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German Pages [587] Year 2018
Tim Zumhof
DIE ER ZIEHUNG UND BILDUNG DER SCHAUSPIELER Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Hogarth, William (1738): Strolling Actresses Dressing in a Barn. © Heritage-Images/London Metropolitan Archives/akg-images. Korrektorat : Sara Zarzutzki, Düsseldorf Einbandgestaltung : Guido Klütsch, Köln Satz : Michael Rauscher, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50007-8
Inhalt Danksagung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung – Die Schaubühne als pädagogische Anstalt betrachtet . . . . . . . .
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Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung in Deutschland (1693–1824) – ein Problemaufriss. . . . . . . 11 Methodologische Überlegungen : Eine Vermittlung von historisch-systematischen und historisch-kritischen Forschungsansätzen der pädagogischen Ideen- und Theoriegeschichte im Anschluss an den New Historicism . . . . 21 Zum Stand der Forschung : Über Nicht-Beziehungen und Desiderate . . . 33
Teil I Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters
1 Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik . . . . 1.1 Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit« des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 »Der kluge Weltmann« und ›Der geschickte Comoediant‹ – Christian Weise und die komödiantische Erziehung kluger Weltmänner . . . . . . . 1.3 Die Verschulung der Schaubühne und die Entschulung der Schulbühne bei Gottsched und Basedow.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
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Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst und die Geburt des Bildungstheaters im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2.1 Das Theater-Dispositiv – Institutionalisierungsprozesse des Theaterwesens im 18. Jahrhundert in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 130 2.2 Temperamente und Temperaturen – Paradoxien der natürlichen Schauspielkunst bei Diderot und Rousseau. . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.3 »Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Ekhof ) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören ?« – Die Transformation der Rhetorik und Moralistik zu einer natürlichen Schauspielkunst bei Lessing und Engel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3
Die Anstalt der »höhern Sinnlichkeit« – Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung . . . . . . . . . . . . . . 235
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Inhalt
Teil II Theaterschulen und Ausbildungskonzepte der Schauspieler im 18. und frühen 19. Jahrhundert 1
»Kulissen- und Landstraßenerziehung« – Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland . . . . . . 267
1.1 Er »schilderte mir die Reisen, die ich ohne Kosten machen könnte, die Gelegenheiten, […] Welt- und Menschenkenntniß zu sammeln so reizend, daß ich mich endlich erklärte, ihm zu folgen.« – Über Wege zur Bühne und das Reisen der Wanderbühnen im 18. Jahrhundert in Deutschland.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1.2 »Ich bin bei dem Theater geboren, erzogen worden.« – Über die nichtinstitutionalisierte Ausbildung von Schauspielern . . . . . . . . . . . . . 283 2
»Auch die Schauspielkunst setzt […] eine Pflanzschule voraus« – Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . 298
2.1 »Vorschlag zu einer Theaterschule« – Die Debatte um die Einrichtung von Theaterschulen in Theaterperiodika, theaterhistoriographischen Darstellungen und rhetorischen Lehrbüchern (1775–1818) . . . . . . . 2.2 »›Studieren !‹ Das war ja Eckhofs Wort und hatte mir die Sache, die ich so lieb hatte, noch mehr veredelt !« – Konrad Ekhof und die Akademie der Schönemann’schen Gesellschaft in Schwerin (1753–1754) . . . . . . 2.3 Die Aus- und Fortbildung von Schauspielern in Stuttgart und Mannheim im späten 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »Wie will er erziehen, ohne selbst Erziehung zu haben ?« – Johann Heinrich Friedrich Müllers »Peppiniere« am Kärtnertortheater in Wien (1779–1782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 »Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben« – Goethes Theaterschule am Weimarer Hoftheater (1791) . . . . . . . . . 2.6 Theaterschulen in Regensburg, Karlsruhe, Stuttgart und Braunschweig im frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 310 . 336 . 355 . 402 . 422 . 450
Schluss Bildungstheater und Theaterbildung 1
Und »wir Künstler kleideten uns in einem Kuhstall um« – Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
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Inhalt
1.1 »Gibt es eine künstliche Empfindsamkeit ?« – Paradoxien der natürlichen Schauspielkunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 1.2 Eine »sonderbare Anstalt« – Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 2
»Sagt man nicht bisweilen auch in der Gesellschaft, ein Mensch sei ein großer Schauspieler ?« – Das »self-fashioning« der »Bürger-Schauspieler« . 507
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»Erziehungskunst, in diesem Fach ?« – Pläne und Gründungen von Theaterschulen im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland . . . . . 511
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Ein Resümee : Erziehung– Theater – Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . 523
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gedruckte Primärtexte und Quellensammlungen. 2 Archivalien und Handschriften. . . . . . . . . . 3 Gesamtausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Forschungs- und Sekundärliteratur. . . . . . . .
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Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
Danksagung
Prof. Dr. Ursula Reitemeyer und Prof. Dr. Jürgen Overhoff danke ich für ihre geduldige Betreuung, Begleitung und Begutachtung meiner Dissertation. Frau Reitemeyer möchte ich ganz besonders und herzlich dafür danken, dass sie mich über so viele Jahre hinweg nach bestem Willen gefördert und mir stets Anerkennung und Vertrauen geschenkt hat. Ebenso herzlich bedanke ich mich bei Herrn Overhoff für das blinde Vertrauen, das er mir und meinem Dissertationsvorhaben von Anfang an geschenkt hat. Seiner engagierten Betreuung, den vielen Ratschlägen und der großzügigen Unterstützung ist es zu verdanken, dass ich meine Arbeit fertigstellen konnte. Dem Kuratorium der Dr.-Günther-Findel-Stiftung gilt ebenfalls mein Dank. Durch ihr großzügiges Stipendium wurde mir ein sehr komfortabler Forschungsaufenthalt an der Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel ermöglicht. Ich möchte mich bei Dr. Jill Bepler, Dr. Elisabeth Harding und den vielen freundlichen und kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der HAB ganz herzlich für ihre Unterstützung bedanken. Bei Prof. Dr. Sabine Reh, Dr. Joachim Scholz sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung (DIPF) in Berlin möchte ich mich ebenfalls bedanken. Dank des mir gewährten Archivstipendiums konnte ich in der BBF in einer sehr anregenden Atmosphäre die historischen Bestände erkunden. Des Weiteren möchte ich mich auch bei den vielen Beraterinnen und Beratern, die ich während meiner Arbeit konsultiert habe, für ihre konstruktive Kritik sowie für ihre vielen Anregungen und Aufmunterungen bedanken. Mein Dank gilt Dr. Nicole Balzer, Prof. Dr. Johannes Bellmann, Dr. Jens Birkmeyer und den Mitgliedern des KritikLesekreises in Münster, Prof. Dr. Friedhelm Brüggen, Prof. Dr. Stephanie Hellekamps, Prof. Dr. Peter Heßelmann, Prof. Dr. Erhard Hirsch, Prof. Dr. Franklin Kopitzsch, den Diskutanten des Forums Junge Bildungshistoriker im September 2012 in Berlin (insbesondere Prof. Dr. Ingrid Lohmann und Prof. Dr. Christine Mayer) sowie Prof. Dr. Jürgen Oelkers und seinem Kolloquium an der Universität Zürich im Mai 2012. Ganz besonders will ich mich auch bei Philipp Hubmann, Andreas Oberdorf, Manuel Orczo Péres, Dr. Frank Ragutt, Marcel Reinold, Stephan Schlüter und Prof. Dr. Katharina Schneider bedanken. Ich danke außerdem meinen Freunden und meiner Familie für ihre uneingeschränkte Unterstützung und die anhaltende Geduld. Und ohne deinen Beistand, Eva, wäre diese Arbeit niemals über die Bühne gegangen.
Einleitung – Die Schaubühne als pädagogische Anstalt betrachtet Das Schauspiel wegen seiner Mißbräuche angreifen, heißt sich wider alle Arten des öffentlichen Unterrichts auflehnen1. – Diderot
1 Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung in Deutschland (1693–1824)2 – ein Problemaufriss »Durch eine Schule«, soll Lessing 1776 auf die Frage geantwortet haben, wie das Theater zu verbessern sei. Ein »Theater-Philanthropin« solle man errichten, denn jede Kunst muß eine Schule haben, in der frühesten Jugend durch gute Grundsätze vorbereitet und geleitet werden. Nur dadurch, durch eifriges Studium und mühsamen Schweiß erwirbt sich der darin gebildete Schauspieler das Recht auf die Achtung und Ehre seiner Zeitgenossen.3
So jedenfalls berichtet es der Schauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller, der als Mitglied der kaiserlich-königlichen Hof- und Nationalbühne in Wien ausgesandt wurde, um Nachforschungen zur Verbesserung des Theaterwesens anzustellen. Jahrzehnte später, im Jahr 1846, fragte der Dramatiker und langjährige Leiter des Wiener Burgtheaters Heinrich Laube noch : »Ist es ein bedenkliches Zeichen, daß wir von vielen Seiten aufschreien hören nach theoretischen und didaktischen Hilfsmitteln für unser Theater ? Hier nach 1 Diderot, Denis (1967) : Von der dramatischen Dichtkunst [1758]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 239–333. S. 309. 2 Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums orientiert sich an Jürgen Osterhammels Auffassung, dass das Zeitalter der Aufklärung, also das 18. Jahrhundert als »langes« Jahrhundert zu erachten und im Zeitraum zwischen 1680 und 1830 zu verortet sei. Über das Anfangsdatum besteht in der Forschung ein relativ breiter Konsens, wann die Epoche der Aufklärung aber ihr Ende fand, bleibt eine strittige Frage. Osterhammel ist der Ansicht, dass sich in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die kosmopolitischen Tendenzen der europäischen Aufklärung zunehmend in Nationalismus und Kolonialismus verkehrten (Osterhammel 1998 : 31–37). Der hier gewählte Untersuchungszeitraum fällt in dieses ›lange‹ 18. Jahrhundert. Markiert wird er durch die Veröffentlichung von Christian Weises Freymüthiger und höfflicher Redner von 1693 und dem Ende von Peter Mittells Theaterschule am Hoftheater in Karlsruhe im Jahr 1824. 3 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. Mit einer kurzen Biographie seines Lebens und einer gedrängten Geschichte des hiesigen Hoftheaters. Wien : Wallishausser. S. 133.
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Einleitung – Die Schaubühne als pädagogische Anstalt betrachtet
Theaterschulen, dort nach Dramaturgen, an anderen Orten nach Experimenten entlegenster Art ?«4 Warum kam im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dieses Geschrei nach Theaterschulen auf und wieso verstummte es im 19. Jahrhundert nicht ? Warum wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts der Ruf nach einer institutionalisierten Ausbildung der Schauspieler laut ? Welche Pläne gab es hierfür, welche wurden realisiert und warum scheiterten die meisten nach kurzer Zeit ? Für die bildende Kunst gab es im 18. Jahrhundert bereits eine bis in die Renaissance zurückreichende Tradition von Kunstschulen und Kunstakademien.5 Dies galt nicht in gleicher Weise für die Schauspielkunst. Diese litt vielmehr unter der seit Platon und Aristoteles anhaltenden und kontrovers geführten Debatte über den moralischen Stellenwert des Theaters. Kirchenväter, Protestanten und Aufklärer kritisierten das Schauspiel, das Theater und die Schauspielkunst als unschicklich, verstörend und anzüglich.6 Hinzu kommt, dass die Komödianten seit dem 16. Jahrhundert in Wandertruppen organisiert waren und zusammen mit Quacksalbern, Spielmännern, Seiltänzern, Zahnbrechern, Taschen- und Marionettenspielern, Marktschreiern und anderen Vagabunden auftraten. Verwaltungsrechtlich wurden Komödianten daher lange Zeit nicht von Schaustellern und Spielleuten unterschieden und litten unter einem anhaltenden Vertrauensdefizit.7 Dennoch hatte das Theater auch Fürsprecher in pädagogischen, kameralistischen und akademischen Kreisen. Noch bevor sich in Deutschland ein gewerbliches Berufstheater etablierte, betonten insbesondere Verantwortliche des studentischen Gelehrten-, des protestantischen Schul- sowie des katholischen Ordenstheaters nicht nur den Nutzen des Theaterspiels für die Schulung des Gedächtnisses, der deklamatorischen und rhetorischen Fähigkeiten sowie für die Vermittlung altsprachlicher Kenntnisse und religiöser Glaubenssätze auf Seiten der Laiendarsteller. Die Befürworter hoben auch hervor, dass Schauspiele 4 Laube, Heinrich (1956) : Schriften über Theater. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, ausgewählt und eingeleitet von Eva Stahl-Wisten. Berlin : Henschel. S. 37. 5 Vgl. Pevsner, Nikolaus (1986) : Geschichte der Kunstakademien. München : Mäander. Vgl. hierzu auch Rügler, Axel (2005) : Zur Idee der Kunstakademien. In : Kunst und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Kunstausbildung der Akademien, Kunstvermittlung der Fürsten, Kunstsammlung der Universitäten. Hrsg. von Max Kunze. Ruhpolding : Franz Philipp Rutzen. S. 23–26. 6 Vgl. Martens, Wolfgang (1989) : Literatur und Frömmigkeit in der Literatur der frühen Aufklärung. Tübingen : Niemeyer. Vgl. auch Koebner, Wolfgang (1978) : Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert. In : Festschrift für Rainer Gruenter. Hrsg. von Bernhard Fabian. Heidelberg : Winter. S. 26–57. 7 Vgl. Schwedes, Herrmann (1993) : Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. Die Lebensformen der Theaterleute und das Problem ihrer bürgerlichen Akzeptanz. Bonn : Verlag für systematische Musikwissenschaft. S. 54–72. Vgl. auch Schubart-Fikentscher, Gertrud (1963) : Zur Stellung der Komödianten im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin : Akademie-Verlag. Vgl. auch Pietsch-Ebert, Lilly (1942) : Die Gestalt des Schauspielers auf der deutschen Bühne des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin : Emil Ebering. Vgl. auch Hefter, Rudolf (1936) : Die moralische Beurteilung des deutschen Berufsschauspielers. Emsdetten : Lechte.
Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung
auf Seiten des Publikums Beredsamkeit, Menschenkenntnis und Tugendliebe vermehren können.8 Als das Schul- und Gelehrtentheater Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts schließlich an kulturpolitischer Bedeutung verlor – da es dem publikumswirksameren Theater der Wanderbühnen unterlegen war –, übertrug man den pädagogischen Auftrag des Schultheaters auf die Schaubühne der Aufklärung. Sie wurde zur »Schule der Tugend und der Sitten«9, zu einer »Schule der moralischen Welt«10, kurz : zu einer »moralische[n] Anstalt«11 erklärt.12 »Solche Vokabeln bringen ein Theaterprogramm auf den Begriff«, schreibt Roland Dressler, »das in die Praxis des Schultheaters zurückreicht.«13 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stimmten auch die namhaften Kameralisten darin überein, dass das Theater zu fördern sei, weil es dem Staat als Sittenschule dienlich sein könne.14 Einige Regenten öffneten hierauf die Pforten ihrer Hoftheater für zahlendes Publikum. So breitete sich in Deutschland eine allgemeine Theaterbegeisterung aus. Die »Öffnung der Hoftheater«15 sowie der rege publizistische Austausch über theaterbezogene Themen16 lassen sich als Indizien für eine Transformation der »repräsentative[n] 8 Vgl. Klepacki, Leopold (2005) : Die Geschichte des Schultheaters in Deutschland. In : Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Hrsg. von Eckart Liebau, Leopold Klepacki, Dieter Linck u.a. Weinheim und München : Juventa. S. 9–30. – Die kontroverse Debatte um den moralischen Stellenwert und den pädagogischen Nutzen des Theaters verdeutlicht einerseits, welche »Versprechungen des Ästhetischen« (Ehrenspeck 1998) im pädagogischen Diskurs aufgeboten werden, zeigt aber andererseits auch, dass der Kunst nicht nur eine »positive Wirkmacht für gesellschaftliche, pädagogische, politische oder individuelle Belange attestiert« (Ehrenspeck 2001 : 14) werde, wie Yvonne Ehrenspeck behauptet. 9 Wieland, Christoph Martin (1983) : An den Staatsrat von Gebler in Wien [2. November 1772] In : Wielands Briefwechsel, Bd. 5 : Briefe der Weimarer Zeit. 21. September 1772 – 31. Dezember 1777. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR durch Hans Werner Seiffert. Berlin : Akademie Verlag. S. 18–20. S. 20. 10 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [2. Stück, 5. Mai 1767]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 6 : Werke 1767– 1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 181–694. S. 192. 11 Schiller, Friedrich (1802) : Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. In : Kleinere prosaische Schriften von Schiller. Aus mehreren Zeitschriften vom Verfasser selbst gesammelt und verbessert, Bd. 4 : Vermischte prosaische Schriften. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 3–27. S. 3. 12 Vgl. Haider-Pregler, Hilde (1980) : Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien : Jugend und Volk. 13 Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin : Hentschel. S. 35. 14 Vgl. Martens, Wolfgang (1981) : Obrigkeitliche Sicht : Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6. Hrsg. von Georg Jäger, Alberto Martino und Friedrich Sengle. Tübingen : Niemeyer. S. 19–51. 15 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart : Klett-Cotta. S. 28. 16 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt a.M.: Klostermann. S. 69–75.
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Einleitung – Die Schaubühne als pädagogische Anstalt betrachtet
Öffentlichkeit«17 verstehen, welche in Deutschland ihren Ausdruck in der Nachahmung des französischen Hofzeremoniells fand und trotz der Erschütterung des Ständebewusstseins durch die Französische Revolution bis ins 19. Jahrhundert hinein nachhaltig die gesellschaftliche Ordnung in Deutschland bestimmte. Die Transformation der Öffentlichkeitsformen des Ancien Régime zeichnete sich nicht nur durch einen strukturellen Wandel der öffentlichen Institutionen aus, sondern sie umfasste auch eine grundlegende Veränderung der zwischenmenschlichen Kommunikations- und Interaktionsformen. Während sich durch die überregionale, abstrakte Kommunikation in Form von Publikationen die Sphäre einer literarisch-diskursiven Öffentlichkeit etablierte,18 bildete sich durch den – wie es in der Theaterwissenschaft heißt – leiblich ko-präsenten19 Umgang, den die Mitglieder der neu gegründeten Wissenschaftssozietäten, Salons und Lesegesellschaften auch im Parterre der Hoftheater, in Kaffeehäusern und in Konzertsälen pflegten, eine kulturelldistinktive Praxis öffentlicher Umgangsformen aus.20 So wie der Renaissance-Künstler zum »prototypischen Neuzeit-Individuum«21 stilisiert wurde, lässt sich der Schauspieler als »Öffentlichkeitsmensch«22 zum Prototypen des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft erklären. Denn mit der Transformation der repräsentativen Öffentlichkeit korrespondierte ein Transzendenzschwund, durch den die barocke Metapher des Welttheaters eine grundlegende Wendung erfuhr : Während in der barocken Vorstellung das diesseitige Leben ein bloßes Schauspiel darstellte, in dem »jeder in einer anderen Gestalt teilnimmt und seine Rolle unter der Maske so lange spielt, bis der große Theaterdirektor ihn die Bühne verlassen heißt«23, und das eigentliche Leben in ein Jenseits verwiesen wird, verliert die Welttheatermetapher im Übergang zum 18. Jahrhundert seine Trost spendende und sozial-affirmative Funktion. Durch die zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der geburtsständisch geordneten Gesellschaft steht das Individuum im 18. Jahrhundert vor dem Problem, disparaten Anforderungen gerecht werden zu müssen, die sich nicht mehr als Ausdruck einer sinnstiftenden Gesamtordnung begreifen lassen.24 Eingang findet die Rollenmetapher so in die Beschreibung des gesell17 Habermas, Jürgen (1990) : Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 60. 18 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara (2005) : Politische und soziale Physiognomie des aufgeklärten Zeitalters. In : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2 : 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München : Beck. S. 1–32. S. 24 f. 19 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2012) : Performativität. Eine Einführung. Bielefeld : Transcript. S. 54–57. 20 Vgl. Döcker, Ulrike (1994) : Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Campus. 21 Knobeloch, Heinz (1996) : Subjektivität und Kunstgeschichte. Köln : König. S. 67. 22 Sennett, Richard (2008) : Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität. Berlin : BvT. S. 196. 23 Erasmus von Rotterdam (2006) : Lob der Torheit. Aus dem Lateinischen übersetzt von Heinrich Hersch [1884]. Köln : Anaconda. S. 49. 24 Vgl. Konersmann, Ralf (1986/1987) : Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. In : Archiv für Begriffsgeschichte, 30. Jg. S. 84–137.
Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung
schaftlich-diesseitigen Nebeneinanders unvereinbarer Anforderungen und Erwartungen sowie der Integration ihrer wechselnden Bewältigungsstrategien. Ein kulturpolitischer Ausdruck dieser sich konstituierenden bürgerlichen25 Öffentlichkeit war die bis ins 19. Jahrhundert wiederholte Forderung nach einem deutschen Nationaltheater, mit dem zum einen auf interkultureller Ebene eine Distanzierung zum französischen klassischen Theater geleistet werden sollte, zum anderen sollte das Nationaltheater auf intrakultureller Ebene die ständisch motivierte Spaltung von Hof- und Volkstheater durch eine einheitsstiftende bürgerliche Theaterkultur überwinden. Das Theater avancierte so neben der Literatur und der Popularphilosophie zu einer bürgerlichen »Sozialisationsinstanz«26, die dazu beitrug, die kulturellen Praktiken der Bürgerlichkeit mit zu formen und so Vorlagen für bürgerliche Selbstinszenierung und Selbstbehauptung zu liefern.27 Der kultur- und moralpädagogische Anspruch, der mit den wiederholt vorgetragenen Forderungen nach einer einheitlichen bürgerlichen Theaterkultur verbunden war, bestand unter anderem darin, durch eine Reglementierung des Theaterpublikums störungsfreie Rezeptionsbedingungen zu schaffen, um eine Bildung des Geschmacks durch das Theater überhaupt erst zu gewährleisten, welche wiederum als Beitrag zur sittlichen Bildung verstanden wurde. Deshalb wurde versucht, die ordnungsgemäße Rezeption durch architektonische, administrative, technische und polizeiliche Neuerungen – wie die Einführung 25 Die Begriffe ›Bürger‹, ›bürgerlich‹ und ›Bürgertum‹ spielen zwar im politischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle (Riedel 1972), doch lässt sich mit ihnen nur schwerlich eine homogene Personengruppe beschreiben : Anhänger liberaler und konstitutioneller Reformideen waren nicht zwangsläufig antifeudal gesinnt oder an einer gesellschaftlichen Umstülpung von unten interessiert. Im Gegenteil, Bildungseliten waren in der Regel fest in die höfische Ordnung eingebunden. Bürgerlichkeit wird hier deshalb als ein Set kultureller Praktiken verstanden, die durch eine »symbolische Distanzierung« (Döcker 1994 : 14) nach außen sowie eine »symbolische Differenzierung« (ebd.) nach innen ein offenes, identitätsstiftendes, kulturelles System bilden, das kollektive Deutungsmuster bietet. 26 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 238. Vgl. hierzu auch Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin : Edition Sigma. S. 90–100. Vgl. auch Kreuder, Friedemann (2010) : Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Tübingen : Narr Francke Attempto. S. 55 f. 27 Gleichwohl darf aber das Emanzipationspotenzial der Schaubühne nicht überschätzt werden : »Eine ›Verbürgerlichung‹ als Emanzipationsbewegung hat im dramatisch-theatralischen Bereich höchstens in Ansätzen stattgefunden« (Meyer 1987 : 151). Die Versuche, eine vom Adel emanzipierte bürgerliche Theaterkultur zu etablieren, scheiterten. Eine Ausnahme bildet hier lediglich das Jakobiner Bürgertheater in Mainz (Kreuder 2010 : 131–154). Die Nationaltheater, wie sie nach dem Scheitern der Hamburger Entreprise (1767–1769) in Gotha, Wien, Mannheim, Berlin, München und Weimar eingerichtet wurden, stehen »geradezu symbolisch für den Kompromiß, den das deutsche Bürgertum (mehr oder minder freiwillig) mit der Feudalaristokratie geschlossen hatte« (Simhandl 2007 : 140). Die bürgerlichen Theaterreformer standen deshalb stets vor dem Problem, dass sie einerseits den Staat mit der Sorge um das geistige Wohl unter Zuhilfenahme des Theaters betrauten, sich aber andererseits dem eigenwilligen Geschmack und Wohlwollen der Regenten ausgesetzt sahen.
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Einleitung – Die Schaubühne als pädagogische Anstalt betrachtet
parzellierter Sitzplätze, das Verbot, die Bühne zu betreten, oder die Verdunklung des Zuschauerraums – zu forcieren. Das Ziel dieser Maßnahmen bestand darin, die Aufmerksamkeit des Theaterpublikums auf das eigentliche Bühnengeschehen zu konzentrieren. Die Anleitung zur regelgerechten Beurteilung des Bühnengeschehens, »die Anregung zum Beifall und zur Verdammung«28, ging von einer kulturellen Elite innerhalb des Publikums aus – dem »Parterre im Parterre«29. Sie beherrschte nicht selten auch die Diskussionen in den Theaterzeitschriften und war bestrebt, für die Verbreitung eines guten Geschmacks zu sorgen. Guter Geschmack beschränkte sich aber nicht nur darauf, regelgerecht beurteilen zu können, sondern war vielmehr Ausdruck einer bürgerlichen Lebensführung. Doch die Betrachtung des Theaters als reine Geschmacks- oder Sittenschule erweist sich sowohl aus historiographischer als auch aus theater- und bildungstheoretischer Perspektive als problematisch : Allein die Sichtweise der Theaterreformer und der kulturellen Eliten einzunehmen, die das Theater zu jener moral- und kulturpädagogischen, öffentlichen Anstalt erheben wollten, heißt, »die herrschende Theaterpraxis mit Vorstellungen einiger Protagonisten des ›aufgeklärten Denkens‹ zu verwechseln«30. Die Rede vom Theater als einer bürgerlichen Sittenschule ist keine Beschreibung der eigentlichen Theaterpraxis, sondern eine pädagogische Präskription spezifischer Wirkungsästhetiken – die Aufführungs- und Theaterpraxis zwischen Aufklärung und Vormärz sah in Deutschland hingegen oft anders aus.31 Das kulturkonsumierende Publikum zeigte sich unbeeindruckt oder gar ablehnend gegenüber dem kulturräsonierenden Anspruch des literarisierten Bildungstheaters. Der Reiz des Theaters und der Grund dafür, dass es im 18. Jahrhundert zum Leitmedium avancierte, lag vermutlich gerade in seiner Polyfunktionalität. Ungeachtet seiner Bestimmung als bürgerlicher Sittenschule, galt und fungierte es in erster Linie als Ort des geselligen Zusammenseins und der angenehmen Zerstreuung, an dem, so Rainer
28 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. In 2. Bde. neu hrsg. von Rolf Kabel und Christoph Trilse, Bd. 1. München und Wien : Langen Müller. S. 455. 29 Ebd. 30 Fischer-Lichte, Erika (1999) : Zur Einleitung. In : Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen : Wallenstein. S. 11–20. S. 12. 31 Vgl. hierzu Müller-Kampel, Beatrix (2003) : Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn : Schöningh. Vgl. auch Meyer, Reinhart (1990) : Hanswurst und Harlekin oder : Der Narr als Gattungsschöpfer. Versuch einer Analyse des komischen Spiels in den Staatsaktionen des Musik- und Sprechtheaters im 17. und 18. Jahrhundert. In : Théâtre, Nation & société en Allemagne au XVIIIe Siècle. Hrsg. von Roland Krebs und Jean-Marie Valentin. Nancy : Presses Universitaires de Nancy. S. 13–39. Vgl. auch Haider-Pregler, Hilde (1984) : Wiener Komödienreform zwischen Tabu und Konzession : Zur sittlichen Programmatik des Lachens. In : Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 30. Jg. Heft 1–2. S. 87–102. Vgl. auch Asper, Helmut G. (1980) : Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten : Lechte. Vgl. auch Münz, Rudolf (1979) : Das ›andere‹ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin : Henschel.
Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung
Ruppert, auch der »emotionale ›thrill‹«32 gesucht wurde. Das Theater gehörte, so urteilt Ute Daniel, mit den anderen Aufführungskünsten wie der Oper oder dem Ballett zur »Massenunterhaltungskultur«.33 Spätestens mit Kants Kritik der Urteilskraft, in der die Domänen des Ästhetischen und des Moralischen zwar symbolisch aufeinander bezogen bleiben,34 der direkte Weg von der einen zur anderen aber als unbegehbar erscheint, büßte die frühaufklärerische Funktionsbestimmung des Theaters als ›weltliche Kanzel‹ aus theoretischer Perspektive ihre Überzeugungskraft ein. Bereits Lessing kritisierte die rationalistische Auffassung, das Theater könne direkt durch Belehrungen moralisierend auf das Publikum einwirken. Die Tragödie wirke, so Lessing, vielmehr indirekt, indem sie auf das Gemüt des Zuschauers wirke und eine »Kultivierung der Affekte«35 leiste, seine Fähigkeit zum Mitleid erweitere und verfeinere. Obgleich Schiller in seiner Schaubühnenrede noch an diese Überzeugung Lessings anschließt,36 entbindet er aber die Kunst – und damit auch das Theater – in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen vollends vom Zwang der Nützlichkeit, wodurch es gleichwohl seinen politisch-pädagogischen Charakter nicht verliert. Indem Johann Friedrich Herbart die eigentliche Aufgabe der Erziehung in der »ästhetische[n] Darstellung der Welt«37 erkennt, lässt sich nunmehr das Theater, wie Goethe notiert, als eine »Lehranstalt zur Kunst«38 bestimmen. Es gilt zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine Institution ästhetischer Bildung, in der die »Kultivierung der Wahrnehmung«39 die pädagogische Absicht kennzeichnet. 32 Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. S. 57. 33 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 39. 34 Vgl. Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. In : Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Hrsg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 712–716 [§ 59]. 35 Parmentier, Michael (2004) : Ästhetische Bildung. In : Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Hrsg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers. Weinheim und Basel : Beltz. S. 11–32. S. 15. – Vgl. hierzu auch Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke. 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 662–736. 36 Vgl. Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken ? [1784] In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 185–200. 37 Herbart, Johann Friedrich (1968) : Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung [1804]. In : Johann Friedrich Herbart. Kleine pädagogische Schriften. Besorgt von Artur Brückmann. Paderborn : Schöningh. S. 39–55. 38 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. Als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde. Hrsg. von Friedrich Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., Bd. 17 : Tag- und Jahres-Hefte. Hrsg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I, 17]. S. 9–349. S. 30. 39 Prange, Klaus (2010) : Das Ethos der Form. Anmerkungen zu Herbarts ›Ästhetischer Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung‹. In : Ästhetik und Bildung. Hrsg. von Brigitta Fuchs und Lutz Koch. Würzburg : Ergon. S. 127–136. S. 131.
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Indem das deutschsprachige Berufstheater diskursgeschichtlich als »Bildungsanstalt«40 in Erscheinung tritt und hieraus größtenteils seine Legitimation als nützliche Einrichtung des öffentlichen Lebens ableitet, steigt auch der verfemte Wanderschauspieler und Komödiant in den Rang eines ›Volkserziehers‹ auf. Aber nicht erst seit Marx’ dritter These über Feuerbach wissen wir, dass auch Erzieher erzogen werden müssen – insbesondere dann, wenn von ihnen gesellschaftsrelevante Veränderungen ausgehen sollen.41 Gemäß der Terminologie aus Kants Vorlesung Über Pädagogik machte der Funktionswandel des Theaters im 18. Jahrhundert eine Zivilisierung, Disziplinierung und Kultivierung erforderlich42 – also eine Erziehung der Schauspieler –, weil der ästhetisch-moralische Stellenwert der sich herausbildenden Schauspielkunst auch in Abhängigkeit zur Sittlichkeit und Bildsamkeit der Schauspieler bestimmt wurde. Reinhardt Meyer fasst diese Forderungen so zusammen : Ein moralisches Leben sollten sie führen, weil sonst ihre Darstellung tugendhafter Personen auf der Bühne unglaubhaft wird ; gesund sollten sie leben, weil sonst ihre Darstellung leidet ; Wirtshäuser sollten sie meiden, weil sie sich sonst während der Aufführung nicht konzentrieren können.43
So kam in der Nationaltheaterbewegung die frühneuzeitliche Wanderbühne buchstäblich zum Stehen : Die Einrichtung stehender Theater sollte dazu beitragen, das soziale Ansehen der Komödianten aufzuwerten, indem man sie in das Inventar des Hofes oder der Stadt integrierte. Die allmähliche Auflösung der Wandertruppen führte zu der Forderung, eine übergreifende rechtliche Ordnung für das Schauspielwesen zu schaffen. Dort, wo Schauspieler an Höfen beschäftig waren, galt für sie die jeweilige Hofordnung. Darüber hinaus galten an vielen Bühnen eigene Theatergesetze, die den alltäglichen Proben- und Bühnenablauf regelten und von den Schauspielern ein zivilisiertes, ein anständiges und sittliches Benehmen auf und jenseits der Bühne verlangten.44 40 Böhm, Winfried (2010) : Das Theater als Bildungsanstalt. In : Ästhetik und Bildung. Hrsg. von Brigitta Fuchs und Lutz Koch. Würzburg : Ergon. S. 161–173. S. 161. Vgl. hierzu auch Graf, Ruedi (1992) : Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen : Niemeyer. S. 288–292. 41 »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren« (Marx 1983 : 5). 42 Vgl. Kant, Immanuel (1977) : Über Pädagogik. Hrsg. von Friedrich Theodor Rink [1803]. In : Immanuel Kant. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie Politik und Pädagogik, Bd. 2. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 695–761. S. 699 f. 43 Meyer, Reinhart (1987) : Limitierte Aufklärung. Untersuchungen zum bürgerlichen Kulturbewußtein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In : Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Hrsg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Göttingen : Vadenhoeck und Ruprecht. S. 139–200. S. 162. 44 Vgl. Rockstuhl, Daniela (2008) : Der disziplinierte Körper im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts. Der Schauspieler im Prozess der Zivilisation. Saarbrücken : VDM.
Die Erziehung des Publikums und der Schauspieler im Zeitalter der Aufklärung
Neben diesen Bestrebungen, die vagabundierende Lebensform der Komödianten in eine bürgerliche zu überführen und ihre Tätigkeit als ehrbaren Beruf innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen, ging es andererseits darum, ihre Tätigkeit als Schauspielkunst zu bestimmen. Mehr noch : Der Schauspieler sollte dem Dichter ebenbürtig gemacht werden. Dazu war es erforderlich, der Schauspielkunst ein System zu verleihen, sie zu verwissenschaftlichen, sie zu disziplinieren. Die theoretischen Versuche einer systematischen Grundlegung der Schauspielkunst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert bestanden darin, sie in eine allgemeine Systematik der schönen Künste zu integrieren, ihre psychologischen wie physiologischen Bedingungen zu untersuchen und ein Regelsystem – eine, wie der Begründer der ersten deutschen Schauspieler-Akademie Konrad Ekhof schrieb, »Grammatik der Schauspielkunst«45 – zu formulieren, das einerseits für die Ausbildung von zukünftigen Schauspielern pädagogisch nutzbar gemacht werden und andererseits als kunstkritische, normative Bewertungsgrundlage für die ästhetische Praxis herhalten könne.46 Diese neue, von den Theatertheoretikern formulierte natürliche Schauspielkunst, die sich sowohl vom rhetorischen Deklamationsstil des Schul- und Gelehrtentheaters verabschiedete, als auch das burleske Treiben des Stegreiftheaters und der Wanderbühne ablehnte, stellte die Nachahmung von Natur und Charakteren in den Vordergrund und verlangte daher von den Schauspielern auf das Possenreißen und Extemporieren zu verzichten, ihr Spiel zu mäßigen und am dramatischen Text zu orientieren. Mit dieser Literarisierung des Theaters,47 der rigiden Orientierung des Spiels am dramatischen Text und der Tilgung des Zufälligen, sollte eine Kultivierung des Schauspielers einhergehen. Das Literaturtheater machte es erforderlich, dass die Schauspieler fähig waren, die dramatischen Texte zu lesen, zu verstehen und auswendig zu lernen. Neben den dramaturgischen Studien machten die Theaterreformer auch das Studium der Literaturgeschichte, der Musik, Tanzkunst und Malerei sowie der Physiognomie zur Bedingung für die Ausübung der Schauspielkunst. Die für die Pädagogik interessante Aufgabe des Schauspielers wurde von den Theaterreformern und Schauspieltheorien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts darin gesehen, zu lernen, sich – die Natur nachahmend – seines eigenen Körpers zu bedienen, um beim Publikum bestimmte Wirkungen, Empfindungen oder Affekte hervorzurufen. »In der Schauspielerausbildung«, fasst die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zusammen, 45 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. In : Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie. Hrsg. von Heinz Kindermann. Wien : Rudolf M. Rohrer (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, Bd. 230, 2. Abhandlung). S. 21. 46 Vgl. Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2. Stuttgart : Metzler. S. 752 f. 47 Vgl. Graf, Ruedi (1992) : Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen : Niemeyer.
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erwirbt der Schauspieler die Fähigkeit, die mit dem menschlichen Leib als einem lebendigen Organismus immer schon gegebene Möglichkeit, ja Notwendigkeit, eine andauernde Transformation für andere wahrnehmbar zu realisieren und damit zugleich eine Reflexion über die Eigenart des menschlichen Leibes in Gang zu setzen.48
Dabei geht es weniger darum, mit dem Körper etwas künstlich zu repräsentieren – wie noch in der Tradition des rhetorischen Schul- und Gelehrtentheaters –, als vielmehr, als Körper etwas zu verkörpern und auszudrücken.49 Denn anders als in den anderen Künsten bilden Kunstobjekt und künstlerisches Subjekt in der Schauspielkunst eine unhintergehbare Einheit. Dieses Verhältnis des Schauspielers zu sich selbst und zu seiner Rolle bietet die Möglichkeit, Schauspieltheorien unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten zu lesen, denn sie spiegeln nicht nur vorherrschende Subjektmodelle50 wider und implizieren Vorstellungen über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers,51 sondern thematisieren das, was Helmuth Plessner in der Mitte des 20. Jahrhunderts als die exzentrische Positionalität des Menschen bezeichnete : »Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst präsentiert.«52
48 Fischer-Lichte, Erika (2010) : Gesten im Theater. Zur transformativen Kraft der Geste. In : Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. Hrsg. von Christoph Wulf und Erika Fischer-Lichte. München : Wilhelm Fink. S. 209–224. 49 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2 : Vom ›künstlichen‹ zum ›natürlichen‹ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. 5., unveränderte Auflage. Tübingen : Narr. S. 91– 103. 50 Vgl. Roselt, Jens (2005) : Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin : Alexander. S. 14. 51 Vgl. Fischer-Lichte (2000) : Entgrenzungen des Körpers. Über das Verhältnis von Wirkungsästhetik und Körpertheorie. In : Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Anne Fleig. Tübingen : Attempto. S. 19–34. Vgl. auch Käuser, Andreas (1999) : Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie. In : Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen : Wallstein. S. 39–51. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika (1999) : Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen. In : Theater im Kulturwandel. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen : Wallstein. S. 53–68. Vgl. auch Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen : Niemeyer. 52 Plessner, Helmuth (1982) : Zur Anthropologie des Schauspielers [1948]. In : Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften, Bd. 7 : Ausdruck und menschliche Natur. Hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 399–418. S. 416. – Zur bildungstheoretischen Verortung Plessners philosophischer Anthropologie vgl. Kubitzer, Thorsten (2005) : Identität – Verkörperung – Bildung. Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Bielefeld : Transcript.
Methodologische Überlegungen
2 Methodologische Überlegungen : Eine Vermittlung von historisch-systema tischen und historisch-kritischen Forschungsansätzen der pädagogischen Ideen- und Theoriegeschichte im Anschluss an den New Historicism Der Problemaufriss und die darin formulierten Forschungsfragen stellen die Studie vor die methodologische Herausforderung, historisch-kritische und historisch-systematische Forschungsansätze miteinander zu vermitteln, welche zuweilen als sich widersprechende Paradigmen innerhalb der pädagogischen Historiographie wahrgenommen wurden :53 Unter historisch-systematischen Ansätzen werden hier solche verstanden, die eher daran interessiert sind, die Konstitutions- und Reflexionsprobleme in der Geschichte des pädagogischen Denkens und der Pädagogik im engeren Sinne zu erfassen. Als historischkritisch werden hier solche Forschungsansätze verstanden, die eher Beiträge zu einer pädagogischen Sozial- und Kulturgeschichte liefern und die Diskussion, Distribution und Interdependenz von pädagogischen Ideen, Konzepten und Begriffen sowie ihre epochenspezifischen Kontexte, die gesellschaftlichen Strukturen, Lebensformen, Institutionen und Medien untersuchen. Den historisch-systematischen Rekonstruktionen der (Theorie-)Geschichte der Pädagogik wird berechtigterweise vorgehalten, dass sie ihren Darstellungen nicht selten Metaerzählungen überstülpen, durch welche die Aussagen kanonischer Texte und pädagogischer Klassiker – also jener Autoren, die als historische Referenzpunkte jener »ursprünglichen Einsichten«54 gelten – in eine Reihenfolge gebracht werden, die wiederum eine ungebrochene Kontinuität des pädagogischen Denkens suggeriert. Einzelnen Texten, Werken oder Autoren werden so Funktionsstellen innerhalb einer monolithischen Metaerzählung – der Geschichte der Pädagogik – zugewiesen. So sei beispielsweise Winfried Böhms Geschichte der Pädagogik, wie Heinz-Elmar Tenorth bemängelt, eine »im Medium wesentlicher Überlieferungen der abendländischen Geistesgeschichte geschriebene Hinführung zum Begriff der Person als derjenigen – scheinbar historisch legitimierten – Kategorie, die für den Autor erziehungsphilosophisch wesentlich ist.«55 An Dietrich Benners und Friedhelm Brüggens Geschichte der Pädagogik moniert Eva Matthes, dass sie in ihrer systematischen Vorgehensweise Gefahr laufe, »die Geschichte an die Systematik«56 anzupassen und so pädagogische Klassiker entsprechend harmonistisch interpretiere, Widersprüche nicht aus53 Vgl. Bellmann, Johannes (2004) : Kontextanalyse versus Applikationshermeneutik. Reflexionsprobleme pädagogischer Historiographie. In : Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 80. Jg. Heft 4. S. 182–195. Vgl. auch Bellmann, Johannes & Ehrenspeck, Yvonne (2006) : Historisch-systematisch. Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pädagogischen Historiographie. In : Zeitschrift für Pädagogik, 52. Jg. Heft 2. S. 245–264. 54 Bellmann, Johannes (2004) : Kontextanalyse versus Applikationshermeneutik. S. 191. 55 Tenorth, Heinz-Elmar (2005) : Winfried Böhm : Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. Alfred K. Treml : Pädagogische Ideengeschichte. Ein Überblick [Rezension]. In : Zeitschrift für Pädagogik, 51. Jg. Heft 5. S. 734–738. S. 737. 56 Matthes, Eva (2012) : Dietrich Benner & Friedhelm Brüggen : Geschichte der Pädagogik [Rezen-
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halte und eindeutige Wertungen treffe. Und in Dietrich Benners und Herwart Kempers Theorie und Geschichte der Reformpädagogik werde die Geschichte der pädagogischen Reformen »als eine teleologisch definierte Aneinanderreihung von ›Einflüssen‹ definiert«57, wodurch, so Marc Depaepe, keine »historisch distanzierte Untersuchung«58 gegeben sei. Kontextanalytiker, die ein solches distanziertes, rein historiographisches und daher vom pädagogischen Erkenntnisinteresse enthobenes Verhältnis zu historischen Quellen propagieren, entziehen den historisch-systematischen Ansätzen den argumentativen Boden, indem sie die Aussagen pädagogischer Quellentexte vor dem Hintergrund historischer Kontexte in einem anderen Licht erscheinen lassen und so die Geschichten der Pädagogik, die historisch-systematische Ansätze erzählen, als bloße, historisch unaufgeklärte Fiktionen entlarven wollen. So wie Dieter Lenzen aber einst den Vertretern der Kritischen Erziehungswissenschaft einen »Habitus der Nörgelei«59 attestierte, so lässt sich auch den Kontextanalytikern der historischen Bildungsforschung in ähnlich polemischer Weise ein historistischer Dünkel vorhalten. Denn indem »in geradezu apodiktischer Manier ein bestimmter Kontext als einzig relevanter ausgegeben wird«60, übersehen die Apologeten der Kontextanalyse das grundsätzliche Problem der Historiographie, das gerade in der »Unendlichkeit des Kontextes«61 besteht und die Historiographie vor die Aufgabe stellt, aus der Kontingenz historischer Daten, aus der zufälligen Nachbarschaft von Dokumenten, kurz : aus der Fülle unverbundener Informationen ›sinnhafte‹ Einheiten zu knüpfen. Eine solche plausible Darstellung eines Text-Kontext-Verhältnisses erfordert nicht nur ein Vorverständnis dessen, was unter dem Begriff des Kontextes subsumiert wird – das heißt, ob es sich beim Kontext bloß um den Werkkontext oder auch um die sozialgeschichtlichen und wirkungsgeschichtlichen Kontexte handelt –, sondern die Kontextualisierung eines Textes bedarf darüber hinaus der Auswahl, Gewichtung sowie der zeitlichen und lokalen Eingrenzung des historischen Materials. Das Zusammenbringen historischer
sion]. In : Erziehungswissenschaftliche Revue, 11. Jg. Nr. 2. URL : http://www.klinkhardt.de/ewr/9783 15010811.html (Stand : 25.06.2014). 57 Depaepe, Marc (2003) : Benner, Dietrich & Kemper, Herwart : Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1 : Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Humanismus ; Teil 2 : Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik ; Benner, Dietrich & Kemper, Herwart (Hg.) : Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1 : Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Humanismus ; Teil 2 : Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik [Rezension]. In : Zeitschrift für Pädagogik, 49. Jg. Heft 2. S. 314–320. S. 317. 58 Ebd. 59 Lenzen, Dieter (2004) : Erziehungswissenschaft – Pädagogik. Geschichte – Konzepte – Fachrichtungen. In : Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. 6. Auflage. Hrsg. von Dieter Lenzen. Reinbek : Rowohlt. S. 11–41. S. 30. 60 Bellmann, Johannes (2004) : Kontextanalyse versus Applikationshermeneutik. S. 186 61 Ebd.
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Daten, »die Ordnungsarbeit, die aus dem Geschehen Geschichte macht«62, ist somit in erster Linie ein »Vertextungsproblem«63. Jedes erkenntnisfördernde In-Beziehung-Setzen von Text und Kontext muss sich damit der Herausforderung stellen, sich gegenüber konkurrierenden Setzungen zu legitimieren. So wie auch wissenschaftliche Theorien angesichts fehlender Letztbegründbarkeit implizit um Zustimmung werben, wie es die Rhetorik explizit tue,64 so ist auch die Historiographie angesichts des uneinholbaren Mangels historischer Evidenz sowie der Unentrinnbarkeit historischer Kontingenz darauf angewiesen, die Plausibilität ihrer jeweiligen Vertextung einzuholen. Vor diesem Hintergrund erscheint der vermeintliche Streit zwischen historisch-kritischen und historisch-systematischen Ansätzen, die sich vorhalten, gegenstandsverlorene oder unwissenschaftliche Geschichtsschreibung zu betreiben, als ein Konkurrenzkampf zweier Darstellungs- und Ordnungsverfahren angesichts eines allgemeinen Evidenzmangels und der Unentrinnbarkeit historischer Kontingenz. Wenn nämlich auf die ordnende und Kontinuität stiftende Kraft von Metanarrativen, Kollektivsubjekten und Epochenbegriffen verzichtet wird, dann tritt nicht nur die Kontingenz und Fülle unverbundener historischer Daten zutage, sondern dann erscheint die Historiographie selbst als eine historisch kontingente Praxis. Methodologische Konsequenzen, die die Vertreter des New Historicism65 – und im engeren Sinne die Vertreter der sogenannten »Berkeley School«66 um Stephen Greenblatt – aus 62 Bellmann, Johannes & Ehrenspeck, Yvonne (2006) : Historisch-systematisch. S. 245. 63 Baßler, Moritz (2001) : Einleitung : New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In : New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. 2. Auflage. Hrsg. von Moritz Baßler. Tübingen und Basel : Francke. S. 7–28. S. 11. 64 Vgl. Blumenberg, Hans (2001) : Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik [1971]. In : Hans Blumenberg. Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 406–431. S. 413. 65 Der New Historicism ist im engeren Sinne keine einheitliche Forschungsmethode, sondern ein Forschungsstil der US-amerikanischen Renaissance-Forschung und Literaturgeschichte, der in den 1980er Jahren in Berkeley von Stephen Greenblatt begründet wurde. Die Vertreter des New Historicism, zu denen neben Greenblatt unter anderem Louis Montrose, Anton Kaes und Catherine Gallagher gehören, verbindet, dass sie sich sowohl gegen die textimmanente Interpretationspraxis des New Criticism, das sogenannte close reading, als auch gegen die deterministischen und universalistischen Annahmen des alten Historismus wendeten (Greenblatt 1995 : 10–14). Ihr publizistisches Forum ist bis heute die interdisziplinäre Zeitschrift Representations. Als eigenständige Forschungsdisziplin wird der New Historicism oftmals nicht ausgewiesen, sondern wird dem Feld der cultural studies zugeordnet (Baßler 2003). In Deutschland ist der New Historicism inzwischen von der sich als Kulturwissenschaft begreifenden Literaturwissenschaft (Baßler 2001, Glauser & Heitmann 1999) aufgegriffen und diskutiert, von der Geschichtswissenschaft (Jordan 2013 : 186–188) und von der Theaterwissenschaft (Lazardzig & Tkaczyk & Warstat 2012 : 107–111) als Ansatz der Neueren Kulturgeschichte zur Kenntnis genommen worden. 66 Baßler, Moritz (2003) : New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In : Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart : Metzler. S. 132–155. S. 132.
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dieser doppelten Historizität gezogen haben, bestehen darin, erstens das zu untersuchende Verhältnis von Dokumenten, Praktiken und Artefakten zu ihren kulturellen Kontexten in Anlehnung an Clifford Geertz’ semiotischen Kulturbegriff als »Bedeutungsgewebe«67 – »cultures as texts«68 – zu beschreiben und zweitens die Historiographie als ein reflexives, selektives und narratives Unterfangen der Vertextung zu betrachten. Beide Konsequenzen zusammengenommen führen drittens zu einer epistemologischen Aufwertung der historischen Erzählform der Anekdote. Mit der heuristisch-metaphorischen Wendung, Kulturen als (Kon-)Texte zu begreifen, wird zum Ausdruck gebracht, dass sie sich als rahmende und ineinandergreifende Zeichensysteme beschreiben lassen, in denen kulturelle Artefakte, Praktiken und Dokumente erst ihre eigentümliche Bedeutung erlangen : »Die Welt ist voller Texte«, schreibt Greenblatt, von denen die meisten praktisch unverständlich sind, sobald man sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung entfernt. Um die Bedeutung solcher Texte wiederherzustellen, um überhaupt aus ihnen klug zu werden, müssen wir die Situation rekonstruieren, in der sie hergestellt wurden.69
Dieses Verfahren der Wiederherstellung der Entstehungsbedingungen und Sinnzusammenhänge zwischen Dokumenten, Praktiken und Artefakten und ihrem »network of framing intentions and cultural meanings«70 gleiche dem Versuch der Ethnographie, eine »thick description«71 zu erarbeiten, eine Interpretation niederzuschreiben, die den Leser in das hineinversetzt, was interpretiert wird und ihm so einen »Touch of the Real«72 vermittelt. Das bedeutet nicht, Dokumente, Praktiken und Artefakte lediglich als Produkte kontextueller Einflüsse erscheinen zu lassen oder sie schlicht vor einem fixierten historischen Hintergrund zu präsentieren, sondern sie wieder mit »social engeries that circulate very broadly through a culture«73 aufzuladen und so »Einsicht in die halb verborgenen kulturellen Transaktionen«74 zu gewinnen, sodass Text und Kontext »seem to be each other’s thick descriptions.«75 67 Geertz, Clifford (1987) : Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 9. 68 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. Chicago : The University of Chicago Press. S. 8. 69 Greenblatt, Stephen (2001) : Kultur. In : New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. 2. Auflage. Hrsg. von Moritz Baßler. Tübingen und Basel : Francke. S. 48–59. S. 51. 70 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 21. 71 Ebd. – Vgl. auch Geertz, Clifford (1987) : Dichte Beschreibung. S. 7. 72 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 20. 73 Ebd. S. 13. 74 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin : Wagenbach. S. 10. 75 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 31.
Methodologische Überlegungen
Greenblatt, der sich als Literaturhistoriker insbesondere für Shakespeare und die Kultur der englischen Renaissance interessiert, moniert, dass viele literaturhistorische Studien zwar das Verhältnis des Elizabethanischen Theaters zur Gesellschaft beschreiben – wie das Theater Bilder der unteren Stände, der Juristen, der Kirche und der Monarchie nachzeichne –, dem dynamischen Austausch zwischen Theater und Gesellschaft aber nur selten gerecht werden. »Statt dessen geht man von zwei getrennten, autonomen Systemen aus und versucht dann abzuschätzen, wie genau und angemessen das eine durch das andere repräsentiert wird.«76 Das Theater unterliegt als historisch kontingente Praxis aber nicht nur seinen eigenen institutionellen Interessen, Motiven und Zwängen, sondern stets auch den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Darstellungskonventionen, deren Durchsetzung oder Unterwanderung kollektive Anstrengungen sind. »Das Theater ist zwar von der ›Außenwelt‹ abgegrenzt und operiert als eigenständiger, behördlich konzessionierter Bereich, aber die Grenzen zu dieser Außenwelt erweisen sich als erstaunlich durchlässig.«77 Auch der Schauspieltheoretiker Jens Roselt schreibt : »Jede Darstellung des Menschen ist Konventionen unterworfen, die sich im steten Bezug zu gesellschaftlichen und ästhetischen Debatten außerhalb des Theaters herausbilden, diese reflektiert übernehmen oder aber ausdrücklich mitgestalten.«78 Kurz : keine Repräsentation ohne kulturelle Verhandlung, keine Mimesis ohne kulturellen Austausch. Unter den Begriffen der ›kulturellen Verhandlung‹, des ›kulturellen Austauschs‹ und der Zirkulation sozialer Energie versteht Greenblatt solche Prozesse, bei denen »sich eine kulturelle Praktik mit einer anderen überschneidet und von ihr Formen und Intensitäten entleiht oder deren unerwünschte Aneignung abzuwehren versucht oder Texte und Artefakte von einem Ort zum anderen verschiebt.«79 Die Unschärfe, die mit dieser Definition einhergeht, erlaubt es allerdings, viele unterschiedliche Phänomene in die Untersuchung miteinzubeziehen. Anschaulich stellt Greenblatt diese Aneignungs- und Austauschprozesse am Beispiel der Kopfbedeckung des Kardinals Thomas Wolseys (1473–1530) dar. Sein Hut ging, bevor er seinen heutigen Platz in der Bibliothek des Christ Church College in Oxford einnehmen konnte, durch viele unterschiedliche Hände. Verkauft hatte ihn die Tochter des Schauspielers Charles Kean, der in Shakespeares Henry VIII. den Hut trug, als er hierin die Rolle des Kardinals spielte. In England gelangten während der Reformation viele solcher Gegenstände in die Hände von professionellen Schauspielern, denn die Protestanten verkauften ihnen diese Dinge als polemische Geste, um die religiösen Praktiken der Katholiken als theatralisches Brimborium zu verunglimpfen. Gleichzeitig erwarben die Schauspieler hierdurch eindrucksvolle Requisiten, die ihre Imposanz überhaupt erst 76 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. S. 21 f. 77 Ebd. S. 31. 78 Roselt, Jens (2005) : Seelen mit Methode. Einführung. In : Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater. Hrsg. und mit einer Einführung von Jens Roselt. Berlin : Alexander. S. 8–71. S. 14. 79 Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Frankfurt a.M.: Fischer. S. 14.
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durch einen theatralischen Einsatz, durch das öffentliche Zurschaustellen, erlangten. »Die Wanderschaft von Wolseys Hut weist darauf hin«, schreibt Greenblatt, »daß kulturelle Artefakte nicht stillstehen, sondern in der Zeit existieren und daß sie mit persönlichen und institutionellen Konflikten, Verhandlungen und Aneignungen verknüpft sind.«80 Wenn der Feenkönig Oberon am Ende von Shakespeares A Midsummer Night’s Dream verkündet, er werde mit seinem Gefolge die Betten der soeben verheirateten Paare mit »Tropfen heil’gen Wiesentaus«81 (With this field dew consecrate) segnen, dann handelt es sich hierbei, so Greenblatt, nicht bloß um eine polemische »Anspielung«82 auf religiöse Riten. Diese »Textspuren«83 sind vielmehr Ausdruck des langwierigen Streits um die Neubestimmung der sozialpolitisch bedeutsamen Kategorien des Sakralen in England am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts.84 Der anglikanische Bischof Samuel Harsnetts (1561–1631) unternahm beispielsweise in seinen Texten A Discovery of the Fraudulent Practice of John Darrel, Bacheler of Artes, in his Proceedings Concerning the Pretended Possession and Dispossession (1599) und A Declaration of Egregious Popish Impostures (1603) den Versuch, die katholische Praxis der Geisteraustreibung als Betrug zu entlarven und ins Theater zu verbannen. In King Lear stellte Shakespeare deutlich heraus, dass Harsnetts Texte ihm ein »Modell«85 für Edgars Tarnung als besessener Bettler lieferten. »Das Verhältnis zwischen König Lear und Harsnetts Buch ist demnach eines der Wiederholung«, so Greenblatt, »einer Wiederholung, die auf einem unterhalb der sichtbaren Oberfläche liegenden institutionellen Austausch hindeutet.«86 Shakespeare wiederholt aber nicht bloß die anglikanische Kritik am Exorzismus, sondern verschiebt sie im Drama zu einer Darstellung des allgemeinen Bedeutungsverlustes von Ritualen. Er zeigt, wie sie ihre Wirkungsmacht eingebüßt haben und »entleert«87 worden sind. Diese halb verborgenen Aneignungs- und Austauschprozesse, diese unsichtbaren Verhandlungen und Transaktionen zwischen Texten und kulturellen Kontexten, solche verdeckten »Momente des institutionellen Austausches zwischen religiösem Diskurs und Theaterdiskurs der Shakespearezeit«88, die sich aus der historischen Distanz rekonstruieren
80 Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. S. 7. 81 Shakespeare, William (2002) : Ein Sommernachtstraum [1595]. In : William Shakespeare. Sämtliche Werke in einem Band. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. St. Gallen : Otus Verlag. S. 114. Vgl. auch Shakespeare, William (1895) : A New Variorum Edition of Shakespeare. Edited by Horace Howard Furness, Vol. X : A Midsommer Nights Dreame. Philadelphia : J. B. Lippincott Company. S. 240. 82 Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. S. 9. 83 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. S. 11. 84 Vgl. ebd. S. 125 f. 85 Ebd. S. 152. 86 Ebd. S. 155 87 Ebd. 88 Lazardzig, Jan & Tkaczyk, Viktoria & Warstat, Matthias (2012) : Theaterhistoriographie. Eine Einführung. Tübingen : Francke. S. 109.
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lassen, machen das Theater »zum Paradebeispiel für eine Analyse der kulturellen Zirkulation sozialer Energie.«89 Aber auch das pädagogische Handeln innerhalb und außerhalb pädagogischer Institutionen lässt sich als Schauplatz solcher kulturellen Verhandlungen begreifen. Denn Erziehung sei, so Klaus Mollenhauer, dadurch geprägt, dass die ältere Generation der jüngeren stets historisch bedingte Umgangsformen vorlebe, sie ihnen präsentiere.90 Indem Erwachsene mit Kindern auf eine bestimmte Art und Weise umgehen und zusammenleben, präsentieren sie ihnen zugleich eine spezifische Form des Umgangs und des Zusammenlebens. Kinder wachsen über diesen Umgang in die Umgangsformen der Erwachsenen hinein. Sie werden ihnen nicht beigebracht, Kinder sind keine passiven Rezipienten, sondern sie sind selbsttätig daran beteiligt, sich diese Umgangsformen – wie zum Beispiel die Muttersprache – zu erschließen. Das pädagogische Generationenverhältnis lässt sich also nicht nur als eine duale, rein interpersonale oder intergenerationelle Beziehung denken, sondern besteht vielmehr in einem triangulären Verhältnis, in der beide Personen oder Generationen zu einer historisch gewordenen, soziokulturellen und symbolisch vermittelten Wirklichkeit in Beziehung treten. Dort, wo diese Präsentation explizit geschehe, Inhalte dieser soziokulturellen Wirklichkeit ausgewählt und geordnet werden, spricht Mollenhauer von »Repräsentation«91. In diesem Prozess der Repräsentation der Welt, den Klaus Prange auch als die pädagogische Grundoperation des Zeigens bestimmt,92 erfährt das Repräsentierte oder Gezeigte eine pädagogische Transformation. Inhalte der Welt werden für die Lehr- und Lernsituationen ausgewählt, konzentriert, sequenziert, kurz : sie werden pädagogisch inszeniert.93 Durch das neuzeitliche pädagogische Handeln werde die Welt zur Darstellung gebracht, »wie Herbart im Anschluss an den überlieferten Topos der repraesentatio mundi gesagt hat.«94 Die Welt der Erziehung und Bildung sei daher, so Mollenhauer, stets in die Gesamtkultur »eingeschachtelt«95 und nie autonom. An pädagogischen Artefakten (wie Anschauungsmaterialien für den Unterricht, Spielzeug, Schulgebäuden oder anderen Unterrichtsutensilien),96 dokumentierten pädagogischen Praktiken (wie das Vormachen, 89 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. S. 24. 90 Vgl. Mollenhauer, Klaus (1985) : Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. 2. Auflage. Weinheim und München : Juventa. S. 31. 91 Ebd. S. 52. 92 Vgl. Prange, Klaus (2005) : Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn : Schöningh. 93 Vgl. hierzu auch Hausmann, Gottfried (1959) : Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg : Quelle und Meyer. 94 Prange, Klaus (2007) : Die Lesbarkeit der Welt und die Literalität der Standards. Zur semiotischen Dimension des Lehrens und Lernens. In : Bildungsstandards. Instrumente zur Qualitätssicherung im Bildungswesen. Chancen und Grenzen – Beispiele und Perspektiven. Hrsg. von Dietrich Benner. Paderborn : Schöningh. S. 231–238. S. 234. 95 Mollenhauer, Klaus (1985) : Vergessene Zusammenhänge. S. 39. 96 Vgl. hierzu auch Oelkers, Jürgen (2012) : Die Historizität pädagogischer Gegenstände. In : Zeitschrift für Pädagogik, 58. Beiheft. S. 32–49.
