; history of social thought and contemporary Europe. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: als Hrsg.: The Habermas Reader. Cambridge 1996; mit Larry Ray: Social Theory and Post-Communism. Oxford 2005; Habermas. A Critical Introduction. Cambridge 2009; »How Much Capitalism can Democracy Stand (and Vice Versa)?« In: Radical Politics Today 2009. Michael Quante ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, sowie Leiter des Projekts Konstellationen der Religions- und Staatskritik im Linkshegelianismus im Exzellenzcluster »Religion und Politik« an der Universität Münster. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: »Zeit für Marx? Neuere Literatur zur Philosophie von Karl Marx«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), S. 449–467; »Die fragile Einheit des Marxschen Denkens. Neuere Literatur zur Philosophie von Karl Marx«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006), S. 590–608; »Reflexionen der ›entgleisenden Modernisierung‹ : Jürgen Habermas über Naturalismus und Religion«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007); Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Studienausgabe mit Kommentar. Frankfurt a. M. 2009; Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Studienausgabe mit Einleitung und Kommentar. Hamburg (erscheint 2015). Smail Rapic ist Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Aufklärung, klassische deutsche Philosophie und die nachhegelsche Philosophie des 19. Jahrhunderts, Phänomenologie und kritische Gesellschaftstheorie. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse. Freiburg/München 2008.
427 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Kurzbiographien
Hans-Christoph Schmidt am Busch ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschung liegt auf den Gebieten der Politischen Philosophie, der Sozialphilosophie, der Rechtsphilosophie und der Geschichte der Philosophie. Darüber hinaus arbeitet er über die Geschichte und die Grundlagen der Ökonomik. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Hegels Begriff der Arbeit. Berlin 2002; »Personal Respect, Private Property, and Market Economy: What Critical Theory Can Learn From Hegel.« In: Ethical Theory and Moral Practice 11 (2008), S. 573–586; mit C. F. Zurn (Hrsg.): Anerkennung. Berlin 2009; »Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerkennungstheoretisch erreichen?« In: H.-C. Schmidt am Busch, C. F. Zurn (Hrsg.): Anerkennung. Berlin 2009, S. 243–268; »Anerkennung« als Prinzip der Kritischen Theorie, Berlin/New York 2011; Hegel et le saint-simonisme. Étude de philosophie sociale. Toulouse 2012; sowie als Hrsg.: Charles Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie. Berlin 2012; »›The Egg of Columbus‹? How Fourier’s Social Theory Exerted a Significant (and Problematic) Influence on the Formation of Marx’s Anthropology and Social Critique«. In: British Journal for the History of Philosophy 21, 6 (2013), S. 1154–1174. Ernest Wolf-Gazo ist Professor für Philosophie an der Amerikanischen Universität in Kairo. Er war Gastprofessor u. a. an den Universitäten: Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Seoul, Istanbul, Ankara, Afyon Kocatepe, Kuala Lumpur. Einschlägige Veröffentlichung u. a.: »Theodor W. Adorno: From Exile to Reconciliation«. In: Kutadgu Bilig (Istanbul University Philosophy Journal), Vol. 4 (2003). S. 21–68.
428 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Personenregister
Abendroth, Wolfgang 364 Achterhuis, Hans 248 Adorno, Theodor W. 13, 15, 22, 37– 39, 44, 58–59, 71, 76, 129, 156, 158, 167–172, 204, 217, 220, 222, 226, 239, 262, 332, 361, 369, 372, 392 Albert, Hans 98 Albert, Mathias 257–258 Althusser, Louis 47, 69 Améry, Jean 225 Anderson, Perry 44 Angehrn, Emil 327–329 Apel, Karl-Otto 14, 19–20, 78, 81, 87, 90, 94, 97–99, 105, 107–114, 116– 117, 349, 358–359, 365, 368–369, 399, 401–402, 404 Arendt, Hannah 43, 235, 254–255, 260, 405 Aristoteles 77, 81, 87, 99, 333, 353– 354, 360 Atkinson, Quentin D. 403 Auerbach, Erich 370 Austin, John L. 95, 369 Baader, Franz-Xaver 356, 372 Backhaus, Hans-Georg 158, 183, 189, 207 Bakunin, Michail A. 16, 179, 355, 366 Baum, Manfred 14–15, 17, 50, 65, 69–70, 107, 221, 225 Becker, Oskar 347, 350, 356, 359–360 Beckert, Jens 213 Bell, Daniel 199 Benjamin, Walter 334, 342, 356–357 Berman, Harold 406, 410