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Unterrichten oder Prüfen)97 oder pädagogischen Dokumenten (wie Schulbüchern oder Lehrplänen, die schon Erich Weniger etwas altertümlich als Austragungsort von Kämpfen »geistiger Mächte«98 bezeichnete) lassen sich die Niederschläge der von Greenblatt beschriebenen kulturellen Austausch- und Verhandlungsprozesse ausfindig machen. Aber auch theoretische Texte der sogenannten pädagogischen Klassiker, die Siegfried Bernfeld ohnehin polemisch als »Dichtung«99 einstufte, lassen sich wie Shakespeares Dramen auf Textspuren kultureller Austauschprozesse und Verhandlungen hin untersuchen.100 In diesem Sinne riet Klaus Mollenhauer, der Greenblatts Arbeiten höchstwahrscheinlich nicht kannte, dazu, »in der erziehungswissenschaftlichen Arbeit Umwege zu gehen, die überlieferten Problemstellungen nicht mehr direkt anzusprechen, sondern – wie im Billardspiel – gleichsam ›über die Bande‹«101 anzuspielen. Ein solches Vorgehen verlange, so Greenblatt, eine »hermeneutische Geduld«102, die Bereitschaft, die direkte Analyse von literarischen oder theoretischen Texten zu suspendieren und sich dem zuzuwenden, was von der Forschung als historischer Kontext behandelt und zuweilen zu einem »dekorativen Schauplatz oder zu einer handlichen, gut ausgeleuchteten Schublade degradiert«103 wurde. 97 Vgl. hierzu Alkemeyer, Thomas (2007) : Lernen und seine Habitusformungen und -umformungen in Bildungspraktiken. In : Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven. Hrsg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas. Weinheim und Basel : Beltz. S. 119–141. Vgl. auch Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 238–250. 98 Weniger, Erich (1971) : Didaktik als Bildungslehre. Teil 1 : Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans [1952]. 9. Auflage. Weinheim : Beltz. S. 22. 99 Bernfeld, Siegfried (1973) : Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung [1925]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 35. 100 In diesem Zusammenhang weist Greenblatts Untersuchung kultureller Austauschprozesse eine gewisse Ähnlichkeit zu der von Quentin Skinner begründeten Cambridge School der neuen Sozialgeschichte der Ideen auf. Denn einen historischen Text zu verstehen, bedeutet für Skinner, ihn in seinem »Gesprächszusammenhang« (Stollberg-Rilinger 2010 : 21) zu betrachten, in dem er sowohl mit anderen Texten als auch Kontexten seiner Zeit stehe. In Anlehnung an die Sprechakttheorie rät Skinner, dass sich ideengeschichtliche Forschung weniger für den propositionalen Gehalt von historischen Texten interessieren, sondern nach ihrer illokutionären Kraft suchen müsse : »[W]e should not study the meanings of the words, but their use« (Skinner 1969 : 37). Skinner sieht, entgegen des Vorwurfes, er untersuche lediglich Wortgefechte, dass Texte durchaus in realgeschichtliche »Handlungszusammenhänge« (Overhoff 2004 : 328) verstrickt sind, Stellung beziehen und Einfluss nehmen wollen. Um diese Handlungsrelevanz eines Textes aber herauszuarbeiten, bedürfe es einer Untersuchung der rhetorischen Konventionen und der Sprache, in der er verfasst ist, es müsse berücksichtigt werden, welcher sozialen Gruppe, Institution oder Disziplin der Autor angehöre, an wen der Text adressiert sei und schließlich auf welche Debatten und Ereignisse er direkt oder indirekt Bezug nehme. 101 Mollenhauer, Klaus (1986) : Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion. Weinheim und München : Juventa. S. 9 [Herv. d. Verf.]. 102 Greenblatt, Stephen (2008) : Hamlet im Fegefeuer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 12. Vgl. auch Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 16. 103 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. S. 125.
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Mollenhauer fordert in diesem Sinne, »kulturtheoretische Analysen in den Kanon pädagogischer Forschung aufzunehmen«104 und hierdurch eine »allmähliche Erweiterung der Problemstellung«105 der Erziehungswissenschaft zu erwirken. Denn : »The notion of culture as text has a further major attraction : it vastly expands the range of objects available to be read and interpreted.«106 Das Pädagogische ist kein Proprium der Pädagogik, denn die Thematisierung pädagogischer Problem- und Fragestellungen lasse sich auch vor und neben ihrer wissenschaftlichen Reflexion ausfindig machen. Indem aber so die Differenz zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten ebenso wie die Opposition von Text und Kontext im Konzept einer rhizomartigen, kulturellen Intertextualität aufgehoben wird, drängt sich vor allem das Problem auf, aus der so entstandenen Fülle von lesbaren Texten eine begründete Auswahl zu treffen : »[O]ut of the vast array of textual traces in a culture, which are the significant ones, either for us or for them, the most worth pursuing ?«107 Foucault rät lakonisch : »Man müsste alles lesen, alles studieren. Anders gesagt, man müsste über das gesamte allgemeine Archiv einer Zeit zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen.«108 Greenblatt glaubt hingegen, dass dieser Lektüreaufwand nicht nur unmöglich, sondern auch frustrierend sei : [W]e cannot rest content with statistical tables, nor are patient enough to tell over a thousand stories, each with its slight variants. The Problem is not only a lack of patience but a sense of hopelessness : after a thousand, there would be another thousand, then another, and it is not at all clear that we would be closer to the understanding we seek. So from the thousands, we seize upon a handful of arresting figures who seem to contain within themselves much of what we need, who both reward intense, individual attention and promise access to lager cultural patterns.109
104 Mollenhauer, Klaus (1986) : Umwege. S. 10. – Micha Brumlik, ein Schüler von Mollenhauer und inzwischen selbst emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft, schloss an diese Überlegungen an, als er die Grundrisse einer Erziehungswissenschaft beschrieb, die sich als kritische Kulturwissenschaft begreifen will. Vgl. hierzu Brumlik, Micha (2006) : ›Kultur‹ ist das Thema. Pädagogik als kritische Kulturwissenschaft. In : Zeitschrift für Pädagogik, 52. Jg. Heft 1. S. 60–68. Vgl. hierzu auch Friebertshäuser, Barbara (2007) : Erziehung als Initiation in eine Kultur ? Zum Programm einer Erziehungswissenschaft als kritische Kulturwissenschaft. In : Erziehung – Ethik – Erinnerung. Pädagogische Aufklärung als intellektuelle Herausforderung. Micha Brumlik zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Sabine Andresen. Weinheim und Basel : Beltz. S. 134–148. 105 Ebd. S. 11. 106 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 9. 107 Ebd. S. 15. 108 Foucault, Michel (2009) : Michel Foucault, ›Die Ordnung der Dinge‹. In : Die Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Petra Gehring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 15–22. S. 17. 109 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago und London : Chicago University Press. S. 6.
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Das Problem besteht also darin, aus der so entstandenen Fülle von lesbaren, synchronen Texten für die historiographische Darstellung eine begründete Auswahl zu treffen. Der selektive, reflexive und narrative Darstellungsstil in den Studien des New Historicism zeichnet sich nun gerade dadurch aus, dass aus dieser Fülle von Texten solche herausgegriffen werden, die zumindest einen partiellen Eindruck von der kulturellen Intertextualität und der Zirkulation sozialer Energien versprechen. Durch dieses selektive Vorgehen soll die Geschichtsschreibung nicht beliebig werden, sondern sich reflexiv und kritisch auf die Artifizialität ihrer eigenen historiographischen Setzungen, auf die Standort- und Zeitpunktgebundenheit der Betrachtungs- und Darstellungsweise sowie die Geschichtlichkeit der eigenen Geschichtsschreibung besinnen. »Es gibt keinerlei Garantie«, schreibt Greenblatt, »daß, was unter einer Konstellation von kontigenten Umständen progressiv anmutet, unter einer anderen nicht reaktionär scheinen wird.«110 Der New Historicism ist sich dieser doppelten Historizität nicht nur bewusst – Louis Montrose spricht explizit von der »Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität der Geschichte«111 –, er betont eigens, dass die Ordnungsarbeit, die aus jener Fülle historischer Daten Geschichte macht, sich durch »Mut zur Auswahl«112 und eine »Kunst der Darstellung«113 auszeichne. Herwig Blankertz urteilte über Detlef K. Müllers Buch zu Sozialstruktur und Schulsystem aus dem Jahr 1977, dass es freilich einen wichtigen Beitrag zur Neuorientierung der Schulgeschichtsschreibung darstelle, grundsätzlich aber ein »unkommunikatives Buch« sei, »welches dem Leser zwar eine immense Fundgrube von Einzelaspekten darbiete, aber das in ihm enthaltene Daten- und Tabellenarsenal nicht einmal annährend ausschöpft.«114 Es sei eine Einführung in Teilaspekte und Themen der Schulgeschichtsforschung, aber keine Geschichte der Schule wie Friedrich Paulsens Geschichte des gelehrten Unterrichts. Denn »Paulsen ›erzählte‹, d.h. der Leser hatte nach der Lektüre von 192 Seiten den Zusammenhang einer kulturellen und pädagogischen Entwicklung im Bewußtsein.«115
110 Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. S. 11. 111 Montrose, Louis (2001) : Die Renaissance behaupten. Die Poetik und Politik der Kultur. In : New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. 2. Auflage. Hrsg. von Moritz Baßler. Tübingen und Basel : Francke. S. 60–93. S. 67. Vgl. auch Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. S. 15. 112 Baßler, Moritz (2001) : Einleitung. S. 18. 113 Ebd. 114 Blankertz, Herwig (1983) : Geschichte der Pädagogik und Narrativität. In : Zeitschrift für Pädagogik, 29. Jg. Heft 1. S. 1–9. S. 3. 115 Ebd. – Den Zusammenhang einer kulturellen und pädagogischen Entwicklung, den Blankertz nach der Lektüre von Paulsens Geschichte des gelehrten Unterrichts beim Leser vermutet, würde Greenblatt vermutlich als einen Zusammenhang relativieren wollen, um der hier unausgesprochen gebliebenen Prämisse zu entgehen, dass es nur diesen einen von Paulsen dargestellten Zusammenhang von pädagogischen und kulturellen Entwicklungen gebe.
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Greenblatt ›erzählt‹ Geschichten, schreibt aber keine »erbauliche[n] Geschichten von wohlmeinenden Männern, tapferen Frauen und armen Kindern«116, die, so beklagt sich Bernd Zymek, lieber gehört und gelesen würden, als seine Tabellen und Zahlenreihen, die er mühevoll zusammengestellt habe und die nach seiner Überzeugung ein treffenderes – ein (sozial-)wissenschaftlicheres – Bild der Erziehungsgeschichte bieten. Greenblatt und der New Historicism sind aber weit davon entfernt, durch ihre Geschichtsschreibung eine Art »säkularer Theodizee«117 oder eine »Verherrlichung«118 von Autoren und Praktiken zu betreiben, sondern stellen die ungelösten Konflikte, die Widersprüche und die Peripherie sowie die ideologischen und materiellen Produktionsbedingungen in den Vordergrund ihrer Untersuchungen. Greenblatt interessiert sich nicht für »das abstrakte Universale, sondern für konkrete, kontingente Fälle«119. Damit wird weder einem partikularisierenden Relativismus das Wort geredet, noch eine auf willkürlichen Assoziationen beruhende Geschichtsschreibung begründet. Im Gegenteil, es geht um die Darstellung von nachweisbaren Beziehungen zwischen umfassenden historischen Prozessen und relativ unbedeutenden, örtlich und zeitlich beschränkten Ketten von Ereignissen, ohne dabei aber ihren idiosynkratischen Charakter zu tilgen, bloß das Allgemeine im Besonderen wiederzuentdecken. Insbesondere die historische Erzählform der Anekdote wird diesem Anspruch gerecht, da sie in ihrer Eigentümlichkeit sich der Vereinnahmung durch Metanarrative entziehe und hierdurch »a sense of archival and interpretive inexhaustibility«120 bewusst halte sowie durch ihre historische Authentizität – die nicht in der Authentizität des berichteten Ereignisses begründet sei, sondern vielmehr in dem Umstand, dass sie zu ihrer Zeit erzählt wurde – einen Eindruck von der Andersartigkeit der untersuchten Kultur illustriere. Anekdoten, outlandish and irregular ones held out the best hope for preserving the radical strangeness of the past by gathering heterogeneous elements – seemingly ephemeral details, overlooked anomalies, suppressed anachronisms – into an ensemble where ground and figure, ‘history’ and ‘text’ continually shifted.121
Die narrative Verknüpfung dieser Anekdoten mit dem zu kontextualisierenden Quellenmaterial könne ungeahnte Ergebnisse zutage fördern. »It can suggest hidden links between high cultural text apparently detached form any direct engagement with their immediate surroundings, and texts very much in and of their world, such as documents of social con116 Zymek, Bernd (2010) : Die Zehngebote und das Dilemma der Adressaten. In : Zeitschrift für pädagogische Historiographie, 16. Jg. Heft 1. S. 40–41. S. 40 f. 117 Greenblatt, Stephen (1995) : Schmutzige Riten. S. 12. 118 Ebd. 119 Ebd. S. 10. 120 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 15. 121 Ebd. S. 51.
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trol or political subversion.«122 Beispielsweise erzählt Greenblatt in einer Studie zu Shakespeares Komödie Twelfth Night, or What you will – dessen Titel auf die Epiphaniasnacht als Abschluss der zwölf Rauhnächte und damit auf den Beginn der mit Maskenspielen gefeierten Karnevalszeit hinweist – die Anekdote von der Demaskierung und Verurteilung einer Transvestitin in der Nähe des französischen Ortes Chaumont-en-Bassigni um 1580, die Montaigne laut seines Reisetagebuchs erzählt wurde. Solche Anekdoten gehören, so Greenblatt, »zu den schattenhaften Geschichten, die in den Stücken verborgen ihr Unwesen treiben und immer dann aufscheinen, wenn die Handlung sich auf ein potentielles Dilemma oder eine Auflösung zu bewegt, die dann doch wieder verworfen wird.«123 Mollenhauer, der wie gesagt Greenblatts Arbeiten höchstwahrscheinlich nicht kannte, erhoffte sich ebenfalls von der »Verknüpfung des pädagogischen Interesses mit den Materialien unserer Kultur«124 eine Erweiterung der pädagogischen Forschung. Er erklärt, dass obwohl Kafkas Brief an seinen Vater, Augustinus Confessiones, die Szenen der niederländischen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts, Karl Philipp Moritz’ Autobiographie, van Goghs Selbstbildnisse oder Elias Canettis Bericht über seine Kindheit keine erziehungs- oder bildungstheoretischen Abhandlungen seien, in ihnen jedoch pädagogische Erfahrungen und Geschichten aufgehoben seien,125 die einen flüchtigen Einblick in die jeweilige Kultur versprechen sowie die (Dis-)Kontinuität pädagogischer Problem- und Fragestellungen erfahrbar machen können.126
122 Ebd. S. 10. 123 Greenblatt, Stephen (1993) : Verhandlungen mit Shakespeare. S. 89. 124 Mollenhauer, Klaus (1986) : Umwege. S. 11 [Herv. d. Verf.]. 125 Vgl. Mollenhauer, Klaus (1993) : Konjekturen und Konstruktionen. Welche ›Wirklichkeit‹ der Bildung referieren Dokumente der Kunstgeschichte ? – Eine bildungstheoretische Reflexion im Anschluß an Svetlana Alpers. In : Pädagogik und Geschichte. Pädagogische Historiographie zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Konstruktion. Hrsg. von Dieter Lenzen. Weinheim : Deutscher Studien Verlag. S. 25–42. Vgl. hierzu auch Baacke, Dieter (1993) : Ausschnitt und Ganzes. Theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichten. In : Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. Hrsg. von Dieter Baacke und Theodor Schulze. Weinheim und München : Juventa. S. 87–125. 126 Obgleich der New Historicism als kulturhistorischer Forschungsansatz das Anliegen verfolgt, Dokumente, Artefakte und Praktiken in ihrem synchronen, historischen Bedeutungsgewebe verstehen zu wollen, relativiert Greenblatt aber die historistische Forderung, »die Vergangenheit nicht in Beziehung zur Gegenwart zu setzen« (Greenblatt 1995 : 12). Eine gleichgültige Haltung zur Gegenwart scheint ihm nicht nur unmöglich zu sein, sondern die Analyse der Vergangenheit entfalte zugleich eine entfremdende Wirkung auf die Wahrnehmung der Gegenwart. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht lohnt es sich daher im Anschluss an Greenblatts Ungehorsam gegenüber dem Historismus, die vermeintlichen Gefahren »of dealing ‘educationally’ with the past« (Depaepe 2010 : 32) willentlich und überlegt in Kauf zu nehmen, gegen Marc Depaepes viertes Gebot »of Good Practices in History of Education Research« (Depaepe 2010 : 31) zu verstoßen, um das pädagogische Problembewusstsein nicht gänzlich einem ahistorischen Präsentismus oder einem von der pädagogischen Forschung entkoppelten Historismus zu opfern.
Zum Stand der Forschung
Im Anschluss an den Forschungsstil127 des New Historicism wird im Folgenden keine konsistente Geschichte der Theater- oder Schauspielschulen geschrieben, obgleich die Forderung, Planung und Einrichtung solcher Schulen im Zusammenhang mit der Institutionalisierung des deutschsprachigen Literatur- und Bildungstheaters, der Herausbildung des gewerblichen Berufstheaters sowie der Etablierung der Schauspielkunst in Deutschland dargestellt wird. Denn bei Theaterschulen im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland handelt es sich um lokal und zeitlich sehr begrenzte Erscheinungen. Diesem Umstand lässt sich gerecht werden, indem sie als Anekdoten, als »Mikrogeschichten des Theaters«128 erfasst und in Beziehung zu zeitgenössischen pädagogischen Diskursen gesetzt werden, um so kulturelle Austauschprozesse und Verhandlungen zwischen den vermeintlich getrennten Bereichen der Pädagogik und des Theaters hervorzuheben und einen Beitrag zur Kulturund Theoriegeschichte der ästhetischen Erziehung und Bildung zu liefern. Überdeutlich wird diese wechselseitige Bezugnahme – so viel sei an dieser Stelle schon einmal gesagt – an einer Wendung von Johann Gotthelf Lindner, der als Rektor der Domschule zu Riga auch kurzzeitig Mentor und Vorgesetzter von Johann Gottfried Herder war. Er schreibt in der Vorrede zu seiner Sammlung von Schultheaterstücken einleitend, dass wenn »die Bühne eine Schule des Geschmackes sowohl als der Sitten, und ein Spiegel des Lebens sey, welchen Namen ihr schon die Alten nachdrücklich gaben ; so muß die Schule eine Bühne des Witzes, der Tugenden und des Wohlstandes seyn.«129
3 Zum Stand der Forschung : Über Nicht-Beziehungen und Desiderate Klaus Mollenhauer wurde nicht müde, Dietrich Benner immer wieder vorzuhalten, dass er in seiner Allgemeinen Pädagogik130 die Dimension des Ästhetischen und den Gegen127 Mit dem Begriff des Forschungsstils wird von Vertretern der Grounded Theory hervorgehoben, dass nach deren Verständnis von qualitativer Sozialforschung die Arbeitsschritte der Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung keine voneinander getrennten Arbeitsphasen darstellten und die Forschungsergebnisse nicht zuletzt auch der Kreativität und Kompetenz der jeweiligen Forscher geschuldet seien. Daher lasse sich das methodische Verfahren der Grounded Theory eher als Stil oder Haltung beschreiben und sei erst in zweiter Linie eine Methode im engeren Sinne. – Vgl. hierzu Mey, Günter & Mruck, Katja (2007) : Grounded Theory Methodologie – Bemerkungen zu einem prominenten Forschungsstil. In : Historical Social Research Supplement, 19. S. 11–39. 128 Lazardzig, Jan & Tkaczyk, Viktoria & Warstat, Matthias (2012) : Theaterhistoriographie. S. 110. 129 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. Königsberg : Gebh. Ludwig Woltersdorffs Witwe. S. [I f.]. [Herv. d. Verf.]. 130 Vgl. Benner, Dietrich (2005) : Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 5., korrigierte Auflage. Weinheim und München : Juventa. Vgl. hierzu auch Vogt, Jürgen (2002) : Allgemeine Pädagogik, ästhetische Erfahrung und das gute Leben. Rückblick auf die Benner-Mollenhauer-Kontroverse. In : Zeitschrift für kritische Musikpädagogik, 1. Jg. [Sonderedition : Musikpädagogik zwischen Bildungstheorie und Fachdidaktik]. URL : http://home.arcor.de/zfkm/vogt2.pdf (Stand : 18.03.2015).
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standsbereich der Kunst »vergessen«131 habe, sie verkürze und ihre Problemstellungen für die Pädagogik zu »Randnotizen«132 herabschrumpfen ließ. Mollenhauers Kritik an der »Abwesenheit oder nur verstümmelte[n] Anwesenheit der ästhetischen Dimension der Bildung des Menschen«133 lässt sich auch auf die pädagogische Historiographie ausweiten, denn »eine systematische, an Epochen, einzelnen exemplarischen Theoriepositionen oder durchgängigen Modellen orientierte Analyse und Kritik der Theorien und Programmatiken, der Praktiken und Probleme Ästhetischer Bildung gibt es«, urteilen Johannes Bilstein und Jörg Zirfas, »noch nicht.«134 Die zum Teil dicht geschriebenen Handbuchartikel und Aufsätze135 sowie die bisher vorliegenden Bände zur Geschichte der ästhetischen Bildung136 thematisieren zwar die Geschichte der ästhetischen Dimension der Bildung, sie konzentrieren sich dabei aber oft in erster Linie auf eine theorie- und geistesgeschichtliche Rekonstruktion, die kunst- und sozialgeschichtliche Kontexte unberücksichtigt lässt. Einzelne Ausnahmen, die sich auf die bildungsgeschichtlichen Aspekte einzelner Kunstsparten – wie die der Musik und der bildenden Künste – konzentrieren, liegen vor.137 Für das Theater, das Hartmut von Hentig in seinem Bildungsessay noch vollmundig als eines der 131 Mollenhauer, Klaus (1990) : Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie. In : Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik ? Hrsg. von Dieter Lenzen. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 3–17. S. 3. 132 Mollenhauer, Klaus (1990) : Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit. In : Zeitschrift für Pädagogik, 36. Jg. Heft 4. S. 481–494. S. 482. 133 Ebd. 134 Bilstein, Johannes & Zirfas, Jörg (2009) : Bildung und Ästhetik. Eine Einleitung. In : Geschichte der ästhetischen Bildung, Bd. 1 : Antike und Mittelalter. Hrsg. von Jörg Zirfas, Leopold Klepacki, Johannes Bilstein und Eckhart Liebau. Paderborn : Schöningh. S. 7–26. S. 7. 135 Vgl. Bilstein, Johannes & Zirfas, Jörg (2009) : Bildung und Ästhetik. Eine Einleitung. In : Geschichte der ästhetischen Bildung, Bd. 1 : Antike und Mittelalter. Hrsg. von Jörg Zirfas, Leopold Klepacki, Johannes Bilstein und Eckhart Liebau. Paderborn : Schöningh. S. 7–26. Vgl. auch Koch, Lutz (2008) : Ästhetische Bildung. In : Handbuch der Erziehungswissenschaft. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft hrsg. von Gerhard Mertens, Ursula Frost, Winfried Böhm u.a., Bd. 1 : Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Hrsg. von Ursula Frost, Winfried Böhm, Lutz Koch u.a. Paderborn : Schöningh. S. 691–717. Vgl. auch Parmentier, Michael (2004) : Ästhetische Bildung. In : Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Hrsg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers. Weinheim und Basel : Beltz. S. 11–32. Vgl. auch Ehrenspeck, Yvonne (2001) : Stichwort : Ästhetik und Bildung. In : Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4. Jg. Heft 1. S. 5–21. Vgl. auch Franke, Ursula (2000) : Bildung/Erziehung, ästhetische. In : Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u.a. Stuttgart : Metzler. S. 696–727. 136 Vgl. hierzu Zumhof, Tim (2014) : Rezension von : Zirfas, Jörg & Klepacki, Leopold & Lohwasser, Diana (Hg.) (2014) : Geschichte der ästhetischen Bildung, Bd. 3.1 : Aufklärung. Paderborn : Ferdinand Schöningh. In : Erziehungswissenschaftliche Revue, 13. Jg. Nr. 5. URL : http://www.klinkhardt. de/ewr/978350676615.html (Stand : 17.04.2014). 137 Vgl. Richter, Hans-Günther (2005) : Eine Geschichte der ästhetischen Erziehung. Niebüll : Videel. Vgl. auch Ehrenforth, Karl Heinrich (2005) : Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozialund Ideengeschichte in 40 Stationen von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart. Mainz : Schott.
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»machtvollsten Bildungsmittel«138 erklärte, sind merkwürdigerweise nur sehr vereinzelt historiographische Darstellungen zu finden, die es vor dem theoriegeschichtlichen Hintergrund der ästhetischen Erziehung und Bildung thematisieren. Winfried Böhm, der neben seiner Forschung zur Geschichte der Pädagogik139 auch als Librettist und Opernregisseur tätig war,140 schreibt in seinem knappen Beitrag über Das Theater als Bildungsanstalt, dass das Theater in seiner Geschichte nie nur als Bildungsanstalt begriffen wurde, es aber stets auch von einer pädagogischen Intention begleitet und inspiriert wurde.141 Böhm erklärt, dass diese These entweder historisch oder systematisch erläutert werden könne. »An der historisch-systematischen Denkweise der geisteswissenschaftlichen Pädagogik geschult«, fährt er fort, »werde ich beide Zugangsweisen erproben.«142 Hierzu unternimmt er zunächst eine rasante Fahrt durch die Geschichte des europäischen Theaters – von der griechischen Antike, durch das christliche Mittelalter, zum humanistischen Schultheater der Renaissance und der frühen Neuzeit und schließlich vom Theater der Aufklärung mit großen Sprüngen zum epischen, absurden und existentialistischen Theater des frühen 20. Jahrhunderts. »Wir sind nun an dem Punkt angekommen«, schreibt er dann, »an dem wir die historische Perspektive auf unser Theater ausblenden und die andere, nämlich eine systematische Betrachtungsweise, einnehmen können.«143 Den bildungstheoretisch relevanten, systematischen Zusammenhang in der Geschichte des europäischen Theaters sieht Böhm darin, dass das Rollenspiel des Theaters durch seine verzerrte Spiegelung der Welt es ermögliche, aus der naiven Selbstverständlichkeit des gelebten Lebens herauszutreten und dieses distanziert – »sub specie theatri«144 – zu betrachten. Problematisch ist an dieser historisch-systematischen Rekonstruktion aber, dass zum einen die Stationen der europäischen Theatergeschichte willkürlich ausgewählt erscheinen, zum anderen die theaterhistorischen und theaterästhetischen Besonderheiten in der systematisierenden Darstellung gänzlich getilgt werden. Auf dieses Problem weisen Eckart
138 Hentig, Hartmut von (2004) : Bildung. Ein Essay. Weinheim und Basel : Beltz. S. 117. 139 Vgl. Böhm, Winfried (2013) : Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. 4., durchgesehene Auflage. München : Beck. 140 Im Jahr 1988 übersetzte, bearbeitete und inszenierte Winfried Böhm Jean-Jacques Rousseaus Oper Le Devin du Village für die Bayerische Kammeroper Veitshöchheim. Im Jahr 1991 folgte eine Neuinszenierung mit den Bamberger Symphonikern unter Manfred Honeck für das E.T.A.-HoffmannTheater in Bamberg. Böhm verfasste ferner die Libretti für Wilfried Hillers Kirchenopern Augustinus, die am 19. März 2005 in München uraufgeführt wurde, sowie Der Sohn des Zimmermanns, deren konzertante Uraufführung am 16. März 2010 im Würzburger Dom stattfand. – Vgl. hierzu Böhm, Winfried : Biografie. URL : http://www.winfried-boehm.de/biografie_de.html (Stand : 15.04.2015). 141 Vgl. Böhm, Winfried (2010) : Das Theater als Bildungsanstalt. In : Ästhetik und Bildung. Hrsg. von Brigitta Fuchs und Lutz Koch. Würzburg : Ergon. S. 161–173. S. 161. 142 Ebd. S. 161. 143 Ebd. S. 166. 144 Ebd. S. 168.
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Liebau, Leopold Klepacki und Jörg Zirfas in ihrem Buch Theatrale Bildung145 hin und erklären, dass Theaterspielen stets eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen, Eigenheiten, Potentialen und Grenzen »der theatralen Kunst selbst«146 bedeute. »Theatrale Normen, Paradigmen und Regeln sind dabei stets historisch wandelbar und aus diesem Grund immer auch vorläufig. Es gibt nicht das Theater, sondern nur viele mögliche Formen von Theater und von theatraler Darstellung.«147 Liebau, Klepacki und Zirfas ziehen allerdings hieraus den Schluss, dass es unmöglich sei, »sich unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten mit den, das Theater konstituierenden Strukturen begrifflich auseinanderzusetzen.«148 Einleuchtender erscheint aber der Schluss, dass eine wissenschaftliche Erörterung sich zunächst den das Theater konstituierenden Diskursen widmen müsse. Einen bemerkenswerten Ansatz bildet hier die inzwischen in der dritten Auflage erschienene Arbeit Theaterspielen als ästhetische Bildung149 von Ulrike Hentschel, die zwar an einer bildungstheoretischen Fundierung der Theaterpädagogik interessiert ist, hierzu aber »Künstlertheorien«150 des frühen 20. Jahrhunderts auf solche Aussagen hin untersucht, ob und welche ästhetischen Erfahrungspotentiale die Theaterpraktiker dem Akt des Schauspielens zuschreiben. Hentschels Arbeit überzeugt dadurch, dass sie nicht von einem überhistorischen Bildungsauftrag oder potential des Theaters ausgeht, sondern die vermeintlichen Wirkungen des Theaterspiels aus den Debatten um das Theater selbst herausarbeitet. Hierbei weist sie darauf hin, dass für die Rekonstruktion dieser Wirkungshypothesen eine kontextorientierte Betrachtung der »historischen Legitimationsdiskurse«151 des Theaters sinnvoll sei, da die Bestimmung des Theaters als pädagogische Anstalt immer auch auf politische und gesellschaftliche Interessen verweise. Für die Geschichte des Schultheaters in Deutschland gilt nach wie vor Walter Gerlachs Feststellung aus dem Jahr 1915 : »Eine allgemeine Geschichte des Schuldramas be145 Vgl. Liebau, Eckart & Klepacki, Leopold & Zirfas, Jörg (2009) : Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. Weinheim und München : Juventa. 146 Ebd. S. 45. 147 Ebd. 148 Ebd. S. 45 f. 149 Vgl. Hentschel, Ulrike (2010) : Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. 3. Auflage. Berlin, Milow, Strasburg : Schibri. 150 Ulrike Hentschel versteht unter Künstlertheorien »diejenigen Äußerungen von Künstlern […], die entweder implizit in ihren Werken zum Ausdruck kommen oder aber explizit über diese getroffen werden.« Von diesen Künstlertheorien grenzt sie Schauspieltheorien ab, »die sich ihrem Gegenstand mit einem philosophischen, historischen, soziologischen oder psychologischen Interesse nähern« (Hentschel 2010 : 156). 151 Vgl. Hentschel, Ulrike (2005) : Das Theater als moralisch-pädagogische Anstalt ? Zum Wandel der Legitimation von der Pädagogik des Theaters zur Theaterpädagogik. In : Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Hrsg. von Eckart Liebau, Leopold Klepacki, Dieter Linck u.a. Weinheim und München : Juventa. S. 31–52. Vgl. hierzu auch Stănescu, Mirona (2011) : Vom Laientheater zur Theaterpädagogik. Ein historischer Werdegang der Theaterpädagogik in Deutschland. In : Neue Didaktik, 1. Jg. S. 11–29. S. 32.
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sitzen wir noch nicht.«152 Einen kursorischen Überblick findet man jedoch in Aufsätzen Klepackis,153 in theaterhistoriographischen Überblicksdarstellung finden sich zudem einzelne Kapitel zur Geschichte des protestantischen Schultheaters und des katholischen Ordenstheaters,154 ferner liegen etliche regionalgeschichtliche Einzelstudien vor :155 So schrieb beispielsweise Sieglind Stork über Das Theater der Jesuiten in Münster (1588– 1773),156 Frank Pohle legte zum katholischen Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen zwischen 1601 und 1817 eine über tausendseitige Arbeit157 vor und Ingrid Seidenfaden arbeitete zum Jesuitentheater in Konstanz.158 Grundlegend bleibt zum Theater der Jesuiten nach wie vor Willi Flemmings Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge aus dem Jahr 1923.159 Neben Detlef Metz’160 umfassender Darstellung der Entwicklung des protestantischen Schultheaters zur Zeit der Reformation lassen sich wie für das katholische Ordenstheater viele regionalgeschichtliche Einzelstudien finden : Konrad Gajek sammelte und kommentierte Einladungsschriften zu den Schulactus und -komödien an den protestantischen Gymnasien in Breslau im 17. und 18. Jahrhundert.161 Die protestantische Theatertradi152 Gerlach, Walter (1915) : Das Schuldrama des 18. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Jugendliteratur. In : Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, 5. Jg. S. 93–122. S. 93. 153 Vgl. Klepacki, Leopold & Liebau, Eckart (2009) : Hoch gelobt und tief verdammt. Das Theater im Kanon der (Schul-)Künste. In : Standardisierung – Kanonisierung. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen. Hrsg. von Jutta Ecarius und Johannes Bilstein. Wiesbaden : VS Verlag. S. 199–214. Vgl. auch Klepacki, Leopold (2005) : Die Geschichte des Schultheaters in Deutschland. In : Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Hrsg. von Eckart Liebau, Leopold Klepacki, Dieter Linck u.a. Weinheim und München : Beltz Juventa, S. 9–30. 154 Vgl. Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2. Stuttgart : Metzler. S. 358–412. Vgl. auch Kindermann, Heinz (1959) : Theatergeschichte Europas, Bd. 3 : Das Theater der Barockzeit. Salzburg : Otto Müller. S. 408–484. 155 Vgl. hierzu Wimmer, Ruprecht (1983) : Neuere Forschungen zum Jesuitentheater des deutschen Sprachbereichs. Ein Bericht (1945–1982). In : Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, 12. Jg. Heft 4. S. 585–692. 156 Vgl. Stork, Sieglind (2013) : Das Theater der Jesuiten in Münster (1588–1773). Mit Editionen des ›Petrus Telonarius‹ von 1604 und der ›Coena magna‹ von 1632. Münster : Aschendorff. 157 Vgl. Pohle, Frank (2010) : Glauben und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601–1817). Münster : Rhema Verlag. 158 Vgl. Seidenfaden, Ingrid (1963) : Das Jesuitentheater in Konstanz. Grundlagen und Entwicklungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Jesuitentheaters in Deutschland. Stuttgart : Kohlhammer. 159 Vgl. Flemming, Willi (1923) : Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. 160 Vgl. Metz, Detlef (2013) : Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln, Weimar und Wien : Böhlau. 161 Vgl. Gajek, Konrad (1994) : Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen frömlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Konrad Gajek. Tübingen : Niemeyer.
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tion am Zittauer Gymnasium unter der Direktion von Christian Weise betrachtete Konradin Zeller in seiner Arbeit162 aus einer literaturhistorischen Perspektive. Ulrike Wels,163 die sich mit Weises Nachfolger, Gottfried Hoffmann, befasste, verortete die Debatten um das Schultheater vor dem ideengeschichtlichen Kontext des Pietismus. Die Kindertheaterstücke sowie die Stücke für das Schultheater ordnen Theodor Brüggemann und Hans-Heino Ewers in ihrem Handbuch zu Kinder- und Jugendliteratur nach funktionalen und inhaltlichen Kriterien der Gattung »Unterhaltende Schriften für Kinder und Jugendliche«164 zu. Eine prägnante Zusammenschau des deutschsprachigen Kinderund Schultheater sowie der professionellen Kindertheatertruppen bietet Gabriella-Nóra Tars Studie zum Deutschsprachigen Kindertheater in Ungarn im 18. Jahrhundert.165 Studien, die die Entstehung und den Gebrauch dieser Stücke in den sozialgeschichtlichen Kontext der sich wandelnden Familienstruktur und der sich herausbildenden bürgerlichen Kultur im 18. Jahrhundert stellen, haben Ute Dettmer, Carola Cardi und Gunda Mairbäurl vorgelegt.166 Heike Heckelmann gelingt es unter anderem in ihrer Arbeit zum Verhältnis von Schultheater und Reformpädagogik aus dem Jahr 2005,167 die personalen Beziehungen und inhaltlichen Verweise zwischen der philanthropischen Pädagogik und der Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts quellenbasiert und auf die pädagogische Praxis bezogen herauszuarbeiten. Weitgehend unabhängig von dieser Forschung zum Schul-, Kinder- und Jugendtheater fand in der deutschsprachigen Forschung zum Theater des 18. Jahrhunderts in Deutschland in den 1980er und -90er Jahren ein sehr reger Austausch statt, der zu vielen einschlägigen Publikationen führte.168 An dieser Stelle sind insbesondere die Beiträge von 162 Zeller, Konradin (1980) : Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen : Niemeyer. 163 Vgl. Wels, Ulrike (2012) : Gottfried Hoffmann (1658–1712). Eine Studie zum protestantischen Schultheater im Zeitalter des Pietismus. Würzburg : Königshausen und Neumann. 164 Brüggemann, Theodor & Ewers, Hans-Heino (1982) : Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3 : Von 1750 bis 1800. Stuttgart : Metzler. S. 42. 165 Vgl. Tar, Gabriella-Nóra (2012) : Deutschsprachiges Kindertheater in Ungarn im 18. Jahrhundert. Münster : Lit. S. 16–28. 166 Vgl. Dettmar, Ute (2000) : Das Drama der Familienkindheit. Der Anteil des Kinderschauspiels am Familiendrama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München : Fink. Vgl. auch Cardi, Carola (1983) : Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769–1800. Bern : Peter Lang. Vgl. auch Mairbäurl, Gunda (1983) : Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert. München : Oldenbourg. 167 Vgl. Heckelmann, Heike (2005) : Reformpädagogik und Schultheater. Eine Quellenstudie zur reformpädagogischen Internatserziehung seit dem 18. Jahrhundert. Tübingen : Francke. 168 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart : Klett-Cotta. Vgl. auch Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin : Edition Sigma. Vgl. auch Eigenmann, Susanne (1994) : Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin. Hamburger Theater im späten 18. Jahrhundert. Stuttgart : Metzler. Vgl. auch Graf, Ruedi (1992) : Das Theater im Li-
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Erika Fischer-Lichte,169 Reinhart Meyer,170 Wolfgang Bender,171 Alexander Košenina,172 Günther Heeg173 und Peter Heßelmann174 hervorzuheben. Während der Anspruch der Theaterreformer des 18. Jahrhunderts, das Publikum mit den Mitteln des Theaters erziehen zu wollen, wiederholt in der Forschung dargestellt wurde, bildet die Kehrseite – die Erziehung der Schauspieler – bis auf sehr wenige Ausnahmen ein Desiderat in der Forschung. Hilde Haider-Pregler legte bereits 1980 ihre umfangreiche theaterhistorische Arbeit Des sittlichen Bürgers Abendschule175 vor und auch Roland Dressler befasste sich 1993 in seiner Arbeit Von der Schaubühne zur Sittenschule176 mit den pädagogischen Implikationen der Bühnenreformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Der Dokumentationsband von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter zur historischen Theaterpublikumsforschung zeigt, dass Idealvorstellungen vom Publikum geradezu mit »nationalpädagogischem Pathos«177 vorgetragen wurden, Anekdoten über vorbildliches oder undiszipliniertes Zuschauerverhalten einen »didaktischen Hintersinn«178 oder eine »theaterdidaktische Substruktur«179 aufwiesen und die zeitgenössischen Autoren nicht müde wurden, sich in ihren Beiträgen des bekannten »Bildungstopos«180 zu bedienen. Den Einschätzungen, die das Theater als »Schule des teraturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen : Niemeyer. Vgl. auch Maurer-Schmoock, Sybille (1982) : Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen ; Niemeyer. 169 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2 : Vom ›künstlichen‹ zum ›natürlichen‹ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung [1983]. 5., unveränderte Auflage. Tübingen : Narr. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika & Schönert, Jörg (Hg.) (1999) Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen : Wallstein. 170 Vgl. Meyer, Reinhart (2012) : Schriften zur Theater- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Matthias J. Pernerstorfer. Wien : Hollitzer Wissenschaftsverlag. 171 Bender, Wolfgang (Hg.) (1992) : Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart : Franz Steiner Verlag. 172 Vgl. Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen : Niemeyer. 173 Vgl. Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. und Basel : Stroemfeld Nexus. 174 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt a.M.: Klostermann. 175 Vgl. Haider-Pregler, Hilde (1980) : Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien : Jugend und Volk. 176 Vgl. Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin : Hentschel. 177 Korte, Hermann (2014) : ›Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten‹. Die Akteure vor der Bühne in Texten aus Theaterzeitschriften und Kulturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In : »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter. Heidelberg : Winter. S. 9–49. S. 17. 178 Ebd. S. 20. 179 Ebd. S. 33. 180 Ebd. S. 29.
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guten Geschmacks«181 oder als »Schule der Sitten«182 bezeichneten, standen aber auch solche gegenüber, die die Unterhaltung im Theater, die Unterbrechung des Alltags sowie die Intensität der kollektiven Rezeption in den Vordergrund rückten und den »Konnex von Theater, Bildsamkeit und ästhetischer Urteilskraft«183 unberücksichtigt ließen. Dass die Frage nach der Erziehung, Bildung und Ausbildung von Schauspielern sowohl von der theaterhistorischen als auch von der bildungshistorischen Forschung bisher kaum bearbeitet wurde, lässt sich am geringen Umfang der Forschungsliteratur erkennen. Wolf-Dieter Ernst konstatiert, dass die Professionalisierung der Schauspieler »bislang in der Theatergeschichte eher marginal betrachtet«184 wurde : Aus Fritz Assmanns materialreicher, aber inzwischen überholter Dissertation Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert aus dem Jahr 1921 liegt nur noch eine maschinenschriftliche Abschrift – die inzwischen digitalisiert wurde und online abrufbar ist – in der Bibliothek der Universität Greifswald vor.185 Peter Lackners Arbeit zur Schauspielerausbildung an den öffentlichen Theaterschulen der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1985 bietet nur einen gedrängten, lückenhaften Überblick über die Ausbildungskonzepte vor 1900.186 In Peter Simhandls Aufsatz Zur Geschichte der Schauspielerausbildung im deutschsprachigen Raum werden zwar einige schauspielpädagogische Unternehmungen dargestellt, Simhandl verzichtet aber auf jegliche Angabe von Quellen.187 Peter Schmitt befasst sich in seiner sozialgeschichtlichen Arbeit zum Schauspieler und Theaterbetrieb188 in einem Kapitel mit den Ausbildungskonzepten im 18. und 19. Jahrhundert. Auf den Zusammenhang von Reformbestrebungen im deutschsprachigen Theaterwesen, der theoretischen Grundlegung der Schauspielkunst und einer Ausbildung von Schauspielern weist der Theaterhistoriker Manfred Brauneck knapp in seiner mehrbändigen Darstellung der Theatergeschichte Europas hin.189 In Peter Heßelmanns Habilitationsschrift Gereinigtes Theater ? 181 Ebd. S. 34. 182 Ebd. S. 37. 183 Ebd. S. 21. 184 Ernst, Wolf-Dieter (2009) : »… dann wurde zu kleineren Scenen geschritten«. In : Theater und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Stuber und Ulrich Beck. Hildesheim, Zürich und New York : Olms Verlag. S. 95–113. S. 95. 185 Vgl. Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. Greifswald [Dissertation]. URL : http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN855637498/1/ (Stand : 03.07.2016). 186 Vgl. Lackner, Peter (1985) : Schauspielerausbildung an öffentlichen Theaterschulen der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M., Bern und New York : Lang. 187 Vgl. Simhandl, Peter (1989) : ›Brauchbare und nützliche Glieder der bürgerlichen Gesellschaft‹. Zur Geschichte der Schauspielerausbildung im deutschsprachigen Raum. In : Alles Theater ? Schauspieler werden – aber wie ? Hrsg. von Konrad Kuhnt und Gerd Meißner. Reinbek : Rowohlt. S. 98–108. 188 Vgl. Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum. 1700–1900. Tübingen : Niemeyer. S. 111–185. 189 Vgl. Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2. S. 752–755.
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aus dem Jahr 2002 wird in einem Abschnitt auf die Debatte über die Ausbildung von Schauspielern eingegangen, wie sie sich in den Theaterperiodika zwischen 1750 und 1800 finden lässt.190 Im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte wird zwar auf die von den Theaterreformern geforderte Erziehung des Publikums hingewiesen, von einer Erziehung der Schauspieler ist aber nur am Rande die Rede.191 Ein Grund für die unzureichende Forschungslage sieht Antje Tumat darin, »daß das Thema Schauspieler- und Sängerausbildung im Grenzbereich der Disziplinen Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Pädagogik angesiedelt«192 sei. Aus dem zwischen 2008 und 2012 von der DFG geförderten Projekt Vorschrift und Affekt. Die Performanz und diskursive Praxis der Schauspielerausbildung am Modell des Charakter-Schauspielers zwischen 1870–1930 ging unter anderem Wolf-Dieter Ernsts bisher unveröffentlichte Habilitationsschrift über Die Pädagogisierung und Institutionalisierung der Schauspielerausbildung hervor. In ihr konzentriert sich Ernst aber, wie der Titel verrät, auf den Zeitraum zwischen 1870 und 1930. Seine schematische Phaseneinteilung der Geschichte der »Schauspielausbildung«193, die er in einem Aufsatz aus dem Jahr 2012 vorstellt, überzeugt zwar in ihrer heuristischen Identifizierung von Zeiträumen, bleibt aber bei der Charakterisierung dieser Phasen unscharf. Denn indem er die »rhetorische«194, die »subjektzentrierte«195 und die Phase der »Institutionalisierung und Pädagogisierung«196 unterscheidet, impliziert er, dass in der sogenannten rhetorischen und der subjektzentrierten Phase keine Institutionalisierung und Pädagogisierung stattgefunden habe. Das ist missverständlich, denn Autoren der sogenannten subjektzentrierten Phase, in der die Tätigkeit des Schauspielers sich »analog zu der Theorie der Psycho- und Soziogenese des bürgerlichen Subjekts«197 entwickelte, waren sehr wohl an einer lehr- und lernbaren Schauspielkunst sowie an ihrer institutionalisierten Vermittlung interessiert. Lessing verstand nicht nur seine theaterästhetischen Arbeiten als Beiträge zu einer lehr- und lernbaren Schauspielkunst, sondern vertrat auch die Auffassung, dass durch die Einrichtung eines The190 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 296–303. 191 Vgl. Grell, Hans-Jörg (2005) : Theater. In : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2 : 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. Hrsg. von Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann. München : Beck. S. 521–532. 192 Tumat, Antje (2007) : Von Sängern und Schauspielern. Die Angliederung der Darstellenden Künste an das Konservatorium. In : Zwischen bürgerlicher Kultur und Akademie. Zur Professionalisierung der Musikausbildung in Stuttgart. Hrsg. von Joachim Kremer und Dörte Schmidt. Schliengen : Edition Argus. S. 330–343. S. 330. 193 Ernst, Wolf-Dieter (2012) : Subjekte der Zukunft. Die Schauspielschule und die Rhetorik der Institution. In : Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Hrsg. von Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl und Dorothea Volz. Bielefeld : Transcript. S. 159–172. S. 160. 194 Ebd. 195 Ebd. 196 Ebd. 197 Ebd.
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ater-Philanthropins die Qualität des Schauspiels verbessert werden könne. Der Diskurs über die Ausbildung von Schauspielern war ein integraler Bestandteil der Institutionalisierungsprozesse des deutschsprachigen Theaterwesens im 18. und frühen 19. Jahrhundert.
Teil I Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters
Hinter die Bühne muß man ; man muß die Maschinen und die Leitern kennen.1 – Goethe
1 Zit. nach Goethe, Johann Wolfgang (1981) : Begegnungen und Gespräche, Bd. 4 : 1793–1799. Hrsg. von Renate Grumach. Berlin : De Gruyter. S. 103.
1 Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik Mit der Wiederentdeckung der antiken Kultur im Zeitalter der Renaissance, der philologischen Erschließung der antiken Dramen sowie ihrer Besprechung in humanistischen Gelehrtenkreisen und an den Universitäten des 15. und 16. Jahrhunderts stiegen nicht nur die antiken Dramen in den Kanon humanistischer Bildung auf, man verteidigte sie auch gegen die seit Platons Verdikt hervorgebrachten theaterfeindlichen Vorurteile. Von der Aufführung der dramatischen Texte versprach man sich sogar die Schulung der Beredsamkeit und Sittlichkeit sowohl auf Seiten der Laiendarsteller als auch auf Seiten des Publikums. Im Zuge der Reformation wurde dann nach Luthers Zuspruch die Aufführung lateinischer, später auch neulateinischer und deutschsprachiger Dramen zum festen Bestandteil protestantischer Schulordnungen. Auf katholischer Seite perfektionierte der Jesuitenorden die Praxis des katholischen Ordenstheaters und prägte mit den aufwendigen und personalreichen Inszenierungen nachhaltig den Stil des barocken Theaters in Deutschland. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, als die schon im Mittelalter angelegte föderale Struktur Deutschlands nun auch im Westfälischen Frieden vertraglich festgeschrieben wurde, entfaltete sich im Deutschen Reich – einem »doppelten Staat«1, bestehend aus einem übergeordneten Staat, »der den Gesamtstaat bildet, und mehreren untergeordneten Staaten in den einzelnen Gebieten«2 – ein breites Spektrum standes- und konfessionsspezifischer Theaterformen aus. In diesem politischen Gebilde, in dem es eigentlich keine gesamtdeutsche Hauptstadt gab, wohl aber eine Vielfalt von absolutistischen Höfen und bürgerlichen Obrigkeiten in den Stadtrepubliken, erfüllte das Schultheater verschiedene bildungs- und kulturpolitische Aufgaben, diente aber auch der Repräsentation landständischer Macht sowie der Verbreitung konfessioneller Propaganda. Denn die föderale Struktur des Reiches ermöglichte es zwar auf politisch-rechtlicher Basis eine multikonfessionelle Koexistenz zu etablieren – cuius regio, eius religio – und die kriegerischen Eskalationen von Konflikten abzuschaffen, verhinderte aber nicht den anhaltenden »Medienkrieg«3, der mit Flugblättern und Pamphleten geführt wurde und sich auch des Theaters bediente. Durch das Fehlen einer zentralistischen Reichsgewalt verfügten die Territorialstaaten über weitreichende Befugnisse und bauten aufgrund ihrer selbständigen Regierungstätigkeit ihren Behörden- und Verwaltungsapparat zunehmend aus. Der hierdurch erzeugte Bedarf an höher gebildeten Beamten brachte eine Aufwertung der Gelehrtenschicht mit 1 Hugo, Ludolf (2005) : Zur Rechtsstellung der Gebietsherrschaften in Deutschland [De statu regionum Germaniae liber unus, 1661]. Übersetzt von Yvonne Pfannenschmid. Münster : Lit. S. 36. 2 Ebd. 3 Burkhardt, Johannes (2009) : Deutsche Geschichte in der frühen Neuzeit. München : Beck. S. 59.
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sich, ließ aber auch Kritik an einer rein verbalistischen Bildung laut werden. Beredsamkeit4 wurde konfessionsübergreifend als ein wesentlicher Bestandteil des christlich-humanistischen Bildungsideals höherer Schulen erachtet, zu deren Bildung insbesondere das protestantische Schultheater sowie das katholische Ordenstheater spielerisch beitragen sollten. Neben der direkten Belehrung, der Vermittlung religiöser und philologischer Kenntnisse, sollte das Schultheater dazu beitragen, das Gedächtnis und die Aussprache der Schüler zu verbessern, Kühnheit und Ruhe im öffentlichen Vortrag zu erlangen sowie zu einem gewandten und zierlichen Auftreten, einer Gewandtheit des Leibes und Beredsamkeit der Finger anleiten.5 Als Vorbereitung der Schüler auf ihre zukünftige Laufbahn als hohe Beamte und Diplomanten galt es ihnen die Gravität des Schreitens, die Würde des Perücken- und Degentragens, die genau vorgeschriebenen Schnörkelgebärden bei den einzelnen Vorgängen des öffentlichen Lebens und vor allem die beschwingte Effekt-Rhetorik des im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden Barockmenschen6
zu lehren. Die meisten der protestantischen deutschen Dichter des 17. und frühen 18. Jahrhunderts durchliefen diesen Bildungsgang. Da die Ausbildungsstätten der Jesuiten im Dienste der Gegenreformation standen, beabsichtigten sie darüber hinaus, die erforderlichen »Streiter«7 für die Verteidigung des wahren Glaubens, die Widerlegung der Ketzer und die Bekehrung der Abgefallenen auszubilden. Während die Jesuiten ihre Aufführungen in lateinischer Sprache darboten, was ihnen den raschen Austausch von Dramentexten über nationale Grenzen hinweg ermöglichte, wurden an protestantischen Schultheatern auch Dramen deutschsprachiger Autoren aufgeführt. Die für das Schultheater geschriebenen Dramen von Martin Opitz, Andreas Gryphius, Daniel Casper von Lohenstein und Johann Christian Hallmann wurden aber auch an Höfen gespielt sowie für die Wanderbühnen bearbeitet.8 Hierdurch gewann nicht nur ein deutschsprachiges, ästhetisch-anspruchsvolles Literaturtheater zum ersten Mal an 4 Vgl. Ueding, Gert & Steinbrink, Bernd (1994) : Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3. Auflage. Stuttgart : Metzler. S. 86–89. Vgl. auch Robling, Franz-Hubert (2007) : Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg : Meiner. S. 75–90. 5 Vgl. Gillet, Joseph E. (1918) : Über den Zweck des Schuldramas in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. In : The Journal of English and Germanic Philology, 17. Jg. Heft 1. S. 69–78. 6 Kindermann, Heinz (1959) : Theatergeschichte Europas, Bd. 3. S. 413. 7 Meid, Volker (2009) : Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. 1570–1740. München : Beck. S. 53. 8 Vgl. Gajek, Konrad (1994) : Nachwort. In : Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen frömlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Konrad Gajek. Tübingen : Niemeyer. S. 5–46. S. 7 f.
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Kontur, auch die deutsche Sprache selbst avancierte so zu einer hoffähigen Gelehrtensprache. Die Jesuiten hingegen veranstalteten ein »multimediales Theater«9, das sich durch seinen Spektakelcharakter auch für den Lateinunkundigen zugänglich machte sowie für die höfische Repräsentationskultur als anschlussfähig erwies. Als städtische Einrichtung meist ohnehin vom Magistrat unterstützt, genossen katholische Ordensbühnen ebenso wie protestantische Schultheater vielerorts die Unterstützung des regionalen Adels und aristokratischer Mäzene. Da die deutschen Höfe ihre absolutistische Macht und Souveränität durch die Imitation der französischen Hofkultur repräsentierten, ließen sie zu Festen und Zeremonien – wie beispielsweise am Geburtstag des Landesherrn –, nicht selten Aufführungen ansässiger Schultheater veranstalten. Die Aufgabe des Schultheaters beschränkte sich also nicht bloß auf innerschulische Angelegenheiten, rein didaktische oder pädagogische Zwecke. Schultheater wirkten als regelrechte Stadt- oder Hoftheater10 über ihre institutionellen Grenzen hinaus, indem sie als Aushängeschild für die jeweilige Schule oder den Orden warben, ihre Stellung am Hofe festigten und letztlich die vielgestaltige Literatur- und Kulturlandschaft im Reich mitprägten. Den anhaltenden Zorn und Tadel der Geistlichkeit und Obrigkeit zogen weniger diese unter kirchlicher Aufsicht oder in Anwesenheit des Hofes stattfindenden Schauspiele auf sich,11 sondern es war das martialische und burleske Treiben der Komödianten, das zeitweise zur Schließung von Theatern führte – wie beispielsweise zwischen 1642 und 1660 im puritanischen England sowie im Zuge des Pietismus unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. in Preußen. Die englischen Komödianten, die bereits Ende des 16. Jahrhunderts über die Niederlande und Dänemark auch nach Deutschland gekommen waren und mit ihren Wanderbühnen meist in Begleitung von anderen Angehörigen des fahrenden Volks wie Zahn- und Wunderärzten, Barbieren und Spielleuten von Stadt zu Stadt zogen, spielten meist »grobkörnige Bearbeitungen«12 von englischen Dramen und wiedererkennbaren biblischen Stoffen, führten »blutrünstige Staatsaktion[en]«13 auf, die sich vor allem durch eine effektreiche Darbietung von Grausamkeiten und fabelhaften Wesen auszeichneten, und improvisierten immer wieder derbe und komische Szenen während ihres Spiels, 9 Vgl. Bauer, Barbara (1994) : Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In : Renaissance-Poetik. Hrsg. von Heinrich F. Plett. Berlin : De Gruyter. S. 197–240. S. 197. 10 Vgl. Frenzel, Herbert A. (1984) : Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470–1890. 2., durchgesehene und stark erweiterte Auflage. München : dtv. S. 132 f. 11 Gleichwohl wurde auch die Praxis des Schultheaters nicht unkritisch beäugt : Der Rat der Stadt Breslau besuchte die Proben des hiesigen Schultheaters, verlangte Mitsprache bei der Regie, drohte mit dem Entzug der Spielerlaubnis bei Zuwiderhandeln und bestellte Inspektoren ein, die darüber wachen sollten, ob die Vorgaben des Rates eingehalten und das eingenommene Geld sorgsam verwaltet wurde (Wild 2003 : 167–172). – Vgl. auch Gajek, Konrad (1994) : Nachwort. In : Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Konrad Gajek. Tübingen : Niemeyer. S. 1–46. S. 13–15. 12 Kindermann, Heinz (1959) : Theatergeschichte Europas, Bd. 3. S. 400. 13 Ebd. S. 401.
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um das Publikum bei Laune zu halten. Die Fülle ihres Repertoires, ihre Mobilität sowie ihr Stegreifspiel ermöglichten es ihnen, sich stets den lokalen Gegebenheiten und dem Geschmack des Publikums anzupassen.14 Der personifizierte Ausdruck dieser Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit war die »lustige Person«,15 der Pickelhering, der eine zentrale Stellung in den Aufführungen sowie im Ensemble der englischen Komödianten einnahm. Ihr Spiel erfreute sich großer Beliebtheit beim Publikum, weil es sich so sehr vom deklamierenden Amateurtheater deutscher Schulbühnen unterschied. Dass sie anfangs der deutschen Sprache nicht mächtig waren, tat der Attraktivität ihres Spiels offensichtlich keinen Abbruch, wie zeitgenössische Quellen belegen.16 Insbesondere auf die akademische Jugend übten die englischen Komödianten eine anhaltende Anziehungskraft aus. Vermehrt schlossen sie sich den umherziehenden Truppen an oder gründeten nach ihrem Vorbild eigene Schauspieltruppen. Die prominenteste unter ihnen wurde von einem Prinzipal angeführt, der seinen akademischen Grad im Namen trug : Johannes Velten, genannt : Magister Velten.17 »Was war denn indessen aus den protestantischen, was aus den katholischen Schulkomödien geworden ?«18, fragte Eduard Devrient etwas betrübt in seiner Geschichte der 14 Vgl. Haeckel, Ralf (2004) : Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung in die Ursprünge des deutschen Berufsschauspiels. Heidelberg : Universitätsverlag. S. 43–48. 15 Vgl. Meyer, Reinhart (1990) : Hanswurst und Harlekin oder : Der Narr als Gattungsschöpfer. Versuch einer Analyse des komischen Spiels in den Staatsaktionen des Musik- und Sprechtheaters im 17. und 18. Jahrhundert. In : Théâtre, nation & société en Allemagne au XVIIIe siècle. Hrsg. von Roland Krebs und Jean-Marie Valentin. Nancy : Presses Universitaires de Nancy. S. 13–39. Vgl. auch Asper, Helmut G. (1998) : Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten : Verlag Lechte. S. 5–34. 16 In seinem Reisebericht aus dem Jahr 1617 erwähnt der Brite Fynes Moryson (1566–1630) eine Truppe von englischen Komödianten, die in Frankfurt vor einem deutschsprachigen Publikum aufgetreten ist : »So as I remember that when some of our cast dispised Stage players came out of England into Germany, and played at Franckford in the tyme of the Mart, having nether a Complete number of Actours, nor any good Apparell, nor any ornament of the Stage, yet the Germans, not understanding a worde they sayde, both men and wemen, flocked wonderfully to see theire gesture and Action, rather then heare them, speaking English which they understoode not […].« (Moryson 1967 : 304). – Auch die Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich hebt in einem Brief an ihren Bruder Ferdinand aus dem Jahr 1608 hervor, dass das Alleinstellungsmerkmal der englischen Komödianten, die im Rahmen von Fastnachtsfeierlichkeiten in Graz auftraten, ihr schauspielerisches Agieren war. Deutlich hebt sie es vom unverständlichen und auslegungsbedürftigen Theater der Jesuiten ab : »[G]estern haben die patreß wider ein Comedi gehabt von lauter vollen leuten, was eines alleß ohn hebt, wann eins voll ist. E. L. [Euer Liebden] sag halt dem offenheimer [Eustachius von Offenheim, Ferdinands ältester Kammerdiener], es wer ein rechte Comedi für in gewest, er het mir alß auslegn miessen, was bedeut hat. umb 5 sein mir naher wider zu dem essen gangen und haben die Engellender wider ein Comedi gehalten von dem reichen mann und von dem lazaruß : ich khon E. L. nit schreiben, wie schön sy gewest ist, dann khein pissen von puellerey darin gewest ist, sy hat eines recht bewegt, so woll haben sy aggiert ; sy sein gewiß woll zu passiern für guete Comedianten.« (Morris 1974 : 14). 17 Vgl. Ebert, Gerhard (1991) : Der Schauspieler. Geschichte eines Berufes. Berlin : Henschel. S. 144–161. 18 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 225.
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deutschen Schauspielkunst. In Konkurrenz zum sich ausbreitenden Wanderbühnenwesen verlor das Schultheater seine bildungs- und kulturpolitische Bedeutsamkeit,19 obwohl es Gestaltungselemente der Wanderbühnen aufgriff und auch noch bis ins 18. Jahrhundert hinein betrieben wurde.20 Das Theater der Wandertruppen verdrängte zunehmend brauch- und volkstümliche Theaterformen ebenso wie das Laienspiel des Schultheaters. Gelehrte, die dem Theater nicht abgeneigt waren, trauerten weniger dem Schultheater nach, sondern monierten vielmehr die durch die Wandertruppen sich ausbreitende EntRhetorisierung und Ent-Poetisierung des Theaters. Der Leipziger Poetikprofessor Johann Christoph Gottsched sprach abfällig von den »Mißgeburten der Schaubühne«21, weil sie sich keinerlei Poetik oder Rhetorik beugten. Begleitet wurde diese Kritik durch eine Abkehr und zuweilen radikale Revision barocker Kunst- und Theatertheorien22 sowie von einer vom Pietismus angefeuerten theaterfeindlichen Grundstimmung im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts.23 Vor diesem Hintergrund der anhaltenden Kritik am Theater der Wanderbühnen versuchten die Aufklärer das Theater im 18. Jahrhundert zu reformieren und indirekt wieder an die Literarizität, an das rhetorische Bildungsideal sowie an die moralpädagogische Zwecksetzung des Schultheaters anzuschließen.