Binswanger, Hans Christoph 163 Blanqui, Auguste 231 Bloch, Ernst 27, 44, 118, 356–357, 372 Bohman, James 258 Böhme, Jakob 27, 335, 345, 356–357, 362–364, 366, 369, 372 Bottomore, Tom 70 Bourdieu, Pierre 409 Brudney, Daniel 277 Brumlik, Micha 107, 109, 236 Brunkhorst, Hauke 15, 23, 28–29, 65, 217, 222, 228–229, 239–240, 244, 250, 254, 257–258, 262, 268, 277, 332, 346, 399–400, 403, 405, 408, 411, 413–415, 417–418 Caney, Simon 231 Carnap, Rudolf 91 Celikates, Robin 240, 242 Cerroni, Umberto 131 Cerutti, Furio 206 Chitty, Andrew 277 Cidam, Volkan 400, 402 Cieszkowski, August von 89 Comte, Auguste 72, 328 Cordero Vega, Rodrigo 43 Creydt, Meinhard 130, 137 Crouch, Colin 12, 161–163, 214, 229, 411, 414, 416 Dahrendorf, Ralf 37, 372 Darwin, Charles 404 Delanty, Gerard 43 Deranty, Jean-Philippe 277
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Personenregister Derrida, Jaques 215, 354 Descartes, René 19, 28, 78, 89, 95–96, 99, 109, 373, 375 Dewey, John 91–93, 257, 370 Dobb, Maurice 142 Doyé, Sabine 219, 223–224, 228 Dreier, Horst 416 Durkheim, Émile 72, 241, 287 Eder, Klaus 49, 400, 402–403, 413 Einstein, Albert 91–92 Eisenstein, Sergej 411 Elbe, Ingo 15, 20–21, 123, 147, 151– 152, 158, 219–221, 223, 226 Ellmers, Sven 146 Engels, Friedrich 12, 14–16, 19, 22, 31, 47, 49, 70, 89, 116, 130, 143, 152, 154, 158, 164–166, 175–181, 189– 190, 199–200, 280, 296, 348, 351, 355, 366, 400, 415, 421 Erikson, Erik H. 369 Eucken, Rudolf 47 Fetscher, Iring 48, 75, 84 Feuerbach, Ludwig 16, 38, 70, 124, 179, 299, 313, 354, 364, 366–367, 371, 383, 385, 390, 396 Fichte, Johann G. 329 Forst, Rainer 256, 309–311, 318, 320, 323 Foucault, Michel 43, 46, 78, 111–112, 252, 354, 402 Frank, Manfred 335, 356, 367 Fraser, Nancy 271, 275 Freud, Sigmund 112, 171, 331, 337, 346, 359, 361–363, 372 Freyer, Hans 42, 370 Friedman, Milton 201 Fromm, Erich 361–362, 369 Fuge, Herbert 261 Fuhrmans, Horst 356, 358 Gadamer, Hans-Georg 135, 203, 350, 364, 368, 370, 372 Ganßmann, Heiner 137–140 Gehlen, Arnold 42, 359, 364, 369
Geuss, Raymond 232 Giddens, Anthony 45, 134 Gilby, Ian C. 401 Goldmann, Lucien 85, 118 Gouges, Olympe de 231 Gould, Stephen J. 403–405 Greven, Michael Th. 207 Hagen, William H. 348–349 Hamann, Johann G. 396, 398 Hartmann, Klaus 351 Hartmann, Martin 16, 39, 44–45, 246 Hayek, Friedrich A. von 201 Hegel, Georg W. F. 28, 38–39, 44, 52, 60, 62, 65–66, 70–72, 76, 78, 83, 88– 90, 94–95, 98, 102–103, 107–108, 116, 142, 151, 157, 159, 168, 183, 188–190, 204, 219, 222, 225, 238, 266, 276, 299, 313, 322–323, 328– 330, 332–333, 335, 345–347, 350, 352–354, 356–357, 359–360, 363, 365–367, 369, 373–381, 383–385, 387, 390, 392, 395–399, 401, 407, 412, 419 Heidegger, Martin 77, 85, 106, 110– 112, 114–115, 117, 350, 358–360, 362–363, 366, 368–369 Heinrich, Michael 22, 124, 127, 132, 138, 144, 147, 158, 182–183, 191– 194, 196 Heinrichs, Michael 191 Heller, Ágnes 14, 18, 75, 84–85, 104– 108, 110–112, 114, 117–118 Henrich, Dieter 380, 394 Herder, Johann G. 47, 116, 396, 398 Hindrichs, Gunnar 254 Hobbes, Thomas 52, 134 Hobsbawm, Eric 22, 66, 199, 354 Höffe, Otfried 231 Honneth, Axel 38, 42, 46, 217, 246, 275 Horkheimer, Max 13, 15, 17, 22, 44, 50–51, 58–59, 69, 71, 156, 158, 167– 172, 174, 204, 217, 220, 226, 238, 275, 342, 361–362, 369