19 Vgl. Wels, Ulrike (2009) : Die Theaterpraxis am Zittauer Gymnasium im Zeitalter des Pietismus unter Christian Weise (1678–1708) und Gottfried Hoffmann (1708–1712). In : Poet und Praeceptor. Christian Weise (1642–1708) zum 300. Todestag. 2. Internationales Christian-Weise-Symposium 21.–24. Oktober 2008 in Zittau. Tagungsband. Hrsg. von Peter Hesse. Dresden : Neisse. S. 167–187. S. 169. 20 Johann Wolfgang von Goethe erwähnt gleich zu Beginn seines Reiseberichts Italienische Reise die Aufführungen des Jesuitentheaters in Regensburg, denen er dort am 3. September 1786 beiwohnte : »Ich verfügte mich gleich in das Jesuiten-Collegium, wo das jährliche Schauspiel durch Schüler gegeben ward, sah das Ende der Oper und den Anfang des Trauerspiels. Sie machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht schön, fast zu prächtig gekleidet. Auch diese öffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue überzeugt. Sie verschmähten nichts, was irgend wirken konnte, und wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln. Hier ist nicht Klugheit, wie man sie sich in Abstracto denkt, es ist eine Freude an der Sache dabei, ein Mit- und Selbstgenuß, wie er aus dem Gebrauche des Lebens entspringt. Wie diese große geistliche Gesellschaft, Orgelbauer, Bildschnitzer und Vergulder unter sich hat, so sind gewiß auch einige die sich des Theaters mit Kenntnis und Neigung annehmen, und wie durch gefälligen Prunk sich ihre Kirchen auszeichnen, so bemächtigen sich die einsichtigen Männer hier der weltlichen Sinnlichkeit durch ein anständiges Theater« (FA I, 15,1 : 12 f.). Trotz der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773 durch Papst Clemens XIV., die Papst Pius VII. 1804 wieder rückgängig machte, wurde der von den Jesuiten weltweit aufgebaute Kulturbetrieb weder grundsätzlich noch kurzfristig eingestellt. So »wurde unter fürstlicher Ägide weiter Theater und Musik gemacht, meist von denselben Lehrern geleitet, von denselben Lehrern konzipiert und komponiert – allerdings in merklich reduziertem Umfang« (Meyer 1998 : 89). 21 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen [1729]. In : Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Steinmetz. Stuttgart : Reclam. S. 3–11. S. 5. 22 Vgl. Erben, Dietrich (2008) : Die Kunst des Barock. München : Beck. S. 120–124. 23 Vgl. Wild, Christopher (2002) : Die Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit : Der Fall Gottsched. In : Lessing Yearbook, XXXIV. Jg. S. 57–77.
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Emil Riedel behauptet vielleicht ein wenig zu forsch, dass aus »den Schulaufführungen […] sich, kurz gefaßt, das gesamte deutsche Theaterwesen entwickelt«24 habe. Es trifft zwar zu, dass, wie Riedel schreibt, die ersten deutschen Berufsschauspieler Studenten, ihre Prinzipale Schulmeister, ihre Stücke Schulkomödien waren und auch ihr Spiel demjenigen der Schultheater glich. Der Jesuit Adam Contzen empfahl sogar in seiner staatstheoretischen Schrift Politicorum libri decem aus dem Jahr 1629, das jesuitische Konzept des Schultheaters auf das gesamte Theaterwesen zu übertragen, erwerbsmäßiges Theaterspiel zu verbieten, einen sittlichen Lebenswandel der Spieler anzustoßen und das Schauspiel von Frauen einzustellen.25 Aber Vorbilder des professionellen, gewerblichen Theaterwesens in Deutschland waren die englischen Komödiantentruppen gewesen. Auch wenn Riedels Behauptung eher zu bezweifeln ist, hebt sie gleichwohl die nicht zu unterschätzende kultur- und bildungspolitische Bedeutung des Schultheaters noch einmal hervor : Schultheater waren die ersten Theaterschulen in Deutschland. »Es ist das erstemal in Deutschland, daß man sich bemüht den Schauspieler zu erziehen.«26 Im Folgenden sollen deshalb die bildungs- und theatertheoretischen Idealvorstellungen des Jesuitentheaters und des protestantischen Schultheaters exemplarisch an Franz Langs Abhandlung über die Schauspielkunst, dem ersten Lehrbuch der Schauspielkunst, und an Christians Weises Anmerkungen über den Freymüthigen und höflichen Redner herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran wird ein Ausblick gegeben, der zeigt, dass den Schul- und Schaubühnen im 18. Jahrhundert einerseits ein pädagogischer Auftrag erteilt wird und sie in diesem Sinne verschult werden, andererseits das rhetorische Bildungsideal zunehmend skeptisch betrachtet wird, was wiederum mit einer Entschulung des Schultheaters und einem Rückzug des Kindertheaters in den Kreis der Familie einhergeht.
1.1 Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit«27 des Körpers In der Berliner Litteratur- und Theater-Zeitung erschien in der Ausgabe vom 22. Mai 1784 eine kurze Rezensionsnotiz zur Premiere von Friedrich Ludwig Schröders Lustspiel Stille 24 Riedel, Emil (1885) : Schuldrama und Theater. Ein Beitrag zur Theatergeschichte. In : Aus Hamburgs Vergangenheit. Kulturhistorische Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten. Hrsg. von Karl Koppmann. Hamburg, Leipzig : Leopold Voß. S. 181–251. S. 184. 25 Vgl. Martens, Wolfgang (1981) : Obrigkeitliche Sicht : Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6. Hrsg. von Georg Jäger, Alberto Martino und Friedrich Sengle. Tübingen : Niemeyer. S. 19–51. S. 26. 26 Flemming, Willi (1923) : Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 195. 27 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst [1727]. Übersetzt und hrsg. von Alexander Rudin. Bern und München : Francke. S. 163. – Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Wasser sind betrüglich in Wien. Allein der Name Schröder auf dem Anschlagzettel sorgte in Wien für ein volles Haus. Die Vorstellung muss überwältigend gewesen sein, der »Beifall war so unbändig laut«28, dass der Rezensent sich kein Urteil erlauben und die Aufführung am nächsten Tag abwarten wolle. Doch auch nach seinem zweiten Besuch der Vorstellung – die nun noch reicher besucht war – und trotz seiner Kenntnis der dramatischen Vorlage fühlte er sich außer Stande, die Szenenfolge dieser Neubearbeitung wiedergeben zu können und versicherte seinen Lesern, dass er »nach der dritten Vorstellung im Stande seyn [werde], Ihnen den Inhalt und die Folge der Auftritte mitzutheilen.«29 In der Ausgabe vom 3. Juli musste er dann eingestehen, dass er immer noch nicht fähig sei, die Handlung des Stücks wiedergeben zu können, weil seine Aufmerksamkeit sich so sehr an das »Spiel einiger Schauspieler«30 heftete, dass er nicht in der Lage gewesen sei, an die Folge der Szenen zu denken. Erika Fischer-Lichte vermutet, dass es selbst für einen konzentrierten Zuschauer schwierig war, der Handlung einer zeitgenössischen Theateraufführung zu folgen, weil sie nach wie vor in ein zusammenhangsloses Nummernprogramm aus Vor-, Zwischen- und Nachspiel eingebunden war.31 Doch der Rezensent spricht selbst davon, dass es das »Spiel einiger Schauspieler«32 war, das ihn davon ablenkte, der Handlung zu folgen. Der Reiz des Schauspiels lag, so konstatierte Schiller 1782 kritisch, im Spiel der Schauspieler und Schauspielerinnen – beispielsweise wenn Emilia Galotti »so verführerisch jammert, so nachlässig schön dahin sinkt, so voll Delikatesse und Grazie ausröchelt.«33 Die Aufmerksamkeit des Rezensenten richtete sich also nicht darauf, was die Schauspieler darstellten, sondern wie sie es taten, er wurde davon abgelenkt, was die Schauspieler und vielleicht noch mehr was die Schauspielerinnen mit ihren Körpern taten, wie sie ihn verwendeten und präsentierten. Welche »Körpertechniken«34 waren es, die es unmöglich machten, der Handlung zu folgen, das Publikum aber zu Begeisterungsstürmen veranlassten ? Als Körpertechniken Actione Scenica Cum Figuris eandem explicantibus, Et Observationibus quibusdam De Arte Comica. Ingolstadii : Joan Andrea de la Haye. S. 12 : »convenientem totium corporis […] inflexionem«. 28 [Anonym] (1784) : Aus Wien vom 12ten Mai 1784. In : Litteratur- und Theater-Zeitschrift. Für das Jahr 1784, Teil 2, Nr. 21 [Berlin, 22.05.1784]. S. 118–123. S. 122. 29 Ebd. 30 [Anonym] (1784) : Wien vom 12ten Junii d. J. In : Litteratur- und Theater-Zeitschrift. Für das Jahr 1784, Teil 3, Nr. 27 [Berlin, 03.07.1784]. S. 9–12. S. 10. 31 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (1999) : Zur Einleitung. In : Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen : Wallstein. S. 11–20. S. 16. 32 [Anonym] (1784) : Wien vom 12ten Junii d. J. S. 10. 33 Schiller, Friedrich (1992) : Über das gegenwärtige teutsche Theater [1782]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 167–175. S. 169. 34 Mauss, Marcel (1978) : Soziologie und Anthropologie, Bd. 2 : Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person. München : Hanser. S. 200.
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beschrieb der französische Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss Anfang des 20. Jahrhunderts »die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen.«35 Diese Körpertechniken seien »im Leben eines Individuums und in der Geschichte der Gesellschaft mehr oder weniger gewohnheitsmäßig und mehr oder weniger althergebracht.«36 Als Beispiele nennt er das Schwimmen, Graben, Marschieren, Essen, aber auch Techniken der Geburt und Geburtshilfe, des Schlafens, der Körperpflege sowie Kraftakte und Kunstgriffe, die Taschenspielerkunst, die Leichtathletik und Akrobatik. Diese Reihe lässt sich ohne Weiteres um die Schauspielkunst erweitern.37 Ein klarer Blick auf diese Techniken des Körpers lasse sich, wie Mauss sagt, nicht gewinnen, wenn nicht eine drei- oder sogar vierfache Betrachtung vorgenommen werde, die physiologische, soziologische, psychologische und pädagogische Aspekte berücksichtige. Letztere sind deshalb relevant, weil die Tradierung all dieser Körpertechniken sich mehr oder weniger mimetisch vollziehe, durch Vor-, Mit- und Nachmachen. »In allen diesen Elementen der Kunst, sich seines Körpers zu bedienen, dominierten die Einflüsse der Erziehung.«38 Erziehung, so Mauss, sei der Anreiz zur Nachahmung. Sofort haben wir ein neues Untersuchungsfeld : eine riesige Menge unbeobachteter und zu beobachtender Details bilden die Erziehung des Körpers aller Alterstufen und der beiden Geschlechter. […] Es gibt Grund genug, alle Arten von Dressur, Nachahmung und ganz besonders diese grundlegenden Formen zu untersuchen, die man den Lebensstil, den modus, den tonus, den ›Grundstoff‹ (matière), die ›Manieren‹ (manière), die ›Haltung‹ (façon) nennen kann.39
Körpertechniken sind also keineswegs bloß eine Entfaltung oder Entwicklung natürlicher Anlagen, sondern kulturelle Insignien, die sich dem Körper durch Gewohnheit, Übung oder Training eingeschrieben haben.40 Solch eine implizite oder explizite Tradierung von Körpertechniken einer Kultur ist immer schon historischen Wandlungsprozessen, produktiven und kritischen Auseinandersetzungen unterworfen gewesen, die meist dann eintraten, wenn gesellschaftlicher, kulturhistorischer oder technischer Wandel die Traditionen fragwürdig erscheinen ließ.41 Mauss erlebte einen solchen Wandel körpertechnischer Traditionen am eigenen Leib :
35 Ebd. S. 199. 36 Ebd. S. 218. 37 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2010) : Gesten im Theater. S. 211. 38 Mauss, Marcel (1978) : Soziologie und Anthropologie. S. 203. 39 Ebd. S. 209. 40 Vgl. ebd. S. 204. 41 Vgl. Brüggen, Friedhelm (2005) : Tradition. In : Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 2. Hrsg. von Dieter Lenzen. Reinbek : Rowohlt. S. 1528–1532.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Früher lernte man tauchen, nachdem man schwimmen gelernt hatte. Und als man uns tauchen lehrte, lehrte man uns die Augen zu schließen und sie dann im Wasser zu öffnen. Heute ist die Technik genau umgekehrt. Man beginnt die ganze Schulung damit, indem man das Kind daran gewöhnt, sich im Wasser mit offenen Augen zu halten […] Es gibt also eine Technik des Tauchens und eine Technik der Erziehung zum Tauchen, die zu meiner Zeit gefunden worden sind. […] [W]ir haben die Ablösung des Brustschwimmens und des Kopf-über-Wasser-Haltens durch die verschiedenen Arten des crawl beobachtet. Zusätzlich hat man die Gewohntheit aufgegeben, Wasser zu schlucken und es wieder auszuspucken.42
Die Tradierung und Unterweisung, das Üben sowie das eigentliche Praktizieren von Kunst(fertigkeiten), die Körpertechniken der Musik, der Bildhauerei und Malerei blieben bisher Marginalien der Kunstgeschichte. Peter Sloterdijk fordert daher, diesen verborgenen Techniken eine eigene Geschichtsschreibung zu widmen, eine Art zweite Kunstgeschichte.43 Für die Schauspielkunst könnte eine solche Geschichte bei dem Jesuitenpater Franz Lang beginnen. Denn entgegen Johann Friedrich Löwens Behauptung, seine Kurzgefasten Grundsätze über die Beredsamkeit des Leibes seien die ersten dieser Art gewesen,44 waren derartige Prinzipien bereits in Langs bis ins 19. Jahrhundert unbekannt gebliebener Dissertatio de actione scenica vorgestellt worden. Diese Abhandlung war zwar in einem spätbarocken Latein verfasst, aber bereits im Jahr 1727 postum veröffentlicht worden. Ihr sei, so konstatiert Alexander Košenina, »im Zeitalter des Barocks nichts Vergleichbares zur Seite zu stellen.«45 Lang war Rhetorikprofessor am Münchener Jesuitengymnasium,46 das erklärtermaßen als Hoftheater47 fungierte und an dem er zuvor schon als Schüler mit mäßigem Erfolg auf der Bühne gestanden hatte. Als Rhetorikprofessor kam Lang die Aufgabe des Spielleiters, des Choragen zu, dessen Anforderungsprofil Lang selbst darin sah, Dichter, Lateiner, ausgezeichneter Schauspieler sowie vorzüglicher Moralist zu sein – und zwar deshalb, weil er als Spielleiter wissen müsse, »was Affekte sind, woraus sie sich entwickeln, auf welche Weise sie erregt, gesteigert und hingehalten werden müssen.«48 Über eine lebhafte Phantasie, gegebenenfalls Kenntnisse auf den Gebieten der Musik und Malerei sowie über 42 Mauss, Marcel (1978) : Soziologie und Anthropologie. S. 200 f. 43 Vgl. Sloterdijk, Peter (2009) : Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 571. 44 Vgl. Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze über die Beredsamkeit des Leibes. Hamburg : Hertel. S. 1. 45 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 41. 46 Vgl. Rudin, Alexander (1975) : Nachwort. In : Franz Lang. Abhandlung über die Schauspielkunst. Übersetzt und hrsg. von Alexander Rudin. Bern und München : Francke. S. 313–339. S. 313. 47 Vgl. Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne, Bd. 2. S. 360. 48 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 210. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 62 : »[Q]uid sint affectus, unde oriantur, quibusmodis debeant excitari, intendi trahi.«
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handwerkliches Geschick müsse er verfügen. Während Lang Kenntnisse auf dem Gebiet der Musik und Malerei als fakultativ erachtete, sei handwerkliches Geschick seiner Meinung nach aber unerlässlich : Wenn es aber welche gibt (und das sind nicht wenige), die glauben, es sei eines gebildeten Menschen unwürdig, diese handwerklichen Arbeiten zu vollbringen, oder wer meint, es genüge, zu Hause zu sitzen und irgend etwas nach den Regeln der Kunst, die er zu beherrschen glaubt, zusammenzuschreiben, der soll meiner Meinung nach dem Theater Lebewohl sagen und im Athenäum das Katheder drücken ; hier kann er sich mehr Beifall erhoffen als auf der Bühne.49
Theater ist für Lang ein körperliches Geschäft, für die Spieler wie für den Spielleiter. Mit seiner Dissertatio de Actione Scenica legte Lang daher keine kunsttheoretische Abhandlung vor. Eine Schauspielkunst im engeren Sinne gab es im 17. und auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht. Das Theater galt als Schmuck und Ornament von Festlichkeiten. Langs Abhandlung ist vielmehr ein dramaturgisches und körpertechnisches Lehrbuch, das im Geiste der Rhetoriken und der ihnen nachgebildeten Poetiken des 17. Jahrhunderts verfasst wurde und sich an jene wandte, »die sich beruflich mit der Bühne beschäftigen und sich und die Ihren auf dem Theater ausbilden.«50 Ob dieses Regelwerk allerdings auch an anderen Jesuitenbühnen zum Einsatz kam, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Langs Forderung nach einer Mäßigung des szenischen Beiwerks, dem eigentlichen Aushängeschild des Jesuitentheaters, spricht ebenso dagegen wie die Tatsache, dass die von Franz Xaver Kropf verfasste Studienordnung aus dem Jahr 1736 Langs Regelwerk unerwähnt lässt und die Choragen stattdessen auf die rhetorischen Vorschriften in Joseph de Jouvancys Leitfaden Ratio discendi et docendi von 1692 verweist.51 Andererseits lasse sich aus Langs Briefwechsel schließen, dass er »von vielen auch als Berater in all diesen Fragen herangezogen«52 wurde. Langs Abhandlung markiert dessen ungeachtet eine Überwindung des barocken Pomps und pathetischen Zeremoniells zugunsten gemäßigter Ausdrucksformen. Bedeutsam ist Langs Abhandlung über die Schauspielkunst, da er beabsichtigt, ein rohes »Fundament«53 49 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 211. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 63 f.: »Siqui autem sunt, (uti sunt non pauci) qui putent indignum esse homine litterato, his manualibus exerceri, vel qui credat fatìs esse, si domi sessitans conscribat aliquid juxta regulas artis, quam callere se putat, ille ex mea sententia valedicat theatris, & in Athenaeo cathedram pulset ; majorem ibi plausum speret, quàm in Scena.« 50 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 159. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 7 : »qui scenas tractant ex officio, & se suósque exercent in theatris.« 51 Vgl. Rudin, Alexander (1975) : Nachwort. S. 331. 52 Kindermann, Heinz (1959) : Theatergeschichte Europas, Bd. 3. S. 482. 53 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 161. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 10.
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zu legen, auf dem andere eine »Theorie der vollkommenen Schauspielkunst«54 (rudi fundamento absolutae actionis artem) errichten können. Und tatsächlich bietet Langs Grundriss etliche Anschlussstellen, die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wieder aufgegriffen werden, wie beispielsweise die Auseinandersetzung der Schauspielkunst mit den Traditionen der bildenden Kunst, der Malerei sowie der Rhetorik und der mit ihr verbundenen körperlichen Beredsamkeit, der eloquentia corporis.55 Während die klassische Rhetorik noch strikt zwischen Rednern und Schauspielern unterschieden wissen wollte, war diese Trennung seit der Renaissance zunehmend durchlässiger geworden. Auch Lang konstatierte : »Deklamation und Aktion sind beinahe Synonyme«56 (Synonyma ferè sunt Pronuntiatio & Actio). Eine Anleitung zur Schauspielkunst ließ sich aus der klassischen Rhetorik aber nur bedingt gewinnen, denn sie bezog sich lediglich auf die obere »Hälfte des Körpers«57 (corporis portio), die Hälfte, die nicht vom Katheder oder der Kanzel verdeckt wurde. Eine Anleitung zur Schauspielkunst müsse aber von der Beredsamkeit des »ganzen Körpers«58 (totius omnino corporis) handeln. Dementsprechend definierte Lang die Schauspielkunst als »die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen.«59 Die Erregung von Affekten, Gemütsbewegungen und Leidenschaften wurde schon von der klassischen Rhetorik als ein wichtiges rednerisches Überzeugungsmittel angesehen, rückte im 17. Jahrhundert deutlich in den Vordergrund, wurde Gegenstand der Moralistik, der politischen Klugheitslehre sowie der Medizin und galt zugleich als ein äußerst gefährliches Unterfangen. Wie schon Tertullian in der Spätantike Unbehagen angesichts der heftigen »Erschütterung des Geistes«60 äußerte, die durch das Schauspiel hervorgerufen werde, so galten Affekte auch im »Neustoizismus«61 christlicher Prägung, der sich seit der Wende zum 17. Jahrhundert ausbreitete, als unvernünftige Bewegungen der Seele. Allerdings vertraute man ebenso auf die Fähigkeit des Menschen zur Affekt- und Triebregulation und erklärte in aristotelischer Manier, dass »Hertzneigungen«62 – wie das Lie54 Ebd. 55 Vgl. hierzu Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. und Basel : Stroemfeld Nexus. 56 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 204. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 56. 57 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 163. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 11. 58 Ebd. 59 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 163. – Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 12 : »Actionem Scenicam ego è meo sensu convenientem totim corporis vocisque inflexionem appello, ciendis affectibus aptam.« 60 Tertullian (2000) : Über die Spiele. In : Texte zur Theorie des Theaters. Hrsg. und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart : Reclam. S. 534–538. S. 537. 61 Meid, Volker (2009) : Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. S. 58. 62 Schottelelius, Justus Georg (1980) : Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst [1669]. Hrsg. von Jörg Jochen Berns. Bern und München : Francke. S. 129.
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ben, Hassen, Verlangen oder das Verabscheuen, Freude, Trauer, Hoffnung, Verzweiflung, Furcht, Zorn und das sich Vermessen –, weder an sich gut oder böse seien noch gänzlich überwunden werden könnten. Es gelte aber dennoch, sie zu zähmen und tugendfähig zu machen.63 Hieran anschließend verteidigt Lang die Schauspielkunst und behauptet, dass gerade sie durch eine kunstgerechte Darstellung »fromme und nützliche Affekte«64 (pios & utiles affectus) bei den Zuschauern hervorrufen könne. Der Schauspieler sei somit wie der Redner dem Leitbild des vir bonus verpflichtet :65 Der Redner solle nicht Schauspieler werden, sondern der Schauspieler Redner.66 Aber wie wirkt diese »wundersame Kraft«67 (prodigiosam penè vim) der Schauspielkunst nun, die das menschliche Gemüt aufwühlen und besänftigen könne ? Und wie lässt sie sich erlernen ? Es sei die Leidenschaftlichkeit der Darstellung, so Lang, die auf die Sinne der Zuschauer wirke. Die Sinne seien das »Tor der Seele«68 (Sensus enim porta sunt animi), durch welches Erscheinungen in das »Gemach der Affekte«69 (cubile affectuum) einträten und auf einen »Wink des Choragen«70 (ad nutum Choragi) in Erregung geraten. Je stärker, lebhafter und packender ein Affekt (mit Ausnahme der Trauer) auf der Bühne präsentiert werde – ohne freilich in Raserei auszuarten, die Schicklichkeit zu vergessen und die Bühne in ein Narrenhaus zu verwandeln –, desto stärker stelle sich dieser Affekt bei den Zuschauern ein. Vom Schauspieler werde daher verlangt, »durch eine äußere Beherrschung des ganzen Körpers«71 die Affekte, von denen die dramatischen Figuren ergriffen werden, angemessen zu repräsentieren. Mit der Forderung nach einer äußeren Beherrschung des ganzen Körpers, der Bewegung der Glieder, der Stellung des Körpers sowie der Veränderung der Stimme korrespondiert die Vorstellung, dass Affekte an körperlichen Äußerlichkeiten ablesbar und daher als eine allgemeine, überindividuelle Körpersprache beschreibbar seien : Wie der Geist nämlich mittels der Worte spricht, so drückt der Körper durch die Bewegung der Glieder aus, was er empfindet. Deshalb muß sich der Schauspieler darum bemühen, recht zu erkennen, welche Bewegungen, mit denen der Sinn der Worte anschaulich ausgedrückt werden kann, die Natur verlangt. Wenn er ferner seine Bewegungen nach den 63 Vgl. ebd. S. 135. 64 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 161. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 10. 65 Vgl. Robling, Franz-Hubert (2007) : Redner und Rhetorik. S. 147. 66 Vgl. Rudin, Alexander (1975) : Nachwort. S. 326. 67 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 163. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 11. 68 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 200. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 52. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 167. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 16 : »[E]xteriori totius corporis moderatione«.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Regeln einer erlesenen Schauspielkunst gehörig geordnet und es nicht allein bei dem rohen Zwang der Natur belassen hat, kann er durchaus hoffen, eine Darstellung zu bieten, die allen gefällt.72
Die körpertechnische Unterweisung des Schauspielers bestehe also darin, seine »natürliche Geschicklichkeit«73 (naturae habilitas) sowie seine von Natur aus angeborenen Gesten, mit denen ein jeder Mensch seine Rede unterlege,74 von ihren kreatürlichen Unschicklichkeiten zu reinigen, die Schauspieler zu »geschmackvolle[n] Körperbewegungen und ausgesuchte[n] Anordnung der Glieder«75 (elegantes corporum motus, & exquisitae membrorum collocationes) anzuleiten und ihnen eine elegante Nachahmung der Natur beizubringen. Eine solche Veredelung der Natur durch die Regeln der Kunst begründet Lang zum einen mit Blick auf die Geschichte der Künste und Wissenschaften sowie mit einem Hinweis auf die Differenz zwischen alltäglichen und schauspielerischen Körpertechniken. Die mechanischen wie die freien Künste seien, so Lang, ihrem dürftigen Ursprung entkommen, indem ihre Praxis nach langwieriger Beobachtung in Regeln und Vorschriften gefasst worden sei, »mittels derer Neulinge angeleitet werden konnten, ihr Ziel ohne Irrtum zu verfolgen«76 (quibus tyrones ad finem suum absque errore certiùs consequendum dirigerentur). Das gleiche gelte, so behauptet Lang weiter, auch für die Wissenschaften, denn letztlich könne sich jeder Mensch aufgrund seines gesunden Menschenverstandes, seiner Alltagserfahrung oder »natürlichen Einsicht«77 (naturale lumen) über Gegenstände der Wissenschaft auslassen, aber erst die Methodisierung des Denkens begründe »die Form einer vollkommenen Wissenschaft«78 (absolutae scientiae formam). Auch die Schauspielkunst 72 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 202. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 53 : »Sicut enim animus per verba loquitur, ita corpus membrorum agitatione exprimit, quod patitur in sensu. Hinc curandum Actori, ut probè intelligat, quales motus natura requirat, quibus sensum verborum significanter exprimat. Illos deinde si ad exquisitioris actionis regulas, non sistendo in solo rudi naturae dictamine rite composuerit, sperare omnino poterit, gratam omnibus Actionem se exhibiturum.« 73 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 164. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 12. 74 Vgl. Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 166. 75 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 169. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 17 f. 76 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 164. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 13. 77 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 165. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 13. 78 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 165. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 13. – Dietrich Benner unterscheidet das Lehren und Lernen im lebensweltlichen Umgang, das Vor-, Mit- und Nachmachen, von einem wissenschaftlichen Lehren und Lernen, das sich durch eine Umgangsentlastung auszeichne. Erst das Heraustreten aus der Unmittelbarkeit des Umgangs, die Abstraktion vom konkreten Umgang, ermögliche ein anwendungsoffenes
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bedürfe einer solchen Methodisierung, da ihre Körpertechniken vom »gewöhnlichen Gebrauch«79 (communi usu) sehr oft abweichen. Durch seine Methodisierung will Lang die Schauspielkunst aber auch dem Gerede, dem »Hohn und Spott«80 (sales & irrisiones) entziehen. Denn jeder, so beklagt er sich, glaube, »nach seinem Gutdünken die Kunst zu verstehen, und wenn er feststellt, daß etwas seinem Geschmack nicht entspricht, meint er, es sei wider Natur und Kunst hervorgebracht.«81 Um seine Darstellung schauspielerischer Körpertechniken zu legitimieren, fußt Lang sie erstens auf Traditionen der bildenden Künste und Autoritäten der Malerei, zweitens auf den Lehren der Rhetorik, drittens auf seiner eigenen theaterpraktischen Erfahrung, die er »teils an Hand von Beispielen anderer Praktiker, teils durch die Übung und Erfahrung vieler Jahre erlernt«82 habe, sowie viertens auf dem, was er als ›Natur‹ versteht, die vom Schauspieler nachgeahmt werden soll. Ausgangspunkt für die Veredelung der natürlichen Geschicklichkeit sind die körperlichen Grundoperationen des Gehens, Stehens und Sitzens. Die Grundstellung des Körpers auf der Bühne, bei der der eine Fuß von dem anderen schräg abgewinkelt wird, sodass der eine beim Stehen eine beinah gerade Linie, der andere eine schräge Linie aufweist, und die Lang als »Bühnenkreuz«83 (crux scenica) bezeichnet, soll garantieren, dass die Schauspieler stets schräg und sichtbar zum Publikum stehen : Wenn die Schauspieler nämlich so miteinander reden, als sei kein Zuhörer da, und ihre Gesichter und Worte völlig gegeneinander richten, dann wird die Hälfte der Zuschauer des Anblicks jenes Schauspielers beraubt, […] was der Schicklichkeit und dem natürlichen Anstand, vor allem aber der Achtung vor den Zuhörern selbst, widerspricht.84 Lehren und Lernen. Unter Verweis auf Theodor Litt konstatiert Benner allerdings, dass die eine nicht gegen die andere Sphäre ausgespielt werden, sondern lediglich die Differenz zwischen beiden bildungstheoretisch eingeholt werden könne. Bildungsprozesse vollziehen sich nach diesem Verständnis nicht durch das Erreichen eines Ideals einer wissenschaftlichen Vollkommenheit, sondern im Differenzieren und dem Aufeinander-Beziehen der unterschiedlichen Zugänge zur Welt (Benner 2008). 79 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 159. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 7. 80 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 214. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 66. 81 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 214. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 66 : »Quisque secundùm rationem sui dictaminis artem callere se putat, & quidquid suo genio non convenire deprehendit, id contra naturam & artem prolatum existimat.« 82 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 161. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 10 : »[Q]ualia partim aliorum peritorum exemplis, partim proprio studio, & multorum annorum usu atque experentia didici.« 83 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 170. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 21. 84 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 193. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 44 : »Si enim Actores ita inter se loquantur, quasi nemo adsit, qui
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik Abb. 1 [Unbekannter Künstler] (1727): Figura III. In: Lang, Franciscus (1727): Dissertatio De Actione Scenica Cum Figuris eandem explicantibus, Et Observationibus quibusdam De Arte Comica. Ingolstadii: Joan Andrea de la Haye.
Indem Lang das Bühnenkreuz allen Schauspielern als Grundhaltung vorschreibt, unabhängig davon welche Rolle sie spielen, verzichtet er auf eine realistische Darstellung von Körperhaltungen zugunsten einer konsequenten Zuschauerorientierung, die später auch Goethe in seinen Regeln für Schauspieler fordern wird.85 »Das Gesicht und die Augen in ihm sind den Zuschauern zugewandt«, schreibt Lang ; »ihretwegen erfolgt nämlich die ganze Aufführung«86 (Vultus, & in eo oculi obvertuntur ad Spectatores ; propter hos enim tota fit exhibitio). Das Bühnenkreuz erinnert an den Kontrapost in der Bildhauerei der Antike und Renaissance. Das zum Ausgleich gebrachte Wechselspiel von in sich ruhendem und sich auscultet, atque adeò ad se invicem vultus convertant & verba, tunc dimidia pars spectantium privatur Actoris aspectu quem vel à latere solùm, vel penitùs à tergo conspiciunt, quod decoro repugnat, & naturali decentiae, ac imprimis ipsorum Auditorum dignitati.« 85 In den Paragraphen 37, 38 und 39 der Regeln für Schauspieler, in denen Goethe Grundsätze zur Stellung und Bewegung des Körpers auf der Bühne niederlegt, heißt es, dass immer dreiviertel des Gesichtes gegen die Zuschauer gerichtet sein müssen, man nie im Profil spielen solle und der Schauspieler sich stets bewusst sein müsse, dass er »um des Publikums willen da ist« (FA I, 18 : 871). 86 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 190. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 40.
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bewegendem Körper wird hier durch eine Unterscheidung von Standbein und Spielbein verdeutlicht. Eingang fand diese in der bildenden Kunst erprobte Darstellungsform auch in die Porträtmalerei. Lang schließt an diese Tradition an, indem er empfiehlt, dass die Schauspieler im Stand ein Knie leicht anwinkeln sollen. Dies verlange, dass sie das andere Bein durchdrücken, um den Oberkörper so auf diesem aufsitzen und ruhen zu lassen.87 Auch beim Sitzen müsse die Fußstellung wie beim Stehen eingehalten werden. Lang rät deshalb, »auf dem vorderen Rand des Sitzes«88 (in anteriori limbo subsellii) zu hocken, um alle Glieder leichter in die richtige Lage zu bringen. Beim Kniefall solle man darauf achten, dass er mit geordneter Kleidung geschehe, um zu gewährleisten, dass »den Zuschauern nichts in die Augen fällt, das anstößig ist oder die Sittlichkeit verletzt.«89 Frauen, falls sie »notgedrungen auf die Bühne gebracht werden müssen«90 (siquae necessariò adhibendae sint in Scena), sollten bei dieser Geste mit beiden Knien den Boden berühren. Lang fügt seinen Anweisungen mehrere Illustrationen eines unbekannten Künstlers bei, die zur Veranschaulichung der gewünschten und unerwünschten Körperhaltungen dienen sollen. Bei der Darstellung von Körpertechniken, die einer »lebendigen Bewegung des ganzen Körpers«91 (vivam totius corporis) zugrunde liegen und die sich nur unzureichend in der Gestalt eines »leblosen Bildes«92 (mortuae tabulae) einfangen lassen, stößt er allerdings auch auf sprachliche Hindernisse, die auch der Kultursoziologe Richard Sennett bei der sprachlichen Anleitung handwerklicher Verrichtungen beobachtet : Die Sprache kämpft mit der Darstellung physischer Tätigkeiten, und dieser Kampf zeigt sich nirgendwo so deutlich wie dort, wo die Sprache uns sagt, was wir tun sollen. Wer jemals versucht hat, einen Bücherschrank nach der beigefügten Bauanleitung zusammenzubauen, kennt das Problem.93
Langs Anleitung zum »Bühnenschritt«94 (Passus Scenicus), der Art und Weise, wie man auf der Bühne zu gehen habe, ohne den gefälligen Stand des Bühnenkreuzes aufzulösen, verdeutlicht sein Ringen um Verständlichkeit :
87 Vgl. Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 176. 88 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 178. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 27. 89 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 178. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 27 : »[N]equid in oculos incidat spectantium, quod offendat, aut laedat modestiam«. 90 Ebd. 91 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 160. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 8. 92 Ebd. 93 Sennett, Richard (2010) : Handwerk. 2. Auflage. Berlin : BvT. S. 240. 94 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 172. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 20.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Will sich der Schauspieler auf der Bühne von einer Stelle zur anderen begeben und beim Gehen den Fuß vorwärts bewegen, wird er unpassend schreiten, wenn er nicht aus der Stellung heraus, in welcher er stand, zuerst jenen Fuß ein wenig zurückzieht, der dem anderen vorgesetzt war. Zurückgezogen werde also der Fuß, welcher vorne stand, und wieder vorwärts bewegt, aber weiter, als er vorher gestanden hatte. Hierauf folge der zweite Fuß nach und stelle sich vor den ersten : aber der erste, auf daß er nicht zurückbleibe, bewege sich wiederum vor den zweiten. Bei dieser Bewegung denke man jedoch daran, die Füße immer schräg niederzusetzen. Vom ersten Schritt wird folglich in den zweiten übergegangen, von dem in den dritten, von diesem in den vierten. Dann wird stille gestanden, gleichsam als Pause.95
Um die Unverständlichkeit seiner Anleitung offensichtlich wissend, empfiehlt Lang den Spielleitern, um den Bühnenschritt richtig vorführen zu können, »andere ausgezeichnete Schauspieler oder Menschen, die gemäß der Kunst oder einer feinen Lebensart einhergehen und stehen«96 (alios praestantes, aut homines juxta artem, & situm elegantem deambulantes ac stantes), zu beobachten. Hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig sei es, wenn die Schüler die Behändigkeit, Stellung und Bewegung der Füße nach den Grundsätzen der Tanzkunst erlernen würden.97 So berichtet auch der Schauspieler Johann Christian Brandes, dass ein Ballettmeister ihm Unterweisungen in körperlicher Beredsamkeit erteilte : Der Theatermeister […] übernahm meinen Unterricht in der Deklamation ; und der Ballettmeister, welcher auf malerische Gesten, Attitüden, Gruppen und dergleichen sein Augenmerk richtete, erbot sich zu meiner Bildung in der körperlichen Beredsamkeit. […] [Er] unterrichtete mich, meinen Körper mit Anstand zu tragen und Hände und Füße gehörig zu gebrauchen, um dem, was ich zu sagen hätte, Nachdruck und Grazie zu geben. Zum Beispiel ein Drittel des Gesichts müsse allemal gegen den Mitspielenden und zwei Drittel gegen die Zuschauer gerichtet sein ; […] Ich war äußerst lernbegierig, nahm jeden Unter95 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 172 f. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 21 : »Si Actor in theatro à loco in locum movere se vult, & eundo promovere gressum, ineptè progredietur, nisi à situ, in quo stetit, priùs retrahat aliquantùm pedem illum, qui praepositus erat alteri. Retrahatur igitur pes, qui anteriore stetit loco, ac rursum promoveatur, sed longiùs, quàm steterat antea. Succedat deinde pes secundus, praeveniátque pedem primum : sed primus, ut ne segnior sit, iterum se promoveat ante secundum. In quo tamen motu meminerit semper pedes obliquo collocare modo. A primo igitur pede eatur in secundum, ad hoc in tertium, ab isto in quartum. Tunc modicè statur, quasi per pausam.« 96 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 175. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 24. 97 Vgl. hierzu auch Meletaon [Rost, Johann Leonhard] (1713) : Von der Nutzbarkeit des Tanzens. Wie viel selbiges zu einer Galanten und wohlanständigen Condvite bey einem jungen Menschen und Frauenzimmer beytrage ; auch wie man dadurch sowol die Kinder als erwachsene Leute von beederley Geschlechte zur Höflichkeit, Artigkeit und Freymüthigkeit anweisen solle. Frankfurt und Leipzig : J. Albrecht.
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richt voll Vertrauen auf die tiefen Kunsterkenntnisse dieser Männer ohne Widerspruch an und befolgte ihn pünktlich. Welch eine Karikatur aus mir wurde, wird die Folge lehren. […] Ganz anders aber verhielt es sich bei der Vorstellung des Trauerspiels ›Cäsars Tod‹ von Voltaire, worin mir die Rolle des ersten Römers und einem andern, ebenfalls angehenden Schauspieler die des zweiten Römers zugeteilt worden war. […] Voll lebhaften Zutrauens auf meine Kenntnisse betrat ich also die Bühne, und ohne zu bedenken, daß mein Römer nur Bedauern über Cäsars Ermordung äußert […], begann ich, sowie das Stichwort mich zum Reden aufforderte, meine Rolle mit einer Art von Gebrülle im tiefsten Baßtone und mit den grimmigsten Gesichtern, nach des Theatermeisters, und mit allen Hebungen der Arme, Setzungen der Füße und malerischen Attitüden, nach des Ballettmeisters Unterricht zu deklamieren und zu gestikulieren. Mein Mitrömer stand dagegen wie eine Bildsäule, ohne die geringste Bewegung, und quiekte seine Rede in einem Kastratentone her. Dieser abscheuliche Kontrast erregte natürlicherweise das lauteste Gelächter. Der in seinem Blute sich noch wälzende Cäsar – Schönemann – schimpfte und fluchte : ›Daß dich das Wetter ! Sind die Kerle des Teufels ? Haltet doch das Maul, Ihr verdammten kauderwelschen Hunde !‹ usw. Aber wir sahen und hörten nicht vor lauter Angst und Schrecken über das allgemeine Gezisch und Gelächter der Zuschauer ; das Trauerspiel wurde in dem Tone fortgespielt und dann für Hamburgs Bühne auf immer begraben.98
Ebenso wie Brandes ungewollt zum Possenreißer wurde, indem er die Anweisungen des Ballettmeisters geflissentlich befolgte, so räumt auch Lang ein, dass man die von ihm beschriebenen Körpertechniken als »alberne Possenreißerei«99 (Firvolam nugacitatem) missverstehen könne. Er beteuert aber, dass der Bühnenschritt eine »große Wohlgefälligkeit der Schauspielkunst«100 (magnam Actionis gratiam) zum Ausdruck bringe. Als wirksamstes Ausdrucksmittel des Schauspielers erachtet Lang aber das Gesicht, das offene Antlitz, in dem wie auf einer »Tafel geschrieben, die Regungen der Seele zu lesen stehen […]. Ein einziger Lidschlag, auf richtige Art und zur rechten Zeit«, so Lang, »wirkt oft mehr auf das Gefühl, als es der Dichter mit noch so breiter Rede kaum je vermöchte.«101 Blicke sagen mehr als Worte. Die Macht der Blicke war bereits seit langem im Volksglauben verankert gewesen. Die Augen galten nicht nur als empfangende, sondern auch als sendende Organe : »As lovers gaze longingly into one another’s eyes, the spirits, communicating through the aether between, form physical bonds. Corrosive 98 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte [3 Bde.], Bd. 1. Berlin : Friedrich Maurer. S. 168–171. 99 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 173. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 22. 100 Ebd. 101 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 189. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 39 : »[I]n qua, velut in tabula, descripti leguntur affectus animi […]. Unicus saepè nictus, debito modo ac tempore exercitus, plus efficit ad sensum, quàm Poeta fusiori dictione vix efficiat.«
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emanations from ‘the evil eye,’ intensified by hatred and envy, strike down their victims at considerable distance.«102 Wie der Blick aber auf der Bühne zu gebrauchen sei, was der Schauspieler mit seinen Augen machen solle, könne, so Lang, »mit Worten so leicht nicht erklärt werden«103 (tam facile verbis explicari non potest). Er empfiehlt daher, daß jeder sich der Sache mit eigenem Fleiße widme, damit er desto eher richtig entscheide, welchen Ausdruck des Gesichts und der Augen die einzelnen Affekte nach seinem Urteil zu erfordern scheinen. Dazu bilde sich dann ein jeder selbst aus, bevor er sich entweder zur Darstellung oder zur Unterweisung auf die Bühne begibt. Hierzu sage ich jedoch, daß es sehr viel nützen kann, wenn jemand die Bilder erfahrener Maler oder die Skulpturen von Künstlern (vor allem aber erfahrene Schauspieler und auch geistliche Redner) oft und fleißig betrachtet, damit er durch deren Betrachtung die eigene Vorstellung gehörig schule und sich bemühe, die seinem Geist eingeprägten Bilder durch die lebendige Darstellung nachzuahmen.104
Während Lang also abermals mit der Unzulänglichkeit der Sprache kämpft, widmete sich der französische Hofmaler Charles Le Brun dem mimischen Ausdruck von Affekten in seiner Vorlesung Sur l’expression génerale et paticulière, die er an der Académie royale de peinture et de sculpture in Paris – deren Mitbegründer und Direktor er war – vermutlich zwischen 1667 und 1669 hielt und die 1698 postum mit Kupferstichen von Bernard Picart veröffentlicht wurde.105 Erste physiognomische Studien versuchten bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts die Zusammenhänge zwischen Gestik und Mimik sowie ihren seelischen Korrelaten zu ergründen. So wies beispielsweise René Descartes in seiner Abhandlung Les Passions de l’ame sechs ursprüngliche Leidenschaften des Menschen aus – Verwunderung, Traurigkeit, Liebe, Hass, Begehren und Freude – und erläuterte ihre körperlichen Manifestationen. Während er sich hierbei insbesondere für Symptome wie das Erröten, Erblassen, das Wei-
102 Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting. Newark : University of Delaware Press. S. 46. 103 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 191. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 41. 104 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 191. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 41 f.: »[S]ed privata cujuslibet industria in id incumbat necesse est, ut priùs bene consideret, quam faciei & oculorum compositionem singuli affectus suo sibi judicio videantur exigere. Ad eam deinde se ipse conformet, antequam vel ad Actionem, vel ad instructionem in theatrum descendat. Ad hoc tamen aio, plurimùm conducere posse, siquis peritorum pictorum tabulas, vel sculptas artificum statuas (maxime verò peritos Actores, atque etiam Oratores sacros) frequenter, studioseque contempletur, ut earum contemplation propriam phantasiam rite instruat, & sic impressas animo imagines viva quoque actione studeat imitari.« 105 Vgl. Zelle, Carsten (1989) : Physiognomie des Schreckens im achtzehnten Jahrhundert. Zu Johann Casper Lavater und Charles Lebrun. In : Lessing Yearbook, XXI. Jg. S. 89–102. S. 94.
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nen, Lachen, Zittern, Seufzen oder die Ohnmacht interessierte,106 konzentrierte sich Le Brun, der Descartes’ mechanistische und spekulative Physiologie seinen Überlegungen zugrunde legte und versuchte, sie für eine Anleitung zur malerischen Darstellung von Affekten nutzbar zu machen, vornehmlich auf die feineren Veränderungen der menschlichen Gesichtszüge. Le Brun erkannte, dass nicht die Augen – die Lang für den »Sitz der Affekte«107 (sedes affectuum) hält –, sondern die Augenbrauen durch ihre Kontraktionen dem Spiel der Leidenschaften Ausdruck verleihen. Je nach Maßgabe der Leidenschaften, so Le Brun, verändern die Augenbrauen ihre Linienführung und Form. Je nach Gemütszustand bewegen sich die Augenbrauen nach oben und weisen damit in Richtung ›Gehirn‹ oder bewegen sich herab in Richtung ›Herz‹. Während nach oben gerichtete Bewegungen der Augenbrauen auf rational kontrollierte Affekte wie die Verwunderung hinweisen, manifestieren sich ungezügelte Leidenschaften wie der Zorn in nach unten gezogenen Augenbrauen. Da Mund und Nase tiefer liegen als die Augen, seien sie eher beim Ausdruck ungezügelter Affekte beteiligt.108 Eingang finden diese Überlegungen samt ihren Illustrationen in Langs Abhandlung allerdings nicht, obwohl sie, wie Alexander Rudin anmerkt, »gut in die Dissertatio einzufügen gewesen«109 wären. Lang begnügt sich damit, darauf hinzuweisen, dass die Blicke der Schauspieler nicht durch die Zuschauerreihen schweifen sollen und die jeweiligen Gesichtsausdrücke so lange beizubehalten seien, wie es der Dialog verlange. Ergänzend bettet Lang die einem Affekt angemessene mimische Darstellung knapp in eine Gesamtschau einzelner Affekte ein. So schreibt er beispielsweise über den Zorn : [S]obald er zu entbrennen beginnt, solange der Geist seiner selbst noch mächtig ist, zieht man gewöhnlich die Stirn in Falten, preßt die Lippen zusammen, unternimmt jähe Schritte, vollführt häufigere Arm- und Handbewegungen ; die Rede wird erregter, von Zeit zu Zeit unterbrochen und durch eingelegte Pausen entstellt ; dann wirft man wilde Blicke auf die verhaßte Person, wenn sie anwesend ist ; ist sie nicht da, schleudert man ihr bittere Worte gewissermaßen durch die Luft entgegen, gestikuliert heftig, stößt die Finger gegeneinander, knirscht mit den Zähnen und tut anderes dieser Art, worin die Leidenschaft des Zorns sich ausdrückt.110 106 Vgl. Descartes, René (1996) : Über die Leidenschaften der Seele [1649]. Französisch – Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Klaus Hammacher. 2., durchgesehene Auflage. Hamburg : Meiner. S. 109. 107 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 190. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 41. 108 Vgl. Ross, Stephanie (1984) : Painting the Passions : Charles LeBrun’s Conférence sur l’Expression. In : Journal of the History of Ideas, 45. Jg. Heft 1. S. 25–47. S. 30. 109 Rudin, Alexander (1975) : Nachwort. S. 330. – Le Bruns Überlegungen werden aber im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von der Physiognomie wiederentdeckt und seine Illustrationen finden unter anderem Eingang in das anonym erschienene Handbuch zur Seelenmahlerey (1802). 110 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 200 f. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 52 : »Cùm primùm illa gliscere incipit, dum adhuc animus
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Anders als bei der Mimik kann Lang für seine Anweisungen zur Gestik auf die rhetorischen Traditionen seines Ordens zurückgreifen und konsultiert neben Ciceros und Quintilians Schriften auch Abhandlungen seiner Ordensbrüder – wie Jean Voellus’ Generale artificium orationis cuiuscunque componendae longe facilimum (Köln, 1600), Nicolas Caussins Eloquentiae sacrae et humanae parallela libri XVI (Paris, 1619) und Joseph de Jouvancys Ratio discendi et docendi (Paris, 1692). Mit seinen Kollegen teilt er die Auffassung, dass die Chirologie, die Fingersprache, sowie die Chironomie, die Kunst der ausdrucksvollen Handbewegungen, wichtige Bestandteile der Rhetorik seien und betont daher für die Ausbildung der Schauspieler, dass »die größte Mühe auf diejenigen Übung verwandt werden muß, bei welcher die Finger, durch langen und emsigen Fleiß abgerichtet, ihre Aufgabe kunstgerecht erfüllen, die dargestellte Person gehörig kennzeichnen und in ihren Bewegungen immer anmutig wirken.«111 Da die Hand, so Lang, »das vorzüglichste Werkzeug der Schauspielkunst«112 (praecipuum actionis instrumentum) sei, dürfe sie deshalb nicht durch Handschuhe verhüllt, nicht zur Faust geballt oder in der Hosentasche versteckt, nicht unter die Gürtellinie gesenkt und nicht über die Augen hinaus gehoben werden. Unzulässig seien auch obszöne Gesten – er meint vermutlich das »Feige zeigen«113, wobei der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger gerieben wird, und das »lange Nase drehen«114. Ferner sei auch das Fingerschnipsen, das »bäurisch[e]«115 (rusticum) aneinander Klatschen der Hände und das zu weite Spreizen der Finger zu unterlassen. Gesten sollen in erster Linie mit der rechten, niemals allein mit der linken Hand ausgeführt werden. Außerdem erklärt Lang, dass die pantomimische Nachahmung, die »handgreifliche und lächerliche Veranschaulichung«116 (manifesta & ridicula repraesentatione) von Tätigkeiten unnötig sei. Stattdessen greift er auf einen weit verbreiteten, körpersprachlichen Kanon von Gesten zurück. est potens sui, contrahi rugae solent in fronte, comprimi labia, praecipites itiones institui, crebriores brachiorum motus, & manuum agitari ; sermo concitatior, súbinde interruptus, & concisis interstitiis interpolatus formari ; deinde acres intuitus in odiosa persona defigi, si praesens assistat ; si absens, quasi per auram aspera in eandem verba projici, gestus vehementes, collisiones digitorum, stridores dentium excitari, & quae sunt alia hujus generis, quibus Irae passio exprimitur.« 111 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 181. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 31 : »Et in hoc exercitio potissimum Studium locandum moneo, quo digiti per longam sedulámque industriam condocefacti, suum officium pertie faciant, ritéque personam repraesentent, quam agunt, decorè semper operantem in suis actionibus.« 112 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 182. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 32. 113 Pasquinelli, Barbara (2007) : Körpersprache. Gestik, Mimik, Ausdruck. Berlin : Parthas (= Bildlexikon der Kunst, Bd. 15). S. 210. 114 Ebd. S. 222. 115 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 188. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 38. 116 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 186. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 36.
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Der englische Mediziner John Bulwer verfasste zwei Abhandlungen, in denen er beabsichtigte, universell-verständliche, natürliche und jedem Menschen angeborene Gesten, die nicht willentlich erzeugt oder nachgeahmt werden, ausfindig zu machen und aus ihnen rhetorische Konventionen abzuleiten.117 Bekannt geworden sind Bulwers Schriften, Chirologia und Chiromania, die 1644 gemeinsam in einem Band erschienen, für ihre Tafeln mit Illustrationen von verschiedenen Gesten der Hand. Einige von den Gesten, die Lang in seiner Abhandlung lediglich umschreibt, lassen sich hier als Grafiken wiederfinden, wie beispielsweise die Geste der Bewunderung : »Admiror«118. Lang schreibt : »Wir bewundern, indem beide Hände erhoben werden und sich dem oberen Teil der Brust etwas nähern, wobei die Handflächen den Zuschauern zugekehrt werden.«119 Auch das Verschmähen, Flehen (»Supplico«) und Anklagen (»Compello«) beschreibt Lang : 2. Wir verschmähen mit nach links gewandtem Gesicht und stoßen die ausgestreckten und mäßig erhobenen Hände, welche die widrige Sache zurückweisen, zur anderen Seite hin. Dasselbe tun wir mit der rechten allein, die leicht zum Handgelenk eingebogen ist und gleichsam ängstlich durch eine wiederholte Abwehrbewegung verscheucht, was wir verabscheuen. 3. Wir flehen, indem beide Hände mit einander zugekehrten Handflächen entweder erhoben oder gesenkt oder ineinander verschränkt werden. […] 6. Wir machen Vorwürfe mit drei eingebogenen Fingern und dem ausgestreckten Zeigefinger oder dem eingebogenen Mittelfinger und den übrigen drei ausgestreckten oder mit den beiden eingebogenen mittleren Fingern.120
Die Gesten des Leidens oder Trauerns – »Ploro«121 –, bei denen »die Hände kammweise ineinander geflochten und entweder zur oberen Brust oder zum Gürtel gesenkt werden«122, lassen sich auch in Langs Illustrationen wiederfinden. Von einem körper117 Vgl. Roach, Joseph R. (1985) : The Players’s Passion. S. 34. 118 Bulwer, John (1644) : Chirologia or The Natural Language of the Hand. Composed of the Speaking Motions, and Discoursing Gestures thereof. Whereunto is added Chironomia. London : Thomas Harper. S. 151. 119 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 186. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 36 : »Admiramur utraque manu sublata, & ad supremam pectoris partem nonnihil accedente, volam utriusque convertendo ad spectatores.« 120 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 187. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 36 f.: »Aversamur, cùm vultu in sinistrum latus converso, manus extensas, & mediocriter elevatas in oppositam partem coniicimus, rem odiosam repellentes. Idem sacimus unica manu dextra, quae leviter ad carpum incurvata, & quasi suspensa repetito repulsionis motu abigat, quod detestamur. 3. Deprecamur, utraque manu vel sublata, volis ad se invicem conversis ; vel demissa, vel articulatim connexa. […] 6. Exprobramus tribus digitis pressis, & indice explicato : vel presso medio, reliquis tribus explicatis, vel pressis mediis duobus.« 121 Bulwer, John (1644) : Chirologia. S. 151. 122 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 186 f. Vgl. auch Lang, Franciscus
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik Abb. 2 [Unbekannter Künstler] (1644): [Alphabet of natural Gestures of the Hand]. In: Bulwer, John (1644): Chirologia, or, The Naturall Language of the Hand. Composed of the Speaking Motions, and Discoursing Gestures thereof. Whereunto is Added Chiromania: Or, the Art of Manuall Rhetoricke. London: Thomas Harper.
sprachlichen Kanon oder Konsens lässt sich hierbei sprechen, weil gerade diese Gesten, wie die »[v]erschränkte[n] Hände, hängende[n] Arme«123, das Händeringen als Gesten der Trauer, auch in der Kunst- und Literaturgeschichte mehrfach in Erscheinung treten. Dass dieser gestische Kanon eine so weite Verbreitung gefunden hat, darf aber weniger als ein Beweis dafür verstanden werden, dass sie dem Menschen als universale Sprache angeboren sei, sondern eher für die anhaltende und nicht zu unterschätzende Autorität der Rhetorik. Viele der hier beschriebenen Gesten lassen sich bereits bei Quintilian finden. Bemerkenswert ist auf den ersten Blick, dass nach diesen ›mechanisch‹ anmutenden, körpersprachlichen Anweisungen Lang beiläufig darauf hinweist, dass die wichtigste Regel sei, möglichst ›natürlich‹ zu agieren : »Die beste Regel von allen aber ist Natur ohne jede Ziererei und die Nachahmung derer, die wir in dieser Hinsicht ausgezeichnet und lobenswert spielen sehen.«124 Auch beim Bühnenschritt und der Unterweisung durch (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 37 : »[M]anibus inter se pectinatim junctis, iisque vel ad supremum pectus sublatis, vel ad cingulum demissis.« 123 Pasquinelli, Barbara (2007) : Körpersprache. S. 88. 124 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 188. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 39 : »Omnium verò optima regula est natura, omnis expers affectationis, & imitatio eorum, quos hac in re praeclarè & laudabiliter agere videmus.«
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den Tanzmeister solle man sich nicht allzu genau an die Vorschriften halten, um »die Natürlichkeit, welche die beste Lehrmeisterin«125 (naturae […] quae optima est magistra) sei, nicht zu verlieren. ›Natürlichkeit‹ erscheint in diesem Zusammenhang freilich als ein strapazierter Begriff. Lang begründet seine Forderung, dass bei der Darstellung von Affekten die Gesten stets dem Sprechen vorausgehen müssten, damit, dass dieser Leitsatz sich aus der Natur ableiten lasse, erläutert ihn aber am Beispiel eines technischen Geräts – eines Musikinstruments : Man nehme die Natur zum Vorbild. Beim Cembalo werden zuerst die Tasten herabgedrückt, bevor die angerissenen Saiten einen Ton von sich geben. So auch beim Menschen. Die erste Wahrnehmung der Dinge geschieht in der Vorstellung : diese erregt das Gefühl und die Glieder, noch bevor der Verstand arbeitet und den empfundenen Affekt mit Worten darlegt. Diesen natürlichen Vorgang ahme der Schauspieler also nach, so daß er der Rede mit seiner Gebärde zuvorkommt.126
Der US-amerikanische Theaterhistoriker Joseph Roach erklärt, dass »[i]n the universe depicted by Galileo and Newton the words mechanical and natural did indeed become synonyms.«127 Die Kunst, sich seines Körpers zu bedienen, erscheint vor dem Hintergrund des barocken Naturverständnisses lediglich als ein weiteres Feld der Naturbeherrschung. Mit Natürlichkeit bezeichnet Lang also die durch Übung zur ›zweiten Natur‹ gewordenen schauspielerischen Körpertechniken, die eine angemessene Repräsentation der Affekte leisten. Lang geht es ja gerade um die Veredelung natürlicher Anlagen durch die Kunst, die »Rhetorisierung«128 des Schauspielerkörpers. Er erinnert daran, dass die Natur »durchaus nicht allen Jünglingskörpern Behendigkeit«129 gegeben habe, dass die Schüler »durch vielfache Übung in der Praxis an die nötige Beweglichkeit gewöhnt«130 werden müssten. Er betont die Wichtigkeit der »Übung […], bei welcher die Finger durch langen 125 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 175. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 24. 126 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 196. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 47 : »A natura similitudinem. In clavicymbalo asserculi phonotactici primò premuntur, antequam percussae fides edant sonum. Sic in homine. Prima rerum apprehensio fit in phantasia : haec movet sensum, & membra corporis, antequam operetur ratio, affectúmque conceptum expromat verbis. Hunc igitur naturae modum imitetur Actor, ut gestu sermonem praeveniat.« 127 Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. S. 60. 128 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 52 129 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 171. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 20 : »[N]on omnibus omninò adolescentum corporibus agilitatem dedit natura«. 130 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 177. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 26 : »Siquis verò dicta bene perpenderit, & multiplici excercitatione proprium corpus vel alienum ad necessariam illius agilitatem assuefecerit per usum«.
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und emsigen Fleiß abgerichtet«131 werden, und hebt die propädeutischen Funktionen von dialogischen Deklamationsübungen hervor, durch die man sich mit dem Sprechen auf der Bühne vertraut machen könne.132 Die Übungen sollen von den Spielleitern und Schülern gleichermaßen betrieben werden, »bis sie durch eigenes, häufig wiederholtes Bemühen die künstlerische Reife erreichen, um später sicher und furchtlos auf dem Theater zu stehen und zu spielen.«133 Das Üben und Trainieren schauspielerischer Sprech- und Körpertechniken zur angemessenen Repräsentation von Affekten müsse dem Auftritt also notwendigerweise vorausgehen, so wie dem Schwimmen das Schwimmenlernen vorausgehe : »Es ist eine unkluge Leichtfertigkeit, ohne Schwimmgürtel zu schwimmen, ehe man die Arme zu bewegen versteht. Daher rühren so viele theatralische Fehlgeburten, daß allein schon die Erinnerung an diese Ungeheuer mich anwidert. Nichts vor seiner Zeit.«134 Die Wichtigkeit, die Lang der Übung schauspielerischer Körpertechniken beimisst, hängt aber nicht in erster Linie damit zusammen, dass er der Schauspielkunst ein rhetorisches Antlitz verleihen und durch seinen Regelkanon ihre Lehr- und Lernbarkeit garantieren will, sie lässt sich eher auf die besondere Bedeutung des Übens in den Gründungsdokumenten des Jesuitenordens zurückführen. Ignatius von Loyola verfasste neben den Satzungen der Societas Jesu auch einen pädagogischen Leitfaden zur Anleitung Geistlicher Übungen (1548), welche bis heute eine gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion haben : »Erst durch die Exerzitien, die jeder Jesuit zweimal in der vollen, vierwöchigen und sonst jährlich in achttägiger Form macht, wird man Jesuit : Hier erfolgt die entscheidende geistliche Formung, die das ganze Ordensleben prägt.«135 Ebenso wie Langs Handreichung zur Praxis des Jesuitentheaters keine theoretische Abhandlung darstellt und sich als praktischer Leitfaden direkt an die Spielleiter, die Choragen wendet, so ist auch Ignatius’ Handbuch an die Exerzitienmeister adressiert und erweist sich keineswegs als theologische Abhandlung oder Lehrbuch des christlichen Glaubens. Gleichwohl steht die Einübung des christlichen Glaubens und der christlichen Lebensführung im Mittelpunkt. Nicht aber als Belehrung oder Unterweisung, sondern als ein 131 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 181. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 31 : »Et in hoc exercitio potissimum Studium locandum moneo, quo digiti per longam sedulámque industriam condocesacti, suum officium pertie faciant, ritéque personam repraesentent, quam agunt, decorè semper operantem in suis actionibus.« 132 Vgl. Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 216. 133 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 196 f. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 48 : »[D]onec ex privatis & crebrò repetitis actibus habitum artis acquirant, ut securi ac intrepidi postmodum stent & agant in theatro.« 134 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 218. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 70 : »Imprudens temeritas sine cannis natare, prius quam brachia movere noverint. Hinc tot abortus Scenarum, ut meminisse monstrorum pigeat ; Nihil ante tempus.« 135 Mertes, Klaus & Schmidt, Georg (1990) : Der Jesuitenorden heute. Mainz : Matthias Grünewald. S. 75. Zit. nach Prange, Klaus (2008) : Schlüsselwerke der Pädagogik, Bd. 1 : Von Plato bis Hegel. Stuttgart : Kohlhammer. S. 92.
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»Bildungsgang der Sinnlichkeit und Leiblichkeit«136, denn, so schreibt Ignatius, »nicht das Vielwissen sättigt die Seele und leistet ihr Genüge, sondern das innere Fühlen und Verkosten der Dinge.«137 Die geistlichen Übungen umfassen Gebete, Befragungen des Gewissens sowie Meditationen und Kontemplation im Zweitakt von Beschauung und Verinnerlichung unter Anleitung des Exerzitiengebers, welche thematisch nach ›Wochen‹ gegliedert sind und sich stets an den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Übenden orientieren sollen. Sie sind methodisch so aufgebaut, dass sie mithilfe einer streng kontrollierten »Phantasiearbeit«138 und anhand von biblischen Texten und Bildern eine affektive Betroffenheit beim Übenden auslösen sollen. Der Exerzitienmeister fordert den Übenden auf, sich die biblischen Motive, die ihm vorgelegt werden, synästhetisch zu vergegenwärtigen, sie zu erinnern sowie sich mit ihm im Anschluss auf das so Gesehene, Gespürte und Vorgestellte zu besinnen. Anders als beim Üben von Körpertechniken geht es nicht darum, ein konkretes Können zu perfektionieren, sondern bisherige Gewohnheiten aufzubrechen, indem in neuen Erfahrungen alte Erfahrungen umgelernt werden. Die von Ignatius entworfenen Übungen zielen darauf ab, dass der Übende sich auf diese Weise »selbst überwinde und sein Leben ordne, ohne sich dabei durch irgend eine Neigung, die ungeordnet wäre, bestimmen zu lassen.«139 In den inszenierten Erlebnissen und Erfahrungen sollen, christlich gesprochen, Hoffnung und Tröstung, pädagogisch gesprochen, Erfolgserlebnisse und Fortschritte ermöglicht werden. Das Ziel der Exerzitien, Selbstführung als Selbstbeherrschung und Selbstordnung zu ermöglichen, wird methodisch in eine Reihe von Einzelzielen heruntergebrochen und durch ein System von Veranschaulichungen, Inszenierungen und Hilfen unterstützt, die eine stufenweise Progression ermöglichen sollen.140
Auch das Theater der Jesuiten bleibt diesem seelsorgerischen Zweck verbunden. Ignatius’ »Übungsanleitungen des Schauens, Betrachtens und Verinnerlichens von Texten und Bildern sind ein nicht unwesentlicher Grundbaustein für das Verfassen, Inszenieren und 136 Zirfas, Jörg (2011) : Das Verspüren und Verkosten des Heilands. Einverleibung und schöpferische Phantasie bei Ignatius von Loyola. In : Geschichte der Ästhetischen Bildung, Bd. 2 : Frühe Neuzeit. Hrsg. von Leopold Klepacki und Jörg Zirfas. Paderborn : Schöningh. S. 137–149. S. 142. 137 Ignatius von Loyola (1922) : Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Urtext übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alfred Feder S. J. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Regensburg : G. J. Manz. S. 20. 138 Brauneck, Manfred (1993) : Die Welt als Theater. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1. Stuttgart : Metzler. S. 549. 139 Ignatius von Loyola (1922) : Geistliche Übungen. S. 31. 140 Brinkmann, Malte (2008) : Über-sich-selbst-siegen und Sein-Leben-ordnen. Pädagogische Anmerkungen zu Macht, Anthropologie und Didaktik in den Geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola. In : Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Hrsg. von Christiane Thompson und Gabriele Weiß. Bielefeld : Transcript. S. 99–120. S. 109.
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Rezipieren von Bühnenstücken.«141 Auch Lang stellt seine körpertechnischen Anweisungen letztlich in den Dienst der Seelsorge. Da die von ihm beschriebenen regelgemäßen, körpertechnisch erzeugten Repräsentationen von Affekten, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch im höfischen Umgang Geltung beanspruchen, nicht als spontane Regungen, sondern als vom Willen des hervorbringenden Subjekts abhängige Akte aufgefasst werden, gelten sie als mehr oder weniger verlässliche Anzeichen eines selbstbeherrschten Subjekts. Die kontrapostisch ausgerichtete Körperstellung, die nach Konventionen durchgeführten Gesten sowie die gemäßigte, aber eindeutige Mimik werden auf der Bühne wie im höfischen Umgang als angemessene Repräsentation eines Ichs verstanden, das sich vor anderen in seiner Bedeutsamkeit adäquat zur Geltung bringen kann und von keinen ungeordneten Neigungen regiert werde. Die Einübung der Körpertechniken, die diese Zeichen hervorbringen, lässt sich daher mit dem von Ignatius angestrebtem Ziel in Einklang bringen, den Übenden dazu zu befähigen, über sich selbst zu siegen. Die willentliche Bemeisterung des körperlichen Äußeren verweise, so Descartes, auf eine starke Seele : »Denn zweifellos haben diejenigen, bei denen der Wille von Natur aus am leichtesten die Leidenschaften besiegt und die sie begleitenden Körperbewegungen anhalten kann, die stärksten Seelen.«142 Sowohl Ignatius’ Exerzitien als auch Langs Anleitung zum Üben schauspielerischer Körpertechniken stellen eine sich wiederholende, methodisch reglementierte sowie leibund selbstbezogene Unterwerfung unter eine Form dar. Im Üben wird nicht nur etwas geübt, sondern man übt gleichsam sich selbst. Das eingeübte Können ist demnach nicht nur ein Ausführen-Können, sondern immer auch ein Sich-Führen-Können.143 Dort, wo diese Selbstbeherrschung aber versage, bei ›schwachen Seelen‹ sowie bei der Raserei und beim Wahnsinn, sei auf der Bühne – und nur dort – erlaubt, »was dem Besonnenen nicht ziemt«144 (quod sanum dedeceat). Wie die Komödianten der Wanderbühnen dürfe der Rasende auf der Bühne mit den Augen rollen, sich auf der Bühne wälzen und die Hände gestikulierend über den Kopf werfen.145 Der Wahnsinn, die »Affektverfallenheit«146, der Verlust der Selbstkontrolle korrespondiert hier mit der Durchbrechung aller Regeln. »Denn 141 Stork, Sieglind (2013) : Das Theater der Jesuiten in Münster (1588–1773). Mit Editionen des ›Petrus Telonarius‹ von 1604 und der ›Coena magna‹ von 1632. Münster : Aschendorff. S. 8. 142 Descartes, René (1996) : Über die Leidenschaften der Seele. S. 81, 83. Vgl. ebd. S. 80, 82 : « Car ceux en qui naturellement la volonté peut le plus aysement vaincre les passions & arrester les mouvemens du corps qui les accompagnent, ont sans doute les ames les plus fortes. » 143 Vgl. Brinkmann, Malte (2008) : Über-sich-selbst-siegen und Sein-Leben-ordnen. S. 99. 144 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 201. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 53. 145 Anders als dem Redner räumt Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) den Komödianten in seiner Teutschen Rhetorika von 1634 eine Narrenfreiheit ein : »Die Comoedianten haben eine hohe Freyheit / so wohl wegen der Stimm / als wegen der Geberden. Die Comoedianten / nach dem sie Personen haben / dürffen ruffen und schreyen / schnauben und toben / gurren und murren / springen und lauffen / welches alles dem Redner verbotten ist« (zit. nach Košenina 1995 : 42). 146 Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2. S. 54.
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in der Befolgung der Regeln zeigt sich die Stärke, in ihrer Missachtung entsprechend die Schwäche eines Ich.«147 Dieses Regelkorsett aber als bloße Unterwerfung zu begreifen, würde übersehen, dass das Subjekt im 17. Jahrhundert auf regelgemäße Techniken der Repräsentation angewiesen ist, da es sich angesichts einer wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Skepsis sowie der bedrückenden Einsicht in die Unbeständigkeit und Endlichkeit des eigenen natürlichen Körpers der Frage ausgesetzt sieht, wo und was das Ich sei : Was ist das Ich ? Kann ich sagen, daß jemand, der sich ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu betrachten, sich dorthin setzt, um mich zu sehen, wenn ich zufällig vorübergehe ? Nein, denn er denkt nicht im besonderen an mich ; aber der, der irgend jemanden liebt, weil er schön ist, liebt er ihn ? Nein, denn die Windpocken, die die Schönheit töten werden, aber nicht den Menschen, werden bewirken, daß er ihn nicht mehr lieben wird. Und wenn man mich wegen meines Urteils oder meines Gedächtnisses schätzt, liebt man mich, mich ? Nein, denn diese Fähigkeit kann ich verlieren, ohne mein Ich zu verlieren. Wo ist also dieses Ich, wenn es weder im Körper noch in der Seele ist ?148
Da der natürliche Körper letztlich bloß auf seine eigene Endlichkeit, nicht aber auf die Idee eines Ichs verweise, bedürfe es körpertechnischer Konstruktionen von Zeichen, die in der Lage seien, die Idee des Ichs angemessen zu repräsentieren.149 Die von Lang beschriebenen Körpertechniken, die neben einer ganzen Reihe von anderen kulturellen Praktiken – wie beispielsweise auch der Kostümierung – zur Repräsentation eines ideellen Ichs herangezogen werden, lassen sich mit Foucault als »Selbstpraktiken«150 beschreiben, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.151
Hinter diesen »Technologien des Selbst«152 verbirgt sich kein heilloser Subjektivismus, sondern, wie die Rekonstruktion von Langs ästhetischen Kriterien einer sittlich ange147 Ebd. 148 Pascal, Blaise (1979) : Gedanken. Eine Auswahl [1669]. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Ewald Wasmuth. Stuttgart : Reclam. S. 88 f. 149 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2. S. 25 f. 150 Foucault, Michel (1986) : Sexualität und Wahrheit, Bd. 2 : Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt : Suhrkamp. S. 18. 151 Ebd. 152 Foucault, Michel (2007) : Technologien des Selbst. In : Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 287–317.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik Abb. 3 [Unbekannter Künstler] (1693): [Titelkupfer]. In: Weise, Christian (1693): Freymüthiger und höfflicher Redner / das ist / ausführliche Gedancken von der Pronunciation und Action, Was ein getreuer Informator darbey rathen und helffen kan: Bey Gelegenheit Gewisser SchauSpiele allen Liebhabern zur Nachrichtgründlich und deutlich entworffen. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch.
messenen Repräsentationspraxis zeigt, ein kultureller Kontext, der es ermögliche, sich auf eine bestimmte Weise selbst zu deuten und zu verstehen und für andere lesbar zu machen. Treffend wird dieser Umstand, dass die Körpertechniken des Schultheaters als Technologien des Selbst fungieren, auf dem Titelkupfer zu Christian Weises Schrift über den Freymüthigen und höfflichen Redner aus dem Jahr 1693 emblematisch illustriert. Hier ist eine Theaterbühne abgebildet, auf der zwei Spiegel aufgestellt sind. In dem einen, über dem »Ich sehe es gerne besser« geschrieben steht und der dem Publikum von einer panhaften Gestalt vorgehalten wird, spiegeln sich die Zuschauer, die vor der Bühne zu sehen sind. In dem anderen, über dem der Schriftzug »Ich sehe es besser« zu lesen ist, spiegelt sich der Schauspieler, der auf der Bühne steht. Weise versinnbildlicht hiermit die beiden Funktionen, die er dem Theater zuerkennt. Es gewähre eine vertiefte Einsicht in die Welt und der Schauspieler »mercket an sich selbst / was andern wolgefällt.«153 In seiner Erläuterung des Titelkupfers schreibt Weise, der eine Spiegel zeige die »curiöse
153 Weise, Christian (1986) : Freymüthiger und höfflicher Redner. Erklärung des Kupffer-Blats [Anhang A]. In : Sämtliche Werke, Bd. 12,2 : Lustspiele III. Hrsg. von John D. Lindberg. Berlin und New York : De Gruyter. S. 391.
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Welt«154, der andere »führt uns tieffer ins Gewissen / Daß wir die Fehler selbst an uns erkennen müssen. Weil er den Ubel-Stand an unserm Leibe zeigt / Den mancher Feind verlacht / den mancher Freund verschweigt.«155
1.2 »Der kluge Weltmann«156 und ›Der geschickte Comoediant‹157 – Christian Weise und die komödiantische Erziehung kluger Weltmänner Prinz Hamlet führt ein psychologisches Experiment durch : Um die Hypothese zu überprüfen, sein Onkel Claudius habe seinen Vater vergiftet, um den Thron von Dänemark zu besteigen und seine Mutter zur Frau zu nehmen, lässt der Prinz von Schauspielern ein Stück in Gegenwart seines Onkels aufführen, dessen Handlung den Umständen der Ermordung seines Vaters sehr ähnlich ist. Genau wolle er dann auf die Miene seines Onkels achten, um »ihn mit der Sonde bis ans wunde Fleisch auszuloten«158 (I’ll tent him to the quick), um in seiner Mimik Anzeichen von Schuld- oder Reuegefühlen zu lesen. »Hab sorgfältig acht auf ihn«, fordert Hamlet seinen Freund Horatio auf, »denn ich will meine Augen auf sein Antlitz heften, und später wollen wir beider Ansichten zusammenfügen zu einem Urteil über seinen Ausdruck.«159 Hamlet weiß, dass Kleider, Seufzer, Tränen und auch Gesichtsausdrücke bloß Erscheinungen sind, »denn es sind Gesten, die jemand zu schauspielern vermöchte«.160 Gleichwohl bleibe der Mensch »Sklave seiner Leidenschaften«161 (passion’s slave) und Hamlet hofft, durch »[d]ie Mausefalle«162 (The Mouse-trap) seinen Onkel der Verstellung, Täuschung und des Brudermordes zu überführen : »Dem König wird das Spiel zur Schlinge, in die ich sein Gewissen zwinge.«163 Schein oder nicht Schein, das ist die Frage. Und ihre Beantwortung erweist sich gegenüber der Entzifferung des Buches der Natur als ungeahnt schwieriger. Am Ende seiner 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Gracián, Baltasar (1996) : Der kluge Weltmann. El dicreto. Zum erstenmal aus dem spanischen Original von 1646 ins Deutsche übertragen und mit einem Anhang versehen von Sebastian Neumeister. Frankfurt a.M.: Neue Kritik. 157 Vgl. Weise, Christian (1973) : [Vorrede zu] Das Ebenbild eines gehorsamen Glaubens, welches Abraham in der vermeinten Opferung seines Isaacs beständig erwiesen. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 4 : Biblische Dramen I. Berlin und New York : De Gruyter. S. 204. 158 Shakespeare, William (2010) : Hamlet [1603], Bd. 1 : Text. Englisch/Deutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Holger M. Klein. Stuttgart : Reclam. S. 155. Vgl. ebd. S. 154. 159 Ebd. S. 175. Vgl. S. 174 : »Give him heedful note, / For I mine exes will rivet to his face, / And after we will both our judgements join / In censure of his seeming.« 160 Ebd. Vgl. S. 70 : »For they are actions that a man might play«. 161 Ebd. S. 173. Vgl. S. 172. 162 Ebd. S. 185. Vgl. S. 184. 163 Ebd. S. 155. Vgl. S. 154 : »the play’s the thing / Wherein I’ll catch the conscience of the king.«
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Abhandlung Les passions de l’âme gibt Descartes ein Beispiel, das den eindeutigen Rückschluss von körperlichen Anzeichen auf tatsächliche Leidenschaften der Seele fraglich erscheinen lässt : Wenn zum Beispiel ein Ehemann sein totes Weib beweint, die – wie es gelegentlich vorkommt – er sich ärgern würde, wieder auferstehen zu sehen, kann es dazu kommen, daß die Trauerfeierlichkeit und die Abwesenheit einer Person, an deren Unterhaltung er gewöhnt war, bewirken, daß sein Herz sich aus Traurigkeit zusammenzieht. Das kann aus gewissen Überbleibseln der Liebe und des Mitleids geschehen, die sich seiner Vorstellung darbieten und aufrichtige Tränen seinen Augen entlocken, was nicht verhindert, daß er zugleich eine geheime Freude im Innersten seiner Seele fühlt. Diese Emotion hat soviel Macht, daß die Trauer und die Tränen, die sie begleiten, nicht ihre Kraft vermindern können.164
Der Dramatiker und Schuldirektor des protestantischen Gymnasiums in Zittau Christian Weise formuliert anders als Lang keine konkreten körpertechnischen Präsentationsregeln. Ihm geht es weniger um eine regelkonforme und schickliche Präsentation eines idealen Ichs, sondern um die Herausbildung einer situationsbezogenen Urteilskraft, die zum einen dazu befähige, im Mienenspiel der Mitmenschen zu lesen, ihre Körpersprache zu deuten sowie jedes soziale ›Schauspiel‹ zu durchschauen, zum anderen aber selbst diese Kunst der Verstellung und Verschleierung klug zum Einsatz zu bringen. Weise schließt bei seiner schulpädagogischen Ummünzung dieses Bildungsideals an die Traditionen der Rhetorik und Moralistik an. Der spanische Jesuit Baltasar Gracián y Morales schreibt, dass die Dinge nicht für das gelten, »was sie sind, sondern für das, was sie scheinen.«165 In der Vieldeutigkeit ihrer Gesten und kulturellen Praktiken verschleiern sich die Menschen vor einander. Daher sei es beim Menschen, so Gracián, mehr als bei allem anderen ratsam, »ins Innere zu schauen. Sachen verstehen und Menschen kennen, sind zwei weit verschiedene Dinge. Es ist eine tiefe Philosophie, die Gemüter zu ergründen und die Charaktere zu unterscheiden. So sehr als die Bücher, ist es nötig, Menschen studiert zu haben.«166 Deshalb steht nicht das Buch der Natur, noch nicht einmal das der menschlichen Natur im Vordergrund seines 164 Descartes, René (1996) : Über die Leidenschaften der Seele. S. 231. Vgl. ebd. S. 230 : « Par exemple, lors qu’un mary pleure sa femme morte, laquelle (ainsi qu’il arrive quelquefois) il seroit fasché de voir ressuscitée : il se peut faire que son cœur est ferré par la Tristesse, que l’appareil des funérailles, & l’absence d’une personne à la conversation de laquelle il estoit accoustumé, excitent en luy ; & il se peut faire que quelques restes d’amour ou de pitié, qui se presentent à son imagination, tirent de véritables larmes de ses yeux, nonobstant qu’il sente cependant une Ioye secrete dans le plus intérieur de son ame ; l’emotion de laquelle a tant de pouvoir, que la Tristesse & les larmes qui l’accompagnent ne peuvent rien diminuer de sa force. » 165 Gracián, Balthasar (2005) : Handorakel und Kunst der Weltklugheit [1647]. München : dtv. S. 57 [Nr. 99]. 166 Ebd. S. 91 [Nr. 157].
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Reise- und Bildungsromans El Criticón (veröffentlicht zwischen 1651 und 1657), sondern das Buch der Welt : »Der Erfahrungsbestand dieses Bildungsromans ist eben nicht die Natur, sondern Antrieb und Verhalten der Menschen auf Märkten und an Höfen, als Masse und als einzelne.«167 Auf das Zeitalter des verborgenen Gottes der Theologie sei, mit Hans Blumenberg gesprochen, das des verborgenen Menschen der Anthropologie gefolgt. »Weil die Verschlüsselung Menschenwerk ist, aus dem Mechanismus der Selbsttäuschungen und Vortäuschungen herausgesponnen wird, gibt es immer den, der die Meisterschaft der Entschlüsselung erreicht, weil er selbst ein Stück jenes Mechanismus ist.«168 Für Gracián ist das der kluge Weltmann, dessen Erscheinungsbild und Bildungsgang er 1646 in seinem Werk El Discreto beschreibt. Er sei tugendhaft, selbstbeherrscht, klug und taktvoll, strebe stets nach Vervollkommnung und pflege einen eleganten Umgang. Als vielseitig interessierter und »kluger Proteus«169 verstehe er es, sich einerseits den Umständen anzupassen, andererseits nur »Ziffernschrift«170 sein zu können sowie gleichzeitig mit durchdringendem Scharfsinn und schlauer Überlegung »jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer«171 sei, zu durchschauen. Obgleich Gracián selbst kein Hofmann, sondern wie Franz Lang Mitglied des Jesuitenordens war, knüpft seine Beschreibung des klugen Weltmanns an die humanistische Tradition des Grafen Baldassarre Castigliones an, dessen Lehre der Geselligkeit und höfischen Umgangsformen in seinem Libro del Cortegiano (1528) – geradezu als Gegenentwurf zu Machiavellis skrupellosem Principe (verfasst um 1513, veröffentlicht 1532) – nicht nur einen höfischen Freiraum humanistischer Kultur definiert, sondern auch den Hof- und Edelmann an seiner natürlich wirkenden Eleganz, die »alle Arbeitsspuren seiner hochreflexiven Haltung«172 verberge, zu messen verlangt. Diese Leichtigkeit (sprezzatura) und Anmut (graziá) seien das Produkt gelungener Dissimulation, in dem das rhetorische Postulat der Kunstverbergung eine kulturanthropologisch konkrete Gestalt erhält und als ethisches Handlungsprinzip im Sinne des vir bonus weiterwirkt. Die Adäquatheit und Angemessenheit dieses eleganten Umgangs lasse sich nicht durch einen normativen Kriterienkatalog bestimmen, sondern gewinne angesichts der Mannigfaltigkeit der Bräuche und der Relativität der Sitten ihre Verbindlichkeit erst in Abhängigkeit zum konkreten Subjekt und entsprechend der Umstände seines Verhaltens.173 Castiglione begründet mit diesem Entwurf eines uomo universale – dem Vorläufer des gentleman (Locke), des honnête homme 167 Blumenberg, Hans (1986) : Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 111. 168 Ebd. S. 113. 169 Gracián, Balthasar (2005) : Handorakel und Kunst der Weltklugheit. S. 47 [Nr. 77]. 170 Ebd. S. 57 [Nr. 98]. 171 Ebd. S. 13 [Nr. 13]. 172 Lethen, Helmut (2007) : ›Schein zivilisiert !‹ – das Schicksal einer Maxime. In : Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Hrsg. von Eva Geulen und Nicolas Pethes. Freiburg i.Br.: Rombach. S. 15–26. S. 16. 173 Casale, Rita (2004) : Genealogie des Geschmacks. Ein Beitrag zur Geschichte der ästhetischen Er-
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(Montaigne, Pascal, La Bruyère, La Rochefoucauld)174 und des Weltmanns (Thomasius, Weise) – die europäische Tradition der Moralistik und Höflichkeit sowie das ästhetische Ideal der Anmut.175 Mit Beginn des Dreißigjährigen Krieges verliert der dem italienischen RenaissanceHumanismus, dem Adelsstand sowie dem Primat des Ästhetischen verhaftete Cortegiano an Relevanz. Nachdem auf den Kampfplätzen Europas ein heißer Krieg ausgefochten wurde, wütet wie vermutlich auch schon zu Castigliones Zeiten an den Höfen ein kalter Krieg der Klugheit : Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche, dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen.176
Nach dem Dreißigjährigen Krieg verschafften sich die parzellierten Territorialfürstentümer nicht nur neue Befugnisse und bauten aufgrund ihrer vermehrten Regierungstätigkeit ihren Behörden- und Verwaltungsapparat zunehmend aus, mit der Erosion der klassischen Ständeordnung des Reiches und der Konsolidierung des fürstlichen Absolutismus verlor der Staat gleichzeitig auch seine metaphysische Bestimmung als Bestandteil eines göttlichen Heilsplans zugunsten einer säkularen Ordnungsvorstellung. Theoretisch wurde diese säkulare Ordnungsvorstellung im Begriff der Staatsräson (ratio status) eingefangen, praktisch schlug sie sich als Regierungskunst und in den politischen Klugheitslehren nieder. Weniger den Herrschern, sondern den Technikern dieser Regierungskunst, den Beamten und Juristen, aber auch Pfarrern, Medizinern und Kaufleuten, die die Fürsten und Machthaber aus den Reihen der Gelehrtenschicht rekrutierten und in ihren Verwaltungsapparat sowie ihr wirtschaftliches Gefüge integrierten, widmet Gracián sein Handorakel (1647). Mit dieser pragmatischen Handreichung zur Kunst der Weltklugheit versucht er ziehung. In : Michel Foucault : Pädagogische Lektüren. Hrsg. von Norbert Ricken und Markus RiegerLadich. Wiesbaden : VS-Verlag. S. 225–242. S. 239. 174 Bei Blaise Pascal heißt es knapp : »Man darf weder sagen können : er ist ›Mathematiker‹, noch ›Prediger‹, noch ›beredet‹, sondern er ist ein rechtschaffender Mensch (honnête homme), nur diese umfassende Eigenschaft gefällt mir. Erinnert man sich, wenn man einen Menschen trifft, an sein Buch, so ist das ein schlechtes Zeichen ; ich wünschte, man bemerke keine Fähigkeit als die der Zufall und die Umstände anzuwenden erfordern. – Ne quid mimis – damit nicht eine Fähigkeit den Ausschlag gibt und uns abstempelt und man nicht meinte, er spricht gut, es sei denn, daß es sich darum handelt, gut zu sprechen, und man es dann aber meint« (Pascal 1978 : 29). 175 Vgl. Klepacki, Leopold (2011) : Der Hofmann als ideale Lebensart. Universelle Weltgewandtheit als Lebenskunst dargestellt an Baldassare Castigliones Buch über die Geschicke des Hofmannes. In : Geschichte der Ästhetischen Bildung, Bd. 2 : Frühe Neuzeit. Hrsg. von Leopold Klepacki und Jörg Zirfas. Paderborn : Schöningh. S. 103–121. S. 118. 176 Gracián, Balthasar (2005) : Handorakel und Kunst der Weltklugheit. S. 12 [Nr. 13].
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noch einmal zwischen Geist und Macht zu vermitteln.177 Denn ihm geht es nicht darum, Herrschaftswissen bereitzustellen, sondern Ratschläge zu erteilen, die verhindern, zum Opfer höfischer Machtspiele und Intrigen zu werden. In den dreihundert Sentenzen und Aphorismen skizziert Gracián den Hof als eine Sphäre voller Heimtücke, die es nötig mache, zum Schauspieler zu werden, ohne dabei affektiert oder tadelhaft aufzutreten : »Ein vorurteilsfreier Mann, ein weiser Christ, ein philosophischer Hofmann – sein, aber nicht scheinen, geschweige affektieren.«178 Christian Weise gelingt es, dieses weltmännische und rhetorische Bildungsideal in eine berufspropädeutische Didaktik und Dramatik des protestantischen Schultheaters umzumünzen. Weise, der sich während seines Theologiestudiums von 1660 bis 1663 in Leipzig auch mit Jurisprudenz, Geschichte und insbesondere den Traktaten zur Regierungskunst und politischen Klugheit auseinandersetzte, arbeitete nach seinen vergeblichen Versuchen, an der Universität Leipzig Fuß zu fassen, zunächst als Sekretär des Grafen Simon Philipp von Leiningen, dann kurzfristig als Hofmeister der jungen Freiherrn von Asseburg und anschließend von 1670 bis 1678 als Professor der Poesie, Rhetorik und Politik an der Weißenfelser Ritterakademie, dem Gymnasium illustre Augusteum. Als er im Jahr 1678 die Leitung des Gymnasiums in seiner Heimatstadt Zittau übernimmt, implementiert er seine Ansätze einer weltmännischen Erziehung in das traditionell humanistische Schulprogramm, ohne jedoch die aus dem 16. Jahrhundert stammende Schulordnung zu ändern. Die von Weise eingeführten Neuerungen am Zittauer Gymnasium belaufen sich erstens darauf, den schulischen Bildungsgang seiner »Untergebene[n]«179 – so nennt Weise seine Schüler – an den neuen politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Verhältnissen sowie am Ideal des homo politicus auszurichten, zweitens auf eine hieraus resultierende Integration von politischer Klugheitslehre und Rhetorik sowie drittens auf eine Indienstnahme des Schultheaters zur praktischen Einübung rhetorischer Fähigkeiten und gesellschaftlich gebotener und nützlicher Umgangsformen. Seine politischen und pädagogischen Erfahrungen aus seiner Zeit als Sekretär, Hofmeister und Rhetorikprofessor legte Weise bereits in seinem umfassenden didaktischen Handbuch zur Unterweisung des Politischen Redners (1677) nieder, das mehrfach Neuauflagen erfuhr und dem Weise später den Neu-erleuterten Politischen Redner (1684) hinterherschickte. Mit ›politisch‹ bezeichnet Weise jene Eigenschaften und Fähigkeiten, die es dem Redner ermöglichen, als Beamter im Staats- und Hofdienst oder als Angehöriger der städtischen Kaufmannschaft weltklug zu handeln sowie einen galanten Umgang zu pflegen. Insbesondere in der Fähigkeit der ungezwungenen Rede sowie im geschickten Aufsetzen von Schriftstücken sieht Weise das Handwerkszeug des politischen Menschen, 177 Vgl. Neumeister, Sebastian (2002) : Bildungsideal barock : Christian Thomasius liest Gracián. In : Germanisch-romanische Monatsschrift, 52. Jg. S. 39–47. S. 45. 178 Gracián, Balthasar (2005) : Handorakel und Kunst der Weltklugheit. S. 58 [Nr. 100]. 179 Weise, Christian (1986) : Freymüthiger und höfflicher Redner. Vorrede [Anhang B]. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 12,2 : Lustspiele III. Berlin und New York : De Gruyter. S. 392–455. S. 392.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
der für ihn alle Berufe umfasst, die dem Wohl des Staates dienen : Prediger, Diplomaten und Beamte, Richter, Lehrer, Soldaten und Kaufleute.180 Sieben Handlungsmaximen gibt er ihnen für ihre Lebensführung mit auf den Weg und umreißt damit das Ideal des homo politicus : 1. Eine zuversichtliche Freundschaft mit Gott. 2. Ein beständiger Vorsatz gegen alle Menschen redlich und gerecht zuseyn. 3. Ein unverdrossener Fleiß. 4. Eine Bedachtsamkeit in Verrichtungen. 5. Eine Bedachtsamkeit im Reden. 6. Eine höffliche Dienstfertigkeit. 7. Ein kluges und Vorsichtiges Misstrauen.181
Dieses auch durch Gracián beeinflusste Bildungsideal zeichnet sich durch eine Verquickung von rhetorischer Sprachgewandtheit, politisch-weltmännischer Klugheit und lebenspraktischer Frömmigkeit aus.182 Letztere rückt später in Weises Veröffentlichungen unter dem Einfluss des Pietismus stärker in den Vordergrund und verdrängt den homo politicus zugunsten eines politicus christianus.183 Unberührt davon bleibt aber der Stellenwert der Rhetorik, die das Fundament aller pädagogischen Überlegungen Weises bildet. Weise unterstreicht, dass zur rhetorischen Ausbildung nicht nur die Anleitung zur sprachlichen Ausarbeitung der Rede, dem Auffinden (Inventio), Anordnen (Dispositio) und Gestalten (Elocutio) des Redematerials gehöre, sondern damit untrennbar die Übung des ausgearbeiteten Vortrags, das Auswendiglernen (Memoria), die Sprechweise (Pronunciatio) sowie die gestische und mimische Untermalung (Actio), verbunden sei. Wie Lang ist auch Weise um die Beredsamkeit des ganzen Körpers bemüht. Hierin bestehe für ihn ein nicht unwesentlicher Ausbildungsauftrag der Schule : Wie »könte ich einen zukünfftigen Cavallier von meiner Hand wegziehen lassen«, schreibt er, »wenn er zwar das Gemüthe mit Lateinischen Gedancken / hingegen aber die Zunge mit keiner anständigen Beredsamkeit / viel weniger das Gesichte und den Leib zu keiner Leutseligen Mine disponirt hätte ?«184 180 Vgl. Horn, Hans Arno (1966) : Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der ›Politicus‹ als Bildungsideal. Weinheim : Beltz. S. 58. 181 Weise, Christian (1690) : Politische Fragen / Das ist : Gründliche Nachricht Von der politica, welcher Gestalt Vornehme und wolgezogene Jungend hierinne einen Grund legen / So dann aus den heutigen Republiqven gute Exempel erkennen / Endlich auch in practicablen Staats-Regeln den Anfang treffen soll. Nechst einer ausführlichen Vorrede / und einem zugänglichen Register. Dresden, Mieth. S. 430. Zit. nach Wels, Ulrike (2012) : Gottfried Hoffmann (1658–1712). Eine Studie zum protestantischen Schultheater im Zeitalter des Pietismus. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 96. 182 Vgl. Horn, Hans Arno (1966) : Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. S. 50. 183 Vgl. Wels, Ulrike (2012) : Gottfried Hoffmann (1658–1712). S. 94. 184 Weise, Christian (1971) : Widmung und Vorrede des Zittauischen Theatrums [Anhang A]. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 1 : Historische Dramen I. Berlin und New York : De Gruyter. S. 599–601. S. 600.
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Als lobenswert erscheinen Weise solche Redner, denen es gelinge, die den Affekten entsprechenden Gesichtsausdrücke, die man »im Vorrathe«185 haben solle, und ein betontes Sprechen, das nicht nur akustisch verständlich sei, sondern auch den Sinn der Rede unterstreiche, sich so zu eigen zu machen, dass die Rede niemals aufgesetzt oder wie auswendig gelernt wirke. »Denn ein Redner soll freymüthig / ungezwungen und also zu sagen ein Dollmetscher seines Hertzens / und nicht ein Papagey von fremden oder ausstudierten Worten seyn.«186 Hierzu bedürfe es, dass ein jeder Redner darum wisse, welche Gestik und Mimik ihm stehe und seinem »Naturel«187 entspreche. Kein Mensch führet so eine Sprache / und so einen Accent wie der andere : Kein Mensch hat so eine Mine wie der andere : Ich möchte fast sprechen / kein Mensch schreibt so eine Hand wie der andere / und womit sich einer als ein Galanter Redner durchgehends Recommendiren kan / damit hat ein ander die Recommendation verschertzet.188
Weise zieht hieraus allerdings auch den Schluss, dass es Schüler geben kann, die aufgrund ihres mäßigen oder fehlenden Talents die Redekunst nicht vollends bemeistern werden können. Man könne von einem Rhetoriklehrer nicht erwarten, »aus allen ungeschickten Kerlen was geschicktes / und also zu reden / was lebendiges [zu] machen«189. Und Weises Liste von Unbeholfenheiten, die die Schüler mitbrächten, ist lang : Er moniert das stammelnde Wiederholen aufgrund eines langsamen Gedächtnisses – wodurch ein Schüler im Vortrag »wie ein Schaff blöckete ä – ä – ä«190, ein anderer die letzten Silben von Wörtern »tremulierte«191 und wieder ein anderer unentwegt die Floskel »nach Belieben«192 in seine Rede einflocht. Andere wiederum hätten »von Natur aus einen kurtzen Athem«193 und wären nicht in der Lange, viele Worte zu machen. Auch an der Gestik und Mimik der Schüler hat Weise einiges auszusetzen : Da wackelt er mit dem Kopffe von einer Seite zur anderen / da zeucht er den Kopff zwischen die Achseln / als wenn er drey Köpffe hätte : Da macht er allerhand lächerliche Grimassen mit dem Gesichte / wie jener Harffeniste / der ließ sich allemal mit Tüchern behengen / wenn er spielen solte ; Denn er hatte sich so gewehnt / daß er alle Griffe durch gewisse und über die massen zierliche Figuren im Gesichte zugleich exprimiren muste.194 185 Weise, Christian (1986) : Freymüthiger und höfflicher Redner. S. 401. 186 Ebd. S. 407. 187 Ebd. S. 403. 188 Ebd. S. 402. 189 Ebd. S. 403. 190 Ebd. S. 407. 191 Ebd. 192 Ebd. S. 409. 193 Ebd. S. 410. 194 Ebd. S. 414.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Die größten Hindernisse, denen sich ein Rhetoriklehrer aber ausgesetzt sehe, seien laut Weise die »Furcht«195 – die Schüchternheit der Schüler, vor anderen laut zu sprechen aus Angst davor, Fehler zu machen und ausgelacht zu werden – sowie die »faule Hoffart und die active Hoffart.«196 Als faul bezeichnet er solches Verhalten, »da man sich anderer Leute wegen keine Mühe nehmen will laut zu reden / oder auch den Leib zu bewegen«197. Die aktive Hoffart dagegen sei ein Ausdruck von Eitelkeit, stets alles besser zu wissen als andere, was im Bereich der Mimik nicht selten ein Grimassieren mit sich bringe, »daß man sich offtermals des Lachens kaum enthalten kann.«198 Weise rät, sich die schüchternen Schüler beiseite zu nehmen und zeitweise im Einzelunterricht zu betreuen, die faulen Schüler, die wenig zu hoffen ließen, durch Lob der anderen Schüler anzuspornen und die »Narren-Possen«199 der eitlen Schüler durch empfindliches Bloßstellen zur »Mediocrität«200 zu bringen. Die Mäßigung der aktiven Hoffart vergleicht Weise auch mit dem Stutzen eines Bartes : »Wenn derselbe zu groß ist / kan man so viel abschneiden als man will / biß ein Frantzösisches Mode-Bärtgen daraus wird : Aber wo die Haare stehen wie armer Leute Geträyde / da läst sich schwerlich was ansetzen / und der beste Barbierer hat mit seiner Kunst verspielt.«201 Da die Rhetorik stets »Dienerin der Politic«202 sei, die Redekunst sich gewissermaßen in den politischen Umständen einrichten müsse, sieht Weise für die rhetorische Praxis der Antike kaum noch erfolgversprechende Anwendungsmöglichkeiten unter den Bedingungen des fürstlichen Absolutismus. »Denn das ist gewiß / die klügsten Leute musten dazumal in ihren Minen was närrisches / und unserer Gewohnheit nach was lächerliches exprimiren : Nur damit sie der unbedachtsamen Canaille gemäß erschienen / und über deroselben Affecten desto leichter triumphiren kunten.«203
195 Ebd. S. 404. 196 Ebd. S. 405. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd. S. 406. 200 Ebd. 201 Ebd. – Weises Vergleich des Rhetorikunterrichts mit dem Zurechtstutzen eines Bartes korrespondiert nicht nur mit dem geometrischen Zurechtstutzen der Bepflanzung in den französischen Barockgärten, sondern auch mit dem Erziehungsverständnis, das Jean-Jacques Rousseau gleich zu Beginn seines Émile (1762) angreift : Der Mensch, so seine kulturkritische Einsicht, wolle nichts, »wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muß ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muß ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten« (Rousseau 1963 : 107) – oder den Bart in seinem Gesicht. 202 Ebd. S. 393. 203 Ebd. S. 425.
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Weise glaubt, dass die öffentliche Rede mit ihrer »excessiven Action, die etwas Affectirtes und Theatralisches an sich hat / welche vor Zeiten auff dem öffentlichen Marckte mehr als zu sehr vonnöthen war«204, ein Relikt der antiken Demokratien sei : »Denn alle Künste mit den Minen und Affecten gehören vornehmlich in ein democratisches Regiment / da sich die unverständigen Leute mit der eusserlichen Stellung betriegen lassen.«205 Die politische Praxis des fürstlichen Absolutismus – des »Statu Monarchico, wo die Sachen durch wenig Personen getrieben werden«206 – erfordere es hingegen weniger, durch öffentliche Reden zu brillieren. Solche können zwar von Applaus und Bewunderung begleitet werden, nützen der Durchsetzung politischer Interessen aber nur wenig. Ein Prediger spreche zwar auch vor seiner Gemeinde, ein Richter oder eine Regimentsperson müsse zuweilen auch vor einer größeren Versammlung auftreten, aber das eigentliche politische Geschäft geschehe hinter verschlossenen Türen und diese Hinterzimmerpolitik erfordere eine »Prudentia Sermonis Privati oder Secreti«207, eine »geheime Beredsamkeit«208. Zu ihr gehöre es, ein Gespräch extempore führen zu können, Komplimente zu machen und die Kunst der anregenden Konversation auch in der deutschen Sprache zu beherrschen, »weil die Redens-Arten in solchen ungezwungenen Gesprächen nicht nur von Ausländern / sondern von unseren Lands-Leuten selbst / sehr wohl gemerckt / und geübt werden.«209 Neben dieser höflichen und freimütigen Rede sei nach Weise auch ein ungezwungenes Auftreten, eine galante »Positur des gantzen Leibes«210, die zwar bezeuge, »daß ein solcher Mensch in keinem Schaffstalle erzogen wurde«211, andererseits aber jede Künstlichkeit unkenntlich mache, von Vorteil. Hierzu empfiehlt er, unter Umständen einen »Tantzmeister«212 heranzuziehen. Nicht um eigentlich Tanzen zu lernen, sondern um den Bewegungen und Gesten eine solche Leichtigkeit zu verleihen, wie sie Castiglione schon als Merkmal des idealen Hofmanns auswies. Ich habe anderswo die Manier im Reden gelobet / wenn man alles à la negligence hinlauffen läßt. Und gewiß / wer sich allhier auch so moderiren kan / daß man in solchen Geberden nichts gezwungenes und affectuirtes / sondern eine listige negligence gleich als was Angebohrnes und Natürliches zu verwundern hat / der ist in diesem Handwercke der beste Meister.213 204 Ebd. 205 Ebd. S. 426. 206 Ebd. 207 Weise, Christian (1986) : Neue Proben von der vertrauten Redens-Kunst. Vorrede. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 12,2 : Lustspiele III. Berlin und New York : De Gruyter. S. 456–459. S. 458. 208 Ebd. 209 Ebd. S. 456. 210 Weise, Christian (1986) : Freymüthiger und höfflicher Redner. S. 415. 211 Ebd. S. 416. 212 Ebd. S. 415. 213 Ebd. S. 416.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
So wie es gelte, jede Künstlichkeit und Affektiertheit in der Sprache sowie in der Gestik, Mimik und im Auftreten zu verbergen, so gelte es auch, die eigenen Absichten und Neigungen im Verborgenen zu halten. Mit einem Wort / wer die Kunst recht gebrauchen will / der muß sich in das rechtmässige simulieren und dissimulieren finden lernen. Das heist / wir müssen uns offt anders von aussen stellen / als wir sind ; und was wir sind / das dürffen wir nicht mercken lassen !214
Diese Kunst der Verstellung (Simulation) und Verhüllung (Dissimulation), die Kunst einer geschickten Selbstinszenierung fuße zwar nicht unwesentlich auf einer breiten Menschenkenntnis215 sowie der Kenntnis des Zusammenhangs von Leidenschaften und ihren mimischen und gestischen Manifestationen, aber anders als Lang formuliert Weise keine konkreten körpertechnischen Präsentationsregeln. Ihm geht es weniger um eine regelkonforme und schickliche Präsentation eines idealen Ichs, sondern um die Herausbildung einer situationsbezogenen Urteilskraft (iudicium). Die Kunst der Verstellung und Verhüllung basiere auf der Fähigkeit, das sprachliche und mimische Verhalten mit den situativen Umständen und den eigenen Handlungszielen so in Einklang zu bringen, dass einerseits gezielt Affekte beim Hörer erregt werden, andererseits jede Übertreibung vermieden werde. Diese Fähigkeit entziehe sich aber schlechterdings einer rein theoretischen Unterweisung. Sie werde lediglich im tätigen Vollzug erprobt, geübt und erfahren.216 »Und eben bey so bestalten Sachen«, schreibt Weise, »sehe ich nicht / wie man der Jugend besser kan zu statten kommen / als mit artigen Comödien.«217 Im Schultheater sieht er die Möglichkeit gegeben, die Schule, die ein »schattichter Ort«218 sei, eine Höhle, »da man dem rechten Lichte gar selten nahe kömt«219, zu verlassen beziehungsweise die politische Welt in die Schule hinein zu holen, um die öffentliche wie die geheime Beredsamkeit praktisch einzuüben. Das Schultheater bleibt somit für Weise, wie es in der Forschung oft betont wurde, in erster Linie eine Fortsetzung des oratorischen Unterrichts mit anderen Mitteln :220 »Es fungiert nicht als Reflexionsraum des Alltags, sondern als dessen Übungsstätte : das Theaterspielen als spielerische Vorwegnahme einer Welt, die 214 Weise, Christian (1690) : Politische Fragen. S. 439. Zit. nach Horn, Hans Arno (1966) : Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. S. 67. 215 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht die Anthropologie, also jene Philosophie des Menschen, die »nicht (metaphysisch) auf Spekulation und nicht (physikalistisch) auf Mathematik und Experiment setzen will, sondern auf Naturbeschreibung und Lebenserfahrung ihre Menschenkenntnis stützt« (Marquard 1971 : 363). 216 Vgl. Zeller, Konradin (1980) : Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen : Niemeyer. S. 59 f. 217 Weise, Christian (1986) : Freymüthiger und höfflicher Redner. S. 428. 218 Weise, Christian (1971) : Widmung und Vorrede des Zittauischen Theatrums. S. 600. 219 Ebd. 220 Vgl. Zeller, Konradin (1980) : Pädagogik und Drama. S. 33.
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selbst nach den Gesetzen theatralischen Spiels funktioniert – so die vertraute theatrummundi-Vorstellung.«221 Für diesen Zweck verfasste Weise in der Tradition des Zittauer Gymnasiums jährlich drei Theaterstücke : »[E]rstlich etwas Geistliches aus der Bibel / darnach was Politisches aus einer curiösen Historie / letztlich ein freyes Gedicht«222 – meistens eine Komödie. Weise sah sich gezwungen, die Stücke selbst zu schreiben, weil es seiner Ansicht nach keine dramatischen Texte gab, die seinen Zwecken gerecht werden konnten : Es heisst / man soll jährlich drey Spiele aufführen / und die Jugend durch solche Lust dergestalt munter machen / daß sie gleichwohl darbey erbauet und zu keinem Ergerniße angewiesen werde. Wenn man sich aber in allen Buch-Läden umsiehet / so mangelt es an Stücken / die sich auf dergleichen Fälle reimen. Denn was zu Hofe / oder auch unter Comoedianten ums Geld gespielt wird / das bestehet mehrentheils in wenig Personen / darbey die wenigsten können bedacht oder versorget werden223.
Beim Abfassen seiner Texte folgte Weise einer pädagogischen Dramaturgie. Seine dramaturgischen und theaterpraktischen Grundsätze beabsichtigte er zwar in einer Abhandlung über den »geschickten Comoedianten«224 niederzulegen, kam seinem Anliegen aber letztlich nicht nach. Wesentliche Aspekte erläuterte er indes in etlichen Vor- und Nachreden seiner veröffentlichten Dramen. Hier rechtfertigt er die personalreichen und zuweilen mit vielen Circumstantien versehenen Dramentexte damit, dass er stets die Absicht verfolge, erstens alle Schüler in einem Stück auftreten zu lassen, zweitens die Rollen, die sie zu spielen haben, ihnen gewissermaßen auf den Leib zu schreiben und für sie ausreichend Redeanlässe herzustellen : »Denn in den meisten Dingen sahe ich auff der Leute Naturell welche die Person haben solten. Waren sie munter oder schläfferich / trotzig oder furchtsam / lustig oder melancho221 Sasse, Günter (1987) : Die Theatralisierung des Körpers. Zu einer Wirkungsästhetik für Schauspieler bei Christian Weise und Bertolt Brecht. In : Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 33. Jg. Heft 3/4. S. 55–73. S. 60. 222 Weise, Christian (1976) : Vorrede zu Lust und Nutz [Anhang A]. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 8 : Biblische Dramen V. Berlin und New York : De Gruyter. S. 417–429. S. 418 f. – In der Schulordnung des Zittauer Gymnasium von 1594 heißt es : »Es soll auch zum wenigsten alle Jahr, jedoch ohne sonderlich Verabsäumung andrer Lectiones, eine Action alicujus Comoediae oder Tragoediae Latinae so ad pietatem und guten Tugenden der Jugend dienstlich in dieser Schulen gehalten, und mit den Schul-Knaben darinnen keine besondere Affection gebrauchet werden« (Gärtner 1905 : 24). 223 Weise, Christian (1971) : Vorwort zu Neue Jugend-Lust [Anhang C]. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 1 : Historische Dramen I. Berlin und New York : De Gruyter. S. 604–606. S. 604. 224 Weise, Christian (1973) : [Vorrede zu] Das Ebenbild eines gehorsamen Glaubens, welches Abraham in der vermeinten Opferung seines Isaacs beständig erwiesen. S. 204.
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lisch / so accomodirte ich die Reden auff solche Minen und auf einen solchen Accent, daß sie nothwendig ihre Sachen wohl agiren musten.«225
Drittens praktiziert Weise in seinen Dramen eine distinktive Darstellung der Ständegesellschaft, indem er die standesgemäße Sprechweise der Personen auf der Bühne nachahmt : »Ein Cavallier, ein Fürnehmes Frauenzimmer / ein liederlicher Kerl / ein gemeiner Mann / ein Bauer / ein Jude muß den accent führen / wie er im gemeinen Leben angetroffen wird.«226 Um die ständische Ordnung im lehrreichen Kontrast der Sprechweisen deutlich werden zu lassen, durchbricht Weise die Ständeklausel und lässt adelige und nicht-adelige Figuren gemeinsam auftreten. Damit wird aber keineswegs eine subversive Kritik der ständischen Ordnung geäußert oder eine Nobilitierung volkstümlicher Verhaltensweisen vorgenommen. Im Gegenteil, die Darstellung von Figuren niederer Stände, insbesondere des Bauern, ist stets eine Umkehrung von körperlichen und sprachlichen Verhaltensidealen der höfischen Kultur. Als plump und ungeschickt, regellosund zuweilen hässlich wird die Figur des Bauern zum »Objekt des Verlachens«227 und gleichzeitig zu einer »Selbstvergewisserungsstrategie der Eliten.«228 Viertens ist sich Weise der aufmerksamkeitsgenerierenden und -erhaltenden Funktion der Bauer- und Pickelherings-Possen bewusst und will auf ihre Komik nicht verzichten. Und schließlich fünftens bearbeitet Weise seine Stücke stets so, dass sich den Schülern in ihnen ein breites Spektrum von Intrigen, Ränkespielen und Kabalen auftue, um so einerseits redetaktische Manöver erkennen zu lernen und selbst zu erproben sowie um andererseits den Verbreitungsgrad dieser Verstellungskunst aufzuzeigen. Weises »[c]omödiantische Erziehung der Oberschicht«229 erweist sich damit zugleich als eine weltmännische Erziehung zum Schauspieler. Diese nicht unproblematische Beziehung von Weltmann und Schauspieler ist bereits bei Shakespeare nachweisbar : Vor dem Auftritt der Schauspieler, deren Spiel Claudius der Verstellung, Täuschung und des Brudermordes überführen soll, instruiert Hamlet sie noch eilig, ihre Reden »leichtfüßig«230 225 Weise, Christian (1976) : Vorrede zu Lust und Nutz. S. 422. 226 Ebd. S. 423 f. 227 Vgl. Mourey, Marie-Thérèse (2008) : Körperrhetorik und Körpersemiotik der volkstümlichen Figuren auf der Bühne. In : Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730) [Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 40]. Hrsg. von Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski und Dirk Niefanger. Amsterdam und New York : Rodopi. S. 105–141. S. 132. 228 Ebd. 229 Geitner, Ursula (1992) : Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen : Niemeyer. S. 94. 230 Shakespeare, William (2010) : Hamlet, Bd. 1 : Text. S. 169. Vgl. ebd. S. 168–170 : »Speak the speech, I pray you / as I pronounced it to you trippingly on the tongue ; / but if you mouth it as many of our players do, / I had as life the town-crier spoke my lines. / Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently, for in the very torrent, tempest, / and, as I may say, whirlwind of your passion, / you must acquire and beget / a temperance that may give it smoothness. / […] Be not too tame neither, / but let your own discretion be your tutor : / suit the action to the word, the word
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(trippingly) zu sprechen, statt sie wie ein Stadtausrufer herzudeklamieren, und mit den Händen nicht wild zu gestikulieren, sondern »unaufdringlich«231 (gently) und mit gemäßigter Leidenschaft der Rede Glätte zu verleihen. Hamlets Anweisungen, das eigene Ermessen Lehrmeister sein zu lassen und nie das Maßhalten der Natur zu überschreiten, zeugen davon, dass er von den Schauspielern das Auftreten und Gebärden eines Hof- und Edelmannes verlangt. Diese humanistisch-ästhetische Leitvorstellung der ›Natürlichkeit‹, des Anscheins der Kunstlosigkeit soll sowohl für den Edelmann als auch für den Schauspieler Geltung beanspruchen. Handbücher über das Verhalten bei Hofe lesen sich daher, so Greenblatt, nicht selten wie Anleitungen zur Schauspielkunst : »The manuals of court behavior which became popular in the sixteenth century are essentially handbooks for actors, practical guides for a society whose members were nearly always on stage.«232 Hamlet, »a student prince«233, verkörpert dieses humanistisch-ästhetische Bildungsideal : »According to Ophelia,« schreibt Aysha Pollnitz, «the shape of Hamlet’s schooling had reflected the curriculum described by Thomas Elyot : the prince had had a formal liberal education combined with chivalric and courtly exercises […]. Hamlet’s instructions to the players on how to speak verse show that, like James VI, the prince preferred a modest, decorous form of oratory«234.
Doch nach seiner Begegnung mit der Geistererscheinung seines Vaters schwört er seiner humanistischen Bildung ab und versucht sich im Spiel der Verhüllung und Verstellung. In aufgeknüpftem Wams und heruntergerutschten Strümpfen, bleich und mit den Knien schlackernd täuscht er Ophelia und ihrem Vater zwar vor, er sei wahnsinnig geworden. Doch statt wie Gracián und Weise empfehlen, behutsam zu schweigen,235 macht sich Hamlet durch sein Verhalten verdächtig. Denn, so erläutert Weise, wo man etwas gezwungen mercken läst / das nicht / also zu reden / aus dem einfältigen Naturelle geflossen ist / so wird man der Falschheit wegen suspect, und der andere Theil to the action, with special observance, / that you o’erstep not modesty of nature ; / for any thing so o’erdone is from the purpose of playing, whose end both at the first, and now, was and is , / to hold as ’twere the mirror up to nature, to show virtue her feature, scorn her own image, / and the very age and body of time his form and pressure.« 231 Ebd. S. 169. 232 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. S. 162. 233 Pollnitz, Aysha (2009) : Educating Hamlet and Prince Hal. In : Shakespeare and Early Modern Political Thought. Hrsg. von David Armitage, Conal Condren und Andrew Fitzmaurice. Cambridge : Cambridge University Press. S. 119–138. S. 136. 234 Ebd. S. 132. – Thomas Elyot (1490–1546) schrieb The Book Named The Governor (1531), das englischsprachige Gegenstück zu Castigliones Libro del Cortegiano (1528). Sir Thomas Hoby übersetzte Castigliones Cortegiano im Jahr 1561 ins Englische. 235 Vgl. Gracián, Balthasar (2009) : Handorakel und Kunst der Weltklugheit. S. 7 [Nr. 3], 19 [Nr. 25], 36 [Nr. 58].
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resolvirt sich / entweder nichts zu hören / oder nichts zu glauben. Und dannenhero müssen auch die Affecten ganz unvermerckt / und also zu reden mit einer sachten Einfalt gerühret werden / in Summa / man soll die Auffrichtigkeit und die Wahrheit / oder doch eine kluge Vorsichtigkeit mehr gelten lassen / als die studierte Beredsamkeit.236
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Claudius Verdacht schöpft und seinen Neffen beschatten und unter einem Vorwand außer Landes bringen lässt. Obwohl Hamlet die Fähigkeit des Schauspielers, sich verstellen zu können, bewundert und er das intrigante Verstellungsspiel seiner Freunde durchschaut – »Nennt mich was für ein Instrument Ihr wollt, Ihr könnt mich zwar anzupfen, aber Ihr könnt nicht auf mir spielen«237 –, ist er aber letztlich unfähig, durch Verstellung Intrigen zu schmieden, um den Mord an seinem Vater zu rächen. Schon zu Beginn des Dramas distanziert er sich von dieser Praxis der Unaufrichtigkeit – »Scheint, Majestät ? Nein, es ist, ›scheint‹ kenn ich nicht.«238 (Seems, madam ! Nay, it is, I know not ‘seems’) – und auch Claudius beschreibt Hamlet als »höchst edelmütig und frei von allem Ränkeschmieden«239 (Most generous, and free from all contriving). Der Anglist Wolfgang G. Müller resümiert daher, dass ein Aspekt der Tragik Hamlets sich daraus ergibt, »daß er, dem die Verstellung fremd ist, durch die Umstände seiner Lage genötigt wird, sich zu verstellen und eine Rolle zu spielen.«240 Während sich das Verhältnis von Schauspielkunst und Verstellungskunst bei Shakespeare als moralisches Dilemma für Hamlet erweist und als Kritik an der »Entartung der höfischen dissimulatio artis zum Instrument des Betrugs und der Intrige«241 verstanden werden kann, stellte es für Weise nur noch ein (körper-)technisches Problem dar. Gert Ueding und Bernd Steinbrink urteilen rückblickend in ihrem Grundriß der Rhetorik daher, dass Weises Schulung einer zwiespältigen Rollenidentität, auf die das Ideal des homo politicus hinauslaufe, »mit den ursprünglichen humanistischen Intentionen nicht mehr viel gemein«242 habe. Weise ist sich dieser Kritik offensichtlich bewusst. In seinem Lustspiel vom Bäurischen Machiavellus (1681), mit dem er am 15. Februar 1679 seine erste Theatertrilogie als neuer Rektor am Zittauer Gymnasium beschloss und in dem sich Machiavelli vor dem Gerichtshof des Apollo gegen die Anschuldigung verteidigen muss, er habe »alle Falschheit / List
236 Weise, Christian (1986) : Neue Proben von der vertrauten Redens-Kunst. S. 459. 237 Shakespeare, William (2010) : Hamlet, Bd. 1 : Text. S. 193. Vgl. ebd. S. 192 : »Call me what instrument you will, / though you can fret me, yet you cannot play upon me.« 238 Ebd. S. 71. Vgl. ebd. S. 70. 239 Ebd. Vgl. ebd. S. 258. 240 Müller, Wolfgang G. (1998) : Verstellung, Rollenspiel und personale Identität in Shakespeares Dramen. In : Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1. Hrsg. von Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz. Berlin : De Gruyter. S. 671–691. S. 685. 241 Ebd. S. 675. 242 Ueding, Gert & Steinbrink, Bernd (1994) : Grundriß der Rhetorik. S. 89.
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und Betrügerey in der Welt eingeführet«243, antwortet Machiavelli, dass die Menschen nicht erst durch ihn schlecht geworden seien und argumentiert, dass die Bauern, die seine Schriften nicht zur Kenntnis genommen haben können, die schlimmsten Machiavellisten seien.244 Weise deutet hiermit an, dass das Phänomen der Verstellung, ihr Missbrauch zum Betrug und zur Täuschung, nicht allein dem gesellschaftlichen Milieu des Hofes entspringt, sondern ein grundlegendes Phänomen des sozialen Zusammenlebens darstellt.