430 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Personenregister Humboldt, Wilhelm von 396, 398 Husserl, Edmund 99, 108, 156, 389, 393 Iser, Mattias 238, 242 Jacobi, Friedrich H. 88 James, William 91–92, 396 Joas, Hans 38, 131, 139, 241 Johnson, Simon 414 Kaehler, Klaus E. 15, 28, 373, 395– 396, 398, 419 Kant, Immanuel 19, 27–28, 39, 44, 47–48, 70, 76, 79–83, 85, 88–89, 91– 94, 98, 100–102, 115, 119, 165, 239, 255, 257–258, 263, 299, 321, 323, 329, 332, 334–340, 342–344, 346, 349, 357, 360, 363, 369, 374, 392, 397–398, 404, 406 Karnein, Anja 315 Kautsky, Karl 44, 48, 283 Kettner, Matthias 265, 267–268 Kierkegaard, Søren 38, 70, 89, 355, 364, 366, 386, 396 Kluge, Alexander 405, 411 Kohlberg, Lawrence 56, 117, 369 Korsch, Karl 44, 48 Krause, Ulrich 150 Kreide, Regina 13, 23–24, 105, 229, 231, 247, 259, 261, 263, 265–266, 268–271 Kuhlmann, Wolfgang 98 Kuhn, Thomas S. 70, 87, 403–404 Laclau, Ernesto 235, 408 Lafont, Cristina 20, 258 Lakatos, Imre 403–404 Landshut, Siegfried 347, 351–352, 362, 366, 390 Landwehr, Claudia 246 Lessenich, Stephan 251 Lewontin, Richard C. 403–404 Locke, John 186–188, 257 Lohmann, Georg 15, 26–27, 112, 115,
117, 144, 158, 187–191, 193–194, 198–199, 221, 223, 225, 262, 267, 321–322, 327, 332, 339–341, 344, 346, 417 Löwith, Karl 204, 329, 350, 356, 360, 367, 395 Luhmann, Niklas 13, 17, 49, 52, 65, 78, 84, 137, 154, 165, 171–172, 174, 176, 218, 221, 328, 330–331, 393, 402, 405 Lukács, Georg 17, 44, 48, 51, 58–59, 71, 75–76, 85, 222, 269, 350, 356 Lukes, Steven 44 Luria, Isaak 335, 345, 356–357 Lyotard, Jean-François 235 Machiavelli, Niccolò 100 Marcuse, Herbert 27, 38, 40–44, 72, 81, 117, 152, 356, 359, 361–363, 366, 369, 372 Márkus, György 18, 84, 123, 131, 134 Marx, Karl 12–17, 19–23, 25–29, 31, 37–39, 44, 47–48, 50–52, 58–64, 66, 69–72, 76, 89, 104–105, 112–113, 116–118, 123–134, 136–137, 140– 152, 154, 157–159, 164–168, 175– 199, 203–207, 219, 221–226, 238, 244, 271, 277–284, 295–300, 307, 313, 317, 328–329, 332, 335, 340– 341, 345, 347–357, 360–367, 369, 372–373, 386, 389–391, 393, 396, 399–400, 402–403, 405–411, 414– 415 Maus, Ingeborg 250, 257 Mayntz, Renate 232 Mayr, Ernst 403–404 McCarthy, Thomas 241, 285 Mead, George Herbert 72, 92, 95, 394–396 Merleau-Ponty, Maurice 44, 332 Meyer, Lars 131, 139 Moellendorf, Darrell 231 Moore Jr., Barrington 239, 405 Moore, Robert I. 405 Morris, Charles W. 90–91 Mouffe, Chantal 235
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Personenregister Müller, Horst 117 Müller, Wolfgang 143 Müller-Doohm, Stefan 13, 22–23, 69, 203, 205, 216, 224, 226, 418 Nagel, Thomas 254, 257 Nancy, Jean-Luc 235 Neckel, Sighard 246, 285 Negt, Oskar 277 Neuendorff, Hartmut 133 Nietzsche, Friedrich 39, 79, 112, 329, 351, 367, 401 Nozick, Robert 276 Offe, Claus 22–23, 39, 42, 67, 145– 147, 199, 217 Ottomeyer, Klaus 132, 134 Ouchi, William G. 233 Outhwaite, William 14, 16–17, 37, 46–48, 69, 107 Parreñas, Rhacel Salazar 245 Parsons, Talcott 13, 17, 49, 52, 59–60, 71, 137, 165, 168, 171, 174–175, 241, 369, 400, 409 Paschukanis, Eugen 225 Patberg, Markus 235 Peirce, Charles S. 19–20, 90–94, 96, 102, 362, 369, 396 Perpeet, Wilhelm 350–351, 365, 370 Petrović, Gajo 117 Piaget, Jean 56, 331, 337, 346, 405 Platon 70–71, 77, 87, 102, 105, 254, 359, 362 Plechanow, Georgi W. 47 Plessner, Helmuth 359, 364 Polanyi, Karl P. 72 Pollmann, Arnd 240, 242 Pollock, Friedrich 217, 359 Popitz, Heinrich 372 Popper, Karl R. 76, 93, 142 Postone, Moishe 22, 140, 143–144, 148, 158, 182, 188, 191, 194–198 Powell, Walter W. 233 Proudhon, Pierre-Joseph 187
Quante, Michael 15, 25–26, 267, 277, 280, 294, 296–297, 299, 304, 308, 313, 315, 317, 320, 322, 324 Rapic, Smail 13, 15, 21–22, 29–30, 104, 108–109, 111, 115, 117, 154, 199–200, 203, 219–220, 227, 229, 294, 414, 421 Rawls, John 27, 232, 343–344 Regenbogen, Arnim 105, 320, 323 Reichelt, Helmut 207 Renault, Emmanuel 277 Ricardo, David 142, 149 Richter, Ulrich 419 Ritter, Joachim 368, 370 Robinson, Joan 142 Rockmore, Tom 16, 38–39, 191, 296 Röpke, Wilhelm 47 Rorty, Richard 20, 88, 91, 102, 109, 112–113, 119 Rothacker, Erich 48, 347, 350–352, 356, 359, 364–365, 367–370, 372 Royce, Josiah 92, 396 Rubin, Isaak I. 225 Ruge, Arnold 16, 167, 179 Runciman, Garry 45 Saint-Simon, Henri de 72 Scharpf, Fritz W. 234 Scheler, Max 350, 364–365, 369 Schelling, Friedrich W. J. 15, 27, 330, 335–336, 342, 345, 347, 349, 351, 355–364, 366–369, 372 Schelsky, Helmut 42, 359, 409 Scheuerman, William E. 41, 249, 257 Schleiermacher, Friedrich D. E. 398 Schmalz-Bruns, Rainer 240, 256–258 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 15, 25, 275, 294–295 Schmidt, Alfred 127, 130 Schmitt, Carl 235, 356 Schmitter, Philippe 232–233 Scholem, Gershom 345, 356, 369 Schröder, Gerhard 416 Schumpeter, Joseph A. 37
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Personenregister Schwarzschild, Leopold 38 Searle, John R. 95, 369 Seidl, Thomas 143 Shils, Edward 171, 174–175 Siegmann, Georg 70, 110 Simmel, Georg 354 Slaughter, Ann-Marie 235 Smith, Adam 134, 151, 159, 182–183, 186, 411 Specter, Matthew 38, 40–42 Stalin, Josef W. 47–48, 225 Stirner, Max 70, 354, 364 Strecker, David 240, 242 Streeck, Wolfgang 23, 72, 165, 199, 212, 217–218, 223, 232–233, 407, 410–411, 416 Sweezy, Paul M. 142 Theunissen, Michael 333, 344 Thies, Christian 264 Tietgens, Hans 348 Tilly, Charles 407–408 Tomasello, Michael 397, 400–402 Trawny, Peter 417 Tugendhat, Ernst 114, 340, 401–402
Vogel, Berthold
251
Weber, Max 16–17, 40–41, 43, 52– 54, 57–59, 62, 70–72, 119, 144, 157, 179, 240–241, 260, 269, 354, 367, 369, 375, 405, 408 Wellmer, Albrecht 20, 75, 94, 102, 336–337, 339, 346 Westphal, Manon 315 Williamson, Olivier 233 Winch, Peter 135 Wingert, Lutz 239, 401 Wittgenstein, Ludwig 45, 78, 91, 96, 112 Wolf, Dieter 27, 124, 133, 141, 145, 147–149, 330 Wolf-Gazo, Ernest 15, 27–28, 347, 370–372 Xiaoping, Deng
407, 415
Young, Brigitte 244 Young, Iris Marion 244, 259 Žižek, Slavoj 415
433 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Sachregister
Akkumulation (Reichtums- / Kapital-) 60, 64, 129, 159, 184, 188, 409 f. Alltagssprache 106 Anerkennung 21, 46, 81, 128, 132, 134, 149, 188, 254, 275–277, 310, 317 f., 322, 340, 383 f. Anthropologie, anthropologisch 15, 21, 26, 38, 72, 95, 117, 126 f., 135, 152, 297–299, 305 f., 308, 310–312, 315, 317, 342, 352, 357 f., 363–367, 369, 372, 383, 385, 405 Arbeit 21, 39, 41, 43, 59, 104, 123– 126, 152, 295, 341, 352 f., 365 f., 399, 402, 407 f., 412 Arbeiter, Arbeiterklasse 112, 140 f., 143, 179 f., 183, 186, 194 f., 244, 399 Arbeitsteilung 141, 146, 176 f., 180, 187 Arbeitswerttheorie 59, 104, 143, 206, 295 Aufklärung, (un)aufgeklärt 48, 51, 80, 166, 172 f., 178, 199, 201 f., 243, 298, 305, 307, 314, 319, 323 f., 328 f., 331, 334 Ausbeutung 61, 84, 133, 135 f., 142, 178, 185, 187, 193, 238 f., 244 f., 252, 264, 267 f., 405–407 Austeritätspolitik 411, 416 Autonomie, autonom 44, 166, 211, 242, 249, 252, 291, 316 Basis / Überbau 13 f., 39, 44, 130, 166 f., 176 f., 179, 181, 186, 192, 220, 278–283, 388
Beobachter(perspektive) 13, 15, 17, 22, 155–158, 165, 167 f., 171 f., 174, 178, 180 f., 189–191, 193 f., 200–202, 228 Bewusstsein 104, 217, 220, 279 f., 291., 313, 327 f., 377, 380, 386, 397 –, falsches 170–172, 174, 220, 222, 238, 243 –, fragmentiertes 156, 201, 220, 243 –, moralisch-praktisches / normatives 15, 17, 45, 49, 166, 173, 177, 286 f., 289–291, 412 f. Bioethik / biomedizinische Ethik 297 f., 301, 304 f., 307, 311, 315 Bürokratie, bürokratisch 43, 58, 64, 130 f., 161, 242 f., 250–253, 265, 269, 285, 393, 402 Demokratie, demokratisch 12, 14, 63 f., 66 f., 79 f., 83 f., 118, 216–218, 223, 226–229, 258–261, 263 f., 269 f., 295, 302, 308, 318, 396, 406, 411, 414–417, 422 Deontologie, deontologisch 26, 100 f., 116, 299 f., 308–310, 312, 315 f., 318 f., 323 f. Deregulierung / Deregulierungspolitik 162, 181, 209, 214, 414 Determinismus, deterministisch 164, 168, 181, 196 Detranszendentalisierung 94 Dialektik, dialektisch 38, 48, 89, 103, 107, 126, 128, 131, 134, 139, 142, 147, 156, 158, 167 f., 170, 172, 174, 188, 200, 203, 207, 225, 232, 262,