1.3 Die Verschulung der Schaubühne und die Entschulung der Schulbühne bei Gottsched und Basedow 1.3.1 »Allein Exempel machen einen stärkern Eindruck ins Herz«245 – Das aufklärungspädagogische Programm und der Stil der Leipziger Schule
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Kritik am Theater der Wanderbühnen und der theaterfeindlichen Grundstimmung im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts versuchte insbesondere der Leipziger Professor Johann Christoph Gottsched das Theater zu reformieren und indirekt an die Literarizität, an das rhetorische Bildungsideal sowie an die moralpädagogische Zwecksetzung des Schultheaters anzuschließen. Hierdurch wurde dem deutschsprachigen Theater im Zuge seiner Institutionalisierung ein pädagogischer Auftrag eingeschrieben. Gleichwohl führten ein verändertes Naturverständnis246 und das aufkeimende bürgerliche Selbstbewusstsein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber dem rhetorischen Bildungsideal, dessen Deklamationspraxis und Verstellungskunst als Teil der aristokratischen Repräsentationskultur in Opposition zum bürgerlichen Ideal einer ungekünstelten, natürlichen Authentizität trat. Angesichts dieses Wandels erklärt sich nicht nur das Scheitern Gottscheds klassizistischer Bühnenreform und die Herausbildung einer natürlichen Schauspielkunst,247 sondern auch das Unbehagen einiger Pädagogen gegenüber einer Praxis des Schultheaters, die wei243 Weise, Christian (1976) : Bäurischer Machiavellus, in einem Lust=Spiele vorgestellter den XV. Fecr. M.DC.LXXIX. In : Christian Weise. Sämtliche Werke. Hrsg. von John D. Lindberg, Bd. 11 : Lustspiele II. Berlin und New York : De Gruyter. S. 21. 244 Vgl. Greiner, Bernhard (1993) : Komödie auf der Grenze : Christian Weises Schuldrama »Bäurischer Machiavellus«. In : Im Dialog mit der interkulturellen Germanistik. Hrsg. von Hans-Christoph Graf von Nayhauss und Krzysztof A. Kuczyński. Wroclaw : Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego. S. 49–60. S. 49. 245 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen [1729]. In : Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Steinmetz. Stuttgart : Reclam. S. 3–11. S. 6. 246 Vgl. Korte, Petra (2007) : Natur als pädagogische Basiskategorie des 18. Jahrhunderts oder Die Begründung der Erziehungswissenschaft als experimentelle Wissenschaft von der menschlichen Natur. In : Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Hrsg. von Eva Geulen und Nicolas Pethes. Freiburg i.Br.: Rombach. S. 27–47. 247 Vgl. Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 125–156. Vgl. auch Fischer-
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terhin am rhetorischen Bildungsideal festhielt. Während nämlich Christian Weise seine Stücke am Zittauer Gymnasium noch als Redeübungen für die Schulbühne konzipierte, um seine Schüler in der Kunst der Verstellung zu schulen und auf ihre berufliche Zukunft am Hofe vorzubereiten, sind die Kinderdramen von Christian Felix Weiße in erster Linie für den häuslichen Gebrauch im Kreis der Familie und die Vermittlung bürgerlicher Tugenden vorgesehen.248 Angesichts Weises pädagogischer Dramatik ist es nicht verwunderlich, dass Gottsched seine Dramen einer vernichtenden Kritik unterzog. Die Einhaltung der Ständeklausel sowie das Verbot des Stegreifspiels und der für die Oper typischen Zauber- und Maschineneffekte stellten für Gottsched, den Regelpoetiker und Schüler des Rationalisten Christian Wolff, Grundsätze einer gereinigten – und vernünftigen – Schauspielkunst und Dramatik da. Er befand Weises Stücke für »noch schlechter […] als die plautinischen«249 und hoffte den »alten Schlendrian, der weisischen Comödien«250 überwinden zu können. Während Gottsched Weises »unrichtige Stücke«251 ablehnte, lobte er aber grundsätzlich das Schultheater dafür, dass es für die Schauspieler, also für die auf der Bühne agierenden Schüler, viel zu lernen gebe : Das Gedächtnis werde geschult, die Unerschrockenheit im öffentlichen Vortrag geübt und eine ungezwungene Art in der Gestik erlangt. »Nur diejenigen werden einmal beliebte und geschickte Prediger, gute Lehrer auf hohen und niedrigen Schulen, und angenehme Hofleute werden«, erklärt Gottsched, »die ihre Rollen in den Schulcomödien, mit besonderer Anmuth und Lebhaftigkeit spielen können.«252
Lichte, Erika (1992) : Entwicklung einer neuen Schauspielkunst. In : Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hrsg. von Wolfgang Bender. Stuttgart : Steiner. S. 51–70. 248 Vgl. Dettmar, Ute (2000) : Das Drama der Familienkindheit. Der Anteil des Kinderschauspiels am Familiendrama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München : Fink. Vgl. auch Mairbäurl, Gunda (1983) : Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert. München : Oldenbourg. S. 42–46. 249 Gottsched, Johann Christoph (1741) : Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne. In : Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Bd. 7 [25.–28. Stück]. Leipzig : Bernhard Christoph Breitkopf. S. 572–604. S. 575. 250 Ebd. S. 574. 251 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Versuch einer Critischen Dichtkunst [1730]. In : Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Steinmetz. Stuttgart : Reclam. S. 12– 196. S. 185. 252 Gottsched, Johann Christoph (1741) : Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne. S. 574. – Im Jahr 1754 gab Gottsched ein rhetorisches Lehrbuch mit Vorübungen der Beredsamkeit heraus, das, wie der Titel verrät, zum Gebrauch der Gymnasien und größeren Schulen von ihm aufgesetzt wurde. Hier behandelt er unter anderem die »Kunst, eine fremde Person zu spielen. (Ethopoeia).« Die Ethopoie bestimmt er als Nachahmung »der Gesinnungen und Leidenschaften einer gewissen Person, in gewissen Umständen« (Gottsched 1754 : 124 f.). Zur Übung dieser ›monologischen Schauspielkunst‹ druckt er verschiedene Reden ab – wie Hannibals Rede an Scipio, die Rede des scythischen Gesandten an
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So wie die Schauspiele und besonders die Tragödien aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen seien – so der Titel seiner Apologie der Schaubühne aus dem Jahr 1729 –, so solle auch das Schultheater weiterhin Teil der schulischen Praxis bleiben. Während an den Schultheatern rhetorische Fähigkeiten erprobt und geübt würden, solle auf der gereinigten Schaubühne die Rhetorik und Dramatik praktiziert und vorgeführt werden. Denn eine gereinigte Schaubühne war für Gottsched vor allem eine rhetorisch und poetologisch geregelte Schaubühne, deren Vorbild er im Theater der französischen Klassik erkannte und an deren deutschsprachiger Umsetzung er gemeinsam mit der Leipziger Theatertruppe von Friederike Caroline Neuber arbeitete.253 Wirtschaftlich und kulturpädagogisch blieb das Reformprogramm aber hinter den Erwartungen zurück. Über Gottscheds Beitrag zur Dramatik urteilte Lessing bekanntlich später, dass es wünschenswert gewesen wäre, »daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeintlichen Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen«254. Und der rhetorische Deklamationsstil mit seinem stilisierenden Pathos, der gravitätischen Gebärdensprache und den choreographierten Posen und Bewegungen, wurde in theaterhistorischen Darstellungen rückblickend oft geringschätzig als ›Tanzmeistergrazie‹ oder ›Menuettstil‹ bezeichnet.255 Dessen ungeachtet rückten Gottsched und die Neuberin durch ihren einvernehmlichen Ausschluss des Stegreifspiels die Auseinandersetzung mit der dramatischen Textvorlage ins Zentrum der Probenarbeit. Daneben hielt die Prinzipalin ihre Schauspieler an, ihr Leben nach den Grundsätzen einer bürgerlichen Moral zu führen. Sie duldete keine Liebesaffären und unverheiratete Schauspielerinnen lebten wie Pflegetöchter bei ihr. Außerdem bekochte sie die gesamte Truppe, damit ihre Schauspieler sich an ein kollegiales Zusammensein gewöhnten sowie weder Geld noch Zeit in Wirtshäusern verschwendeten.256 Ihr erzieherischer Anspruch gegenüber ihren Schauspielern wird in ihrem allegorischen Vorspiel Die Zufriedenheit deutlich, das im Juni 1741 in Leipzig aufgeführt wurde. Hier überreicht der Fleiß, der als Bediensteter gekleidet ist, einem Komödianten ein Buch mit folgendem Titel : Die Kenntnis von der ganzen Welt, nach ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Umständen ; von allen Sprachen, welche die fünf selbstlautenden Buchstaben entrathen Alexander den Großen oder die erfundene Rede eines reichen Jünglings, der durch Verschwendung arm geworden sei. 253 Vgl. Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne, Bd. 2. S. 755–758. Vgl. auch Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4 : Von der Aufklärung zur Romantik, 1. Teil. Salzburg : Otto Müller. S. 479–500. 254 Lessing, Gotthold Ephraim (1997) : Briefe, die neueste Litteratur betreffend. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 4 : Werke 1758–1759. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 499. 255 Vgl. Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 130–134. 256 Vgl. Emden, Ruth B. (1997) : Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften, ihr Publikum. Amsterdam : Edition Rodopi. S. 159 f.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
können, und wie sie zu entrathen seyn, von der Tonkunst der Sprache, der Stellung des Leibes, des Ganges, der Kleidung, der Gesichter, nach der alten und neuen Mode, der neuen Klugheit zum besten herausgegeben, von einem, der dieses alles weis.257
Der Komödiant antwortet darauf, dass er das Buch nicht lesen könne, worauf ihm der Verstand, der als wohl gekleideter, ordentlicher Herr auftritt, eine Lehre erteilt : Nimm meinen Unterricht und meinen Rath in Acht ! Sags deinen Freunden auch und sey darauf bedacht ; Vergiß nicht, wer du bist. Gib Tugend zu erkennen ; Sey allzeit wer du sollst. […] Bleib ein vernünftiger Mensch, ein Bürger guter Sitten, Dem kein Gesetz zu schwer ; der keines überschritten, Und übertreten wird. […] Verlange nichts zu frühe, Nichts ohne guten Grund. Nichts ohne Fleiß und Mühe. […] Verbeßre, was du kannst ; sey nützlich und ergötze ; Mach, daß man dich des Schutzs der Gnade würdig schätze. Mach deinen Gönnern Ruhm, durch Ordnung, Fleiß u. Zucht, Und zeige nach und nach den Nutzen und die Frucht ; […] Euch aller Menschen Gunst, zieht jedes Herz zu dir. Halt ihre Freundschaft hoch, und laß sie nicht erkalten, […]. Glaub, trau und folge mir, so bleib ich auch dein Freund, Der auf Dich Achtung giebt, daß du dir selbst nicht schadest, Und wissentlich Gefahr und Unglück auf dich ladest.258
Die Ansätze und Maßnahmen der Neuberin und Gottscheds zur Professionalisierung des deutschsprachigen Theaterwesens nach dem Vorbild des Theaters der französischen Klassik lassen sich in mehrfacher Hinsicht als Verschulung des Theaters begreifen : Zum einen bestand ihre Leistung darin, durch die Reglementierung des Spiels, des Alltags der Schauspieler und der Dramatik einen »Stil, kurz, die erste Schule«259 – die sogenannte »Leipziger Schule«260 – begründet zu haben, die mit Johann Friedrich Schönemann, Carl Theophil Döbbelin und Gottfried Heinrich Koch in der Tat bedeutende Schüler hervorbrachte. Zum anderen gewinnt die Schaubühne den Charakter einer Schule im Sinne einer Erziehungsanstalt, indem sie als aufklärungspädagogisches Instrument eingesetzt wurde, von dem man sich wie von einer Äsopischen Fabel erhoffte, moralische Lehrsätze schauspielerisch zu veranschaulichen und das Lasterhafte in der Komödie als lächerlich, in der Tragödie als verhängnisvoll zu desavouieren. Den Dramatikern rät Gottsched daher, sich zuerst einen solchen lehrreichen moralischen Satz auszuwählen,
257 [Anonym] (1741) : Nachricht von denen im vorherigen Monate in Leipzig aufgeführten Schauspielen. In : Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1741. Heumonat [Juli]. [Hrsg. von Johann Christoph Schwabe]. Leipzig : Bernhard Christoph Breitkopf. S. 91–96. S. [94] f. 258 Ebd. S. 95 f. 259 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 292. 260 Maurer-Schmoock, Sybille (1982) : Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen : Niemeyer. S. 153.
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der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt.261
Die Schaubühne der Leipziger Schule war also im weitesten Sinne eine pädagogische Anstalt sowohl für ihre Schauspieler als auch für ihr Publikum. Nun war Gottscheds Funktionsbestimmung des Theaters als Schule und Institution eines sich aufklärenden bürgerlichen Publikums nicht nur Ausdruck seiner rationalistischen und von Christian Wolff geprägten Ansichten,262 sondern schloss eben auch an den Diskurs um die Funktion und Legitimation des Schultheaters an. Das legen zwei Übersetzungen nahe, die Argumente für Gottscheds theaterreformerisches Anliegen liefern und von Autoren aus seinem näheren Umfeld angefertigt wurden : Johann Friedrich May war ein alter Bekannter und späterer Kollege Gottscheds und übersetzte die Rede des französischen Jesuitenpaters Charles Porée. Immanuel Friedrich Gregorius schien ebenfalls gute Kontakte zu Gottsched zu pflegen – »kriecherische Briefe«263, so der Lessing-Biograph Hugh Barr Nisbet, an Gottsched zu schreiben –, denn seine Übersetzung der Oratio de comoediis von dem von Gottsched geschätzten Baseler Professor Samuel Werenfels wurde von Gottsched wohlwollend rezensiert.264 Johann Friedrich May, der 1741 außerordentlicher Professor für Philosophie und ein Jahr später ordentlicher Professor für Moral und Politik in Leipzig werden sollte, veröffentliche im Jahr 1734 seine Übersetzung der Rede des französischen Jesuitenpaters Charles Porée, die zuvor von Pierre Brumois aus dem Lateinischen ins Französische übertragen wurde, zusammen mit einer von ihm selbst verfassten Abhandlung über die Schauspiele.265 261 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Versuch einer Critischen Dichtkunst. S. 96. – Gottsched verdeutlicht dieses Vorgehen, eine geeignete Fabel für ein Drama zu erfinden, an einem Beispiel : »Ich wollte einem jungen Prinzen die Wahrheit beibringen : Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit sei ein abscheuliches Laster. Diesen Satz recht sinnlich und auf eine angenehme Art fast handgreiflich zu machen, erdenke ich folgende allgemeine Begebenheit, so sich dazu schicket, indem man daraus die Abscheulichkeit des gedachten Lasters sonnenklar sehen kann. Es war jemand, wird es heißen, der schwach und unvermögend war, der Gewalt eines Mächtigern zu widerstehen. Dieser lebte still und friedlich ; […]. Ein Gewaltiger, dessen unersättliche Begierde ihn verwegen und grausam machte, ward dieses kaum gewahr, so griff er den Schwächern an, tat mit ihm, was er wollte, und erfüllete mit dem Schaden und Untergange desselben seine gottlose Begierde. Dieses ist der erste Entwurf einer poetisch-moralischen Fabel« (Gottsched 1998 : 96 f ). 262 Vgl. Graf, Ruedi (1992) : Das Theater im Literaturstaat. S. 45–118. Vgl. auch Haider-Pregler (1980) : Des sittlichen Bürgers Abendschule. S. 37–45. 263 Nisbet, Hugh Barr (2008) : Lessing. Eine Biographie. München : Beck. S. 146. 264 Vgl. [Gottsched, Johann Christoph] (1744) : Eine Rede von den Schauspielen. Aus dem Lateinischen des Hrn. Werenfels. In : Beyträge Zur Cristischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur, Achter Band. Zwey und dreißigstes Stück. S. 598–623. 265 Vgl. [Porée, Charles] (1734) : Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen, Ob
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Porée, der Rhetorik am Collège Louis-le-Grand in Paris lehrte, geht in seiner Rede der Frage nach, ob die Schaubühne eine Schule guter Sitten sein könne, und kommt zu der Antwort : »Ihrer Natur nach kann sie es seyn ; durch unser Beschulden ist sie es nicht.«266 Dementsprechend teilt sich seine Rede in zwei Teile : Im ersten Teil arbeitet Porée die Idee einer Schaubühne heraus, die neben Philosophie und Historie den Rang einer solchen Schule einnehmen könne. Im zweiten Teil führt er ähnlich wie Schiller in seinem Pamphlet Über das gegenwärtige teutsche Theater vor,267 wie Dramatiker, Schauspieler und vor allem das Publikum ihren Teil dazu beitragen, dass sich diese Idee nicht gänzlich realisiere. Um aber die Zweifel an der Idee einer moralisch lehrreichen Schaubühne auszuräumen, verweist Porée unter anderem auf die Praxis des Schultheaters : Warum würden denn, meine Herren, in Frankreich, Italien, Deutschland, und andern Orten, von den gelehrtesten Männern, welche zur Auferziehung der Jugend bestimmt sind, mit hoher Vergünstigung öffentliche Schaubühnen, aufgerichtet, die jungen Leute in den Schulen darauf zu üben ? Ihr unglückseeligen Lehrer, und zwar um desto mehr unglückseelig, je weniger man euch beklagt ! Sollte denn euer mühsamer Fleiß, den ihr euch hierinnen gebt, nach der Absicht des Staates und eurem Sinne nur dahin abzielen, die Stimme angenehm, und veränderlich, die Geberden fein, den Gang ansehnlich, die Tragung des Leibes wohlanständig und geschickt zu machen ? Es ist wahr, ihr verlieret hierinnen, bey euren Bemühungen nichts. Ihr erkennet dessen Werth und Gebrauch in dem Umgange mit Leuten. Allein ihr setzt euch dabey einen weit vortreflichern Endzweck vor. Ihr versetzet eure Schüler aus den Schulstaube in die herrliche Schule der Schaubühne, um die Jugend, welche dereinst in dem Staate wichtige Rollen spielen soll, beyzeiten anzugewöhnen, dasjenige zu verachten oder zu suchen, was ihnen die kleine Schaubühne lächerliches oder löbliches vorstellig gemacht hat. […] Würde man also eine Uebung loben, wenn man nicht glaubte, daß sie nützlich seyn könnte ?268
Auch Samuel Werenfels, der zunächst in Basel eine Professur für griechische Sprache, dann für Eloquenz innehatte und zeitgleich auch verschiedene theologische Professuren bekleidete, verteidigt in seiner Oratio de comoediis, die um 1687 entstanden ist und erst 1716 in lateinischer Sprache einem akademischen Publikum zugänglich gemacht wurde, die gymnasiale und akademische Praxis des Schul- und Gelehrtentheaters. Werenfels
sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können ? Übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne, herausgegeben von Joh[ann] Friedrich Mayen, A.M. Leipzig : Bernhard Christoph Breitkopf. 266 Ebd. S. 6. 267 Vgl. Schiller, Friedrich (1992) : Über das gegenwärtige teutsche Theater [1782]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 167–175. 268 [Porée, Charles] (1734) : Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen, Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können ? S. 25 f.
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glaubt, dass es eine »Arzney«269 in sich berge, die Zuschauer und Akteure tugendhafter und gelehrter machen könne. Denn anders als die »Malerkunst«270 und die Musik spreche die »comische Kunst«271 sowohl das Ohr als auch das Auge an. Hierin liege zugleich ihr Vorteil gegenüber dem bloßen Lesen klassischer Dramen : Hat nun die Lesung solcher Schauspiele den gelehrtesten Männern den größten Nutzen geschafft : was wird das nicht nützen, wenn man dieselben mit anständigen Leibesbewegungen, mit gehöriger Aussprache, mit solchen Minen, mit solchen Augen, mit solcher Kleidung, mit solchem Gange, wie es den Sachen zukommt, vorstellen sieht.272
Anschaulich und eindrücklich werde auf dem Theater die Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere in der Historie und der Lebenswelt vorgestellt, wodurch es sich als eine Stätte der Weltweisheit behaupte : »In diesem Spiegel des menschlichen Lebens sehen wir«, so Werenfels, »was anständig, was närrisch, was bäurisch, was höflich, was artig, was knechtisch, was erhaben, was niederträchtig ist, was einer jedweden Person zuwider ist, und was ihr hergegen zu kömmt«273, und während die Zuschauer »mit einer gewissen Person in der Comödie, welche mit einer besondern und vortrefflichen Tugend begabt ist, gleichsam eine genaue Freundschaft stiften«274, schleiche sich, davon ist Werenfels überzeugt, die Tugend mit List ins Gemüt der Zuschauer ein. Die These, dass das Theater auch eine »Schule der Beredsamkeit«275 sei, untermauert Werenfels nicht nur mit einem Verweis auf die theaterpädagogische Praxis der bildungsreformerischen und pädagogischen Autoritäten Johannes Sturm276 und Johann Amos Comenius,277 sondern auch mit dem Hinweis, dass Cicero den römischen Schauspieler 269 Stern, Martin & Wilhelmi, Thomas (1993) : Samuel Werenfels (1657–1740) : Rede von den Schauspielen. Der lateinische Urtext (1687/1716), die Übersetzung von Mylius (1742) und Gregorius (1750) sowie deren Rezeption durch Gottsched, Lessing und Gellert. Ein Beitrag zur Theaterfrage in der Frühaufklärung. In : Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Bd. 22. S. 73–173. S. 109. 270 Ebd. 271 Ebd. 272 Ebd. S. 119. 273 Ebd. S. 113. 274 Ebd. S. 129. 275 Ebd. S. 115. 276 Johannes Sturm hatte im Jahr 1538 die Leitung der Straßburger Lateinschule übernommen und nach anfänglichem Zögern das Schultheater bald ins Zentrum seiner pädagogischen Arbeit gestellt. Seiner humanistischen Überzeugung folgend, brachte er mit seinen Schülern nur Stücke in lateinischer und griechischer Sprache – insbesondere von Terenz, Plautus und Aristophanes – auf die Bühne. Das Schultheater fungierte bald als Stadttheater und seine Aufführungen wurden über die Grenzen der Region bekannt, sodass Zuschauer zum Teil von weit her anreisten (Brauneck 1993 : 544–547). 277 Comenius betrachtete das darstellende Spiel als eine anschauliche Möglichkeit des Unterrichtens und legte mit seinem Unterrichtswerk Schola ludus (Die Schule als Spiel, 1654) dementsprechend
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Roscius für seine körperliche Beredsamkeit bewunderte. Eben diese könne, so stimmt Werenfels in den Chor der üblichen Lobreden ein, durch die Praxis des Schultheaters gefördert werden. Die auf der Bühne agierenden Schüler würden die Freimütigkeit erlangen, die sie befähige, öffentlich zu reden und zu handeln : Sie »legen die kindische Furcht ab ; sie verlernen die bäurische Schamhaftigkeit, welche die ohnlängst der Ruthe entzogenen Jünglinge gleichsam gefangen hält.«278 Sehr deutlich will Werefels die Praxis des Schultheaters aber von der »Pickelherings kunst«279 unterschieden wissen und keinesfalls den Eindruck erwecken, er befürworte die Ausbildung von Komödianten : Ich billige diejenigen Schauspiele, welche nicht von gedungenen Comödianten, sondern von ehrbaren Jünglingen ; nicht von Gauklern, welche sich für das Geld hören lassen ; sondern von solchen, welche sich der freyen Künste befleißigen, aufgeführt werden ; und welche zu spielen, sich oft auch fürstliche Peronen, ohne Verminderung ihrer Würde, nicht schämen.280
Als die Rede 1742 zunächst von Christlob Mylius, Lessings Vetter, ins Deutsche übertragen wurde, stand aber weniger die Legitimation des Schultheaters im Vordergrund, sondern Mylius’ Übersetzung – aus der die hier angeführten Zitate genommen wurden – soll die Anstrengungen der Bühnenreformer untermauern, das Stegreifspiel der Wanderbühnen zugunsten einer geregelten und gereinigten Schaubühne zu überwinden und die Schauspielerei als eine ehrbare und künstlerische Tätigkeit zu bestimmen. Spätestens Lessing, der zwar die Übersetzung der Rede von Immanuel Friedrich Gregorius wegen seiner vermeintlichen »Schulknabenschnitzer«281 verriss, machte aber deutlich, dass er Werenfels’ Ansichten zum Schultheater nicht nur grundsätzlich zustimme, sondern ihre Geltung auf das Theater überhaupt ausdehnen wollen würde. Während Porée selbst das Lob für die Schulbühne als Hinweis für die Möglichkeit einer moralisch lehrreichen Schaubühne heranzog, wurde Werenfels’ Rede so lanciert, dass sich seine Apologie des Schul- und Gelehrtentheaters auf die Schaubühne ausdehnen ließ. ein aus acht Teilen bestehendes Theaterstück vor. In der Vorrede gibt er methodische Ratschläge zur unterrichtspraktischen Umsetzung, zur Auswahl des Spielortes, zur Verteilung der Rollen, zur Sitzordnung des Publikums sowie zur Organisation der Aufführung (Klepacki 2011 : 209–212). 278 Stern, Martin & Wilhelmi, Thomas (1993) : Samuel Werenfels (1657–1740) : Rede von den Schauspielen. S. 119. 279 Ebd. S. 105. 280 Ebd. S. 125. 281 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Samuel Werenfels Rede zu Verteidigung der Schauspiele. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, und mit einigen Anmerkungen begleitet von M. Immanuel Friedr. Gregorius, aus Camenz. Wittenberg, 1750. In 4to, auf 40 Seiten. In : Gotthold Ephraim Lessing Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 1 : Werke 1743–1750. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 879–883. S. 881.
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Wann Gottsched auf die Rede des Baseler Theologen stieß, ist nicht bekannt. In seiner Verteidigungsrede der Schaubühne aus dem Jahr 1729 zitiert er sie nicht. Martin Stern und Thomas Wilhemli bemerken aber, dass Gottscheds theaterreformerisches Anliegen, die Entkriminalisierung des Theaters durch den Nachweis seiner Nützlichkeit, in dieselbe Richtung weise.282 Obwohl Gottsched also in Werenfels’ Verteidigung des Schul- und Gelehrtentheaters Argumente fand, die seiner Sache dienlich waren und er mit Werenfels einen protestantischen Theologen auf seiner Seite wusste, befand Gottsched aber die Dramatik und das Stückerepertoire des Schultheaters als nicht zufriedenstellend. Dramentheoretisch und theaterästhetisch suchte Gottsched daher den Anschluss an die französische Klassik. Doch der Kulturimport französischer Versdramen und der deklamierenden Spiel- und Sprechweise erwies sich für viele deutsche Schauspieler als Hindernis. Denn in den deutschen Übersetzungen wirkte das Metrum der Alexandrinerverse schwerfällig und monoton, sodass sich ihr Sprechen oft als klapperndes Versskandieren gestaltete. Der Schauspieler Adam Gottfried Uhlich, der zunächst in der Theatertruppe der Neuberin wegen seiner leserlichen Handschrift als Sekretär der Truppe Stücke und Rollen kopierte, später dann in der Truppe ihres Schülers Schönemann als Schauspieler engagiert wurde, wandte sich daher 1744 Hilfe suchend an Gottsched. Es wäre wohl nötig wenn Eur. Hochedelgeb. den theoretisch-historischen Theil versprochenermaßen zur Schaubühne mit herausgäben, daß der Comödiant scharfe Lehren erhielte, wie er sich in der Tragischen und wie er sich in der Comischen Vorstellung verhalten, wie er da den Thon heben und dort fallen, da langsam, dort hurtiger, da stark und dort gelassen reden müßte.283
Doch Gottsched lieferte diese Lehre nicht, sondern verwies bereits in seiner Critischen Dichtkunst knapp auf Michel Le Faucheurs Traitté de l’action de l’orateur, ou de la prononciation et du geste (1657) – eine barocke Redeanleitung für angehende Juristen und Beamte : Bei den Alten hat es einige Lehr-Meister gegeben, die jungen Komödianten Anleitung dazu gaben, wie sie eine Rolle gut spielen sollten. […] Weil auch in der Tat ein Redner und Komödiant in diesem Stücke einerlei Pflicht haben, so können sich diese auch aus dem Traktate des Le Faucher [sic !] ›De L’action de L’Orateur‹, so unter [Valentin] Conrarts Namen herausgekommen, auch ins Deutsche übersetzt worden, manche gute Regel nehmen.284
Gottsched strebte also keineswegs eine eigenständige, von der Rhetorik emanzipierte Schauspielkunst an, sondern hielt gerade an der rhetorischen Tradition des Deklamie282 Vgl. Stern, Martin & Wilhelmi, Thomas (1993) : Samuel Werenfels (1657–1740) : Rede von den Schauspielen. S. 82. 283 Zit. nach Wehr, Marianne (1966) : Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung, 1. Teil. Leipzig. S. 172. 284 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Versuch einer Critischen Dichtkunst. S. 175.
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rens und dem damit verbundenen Bildungsideal der Rhetorik fest.285 Wichtiger erschien Gottsched, den »literarischen Einfluß wieder auf der Bühne geltend zu machen.«286 Sowohl für die Schau- als auch für die Schulbühne fehlte es aber an geeigneten dramatischen Texten. Abhilfe wollte Gottsched hier durch seine sechsbändige Stückesammlung Die Deutsche Schaubühne leisten, die, wie er schreibt, »gute Muster von Lust- und Trauerspielen«287 versammelt. Schulrektoren, die selbst Stücke für ihre Schulbühnen schrieben, orientierten sich, so Walter Gerlach, an diesen Mustern : N[athanael] Baumgarten in Berlin (1741 »Der sterbende Sokrates«), [Johann Gottfried] Heinitz in Kamenz (1740 »Die Zufriedenheit in den Schäferhütten«), Ch[ristian] Stieff in Breslau (»Germanicus«), J[ohann] K[aspar] Arlet in Breslau (»Alexander Servus«), [Gottfried] Langhannß in Schweidnitz (»Telemach in Ägypten«), [Christian Tobias] Damm (»Damons Bürgschaft« und »Der Ausgang des Aias«). Stücke von diesem Charakter bildeten bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein in der Hauptsache das Repertoire der Schulbühnen.288
Auch der Rektor der Schule zu Annaberg im Erzgebirge Adam Daniel Richter, dessen Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne Gottsched in seinen Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit abdruckte und kommentierte – und der später Rektor am Zittauer Gymnasium werden und mit der dortigen Schuljugend Lessings Minna von Barnhelm und Emilia Galotti vorstellen sollte289 –, bemerkte, dass »wir Deutschen noch keine Meisterstücke«290 hätten. Da er aber ein Theaterstück mit seinen Schülern zur Aufführung bringen wollte – zu der er alle Gönner, Freunde 285 Vgl. Ueding, Gert & Steinbrink, Bernd (1994) : Grundriß der Rhetorik. S. 115–133. Vgl. auch Robling, Franz-Hubert (2007) : Redner und Rhetorik. S. 148–152. 286 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 292. 287 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Vorrede zur ›Deutschen Schaubühne‹ [1741]. In : Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Steinmetz. Stuttgart : Reclam. S. 253– 275. S. 268. 288 Gerlach, Walter (1915) : Das Schuldrama des 18. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Jugendliteratur. In : Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, 5. Jg. S. 93–122. S. 98. – Nathanael Baumgarten, dessen Stück Der sterbende Socrates sich vermutlich an Gottscheds Vorlage des Sterbenden Catos anlehnt, war bis 1741 Konrektor am Berlinischen Gymnasium ›Zum Grauen Kloster‹, Christian Tobias Damm war seit 1730 Rektor am Köllnischen Gymnasium in Berlin. Johann Gottfried Heinitz war zwischen 1736 und 1743 Rektor der städtischen Lateinschule in Kamenz. Christian Stieff wurde 1709 Prorektor, 1717 Rektor und Bibliothekar am Magdalenengymnasium in Breslau. Johann Kaspar Arlet (auch latinisiert : Arletius) wurde hier im Jahr 1755 Rektor. Und Gottfried Langhannß war Konrektor der Schule in Schweidnitz. 289 Vgl. Wehr, Marianne (1966) : Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. S. 177. Vgl. auch Gerlach, Walter (1915) : Das Schuldrama des 18. Jahrhunderts. S. 99. 290 Gottsched, Johann Christoph (1741) : Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne. S. 603.
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und »die ganze löbliche Bürgerschaft«291 einlud –, probte er mit seinen Schülern Das Gespenste mit der Trummel, eine Übersetzung von Joseph Addisons Komödie The Drummer or the Haunted House (1715) nach einer Bearbeitung von Philippe Néricault Destouches, die in Gottscheds erster Ausgabe der Deutschen Schaubühne erschienen war und schon »verschiedene Male auf der Neuberischen Bühne vorgestellt«292 wurde. Doch Richter klagt, dass seine Schüler nicht im Stande waren, es vorzustellen : »Sie thaten dem Stücke weder in Worten, in Ansehung der Sprache, noch in Geberden und Stellung des Leibes einige Genüge : so, daß dieses, sonst ziemlich regelmäßige, Lustspiel, diesen jungen Leuten abgeschmackt und nicht lustig genug zu seyn schien. Ich wurde also genöthiget«, schreibt Richter weiter, »es wieder weg zu legen, und mußte« – ausgerechnet – »bey Herrn Weisen Hülfe suchen.«293 Auch wenn Gottscheds Reformprogramm, wie Marianne Wehr anmerkt, gerade über »die kleinstädtischen Praktiker des Schultheaters«294 ein bürgerliches Publikum erreichte, erwies sich, wie Richters Klage deutlich macht, die Auswahl seiner Musterstücke für die Schulbühnen als ungeeignet. 1.3.2 »Soll man Kinder Komödien spielen lassen ?«295 – Die Kritik am Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik am Beispiel des Schul- und Kindertheaters
Gottsched war gewiss nicht der Erste, der das Theater als Schule bezeichnete, mit ihm setzte aber im 18. Jahrhundert eine Institutionalisierung des deutschsprachigen Theaterwesens ein, in deren Verlauf immer wieder auf den Schulcharakter der Schaubühne hingewiesen wurde – auch wenn die eigentliche Theaterpraxis diesem Zweck nie alleine diente oder den Ansprüchen selten genügen konnte. Obgleich sich diese Verschulung des Theaters auch nach Gottsched noch fortsetzte, Aufklärer das Theater weiterhin mit pädagogischen Vorzeichen versahen, scheiterte aber Gottscheds Bühnenreform, ein Theater nach dem Vorbild der französischen Klassik einzurichten. Das nach rhetorischen Maximen gestaltete Deklamieren auf der Bühne wurde allmählich durch eine natürliche Schauspielkunst abgelöst und die Aufgabe des Schultheaters wurde nicht mehr allein in einer berufspropädeutisch relevanten Schulung rhetorischer Fähigkeiten gesehen. Während Johann Gotthelf Lindner,296 der Rektor der Domschule zu Riga, noch grundsätzlich an diesem rhetorischen Bildungsideal festhielt, bemerkte er aber schon, »daß
291 Ebd. 292 Gottsched, Johann Christoph (1998) : Vorrede zur ›Deutschen Schaubühne‹. S. 273. 293 Gottsched, Johann Christoph (1741) : Zufällige Gedanken über Herrn Adam Daniel Richters, Rect. zu Annaberg Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne. S. 603. 294 Wehr, Marianne (1966) : Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. S. 178. 295 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? In : Braunschweigisches Journal philosophischen und pädagogischen Inhalts, Zweites Stück. S. 206–219. 296 Vgl. Hollander, Bernhard (1980) : Geschichte der Domschule, des späteren Stadtgymnasiums zu Riga.
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Schüler auf ihren Bühnen empfinden lernen sollen«297. Noch deutlicher zeigt sich diese Entwicklung am Philanthropin in Dessau. Zwar rechtfertigte man auch hier die Praxis des Schultheaters weiterhin mit dem Verweis, es trage zur Ausbildung der »Wohlredenheit«298 bei, aber die Mannigfaltigkeit der Theaterformen am Philanthropin deutet eher daraufhin, dass die Potentiale des darstellenden Spiels für einen anschaulichen Unterricht und ein spielerisches Lernen im Sinne der philanthropischen Pädagogik experimentell erprobt wurden. Die Veröffentlichung und Verbreitung der aus dieser Praxis hervorgegangenen Kindertheaterstücke – die von Philanthropen selbst oder von der Reformschule zugeneigten Autoren verfasst wurden – führte zusammen mit dem verbreiteten Unbehagen gegenüber dem rhetorischen Bildungsideal allerdings dazu, dass sich die Praxis des Kindertheaters aus den Schulen in den Kreis der bürgerlichen Kernfamilie zurückzog. Mit diesem Rückzug des Theaterspiels fand am Ende des 18. Jahrhunderts eine Entschulung des Schultheaters statt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts konstatierte Johann Gotthelf Lindner in seinem Beitrag zu Schulhandlungen, dass es nur sehr wenige Stücke gebe, die sich für die Schulbühne eignen würden. Das Schuldrama, unter dem er eine »vorgestellte Handlung« versteht, die »den Schulen gemäß«299 sei, »möchte vielleicht noch ein Feld zu bebauen seyn«300 und bedürfe entsprechender Leitlinien. Solche dramaturgischen Leitlinien beträfen, so Lindner, erstens »das Innerliche der Sitten bey den Personen, und das Aeusserliche der Schauspieler«301 – den »Wohlstand«302 –, zweitens die Charaktere, Affekte und Situationen sowie drittens die »Anlage des Stücks«303. Lindners Praxis des Schultheaters diente zusammen mit der wiederaufgenommenen Tradition der Redeakte dazu, der Schuljugend »eine edle Dreistigkeit und das Geschick zu öffentlichen Reden, das weder unverschämt noch höltzern, sondern anständig, artig und muthig«304 sei, zu vermitteln. Er setzte damit, so Hans Graubner, die traditionelle
Hrsg. von Clara Redlich. Hannover-Döhren : Harro v. Hirschheydt. S. 58–85 (= Beiträge zur Baltischen Geschichte, Bd. 10). 297 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. Königsberg : Gebh. Ludwig Woltersdorffs Wittwe. S. [V]. 298 Basedow, Johann Bernhard (1770) : Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Altona und Bremen : Cramersche Handlung. S. 270. 299 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. S. [V]. 300 Ebd. S. [IX]. 301 Ebd. S. [XI]. 302 Ebd. 303 Ebd. 304 Zit. nach Hollander, Bernhard (1980) : Geschichte der Domschule, des späteren Stadtgymnasiums zu Riga. S. 61.
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»Rhetorik-Erziehung«305 fort. Lindner rät, alle »Gauckeleien«306, Trickeffekte (»coups de Théatre«307) sowie übertriebene Kostümierungen und Dekorationen auszulassen und »Ausdruck, Züge, Sprache, und die ganze Ausarbeitung«308 des Spiels dem dramatischen Text angemessen zu gestalten, das heißt, ein »unmäßiges und eitles Declamieren« ebenso wie jede »Künsteley«, jeden »Schwulst«, das »Ueberzuckerte« und allen »Popanz«309 zu vermeiden. »Aber«, so wendet Lindner kritisch ein, obgleich die Geschicklichkeit im Declamieren, worunter die Gestus […] sowohl als Pantomimie [sic !] begriffen ist, auf solcher Schulbühne ihre größte Stärke erreichen kann ; obgleich der gesunde Witz zur Nachahmung dadurch unmerklich angefeuret [sic !] werden mag : so ist doch dieses der abgezweckte Nutzen nicht allein. […] Nein ! Das Angelegentliche, mit dem Jünglinge in solchen Schulübungen die eingestreuten Sittenlehren sich selbst vorsagen sollen, kan den Saamen der Tugenden zuweilen glücklich in ihnen erwecken.310
Daher empfiehlt Lindner ferner, dass alle Charaktere, die von Schülern gespielt werden, tugendhaft sein müssten. Es dürften auch keine vollkommenen »Bösewichter«, sondern lediglich »Irrende«311 auf der Bühne gezeigt werden. Die Darstellung des »Abscheulichen und Schändlichsten«312 solle ebenso vermieden werden, wie die »Triebfeder der Liebe mit ihren Intrigen oder gewaltigen Erscheinungen dieser Leidenschaft«313 vorzuführen. Für die Anlage der Stücke rät Lindner darum zum einen, dass man statt Heldenaufzügen oder Staatsaktionen eher alltägliche »Scenen des Lebens«314 aus bürgerlichen Kontexten wählen oder sich an bürgerlichen Dramen wie Françoise de Graffignys Cenie 305 Graubner, Hans (1996) : ›Sind Schuldramata möglich ?‹ Epilog im 18. Jahrhundert auf eine auslaufende Gattung (Lindner, Abbt, Hamann, Herder). In : Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Deutsch-französische Perspektiven. Hrsg. von Horst Turk und JeanMarie Valentin. Bern : Peter Lang (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Bd. 40). S. 93–130. S. 101. – Im Jahr 1755 erschien von Lindner ein Lehrbuch zur Rhetorik. In dieser Anweisung zur guten Schreibart überhaupt, und zur Beredsamkeit insonderheit, nebst einigen Beispielen und Proben schreibt er am Ende auch über den Vortrag der Rede – »De Actione«. Die Stimme des Redners solle laut Lindner angenehm, rein, vernehmlich und nicht monoton sein, die Stellung des Körpers solle beim Vortrag »natürlich und ungezwungen«, »nicht Tänzer- oder Pantomimenmäßig, aber auch nicht klotzig und unbeschliffen« sein. Als weiterführende Literatur empfiehlt der Rigaer Direktor Johann Friedrich »Löwens Beredsamkeit des Leibes, die jüngst erschienen ist« (Lindner 1755 : 374– 377). 306 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. S. [XX]. 307 Ebd. 308 Ebd. S. [XXII]. 309 Ebd. S. [III f.]. 310 Ebd. S. [XXIV]. 311 Ebd. S. [XV]. 312 Ebd. S. [XVI]. 313 Ebd. S. [XVIII]. 314 Ebd. S. [XII].
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
(1752), Pierre Claude Nivelle de La Chaussées Melanide (1741) oder Lessings Miß Sara Sampson (1755) orientieren solle. »Gottsched und Schönaich sind vergessen«315 – wird Lindner später in seinem Lehrbuch zur Ästhetik, Rhetorik und Poetik urteilen. Stattdessen regt er an, Dramen von Diderot als Spielvorlage zu wählen : »So würde man mit Auslassung etwan der Liebe, nach Diderots Entwürfen und Muster in seinem natürlichen Sohn und Hausvater […] ein ähnliches Familien- oder Hausstück, wenn ich so reden darf, hervorbringen.«316 Johann Gottfried Herder, der zwischen 1764 und 1765 einige Monate unter Lindner an der Domschule in Riga tätig war, bezeichnete ihn daher in einem Brief an Johann Georg Hamann auch als »Schuldiderot«317. Lindner äußert zum anderen beiläufig die Idee, dass auch über Stücke nachzudenken sei, in denen Schuljungen die handelnden Charaktere seien, und verweist in einer Fußnote auf ein Beispiel, in dem diese Idee bereits umgesetzt wurde. Hamann hatte Lindner auf diese Erzählung318 in dramatischer Form aufmerksam gemacht und angeregt, für die Redeübungen und Schulhandlungen ebenfalls kindgemäße Themen und Situationen der bürgerlichen Lebenswelt aufzunehmen. Hamann kritisierte Lindner dafür, so Graubner, dass er seine Schüler mit seinen Stücken überfordere. »Er konfrontiere sie mit Problemen, die nicht kindgemäß seien und sie deshalb zu falschen, aufgesetzten und pathetischen Gefühlen erziehe[n].«319 Aber Lindner folgte dem Rat seines Freundes nicht. In seinen Fünf Hirtenbriefen, das Schuldrama betreffend, in denen Hamann Lindner zwar gegen einen von Thomas Abbt verfassten Verriss verteidigt,320 wiederholt Hamann seine Kritik an
315 Lindner, Johann Gotthelf (1772) : Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst. Zweiter Theil, der die Rhetorik und Poetik in sich faßt. Königsberg und Leipzig : J. D. Zeisens Wittwe und J. H. Hartungs Erben. S. 357. 316 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. S. [XIII]. 317 Herder, Johann Gottfried (1977) : An Johann Georg Hamann [Riga, 23. April / 4. Mai 1765]. In : Johann Gottfried Herder. Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Bd. 1 : April 1763–April 1771. Hrsg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar : Hermann Böhlau. S. 40–42. S. 40. – Vgl. auch Graubner, Hans (2002) : Der ›Schuldiderot‹ Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) und sein Schuldrama Der wiederkehrende Sohn. In : Königsberger Beiträge. Von Gottsched bis Schenkendorf. Hrsg. von Joseph Kohnen. Bern : Peter Lang. S. 37–64. S. 38. 318 Vgl. [Waser, Johann Heinrich] (1757) : Moralische Beobachtungen und Urtheile. Zürich : Orell. S. 171–198. 319 Graubner, Hans (2002) : Der ›Schuldiderot‹ Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) und sein Schuldrama Der wiederkehrende Sohn. S. 39. 320 Mit dem Verriss von Lindners Beitrag zu Schulhandlungen in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (231., 232. Brief, 1762) provozierte Abbt eine anonyme Erwiderungsschrift Lindners unter dem Titel Briefwechsel, bey Gelegenheit einiger Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1762). Hieraufhin verfasste Hamann seine Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (1763). Abbt besprach wiederum Hamanns und Lindners Repliken in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (259., 260. Brief, 1763). Einen Abschluss fand diese Debatte bei Gottfried Herder, der in dem unveröffentlichten Teil seines Textes Über Thomas Abbts Schriften noch einmal hierauf zu sprechen kommt (Graubner 1996).
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ihm. Er moniert, dass Lindners Schuldramen zwar den Schulen gemäß, aber eben nicht kindgemäß seien. Auch Konrad Gottlieb Pfeffels Dramatische Kinderspiele,321 die nur wenige Jahre später – etwa zeitgleich mit der deutschsprachigen Übersetzung von Alexandre Guillaume de Moissys Les jeux de la petite Thalie322 und Johann Jakob Engels Der dankbare Sohn323 – erschienen, versteht ihr Autor noch als schulische Deklamationsübungen. Über die Praxis des Schultheaters an der von Pfeffel gegründeten École militaire in Colmar, die sich an der philanthropischen Schulpädagogik orientierte, lässt sich leider nur sehr wenig sagen.324 Pfeffels Dramatische Kinderspiele stellen indes, so Carola Cardi, »den Scheitelpunkt zwischen den alten Schuldramen und den Kinderschauspielen der Aufklärungsepoche«325 dar, weil sich Pfeffel darum bemühe, seine Stücke dem kindlichen Auffassungsvermögen anzupassen und das spielerisch-vergnügliche Moment deutlich hervorhebe. Hieronymus Andreas Mertens, der Rektor des evangelischen Gymnasiums St. Anna in Augsburg, schreibt im Jahr 1773, dass ihm die »alten Schauspiele der Schulen« gar nicht gefielen ; »und die neuen ebenso wenig, weil sie von dem neuen Geschmack nichts an sich hatten. Daher sind sie«, schreibt er weiter, »wie ich glaube, auf den protestantischen Gymnasien überall abgekommen : auf den katholischen dauern sie noch fort.« 326 Der neue Geschmack, so lässt sich zumindest vermuten, stellt für Mertens eine Theaterpraxis 321 Vgl. Pfeffel, Konrad (1771) : Dramatische Kinderspiele [Nachdruck der ersten Auflage von 1769]. Dillingen : Johann Leonhard Brönner. 322 Vgl. Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de (1770) : Spiele der kleinen Thalia. Oder : Neue kleine dramatische Stücke über Sprichwörter, zur Bildung der Sitten der Kinder und jungen Leute von fünf bis zwanzig Jahren. Berlin : Christian Friedrich Himburg. Vgl. auch Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de (1769) : Les jeux de la petite Thalie, ou nouveaux petits drames dialogues sur des proverbs, propres à former les mœurs des enfants & des jeunes personnes, depuis l’âge de cinq ans jusqu’à vingt. Paris : Bailly. 323 Vgl. Engel, Johann Jakob (1771) : Der dankbare Sohn. Ein ländliches Lustspiel in einem Aufzug. Leipzig : Dyckische Buchhandlung. 324 Vgl. Heckelmann, Heike (2005) : Reformpädagogik und Schultheater. Eine Quellenstudie zur reformpädagogischen Internatserziehung seit dem 18. Jahrhundert. Tübingen : Francke. S. 13–21. Vgl. auch Braeuner, Gabriel (1986) : Die Militärakademie von Colmar. In : Gottlieb Konrad Pfeffel. Satiriker und Philanthrop. (1736–1809). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in der Zusammenarbeit mit der Stadt Colmar. Hrsg. von der Badischen Landesbibliothek. Karlsruhe : Badische Landesbibliothek. S. 154–171. 325 Cardi, Carola (1983) : Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769–1800. Bern : Peter Lang. S. 37 326 [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? Eine Abhandlung. In : Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Deutschland, Zweites Stück. Nördlingen : Karl Gottlob Becken. S. 235–256. S. 239. – Mertens veröffentlichte zwei Jahre später eine überarbeitete Fassung seiner Abhandlung : Vgl auch Mertens, M. Hieronymus Andreas (1775) Was ist von denen auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? Eine Abhandlung, womit auf oberherrliche Verordnung Eines hochlöblichen Scholarchats Augsp. Bek. Allhier die bevorstehende Frühlingsexamina für die künftige Woche vom 6 bis 11 Merz angezeigt werden. Augsburg. S. 5 f.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
dar, die auf pathetisches Deklamieren verzichtet sowie Charaktere und Handlungen vorstellt, die einer bürgerlichen Lebenswelt entspringen : »Die heutige Gestalt des Theaters muß man vor Augen haben, wenn man richtig urtheilen will, und nicht die ehemaligen, die wider alle Regeln des guten Geschmacks waren.«327 Zum neuen Geschmack, der auf den Schultheaterbühnen Einzug halten solle, gehöre auch, Kinder nicht weiter die Rollen von Erwachsenen spielen zu lassen : »Von einem Kind die Rolle eines alten erfahrenen Königs spielen zu sehen, ohne Eckel darüber zu empfinden, dazu gehört eine besondere Neigung«328. Dass die Autoren von Kindertheaterstücken im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Nutzen hervorheben, zeugt davon, dass ihnen die gängigen Vorurteile gegenüber dem Schul- und Kindertheater bekannt gewesen sind. »Ich weiß sehr wohl, es giebt Leute«, schreibt auch August Rode im Vorwort zu seinen Kinderschauspielen, »welche so sehr vom Vorurtheile wider die Bühne eingenommen sind, daß sie ohne alle Ausnahme das kindliche Alter von derselben ausschließen ; und also auch diese meine Arbeit als überflüßig und unnütz ansehen werden.«329 Auch unter Pädagogen wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Praxis des Schultheaters kontrovers diskutiert : Joachim Heinrich Campe, Autor von Jugendromanen und der schriftstellerische Kopf des philanthropischen Hauptwerks, der Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens, bringt diese Debatte auf den Punkt, wenn er im Braunschweigischen Journal fragt : »Soll man Kinder Komödien spielen lassen ?«330 Peter Villaume, der in Halberstadt eine Mädchenschule gründete und für Campes Revisionswerk sportpädagogische Aufsätze beisteuerte, antwortet, man solle an Mädchenschulen keine Schauspiele aufführen.331 Im Magazin für Schule und Erziehung überhaupt fragt man sich, warum Schulkomödien von der christlichen Obrigkeit überhaupt noch geduldet werden : Wie kann sich doch, bey Gott ! noch ein Rector in unseren Tagen finden, der um des niederträchtigen und ungeseegnetesten Gewinstes [sic !] willen solches Schandzeug aufführen kann, und, um ein Beispiel herzusezen, von einem seiner Schüler, als Harlequin, sich das Jahres einmahl die Pritsche gebe läßt ? – Welche absezenswürdige Erzieher der Jugend sind das ! Wir müssen sie öffentlich für erklärte Verführer der Unschuld und der guten Sitten
327 Ebd. S. 249. 328 Ebd. S. 247. 329 Rode, August (1776) : Kinderschauspiele. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. VII. 330 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? In : Braunschweigisches Journal philosophischen und pädagogischen Inhalts, Zweites Stück. S. 206–219. 331 Vgl. Villaume, Peter (1780) : Nachricht von einer Erziehungsanstalt für Frauenzimmer von gesittetem Stande und vom Adel in Halberstadt. In : Pädagogische Unterhandlungen. Ein Lesebuch für die Jugend, 3. Jg. Heft 3. S. 354–410.
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aufstellen. O ihr Menschenfreunde, helfet uns dieses Ungeheuer aus den Schulen vertilgen.332
Martin Ehlers, der Rektor der Lateinschule zu Oldenburg, rechtfertigt sich dafür, dass er mit seinen Schülern eine Aufführung einiger dramatischer Unterhaltungen veranstaltet habe, wohl wissend, »daß die Theatervorstellungen noch mehr nachtheilige, als vortheilhafte Einflüsse in das Wohl der Welt haben.«333 Mertens glaubt hingegen, »daß, unter gewissen strengen Einschränkungen, die man aber niemals übersehen muß, die Schulkomödien, nach dem neuen, gereinigten Geschmacke der Schaubühne, […] ohne Nachtheil der guten Sitten und ohne Gefahr eines allzu großen Zeitverlustes«334 pädagogisch vertretbar seien. In der Regel wurde dem Schultheater zugutegehalten, dass es den Schülern eine Unerschrockenheit im gesellschaftlichen Umgang vermittle, zu einer schicklichen Stellung des Körpers sowie zu einem angemessenen Ton der Stimme verhelfe.335 Es trage zu einer angenehmen Deklamation und richtigen Aussprache bei und mache die Schüler mit der Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere und Verhaltensweisen bekannt.336 Und man gesteht, dass es »Erquickungsstunden für manchen zärtlichen Vater sind wenn er seinen geliebten Jüngling die ersten Proben männlicher Dreistigkeit auf der Bühne ablegen sieht.«337 332 [Anonym] (1772) : Schulnachrichten. In : Magazin für Schule und die Erziehung überhaupt, sechster und letzter Band, Heft 2. S. 235–254. S. 254. 333 Ehlers, M[artin] (1770) : Zu einer den 13ten Februar des Nachmittags um 5 Uhr von den Oldenburgischen Schülern der ersten Ordnung auf dem Rathhause anzustellenden Aufführung einiger dramatischer Unterhaltungen ladet alle hohe und angesehene Gönner und Gönnerinnen unserer Schule ehrerbietigste, gehorsamst und ergebenst hierdurch ein, und sagt zugleich einiges vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. Oldenburg. S. 3. – Auch in seiner Schrift über Die Sittlichkeit der Vergnügungen, die er im Jahr 1790 als Philosophieprofessor in Kiel veröffentlichte, ist er der Ansicht, dass »dramatische Spiele auf Schulen« nur dann gebilligt werden dürften, wenn sie einen Beitrag zum »Fortschritt in Kenntnissen und Tugenden« und »zur Bildung äußerlicher Sitten und zu einer anständigen Dreistigkeit« leisten würden. Sollten diese Wirkungen von dramatischen Spielen nicht erwartet werden können, »so meide man selbige als ein großes Uebel« (Ehlers 1790 : 345). 334 [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? S. 242. 335 Heinrich Bosse weist darauf hin, dass sich nach 1770 schreib- und lesedidaktische Ansätze in der schulischen Vermittlung der Redekunst zunehmend durchsetzen und das Schultheater und den Schulactus aus ihrer rhetorischen Ausbildungsfunktion entließen : »Die Schulrede ist Ornament und Ausnahme geworden ; das Abitur, das von 1788 bis 1834 in Preußen eingeführt wird, verlangt keine Rede, sondern den Deutschen Aufsatz« (Bosse 2012 : 197). 336 Vgl. Ehlers, M[artin] (1770) : Vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. S. 12. Vgl. auch Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 206 f. 337 [Anonym] (1763) : Abhandlung von dem Drama, als eine gewöhnliche Redeübung der Jugend auf Schulen. In : Hannoverisches Magazin, 61tes Stück [Montag, den 1ten August]. Sp. 961–976. Sp. 963.
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»Solten die geringen Vortheile, als Erlangung der Dreistigkeit, des guten Anstandes u.s.w. wol hinreichend seyn, junge Leute dieser Gefahr auszusetzen, sonderlich da man solche auf sichern Wegen erhalten kann ?«338 Denn kritisch wurde gesehen, dass das Schultheater viel Zeit in Anspruch nehme,339 die dem eigentlichen Unterricht abhanden komme. Außerdem verleite es dazu, das ausschweifende Leben der Schauspielerinnen und Schauspieler zu bewundern, dem »Hang sich von Arbeit und Sorgen los zu machen«340 nachzugeben, oder gar den Wunsch zu hegen, sich »einer Bande Comödianten«341 anzuschließen. Geradezu gefährlich seien Liebschaften auf der Bühne. Auch wenn »nichts Erotisches« in einem Stücke vorkomme, »kann dessen Aufführung von jungen Leuten beiderlei Geschlechts ihren Geschlechtstrieb heftig anfeuern.«342 Schon Lindner erklärte, dass die »Triebfeder der Liebe mit ihren Intriguen oder gewaltigen Erscheinungen dieser Leidenschaft«343 auf den Schultheaterbühnen nichts verloren hätte. »Nein. Keine Liebesintriguen auf das Schultheater ; bewahre der Himmel davor«344, schreibt Mertens. – Johann Gottlieb Schummel, der neben Christian Weiße zu den produktivsten Kindertheaterautoren gehörte, folgte diesem einstimmigen Votum und verfasste kurzerhand drei Lustspiele ohne Heyrathen.345 338 [Anonym] (1763) : Vermischte Gedanken. In : Hannoverisches Magazin, 82tes Stück [Freytag, den 14ten October]. Sp. 1297–1312. Sp. 1302. 339 Vgl. Ehlers, M[artin] (1770) : Vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. S. 7. Vgl. auch [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? S. 246. 340 Ehlers, M[artin] (1770) : Vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. S. 5. 341 [Anonym] (1763) : Vermischte Gedanken. Sp. 1302. 342 Brumleu, Johann Heinrich (1820) : Über den Nutzen und Schaden der Schauspielübungen für die Jugend. In : Neue Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte pädagogische Literatur Deutschlands, Fünfter Band, zweites Stück. S. 87–102. S. 96. 343 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. S. [XVIII]. 344 [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? S. 256. Vgl. auch Ehlers, M[artin] (1770) : Vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. S. 4. – Im Methodenbuch schreibt Basedow : »O könnten wir das Theater von den Vorstellungen säubern, um derenwillen auch die meisten Romane der Jugend gefährlich sind ! Alles dieses sage ich nur, um Eltern und Aufseher zu bewegen, daß sie mit der strengsten Wahl diejenigen Romane und Schauspiele, zu welchen ihre anwachsende Jugend zugelassen werden darf, aufsuchen, und durch andre Vorstellungen unschädlich machen« (Basedow 1770 : 172). Und mehr als 50 Jahre später, im Jahr 1822, heißt es in Der tolldreiste Wanderer in den finsteren Schachtgängen, dass Eltern und Erzieher auf ihre Untergebenen »ein sorgfältiges Auge richten [sollen], damit diese bey der Aufführung solcher Stücke nicht zugegen seyn, die für ihre zarten Seelen, für ihre unbefleckte Unschuld trotz ihrer innern Güte, welche diese Stücke für Ausgebildete, und Erwachsene entfalten, leicht könnten gefährlich werden« ([Anonym] 1822 : 41). 345 Vgl. [Schummel, Johann Gottlieb] (1773) : Lustspiele ohne Heyrathen. Wittenberg und Zerbst : Samuel Gottfried Zimmermann. – Darunter auch die Schulkomödie Der Würzkrämer und sein Sohn. Vgl. auch [Schummel, Johann Gottlieb] (1773) : Der Würzkrämer und sein Sohn. Eine Schulkomödie in einem Aufzuge. Wittenberg und Zerbst : Samuel Gottfried Zimmermann. Vgl. auch [Schummel, Johann Gottlieb] (1776) : Kinderspiele und Gespräche, Erster Theil. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. – Uwe Förster weist darauf hin, dass die veröffentlichten Kinderspiele und Gespräche Produkte aus Schum-
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Die Kritik am Schultheater war aber auch Ausdruck eines Unbehagens gegenüber einer eitlen Deklamationspraxis und intriganten Verstellungskunst, die als Bestandteile der aristokratischen Repräsentationskultur gesehen wurden und nunmehr in Opposition zum bürgerlichen Ideal einer authentischen Natürlichkeit und moralischen Unschuld traten.346 Im bürgerlichen Trauerspiel verdeutlichte sich diese Differenz über eine oppositionelle Figurenkonstellation, in der die lasterhafte Sphäre der intriganten Verstellungskunst meist von adeligen Figuren und Angehörigen des Hofes besetzt wurde – wie Lady Marwood in Lessings Miß Sara Sampson, Hettore Gonzaga und sein Kammerherr Marinelli in Lessings Emilia Galotti oder Präsident von Walter und sein Haussekretär Wurm in Schillers Kabale und Liebe –, die Sphäre der tugendhaften und natürlichen Unschuld wurde dagegen von bürgerlichen Mädchengestalten verkörpert – Sara Sampson, Emilia Galotti und Luise Miller. Günther Heeg weist darauf hin, dass der französische Maler Jean-Baptiste Greuze nicht nur ein Meister der Genremalerei war, sondern auch diese natürliche Unschuld in Mädchengestalt in seinem Bild La jeune fille qui pleure son oiseau mort zum Ausdruck brachte. Auf dem Bild ist ein junges, in Trauer versunkenes Mädchen zu sehen, das die eine Gesichtshälfte in ihrer linken Hand stützt und durch ihr fast geschlossenes, rechtes Augenlid auf einen verendeten Vogel blickt. In diesem Bild habe, so Heeg, »das Phantasma der Unschuld Gestalt angenommen.«347 Wie der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried sieht Heeg das Mädchen in einem Zustand der »absorbtion, des in sich Vertieftseins«348. Es rechne nicht damit, beobachtet zu werden, und erscheint gerade deshalb frei von jeder kokettierenden Verstellung. In ihrem Nichtwissen um ihre Sichtbarkeit und ihre sinnliche Wirkung auf den Betrachter drückt sich ihre natürliche Unschuld aus. Bedroht sei diese »Unschuld der absorption«349 von der »theatricality«350. Problematisch erscheint den Kritikern daher die Praxis des Schultheaters, die sich weiterhin am Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik orientiert und, wie Herder moniert, unter anderem dazu verleite, »die natürliche gegen die übertriebene Deklamation zu vertauschen«351 oder, so Campe, »zur Eitelkeit, zur Coketterie und zur Lobsucht«352 ansporne. Und Ehlers glaubt, dass so die »Schaamhaftigkeit und Sittsamkeit, welche mels Lehr- und Unterrichtstätigkeit am Pädagogium im Kloster Unserer Lieben Frauen bei Magdeburg sind. »Ihr Inhalt entsprang der unmittelbaren unterrichtlichen Praxis. Sie stellten eine bemerkenswerte Sammlung methodischer Anregungen dar, die Beachtung verdient« (Förster 1995 : 161). 346 Vgl. Geitner, Ursula (1992) : Die Sprache der Verstellung. S. 1–9. Vgl. auch Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 35–82. 347 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 55. 348 Ebd. 349 Ebd. S. 59. 350 Ebd. 351 Herder, Johann Gottfried (1968) : Über Thomas Abbts Schriften [1768]. Über das Schuldrama wie auch Abbts Beweis, daß die sittlich vollkommenen Charaktere auf der Bühne Ungeheuer sein. In : Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Klaus Hammer. Berlin : Hentschel. S. 220– 226. S. 221. 352 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 216.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik Abb. 4 Greuze, JeanBaptiste (1765): La jeune fille qui pleure son oiseau mort. Öl auf Leinwand, 53,3 × 46 cm. Edinburgh: National Galleries of Scotland.
die Natur den Menschen zu freundschaftlichen Wächterinnen für ihre Tugend gegeben hat«353, verdorben werde. Denn Empfindungen und Affekte zu heucheln, sei eine Übung der Verstellungskunst, »womit man die Kindheit, deren größter Vorzug in naiver Offenheit und Gradheit besteht, verschonen sollte.«354 Greuze greift das Motiv des unschuldigen Mädchens in seinem Bild L’oiseau mort aus dem Jahr 1800 noch einmal auf. Doch hier sei es angesichts des verendeten Vogels nicht in Trauer versunken, sondern verrate, so Heeg, durch seine Gesten, dass es sich seiner Sichtbarkeit und seiner sinnlichen Wirkung auf den Betrachter bewusst sei. Schon das Spiel der Finger, die den toten Vogel sozusagen aufblättern, um fast den roten Punkt (des Blutflecks) zu berühren, wirkt äußerst preziös. Vor allem aber ist es die abwehrende erhobene linke Hand, die dem Betrachter – und nur ihm kann sie gedacht sein – ein deutliches ›Noli me tangere‹ zu bedeuten scheint und damit den Wunsch erst evoziert, den die Geste verneint. Greuzes späte Bilder ›unschuldiger‹ Mädchen sind obszön.355 353 Ehlers, M[artin] (1770) : Vom Nutzen und Schaden dramatischer Spiele. S. 7. 354 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 215. 355 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 60 f.
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Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters Abb. 5 Greuze, Jean-Baptiste (1800): L’oiseau mort. Öl auf Leinwand, 68 × 55cm. Paris: Musée du Louvre.