434 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Sachregister 268, 283 f., 314, 329, 335, 346–348, 353, 357, 360, 363–366, 391, 395, 407 Dialektischer Materialismus 107, 301 Differenzierung 60–62, 97, 123, 313, 318, 375, 384 –, funktionale 233, 248, 250, 399, 407–409 –, System- 44 f., 58, 61, 408 f. Diskursapriori 97 Diskursethik 76, 78, 84 f., 97, 99–101, 219, 221, 323, 337, 340, 394 Diskursverweigerung 99 Dogma, dogmatisch 16, 90, 98, 102, 198, 226, 282, 285, 301, 306, 312, 360, 403 Dritter Weg 21, 182, 414–418, 421 f. Eigentum / Eigentumsverhältnisse 54, 60–62, 132 f., 135, 138, 142, 225, 275, 279 f., 288, 291, 415 Emanzipation 27, 29, 51, 89, 129 f., 138, 147, 176 f., 203, 236, 239, 245, 262, 266 f., 334, 336–338, 372, 378, 389, 409 Empirie / Empirismus, empirisch 18, 24, 43, 63, 70, 72, 76, 79–83, 86 f., 89, 91, 93–95, 102–104, 111 f., 127, 129, 131, 142, 145 f., 154, 170, 195, 199 f., 202, 217, 220, 226, 228, 230 f., 234 f., 237–239, 252, 258, 282 f., 287, 305, 330, 332, 339, 342, 345, 354, 359, 382, 390, 397 Enhancement 306, 314, 317 Entfremdung, entfremdet 62, 66, 125, 130, 238, 242, 267, 335, 378, 391 Entwicklungsdynamik 52, 287, 331 Entwicklungslogik 15, 17, 23, 52, 54, 56 f., 116 f., 127 f., 166, 173, 177 f., 205, 286 f., 290, 331, 346, 399 Entwicklungsniveau / -stufen 44, 283, 288 f., 337 Erste Philosophie 19, 87 f., 94, 97–99, 101, 103, 373, 384, 392 Ethik, ethisch 85, 113–115, 117, 119,
125, 236, 305, 307–310, 312 f., 321 f., 332, 335, 337, 346, 386 Eugenik, eugenisch 297, 306 f., 315, 317–319 Evolution, evolutionär 13, 15, 29, 44, 45, 49–52, 56, 61, 156, 164, 166 f., 177, 190, 231, 268, 276 f., 281, 283 f., 287 f., 290 f., 294 f., 319, 330 f., 337 f., 346, 385, 397, 399–402, 404, 406– 408, 411 f., 415 Existenz, existenziell 41 f., 106, 117 f., 126, 159, 172, 184, 279 f. , 296, 365, 382, 384–386, 388 f., 391, 394 Feudalismus, feudalistisch 61, 178, 190, 285 Finanzkrise s. Weltfinanzkrise Fortschritt 15, 29, 38, 55, 62, 87, 94, 101, 104, 195–197, 290, 308, 315, 327 f., 338 f., 341 f., 345, 378, 404 –, gesellschaftlich-moralischer 49, 62, 329, 338, 412 –, ökonomischer 243 –, wissenschaftlich-technischer 49, 300, 329, 412 Frankfurter Schule 13 f., 16, 42, 118, 217, 275 f., 345 Freiheit 67, 80–83, 106, 188, 198, 240, 245 f., 254, 257, 260, 262 f., 267– 270, 276, 291, 296, 309, 313, 316, 321, 327, 336, 339, 392, 405 f., 417 Funktionalismus, funktionalistisch 46, 49, 52, 54, 105, 139, 241, 292, 294 f., 330 Gattungsethik 26, 298–301, 303, 304, 307, 309–311, 318 f., 321 f. Gattungsgeschichte 15, 50 f., 65, 173, 282, 286, 330, 390 Gattungswesen 26, 296–299, 306 f., 313 Gebrauchswert 60, 124, 126, 129, 138, 143–145, 149, 225, 295 Geist 178 f., 381 f., 387 –, objektiver 377, 382, 397, 406 –, subjektiver 397
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Sachregister Geld (als Steuerungsmedium) 14, 58, 136–140, 142, 144, 150, 182 f., 241– 243, 250 f., 262 f. Geldsystem 188, 198 Geltungsanspruch / Geltungsansprüche 18, 54, 80, 86, 89, 106, 109– 111, 262, 267, 292 f., 393 f., 397, 402 Genese / Geltung 307, 373–375, 384, 395 Geschichtsphilosophie 26 f., 37, 47, 89, 108, 127, 164, 181, 200, 204 f., 280, 282, 327–346, 362, 364, 412, 419 Gesellschaftsformation 150, 156, 164, 177 f., 183 f., 218 Gleichheit 67, 147, 188, 197 f., 208, 257, 260, 271, 294 f., Globalisierung 104, 229, 231, 233, 237, 243 f., 248, 252, 264 f., 270, 285, 399, 410 f., 416–418 Handeln –, kommunikatives 45, 53, 78, 86, 286, 388, 391, 401, 412 –, strategisches 45, 52–53, 286, 292, 388 f., 400 –, zweckrationales / instrumentelles 43, 53, 55 f., 124, 135, 252, 286, 318, 388 f., 400 f., 412 Handlungstheorie 52, 66, 71, 144, 150, 152, 206, 240 f., 343, 412 Herrschaftsfreiheit, herrschaftsfrei 32, 78–80, 82 f., 128, 208, 261, 336 Herrschaftsverhältnisse / Herrschaftsstrukturen 13, 71, 133, 178, 180, 269 Historischer Materialismus 12–19, 25 f., 30 f., 37–50, 52, 69 f., 89, 95, 104, 112, 115 f., 152, 156–158, 164 f., 168, 175, 181 f., 185, 188, 191, 198, 200, 228, 275–279, 282–294, 296– 299, 301, 307, 313, 315, 330 f., 353, 359, 366, 397, 399 f., 421 Humangenetik 15, 26, 299 f., 303, 307–310, 315, 317
Humanismus (Post-, Trans-) 300 f., 306, 314, 318 f.
38, 296,
Idealismus, idealistisch 15, 38, 65, 71, 230–232, 236, 238, 338, 347, 367– 369, 392 Ideologie, ideologisch 42, 48, 59, 116, 129, 152, 156, 167, 170–174, 181, 186, 227, 244, 307, 313, 400, 411 Ideologiekritik 15, 22, 38, 170, 172– 174, 180, 185, 200 f., 220, 222 f., 227 f., 292, 331, 411 Imperativ, kategorischer 100, 115 f., 119, 178 f. In-der-Welt-Sein 78, 80, 106, 109 f., 117 f., 299, 305 Institutionalisierung, institutionalisiert 38, 52, 61, 84, 133, 206, 211, 260, 270, 275, 286, 289, 388, 415, 418 Instrumentalisierung 242, 250, 298, 300, 308 Interaktion 21, 39, 45, 123–125, 132– 134, 136, 139, 141, 144, 148, 180, 244, 332, 399 f., 412 Interesse(n) 151 f., 247, 292, 295, 298, 303, 405 f. Junghegelianer, junghegelianisch 47, 347–349, 354, 359 f., 362–367, 369, 395 f., 398 Kabbala, kabbalistisch 335, 356 f., 366, 369 Kapital(verhältnis) 12–15, 22 f., 61, 66, 104, 118, 125, 128, 130, 132 f., 136 f., 140–147, 150, 152, 157–159, 168, 179, 182, 185, 187–191, 193, 195 f., 198, 204, 206 f., 224, 276, 289, 354, 399 f., 402, 407–409, 416 Kapitalakkumulation s. Akkumulation Kapitalismus 11–13, 15, 21–23, 25, 29, 31 f., 39, 41, 50–52, 55, 59 f., 61– 64, 66 f., 104, 130 f., 134, 136 f., 140 f., 143, 145–152, 154 f., 160–163,
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Sachregister 182, 185 f., 188–192, 194, 196 f., 199, 216–218, 224–228, 230, 237, 244, 246, 249, 264 f., 269–271, 276–278, 283, 285, 288, 294, 354, 399, 407– 411, 414–418, 421 f. Keynesianismus, keynesianisch 138, 243 f., 269, 410 Klassenbewusstsein 51, 65 Klassenkampf / Klassengegensatz 29, 64, 66, 132, 399 f., 402–405, 407– 411, 417 Klassenverhältnisse 21, 23, 58, 60– 62, 66, 125, 136 f., 179, 200, 224, 268, 295 Kolonialisierung der Lebenswelt 24, 58, 131, 139, 230, 240–253, 260, 262–270, 409 Kommunikationstheorie, kommunikationstheoretisch 14, 16–18, 51, 59, 63, 129, 225, 346, 396 Kommunismus, kommunistisch 39, 47 f., 62, 75, 78 f., 130, 160, 169, 179– 181, 225, 296 f., 410 Konsens, konsensuell 20, 80–83, 93 f., 102, 105, 118, 230, 412 Krise 11–13, 15, 22, 29, 43, 49, 67 f., 106, 138, 150–152, 154 f., 160, 164, 173, 180, 199 f., 217, 224, 228 f., 236 f., 243, 251, 256, 271, 296, 310, 375 f., 390, 404, 407 f., 410–413, 417, 421 f. Kritische Theorie 13, 16, 22, 38, 42, 46, 50 f., 69, 123, 130, 156, 171–173, 181, 217, 219–221, 226, 228, 237, 240, 261, 270, 327–331, 333 f., 336, 338 f., 341, 343 Lebensform 18, 43, 82, 85, 128, 302, 318 f., 321 f., 324, 332, 337 f., 340 Lebenswelt, lebensweltlich 17, 43, 57, 59 f., 62, 64 f., 137, 139, 145, 152, 172, 194, 240–243, 260, 263, 266, 270 f., 277, 287, 304, 312, 319 f., 337 f., 340 f., 391, 397 Legitimationskrise/-probleme 29, 153, 218, 406–408
Lernprozesse 44, 49, 65, 202, 205, 266, 287 f., 337, 397, 405, 409, 412 Letztbegründung 88, 97 f., 100, 324 Linguistische Wende 65, 78 Lohnarbeit / Lohnabhängige 136, 159 Macht 17, 58, 136, 178–180, 262, 384, 403, 407 –, administrative 241 f., 257, 267 –, kommunikative 230, 253–262, 266 f. Marktwirtschaft, marktwirtschaftlich 11, 31, 139, 213 f., 276, 289, 407, 410, 415, 417 Marxismus, marxistisch 12–14, 21, 37–49, 58, 63, 76, 84, 104, 117 f., 123, 152, 157, 164, 219 f., 222, 277, 399, 410 Mehrwert 133, 185 f., 192, 194, 196 f., 245, 295 Menschenrechte 178 f., 186, 190, 192, 197, 230, 264, 318, 323, 338 f., 401, 406, 417 Metaphysik, metaphysisch 70, 78, 87, 90, 93, 95, 97, 166, 313, 318, 345, 373 f., 376, 383 f., 390 f., 395 Möglichkeit (objektive) 22, 50, 80, 114, 164 f., 168–170, 172 f., 181, 200, 224 Monetarisierung 24, 59, 63, 145, 207, 242, 244, 270 Moral / Moralität, moralisch 26, 52, 57, 97, 100, 119, 231 f., 248, 263, 288, 299–301, 303–314, 316, 318 f., 322, 332 f., 337 f., 340, 342, 394, 401, 404 f. Mystik, mystisch 27, 307 f., 356 f. nachkapitalistisch s. postkapitalistisch nachmetaphysisch 27 f., 77 f., 87 f., 217, 299, 313, 334, 344, 373, 375, 378, 386, 393, 396, 398 Natur 26, 104, 123–127, 129, 296– 301, 303–308, 310–313, 315, 317–
437 https://doi.org/10.5771/9783495861127 .