Was die beiden Bilder von einander trenne, so Heeg, sei das Wissen oder Nichtwissen um die eigene Sichtbarkeit. Dass durch das Theaterspielen die natürliche Unschuld des Menschen verdorben werde, hatte bereits Jean-Jacques Rousseau in seinem kulturkritischen Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles behauptet. Rousseau glaubte, dass die Tätigkeit des Schauspielens vom Schauspieler verlange, sein Selbst – und damit, so Rousseau, nicht weniger als sein MenschSein – aufzugeben.356 Campes eher ablehnende Haltung gegenüber dem Schul- und Kindertheater lässt sich aber nicht nur als einen Reflex auf Rousseaus Bannschrift deuten, sondern könne, so glaubt Heike Heckelmann, auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung357 mit den jüngeren Lehrern und der außerordentlich regen Theaterpraxis am Dessauer Philanthropin stehen.358 356 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. Über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten [1758]. In : Jean-Jacques Rousseau Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Henning Ritter. München : Hanser. S. 333–474. S. 414. 357 Vgl. Harksen, Hans (1971) : Joachim Heinrich Campes Flucht aus dem Philanthropin zu Dessau. In : Dessauer Kalender. Heimatliches Jahrbuch für Dessau-Roßlau und Umgebung, S. 41–53. 358 Vgl. Heckelmann, Heike (2005) : Schultheater und Reformpädagogik. S. 21–96. Vgl. auch Nieder-
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Es ist nicht verwunderlich, dass die Aufklärungspädagogen, die sich den Prinzipien und der experimentellen Erprobung des spielerischen Lernens und anschaulichen Lehrens verschrieben haben, Theaterspiele in ihr pädagogisches Methodenrepertoire aufnahmen. Die Theaterpraxis am Philanthropin umfasste daher neben Sprach- und Sprechübungen wie dem »Commandierspiel«359, auch Formen des darstellenden Spiels360 im Unterricht sowie Theaterstücke, die zu festlichen Anlässen wie Jubiläums- und Geburtstagsfeiern aufgeführt wurden. Zum Geburtstag des Erbprinzen Friedrich von Anhalt-Dessau, der täglich einige Stunden zusammen mit den anderen Schülern sowie zwei weiteren adeligen Jungen am Philanthropin unterrichtet wurde, führten die Schüler des Philanthropins ein Stück von August Rode auf : Am 27. Dezember [1775] war der Erbprinz 6, das Philanthropin 1 Jahr alt. Da spielten sehr junge Kinder mit verdientem Beyfalle, das obgenannte Rodische Schauspiel. Tags darauf mußten dieselben Kinder es bey Hofe vorstellen. Und wir würden uns selbst zu loben scheinen, wenn wir beschrieben, wie vergnügt sich die Hochfürstliche Herrschaft bezeigte.361
Die Stücke wurden oft von Lehrern des Philanthropins selbst oder von Autoren, die der Reformschule zugeneigten waren, verfasst. Neben den bereits genannten Autoren August Rode und Johann Gottlieb Schummel schrieben auch Johann Michael Friedrich Schulze362,
meier, Michael (1995) : Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Dessau : Stadt Dessau, Kulturamt und Amt für Denkmalspflege (= Zwischen Wörlitz und Mosigkau. Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Dessau und Umgebung, Heft 44). S. 72–78. 359 [Anonym] (1776) : Geschehene Untersuchung der philanthropischen Sache am 13. 14. 15. May 1776. In : Philanthropisches Archiv, Zweytes Stück. S. 5–34. S. 19. 360 In Isaak Iselins Zusammenstellung Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangenen Lehrer Gedanken wird zumindest die Idee geäußert, darstellende Spiele im Geschichtsunterricht einzusetzen : »Alle einzelnen Züge der Geschichte müssen durch Spiele […] nachgeahmt – alle Wichtigeren aber für Kinder ordentlich dramatisirt werden : Nur jedes Mal nach der Vorstellung wird ihnen die Geschichte erzählt« (Iselin 1779 : 455). 361 [Anonym] (1776) : Von dem Landesvater und Orte des Dessauischen Philanthropins. In : Philanthropisches Archiv. Erstes Stück S. 100–107. S. 103. 362 Vgl. Schulze, Johann Michael Friedrich (1779) : Die wahre Liebenswürdigkeit oder das Geburtstagsgeschenk. Ein Lustspiel für Kinder in drey Aufzügen.. Berlin : August Mylius – Schulze, der am Philanthropin Deutsch und Geschichte unterrichtete, gestaltete das von ihm verfasste Stück Die wahre Liebenswürdigkeit oder das Geburtstagsgeschenkt so, dass die Schüler möglichst wenig Zeit mit dem Auswendiglernen des Textes verbringen sollten, und flocht daher Passagen ein, die auf der Bühne frei nacherzählt oder vom Blatt abgelesen werden konnten (Schulze 1779 : 5 f ).
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Friedrich von Matthisson363 und Christian Friedrich Sander364 sowie Carl August Gottlieb Seidel365 und Johann Friedrich Schink366 Theaterstücke für Kinder. »Auf der kleinen Schaubühne des Philanthropins«, erinnert sich Matthisson in seiner Selbstbiographie, wurden zuweilen besonders zur Geburtstagsfeyer des Fürsten oder des Erbprinzen, von den Zöglingen dramatische Darstellungen versucht, wobey denn Sander fast immer sich als Theaterdichter hervorthat, besonders durch das Lustspiel : ›der kleine Herzog‹, welchem competente Beurtheiler den verdienten Beyfall nicht versagten.367
Gespielt wurde nach dem Umzug des Philanthropins in das Palais Dietrich auf einer Bühne im Obergeschoss neben dem Spiegelsaal. In der Regel studierten die Lehrer die Stücke mit ihren Schülern ein und übernahmen auch selbst Rollen. Friedrich Eberhard von Rochow berichtet,368 dass zum Abschluss des öffentlichen Examens am 15. Mai 1776 Theaterstücke von August Rode369 aufgeführt wurden, in denen Erwachsene zusammen mit Kindern auf der Bühne spielten. Dieses gemeinsame Schauspielen von Erwachsenen und Schülern schildert auch Schummel in seinem fiktiven Bericht Fritzens Reise nach Dessau : 363 Vgl. Matthisson, Friedrich (1782) : Die glückliche Familie. Ein Schauspiel. Dessau : [Philanthropische Buchhandlung]. Vgl. auch Niedermeier, Michael (2013) : Matthisson als Pädagoge am Philanthropin in Dessau. In : Friedrich von Matthisson (1761–1831). Dichter im Zeitalter der Freundschaft. Hrsg. von Erdmut Jost und Christian Eger. Halle a. d. Saale : Mitteldeutscher Verlag. S. 29–43. 364 Vgl. [Sander, Christian Friedrich] (1780) : Der Jüngling. Ein Lustspiel in vier Aufzügen. In : Pädagogische Unterhandlungen. Drittes Jahr. Zweites Quartal. S. 152–226. Vgl. Sander, [Christian Friedrich] (1781) : Der kleine Herzog. Ein Lustspil [sic !] in fünf Aufzügen. Dessau : Institutsbuchhandlung und in Commission bei Crusius in Leipzig. Vgl. auch Sander, Christian Friedrich (1783) : Pusillana ein Schauspiel in vier Aufzügen. Dessau : in der philanthropischen Buchhandlung und in Commission bey G. L. Crusius in Leipzig. – Letzteres wurde laut einer kurzen Notiz im Band im Philanthropin am 27. Dezember 1782 aufgeführt. Für die Aufführung der anderen Stücke lässt sich kein Nachweis erbringen, es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie am Dessauer Philanthropin auch zur Aufführung gebracht wurden. 365 Vgl. Seidel, Carl August (1780) : Sammlung von Kinderschauspielen mit Gesängen. Göttingen : Johann Christian Dieterich. 366 Vgl. Schink, Johann Friedrich & Löper, Christian (1781) : Kinderkomödien. Wien : Joseph Gerold. 367 Matthisson, Friedrich (1832) : Selbstbiographie. In : Friedrich v. Matthisson’s literarischer Nachlaß nebst einer Auswahl von Briefen seiner Freunde. Ein Supplement zu allen Ausgaben seiner Schriften, Bd. 1. Berlin : August Mylius. S. 247–323. S. 283. 368 Vgl. Rochow, Friedrich Eberhard von (1776) : Authentische Nachricht von der zu Dessau auf dem Philanthropin den 13 bis 15ten May 1776 angestellten öffentlichen Prüfung. In : Der Teutsche Merkur. Zweytes Vierteljahr. S. 186–196. S. 195. Vgl. auch [Anonym] (1776) : Geschehene Untersuchung der philanthropischen Sache am 13. 14. 15. May 1776. In : Philanthropisches Archiv, Zweytes Stück. S. 5–34. S. 31. 369 Vgl. Rode, August (1776) : Kinderschauspiele. Vgl. auch [Rode, August] (1776) : Beylage H. Rodens Kinder-Schauspiele. Aufgeführt am 15. May, 1776. Von der Jugend des Philanthropins. In : Philanthropisches Archiv, Zweytes Stück. S. 73–102.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Erst spielten sie ein kleines Lustspiel, die Abreise nach Dessau, von dem Herrn Hofmeister Rode, und seine Schwester, die spielte die Mutter. Denn es geht hier gar nicht so albern zu wie bey uns, wo man auch aus der besten Comödie eine Sünde macht ! Sie haben sich hier ordentlich ein klein Theater gebaut, und die Mädchen und die jungen Herrn und die Philanthropisten, und wer sonst Lust hat, führen manchmal ein hübsches Stück auf, und es geschieht auf der Welt nichts Böses dabei, es macht auch niemand was böses draus.370
Im dem zweiten Stück, das aufgeführt wurde, spielte Johann Friedrich Simon mit, der »maßgeblich die Schüleraufführungen in Dessau leitete«371. Hernach wurde noch ein Stück gespielt, auch von Herrn Roden, das hieß der Geburtstag. Das war aber Französisch, und da spielte Herr Simon selber mit, und stellte den Vater vor. Es waren vier Kinder, und das drollichtste dabey war, daß der kleine Anton Schwarz eine Mädchenrolle spielte. Papa kannte ihn nicht, aber ich kannt ihn den Augenblick, und sagte gleich, das ist der kleine Schwarz ! Emilie Basedow spielte auch mit, und macht es recht niedlich.372
Im Philanthropischen Archiv wird darauf hingewiesen, dass bei dieser Aufführung auch Geistliche im Publikum anwesend waren. Vielleicht wollte man ihnen entgegenkommen, als man beschloss, die Anzahl der Theateraufführungen im Jahr auf vier zu beschränken : Des Abends wurden zwey Rodische Kinderdramata von den Philanthropisten, das eine in einer französischen Uebersetzung von unserem Lehrer Simon, aufgeführt. […] Viele vornehme Männer, und auch geistliches [sic !] Standes, waren in ihren Amtskleidern gegenwärtig, und erwarben sich dadurch eben so grossen Beyfall, als sie den sich übenden Kindern gaben. Damit man aber nicht besorge, daß dieses Dinges zu Viel geschehe (welches allerdings sonst besorglich wäre) ; so ist die Verordnung gemacht, daß jährlich niemals mehr als 4 (und nur solche dem Nutzen der Jugend eben so angemessene) aufgeführet werden.373
Ob dieser Einschränkung tatsächlich Folge geleistet wurde, lässt sich allerdings bezweifeln. Denn Christoph Emanuel Hauber,374 einer der vier vom Markgraf Karl Friedrich von Baden nach Dessau gesandten Lehramtskandidaten, schreibt in einem Brief an den 370 Schummel, Johann Gottlieb (1776) : Fritzens Reise nach Dessau [XIII. Brief ]. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 95. 371 Niedermeier, Michael (1995) : Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. S. 75. 372 Ebd. S. 96 f. 373 Vgl. [Anonym] (1776) : Geschehene Untersuchung der philanthropischen Sache am 13. 14. 15. May 1776. In : Philanthropisches Archiv, Zweytes Stück. S. 5–34. S. 31. 374 Vgl. Kollbach, Claudia (2009) : Aufwachsen bei Hof. Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden. Frankfurt a.M.: Campus. S. 244–264.
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Hofrat Böckmann, dass sich die badischen Schüler, die er am Philanthropin begleitete, nun mit anderen Schülern zusammengetan hätten, um »alle Monat eine neue deutsche oder franz[ösische] Comödie aufzuführen, um sich sowohl in der Sprache als declamation zu üben.«375 Berichte in Theaterjournalen legen sogar nahe, dass die Schüler des Philanthropins zusammen mit ihren Lehrern auch auf der von Friedrich Wilhelm Rust im Jahr 1775 eingerichteten Liebhaberbühne in Dessau auftraten. In der Berliner Litteratur- und TheaterZeitung heißt es in den vermischten Nachrichten aus dem Brief eines Reisenden : »Unter den Philantropisten, die ich hier eine Französische und Deutsche Komödie aufführen sehn [sic !], sind einige, die vorzügliche Talente in der theatralischen Kunst verrathen ; keiner aber, der sich nicht über das Mittelmäßige erhöbe.«376 Rust, der neben seinen Tätigkeiten als Musikdirektor am Hofe wöchentlich am Philanthropin ein öffentliches Konzert veranstaltete und unterrichtete, rief zusammen mit dem Dessauer Buchhändler Wilhelm Gabriel Steinacker und dem Hofrat Leopold Herrmann ein Gesellschaftstheater ins Leben, dessen Ensemble sich aus Angehörigen des Hofes und des gebildeten Bürgertums zusammensetzte – darunter auch Lehrer des hiesigen Philanthropins : Wilhelm Gottlieb Becker, Friedrich August Benzler, Campes Frau, Johann Ehrmann sowie Schweighäuser, Simon und Wolke.377 Der erste Auftritt dieser Liebhabertruppe fand am 24. Geburtstag der Fürstin Luise, am 24. September 1774 auf dem Vogelherd bei Jönitz, dem späteren Luisium statt. Eine eigenständige Bühne mit Zuschauerraum wurde am 5. Dezember 1775 im Hintergebäude des nicht genutzten, geräumigen Brauhauses von Dr. Kretzschmar – Zerbster Straße 56, Ecke Böhmische Gasse – eröffnet. Im Januar 1777 ließ Fürst Franz durch Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff im unausgebauten Mittelteil des Schlosses ein Theater errichten, das am 6. März 1777 mit einer Aufführung der komischen Oper Die Dorfgala durch das Ensemble des Gesellschaftstheaters eröffnet wurde.378 In der Litteratur- und Theater-Zeitung wird berichtet, dass diese Liebhabergesellschaft gewöhnlich auf ihrer eigenen Bühne in der Stadt spielte ; »da sie denn gemeiniglich mit der Anwesenheit der Herrschaft beehrt wird. Ereignet sich aber der Fall, daß der Fürst einen hohen Gast mit Schauspiel amüsieren will : so wird die Ge375 Hauber, Christoph Emanuel (1776) : Christoph Emanuel Hauber an Hofrat Böckmann, Dessau, 4. Dezember 1776. Zit. nach : Niedermeier, Michael (1995) : Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. S. 101. 376 [Anonym] (1781) : Vermischte Nachrichten (Aus den Briefen eines Reisenden). In : Litteratur- und Theater-Zeitung. Des Vierten Jahrgangs Erster Theil. No. V. S. 76–79. S. 78. 377 Vgl. Hirsch, Erhard (2003) : Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen. Tübingen : Niemeyer. S. 384. 378 Vgl. Wilderotter, Hans & Ziegler, Günter (2006) : »Mögen wir spielend belehren und durch Unterhaltung nützlich werden.« Von der Bossanschen Truppe zum Dessauer Theater. In : »Schauplatz vernünftiger Menschen«. Kultur und Geschichte in Anhalt-Dessau [Katalog zur Dauerausstellung des Museums für Stadtgeschichte Dessau]. Hrsg. von Hans Wilderotter. Berlin : L-&-H Verlag. S. 217– 234.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
sellschaft ersucht, auf dem Schloßtheater ein Stück oder zwei zu geben.«379 Dass das Spiel dieser Truppe eine überregionale Aufmerksamkeit erfuhr, belegt eine Notiz im Gothaer Theater-Kalender auf das Jahr 1780 : Einen starken Beweis für den zunehmenden feinen Theatergeschmack geben die gesellschaftlichen Bühnen ab, welche in so vielen Städten […] gespielt haben, und zum Theil noch spielen, und worunter sich die regelmäßigen Bühnen der Philanthropine zu Dessau und Heidesheim […] besonders auszeichnen.380
Vielleicht war es dieses Engagement einiger Lehrer am Philanthropin, das dem dortigen Religionspädagogen Christian Gotthilf Salzmann, der ebenfalls Theaterstücke381 für Kinder schrieb und später zusammen mit Christian Carl André, dann mit Jakob Glatz eine sehr rege Theaterpraxis am Philanthropin in Schnepfenthal etablierte,382 auf die Idee brachte, mit der »Pflanzschule für Erzieher«383 ein Schauspielhaus zu verbinden, um die körperliche Beredsamkeit der angehenden Lehrer zu schulen : Könnte mit der Ausbildungsanstalt »ein Schauspielhaus verbunden werden, in dem die Erzieher monatlich ein paar Schauspiele aufführten, so wäre es desto besser, so lernten sie Ton, Miene und Anstand des Körpers bilden.«384 Obwohl am Philanthropin eine rege Theaterpraxis im Unterricht wie bei festlichen Anlässen herrschte, die sowohl von den Schülern, Lehrern und Mitgliedern des Hofes getragen wurde, vertrat der Gründer der Reformschule, Johann Bernhard Basedow, in seinem Elementarwerk ähnlich wie Campe eine skeptische Haltung gegenüber dem Schultheater : »Gegen das Comödienspielen der Kinder und gegen die öffentlichen Redeübungen in Schulen habe ich mancherlei einzuwenden. Jenes ist ein schädliches Spielwerk, so artig 379 [Anonym] (1781) : Uebers Dessauische Privattheater. In : Litteratur- und Theater-Zeitung. Des Dritten Jahrgangs Erster Theil. No. 1. S. 9–15. S. 11. 380 [Anonym] (1780) : Geschichte der deutschen Bühne (Umgekleidet). In : Theater-Kalender auf das Jahr 1780. [Gothar] S. 83–104. S. 103 f. 381 Vgl. [Salzmann, Christian Gotthilf ] (1780) : Denk, daß zu deinem Glück dir niemand fehlt, als du ! Ein Lustspiel. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Drittes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 1–34. Vgl. auch [Salzmann, Christian Gotthilf ] (1782) : Die gute Stiefmutter. Ein Lustspiel. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Fünftes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 37–76. Vgl. auch [Salzmann, Christian Gotthilf ] (1786) : Die Habsucht. Ein Schauspiel in zwey Aufzügen. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Siebendes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 41–96. – Eine Aufführung der Stücke in Schnepfenthal ist nicht nachweisbar, kann aber als sicher angenommen werden (Heckelmann 2005 : 73). 382 Vgl. Heckelmann, Heike (2005) : Schultheater und Reformpädagogik. S. 64–96. 383 Salzmann, Christian Gotthilf (1916) : Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher [1806]. Für Schule und Haus bearbeitet von [Peter] Wimmers. Paderborn : Schöningh. S. 71. 384 Salzmann, Christian Gotthilf (1916) : Ameisenbüchlein. S. 71.
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es auch aussehen mag ; diese kosten viel Zeit und sind unnötig.«385 Über öffentliche Redeübungen schreibt er : Wo sind aber mehr offenbar unnütze Formalitäten, mehr respectable Lügen und Verstellungen, als bey den öffentlichen Schulen und Academien ? […] Die Mode der Lügen, der Verstellung, der Formalitäten, der mit dem Scheine eines heiligen Eifers gespielten Komödien und der leichtsinnigen Meineide, wenn sie bey diesen und anderen Gelegenheiten respectabel ist und bleibt, verdirbt den ganzen Nationalcharakter, die Tugend, die bürgerliche Glückseligkeit.386
Und als ihm der Schauspieler Christian Brandes mit dem Hinweis vorgestellt wurde, er sei Schauspieler und der Verfasser vieler Dramen, die vielleicht auch er kenne, soll Basedow, so berichtet es Brandes, mit finsterer Miene und in seinen Schriften blätternd entgegnet haben : »Ich habe keine Zeit zu dergleichen Lektüre.«387 Man mag in Basedows Ablehnung des Komödienspiels und der äußerst regen Theaterpraxis einen Widerspruch sehen oder es gar als ein Anzeichen dafür deuten, dass sich das Kollegium am Philanthropin in Dessau von den Ansichten des Schulgründers zunehmend distanzierte. Allerdings schreibt Basedow in seinem Methodenbuch noch, dass zwar zur Ausbildung einer angemessenen »Wohlredenheit«388 Unterredungen und Briefwechsel ausreichen würden und es keiner weiteren Übungen bedürfe, er sich aber dennoch Kinderschauspiele wünsche, die diesem Zwecke dienlich sein können : Einige Kinderschauspiele aber von einer so moralischen guten und lehrreichen Art, als mir noch keine bekannt sind, wünsche ich deswegen, damit durch Vorstellung derselben die Jugend geübt würde, nach Beschaffenheit der Materie und der Umstände sowohl die Stimme zu stärken, zu schwächen und zu verändern, als auch mit den Worten die gehörigen Stellungen und Mienen zu verbinden.389
385 Basedow, Bernhard Johann (1774) : Des Elementarwerks vierter Band. Ein geordneter Vorrath aller nöthigen Erkenntniß. Zum Unterricht der Jugend, von Anfang, bis ins academische Alter, Zur Belehrung der Eltern, Schullehrer und Hofmeister, Zum Nutzen eines jeden Lesers, die Erkenntniß zu vervollkommnen. Dessau, Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius. S. 246. 386 Basedow, Johann Bernhard (1771) : Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Zweite Auflage. Altona und Bremen : Cramersche Handlung. S. 411 f. 387 Brandes, Johann Christian (1800) : Meine Lebensgeschichte [3 Bde.], Bd. 2. Berlin : Friedrich Maurer. S. 182. – In der zweiten Auflage seines Methodenbuches macht Basedow einige Anmerkungen und Reformvorschläge zum Theater. Es sollte seiner Ansicht nach für die unterschiedlichen Publikumskreise jeweils ein eigenes Theater unter staatlicher Aufsicht geben : »Vielleicht wäre ein grosses Theater für den Haufen, und ein kleines für die vornehmen Stände anzurathen« (Basedow 1771 : 393 f.). 388 Basedow, Johann Bernhard (1770) : Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Altona und Bremen : Cramersche Handlung. S. 270. 389 Ebd. S. 272.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Als Ergänzung zu Lehrbüchern und pädagogischen Ratgebern bedürfe es, so Basedow, eines Hilfsbuches, welches das Buch der jugendlichen Ergötzlichkeiten genannt werden kann. In demselben werden eine Menge angenehmer und lehrreicher Erzählungen, Lieder, Rätsel, theatralischer Vorstellungen und andere Spiele gesammelt, welche den Neigungen und Fähigkeiten der Kinder wirklich angemessen sind.390
Angesichts des Mangels an für Kinder geeigneten Stücken wird im Wochenblat für rechtschaffene Eltern dafür plädiert, auf Lessings Philotas – weil in dem Stück keine weiblichen Figuren auftreten – oder die deutschsprachige Übersetzung von Moissys Die Spiele der kleinen Thalia zurückzugreifen.391 Kinder- und Jugendzeitschriften wie Weißes Der Kinderfreund,392 in denen neben Kinderliedern, Fabeln und moralischen Erzählungen auch Kinderschauspiele abgedruckt wurden, richteten sich vornehmlich an die sich herausbildende bürgerliche Kernfamilie, die nunmehr als literarisches Publikum sowie als Erziehungsgemeinschaft wahrgenommen wurde.393 Denn mit der sozio-ökonomisch bedingten Trennung von Arbeits- und Privatsphäre und der Auflösung des ›ganzen Hauses‹394 entsteht im Verlauf des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Kernfamilie als ein Binnenraum emotionaler Bindungen, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er unterschiedliche Formen und Praktiken der Geselligkeit395 ermöglicht sowie das Generationenverhältnis als pädagogisches 390 Basedow, Johann Bernhard (1771) : Das Methodenbuch. S. 475 f. 391 Vgl. [Anonym] (1773) : Vom Kindertheater. In : Wochenblat für rechtschaffene Eltern, Vierzigstes Stück. S. 605–613. S. 611 f. – Fälschlicherweise weist Heckelmann Basedow als Urheber dieses Aufsatzes aus (Heckelmann 2005 : 23 f.). Diese Verwechslung ist zustande gekommen, da im Inhaltsverzeichnis des Zeitschriftenbandes die beiden Titel der Aufsätze des vierzigsten Stücks nur durch einen Punkt getrennt sind und so der Eindruck entsteht, es handle sich um einen Haupt- und einen Untertitel. In Wahrheit handelt es sich aber um zwei verschiedene Titel zu zwei verschiedenen Aufsätzen : zu einem Vom Kindertheater und zu einem über Basedows Rathschläge über das Verhältniß der Kinder gegen andere Personen – einem Auszug aus Basedows Methodenbuch, der nichts mit dem Kindertheater zu tun hat. 392 Vgl. Hurrelmann, Bettina (1982) : Erziehung zur Bürgerlichkeit in der Jugendliteratur der Aufklärung. Am Beispiel von Christian Felix Weiße ›Kinderfreund‹ (1776–1782) gezeigt. In : ›Die Bildung des Bürgers‹. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Ulrich Herrmann. Weinheim und Basel : Beltz. S. 194–223. 393 Vgl. hierzu Uphaus-Wehmeier, Annette (1984) : Zum Nutzen und Vergnügen – Jugendzeitschriften des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte. München : K. G. Saur. 394 Vgl. hierzu Trotha, Trutz von (1999) : Kind und Familie : Von der sozialen und kulturellen Unbeständigkeit der elterlichen Kindesliebe. In : Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 19. Jg. Heft 3. S. 227–242. Vgl. hierzu auch Brunner, Otto (1968) : Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹. In : Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Auflage. Hrsg. von Otto Brunner. Göttingen : Verlag. S. 103–127. 395 Vgl. hierzu Kühme, Dorothea (1997) : Bürger und Spiele. Gesellschaftsspiele im deutschen Bürgertum
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Verhältnis erscheinen lässt. Die implizite Familien-, Lese- und Spielpädagogik der Kindertheaterstücke schließt an eine in protestantischen Familien bereits übliche Tradition der häuslichen, gemeinschaftlichen Lektürepraxis an und richtet sich sowohl an Eltern und Erzieher als auch an Kinder. Denn in den Stücken schlagen sich nicht nur Verhaltensideale und bürgerliche Tugenden nieder, es wird auch das Erziehungsprogramm der Aufklärungspädagogik vermittelt. Das Kinderschauspiel erweist sich damit als ein »bürgerliches Erziehungstheater«396. Sein dramaturgisches Prinzip, Lehrsätze, Sprichwörter oder Sentenzen als Ausgangspunkt zu wählen, erinnert nicht nur an Gottscheds produktionsästhetische Anweisungen, sich einen moralischen Lehrsatz zu wählen, den man seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will,397 sondern unterstreiche, so die Jugendbuchforscherin Ute Dettmar, seine grundsätzliche, moralpädagogische Zwecksetzung. Das »Kinderschauspiel als moralische Anstalt steht zumindest bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Einklang mit der auch allgemeinliterarisch dominanten wirkungsästhetischen Programmatik«398. Es trägt zur bürgerlichen Selbstverständigung sowie zur spielerischen Einübung bürgerlicher Umgangsformen und anschaulichen Illustrierung von Verhaltensnormen bei. Die gemeinsame häusliche Lektüre und Aufführung von Kindertheaterstücken wird so zum Bestandteil bürgerlicher Geselligkeitsformen und der pädagogischen Praktiken der bürgerlichen Familienkultur.399 Die Widersprüchlichkeit, die zwischen Basedows Äußerungen zur Theaterpraxis im Methodenbuch und im Elementarwerk besteht, löst sich dann auf, wenn man zwischen Schultheater und Schulreden sowie einem »Familien- oder Haustheater«400 eine Unterscheidung trifft. Mit »Familien- oder Haustheater«401 kommt nicht nur zum Ausdruck, dass der Ort der gespielten Handlung ein bürgerlicher, familiärer Kontext sein, sondern dass der Aufführungsort selbst im Kreis der Familie liegen solle. Eben hierin sah auch Campe eine Bedingung, die er dem Theaterspiel auferlegt sehen mochte. Man solle ihm »die Form einer häuslichen Familienergötzlichkeit«402 geben, alle fremden Zuschauer ausschließen und übermäßiges Lob vermeiden. Im Wochenblat für rechtschaffene Eltern heißt es : Wahre und rührende Begebenheiten oder auch erdichtete Fabeln aus dem bürgerlichen Leben verdienen vorzüglicher Weise bey dramatischen Kinderspielen zum Grunde gelegt zu werden. Kleine Familiengemälde, welche merkwürdige Beyspiele der kindlichen Liebe und zwischen 1750 und 1850. Frankfurt a.M.: Campus. S. 84–91. 396 Mairbäurl, Gunda (1983) : Die Familie als Werkstatt der Erziehung. S. 72. 397 Vgl. Gottsched, Johann Christoph (1998) : Versuch einer Critischen Dichtkunst. S. 161. 398 Dettmar, Ute (2000) : Das Drama der Familienkindheit. S. 17. 399 Vgl. ebd. S. 19. Vgl. auch Mairbäurl, Gunda (1983) : Die Familie als Werkstatt der Erziehung. S. 42– 46. 400 [Anonym] (1773) : Vom Kindertheater. S. 606. 401 Ebd. 402 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 219.
Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik
Dankbarkeit, einer uneigennützigen Freundschaft und dergleichen enthalten, geben den besten Stoff zu dergleichen dramatischen Stücken ab. Am allerbesten ist es, wenn sie einzig und allein Kinderrollen enthalten, daß man sich nicht genöthiget sieht, entweder erwachsene Personen mitspielen zu lassen, oder den Kindern die Rollen erwachsener Personen aufzutragen.403
Man kann davon ausgehen, dass die Dramen, die in philanthropischen Zeitschriften veröffentlicht wurden, auch am Philanthropin experimentell erprobt und aufgeführt wurden und das Philanthropin als ein quasi-familiärer Rahmen empfunden wurde. So lässt sich verstehen, dass Basedow die öffentlichen Schauspiele und Reden ablehnte, Kinderschauspiele als Formen einer »häuslichen Familienergötzlichkeit«404 aber akzeptierte. Möchte man Denis Diderots fingiertem Gründungsmythos des bürgerlichen Theaters Glauben schenken, dann entspringt das bürgerliche Theater eben dieser familiären Praxis des gemeinschaftlichen Theaterspiels. Diderot veröffentlichte zusammen mit seinem Theaterstück Le Fils naturel – das zusammen mit dem Stück Le Père de famille sowie seinen dramentheoretischen Abhandlungen zu den Gründungsdokumenten eines bürgerlichen405 Theaters in Frankreich gezählt werden kann – die als Dialog verfasste dramentheoretische Abhandlung Dorval et moi. Neben der Erörterung dramentheoretischer Einzelheiten erfährt der Leser in der Rahmenerzählung, wie sich der Ich-Erzähler und Dorval, die Hauptfigur aus Diderots Stück Le Fils naturel, begegnet sind und dieser ihm die Entstehungsgeschichte des Dramas erzählt. Sein Vater soll sich gewünscht haben, dass die Familie die Ereignisse einmal jährlich im Kreis der Familie aufführen solle : Wir brauchten dazu keine Bühne aufbauen ; wir wollten bloß das Andenken einer uns rührenden Begebenheit erhalten und sie so vorstellen, wie sie sich wirklich zugetragen hat … Wir wollten sie jährlich in diesem Hause, in diesem Saale erneuern. Was wir damals gesagt haben, wollten wir wieder sagen.406
Dorval entsprach dem Wunsch seines Vaters und richtete die Ereignisse für die Bühne ein. So sei das Stück Le Fils naturel entstanden. 403 [Anonym] (1773) : Vom Kindertheater. S. 610 f. 404 Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 219. 405 Hans Robert Jauß weist allerdings darauf hin, dass die Personen in Diderots Stück noch »kaum von einem bürgerlichen Standesbewußtsein erfüllt« seien und eher »einer Zwischenschicht der Gesellschaft, den sogenannten gens de condition« (Jauß 1961 : 394) angehörten. Im europäischen Vergleich orientierte sich, so Jauß, das englische Theater bereits deutlich früher an der bürgerlichen Lebenswelt. In George Lillos Merchant of London (1731), das zum ersten Mal das Verhältnis eines Kaufmannes zu seinen Angestellten thematisiert, werde nicht nur das Bürgertum als selbstbewusster Stand vorgestellt, sondern zugleich als eine moralische Instanz ausgewiesen (Jauß 1961 : 393). 406 Diderot, Denis (1967) : Dorval und Ich [1757]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Berlin und Weimar : Aufbau-Verlag. S. 159–238. S. 160.
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Auch wenn am Ende des Jahrhunderts noch Schultheater gespielt wurde, so lässt sich dennoch behaupten, dass eine Entschulung des Schultheaters, der »alten Schauspiele der Schulen«407, stattgefunden hat. Goethe, der in seiner Italienischen Reise408 die Jesuiten noch für ihre Schultheaterpraxis lobte, und Schiller, der in seiner Schaubühnenrede betonte, wie wichtig und notwendig es sei, dass Theater dafür zu nutzen, um auf »Irrtümer der Erziehung«409 hinzuweisen, notieren 1799 zusammen in ihrem Allgemeinen Schema zum Dilettantismus stichwortartig zum Nutzen und Schaden des Dilettantismus in der Schauspielkunst : »Höchst verderblicher Gebrauch der Liebhaber-Schauspiele zur Bildung der Kinder, wo es ganz zur Fratze wird«410. Sie raten daher : »Abhaltung aller Kinder und sehr jungen Personen.« Und als Beispiele aus der »alten« und der »neuen Zeit« nennen sie : »Jesuiter Schulen« und »Philanthropine.«411
407 [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? S. 239. 408 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang (1993) : Italienische Reise, Teil 1. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 15,1. Hrsg. von Christoph Michel und HansGeorg Dewitz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 12 f. 409 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken ? [1784]. S. 197. 410 Schiller, Friedrich (1992) : Allgemeines Schema zum Dilettantismus [1799]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 1091–1119. S. 1116. 411 Ebd.
2 Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst und die Geburt des Bildungstheaters im 18. Jahrhundert Die Schaubühne der Leipziger Schule war im weitesten Sinne eine pädagogische Anstalt sowohl für ihre Schauspieler als auch für ihr Publikum. Die Ansätze und Maßnahmen der Neuberin und Gottscheds zur Verschulung, Professionalisierung und Institutionalisierung des deutschsprachigen Theaters nach dem Vorbild der französischen Klassik hatten darin bestanden, das Alltagsleben und die Aufführungspraxis der Schauspieler zu reglementieren sowie das Theater als ein aufklärungspädagogisches Instrument zur unterhaltsamen und lehrreichen Veranschaulichung moralischer Lehren einzusetzen und gegen seine Kritiker vor allem aus den Reihen der Kirche zu verteidigen. Wirtschaftlich und kulturpädagogisch blieb dieses Reformprogramm zwar hinter den Erwartungen zurück, die moralpädagogische Funktionsbestimmung des Theaters wurde aber im weiteren Verlauf der Institutionalisierung des Theaterwesens in Deutschland wiederholt aufgegriffen. Im Zuge der Rehabilitation der Sinnlichkeit und des »Niedergang[s] der Rhetorik«1 stellten Autoren wie Christian Fürchtegott Gellert, Johann Elias Schlegel und Gotthold Ephraim Lessing ab der Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings heraus, dass das Theater seiner moralpädagogischen Aufgabenstellung dann nicht gerecht werden könne, wenn es lediglich moralische Lehrsätze durch Fabeln veranschauliche, die von unnahbaren Personen und unwirklichen Begebenheiten handeln und auf eine unnatürliche Weise von Rednern rezitiert werden. Wenn das Theater lehrt, schreibt Schlegel, »so tut es solches nicht wie ein Pedant, welcher es allemal voraus verkündigt, daß er etwas Kluges sagen will, sondern wie ein Mensch, der durch seinen Umgang unterrichtet und der sich hütet, jemals erkennen zu geben, daß dieses seine Absicht sei.«2 Das Theater unterweise, belehre und wirke nicht auf direktem Weg. Die Bühne sei keine Kanzel und kein Katheder. Gellert betont, dass es seine Wirkung vielmehr indirekt entfalte, indem es die »Gemüter der Zuschauer in Bewegung«3 setzte. Dies werde dadurch bewirkt, dass auf der Bühne wahrscheinliche Handlungen von Personen aus dem
1 Geitner, Ursula (1990) : Die »Beredsamkeit des Leibs«. Zur Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert (Neuerscheinungen und Desiderate). In : Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, 14. Jg. Heft 2. S. 181–195. S. 181. 2 Schlegel, Johann Elias (1971) : Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters [1764]. In : Johann Elias Schlegel. Werke, Bd. 3 Hrsg. von Johann Heinrich Schlegel [Faksimiledruck] Frankfurt a.M.: Athenäum. S. 259–298. S. 271 f. 3 Gellert, Christian Fürchtegott (1968) : Abhandlung für das rührende Lustspiel [1754]. In : Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Klaus Hammer. Berlin : Hentschel. S. 112–126. S. 118.
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bürgerlichen Milieu – »vom gleichen Schrot und Korne«4 wie die Zuschauer, so Lessing – auf eine lebensechte Weise dargestellt werden, sodass wir uns als Zuschauer, so zitiert Gellert den Basler Theologen Werenfels, mit einer Person in der Komödie eine genaue Freundschaft errichten, für sie bekümmert sind, für sie uns ängstigen, mit ihr Freund und Feind gemein haben, für sie stille Wünsche ergehen lassen, bei ihren Gefahren uns fürchten, bei ihrem Unglücke uns betrüben und bei ihrer entdeckten Unschuld und Tugend uns freuen.5
Ein Beispiel für eine solche Identifikation der Zuschauer mit den Personen auf der Bühne liefert der Wiener Hofschauspieler Heinrich Friedrich Müller, der in seiner Biographie die Wirkung beschreibt, die eine Aufführung von George Lillos Georg Barnwell oder der Kaufmann von London im Jahr 1754 in Magdeburg auf ihn hatte : Ich sah diese Vorstellung, und wurde am Ende des dritten Aufzugs, wo der verlarvte Barnwel den Dolch zieht, seinen bethenden Vetter zu ermorden, so hingerissen, daß ich laut aufschrie – »Halt er ein ! es ist ja sein Onkel !« […] Männer von Gefühl und Würde, tiefgerührte Damen, die mich umgaben, lobten meine Aufmerksamkeit, meine so innige Theilnahme, und suchten mich, da ich Thränen vergoß, liebreich zu trösten.6
Das Mitempfinden dessen, was die Figuren auf der Bühne erleiden – die innige Teilnahme am Leid und Glück der Figuren – soll, so Lessing in seinem Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai über das Trauerspiel, »unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern.«7 Lessings Bedeutung für die Entwicklung einer deutschsprachigen Theaterkultur und theorie im 18. Jahrhundert kann gar nicht überschätzt werden, da er die Debatten zum französischen Theater sehr genau verfolgte und ihre zentralen schauspiel- und dramentheoretischen Beiträge wie Pierre Rémond Sainte-Albines Le Comédien, Antonio Francesco Riccobonis L’Art du Théâtre sowie Denis Diderots dramentheoretische Texte sowie seine Dramen Le fils naturel und Le père de famille übersetzte und dem deutschsprachigen Pu-
4 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [75. Stück, 19. Januar 1768]. S. 559. 5 Gellert, Christian Fürchtegott (1968) : Abhandlung für das rührende Lustspiel. S. 122 f. [Herv. d. Verf.]. Vgl. auch Stern, Martin & Wilhelmi, Thomas (1993) : Samuel Werenfels (1657–1740). Rede von den Schauspielen. S. 129. 6 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k k. Hof- und Nationalschaubühne. S. 21. 7 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai [Lessing an Nicolai, im Nov. 1756]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 662–736. S. 671.
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blikum zugänglich machte.8 Er stellte deutlich heraus, dass die Wirkung des Theaters als »transitorische Malerei«9 nicht allein von dramaturgischen Fragen abhängig sei, sondern wesentlich von der Aufführung des Dramas durch die Schauspieler : »Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler«, fragt er sich angesichts der schauspielerischen Praxis Konrad Ekhofs, »daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören ?«10 Der eigentliche Text – hier ein gemeiner moralischer Lehrsatz – scheint seine Wirkung nicht durch seinen propositionalen Gehalt zu entfalten, sondern erst durch die körpertechnische Präsentation des Schauspielers.11 Die Wirkung des Theaters, die mögliche Kultivierung des Empfindungsvermögens durch die Sympathie des Publikums, sei deshalb an die körpertechnische Kunstfertigkeit der Schauspieler zurückgebunden, das Empfinden und Leiden der Bühnenfiguren so zum Ausdruck zu bringen, dass eine Möglichkeit für das Publikum geschaffen werde, mitzufühlen – und dies tränenreich zum Ausdruck zu bringen. So berichtet Karl Wilhelm Ramler in einem Brief an Johann Ludwig Gleim vom 25. Juli 1755 von der Uraufführung von Lessings Drama Miß Sara Sampsons, die am 10. Juli 1755 in Frankfurt an der Oder stattfand, dass die Zuschauer kollektiv »drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint«12 hätten. Auch Friedrich Nicolai gesteht Lessing in seinem Brief vom 3. November 1756, dass er während einer Aufführung von Miß Sara Sampson in Berlin »bis an den Anfang des fünften Aufzugs öfters geweint
8 Vgl. hierzu Golawski-Braungart, Jutta (2005) : Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung von Lessings Übersetzungen aus dem Französischen für die Theorie und Praxis seines Theaters. Tübingen und Basel : Francke. 9 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai 1767]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 6 : Werke 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 181–694. S. 210. 10 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 196. 11 Im zweiten Akt von Shakespeares Hamlet, nachdem die Schauspieler dem Prinzen eine Kostprobe ihres Könnens gegeben haben, wundert sich Hamlet – wie später auch Lessing – über die Fähigkeit der Schauspieler, angesichts einer unbedeutenden Sache eine große Betroffenheit wirkungsvoll und authentisch zum Ausdruck zu bringen : »Ist es nicht ungeheuerlich, daß dieser Schauspieler hier, in einer bloßen Dichtung, einem Traum von Leidenschaften, seiner Seele der eigenen Vorstellung gemäß derart Gewalt zu tun vermochte, daß durch ihr Wirken sein ganzes Angesicht erbleichte, Tränen in seinen Augen, Zerrüttung in seinem Ausdruck, die Stimme gebrochen, und sein gesamtes Äußeres in der Erscheinung seiner Vorstellung angepaßt ; und all dies für nichts ! Für Hekuba ! Was ist ihm Hekuba, oder er der Hekuba, daß er um sie weinen sollte ?« – »Is it not monstrous that this player here, / But in a fiction, in a dream of passion, / Could force his soul so to his own conceit / That from her working all his visage wanned, / Tears in his eyes, distraction in his aspect, / A broken voice, and his whole function suiting / With forms to his conceit ; and all for nothing ! / For Hekuba ! / What’s Hekuba to him, or he to Hekuba, / That he should weep for her ?« (Shakespeare 2010 : 152 f.). 12 [Ramler, Karl Wilhelm] (1907) : Ramler an Gleim [Berlin den 25. Julii 1755]. In : Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2 : 1753–1759. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. Tübingen : H. Laupp Jr. S. 204–206. S. 206.
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habe, […] aber am Ende desselben, und bey der ganzen Scene mit der Sarah, vor starker Rührung nicht habe weinen können.«13 Friedrich Schiller greift in seiner Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ?, die er 1784 vor der Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft hielt, diese Kollektivität der Rezeption auf und betont, dass indem die Bühne jeden einzelnen Zuschauer mit den gleichen Mitteln affiziere und anspreche, sie die Zuschauer durch »eine allwebende Sympathie«14 verbrüdere. Diese Gleichheit des Menschen vor der Bühne biete für Schiller einen Ausblick auf eine außerhalb des Theaters noch nicht realisierte Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz. Deshalb spricht Schiller – wie auch Lessing15 und LouisSébastien Mercier16 schon vor ihm – von der »Gerichtsbarkeit der Bühne«17. Hiermit impliziert er eben nicht nur die Gleichheit des Menschen vor der Bühne, sondern weist auch auf ihre symbolische Anklagekraft hin : »Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.«18 13 [Lessing, Gotthold Ephraim] (2003) : Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai [Friedrich Nicolai an Lessing, Berlin, d. 3. Novemb. 1756]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 662–736. S. 667 f. 14 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? [1784]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 185–200. S. 200. – Fraglich ist nur, ob Theateraufführungen tatsächlich die Zuschauer in gleicher Weise affizierten oder ob nicht doch standesspezifische Unterschiede zu verschiedenen Rezeptionsweisen führten. Denn aus Wien berichtet Eva König in ihrem Brief vom 15. Juli 1772 an Lessing : »Ihr neues Stück [Emilia Galotti] ist vorige Woche drey Tage nach einander aufgeführt worden, und zwar mit außerordentlichem und allgemeinem Beyfall. Der Kaiser hat es zweymal gesehen, und es gegen G[ebler] sehr gelobt. Daß muß ich aber auch gestehen, hat er gesagt, daß ich in meinem Leben in keiner Tragödie so viel gelacht habe. Und ich kann sagen : daß ich in meinem Leben in keiner Tragödie so viel habe lachen hören ; zuweilen bey Stellen, wo, meiner Meinung nach, eher hätte sollen geweint, als gelacht werden« (Lessing 1988 : 442). 15 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [6. Stück, 19. Mai 1767]. S. 214. 16 Mercier spricht vom Theater als »obersten Gerichtshof« (cour souveraine). – Vgl. [Mercier, LouisSébastien] (1776) : Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [von Heinrich Leopold Wagner]. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig : Schwickertsche Verlag. S. 81. Vgl. auch [Mercier, Louis-Sébastien] (1773) : Du Théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique. Amsterdam : E. van Harrevelt. S. 62. 17 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? S. 190. 18 Ebd. – Dass das Theater im Sinne Schillers als Medium der politischen Anklage genutzt wurde, bezeugt die Verhaftung des erfolgreichen Dramatikers und Theaterdirektors Friedrich Wilhelm Großmann. Im Journal des Luxus und der Moden vom März 1795 wird berichtet, dass Großmann verhaftet wurde, weil er zu Beginn des Jahres am Hannoveranischen Hoftheater in Gegenwart der Prinzessin von Braunschweig – der Braut des Prinzen von Wallis – eine politische Farce aufführen ließ, »in welcher ziemlich deutliche Anspielungen auf die neuerliche Rekrutierung der jungen Bauerbursche vorkamen« und in der er selbst »viel extemporisirte« sowie »viele Anzüglichkeiten auf allgemein bekannte Personen, selbst mit Nennung ihrer Namen, und manche politische Ketzereyen« machte. Obwohl der Verfasser des Berichtes offensichtlich Großmanns politische Ansichten nicht teilte, erklärte er, dass es
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Molières Harpagon habe, so räumt Schiller ein, noch keinen Wucherer gebessert und das Schicksal Karl Moors habe die Landstraßen nicht sicherer gemacht, doch führten beide Figuren dem Publikum Charakterzüge des Menschen vor Augen.19 Schiller begreift diese Veranschaulichung des Menschen als Mensch im Sinne einer Aufklärung des Menschen über sich selbst. Denn während in anatomischen Theatern der tote Körper des Menschen studiert wurde – so wie es Schiller während seines medizinischen Studiums an der Hohen Carlsschule in Stuttgart erlebte –,20 avancierte das bürgerliche Theater im 18. Jahrhundert zu einem »Labor der Seele und der Emotionen«21, in dem die Wechselwirkungen von Körper und Geist lebendig ausgestellt wurden. Einigen Schauspielern gelang es, nicht bloß menschliche Affekte auf der Bühne zu repräsentieren, sondern schauspielerisch so zu verkörpern, dass sich der Zuschauer mit den dargestellten Charakteren, ihren Leidenschaften und Gesinnungen identifizieren konnte. Diese natürliche Schauspielkunst ermögliche es dem Publikum, einen emotionalen Zugang zu den moralischen Dilemmata zu finden. Das Theater wurde so nicht nur zu einem Verbreitungsinstrument bürgerlicher Werte und Leitideen, sondern war darüber hinaus, wie Rainer Ruppert zusammenfasst, auch eine der historischen Produktionsformen der bürgerlichen Innenwelt : es schafft mit seinen medienspezifischen Diskursivierungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit, der Visualisierung, der modellhaften Darstellung und der kollektiven Einübung das bürgerliche Innen und das Wissen um es mit.22
Schiller befürwortet diese neue, natürliche Schauspielkunst, die versuche, nicht nach rhetorischen Konventionen den dramatischen Text zu deklamieren, sondern der Darstellung eine Natürlichkeit und Ungezwungenheit zu verleihen. Kritisch merkt Schiller an, dass Schauspieler nicht selten »für jedes Genus von Leidenschaft eine aparte Leibesbewegung einstudiert«23 hätten, der Schauspieler aber bei anscheinender Abwesenheit des Bewusstseins wie ein »Nachtwandler«24 auf der Bühne agieren müsse.25 zu bedauern sei, »daß man solche Maaßregeln gegen einen Mann ergreifen mußte, dem redlicher Eifer für seine Kunst und mannigfaltige Geschicklichkeit nicht abzusprechen ist« ([Anonym] 1795 : 138 f.). 19 Vgl. Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? S. 194. 20 Vgl. Schiller, Friedrich (1992) : Beobachtungen bei der Leichen-Öffnung des Eleven Hillers [10. Oktober 1778]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 27 f. 21 Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin : Edition Sigma. S. 57. 22 Ebd. S. 58. Vgl auch Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 238–245. 23 Schiller, Friedrich (1992) : Über das gegenwärtige teutsche Theater [1782]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 167–175. S. 173. 24 Ebd. S. 172. 25 Vgl. hierzu Pikulik, Lothar (2007) : Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Hildesheim : Georg Olms. S. 83–101.
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Die Historikerin Ute Daniel behauptet nunmehr, dass die wirkungsästhetischen und moralpädagogischen Überlegungen für die Theaterpraxis letztlich aber »esoterisch«26 blieben. Erika Fischer-Lichte stimmt ihr insofern zu, als dass es falsch wäre, die »herrschende Theaterpraxis mit Vorstellungen einiger Protagonisten des ›aufgeklärten Denkens‹ zu verwechseln.«27 Schon Rousseau hatte in seinem Lettre à M. d’Alembert kritisch angemerkt, dass das Theater bloß ein kurzweiliges Mitgefühl erzeuge, das wenig wert sei, weil es als »unfruchtbares Mitleid, das sich mit seinen eigenen Tränen tränkt und niemals auch nur die geringste Handlung der Menschlichkeit hervorgebracht«28 habe. Das Theater mache den Menschen daher nicht sittlicher, sondern bediene sich lediglich seiner natürlichen Anlage zum Mitleid. Das Theater könne, so argumentiert Rousseau weiter, deshalb auch nicht den Geschmack der Zuschauer verändern, sondern nur bestätigen, weil es darauf angewiesen sei, dem Publikum zu gefallen.29 Und auch Lessing konstatiert in den letzten Stücken seiner Hamburgischen Dramaturgie vom 19. April 1768 : Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat : so haben wir sie nicht mehr ; sie ist verloren ; sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätz darüber, hat man in verschiedenen Sprachen genug : aber specielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präcision abgefaßte Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besonderen Fall zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei.30
Gleichwohl darf man hierbei nicht vergessen, dass die Rede von der Schaubühne als einer moralpädagogischen Einrichtung zum einen eine diskursive Strategie der Legitimation des Theaters war, die an die aufklärungspädagogischen Diskurse und die Verteidigungsreden des Schultheaters anschloss,31 und zum anderen stellten die verschiedenen Reform26 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 145. 27 Fischer-Lichte, Erika (1999) : Zur Einleitung. S. 12. 28 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. S. 357. Vgl. Auch Rousseau, JeanJacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome XVI : Théâtre. Écrit sur le Théâtre. Édition critiques par Alain Cernuschi, Patrick Coleman, Marie-Emmanuelle Plagnol-Diéval et al. Genève : Slatkine. S. 505 : « [U]ne pitié stérile qui se repaît de quelques ylarmes, et n’a jamais produit le moindre acte d’humanité. » 29 Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. S. 350. 30 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [101.–104. Stück, 19. April 1768]. S. 683. 31 Vgl. hierzu Kap. 1. 3 : Die Verschulung der Schaubühne und die Entschulung der Schulbühne bei Gottsched und Basedow. Vgl. auch Hentschel, Ulrike (2005) : Das Theater als moralisch-pädagogische Anstalt ? Zum Wandel der Legitimation von der Pädagogik des Theaters zur Theaterpädagogik. In : Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Hrsg. von Eckart Liebau, Leopold Klepacki, Dieter Linck, Andreas Schröer und Jörg Zirfas. Weinheim und München : Juventa. S. 31–52.
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vorschläge Reaktionen auf die bekannten Missstände und uneingelösten Wirkungsversprechen im Institutionalisierungsprozess des Theaterwesens dar. »Das Schauspiel wegen seiner Mißbräuche angreifen«, erklärt Diderot 1758 in seiner Abhandlung De la poésie dramatique, heißt sich wider alle Arten des öffentlichen Unterrichts (instruction) auflehnen ; und alles, was man bisher darüber gesagt hat, ist so ungerecht als falsch, weil man nur immer die Dinge so, wie sie sind oder gewesen sind, und nicht so, wie sie sein könnten, in Betrachtung gezogen.32
Die zuweilen überspitzen Wirkungsannahmen, die mit dem Theater und einer natürlichen Schauspielkunst in Verbindung gebracht wurden, dienten auch dazu, das Theater gegen seine Kritiker zu verteidigen, Reformen im Institutionalisierungsprozess des Theaterwesens anzustoßen und es durch den Nachweis seiner Nützlichkeit für die bürgerliche Gesellschaft zu legitimieren. Denn anders als die bildenden Künste produziert das Theater keine materiellen Güter. »Je unmittelbarer das Bürgertum der materiellen Produktion verhaftet war (also vor allem im Handwerk)«, schreibt Reinhart Meyer, »desto nachdrücklicher wurde auf den belehrenden Nutzen von Kultur gedrungen. Alles andere verfiel dem Müßiggang. Für den Handel kam Kultur nur als Ware in Betracht, die solange vertrieben wurde, wie sie Gewinne einbrachte.«33 Obgleich die Hoftheater durchaus versuchten, durch den Verkauf von Eintrittskarten ihre Kassen aufzubessern, stellte das ephemere Kunstwerk des Schauspiels keinen materialen Tauschwert dar und galt darüber hinaus für die Obrigkeit als eine umständlich zu zensierende und zu reglementierende Gewerbeart.34 Dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede vom Theater als einer moralpädagogischen Anstalt aber zu einem Gemeinplatz wurde, zeugt allerdings vom Erfolg dieser diskursiven Kampagne und verdeutlicht, wie sehr sie die allgemeine Wahrnehmung des Theaters geprägt hat – auch wenn das Theater den moralpädagogischen Ansprüchen realiter nicht immer gerecht werden konnte oder wollte. Denn die Theaterpraxis entsprach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs vollends den Vorstellungen der
32 Diderot, Denis (1967) : Von der dramatischen Dichtkunst [1758]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 239–333. S. 309. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome X : Le drame bourgeois. Fiction II. Présentée par Jacques Chouillet et Anne-Marie Chouillet Paris : Hermann. S. 399 : « Attaquer le spectacle par son abus. C’est s’élever contre tout genre d’instruction publique ; et ce qu’on a dit jusqu’à présent là-dessus, appliqué à ce que les choses sont ou ont été, et non à ce qu’elles pourraient être, est sans justice et sans vérité. » 33 Meyer, Reinhart (1987) : Limitierte Aufklärung. S. 163. 34 Vgl. Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne zur Sittenschule. S. 54.
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Theaterreformer.35 Schiller monierte noch 1782, dass das Theater trotz Einführung des bürgerlichen Trauerspiels immer noch dem Vergnügen und der Befriedigung eines voyeuristischen Begehrens diene.36 Dennoch zeige der Blick in die Geschichte des Kunstverständnisses und der Kunstlehren, so Johannes Bilstein, wie die mit der Kunst verbundenen »Nützlichkeits-Hoffnungen sich verschoben und verändert haben – und wie diese Verschiebungen immer auf das Engste mit Veränderungen des Kunst-Verständnisses selbst verbunden gewesen«37 seien. Allemal, das gesteht auch Ute Daniel ein, gelangten die Schauspieler hierdurch zu einem neuen Selbstverständnis als »Volkslehrer«38. Indem das deutschsprachige Berufstheater diskursgeschichtlich als »Bildungsanstalt«39 in Erscheinung tritt und hieraus größtenteils seine Legitimation als nützliche Einrichtung des öffentlichen Lebens ableitete, stieg nicht nur der verfemte Wanderschauspieler in den Rang eines Volkserziehers auf, sondern es wurde auch der Weg bereitet, der das Theater spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Bildungsmacht erscheinen ließ. »Für die Jahrzehnte zwischen der 48er Revolution und 35 Vgl. hierzu Müller-Kampel, Beatrix (2003) : Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Vgl. auch Meyer, Reinhart (1990) : Hanswurst und Harlekin oder : Der Narr als Gattungsschöpfer. Vgl. auch Haider-Pregler, Hilde (1984) : Wiener Komödienreform zwischen Tabu und Konzession : Zur sittlichen Programmatik des Lachens. Maske und Kothurn, 30. Jg. Heft 1–2. S. 87–102. Vgl. auch Asper, Helmut G. (1980) : Hanswurst. Vgl. auch Münz, Rudolf (1979) : Das ›andere‹ Theater. – Lessing kommentiert diese Entwicklung im 18. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie vom 30. Juni 1767 süffisant : »Seitdem die Neuberin, sub Auspiciis Sr. Magnificenz, des Herrn Prof. Gottsched, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutschen Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen ; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. […] Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot : ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an« (Lessing 1985 : 270). Gleichwohl lehnt er eine Wiederaufnahme der unartigen, zotigen Hanswurstiaden ab und unterstellt das Komische auf dem Theater dem moralpädagogischen Auftrag. Im 29. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie erklärt er : »Die Komödie will durch Lachen bessern ; aber nicht eben durch Verlachen ; […]. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst ; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken«. Allerdings räumt er ein, »daß der Geizige des Moliere nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe ; eingeräumet, daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne : desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genung, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich ; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend ; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben müssen ; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Collision kommen kann, ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Preservatif ist auch eine schätzbare Arznei ; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche« (Lessing 1985 : 323 f. [Herv. d. Verf.]). 36 Vgl. hierzu auch Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 245–251. 37 Bilstein, Johannes (2008) : Schöne Mägde, nützliche Schwestern. In : Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung. Hrsg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas. Bielefeld : Transcript. S. 35–56. S. 50. 38 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 148. 39 Böhm, Winfried (2010) : Das Theater als Bildungsanstalt. S. 161.
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dem Ende der achtziger Jahre freilich muß dem Bildungsgedanken eine zentrale formative Bedeutung bescheinigt werden«, schreibt Hans-Peter Bayersdörfer, »nicht weniger dem Versuch, Bildung und Theater in einem Direktzusammenhang zu verstehen, wobei in dem aus der Klassik hergeleiteten Bildungsgedanken nach wie vor wichtige Elemente der alten Nationaltheaterkonzepte des 18. Jahrhunderts nachwirken.«40 Auch Georg Bollenbeck konstatiert, dass Museen, Konzertsäle und Theater im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu »ästhetischen Kirchen«41 stilisiert wurden sowie Kunst und die Kunstrezeption für das Bildungsbürgertum unter anderem zu einem wirkungsvollen gesellschaftlichen Distinktionsmerkmal wurde. Die »Genealogie«42 dieses »Bildungstheater[s]«43 zu rekonstruieren bedeutet – paraphrasiert man Foucaults einleitende Worte zu Der Wille zum Wissen und bezieht sie auf das Theater –, das Werden eines Wissens zu verfolgen, das an seinen Wurzeln gefasst werden soll : in den institutionellen Bestimmungen, den pädagogischen Maßnahmen, den künstlerischen Praktiken, in den dramatischen und theatertheoretischen Texten, in den Wirkungen, die es auf die Individuen ausgeübt hat, sobald man sie davon überzeugte, dass die Schauspielkunst eine erbauliche, aber ebenso gefährliche Kraft sei.44 Dieses Verfahren der »Dekonstruktion, De-Ontologisierung, Ent-Substantialisierung und […] Ent-Wesentlichung«45 – oder der Historisierung46 – entdeckt hinter der institutionellen Struktur des Theaters machtvolle diskursive und nicht-diskursive Praktiken,47 die das 40 Bayerdörfer, Hans-Peter (1992) : Theater und Bildungsbürgertum zwischen 48er Revolution und Jahrhundertwende. In : Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3 : Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Hrsg. von M. Rainer Lepsius. Stuttgart : Klett-Cotta. S. 42–64. S. 44. 41 Bollenbeck, Georg (1996) : Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 214. 42 Foucault, Michel (2009) : Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In : Michel Foucault. Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Petra Gehring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 181–205. S. 181. 43 Bayerdörfer, Hans-Peter (1992) : Theater und Bildungsbürgertum zwischen 48er Revolution und Jahrhundertwende. S. 43. 44 Vgl. Foucault, Michel (1983) : Sexualität und Wahrheit, Bd. 1 : Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 7. 45 Bublitz, Hannelore (2002) : ›Geheime Rasereien und Fieberstürme‹ : Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie. In : Geschichte schreiben mit Foucault. Hrsg. von Jürgen Martschukat. Frankfurt a.M.: Campus. S. 29–41. S. 30. 46 Foucault löst quasi-natürliche, vermeintlich invariante Dinge »im Säurebad der historischen Analyse« (Sarasin 2008 : 73) auf. Er gibt Dingen eine Geschichte, »die bisher keine signifikante Geschichte hatten und vergrößert so das Feld des Historischen« (Saar 2003 : 162 f.). Insbesondere am Beispiel der Sexualität zeigt Foucault nicht nur, dass bestimmte objektive Wissensordnungen von Sexualität in der Geschichte entstehen. Foucault zeigt auch, dass an der Transformation und Stabilisierung dieser Konzepte nicht allein einzelne Diskurse beteiligt waren, sondern stets ein ganzes Konglomerat unterschiedlicher Kräfte mitwirkte. 47 Foucault zeigt sich bei der genaueren Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken etwas unwirsch : »Vergleicht man etwa das architektonische Programm der Ecole Militaire von
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Theater als Institution erst erscheinen lasse : »So wollen wir nicht nach der Kunst fragen, sondern nach jener Macht, welche diese als solche konstituiert.«48 Aus einem fiktiven Nachlass von Foucault könne man, so phantasiert Peter Weibel, daher Bücher wie Die Geburt der Galerie – oder auch Die Geburt des Theaters – herausgeben, welche jenes System der Macht beschreiben, das über Kunst und Nicht-Kunst entscheide.49
2.1 Das Theater-Dispositiv – Institutionalisierungsprozesse des Theaterwesens im 18. Jahrhundert in Deutschland Das System der Macht, aus dem die Institution des Theaters hervorgeht, lässt sich mit Foucault als Theaterdispositiv bezeichnen. Mit dem Begriff des Dispositivs50 vertritt Foucault die These, dass das gesellschaftlich relevante Wissen um Konzepte wie beispielsweise Sexualität oder Sicherheit sowie die mit ihnen habitualisierten Verhaltensweisen und Selbstdeutungen dispositiv konstruiert seien.51 Auch das gesellschaftlich relevante Wissen über das Theater und die Schauspielkunst, die mit diesem Wissen verbundenen Verhaltensweisen der Schauspieler, Kritiker und Zuschauer lässt sich als eine dispositive Gabriel mit der Konstruktion der Ecole Militaire selbst : Was ist da diskursiv, was institutionell ? Mich interessiert dabei nur, ob nicht das Gebäude dem Programm entspricht. Aber ich glaube nicht, daß es dafür von großer Bedeutung wäre diese Abgrenzungen vorzunehmen, alldieweil mein Problem kein linguistisches ist« (Foucault 1978 : 125). 48 Weibel, Peter (2004) : Die Diskurse von Kunst und Macht : Foucault. In : Foucault und die Künste. Hrsg. im Auftrag des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) von Peter Gente. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 141–147. S. 141. 49 Vgl. ebd. S. 142. – Vgl. hierzu auch Zumhof, Tim (2015) : Das Dispositiv der Kunst. Zur institutionellen Struktur der Kunst im Anschluss an Foucault. In : Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 59. Jg. Heft 2. S. 235–245. 50 Das im Deutschen eher ungebräuchliche Wort ›Dispositiv‹ (von lat. dispono bzw. dispositio) bezeichnet eine Anordnung, eine Absichts- oder Willenserklärung oder steht für die Gesamtheit von Personen und Mitteln, die für eine bestimmte Aufgabe eingesetzt wurden oder zur Verfügung stehen. Im Französischen dagegen verzeichnet das Wort dispositif ein breites Verwendungsspektrum. Giorgio Agamben zeigt in seiner sehr knappen Genealogie des Dispositivbegriffs, dass das Wort im Französischen drei alltagssprachliche Bedeutungsdimensionen aufweist : eine technische, eine juristische und eine militärische. Dispositif steht entweder für den Teil eines Urteils, der disponiert, verfügt oder anordnet oder es meint die Art und Weise, wie Bauteile einer Maschine angeordnet sind, oder es bezeichnet das Ensemble der zur Ausführung eines Plans aufgestellten Mittel oder angeordneten Maßnahmen (Agamben 2008 : 16). Die englischsprachige Übersetzung des ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit zeigt sich bei der Übertragung des Wortes völlig hilflos und wechselt allein auf nur 30 Seiten zwischen deployment, apparatus, device, system, organization, mechanism und construct (Link 2007 : 219). 51 Vgl. Foucault, Michel (1978) : Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin : Merve. S. 119–123. Vgl. auch Foucault, Michel (1983) : Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. S. 105–112. Vgl. auch Foucault, Michel (2006) : Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978. Hrsg. von Michael Sennelart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 13–44.