Sachregister 319, 322, 324, 336, 340, 342, 345, 380–382, 387, 392 f., 396, 410 Naturalismus, naturalistisch 71, 142, 144, 149, 165, 296, 301, 310, 313, 385, 393, 397 Naturrecht, naturrechtlich 52, 185– 187, 300 f., 303, 305, 308, 311 f., 314, 317, 322 Neoliberalismus, neoliberal 11 f., 23–25, 66, 155, 162, 181, 201, 222, 244, 247, 252, 260, 269, 314, 411, 416 Normativität, normativ 82, 87, 105, 115 f., 217, 220, 226, 230, 236–240, 242, 248 f., 253, 258, 261, 267, 270, 275–278, 286–295, 299 f., 304, 306 f., 310, 312 f., 317, 322–324, 330, 332– 334, 337, 339, 345, 375, 377, 387, 395, 397, 399–405, 411, 413, 417 Objektivismus, objektivistisch 27, 65, 139, 164 f., 189 f., 198, 228, 282, 323, 332, 334, 336, 340 Öffentlichkeit, öffentlich 11 f., 24, 30, 38, 57, 62, 67, 75, 79, 83, 102, 119, 156, 161, 201, 204, 209–212, 215, 219, 221, 223, 228, 232, 234– 236, 242, 244, 246–248, 252–255, 257, 259–264, 267, 269–271, 296, 317 f., 336, 338, 343, 348, 364, 410 f. Ökonomie, ökonomisch 14, 18, 29, 57 f., 63, 66, 71 f., 119, 124–127, 130, 132–136, 138, 142, 146, 150, 157 f., 160, 162 f., 166 f., 175, 180, 182–184, 186 f., 189–191, 193, 195 f., 198 f., 202, 208, 211, 213 f., 217, 219, 222 f., 225, 231, 235, 243 f., 246, 248, 252, 262, 264 f., 267 f., 278–280, 282 f., 285, 297, 307, 313 f., 384, 393, 399, 408 Ontologie 87–89, 93, 97, 99, 112, 117, 194, 198, 220, 283, 304, 306, 308, 312 f., 317, 382, 398 Organisationsprinzip 12, 21, 155, 285–289, 292 f., 417
Politische Ökonomie 17 f., 29, 58, 60, 63, 71 f., 125, 151, 158, 187–191, 193, 195 f., 198 f., 224, 278, 280, 341 Positivismus / Positivismusstreit 75, 152, 220, 332 postkapitalistisch 218, 337 postkonventionell 212, 288–291, 295 postmetaphysisch s. nachmetaphysisch Pragmatismus 14, 47, 90 f., 93, 102, 338, 344, 369, 396 Praxis 19, 50, 71, 90, 117 f., 124, 128 f., 140, 145 f., 152, 201, 217, 226, 238, 257, 262, 266 f., 297, 338, 347– 349, 355, 386, 389, 391–394 Privateigentum s. Eigentum Privatrecht s. Recht Produktionsmittel 60–62, 66, 131, 244 Produktionsparadigma 18, 104, 123 f., 145, 150, 152, 412 Produktionsverhältnisse 21, 60, 104, 125 f., 128 f., 148, 150, 278–281, 283 f., 366, 388, 411, 415 Produktivkräfte 40, 42, 45, 49, 66, 104, 124, 126, 128, 135, 144, 202 f., 220, 255, 278–281, 283 f., 365, 388, 400, 403 f., 407, 411–413 Proletariat, proletarisch 104, 113, 165, 189, 192–195, 197 f., 226 Psychoanalyse 38, 129, 346, 361 f. Rationalität(en) 81, 220, 266 f. –, Handlungs- 53 –, instrumentelle / Zweck- 43, 53, 55, 124, 139, 142, 241, 262, 243 –, kommunikative 220, 332, 339 –, Norm- 53, 56, 290 –, strategische 43, 55 f., 100, 146 –, System- 53, 56 Rationalisierung 16, 43, 52, 58, 156, 268 f., 337 f., 341 Recht 15, 24, 43, 49, 133 f., 188, 190, 216 f., 262–264, 268, 270, 301, 332 f., 343 f., 399, 404–406, 408 f., 417 –, modernes 52–57, 291, 295, 409 –, bürgerliches 52, 54, 270
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Sachregister –, öffentliches 56, 270 –, Privat- 25, 55 f., 131, 136, 243, 249, 275–278, 288–293, 295 Reduktionismus, reduktionistisch 39, 166 f., 177, 179, 188, 190, 193, 301, 313, 382 Religion, religiös 22, 71, 92, 100, 166, 173, 176–178, 201, 215 f., 220, 227, 229, 288, 297, 305, 307, 311, 336, 345, 355, 367, 377 f., 380, 405–409 Revolution 49, 66, 104, 107 f., 218, 333, 397, 399 f., 402–408, 410, 417, 418 –, gesellschaftliche 29, 62, 71 f., 104, 107, 234, 256, 279, 281, 413 –, wissenschaftliche 70, 87, 404 Schuldenkrise s. Weltwirtschaftskrise Selbstbeschreibung 173, 176–178, 180 f., 185, 190, 313, 328 Selbstbestimmung 127, 211, 215, 237, 302 f., 306 f., 309, 311, 316, 321, 339, 378, 387, 391 Selbstreflexion, selbstreflexiv 13, 15, 19, 22, 28, 50 f., 65, 90, 158, 164, 168, 181, 198, 220, 238, 305, 313, 331, 336, 392, 420 Selbstverständigung 16, 26, 72, 217, 302, 304, 306, 313, 334, 336 f., 341, 344, 386, 395, 398 Semantik, semantisch 91, 271 Sittlichkeit, sittlich 55, 57, 60, 62, 128, 131, 219, 225, 288, 291 f., 299, 304, 322 f., 333, 338 f., 346, 378, 390 f. Situation (Handlungs- / historische) 38, 66, 79, 115, 172, 181, 238, 243, 269, 281, 284, 286 f., 299, 318, 334, 339, 346 Sklave, Sklaverei 183, 192, 239, 406, 409 Solipsismus, solipsistisch 99, 101, 108 f. Sozialethik –, bürgerliche 177, 190, 192 –, religiöse 178
Sozialintegration / Systemintegration 45, 59, 220, 241, 287, 386, 393, 404 Sozialismus, sozialistisch 277, 285, 288 f., 294, 407, 410, 414–416 Sozialität 28, 384–386, 389, 391, 410 Spätkapitalismus 58, 63–65, 123, 159, 218, 228, 240, 410 f., 416, 418 Staat, staatlich 52, 57, 61, 66, 160, 176 f., 181, 185, 199, 217, 234, 243, 251 f., 258 f., 263, 266, 270, 280, 390, 408, 410, 413 f., 416 Subjekt / Subjektivität 78, 95 f., 110, 112, 125 f., 220, 229, 282, 291, 309, 319, 327, 330 –, dezentriertes 28, 375, 385, 387, 389, 391 f., 393 f., 396 –, endliches 374, 377, 379, 384 –, transzendentales 80, 392 Subjektphilosophie 28, 95, 108, 220, 373–396, 398 Subsystem(e) 57 f., 61, 124, 136 f., 241, 341, 399 System, systemisch 17, 57, 59 f., 62, 65, 111, 194, 198, 218–220, 222, 225, 233, 241 f., 263, 270, 276 f., 282, 341, 399, 404, 406–410 Systemintegration s. Sozialintegration Systemkrise s. Krise Systemprobleme 15, 45, 54, 167, 283 f., 287, 289 Systemtheorie, systemtheoretisch 13, 21, 65, 125, 134–136, 149 f., 165, 168, 171–174, 206, 233, 240 f., 287, 330, 393, 413 Tabu / Tabuisierung 173, 261, 306– 308, 314 Tauschwert 143, 145, 182–186, 195– 198, 225, 295 Tauschwirtschaft 176 f., 180, 195 Technokratie, technokratisch 38, 40, 67, 218, 236, 263 Technologie, technologisch 38, 40– 43, 143, 195, 286, 300 f., 314 f., 318 f. Teilnehmer(perspektive) 13, 15, 17,
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Sachregister 22, 155–158, 165, 167 f., 171 f., 174, 178, 180, 182, 185, 190 f., 193–195, 200–202, 228, 388 Teleologie, teleologisch 17, 49, 92, 100 f., 115, 117, 329 f. Tiefenpsychologie s. Psychoanalyse Transzendentalphilosophie 89 f., 94 f., 305, 333, 340 Transzendentalpragmatik, transzendentalpragmatisch 19, 87 f., 90, 94 f., 101, 103, 110, 116 Überbau s. Basis Universalismus, universalistisch 56, 85, 112–117, 288, 290, 292 f., 299, 303, 305, 311 f., 321 f., 339 f., 405 Universalpragmatik 43, 94 f., 97 Verdinglichung / Vergegenständlichung 58 f., 62, 65, 79, 243 Vergesellschaftung von Produktionsmitteln 414, 421 f.
Vernunft 89, 108, 110 f., 116, 139, 220, 223, 305, 339, 342 f., 374, 377, 379, 391 –, kommunikative 332 f., 337, 339, 363, 391–393, 395, 405 –, praktische 237, 299, 306, 310, 338 Vorurteil s. Ideologie Warenform / Wertform 13 f., 22, 52, 59, 129, 142, 153, 157, 161, 168, 182, 184–186, 190–195, 198, 200, 221 Weltfinanzkrise 11, 67, 222, 229, 271, 421 f. Weltgeschichte 104, 164, 166, 178, 279, 376 Wirtschaft 52, 54–57, 59, 61 f., 64, 66 f., 129, 136 f., 139, 150, 160, 162, 165, 168, 206–208, 212–215, 217, 226, 228, 229, 233, 241, 247 f., 269, 271, 277, 285, 295, 407–411, 415– 417, 422
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