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Konstruktion beschreiben. Durch das Zusammenspiel eines Ensembles von Diskursen, Praktiken, Gegenständen sowie Subjekten entstehe eine Sozialwelt mit ihrem (je typischen) Sagen und Tun, ihren spezifischen symbolischen Sichtbarkeiten wie materialen Vergegenständlichungen (von den uns umgebenden, sinnlich-material erfassbaren Alltagsdingen bis hin zu unseren leiblich erfahrbaren Körpern) und den in all diesen erscheinenden, machtvollen Regeln ihrer ›Wahr‹-Nehmung, ihrer Gestaltung, ihres Gebrauchs.52
Foucaults Annahme ist, daß nach einem radikalen historischen Verständnis epistemische Rahmen und Machtfaktoren die spezifische Weise prägen und formieren, wie sich Subjekte oder Individuen selbst verstehen und auf sich beziehen, aber auch, wie sie für andere erkennbar und beschreibbar sind.53
Insbesondere das veränderte Selbstverständnis der Schauspieler, aber auch die Selbstdeutung der Zuschauer als Theaterkritiker geht aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Diskurse, Praktiken und institutionellen Bestimmungen hervor. Mit dem Begriff der Subjektivierungsweisen betont Foucault, dass Subjektivität das Resultat einer Wechselwirkung von Wissen, Macht und Selbstverhältnissen sei, die sich als ein historisch variables Set von »Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit«54 analysieren lasse. Das Theaterdispositiv erzeugt zum einen das spezifische Wissen davon, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als Theater gilt sowie die mit diesem Wissen verbundenen Praktiken der Rezeption, Produktion und Legitimation, es ermöglicht oder verhindert zum anderen die verschiedenen Subjektivierungsweisen von Produzenten und Rezipienten des Theaters. Anders gesagt : Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Kunst. Sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre und gute Kunst funktionieren läßt, und sie verwirft Diskurse, die sie als unkünstlerisch oder schlechte Kunst definiert. Es gibt Instanzen und Mechanismen 52 Bührmann, Andrea D. & Schneider, Werner (2008) : Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld : Transcript. S. 68. 53 Saar, Martin (2003) : Genealogie und Subjektivität. In : Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hrsg. von Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 157–177. S. 164. 54 Foucault, Michel (2007) : Eine Ästhetik der Existenz. In : Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 280–286. S. 283. Vgl. hierzu auch Reckwitz, Andreas (2010) : Subjekt. 2., unveränderte Auflage. Bielefeld : Transcript. S. 23–39.
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(Sammler, Händler, Kuratoren), welche die Modi festlegen, in denen die einen oder anderen Diskurse als Kunst sanktioniert werden. Es gibt bevorzugte und kanonisierte Techniken und Verfahren zur Findung von guter Kunst, und es gibt einen hohen sozialen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was Kunst ist und was nicht, was gute Kunst und was schlechte Kunst ist.55
Ein Dispositiv sei dabei nach Foucault stets die Gesamtheit der verschiedenen Reaktionen auf Missstände – wie die von verschiedenen Seiten permanent vorgetragene Unzufriedenheit mit dem Theater der Wanderbühnen, dem vermeintlich unsittlichen Betragen der Komödianten und dem Fehlen einer deutschsprachigen Theaterkultur –, weswegen es keinen starren Block in der Geschichte bilde. Seine Variabilität, die Foucault etwas dunkel als »funktionelle Überdeterminierung«56 und Möglichkeit zur »strategischen Wiederauffüllung«57 bezeichnet, erlaube es von der »Geschichtlichkeit der Dispositive«58 zu sprechen, von ihrer Formierung und De-Formierung. Weil Dispositive sich nicht lückenlos und widerspruchsfrei totalisieren und wie alle Regeln ihre Anwendung nicht selbst auslegen, bieten solche »Riss-, Spalt-, aber auch Bruchlinien«59 Spielräume und die Möglichkeit zu unterschiedlichen Praxen der Aneignung oder Umdeutung.60
55 Weibel, Peter (2004) : Die Diskurse von Kunst und Macht : Foucault. S. 143. 56 Foucault, Michel (1978) : Dispositive der Macht. S. 121. 57 Ebd. 58 Deleuze, Gilles (1991) : Was ist ein Dispositiv ? In : Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Hrsg. von François Ewald und Bernhard Waldenfels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 153–162. S. 154. 59 Ebd. S. 157. 60 Als Beispiel lässt sich hier die von Foucault herausgearbeitete Überlagerung von Allianz- und Sexualitätsdispositiv nennen Die Sexualbeziehungen gaben den abendländischen Gesellschaften Anlass, so Foucault, »ein System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und der Güter« (Foucault 1983 : 105) zu etablieren, das mit stabilisierenden Zwangsmechanismen und einem komplexen Wissen verbunden war. Dieses Allianzdispositiv wurde, so Foucault, seit dem 18. Jahrhundert allmählich durch das Sexualitätsdispositiv überlagert, weil die sich verändernden ökonomischen und politischen Strukturen in ihm keine hinreichende Stütze mehr finden konnten. Diese Überlagerung der Dispositive äußerte sich laut Foucault erstens darin, dass das Sexualitätsdispositiv an Elemente des Allianzdispositivs – den Praktiken der Buße, der Gewissenserforschung sowie der geistlichen Seelenführung – anschloss. Zweitens sei durch die Überlagerung der Dispositive die bürgerliche Familie, die mit den Hauptachsen ›Mann – Frau‹ sowie ›Eltern – Kinder‹ die Grundelemente des Sexualitätsdispositivs entwickle, zum »Umschlagsplatz zwischen Sexualität und Allianz« (Foucault 1983 : 107) geworden. Drittens verschob sich mit der Überlagerung der Dispositive der Fokus von der »Problematik der Beziehungen zu einer Problematik des ›Fleisches‹ […], d.h. zu einer Problematik des Körpers« (Foucault 1983 : 107) – genauer gesagt : zu einer Problematik des biologischen Organismus. Während das Allianzdispositiv die Reproduktion einer gesellschaftlichen Ordnung durch die Reglementierung von »erlaubten und verbotenen Verkehr (Ehebruch, außereheliches Verhältnis, Beziehungen mit einer Person wider die Gesetze des Blutes oder Standes, Legitimität oder Illegitimität des Vereinigungsaktes)« (Foucault 1983 : 107) mitbewirkte, rückten mit dem Sexualitätsdispositiv biopolitische Problemstellungen in den Mittelpunkt, die Foucault knapp als die
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Die Operationen innerhalb eines Dispositivs dürfen nicht als ein homologes, intentionales Handeln missverstanden werden, denn es lasse sich schlechterdings kein einheitliches, historisches Subjekt ausmachen, das alle Strategien am Reißbrett geplant und umgesetzt habe – wie beispielsweise das Bürgertum –, was nicht ausschließt, das einzelne gesellschaftliche Akteure innerhalb des Dispositivs interessengeleitet handeln.61 Als Dispositiv werde vielmehr das Netz beschrieben, das sich zwischen den verschiedenen, gegebenenfalls disparaten Strategien und Operationen aufspannt. Exemplarisch sollen hier drei Strategie- und Maßnahmenkomplexe dieses Theaterdispositivs herausgearbeitet werden. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formulierten Schauspiel- und Künstlertheorien62 einer natürlichen Schauspielkunst, die sich sowohl gegen den rhetorischen Deklamationsstil des Schultheaters und der französischen Klassik wandten als auch das burleske Treiben der Wanderbühnen, das Possenreißen und Extemporieren ablehnten, waren erstens bemüht, diese neue Schauspielkunst in ein System der schönen Künste zu »Sexualisierung des Kindes, Hysterisierung der Frau, Spezifizierung der Perversen, Regulierung der Bevölkerungen« (Foucault 1983 : 112) bezeichnet. 61 Foucault erläutert diese Strategie ohne Strategen am Beispiel der Moralisierung der Arbeiterklasse : »In den Jahren zwischen 1825 und 1830 sieht man lokal […] eine Reihe wohldefinierter Strategien auftauchen, um die Arbeiter der ersten Schwerindustriezentren an dem Ort, an dem sie arbeiten, festzuhalten. Es handelte sich darum, den Beschäftigungswechsel zu erschweren. So bildeten sich etwa in Mulhouse, oder im Norden Frankreichs, vielfältige Techniken aus : man übte Druck auf die Leute aus, sich zu verheiraten, man stellte Wohnungen zur Verfügung, baute Arbeitersiedlungen, man praktizierte jenes hinterhältige System der Verschuldung, von dem Marx spricht, und das darin besteht, die Miete im Voraus zu kassieren, während der Lohn erst am Ende des Monats ausgezahlt wird. […] Schritt für Schritt bildet sich um all dies herum ein Diskurs : der Diskurs der Philanthropie nämlich, der Diskurs der Moralisierung der Arbeiterklasse. Dann verallgemeinern sich die Erfahrungen dank der Vermittlung von Institutionen und Gesellschaften, die ganz bewußt Moralisierungsprogramme für die Arbeiterklasse vorlegen. Auf diesem Boden beginnt das Problem der Frauenarbeit, das Problem der Einschulung der Kinder und das des Verhältnisses zwischen beiden Wurzeln zu schlagen. Zwischen der Einschulung der Kinder, die eine zentrale, auf der Ebene des Parlaments getroffene Maßnahme ist, auf dieser oder jener Form einer rein lokalen Initiative, die zum Beispiel in Hinblick auf die Unterkunft der Arbeiter ergriffen wird, haben sie alle Arten von Übersetzungs-Mechanismen […], die nach Maßgabe der zeitlichen oder örtlichen Umstände erfinden, modifizieren, umstellen : und zwar so geschickt, daß man eine globale, kohärente, rationale Strategie erhält, von der man aber nicht mehr zu sagen wüsste, wer sie entworfen hat. […] So kann man sagen, daß die Strategie der Moralisierung der Arbeiterklasse eine Strategie der Bourgeoisie ist. Man kann sogar sagen, daß es diese Strategie ist, die es der bürgerlichen Klasse erlaubt, bürgerliche Klasse zu sein und ihre Herrschaft auszuüben. Aber daß es die bürgerliche Klasse sei, die […] als eine Art von zugleich realem und fiktivem Subjekt diese Strategie erfunden und der Arbeiterklasse gewaltsam aufgezwungen hätte, das kann man, glaube ich, nichts sagen« (Foucault 1978 : 132–134). 62 Ulrike Hentschel versteht unter Künstlertheorien »diejenigen Äußerungen von Künstlern […], die entweder implizit in ihren Werken zum Ausdruck kommen oder aber explizit über diese getroffen werden.« Von diesen Künstlertheorien grenzt sie Schauspieltheorien ab, »die sich ihrem Gegenstand mit einem philosophischen, historischen, soziologischen oder psychologischen Interesse nähern« (Hentschel 2010 : 156).
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integrieren, sie als Kunst zu legitimieren und vom Handwerk der Schausteller – der Seiltänzer, Gaukler und Taschenspieler – zu emanzipieren. In den schauspieltheoretischen Abhandlungen sowie im Diskurs um die Schauspielkunst, der in den zeitgenössischen Theaterzeitschriften und -journalen geführt wurde und eine breite Öffentlichkeit erreichte,63 erhob man zweitens die Nachahmung der Natur zu einem Gestaltungsgrundsatz einer illusionistischen Bühnenpraxis und verpflichtete die Schauspieler darauf, ihr Spiel am dramatischen Text auszurichten. Diese »Literarisierung des Theaters«64 und die Favorisierung eines realistischen Darstellungsstils im Zeichen von Natürlichkeit und Authentizität sollte nicht nur als normative Bewertungsgrundlage für die Beurteilung der schauspielerischen Praxis dienen, sondern galt zugleich als Maßstab für eine berufsbezogene Ausbildung der Schauspieler. Und drittens verband man mit der Begründung dieser neuen Schauspielkunst institutionelle Maßnahmen wie die Auflösung des Prinzipalwesens und der Wandertruppen, die staatliche Subventionierung der Bühnen, die Ausbildung des schauspielerischen Nachwuchses, die soziale Absicherung von Schauspielern sowie die Einführung einer rechtlichen Ordnung für das Schauspielwesen und Regularien für die alltäglichen Proben- und Bühnenabläufe. Hierdurch erhoffte man sich, die Schauspieler zu einer bürgerlichen Arbeitsmoral sowie zu einem anständigen und sittlichen Benehmen auf und jenseits der Bühne zwingen zu können, um ihrem Berufsstand zu sozialer Anerkennung zu verhelfen. Mit dieser Disziplinierung der Schauspieler war gleichzeitig eine Disziplinierung des Publikums verbunden, die darin bestand, analog zur neuen Schauspielkunst die Bedingungen der Möglichkeiten einer entsprechenden Praxis der Theaterrezeption, einer neuen »Zuschaukunst«,65 wie Bertolt Brecht sagen würde, herzustellen. All diese institutionellen Maßnahmen und Forderungen blieben für die schauspielerische Praxis exoterisch. 2.1.1 »Sie müssen einen Unterschied machen zwischen Schauspielern und HüttenKomödianten«66 – Vom Handwerker zum Schauspielkünstler
Die Bemühungen um eine theoretische Grundlegung der Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestanden darin, sie in ein allgemeines System der schönen Künste zu integrieren. Christlob Mylius, der zusammen mit seinem Vetter Lessing die Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme67 des Theaters herausgab, legte dort 1750 63 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 69–75. 64 Graf, Ruedi (1992) : Das Theater im Literaturstaat. S. 14. 65 Die Zuschaukunst, schreibt Brecht, sei eine Kunst, »die erst gelernt, ausgebildet, dann im Theater ständig geübt werden muß (Brecht 1993 : 124 f.). 66 Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. Jakob Neukäufler (1754–1835). Hrsg. von Konrad Schiffmann. Linz : Feichtingers Erben. S. 62. 67 Das Wort ›Aufnahme‹ wird von Lessing und Mylius im Sinne von »gedeihen, aufbringen, emporbringen« (Grimm & Grimm 1854 : Sp. 695–697) verwendet. Die Zeitschrift versammelt ihrem Titel nach also Beiträge zur Geschichte und Verbesserung des Theaters.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
erstmals den Versuch vor, die Schauspielkunst als »freye Kunst«68 zu bestimmen.69 Denn Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon verzeichnete den Begriff noch nicht und listete lediglich unter dem Lemma ars den Unterpunkt ars ludicra auf, die »zu Ergötzung der Augen und Ohren gerichtet ist, als Seil-tanzen, Comoedien, Opern, Gauckeln, TaschenSpielen etc.«70 Ars ludicra, die Spielkunst der Schausteller, erscheint hier noch als Teil 68 [Mylius, Christlob] (1750) : Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey. In : Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Erstes Stück. S. 1–13. S. 2. – Der Mönch Hugo von Saint Victor verfasste um 1128 das Didascalicon de studio legendi. Es war das Lehrbuch, in dem Hugo neben der Anleitung zur theologischen Textexegese auch den mittelalterlichen Bildungskanon der Artisten-Fakultät – die septem artes liberales – definierte. Die sieben freien Künste setzten sich zusammen aus den Disziplinen der Grammatik (grammatica), Rhetorik und Dialektik (ratione disserendi) (Hugo 1997 : 209–215) sowie aus Arithmetik (arithmetica), Geometrie (geometria), Astronomie (astronomia) und Musik (musica) – das sogenannte Quadrivium (Hugo 1997 : 171–183). In Analogie zu den sieben freien Künsten brachte Hugo im Didascalicon auch die handwerklichen Künste und Kunstfertigkeiten – etwas gezwungen und umständlich – ebenfalls auf die Zahl sieben und nannte sie die septem scientias. Diese handwerklichen Kunstfertigkeiten, die später auch als artes mechanicae beschrieben wurden, umfassten die Tuchherstellung oder Webekunst (lanificium), das Waffenhandwerk, darunter im weitesten Sinne auch die bildenden Künste (armaturam), die Schifffahrtskunde (navigatio), Landwirtschaft und Gartenbau (agricultura), die Jagd und das Lebensmittelgewerbe, wie es von Bäcker, Fleischer und Wirten betrieben wurde (venatio), die Heilkunst (medicina) sowie die Theaterkunst und das Ritterspiel (theatricam) (Hugo 1997 : 193–207, Bacher 2000 : 36 f.). Der Kanon der mechanischen Künste war im Gegensatz zum Kanon der freien Künste aber eher willkürlich und unbeständig. Schon Hugos Nachfolger, Gottfried von Saint Victor, strich die als unchristlich geltende und verpönte theatrica, erweiterte aber armatura, benannte navigatio in mercatura um, begrenzt venatio auf die Jagd und erwähnt, dass es neben diesen sieben Künsten noch etliche mehr gebe. Die artes mechanicae galten bis ins Hochmittelalter als nicht-freie Künste, weil sie in erster Linie dem Broterwerb dienten und eines freien Menschen daher nicht würdig erschienen. Thomas von Aquin bezeichnete sie daher auch als artes mechanicae sive serviles, die dienenden oder sklavischen Künste. Kunsttheoretische Schriften nahmen daher kaum Notiz von ihnen. Sie konzentrierten sich neben einigen Ausnahmen auf die Musik sowie die Dichtkunst und die mit ihr assoziierte Rhetorik (Schneider 2011 : 111–115). 69 Die Neuberin verfasste bereits 1736 ein Theaterstück mit dem Titel Die von der Weisheit wider die Unwissenheit beschützte Schauspielkunst. Der Schauspieler und Dramatiker Johann Christian Krüger, der zeitweise bei der Schönemann’schen Schauspielertruppe mitwirkte, verfasste 1747 das allegorische Vorspiel Der Sieg der Schauspielkunst. In einer kurzen Notiz in der Zeitschrift Liebhaber der schönen Wissenschaften lobt der Rezensent die Geschicklichkeit, den Geschmack und das Kunstverständnis des Autors. Krüger schrieb außerdem das Vorspiel Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst, das der Theaterhistoriker Johann Friedrich Löwen, der später die Direktion des Hamburger Nationaltheaters innehatte, 1763 zusammen mit anderen von Krügers poetischen und theatralischen Arbeiten herausgab. – Vgl. hierzu Neuber, Frederike Caroline (1736) : Die von der Weisheit wider die Unwissenheit beschützte Schauspielkunst. Lübeck : Christian Heinrich Willers. Vgl. auch [Anonym] (1747) : Nachricht von einigen hierher gehörigen Schriften. In : Liebhaber der schönen Wissenschaften, Erster Band, fünftes und sechstes Stück. S. 418–433. S. 418. Vgl. auch Krüger, Johann Christian (1763) : Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst. In : Johann Christian Krüger. Poetische und theatralische Schriften. Hrsg. von Johann Friedrich Löwen. Leipzig : M. G. Weidmanns Erben und Reich. 70 Zedler, Johann Heinrich (1732) : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und
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der artes mechanicae, als Teil eines Handwerks. Auch unter dem Stichwort »Schau-Spiel, Ludus scenicus«71, der theatralischen »Vorstellung entweder wahrhafftig geschehener Geschichte oder aber erdichteter Handlungen, durch lebendige Personen die sowohl auf die Erbauung als Ergötzung der Zuschauer abzielt«72, fällt der Begriff der Schauspielkunst nicht, hingegen werden hier unter anderem die kontroversen Positionen in der Debatte um den moralischen Stellenwert des Theaters referiert. Nur drei Jahre nach Mylius’ Versuch, die Schauspielkunst als eine freie Kunst zu bestimmen, eröffnete der Schauspieler Konrad Ekhof im Jahr 1753 – als er zusammen mit Johann Friedrich Schönemanns Schauspielertruppe am Schweriner Hoftheater beschäftigt war – die erste deutsche Schauspieler-Akademie,73 die in der Tradition der alten europäischen Wissenschaftssozietäten gegründet wurde und deren Mitglieder sich aus den Schauspielern der Schönemann’schen Gesellschaft zusammensetzten. In seiner Eröffnungsrede erläutert Ekhof die Zielsetzung der Akademie und stellt einen Bezug der Schauspielkunst zur Tradition der sieben freien Künste her, indem er den Schauspielern nicht nur den Ruf eines Freikünstlers in Aussicht stellt, sondern die Grundlagen der Schauspielkunst als Grammatik bezeichnet – die neben der Rhetorik und der Dialektik zum sogenannten Trivium der sieben freien Künste gehörte : Lassen Sie uns also, meine Herren und Damen, die Grammatik der Schauspielkunst studieren, wenn ich so sagen darf, und uns mit den Mitteln bekannter machen, durch deren Anwendung wir zu der Fähigkeit gelangen, die Ursachen von allem einzusehen, nichts ohne hinlänglichen Grund zu reden noch zu thun, und den Namen eines Freykünstlers mit Recht zu verdienen.74 Künste, Bd. 2 : An–Az. Halle und Leipzig : Johann Heinrich Zedler. Sp. 1645. 71 Zedler, Johann Heinrich (1742) : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 34 : Sao–Schla. Halle und Leipzig : Johann Heinrich Zedler. Sp. 1034. – Schon Johann Amos Comenius beschreibt in seinem Orbis sensualium pictus unter der Wendung Ludus scenicus das Schauspiel. Im Beschreibungstext zum entsprechenden Holzschnitt heißt es : »Auf dem Schauplatz /1 (welcher bekleidet mit Teppichen/2 und mit Fürhängen 3 verzogen wird) werden gespielet Freudenspiele und Trauerspiele / in welchen vorgestellt werden denkwürdige Sachen ; als hier die Geschichte/ vom ungeratene Sohn/4 und seinem Vatter/5 von dem er wieder aufgenommen wird/ als es nach Haus wieder kehrt[.] Die Spielpersonen/ agiren (spielen) verkleidet. der Narr (Pickelhäring) machet Possen. Unter den Zuschauern sitzen die Vornehmsten/ im Herrensitz : 7 der Pöbel steet auf dem Platz /8 und platscht mit den Händen/ woh ihnen etwas wilgefällt« (Comenius 1698 : 269). 72 Zedler, Johann Heinrich (1742) : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 34. Sp. 1034. 73 Vgl. hierzu Teil II, Kap. 2.2 »›Studieren !‹ Das war ja Eckhofs Wort und hatte mir die Sache, die ich so lieb hatte, noch mehr veredelt !« – Konrad Ekhof und die Akademie der Schönemann’schen Gesellschaft in Schwerin (1753–1754). 74 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 21 [Herv. d. Verf.]. – Etwa zeitgleich erklärte William Hogarth in seiner 1753 erschienenen Schrift The Analysis of Beauty : »Action is a sort of language which perhaps one time or other, may to be taught by a kind of grammar-rules« (Hogarth 1753 : 139). Mylius übersetzt diese Stelle in seiner ein Jahr später erschienen
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Lessing, der den Titel von Riccobonis Abhandlung L’Art du Théâtre schlicht mit Die Schauspielkunst übersetzte, entwarf in seiner Laokoon-Schrift ein semiotisch und medienspezifisch fundiertes System der schönen Künste. Er grenzt hier die Malerei von der Dichtkunst anhand ihrer Mittel ab, die ihnen zur Herstellung einer Illusion von Wirklichkeit zur Verfügung stehen. Während die Dichtung als Zeitkunst konsekutiv eine Nachahmung und Illusion von Handlungsabläufen hervorbringe, gelinge es der Malerei und den bildenden Künsten als Raumkünste eine nachgeahmte Illusion von Wirklichkeit hervorzubringen, indem sie Gegenstände und Körper in räumlichen Anordnung simultan darstellen. Im fünften Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie rückt er dann die »Kunst des Schauspielers«75 an die Stelle »zwischen den bildenden Künsten und der Poesie«, weil sie als »sichtbare« und »transitorische Malerei« sowie als »stumme Poesie«76 die Illusion von wirklichen, im Raum angeordneten Körpern und sich sukzessiv entwickelnden Handlungen hervorbringe. Die Leistung der Schauspielkunst besteht für Lessing also in der Nachahmung des handelnden Menschen. Der Schweizer Theologe und Philosoph Johann Georg Sulzer nimmt den Begriff der »Schauspielkunst«77 in seine zwischen 1771 und 1774 erschienene, alphabetisch geordnete Enzyklopädie ästhetischer Grundbegriffe auf, die er als Theorie der schönen Künste betitelt. Für Sulzer steht fest, »daß der Schauspieler so große Talente, als irgend ein Künstler, nöthig habe«78, und beruft sich dabei auf John Hills englischsprachige Übersetzung von Sainte-Albines Le Comédien. Sulzer nimmt ferner den Begriff des Schauspiels in seine Enzyklopädie auf und erklärt hier, dass es als ein den »schönen Künsten würdiges und nützliches Werk«79, die Aufgabe habe, »nicht den unmittelbaren moralischen Nutzen«80 vor Augen zu haben, sondern bemüht sein müsse, nützlich zu unterhalten : »So ist es nicht nur an sich gar nicht schädlich, sondern für viele Gemüter nützlich, durch Mitleid gerührt zu werden : Man intereßirt sich mit ungemeiner Rührung für die leidende Tugend, nimmt herzlich Anteil an dem Unglück oder widrigen Schicksal unschuldiger Menschen.«81 Sulzer differenziert aber zwischen solchen Schauspielen, die »zwar den äußeren Schein der bloßen Ergötzlichkeit hätten, in der That aber auf Unterricht und Bildung der Gemüther
Zergliederung der Schönheit so : »Die Handlung ist eine Art von Sprache, welche vielleicht über lang oder über kurz so weit wird gebracht werden, daß man sie durch eine Art von grammatikalischen Regeln lehren wird« (Hogarth 1754 : 81). 75 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai 1767]. S. 210. 76 Ebd. S. 211. 77 Sulzer, Johann Georg (1774) : Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikel, Zweyter Theil : von K bis Z. Leipzig : M. G. Weidmanns Erben und Reich. S. 1027. 78 Ebd. S. 1028. 79 Ebd. S. 1024. 80 Ebd. 81 Ebd.
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abzielten«82, und jenen Schauspielen, die entweder bloß angenehme Unterhaltung bereiten wollen oder die zum Zwecke eines feierlichen Anlasses veranstaltet werden. Wenzel Sigmund (auch Sigismund) Heinze, der »letzte Jesuit in Oberösterreich«83, der an der Theresianischen Ritterakademie in Wien unterrichtete und später auch in Linz Vorlesungen zur Dicht- und Redekunst hielt, ist in seiner aphoristischen Schrift Von der Schauspielkunst84 der Ansicht, dass die »Systemsucht«85 der Theoretiker der schönen Künste keine Klarheit schaffe und das künstlerische Genie keiner Regeln für seine Praxis bedürfe. »Mehr gute Muster, als schöne Theorie«86 empfiehlt er den angehenden Schauspielern. Ihnen ruft er daher entgegen : Lasst »Euch keine Zunft- und Innungsartikel vorschreiben ; geht frey auf den Wegen der Natur, und gesunden Vernunft ! – Sonst kriegt Ihr ein Handwerk, und keine Kunst ; Brod, und keine Ehre !«87 Da die Schauspielkunst für Heinze die Vereinigung aller malenden und schönen Künste darstelle, sei sie »ganz Malerey«88 und der Schauspieler »wechselweise Maler, Bildhauer, Tonkünstler. Er ist alles in einem, und eines in allem.«89 Johann Joachim Eschenburg, Bibliothekar und Professor für Philosophie und Literaturgeschichte am Collegium Carolinum erklärt in seinem 1783 erschienen Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, dass die Kunst des Schauspielers als »eine der wirksamsten Hülfskünste der Poesie […] nicht bloß aesthetischen, sondern auch grossen moralischen Werth hat.«90 Deren Regeln, wiegelt der Professor aber ab, gehörten »nicht in diese Theorie«91 der schönen Wissenschaften. In Kants Einteilung der schönen Künste, die er in seiner im Jahr 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft vornimmt, findet die Schauspielkunst im engeren Sinne ebenfalls keinen Platz. Das Schauspiel beschreibt er vielmehr als eine Verbindung der Beredsamkeit mit einer »malerischen Darstellung«92, in dem wie beim Gesang, bei der Oper oder beim Tanz »mannigfaltige verschiedene Arten des Wohlgefallens einander durchkreuzen«93 und es daher nicht als schöne Kunst klassifiziert werden könne. Es liegt der Verdacht nahe, dass Kant das Theater und die Schauspielkunst eher als »[a]ngenehme Künste« erachtet, »welche bloß zum Genusse abgezweckt 82 Ebd. S. 1025. 83 [Pillwein, Benedikt] (1834) : Erzählungen und Volkssagen aus den Tagen der Vorzeit von dem Erzherzogthume Oesterreich ob der Enns und dem Herzogthume Salzburg. Ein Unterhaltungsbuch für Jedermann. Linz : Joh[ann] Huemer. S. 92. 84 [Heinze, Wenzel Siegmund] (1780) : Von der Schauspielkunst. Wien : Joseph Edlen von Kurzbek. 85 Ebd. S. 13. 86 Ebd. 87 Ebd. S. 35. 88 Ebd. S. 18. 89 Ebd. S. 14. 90 Eschenburg, Johann Joachim (1783) : Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Berlin und Stettin : Friedrich Nicolai. S. 171. 91 Ebd. 92 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. S. 680 [§ 52]. 93 Ebd.
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werden ; dergleichen alle die Reize sind, welche die Gesellschaft an einer Tafel vergnügen können«94. Friedrich Hildebrandt von Einsiedel veröffentliche im Jahr 1797 seine Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst, die aus seiner Zusammenarbeit mit Goethe am Weimarer Liebhabertheater hervorgegangen sind. In seinen Grundlinien definiert er die Schauspielkunst als »die Anwendung geistiger und körperlicher Kräfte vermittelst welcher der Schauspieler eine dramatische Dichtung durch seine Person versinnlicht und belebt ; um selbige durch Pantomime und Sprache, zu einer theatralischen Darstellung zu machen.«95 Den Schauspieler ordnet Einsiedel zur Klasse der »bildenden Künstler«96, weil er nicht bloß nachahmend tätig ist, sondern den dramatischen Text des Dichters in ein »abgesondertes Kunstwerk«97 verwandele, das sich »nach ganz verschiedenen Gesetzen«98 forme. Goethe und Schiller differenzieren in ihrem Fragment Über den Dilettantismus, das sie zusammen mit einem tabellarischen Schema über den Nutzen und Schaden des Dilettantismus im Jahr 1799 gemeinsam erarbeitet haben, nicht nur zwischen verschiedenen Kunstgattungen, sondern unterscheiden auch zwischen ihrer dilettantischen und professionellen Ausführung. In dem Fragment heißt es, dass der allgemeine Grundsatz, unter dem der Dilettantismus gestattet sei, darin bestehe, dass sich der Dilettant – unter dem Goethe und Schiller den Kunstliebhaber verstehen, »der nicht allein betrachten und genießen, sondern auch an ihrer Ausübung Theil nehmen will«99 – den »strengsten Regeln der ersten Schritte«100 zu unterwerfen und »alle Stufen mit größter Genauigkeit«101 auszuführen habe. Schaden könne der Dilettant insbesondere dort anrichten, wo die Kunst »noch kein rechtes Regulativ«102 ausgebildet habe wie etwa in der Garten-, aber insbesondere in der Schauspielkunst. Carl Nikolaus Heusser, Schauspieler und Mitglied des königlich-bayrischen Theaters in Aschaffenburg, lehnt in seinen 1816 erschienen Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler den Begriff der freien Künste ab und differenziert statt dessen zwischen eigentlichen und uneigentlichen Künsten : »Zu den eigentlichen Künsten gehören nur jene«, schreibt er, »worinn die Produkte derselben nur durch angewandtes Geist 94 Ebd. S. 654 [§ 44]. 95 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst, nebst der Analyse einer komischen und tragischen Rolle, Falstaf und Hamlet von Shakespeare. Leipzig : Georg Göschen. S. 18. 96 Ebd. S. 19. 97 Ebd. S. 20. 98 Ebd. S. 21. 99 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Über den Dilettantismus [1799]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedrich Apel u. a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedrich Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 739–784. S. 780 f. 100 Ebd. S. 779. 101 Ebd. 102 Ebd.
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studium, verbunden mit körperlicher Geschicklichkeit, können hervorgebracht werden, dahin gehören Mahlerei, Tonkunst, Bildhauerkunst und Schauspielerkunst.«103 Unter uneigentlichen Künsten versteht Heusser solche, die allein einer besonderen körperlichen Kraft oder Geschicklichkeit bedürfen. Hierzu gehöre die Tanz-, Reit- und Fechtkunst sowie auch das Handwerk des Steinschneiders, Kupferstechers und Stempelschneiders. Auch das Marionettenspiel, der Seiltanz oder die Tätigkeit des Taschenspielers erachtet Heusser als uneigentliche Künste. Heusser betont aber, dass seine Unterscheidung keine evaluative, sondern eine bloß kategoriale sei : Allein »so wie alles Physische, Moralische und Politische in der Welt nach Rang und Ordnung muß abgemessen seyn, also muß auch die eigentliche Kunst von der uneigentlichn verschieden angesehen, behandelt, beurtheilt und beachtet werden.«104 Und schließlich schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der zwischen 1818 und 1829 seine Vorlesungen über die Ästhetik in Heidelberg und Berlin hielt und in denen er sich mit dem Schönen in der Kunst befasste : Man heißt jetzt die Schauspieler Künstler und zollt ihnen die ganze Ehre eines künstlerischen Berufs ; ein Schauspieler zu sein ist unserer heutigen Gesinnung nach weder ein moralischer noch ein gesellschaftlicher Makel. Und zwar mit Recht ; weil diese Kunst viel Talent, Verstand, Ausdauer, Fleiß, Übung, Kenntnis ja auf ihrem Gipfelpunkte selbst einen reichbegabten Genius fordert. Denn der Schauspieler muß nicht nur in den Geist des Dichters und der Rolle tief eindringen und seine eigene Individualität im Inneren und Äußeren demselben ganz angemessen machen, sondern er soll auch mit eigener Produktivität in vielen Punkten ergänzen, Lücken ausfüllen, Übergänge finden und überhaupt durch sein Spiel den Dichter erklären, insofern er alle geheimen Intentionen und tiefer liegenden Meisterzüge desselben zu lebendiger Gegenwart sichtbar herausführt und faßbar machen.105
Diese Einordnung, mit der sich überhaupt erst eine theoretische Legitimation der Schauspielkunst als Kunst in Abgrenzung106 zum Handwerk, zur Rhetorik und zu anderen 103 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. Aschaffenburg : [Daniel] Knode. S. 6. 104 Ebd. S. 7. 105 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) : Werke in 20 Bänden, Bd. 15 : Vorlesungen über Ästhetik III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 515. – Annemarie Gethmann-Siefert weist darauf hin, dass die drei Bände zu Hegels Vorlesungen über Ästhetik in der Werkausgabe auf Bearbeitungen von Hegels Schüler Heinrich Gustav Hotho zurückgehen, die mit den bekannten Quellen »oft in zentralen Gedanken nicht übereinstimmen.« Denn Hegel arbeitete sein Vorlesungsmanuskript mehrfach um, ohne aber vor seinem plötzlichen Tod eine publikationsreife, endgültige Fassung zu erstellen (Gethmann-Siefert 2005 : 9). Ob nun Hegel oder sein Schüler Hotho dem Schauspieler die Anerkennung als Künstler erteilte, ist hier nicht wesentlich. Wichtig erscheint hier vielmehr die Tatsache, dass eine solche Anerkennung überhaupt ausgesprochen wurde. 106 Obwohl Christian Ludwig Stieglitz in seiner Enzyklopädie der bürgerlichen Baukunst aus dem Jahr 1797 für seine Empfehlung, Theaterbauten von anderen Gebäuden räumlich abzugrenzen, brand-
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Künsten107 sowie eine Autorisierung des Schauspielers als Künstler in Abgrenzung zum Dilettanten und zum gewöhnlichen Komödianten108 vollzog, geschah nicht nur vor dem Hintergrund des sich entfaltenden Theoriegebäudes der schönen Künste und Wissenschaften, sondern wurde auch von einer Zunahme wissenschaftlicher Studien begleitet, die sich mit der Physis, Psyche und Natur des Menschen befassten. Der Literaturhistoriker Alexander Košenina schreibt, dass die »Ablösung der streng konventionalisierten, typenhaften Theatergebärden der Barockbühne durch eine psychologisch fundierte körperliche Ausdruckssprache […] mit der anthropologischen Forschung Hand in Hand«109 ging. Während rhetorische Konventionen für die Theorie und Praxis der Schauspielkunst an Bedeutung verloren – und das Bildungsideal der Rhetorik zunehmen skeptisch betrachtet wurde –, gewannen die Erkenntnisse der Physiognomie, der Erfahrungsseelenkunde und der Anthropologie an Bedeutung, weil sie Aufschlüsse darüber versprachen, wie der Mensch seine Leidenschaften zum Ausdruck bringe und diese Erkenntnisse nicht, wie Karl Philipp Moritz schreibt, durch »leere Spekulazion«110 gewonnen wurden, sondern
schutztechnische Argumente anführt, lässt sich hierin aber auch eine bauliche Emanzipation des Theaters verstehen. »Was die Lage eines Schauspielhauses anbetrifft«, schreibt er, »so ist wohl für die Bewohner einer Stadt am bequemsten, wenn dasselbe ungefähr in der Mitte der Stadt errichtet wird, indem es zu einer öffentlichen nützlichen Belustigung dienet, woran alle Bewohner der Stadt Anteil nehmen können. Es muß wo möglich auf einem freien Platz liegen und darf nicht an andere Gebäude anstoßen ; denn weil ein solches Gebäude, wegen des vielen Holzwerkes und der vielen Leinwand, die sich innerhalb desselben befindet der Feuergefahr sehr ausgesetzt ist, so würden die herumstehenden Häuser in größter Gefahr seyn, wenn sie ganz nahe neben dem Schauspielhause stünden, als wenn sie in einiger Entfernung davon liegen« (Stieglitz 1797 : 615). 107 Vgl. hierzu Nagel, Ivan (2009) : Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 15–50. 108 Der Theaterprinzipal Johann Appelt, der 1787 sich und seine Truppe dem Karlsruher Hof empfahl, differenzierte in einem Grundsatzpapier zwischen sich und seiner Truppe, die er als »litterarische Schauspieler« bezeichnete und unter denen er »Leuthe von guten Wuchs – Anstand, und Erziehung« verstand, und den von ihm als »Professionisten« bezeichneten Komödianten, die er als »Leuthe von niedern Herkommen, und sehr Pöbelhafter Erziehung« beschrieb. Die »meisten solcher Herrn stammen noch von den Bourlesquen her«, erklärt er, »wo man nicht auf das Studium der dramatique als andere Regeln sahe, sondern wegen ihrer Ausgelassenheit und vielleicht fixen Mundwerks ein Plätzchen in der Hütte fanden« (zit. nach Daniel 1995 : 148). Diese Differenzierung setzte sich, so Sybille Maurer-Schmoock, auch in amtlichen Dokumenten allmählich durch. Der »Ausdruck ›Bande‹ wird ersetzt durch die honorigere Bezeichnung ›Schauspielergesellschaft‹, der verachtete Komödiant eines proskribierten Theaterproletariats ist zum seriösen Schauspieler avanciert« (MaurerSchmoock 1982 : 111). Auch dem Schauspieler Jakob Neukäufler wurde dieser Unterschied deutlich gemacht, als er sich in Wien nach dem sogenannten Komödianten-Bierhaus gegenüber dem Theater am Kärntner Tor erkundigte : »›Hoho‹, fuhr er mich an, ›Komödianten-Bierhaus ! Hier ist das Bierhaus der Herren Schauspieler. Sie müssen einen Unterschied machen zwischen Schauspielern und Hütten-Komödianten« (Neukäufler 1930 : 62). 109 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 25. 110 Moritz, Karl Philipp (1999) : Vorschläge zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde [1782].
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durch die Beobachtung des Menschen. Nicht mehr das Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern zu seiner Natur war das Ziel dieser Erkenntnis. 2.1.2 »Menschenbeobachter«111 und »Menschendarsteller«112 – Das Wissen über den natürlichen und künstlichen Körper des Schauspielers
Erste physiognomische Studien versuchten bereits seit Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts die Zusammenhänge zwischen den Leidenschaften des Menschen und ihrem gestischen und mimischen Ausdruck zu rekonstruieren. Der französische Hofmaler Charles Le Brun versuchte diese Erkenntnisse in seinen Vorlesung Sur l’expression génerale et paticulière, die er an der Académie royale de peinture et de sculpture in Paris vermutlich zwischen 1667 und 1669 hielt, für die Praxis der Malerei fruchtbar zu machen.113 Indem sich auch die Schauspielkunst der Nachahmung der Natur verschrieb, um Eingang in das Theoriegebäude der schönen Künste zu finden, rückte die Frage nach der Natur auch für die Schauspieltheoretiker und -praktiker in den Vordergrund : »Was ist Natur und welches sind die wahren Grenzen derselben bei theatralischen Vorstellungen ?«114 lautet Heribert von Dalbergs erste dramaturgische Frage, die er als Intendant im Jahr 1782 den Schauspielern des Mannheimer Nationaltheaters zur Diskussion stellte. »Das Wort Natur, in Rücksicht theatralischer Vorstellung«, so die Antwort des Schauspielers Wilhelm Christian Dietrich Meyer, »kann nichts anderes bedeuten, als die Täuschung, wodurch uns die Nachahmung einer Handlung oder Charakters so dargestellt wird, als sähe man es wirklich.« Um »Leidenschaften natürlich auszudrücken«, fährt er fort, muß der Schauspieler nicht nur dieser Leidenschaft fähig sein, sie nach all ihren verschiedenen Graden, Umständen und Verhältnissen genau kennen, sie muß ihm auch so zu Gebote stehen, daß er sie nach der Vorschrift des Dichters in jedem ihrer Grade hervorrufen und äußern kann. Alles was Leidenschaft heißt, muß der Schauspieler aus sich selbst schöpfen, wenn sein Ausdruck natürlich sein soll.115
Meyer fügt aber hinzu, dass es unmöglich sei, »ohne Studium der Kunst die richtige Darstellung eines leidenschaftlichen Charakters zu bewirken, und natürlicher Zorn, In : Karl Philipp Moritz. Werke, Bd. 1 : Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hrsg. von Heide Hollmer und Albrecht Meier. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. S. 793–809. S. 798. 111 Ebd. S. 800. 112 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen [1785]. In : August Wilhelm Iffland. Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina Hannover : Wehrhahn. S. 26–91. S. 43. 113 Vgl. Zelle, Carsten (1989) : Physiognomie des Schreckens im achtzehnten Jahrhundert. S. 94. 114 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim : J. Bensheimer. S. 74. 115 Ebd.
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Liebe, Schreck usw. können in Rücksicht der theatralischen Natur höchst unnatürlich sein«116. Unübersehbar ist bei der Begründung der natürlichen Schauspielkunst die paradox anmutende Argumentation, so Košenina, »daß die auf der Weltbühne öffentlich geschmähte Künstlichkeit auf dem Theater eingesetzt wird, um dort für das allgemein geforderte Ideal der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit mit artifiziellen Mitteln zu werben.«117 Denn die Praxis der natürlichen Schauspielkunst sollte nicht weiter darin bestehen, mit dem Körper etwas künstlich zu repräsentieren, sondern viel mehr als Körper etwas zu verkörpern und auszudrücken. Uneinig waren sich die Schauspieltheoretiker des 18. Jahrhunderts aber darüber, ob der Schauspieler die Gefühle, die er auf der Bühne zum Ausdruck bringen will, selbst empfinden müsse, um zu einem überzeugenden und wirkungsvollen Ausdruck zu gelangen.118 Es stellte sich die Frage, ob und welche Regeln einer solchen Schauspielkunst zugrunde liegen – und ob man sie erlernen und vermitteln könne. Das Theater bündele also nicht nur zeitgenössische (Körper-)Diskurse, der Schauspieler sei nicht nur »die theoretische Inkarnation, in der im 18. Jahrhundert besonders die Fragen von Individualität und Person einerseits und hiervon geschieden die Frage der Rolle und der Maske andererseits erörtert werden«,119 so Andreas Käuser, sondern die theoretischen Reflexionen über das Theater umfassen stets auch, so Fischer-Lichte, explizite oder implizite Körpertheorien,120 die die Grundlage für wirkungsästhetische oder pädagogische Annahmen bilden, wie Schauspieler geschult sein müssen, um bestimmte Effekte auf der Bühne und beim Publikum zu erzielen. Neben dem Auswendiglernen der dramatischen Texte solle den Schauspielern einerseits laut Schlegels Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters die Möglichkeit und Zeit gegeben werden, theatertheoretische Texte zu lesen, nicht um sich »sklavisch nach diesen Abhandlungen zu richten«121, sondern um sie als Anreize für die Erprobung ihrer Kunst zu verstehen. Andererseits bedürfe die Schauspielkunst des Studiums der menschlichen Natur, ihrer Diversität und Mannigfaltigkeit. Der Dichter und Romanschreiber, 116 Ebd. 117 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 17. 118 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 350–363. Vgl. auch Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 117–151. Vgl. auch Bender, Wolfgang F. (1988) : ›Mit Feuer und Kälte‹ und – ›Für die Augen symbolisch‹. Zur Ästhetik der Schauspielkunst von Lessing bis Goethe. In : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 62. Jg. Heft 1. S. 60–98. Vgl. auch Stephan, Ulrike (1986) : Gefühlsschauspieler – Verstandesschauspieler. Ein theatertheoretisches Problem des 18. Jahrhunderts. In : Empfindung und Reflexion. Ein Problem des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans Körner, Constanze Perez, Reinhard Steiner und Ludwig Tavernier. Hildesheim : Olms. S. 99–116. Vgl. auch Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. S. 58–92. 119 Käuser, Andreas (1999) : Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie. S. 39. 120 Vgl. Fischer-Lichte (2000) : Entgrenzungen des Körpers. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika (1999) : Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. 121 Schlegel, Johann Elias (1971) : Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters. S. 262.
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aber auch der Schauspieler »wird sich genötigt sehn«, glaubt Karl Philipp Moritz, »erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigenen Ausarbeitungen wagt.«122 Die angehenden »Menschendarsteller«123 – wie August Wilhelm Iffland die Schauspieler bezeichnet wissen will – müssten demnach vor allem, wie Moritz die Betreiber der Erfahrungsseelenkunde nennt, »Menschenbeobachter«124 sein. Georg Christoph Lichtenberg, der eine konventionalisierte Schauspielkunst der verabredeten Zeichen ebenso ablehnt wie die von Johann Casper Lavatar entworfene Physiognomik,125 empfiehlt als Handreichung für das Studium der menschlichen Natur einen noch zu erarbeitenden »Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler«,126 der den angehenden Schauspielern »allerlei Bemerkungen über den Menschen vorsagte und vorzeichnete, wodurch sie […] in den Stand gesetzt werden, alles mehr zu individualisieren«127. Und der Schauspieler Johann Friedel ist der Ansicht, dass im Lehrplan eines möglichen »Philanthropin[s] für Schauspieler«128 das »unentbehrlichste Studium«129 eine »gründliche Kenntniß des Menschen«130 sei, die unter anderem die »Zergliederung des menschlichen Körpers«131 und das »Studium der Phisiognomie«132 umfasse.
122 Moritz, Karl Philipp (1999) : Vorschläge zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. S. 798. 123 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen [1785]. S. 43. 124 Moritz, Karl Philipp (1999) : Vorschläge zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. S. 800. 125 »Die Bemühung ein allgemeines Principium in manchen Wissenschafften zu finden ist villeicht öffters eben so fruchtlos, als die Bemühung derjenigen seyn würde, die in der Mineralogie ein ersts allgemeines finden wolten durch dessen Zusammensezzung alle Mineralien entstanden seyen. Die Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua und unsere Kurzsichtigkeit muß sich Aehnlichkeiten aufsuchen um vieles auf einmal behalten zu können.« (Lichtenberg 1974 : 10) – Vgl. auch Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Über Physiognomik ; Wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis. In : Georg Christoph Lichtenberg. Aphorismen, Schriften, Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. Gütersloh : Bertelsmann. S. 268–307. Vgl. auch Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten. In : Georg Christoph Lichtenberg. Aphorismen, Schriften, Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. Gütersloh : Bertelsmann. S. 370–375. 126 Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Vorschlag zu einem Orbis Pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler [1780]. In : Georg Christoph Lichtenberg. Aphorismen, Schriften, Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. Gütersloh : Bertelsmann. S. 308–316. S. 308. 127 Ebd. S. 312 f. 128 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Siebenzehntes Stück. S. 15–27. S. 15. 129 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück. S. 16–28. S. 17. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Ebd. S. 18.
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2.1.3 Die »Bildung eines fähigen Schauspielers«133 – Maßnahmen zur Moralisierung der Schauspieler
Die Frage nach der Erziehung, Bildung und Ausbildung der Schauspieler wurde virulent, weil sich nicht nur die Funktion des Theaters und die Erwartungen an die schauspielerische Praxis wandelten, sondern insbesondere der ästhetische Stellenwert der Schauspielkunst in Abhängigkeit zur moralischen und bildungsmäßigen Verfassung der Schauspieler bestimmt wurde : »Die schönen Darstellungen edler Charaktere auf der Bühne«, heißt es in den von Iffland anonym verfassten Bemerkungen über die theatralischen Grundübel, ihre Wirkung und Folgen aus dem Jahr 1798, »erwecken das gute Gefühl der Zuschauer und täuschen dann am meisten, wenn des Darstellers Sitten außer der Bühne, denselben nicht widersprechen.«134 Friedel vermutet, dass das Theater die »so sehr ausposaunte Schule der Sitten noch nicht«135 sei, weil »moralische Kenntniß der Pflichten unter dem großen Haufen der Schauspieler eben so selten«136 zu finden sei. Den Grund hierfür sieht Friedel darin, dass »die wenigsten Schauspieler in ihrer Jugend eine Erziehung genossen, die sie in der Folgezeit ihrer größern Ausbildung fühlen machte, wie nöthig die Moralität jeder Handlung alle Schritte seines Lebens vorzüglich bezeichnen müsse.«137 Auch Johann Friedrich Löwen, der später die Direktion des Hamburger Nationaltheaters innehatte, betrachtet die »schlechte Lebensart der Schauspieler«138 – neben der ungeschickten Direktion der Theaterprinzipale, der Vorurteile der Geistlichkeit, der fehlenden staatlichen Obhut und Aufsicht der Theater sowie dem Mangel an deutschsprachigen Theaterschriftstellern – als ein Hindernis bei der Anerkennung der Schauspielkunst und der Weiterentwicklung des deutschsprachigen Theaterwesens. Den Schauspielern fehle es an »Welt und Sitten : und beyde Stücke sollten doch einem Comödianten am wenigsten fehlen.«139 Noch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die meisten Schauspieler in Deutschland in Wandertruppen organisiert, die durch Prinzipale oder Komödienmeister geleitet wurden und untereinander um das Privileg konkurrierten, im Herrschafts- oder Stadtgebiet ihre Bühnen aufschlagen oder im städtischen Ball- oder Rathaus auftreten zu dürfen. Die Wanderschauspieler litten aufgrund dieser vagabundierenden Lebensform
133 [Westenrieder, Lorenz von] (1779) : Von der Bildung eines fähigen Schauspielers. In : Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur, 1. Jg. Sechstes Stück. S. 543–551. S. 543. 134 [Iffland, August Wilhelm] (1798) : Bemerkungen über die theatralischen Grundübel, ihre Wirkung und Folgen. Erste Lieferung. Mainz : [ohne Verlag]. S. 5. 135 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 17. 136 Ebd. S. 18. 137 Ebd. S. 20. 138 Löwen, Johann Friedrich (1905) : Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (1766 und 1767). Neudruck mit Einleitung und Erläuterungen hrsg. von Heinrich Stümcke. Berlin : Frensdorf. S. 54. 139 Ebd.
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unter einem anhaltenden Vertrauensdefizit140 und ihren Prinzipalen hielt man ihre profit- und selbstsüchtige Leitung der Truppen vor. »Die Ursache, daß noch kein hiesiges Theater von Bestand gewesen ist«, vermutet Schlegel, »scheint diese zu seyn, daß man vorhin den Komödianten selbst die Sorge überlassen hat, für ihren Verlust und Gewinn zu arbeiten.«141 Die Einrichtung stehender Theater sollte daher nicht nur dazu beitragen, das soziale Ansehen der Komödianten aufzuwerten, indem man sie in die höfische oder städtische Ordnung integrierte, sondern auch die Qualität des Schauspiels zu verbessern, indem man literarisch versierten, wirtschaftlich geschickt agierenden und kulturpolitisch bewanderten Personen die künstlerische und administrative Leitung der Theater übertrug. In seiner Geschichte des deutschen Theaters aus dem Jahr 1766 regt Löwen in diesem Sinne an, erstens die Prinzipalschaft abzuschaffen und die Theaterdirektion einem Kenner der »theatralischen Regeln«142 anzuvertrauen. Dieser solle »alle Stücke aus dem Grunde kennen, die er auf die Bühne bringt, und nach dem Genie und der Fähigkeit seiner Akteurs die Rollen austheilen«143, er müsse von der »theatralischen Baukunst und Mahlerey wenigstens allgemeine Begriffe haben«144 und müsse »außer der Mythologie und der alten Geschichte aller Völker, die ihm zur Kleidung der Helden im Trauerspiel nothwendig ist, auch ein Mann nach der Welt und der Mode seyn, und für seinen Schneider einen Geschmack mit haben.«145 Auch das Studium der Moral, der Politik sowie eine ökonomische Sorgfalt müssen einen angehenden Theaterdirektor auszeichnen. Damit Schauspieler ihre Tätigkeit nicht weiter nur als »maschinenmäßiges Handwerk«146 betreiben, sondern bedenken, »daß im Grunde sehr vieles vorausgesetzt, und gelernt werden müsse, ehe man Akteur werden kann«147, regt Löwen zweitens an, eine »theatralische Akademie«148 einzurichten. Notwendig sei sie, da »nämlich die meisten in der Kunst zu declamiren, und um so viel mehr in der Kunst zu agiren Fremdlinge sind, und die wenigstens sich mit den sehr weitläufigen Regeln des Schauspielers bekannt zu machen Gelegenheit gehabt haben«149. Abhilfe können hier bereits die von ihm geschriebenen Kurzgefasten Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes schaffen. Eine theatralische Akademie könne aber überdies zu Löwens dritter Forderung beitragen, den »Stand der Comödianten vorzüglich ehrwürdig zu 140 Vgl. Schwedes, Herrmann (1993) : Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. S. 54–72. Vgl. auch Schubart-Fikentscher, Gertrud (1963) : Zur Stellung der Komödianten im 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. auch Hefter, Rudolf (1936) : Die moralische Beurteilung des deutschen Berufsschauspielers. 141 Schlegel, Johann Elias (1971) : Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters. S. 252. 142 Löwen, Johann Friedrich (1905) : Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (1766 und 1767). S. 52. 143 Ebd. S. 53. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Ebd. S. 69. 149 Ebd.
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machen«150. Nicht »ausgesetzte Preise«151, sondern die öffentlich finanzierte Ausbildung, Unterhaltung und soziale Absicherung der Schauspieler verleihe dem Beruf das nötige Ansehen in der bürgerlichen Gesellschaft : Nimmt sich die Nation der Schauspielkunst an ; bildet sie ihre Lieblinge von früher Jugend, auf Unkosten des Staates, zu der edlen Kunst, die das Herz erweicht, indem sie die Sitten bessert ; belohnt sie solche mit Beyfall, mit Ruhm, mit Unterhalt, in den Jahren der Thätigkeit ; in den wenigen Jahren, die nach dem männlichen Alter wieder verschwinden ; sind sie eines ruhigen Glücks gewiß in dem Alter, wo die Seelenkräfte abnehmen, wo sie andern aufblühenden Genies Platz machen müssen ; dann werden wir nicht mehr Leute finden, die aus Verzweiflung einen Stand ergreifen, den die Nation, mit Vorurtheilen des Alterthums, mit gerechter Verachtung gegen einige von seinen Mitgliedern zur Erniedrigung verdammt152.
Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts an den deutschen Hoftheaterbühnen in der Regel italienische und französische Schauspielertruppen für Festivitäten engagierten wurden und die Regenten noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts bloß geladenen Gästen Zutritt zu ihren repräsentativen Theatergebäuden und -räumlichkeiten gewährten,153 führte nicht nur die Anspruchshaltung der Theaterreformer dazu, dass die Hoftheater einem zahlenden Publikum zugänglich gemacht wurden. Es war vermutlich nicht in erster Linie die Sorge der Regenten um die Theater- und Kulturlandschaft im Reich,154 sondern die durch den Siebenjährigen Krieg in Mitleidenschaft gezogene Haushaltslage, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dazu führte, dass die deutschen Höfe die – verglichen mit den hochdotierten italienischen Operisten – kostengünstigeren deutschen Theatertruppen in ihren Dienst nahmen und durch den Verkauf von Eintrittskarten ihre Kassen versuchten aufzubessern.155 150 Ebd. S. 70. 151 Ebd. S. 71. 152 Ebd. 153 Das Engagement französischer oder italienischer Schauspieler war für die deutschen Höfe mit einem Prestigegewinn verbunden (Daniel 1995 : 74). »Die Vorliebe Friedrichs II. für alles Französische und für die italienische Oper hatte dem Theaterleben an den preußischen Residenzen eine geradezu dogmatische Ausrichtung gegeben«, bemerkt Manfred Brauneck, »da Friedrichs Bewunderung für die Franzosen und die Italiener mit einer Verachtung der deutschen Bühnenkunst gepaart war« (Brauneck 1996 : 710). 154 Die Hoftheater bezeichneten sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zum Teil selbst als Nationaltheater wie beispielsweise das 1786 eröffnete Königliche Nationaltheater in Berlin. Aber so wie auch das Mannheimer Nationaltheater ein pfälzisches und das Münchener Nationaltheater ein bayrisches blieben, so blieb auch das Berliner Nationaltheater ein preußisches (Meyer 1983). Friedrich Nicolai sah bereits 1761 hierin einen wesentlichen Grund, warum die deutsche Schaubühne immer bisher »in der Kindheit« (Nicolai 1991 : 174) geblieben sei. 155 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 116. Vgl. auch Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne
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Überzeugend war hierbei vermutlich auch die Argumentation der Kameralisten, dass die Untertanen lieber im überwachten Theater ihre Vergnügungssucht befriedigen sollten, statt hierzu vermeintlich unmoralischere Wege zu finden. Stehende Theater mit einem festen Ensemble könnten ferner dafür sorgen, dass mögliche Einnahmen nicht außer Landes getragen würden. Vielleicht führten sie sogar als Attraktionen für Ausländer zu einem vermehrten Fremdenverkehr, durch den weiteres Geld in die Landeskassen gespült werden könne.156 Obwohl die Theaterbegeisterung im Verlauf des 18. Jahrhunderts »alle Gesellschafts schichten«157 ergriff und diese Theatromanie158 auch mit der Gründung von Gesellschafts theatern – wie in Dessau159 – und Liebhaberbühnen – wie in Weimar160 – einherging, blieben die von bürgerlichen Entrepreneurs initiierten privatwirtschaftlichen Theatergründungen – wie in Hamburg – aber eher erfolglos. Reinhart Meyer ist der Ansicht, dass dieses Scheitern weniger auf die ökonomische Situation des Bürgertums zurückzuführen sei, sondern letztlich ein Desinteresse des Bürgertums signalisiere, ein eigenständiges, bürgerliches Theaterwesen aufbauen zu wollen.161 Viele Bürger beäugten das Theater und den Schauspielerstand entweder weiterhin argwöhnisch162, oder aber das Verlangen, zur Sittenschule. S. 22. Vgl. auch Meyer, Reinhart (1983) : Das Nationaltheater in Deutschland als höfisches Institut. Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung. In : Das Ende des Stegreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas. Hrsg. von Roger Bauer und Jürgen Wertheimer. München : Wilhelm Fink. S. 124–152. S. 133. 156 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 229–237. Vgl. auch Martens, Wolfgang (1981) : Obrigkeitlich Sicht : Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. Vgl. auch Haider-Pregler (1980) : Des sittlichen Bürgers Abendschule. S. 45–68. 157 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 197. 158 Der lutherische Theologe und Hauptpastor Hamburgs, Anton Reiser, verunglimpfte in seiner 1681 erschienen Schrift Theatromania alle Formen des Theaters als Erzeugnisse des Wahns und als »Wercke der Finsterniß« (Reiser 1681). Im Verlauf des 18. Jahrhunderts behielt der Begriff der Theatromanie eine psychopathologische Konnotation und gesellte sich im Sinne einer exzessiven Theaterwut oder -sucht in die Reihe ähnlicher, vermeintlich krankhafter Phänomene wie der Lesesucht. Theatromanie steht aber auch für die Anziehungskraft, die das Theater auf Jugendliche im späten 18. Jahrhundert auswirkte. Ihre Theaterbegeisterung veranlasste viele von ihnen, Schauspieler werden zu wollen, um der Einförmigkeit ihrer bürgerlichen Existenz zu entkommen. 159 Vgl. Kap. 1. 3. 2 »Soll man Kinder Komödien spielen lassen ?« – Die Kritik am Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik am Beispiel des Schul- und Kindertheaters. 160 Vgl. hierzu Sichardt, Gisela (1957) : Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Beiträge zu Bühne, Dekoration und Kostüm unter Berücksichtigung Goethes zum späteren Theaterdirektor. Weimar : Arion Verlag. 161 Vgl. Meyer, Reinhart (1987) : Limitierte Aufklärung. S. 145. – Franklin Kopitzsch weist allerdings darauf hin, dass die namentlich bekannten Mitglieder aus dem Konsortium, das die Hamburger Entreprise finanziell trug, ohnehin keine typischen Repräsentanten der Hamburger Bürgerschaft waren und neben dieser mangelnden Verankerung in der Hamburger Gesellschaft Uneinigkeit unter den Entrepreneurs wesentlich zum Scheitern beitrug (Kopitzsch 1975 : 59 f.). 162 Adolph Freiherr Knigge, der als Schriftsteller, Kritiker, Theaterleiter und in Hanau und Bremen sogar als Schauspieler auf vielfältige Weise mit dem Theater verbunden war (Hermann 2007 : 201–206),
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dem bürgerlichen Leben zu entkommen und der glänzenden aristokratischen Fest- und Repräsentationskultur nachzueifern, rückte in den Vordergrund der bürgerlichen Theaterbegeisterung.163 In seinem Brief, den Wilhelm, der Protagonist aus Goethes Theaterund Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, an seinen Schwager schreibt, wird dieses Bedürfnis deutlich : Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden ; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß, so hat er Ursachen etwas auf sie zu halten, und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemeßner sein ganzes Wesen ist, desto vollkommener ist er, und wenn er gegen hohe und niedre, gegen Freunde und Verwandte immer eben derselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen.164
Indem letztlich die Etablierung und Institutionalisierung eines deutschsprachigen Theaterwesen von der staatlichen Subventionierung durch die Höfe abhängig blieb, gerieten die Theaterreformer und -praktiker in die paradoxe Situation, eine bürgerliche Theaterkultur unter der Aufsicht und Willkür der jeweiligen Regenten betreiben zu müssen.165 Die Theaterreformer standen vor dem Problem, dass sie einerseits den Staat mit der Ob-
kommt trotzdem zu dem Schluss, so Michael Rüppel, dass das Theater eine »höchst problematische Einrichtung« sei (Rüppel 1999 : 179). 163 Vgl. hierzu Primavesi, Patrick (2008) Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frankfurt a.M.: Campus. S. 57–62. 164 Goethe, Johann Wolfgang von (1992) : Wilhelm Meistes Lehrjahre [1795/1796]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I, 9]. S. 657 f. 165 Beispielsweise griff Friedrich Wilhelm II. bei der Spielplangestaltung des 1786 eröffneten und anfangs von Carl Theophil Doebbelin geleiteten Königlichen Nationaltheaters in Berlin mehrfach ein : »In der Zeit vom 1. August 1788 bis 31. Juli 1789 mußte der Spielplan 23mal auf königlichen Willen, in 30 weiteren Fällen auf Wunsch anderer Mitglieder des königlichen Hauses geändert werden, und zwar teilweise so kurzfristig, daß keine neuen Theaterzettel mehr ausgedruckt werden konnten« (Meyer 1983 : 135).
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hut und Aufsicht des Theaters betrauten,166 sich aber andererseits so dem Geschmack und Eigenwillen der Regenten auslieferten. Denn dort, wo Schauspieler an Höfen beschäftigt waren, galt für sie nicht nur die jeweilige Hofordnung. Auch das Repertoire der Truppen musste dem Geschmack der neuen Dienstherren angepasst werden. Darüber hinaus galten an vielen Bühnen eigene Theatergesetze, die den alltäglichen Proben- und Bühnenablauf regelten und von den Schauspielern ein anständiges und sittliches Benehmen auf und jenseits der Bühne verlangten.167 Es ist daher verständlich, dass einerseits die Prinzipale, die die künstlerischen und unternehmerischen Leiter der Wanderbühnen waren, sich nur ungern die Leitung aus der Hand nehmen ließen.168 Andererseits war aber mit der befristeten Indienstnahme der Schauspieler am Hofe eine soziale und monetäre Absicherung verbunden, die das Wandertruppendasein nicht bot. Nur in vereinzelten Fällen – wie beispielsweise bei Iffland – erwies sich die Bühne sogar als eine Rampe des sozialen Aufstiegs und Prestigegewinns. Auch wenn fähige Schauspieler auf den Hoftheaterbühnen geschätzt, gelobt und beklatscht wurden, blieb der Stand des Schauspielers aber bis ins 19. Jahrhundert hinein mit einer sozialen Deklassierung verbunden. Hegels Diagnose, dass das Schauspielerdasein der »heutigen Gesinnung nach weder ein moralischer noch ein gesellschaftlicher Makel«169 sei, ist daher eher zu bezweifeln. So wie für die Schauspieler auf und abseits der Bühne Verhaltensnormen aufgestellt wurden, entwickelten sich auch für das Theaterpublikum implizite und explizite Verhaltensrichtlinien, für deren Durchsetzung man in Theaterjournalen und -zeitungen laut über theaterpolizeiliche und juristische Möglichkeiten nachdachte. Denn die medienspezifische Eigenheit des Theaters, die Simultaneität der Produktion und Rezeption von Zeichen, die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauer und Darsteller,170 bedingt grundsätzlich, dass die Bühnenpraxis der Schauspieler und das Rezeptionsverhalten der Zuschauer wech166 »Regenten müssen uns zu Hülfe kommen, und das Ausführen helfen. Denn, so lange unsere Schauspieler-Gesellschaften noch an mehr als einem Orte ihr bischen Unterhalt suchen müssen, und immer in der traurigen Ungewissheit sind, ob sie sich für die Zukunft was erübrigen werden, so wird nichts vollkommnes herauskommen. […] Regenten also«, schlussfolgert der Sänger, Komponist und Kammermusiker Ernst Christoph Dreßler, der in verschiedenen Schriften die Versuche unterstützte, eine selbständige, von den Italienern unabhängige deutsche Oper zu schaffen, »müssen die Beschützer und Unterstützer unserer Deutschen Musen und Schauspieler werden, so wie sie es seit langer Zeit den ausländischen waren ; und ein stehendes Deutsches Theater aufzurichten suchen. Gotha und Manheim hat den Anfang gemacht. Ich wünsche, daß bald mehrere nachfolgen mögen« (Dreßler 1777 : 27). 167 Vgl. Buri, [Ernst C. von] & Gryß, [Christian Carl] (1778) : Regeln für die Hochgräflich WiedNeuwiedischen Hof-Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtes Stück. S. 42–46. 168 Vgl. Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 476. 169 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986) : Vorlesungen über Ästhetik III. S. 515. 170 Vgl. hierzu auch Zumhof, Tim (2013) : Theater ohne leibliche Ko-Präsenz ? Zur Simultaneität im postdramatischen Gegenwartstheater. In : Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. von Philipp Hubmann und Till Julian Huss. Bielefeld : Transcript. S. 371–380.
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selseitig aufeinander bezogen sind. Die Herausbildung der natürlichen Schauspielkunst, mit der zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum eine imaginäre vierte Wand171 eingezogen wurde, führte zwangsläufig zu einer sich verändernden Praxis des Zuschauens. Eine ästhetische Erziehung des Publikums bestand lange Zeit darin, überhaupt erst die Bedingungen für die Möglichkeit einer störungsfreien Rezeption und angemessenen Beurteilung einer Theateraufführung herzustellen.172 Ästhetische Erziehung gestaltete sich daher unter anderem als eine Disziplinierung des Rezeptionsverhaltens.173 Da die Institutionalisierung des deutschsprachigen Theaterwesens und die Begründung einer natürlichen Schauspielkunst maßgeblich von den Entwicklungen des französischen Theaters beeinflusst wurden, wird im Folgenden zunächst an Jean-Jacques Rousseaus und Denis Diderots konträren Haltungen zum Theater die französische Debatte über eine natürliche Schauspielkunst, ein bürgerliches Theater und seine vermeintlich moralpädagogische Wirksamkeit rekonstruiert. Hierbei steht insbesondere die Tätigkeit der Schauspieler im Vordergrund, deren Nachahmungspraxis sich einerseits von rhetorischen Konventionen verabschiedet und die (Selbst-)Beobachtung der authentischen Ausdrucksweisen von Gefühlen an deren Stelle setzt, andererseits der natürliche Ausdruck aber weiterhin eine körpertechnische Konstruktion bleibt. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie Lessing an 171 In seiner Abhandlung Von der dramatischen Dichtkunst deutet Diderot diese imaginäre Wand zwischen Zuschauer- und Bühnenraum an, durch die die Illusion eines wirklichen Geschehens auf der Bühne verstärkt werden solle : »Man stelle sich an dem äußeren Rand der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde« (Diderot 1968 : 284). Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome X. S. 373 : « Imaginez au bord du théâtre un grand mur qui vous sépare du paterre. Jouez comme si la toile ne se levait pas. » 172 Vgl. hierzu Korte, Hermann (2014) : ›Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten‹. Die Akteure vor der Bühne in Texten aus Theaterzeitschriften und Kulturjournalen des 18. und 19. Jahrhunderts. In : ›Das böse Tier Theaterpublikum‹. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter. Heidelberg : Winter S. 9–49. Vgl. auch Schulz, Georg-Michael (1999) : Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts. In : Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen : Wallstein. S. 483–502. 173 Kritik und Widerstand liegen nach Foucault nicht außerhalb von Machtbeziehungen, sondern seien immer selbst Teil eines agonalen Machtgefüges : »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht« (Foucault 1983 : 94). Den Anstrengungen, das Rezeptionsverhalten der Zuschauer zu disziplinieren, widersetzten sich immer wieder Zuschauer, indem sie darauf pochten, durch den Kauf einer Eintrittskarte das Recht erworben zu haben, ihr Missfallen kundtun zu dürfen. So berichtet Wolfgang Amadeus Mozart in seinem Brief vom 12. November 1778 an seinen Vater, dass die Zuschauer im Münchener Theater »die 2 ersten actricen Mad :me Toscani und Mad :me Urban auspfiffen, und es war so ein lerm, daß sich [der Kurfürst selbst] über die [Loge] neigte, und ›sch – –‹ machte – nachdem sich aber kein Mensch irre machen ließ, hinab schickte, – und aber [der Graf Seeau], nachdeme er einigen officiren sagte, sie sollten doch kein so lerm machen, [der Kurfürst] sehe es nicht gerne, zur antwort bekamm ; – sie [seyen um ihr baar geld] da und [hätten ihnen kein mensch zu befehlen] –« (Mozart 1962 : 505).
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die Positionen Diderots anschließt und versucht, die mit der Rhetorik in Verbindung stehende Lehr- und Lernbarkeit der körperlichen Beredsamkeit auch für eine natürliche Schauspielkunst zu reklamieren.
2.2 Temperamente und Temperaturen – Paradoxien der natürlichen Schauspielkunst bei Diderot und Rousseau 2.2.1 »Natur ! Wie viele Leute brauchen dieses Wort, ohne seinen Umfang zu kennen !«174 – Die Natur der natürlichen Schauspielkunst
»Ihre Freundin Clairon hat vorgestern, bei der Frau von Villeroy, ihre Lieblingsrolle, Dido gespielt, auf einem kleinen prachtlosen Theater«, berichtet der deutsche Schriftsteller Helfrich Peter Sturz in einem Brief vom 27. November 1768 aus Paris an den berühmten englischen Schauspieler David Garrick, »aber sie zauberte Würde um sich her ; für unsere Empfindung stand sie da wie im Virgil, als Aeneas sie erblickte, in ihrer emporsteigenden Königsstadt.«175 Ihr gelang es, dieses »langweilige Drama«176 zu beleben, über ihre mäßige Körpergröße hinauszuwachsen und einen gebieterischen Stolz auszustrahlen und Seelenzustände wie eine »verlassene Saite«177 weiterklingen zu lassen. Als Aeneas im Stück floh, schlug sich die Clairon als verlassene und zürnende Dido unter einem nervenschneidenden Geschrei, mit beiden Händen vor die Stirne, ließ die Arme sinken, bebte erstarrend zurück, und im Auge war trostentsagende, todtgeweihte Verzweiflung. – Wir zitterten bleich um sie her, als wären wir mit zum Tode verurtheilt.178
Sturz ist sich mit Garrick einig, »die Clairon ist der Stolz der hiesigen Bühne.«179 174 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. Aus der französischen Handschrift übersetzt. Zürich : Orell, Füssli und Compagnie. S. 12. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1799) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur la Déclamation théatrale ; publiés par elle-même. Second Édition, revue, corrigée et augmentée. Paris : F. Boisson. S. 249 : « La nature ! que de gens prononcent ce mot sans en connaître l’étendue ! » Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1799) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur la Déclamation théatrale ; publiés par elle-même. Second Édition, revue, corrigée et augmentée. Paris : F. Boisson. S. 249 : « La nature ! que de gens prononcent ce mot sans en connaître l’étendue ! » Der Abschnitt mit dem Titel »Stärke« (Force), aus dem dieses Zitat genommen wurde, findet sich zwar in der abgedruckten, deutschsprachigen Übersetzung des Manuskripts der Clairon, es fehlt aber in der ersten französischsprachigen Druckausgabe von 1798. In der zweiten Auflage der Mémoires von 1799 wurde es dann ergänzt. 175 Sturz, Helfrich Peter (1786) : Schriften von Helfrich Peter Sturz, Erste Sammlung. Neue verbesserte Auflage. Leipzig : Weidmanns Erben und Reich. S. 251. 176 Ebd. 177 Ebd. S. 259. 178 Ebd. S. 260. 179 Ebd. S. 264.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
Claire-Josephe Léris, die sich selbst den Namen Hippolyte Clairon gab und als Mademoiselle Clairon über Frankreich hinaus bekannt wurde, war im 18. Jahrhundert eine der berühmtesten Tragödien-Darstellerinnen Frankreichs. Sie feierte nach ihren anfänglichen Bühnenerfolgen in Rouen und Lille im Jahr 1743 ihr Debüt an der Comédie Française in Paris : »Man anerbot mir die Rolle der Constantia in Inès, und der Aricia in der Phädra. Ich antwortete«, schreibt sie in ihrer Biographie, diess sey zu wenig für mich, ich wisse Phädra auswendig, und ich werde sie spielen. Es war diess sonst eine der siegreichen Rollen der Mademoiselle Dumesnil ; ich wusste es nicht. […] Mein Vorschlag erregte ein allgemeines Gelächter ; man versicherte mich, die Zuhörer würden nicht gestatten, dass ich nur den ersten Aufzug vollende. Der Grimm in meinem Inneren verzehrte mich ; allein der Stolz hielt mich noch in Schranken. Ich antwortete so ruhig, und vorzüglich so majestätisch als es mir möglich war ! ›Meine Herren ! Entweder wollen Sie mich, oder Sie wollen mich nicht : Ich habe das Recht zu wählen ; entweder werde ich Phädern, oder nichts spielen.‹ Jedermann schwieg : Man nahm an, und ich trat in der Rolle der Phädra auf.180
Mademoiselle Dumesnil, die Schauspielerin, die eigentlich mit bürgerlichem Namen Marie Françoise Marchand hieß und der die Clairon die Hauptrolle in Jean Racines Tragödie 180 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1798) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 1. Aus der französischen Handschrift übersetzt. Zürich : Orell, Füssli und Compagnie. S. 62 f. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique ; publiés par elle-même. Paris : F. Boisson. S. 190 : « On me proposa Constance dans Inès, Aricie dans Phèdre. Je répondis que c’était trop peu de chose ; que je savais Phèdre, et que je la jouerais. C’était un des rôles triomphans de mademoiselle Dumesnil : je l’ignorais. […] Ma proposition fit rire tout le monde : on m’assura que le public ne souffrirait pas que j’achevasse seulement le premier acte. La colère me dévorait ; mais la fierté me soutint. Je répondis aussi tranquillement, et sut-tout aussi majestueusement qu’il m’était possible : Messieurs, vous me voulez, ou vous ne me voulez pas ; j’ai le droit de choisir. Je jouerai Phèdre, ou ne jouerai rien. – Tout le monde se contint : on accepta, et je débutai par Phèdre. » – Der erste Band der deutschsprachigen Übersetzung – Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst – erschien im April 1798 in Zürich, die französische Originalausgabe erst im Herbst des gleichen Jahres in Paris. Die Clairon hatte dem Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe Henri Meister laut eines Briefes, den sie am 15. August 1798 in der Zeitschrift Le Publiciste veröffentlichte, ihr Manuskript mit der Aufforderung überlassen, es erst zehn Jahre nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Sie sehe sich jetzt wegen der Veröffentlichung und Besprechung der deutschsprachigen Ausgabe genötigt, das französische Original – Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique ; publiés par elle-même – nachzuliefern. Ob es diese Vereinbarung aber wirklich gegeben und ob Henri Meister gegen Auflagen verstoßen hat, lässt sich angesichts der Beschuldigungen und Rechtfertigungsversuche nicht endgültig verifizieren. Denn in einem Brief von 13. September 1798 wirft die Clairon Meister zwar unlauteres Verhalten vor, von einer getroffenen Vereinbarung ist jedoch nicht die Rede (Schmidt-von Essen 1994 : 67–77, Dabcovich 1956). 1799 erschien schließlich eine überarbeitete, zweite französischsprachige Ausgabe unter dem Titel : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur la Déclamation théatrale ; publiés par elle-même.
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Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters
Phèdre an der Comédie Française abspenstig machte, spielte zunächst in der französischen Provinz, bevor sie im Jahr 1737 ihr Bühnendebüt in Paris feierte und von da an wie die Clairon in tragischen Rollen brillierte. Die französische Malerin Louise-Elisabeth VigéeLebrun erinnert sich an die schauspielerische Praxis der Dumesnil : Mademoiselle Dumesnil brachte die Leute ganz außer sich vor Entzücken in ihren großen tragischen Rollen, obgleich sie klein und häßlich war. Ihr Spiel blieb sich nicht immer gleich, zuweilen konnte sie sehr trivial werden, sie hatte aber auch prächtige Momente. […] Es kam vor, daß Mademoiselle Dumesnil einen Teil des Stückes spielte, ohne irgendeine besondere Wirkung hervorzubringen, dann war’s als ob sie plötzlich Leben bekäme, ihr Minenspiel, ihre Stimme, ihr Blick, alles wurde so außerordentlich tragisch, daß sie allgemeinen Beifall hervorrief. Man sagte sich, daß sie vor ihrem Auftreten eine Flasche Wein austränke und sich eine hinter den Kulissen bereit hielte.181
»Sie begibt sich auf die Bretter«, schreibt auch der theaterbegeisterte Enzyklopädist Denis Diderot, »ohne zu wissen, was sie sagen wird ; während der Hälfte ihres Auftritts weiß sie nicht, was sie sagt, aber plötzlich kommt ein erhabener Augenblick.«182 Helfrich Peter Sturz deutet dieses impulsive Spiel als eine zunehmende Erschöpfung ihres Talents und schreibt an Garrick, dass sie gewöhnlich aufzog wie die stralenlose Nacht, und fürchterliche Blitze schleuderte. Jetzt wetterleuchtet sie nur noch ; es ist ein verzogenes Gewitter, und ihre Talente sind erschöpft. Sie spielte die Agrippina ; in einzelnen Stellen erstreckte sie Kraft, ja zuweilen durchschauerte sie das Herz ; durch Züge aus der leidenden Natur, aber ganze Tiraden sagte sie im frostigen Einklang her, und zertilgte so den Eindruck wieder.183 181 Vigée-Lebrun, Louise-Elisabeth (1921) : Die Erinnerungen der Malerin Louise-Elisabeth Vigée-Lebrun, Bd. 1. Weimar : Alexander Duncker. S. 73 f. Vgl. auch Vigée-Lebrun, Louise-Elisabeth (1835) : Souvenirs de Madame Louise-Élisabeth Vigée-LeBrun, de l’Académie royale de Paris, de Rouen, de Saint-Luc de Rome et d’Arcadie, de Parme et de Bologne, de Saint-Pétersbourg, de Berlin, de Genève et Avignon. Tome premier. Paris : H. Fournier. S. 117 : « Mademoiselle Dumesnil, quoique petite et fort laide, excitait des transports dans les grands rôles tragiques. Son talent était fort inégal : elle tombait parfois dans la trivialité, mais elle avait des momens sublimes. […] Il arrivait quelquefois à mademoiselle Dumesnil de jouer une partie de la pièce sans produire aucun effet ; puis, tout à coup, elle s’animait ; son geste, son organe, son regard, tout devaenait si éminemment tragique qu’elle enlevait les suffrages de toute la salle. On m’a assure qu’avant de paraître en scène elle buvait une bouteille de vin et qu’elle s’en faisait tenir une autre en réserve dans la coulisse. » 182 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau-Verlag. S. S. 481–538. S. 486. Vgl auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. Ouvrage posthume de Diderot. Paris : A. Sautelet et Compagnie. S. 11 : « Elle monte sur les planches sans savoir ce qu’elle dira ; la moitié du temps elle ne sait ce qu’elle dit, mais il vient un moment sublime. » 183 Sturz, Helfrich Peter (1786) : Schriften von Helfrich Peter Sturz, Erste Sammlung. S. 265.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
In ihrer Autobiographie gibt die Clairon eine wenig schmeichelhafte Beschreibung ihrer Kollegin : Mademoiselle Dumesnil war weder schön noch reizend ; ihre Physiognomie, ihr Wuchs, ihr ganzes Wesen, obgleich ohne ein Naturgebrechen, zeigten dem Auge nur eine Bürgersfrau, ohne Anmuth, ohne Zierde, und oft auf der gleichen Linie mit der untersten Volksklasse. […] Ihre Stimme ohne Biegsamkeit, war niemals rührend, aber stark, wohlklingend, und selbst für die größten Ausbrüche der Heftigkeit hinlänglich ; ihre Aussprache rein, und nichts hemmte die Schnelligkeit ihres Vortrags. Ihre Gebärden waren bisweilen für ein Frauenzimmer zu stark, und hatten weder Rundung noch Weichheit ; allein wenigstens wurden sie nur sparsam angebracht. […] Ihr Naturgefühl [sentiment de la nature] machte sie beynahe immer erhaben. Liebe, Staatsraison, blosses Interesse für Grösse, drückte sie nur mit mittelmäßiger Kenntnis aus. Allein noch jung, eifersüchtig, ehrgeizig, durfte man alles von ihrer Nacheiferung und von ihren Studien erwarten. So war Mademoiselle Dumesnil, als ich auf dem Theater auftrat.184
In den Mémoires der Dumesnil, die vermutlich der Schauspieler Charles-Pierre Coste d’Arnobat anonym als eine réponse aux mémoire d’Hippolyte Clairon verfasste,185 verteidigt er die Schauspielerin gegen die Angriffe ihrer Kollegin und macht sich darüber lustig, dass die Clairon vom Darsteller tragischer Rollen forderte, sich »im täglichen Leben den Ton und die Haltung, deren er auf der Schaubühne am meisten bedarf«, anzugewöhnen und dass sie es sich selbst zur Pflicht machte, »nichts zu thun, und nichts zu sprechen, das nicht den Karackter von Adel und eines gewissen Ernstes an sich trug« :186 184 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 83 f. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 84 f.: « Mademoiselle Dumesnil n’étoit ni belle ni jolie ; sa physionomie, sa taille, son ensemble, quoique sans aucune défectuosité de la nature, n’offraient aux yeux qu’une bourgeoise sans grâces , sans élégance, et souvent au un niveau de la dernière classe du people. […] Sa voix sans flexibilité, n’était jamais touchante ; mais elle était forte, sonore, suffisante aux plus grands éclats de l’emportement. Sa prononciation était pure, rien n’arrêtait la volubilité de son débit. Ses gestes étaient souvent trop forts pour une femme, ils n’avaient ni rondeur, ni moelleux ; mais ils étaient au moins peu fréquens. […] Le sentiment de la nature la rendait Presque toujours sublime. L’amour, la politique, le simple intérêt de grandeur ne trouvaient en elle qu’une intelligence médiocre ; mais jeune encore, jalouse, ambitieuse, on devait tout espérer de son émulation et de ses études. Telle était mademoiselle Dumesnil, lorsque je me présentai au théâtre. » 185 Vgl. [Coste d’Arnobat, Charles-Pierre] (1799) : Mémoires de Marie-Françoise Dumesnil : en réponse aux Mémoires d’Hyppolite Clairon ; suivis d’une lettre du célèbre Le Kain, et de plusieurs anecdotes curieuses, relatives au Théâtre français. Paris Dentu und Carteret. 186 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 72. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 75 f : « L’acteur tragique doit s’approprier dans sa vie habituelle le ton, le maintien, dont il a le plus besoin au théâtre […]. [J]e me suis fait un devoir de ne rien faire, de ne rien dire qui ne portât le caractère de la noblesse et de l’austérité. »
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Warum ist Le Kain,187 als er sein römisches Gewand, seinen Soldatenmantel oder seinen Turban ausgezogen hat, wieder zum Bürger von Paris geworden ? Warum ist die Dumesnil nachdem sie ihr Diadem abgelegt hat, zu ihrer Einfachheit zurückgekehrt ? Weil sich sowohl der eine als auch die andere immer sicher waren, die Natur wiederzufinden ohne die Kunst zu strapazieren. Weil sie auf der Bühne gar nicht daran arbeiteten Dschingis Khan, Nero, Semiramis, Agrippina zu repräsentieren. Weil sie sich einbildeten diese Personen zu sein und weil wir [das Publikum] sie für solche nahmen, wenn wir sie hörten. Weil sie plötzlich durch das natürliche Genie losgelöst, begeistert, entflammt wurden. Weil sie, kurzum, ihre Verwandlung nichts kostete.188
Mit dieser Gegenüberstellung von Mademoiselle Clairon und Mademoiselle Dumesnil wird nicht nur das Bild einer anhaltenden Rivalität zweier Schauspielerinnen der Comédie Française im 18. Jahrhundert gezeichnet,189 sondern in ihr kommt zugleich der Dissens zweier grundverschiedener schauspieltheoretischer Überzeugungen zum Ausdruck.190 Uneinig waren sich die Schauspieltheoretiker des 18. Jahrhunderts darüber, ob der Schauspieler die Gefühle, die er auf der Bühne zum Ausdruck bringen soll, selbst empfinden müsse, um zu einem überzeugenden und wirkungsvollen Ausdruck von Gefühlen und einer ungekünstelten Gestik und Mimik zu gelangen. Es stellte sich die Frage, welche 187 Henri Louis Cain, der unter dem Künstlernamen Lekain (auch : Le Kain) bekannt wurde, debütierte 1750 und galt bald als einer der bekanntesten Tragödien-Schauspieler an der Comédie française. Er war im Ensemble der Comédie française Voltaires erster Schauspieler und bemühte sich zusammen mit der Clairon um eine Schauspielkunst, die auf der Bühne die Illusion von Authentizität erzeugen wollte. Günther Heeg schreibt, dass es Lekain und der Clairon bei ihren bühnenreformerischen Anstrengungen darum ging, eine schauspielerische Praxis zu etablieren, in der die Bedeutung und Empfindung des Gesagten nicht dem ›Gesang‹ geopfert werde und die von einer der Rolle angemessenen Gestik und Mimik begleitet werde. Außerdem sollten die Auftritte in historisch angemessen Kostümen geschehen (Heeg 2000 : 114 f.). – Die Clairon war die erste Schauspielerin, die auf den Reifrock verzichte und im historischen Kostüm auftrat. 188 Vgl. [Coste d’Arnobat, Charles-Pierre] (1799) : Mémoires de Marie-Françoise Dumesnil. S. 124. – Da weder im 18. Jahrhundert noch gegenwärtig eine deutsche Übersetzung der Mémoires de MarieFrançoise Dumesnil vorliegt, wird hier direkt aus dem französischen Original übersetzt. Dort heißt es : « Pourquoi Le Kain, lorsqu’il avait une fois dépouillé son laticlave, son paludement ou son turban, redevenait-il bourgeois de Paris ? Pourquoi Dumesnil, après avoir déposé son diadème, rentraitelle dans sa simplicité ? C’est qu’ils étaient toujours sûrs l’un et l’autre de retrouver la nature, sans solliciter l’art ; c’est qu’ils ne travaillaient point sur la scène à représenter Gengis, Néron, Sémiramis, Agrippine ; c’est qu’ils croyaient être ces personnages, et que nous les prenions pour tells quand nous les entendions ; c’est qu’ils étaient tout à coup enlevés, exaltés, embrasés par le génie de la nature ; c’est, en un mot, parce que ces métamorphoses ne leur coûtaient rien. » 189 Vgl. Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 105–121. Vgl. auch Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 372 f. 190 Vgl. Aliverti, Maria Ines (2011) : The Miniatures of Jean Louis Faesch and their printed Versions. A theatrical Paper Museum. In : Acting Archives Essay. Acting Archives Review Supplement, URL : http:// www.actingarchives.unior.it/Essays/RivistaIframe.aspx ?ID=7c5c0b32-31c3-4230-824d-f55f734bc7ec (Stand : 01.02.2016).
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst Abb. 6 Faesch, Jean-Louis Wernhard (1829): « La bouche est de mon sort l’interprete funeste? » In: Antoine Vincent Arnault (1829): Les Souvenirs et les regrets d’un vieil amateur dramatique, ou Lettres d’un oncle à son neveu sur l’ancien Théâtre français. Paris: Charles Froment.
Gestaltungsmaximen einer natürlichen Schauspielkunst zugrunde liegen – und wie man sie erlernen und vermitteln könne.191 Der französische Autor Pierre Rémond de Sainte-Albine war, ebenso wie der italienische Schauspieler Luigi (oder auch Louis) Riccoboni,192 davon überzeugt, dass Schauspieler, wenn sie dem Publikum einen natürlichen Ausdruck von Gefühlen sowie ein möglichst unverstelltes Verhalten auf der Bühne vorstellen wollen, sich zunächst selbst täuschen müssten. In Anlehnung an Horaz193 beschwört Sainte-Albine die autosuggesti-
191 Vgl. Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 350–363. Vgl. auch Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 117–151. Vgl. auch Bender, Wolfgang F. (1988) : ›Mit Feuer und Kälte‹ und – ›Für die Augen symbolisch‹. Vgl. auch Stephan, Ulrike (1986) : Gefühlsschauspieler – Verstandesschauspieler. Vgl. auch Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. S. 58–92. 192 Vgl. Riccoboni, Louis (1738) : Reflexions historiques et critiques sur les differens theatres de l’Europe. Avec les Pensée sur les Déclamation. Paris : Jacques Guerin. 193 Sainte-Albine bezieht sich hier auf eine für die Poetiken des 17. und 18. Jahrhunderts einflussreiche Textstelle in Horaz’ Ars Poetica : »[S]i vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi : tum tua me infortunia laedent« (Horaz 1993 : 547).
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ven Kräfte der Schauspieler. In der deutschen Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch heißt es : Horaz sprach : Weine, wenn du willst, das ich weinen soll. Er gab den Dichtern diese Regel, und man kann sie eben so gut auch den Schauspielern geben. […] Sie müssen sich einbilden, das würklich zu seyn, was sie vorstellen, und eine glückliche Raserey muß sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verräth oder verfolgt. Dieser Irrthum muß aus ihrem Gehirn ins Herz übergehen, und öfters muß ein erdichtetes Unglück ihnen wahrhafte Thränen auspressen.194
Der Schauspieler täuscht somit nicht den Zuschauer, sondern sich selbst. Statt wie der Maler, der den Bildbetrachtern nur »Phantomen für wirkliche Gegenstände anbie thet«195 (qu’il nous offre des phantômes pur des objets réels) oder die rhetorisch geschulten, »frostige[n]«196 Darsteller (froids Comédiens) des Deklamationstheaters, die wie
194 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. Ein dogmatisches Werk für das Theater [Übersetzt von Friedrich Justin Bertuch]. Altenburg : Richter. S. 78 f. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. Ouvrage divisé en deux Parties. Paris : Desaint & Sailiant und Vincent Fils. S. 91 f.: « Horace a dit, Pleurez si vous voulez que je pleure. Il adressoir cette maxime aux Poëtes. On peut adresser la même maxime aux Comédiens. […] Il faut qu’ils s’imaginent être, qu’ils foient effectivement ce qu’ils représentent, & qu’un heureux délire leur persuade que ce sont eux qui sont trahis, persécutes. Il faut que cette erreur passe de leur esprit à leur cœur, & qu’en plusieurs occasions un malheur feint leur arrache des larmes véritables. » – Lessing legte 1754 im ersten Stück der Theatralischen Bibliothek eine deutschsprachige Übersetzung von Sainte-Albines Le Comédien in Auszügen vor, die eigentlich schon 1750 in den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters als Gegenstück zu seiner Übersetzung von Antonio Francesco Riccobonis L’Art du Théâtre hätte erscheinen sollen. Vgl. hierzu Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Auszug aus dem Schauspieler des Herrn Remond von Sainte Albine [1754]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 304–311. Vgl. auch [Hill, John] (1750) : The Actor : A Treatise on the Art of Playing. Interspersed with Theatrical Anecdotes, Critical Remarks on Plays, and Occasional Observations on Audiences. London : R. Griffiths. – John Hill überarbeite seine englischsprachige Übersetzung von Sainte-Albines Le Comédien und veröffentliche 1755 eine zweite Auflage mit Beispielen von englischen Schauspielern. Diese zweite Ausgabe übersetzte nun wiederum Antonio Fabio Sticotti unter dem Titel Garrick, ou les Acteur Anglais 1769 ins Französische – offensichtlich ohne zu wissen, dass der Text bereits im französischen Original vorlag. Diderot besprach Sticottis Buch 1770 in Grimms Correspondance littéraire, philosophique et critique unter der Überschrift Observation sur une brochure intitulée Garrick ou les acteurs anglais. Auch wenn der Text durch die Übertragungen und die einzelnen Erweiterungen der Übersetzer eine eigentümliche, von Sainte-Albines Original deutlich zu unterscheidende Gestalt angenommen hatte, blieb die Idee des Empfindungsschauspielers jedoch stets erhalten. 195 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 27. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 14. 196 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 79. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 92.
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»Maschinen«197 (automates) bloß gelernte Töne und Bewegungen vorführen, müsse der Schauspieler eine Verwandlung vollziehen, die ihn äußerlich und innerlich identisch mit der dramatischen Rolle mache. Er ist hier nur insofern Schau-Spieler, als dass er sein Seelenleben öffentlich zur Schau stellt. Erst durch diese Transparenz leiste er eine Ausstellung seiner Leidenschaften, die sich dann wie »eine Art einer epidemischen Krankheit«198 (espece de maladie épidémique) auf das Publikum übertragen. Der Prüfstein einer gelungenen Darbietung liegt demnach in der gelungenen Ansteckung des Publikums. Indem sich die Schauspieler von ihren Empfindungen leiten und beherrschen lassen, schwingen sie sich zu »Gebiether[n]«199 über die Seelen der Zuschauer auf (Souverains, qui commandent en maîtres absolus à nos ames). Erlernen oder üben lasse sich diese Fähigkeit laut Saint-Albine aber nicht. Ein Schauspieler müsse seiner Ansicht nach ein geborener Schauspieler sein, er müsse vielmehr über die »Naturgaben«200 (dons naturels), die einen Schauspieler auszeichnen, bereits verfügen : »Witz«201 (esprit), »Empfindung«202 (sentiment), eine dem Genre und der Rolle entsprechende äußere »Gestalt«203 (figure) sowie »Feuer«204 (feu). Entgegen geläufiger Vorurteile bescheinigt Sainte-Albine den fähigen Schauspielern über Witz und Scharfsinn zu verfügen, denn ihre Arbeit bestünde nicht allein darin, einen dramatischen Text auf der Bühne zu rezitieren und alle Wendungen einer Rolle auszudrücken, sondern die Leerstellen des Textes auszufüllen, ihn wie ein Maler mit Schattierungen zu bereichern und dem Text so auf der Bühne zur Grazie zu verhelfen. Sainte-Albine sieht die Schauspieler damit dem Dichter ebenbürtig : »Die Kunst sich nur zur rechten Zeit, und in demjenigen Maaße, als es die Umstände erfordern, in Leidenschaften zu setzen, ist wenigsten eben so schwer, als den Dialog zu setzen.«205 Ihre Scharfsinnigkeit dürfe sich gleichwohl – gerade bei tragischen Rollen – nur in der Gestalt der Empfindung 197 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 34. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 17. 198 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 79. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 92. 199 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 79. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 92. 200 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 28. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 16. 201 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 29. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 20. 202 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 37. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 31. 203 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 49. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 50. 204 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 44. Vgl. auch Rémond de SainteAlbine, Pierre (1747) : Le Comédien. S. 41. 205 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 31. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 23 : « L’art de ne se passionner qu’à propos, & dans le degré qu’exigent les circonstances, a pour le moins autant de difficulté que celui de faire valoir les discours. »
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(sentiment) zeigen. Hierunter versteht Sainte-Albine nicht die Zärtlichkeit des Herzens – kein »zärtliches Herz«206 –, sondern »die Leichtigkeit, alle verschiedenen Leidenschaften, deren nur ein Mensch fähig ist, auf einander folgen zu lassen.«207 Diese Gabe, »seine Seele nach verschiedenen entgegengesetzten Eindrücken zu beugen«208 (le don de plier son ame à des impressions contraires), sei aber beschränkt. Daher könne nicht jeder Schauspieler alle Rollen gleichermaßen ausfüllen. Es bedürfe hierfür entsprechender körperlicher und psychischer Veranlagungen. Das Publikum verlange zwar stets schön anzusehende und reizende Schauspielerinnen, Sainte-Albine ist aber der Ansicht, es sei wichtiger, dass ihre äußere Gestalt keine »Naturfehler«209 (défaut corporels) aufweise – wie zu kurze Schenkel, ein ungestalteter Wuchs oder eine Körpergröße, die grazile Bewegungen verhindere. Wichtig sei ferner eine »geistreiche Gesichtsbildung«210 (phisionomie spirituelle) zu haben und vor allem ein der zu verkörpernden Rolle angemessenes Aussehen zu besitzen. Zuletzt müsse ein Schauspieler ›feurig‹ sein. Von diesem ›Feuer‹ könne er gar nicht zu viel haben. Es dürfe nicht mit einer übertriebenen oder heftigen Deklamation verwechselt werden, sondern äußere sich in der »Geschwindigkeit oder Leidenschaft, mit welcher alle Theile, die einen Schauspieler ausmachen, übereinstimmen«211 Eben dieses ›Feuer‹ unterscheide den Schauspieler vom Redner. Diesen Typus des feurigen und selbstvergessenen Empfindungsschauspielers verkörperte Mademoiselle Dumesnil. Der Schauspieler Antonio Francesco (oder auch François) Riccoboni stimmte zwar einerseits Sainte-Albine zu, dass auf der Theaterbühne die Illusion einer wahrscheinlichen und natürlichen Handlung erzeugt und die rhetorische Praxis des Deklamationstheaters überwunden werden solle. Er war aber andererseits davon überzeugt, dass der Schauspieler hierzu während seines Spiels ›kalt‹ bleiben müsse. « Je sais que dans cet article je suis entierement opposé au sentiment de mon pere »212, schreibt der jüngere Riccoboni und 206 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 37. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 31 : « Les personnes, qui sont nées tendres, croyent pouvoir avec cette disposition entreprendre de jouer la Tragédie […]. Mais ces avantages ne sont qu’une partie de ceux dont l’idée est renfermée dans le mot de Sentiment. » 207 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 37. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 32 : « [L]a facilité de faire succéder dans leur [des Comédiens] ame les diverses passions, dont l’homme est susceptible. » 208 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 38. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 35. 209 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 51. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 52. 210 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 56. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 60. 211 Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1772) : Der Schauspieler. S. 45. Vgl. auch Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. S. 44 : « Le Feu dans une personne de Théâtre est la célérité & la vivacité, avec lesquelles toutes les parties, qui constituent l’Acteur concourent ». 212 Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. A Madame * * *. Paris : C. F. Simon, Fils & Giffart, Fils. S. 39.
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Lessing, dessen vollständige Übersetzung hier herangezogen wird, übersetzt : »Ich weiß, daß ich in diesem Punkte ganz anderer Meinung als mein Vater bin«213. Sein Vater, Luigi Riccoboni, Prinzipal des Nouveau Théâtre Italien in Paris und bekannt unter dem Bühnennamen Lelio, brachte die Gestaltungsmaxime für den Empfindungsschauspieler auf die einfache Formel : « Sentir ce que l’on dit, voilà les tons de l’ame. »214 – Fühle was man sagt, und bitteschön : die Klänge der Seele. Eine naturgetreue Darstellung gelinge auf der Bühne demnach, wenn der Schauspieler sich emotional mit der darzustellenden Rolle, die der dramatische Text vorgibt, identifiziere. Der jüngere Riccoboni, der unter dem Namen Lelio fils auftrat und 1750 die Bühne aus gesundheitlichen Gründen verließ, war hingegen der Ansicht, »daß man, wenn man das Unglück hat, das was man ausdrückt, wirklich zu empfinden, außer Stande gesetzt wird zu spielen.«215 Er betonte stattdessen, dass der Schauspieler sich im Akt des Darstellens nicht von Gefühlen beherrschen lassen dürfe, sondern er müsse »von seiner Seele allzeit Meister bleiben, damit man sie, nach Belieben, der Seele eines anderen ähnlich machen«216 könne. »Wie aber soll man dies lernen ?«217 Die Gestaltungsmaxime des Empfindungsschauspielers – Sentir ce que l’on dit, voilà les tons de l’ame – geht von der unausgesprochenen Prämisse aus, dass sich ein natürlicher Ausdruck von selbst einstellen werde, wenn der Schauspieler bloß das empfinde, was der dramatische Text von ihm verlangt. Sainte-Albine sah hierin gerade die Genialität des Schauspielers, die sich weder lernen noch lehren lasse.218 Der jüngere Riccoboni ist hingegen der Ansicht, dass ein natürlicher Ausdruck auf der Bühne von der »Geschicklichkeit« (adresse) des Schauspielers abhänge, »durch welche man den Zuschauern diejenigen Bewegungen, worein man selbst versetzt zu sein scheint, empfinden läßt. Ich sage, man scheint darin versetzt zu sein«, betont er, »nicht, daß man wirklich darin versetzt ist.«219 Denn die ansteckende Wirkung eines natürlichen 213 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. An die Madame * * * durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngeren. Aus dem Französischen übersetzt [1750]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 1 : Werke 1743–1750. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 884–934. S. 905. 214 Riccoboni, Louis (1738) : Reflexions historiques et critiques sur les differens theatres de L’Europe. Avec les Pensée sur les Déclamation. S. 31. 215 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 904. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 37 : Er war der Ansicht, « que si l’on a le malheur de ressentir véritablement ce que l’on doit exprimer, on est hors d’état de jouer. » 216 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 906. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 41 : Der Schauspieler müsse « toujours assez le maître de son ame pour la faire à son gré ressembler à celle d’autrui. » 217 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 888. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 2 :« Et comment les [vrais principes de l’art] apprendre ? » 218 Kant wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Kritik der Urteilskraft eine vergleichbare genieästhetische Annahme vertreten : Die schönen Künste seien das Produkt eines Genies, in dessen Schaffen die Natur – also ein angeborenes Talent – zum Ausdruck gelange, und die daher nicht gelehrt oder gelernt, sondern allenfalls weiter entfaltet werden können (KU §§ 47–50, Ruhloff 2010). 219 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 904. Vgl. Riccoboni, François (1750) :
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Ausdrucks auf das Publikum sei nicht davon abhängig, ob ein Schauspieler tatsächlich das empfinde, was der dramatische Text oder die Rolle von ihm verlange, sondern von der Ausdruckskraft seiner Darstellung. Die Empfindung des Schauspielers allein biete keine Gewähr dafür, dass er sie in ausdrucksstarke Gesten und Bewegungen übersetzen könne, die beim Publikum die gewünschten Reaktionen hervorrufen. Riccoboni beabsichtigte mit seiner Schrift L’Art du théâtre nicht nur eine Theorie, sondern zugleich eine Lehre der Schauspielkunst vorzulegen. Sie ist nicht bloß eine schauspieltheoretische Abhandlung, sondern hat auch den Anspruch, als eine Schauspieldidaktik offenzulegen, wie sich die Schauspielkunst lehren und lernen lasse.220 Denn die Arbeit des Schauspielers ist für Riccoboni vor allem eine körpertechnische und intellektuelle, die geübt und vermittelt werden könne. Die intellektuelle Leistung des Schauspielers bestünde nicht darin, bloß seine Rolle auswendig zu lernen, sondern sie im Kontext des Dramas zu verstehen. Diese »intelligence«221, die Lessing mit »Einsicht«222 übersetzt, zeichne große Schauspieler aus – nicht ihre ausgeprägte sensibilité. Vom Verständnis der Rolle hänge schließlich die schauspielerische Gestaltung auf der Bühne ab. Die »mechanischen«223 oder körpertechnischen Teile der Schauspielkunst (parties méchaniques du Théâtre), die »Werkzeuge, deren sich ein Schauspieler bei der Vorstellung bedient«224, richten sich allein nach dem Verstand. »Man sagt gemeiniglich«, schreibt Riccoboni, »daß es keine Regeln für die Bewegung gäbe, und ich glaube, man betriegt sich.«225 Mit »Überlegung spielen zu können«226 (jouer par réflexion) bedeutet für Riccoboni eben auch, die »natürlichen Geschicklichkeiten«227 L’Art du Théâtre. S. 36 : « L’on appelle expression, l’adresse par laquelle on fait sentir au Spectateur tous les mouvemens dont on veut par paroître pénétré. Je dis que l’on veut le paroître, & non pas que l’on est pénétré véritablement. » 220 Als Friedrich Ludwig Schröder im Jahr 1810 die Theaterdirektion in Hamburg übernahm, hielt er den Schauspielern Vorlesungen über Riccobonis Schauspiellehre, die Daniel Gottlieb Quandt 1814 in seinem Allgemeinen Theater-Anzeiger abdruckte. Ein zusammenhängender Druck der von Schröder kommentierten Abhandlung erschien 1821 anonym unter dem Titel : Vorschriften über die Schauspielkunst. Eine praktische Anleitung für Schauspieler und Declamatoren bei C. H. F. Hartmann in Leipzig. 221 Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 30. 222 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 901. 223 Ebd. S. 896. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 20. 224 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 896. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 20 : « […] [I]nstrumens dont l’Acteur est obligé de se servir pour la représentation ». 225 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 889. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 5 : « On a coutume de dire qu’il n’y a point de régle pour le geste, & je crois que l’on se trompe. » 226 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 888. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 2. 227 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 892. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 11.
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(dispositions naturelles), die ein angehender Schauspieler mitbringe, durch bestimmte Regeln der Kunst zu vervollkommnen. Das Tragen von Gegenständen, die Stellung der Hände, die Anordnung der Finger sowie die Modulation der Stimme sollen sich an einem traditionellen Regelkanon der Rhetorik orientieren. Die Bewegungen müssten gemäßigt und ungezwungen erscheinen, die Finger dürften nicht zu weit gespreizt, die Hände nicht über den Kopf gehoben werden.228 Das Einüben und Befolgen dieser Regeln begründe aber noch keine Schauspielkunst. Riccoboni und Sainte-Albine beabsichtigten ja gerade, den rhetorischen Stil des Deklamationstheaters durch eine neue, natürliche Schauspielkunst zu überwinden. Riccoboni betrachtet die Einübung dieser rhetorischen und körpertechnischen Regeln vielmehr als ein Propädeutikum, in dem der angehende Schauspieler den Umgang mit seinem Körper auf der Bühne erprobt. Hierbei solle man sich nicht an anderen Schauspielern orientieren oder vor einem Spiegel üben, sondern man müsse »seine Bewegungen fühlen, und ohne sie zu sehen, beurteilen lernen.«229 Das körpertechnische Propädeutikum dient lediglich der Ausbildung der für die natürliche Schauspielkunst notwendigen Selbst- und Körperbeherrschung. Eine natürliche Schauspielkunst, die danach strebt, die Natur nachzuahmen, kann nicht ohne ein Studium der Natur auskommen. Weder die Lektüre dramatischer Texte noch ein rhetorisches oder körpertechnisches Propädeutikum allein befähigen den Schauspieler, seinem Spiel einen natürlichen Ausdruck zu verleihen : »Durch das Lesen kann man zwar lernen, wie die Menschen nach ihren verschiedenen Charakteren denken«, schreibt Riccoboni, »allein die Art wie sie ihre Gedanken ausdrücken, kann man nur durch ihren Umgang lernen.«230 Insbesondere die Beobachtung von Menschen und der Umgang mit solchen, die sich im sozialen Miteinander nicht verstellen, sei aufschlussreich, um zu erfahren, wie Menschen ihre Gefühle ausdrücken. Riccoboni hält die Eleven der Schauspielkunst daher dazu an, ›kulturanthropologische‹ Feldstudien zu betreiben : Wir wollen die Menschen betrachten, doch nicht allein die, die sich artiger Sitten befleißigen, sondern die Menschen überhaupt, und vielmehr die Geringen als die Vornehmen. […] Allein Leute von einem weniger vornehmen Stande, die sich ihren Eindrücken leichter überlassen, und der Pöbel, welcher seine Empfindungen nicht zu bändigen weiß, das sind die wahren Muster eines starken Ausdrucks. […] Kurz, man muß sich ausdrücken wie der Pöbel, und betragen wie Leute von Stande.231 228 Vgl. hierzu Kap. 1. 1 : Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit« des Körpers. 229 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 893. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 14 : « […] [I]l faut sentir ses mouvemens & les juger sans les voir. » 230 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 916. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 61 : « On peut, en lisant, apprendre comment pensent les hommes suivant leurs différens caractères, mais ce n’est qu’en les voyant que l’on peut connoître la maniére dont ils expriment leurs pensées. » 231 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 906 f. Vgl. auch Riccoboni, François
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Während Sainte-Albine behauptet, ein genialer Schauspieler würde sich in die Rollenfiguren plötzlich und vollständig verwandeln, deutet Riccoboni an, dass sich der Schauspieler die gelungene Nachahmung der Natur sukzessiv erarbeite : Man muß Schritt vor Schritt gehen, und viel[e] Schauspieler sind aus keiner anderen Ursache zurück geblieben, als weil sie allzu hurtig gehen wollten. Die Kunst wohl zu reden ist der erste Schritt zum Theater ; und die Kunst alles auszudrücken ist die Staffel der Vollkommenheit.232
Mademoiselle Clairon galt als die Personifizierung dieses schauspieltheoretischen Typus des beobachtenden und selbstbeherrschten Reflexionsschauspielers. Auch Diderot schloss sich später dieser Position an.233 Doch zu Beginn seiner schauspieltheoretischen und kunstkritischen Überlegungen war er von solchen Schauspielern und Künstlern begeistert, die ihre ausgeprägte sensibilité zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis machten : Zum Glück wird eine Schauspielerin, wenn auch ihre Beurteilungskraft ganz eingeschränkt und ihre Einsicht ganz gemein ist, wenn sie nur eine große Empfindlichkeit (sensibilité) besitzt, gar leicht die Stellung (situation) einer Seele fassen und, ohne daran zu denken, den Akzent finden, der den verschiedenen Empfindungen gemäß ist, welche hier zusammentreffen (se fondent ensemble) und die Stellung eben ausmachen, die der Philosoph mit aller seiner Scharfsinnigkeit wohl unzergliedert lassen muß (n’analyserait pas). Die Dichter, die Schauspieler, die Musiker, die Maler, die Sänger, von erster Klasse, die großen Tänzer, die zärtlichen Liebhaber, die wahren Andächtigen, alles dieses feurige und enthusiastische Volk empfindet sehr lebhaft und überlegt sehr wenig.234 (1750) : L’Art du Théâtre. S. 42 f.: « Observons le monde : je ne dis pas seulement ce monde choisi qui se pique du bel air ; je dis le monde en général, & plûtôt les petits que les grands. […] Mais les hommes d’un rang moins élevé, qui s’abandonnent plus aisément aux impressions qu’ils reçoivent, le peuple qui ne sçait point contraindre ses sentiments, ce sont-lá les vrais modéles de la forte expression. […] En un mot il faut exprimer comme le peuple, & se présenter comme les grands. » 232 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 931. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 42 f.: « Il faut y marcher à pas mesurés, & beaucoup d’Acteurs sont demeurés en arrière, pour avoir voulu d’abord aller trop vîte. L’art de bien dire, est le premier pas vers le Théâtre. L’art de tout exprimer, est le point de perfection. » 233 Vgl. Opl, Eberhard (1987) : Die Wandlung des Begriffs sensibilité in der Ästhetik Diderots und ihre Auswirkungen auf die Schauspieltheorie. In : Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 33. Jg. Heft 3/4. S. 33–53. 234 Diderot, Denis (1967) : Dorval und Ich. S. 184. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome X. S. 104 : « Heureusement une actrice d’un jugement borné, d’une pénétration commune, mais d’une grande sensibilité, saisit sans peine une situation d’âme, et trouve, sans y penser, l’accent qui convient à plusieurs sentiments différents qui se fondent ensemble, et qui constituent cette situation que toute la sagacité du philosophe n’analyserait pas. Les poètes, les
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Diderots Begeisterung für die große sensibilité künstlerischer Genies rührte von einer kritischen Haltung her, die er gegenüber dem Rationalismus und Klassizismus einnahm, welche von der absolutistischen Staatsraison in Beschlag genommenen wurden. Der französische Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsbetrieb stand seit Mitte des 17. Jahrhunderts bis weit ins 18. Jahrhundert im Bann einer doctrine classique235 und bewegte sich seit Descartes in der Spur eines « esprit géométrique »236, der eben nicht ausschließlich auf die Geometrie beschränkt blieb – wie es Pascal noch 1658 forderte –, sondern, wie der französische Frühaufklärer Bernard LeBouyer de Fontenelle anstrebte, von ihr losgelöst auf andere Gebiete übertragen werden sollte. Er drang, so Ernst Cassirer, »in alle Gebiete ein ; beherrschte nicht nur die Philosophie, sondern auch die Literatur, die Moral, die Politik, die Staats- und Gesellschaftslehre, ja er vermag sich selbst innerhalb der Theologie zu behaupten und ihr eine neue Gestalt zu geben.«237 Dieser analytisch-geometrische acteurs, les musiciens, les peintres, les chanteurs du premier ordre, les grands danseur, les amants tendres, les vrais dévots, toute cette troupe enthousiaste et passionnée sent vivement et réfléchit peu. » 235 Der Begriff der doctrine classique geht auf den französischen Literaturhistoriker René Bray und sein 1923 erschienenes Buch La formation de la doctrine classique en France zurück. Bray versteht unter der doctrine classique ein normpoetisches System, das zwischen 1630 und 1660 aus einer poetologischen Kontroverse um Corneilles Le Cid hervorging. Die Grundsätze der doctrine classique bestanden darin, dass sich die Literatur und das Theater der Nachahmung der antiken, griechisch-römischen Kunstwerke (imitation des anciens) zu verpflichten sowie die klassischen Kunstlehren – wie Horaz’ Ars poetica und Aristoteles’ Poetik – als Autoritäten anzuerkennen habe. Ferner galten bienséance und vraisemblance, die Darstellung von Wirklichkeit unter Wahrung der Schicklichkeit und der Wahrscheinlichkeit, als maßgebende Richtlinien für die künstlerische Arbeit. Zusammengefasst lassen sich diese Grundsätze in Nicolas Boileaus-Despréaux’ L’Art poétique (1674) und in François Hédelin Abbé d’Aubignacs Pratique du théâtre (1657) finden. Der Romanist Jürgen Grimm kritisiert, dass Bray poetologische Positionen dieses Zeitraums homogenisierte und lediglich kanonisch gewordene Autoren in seine Untersuchung einbezog. Entgegen dieser Tendenzen der Vereinheitlichung versucht die Neuere Romanistische Literaturwissenschaft gerade die Vielfalt literarischer Arbeiten und poetologischer Ansätze herauszustellen und spricht daher konsequent von les poétiques du classicisme. Dessen ungeachtet soll hier an dem Begriff der doctrine classique festgehalten werden, da mit ihm im weitesten Sinne eine Politisierung und Normierung der Künste zum Ausdruck kommt (Grimm 2005 : 148–175, Brauneck 1996 : 208–211). 236 Pascal, Blaise (1974) : Réflexions sur la géométrie en général [1658]. Text und deutsche Übersetzung. Beilage zu Jean-Pierre Schobinger Blaise Pascals Reflexionen. Basel und Stuttgart : Schwabe. S. 38– 101. S. 39. 237 Cassirer, Ernst (2007) : Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg : Felix Meiner. S. 28. – Panagiōtēs Kondylēs weist kritisch darauf hin, dass Cassirers Darstellung der Philosophie der Aufklärung selbst zu einer Vereinheitlichung neige, um ein konzise, in sich geschlossene Geistesgeschichte der Philosophie der Aufklärung zu erzählen, an deren Ende Kant als ihr Vollender stehe. Zwar beschreibe Cassirer, so Kondylēs, wesentliche problemgeschichtliche Merkmale der Philosophie der Aufklärung, verschleiere aber ihre inhärenten Widersprüche, Kontroversen und Ungleichzeitigkeiten und verdecke dadurch gerade die »Multidimensionalität jenes Zeitalters«. Kondylēs ist der Ansicht, dass sich die Kontroversen, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten der Aufklärung aus der unterschiedlichen Bewertung der Rehabilitation der Sinnlichkeit erklären lassen. Er sieht Descartes daher nicht in der Rolle des »Propheten«, sondern in der des »Prügelknaben[s]«, den die Aufklärer auf unterschiedliche
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Geist sei durch die Strenge seiner Einheitsforderung gekennzeichnet gewesen, sämtliche Zweige des menschlichen Wissens unter der Abstraktion von ihren materiellen Aspekten, unabhängig von sinnlichen Eindrücken, unter Ausschluss historischer Traditionen und scholastischer Gelehrsamkeit zu betrachten und auf ihre rein rational erfassbaren Grundaussagen zu reduzieren.238 Diese cartesianische Methode versuchte Fontenelle 1686 in seinen Entretiens sur la pluralité des mondes, die Gottsched 1726 ins Deutsche übersetzte, zu verdeutlichen, indem er den Beobachter der Naturschauspiele mit dem Zuschauer des Bühnenschauspiels einer Oper verglich : Uberdas bilde ich mir allezeit ein, daß die Natur ein großes Schauspiel ist, welches einer Opera nicht unähnlich siehet. An dem Orte, wo sie auf dem Schauplatze sitzen, sehen sie nicht die ganze Schau-Bühne, wie sie gemacht ist : Man hat die Verzierungen und Maschinen so gestellet, daß sie von ferne einen angenehmen Anblick verursachen sollen, und man verbirget vor ihren Augen die Räder und Gewichte, dadurch alle Bewegungen geschehen. Sie bekümmern sich auch nicht sonderlich, zu wissen, wie das alles zugehe ? Es ist vielleicht nur ein einziger geschickter Werckmeister [Machiniste] unter den Zuschauern, der sich über einen Fluge beunruhiget, welcher ihm ganz ausserordentlich geschienen, und der durchaus entdecken will, wie dieser Flug ins Werck gerichtet worden. Sie sehen wohl, daß dieser Meister unsern Philosophen sehr ähnlich ist.239
Die Erkenntnis des »Werckmeister[s]« sollte aber nicht bei der rationalen Einsicht in die mechanische Funktionsweise der Natur stehen bleiben, sondern Descartes war der Ansicht, durch die technische Anwendung rational gewonnener Erkenntnisse nicht nur jeglichen Zweifel an der Gewissheit der Erkenntnis auszuräumen, sondern hierdurch zugleich die rationale Beherrschbarkeit der Natur sowie den Vorzug rationaler Planung und Ordnung zu untermauern. Weise zu überwinden versuchten, um die von ihm unternommene Absage an die Scholastik zu vollenden (Kondylēs 2002 : 172). 238 Vgl. Cassirer, Ernst (2007) : Die Philosophie der Aufklärung. S. 15. 239 Vgl. Fontenelle, Bernhard (1726) : Gespräche von Mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten [1686]. Nach der neuesten Französischen Auflage übersetzt [1724], auch mit Figuren und Anmerkungen erläutert von Joh. Chr. Gottscheden. Am Ende findet man noch ein Pastoral, genannt Endimion, aus eben dieses Autors Schäfergedichten in teutsche Verse gebracht. Leipzig : Bernhard Christoph Breitkopf. S. 17 f. Vgl. auch Fontenelle, [Bernard] (1724) : Entretiens sur la pluralité des mondes. Nouvelle Edition, augmenté de Pieces diverses. Paris : Michel Brunet. S. 22 : « Sur cela je me figure toûjours que la Nature est un grand Spectacle qui ressemble à celui de l’Opera. Du lieu où vous être à l’Opera, vous ne voyez pas le Theâtre tout-à-fait comme il est ; on a disposé les Décoration & les Machines pour faire de loin un effet agréable, & on cache à vôtre vûë ces roües & ces contrepoids qui font tous les mouvemens. Aussi ne vous embarassez-vous guere de deviner comment tout cela joüe. Il n’y a peut-être que quelque Machiniste caché dans le Parterre, qui s’inquiéte d’un Vol qui lui aura paru extraordinaire, & qui veut absolument démêler comment ce Vol a été executé. Vous voyez bien que ce Machiniste-là est assez fait comme les Philosophes. »
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In seinem Discours de la méthode bemerkte Descartes, dass die Straßen alter Städte krumm und verwinkelt, die Häuser in bizarrer Unregelmäßigkeit gebaut seien und den Eindruck erweckten, es sei mehr der Zufall als der Wille vernünftiger Menschen gewesen, der sie so geordnet hätte. Die Plätze, die von einem Ingenieur entworfen und auf einer freien Fläche eingerichtet wurden, bestächen hingegen durch ihre Regelmäßigkeit und Ordnung.240 In den folgenden Jahrzehnten begradigte man nicht nur die Straßen und stimmte die Häuserfronten in großen Städten aufeinander ab, sondern legte auch mit geometrischer Akribie und planerischem Weitblick in Vaux-le-Vicomte – dem geheimen »Vorbild für Versailles«241 – zwischen 1656 und 1661 barocke Gartenanlagen an, die zum Sinnbild rationaler Naturbeherrschung wurden. Das geometrische und analytische Denken schlug sich aber auch in der Organisation von Institutionen – wie Kollegs, Spitälern, Fabriken, Kasernen und Gefängnissen – baulich und verfahrenstechnisch nieder.242 Und nicht zuletzt hüllte sich auch die höfische Gesellschaft in symmetrische Formen. Der Höfling am Hofe Ludwig XIV. agierte, so Doris Kölsch, stets »im Feld und Bewußtsein permanenter Sichtbarkeit, wobei sich das von vielen Blicken beobachtete Verhalten aus streng codifizierten Körperkontakten und Bewegungsfolgen ebenso wie aus geometrisch und ästhetisch legitimierten Relationsverhältnissen zusammensetzt.«243 Die Bühnenpraxis der französischen Klassik war dieser höfischen Etikette nachgebildet. Die Schauspieler waren in erster Linie Redner, deren Aufgabe darin bestand, den dramatischen Text nach den Regeln der Rhetorik und der bienséance vorzutragen. Die Schauspielerinnen traten dazu in Reifröcken und mit hochgesteckten Haaren auf, die Schauspieler trugen Allongeperücken, Schuhe mit Absätzen und den obligatorischen Galanteriedegen.244 Ihr Spiel sollte einerseits für angenehmes Ablenkung und Unterhaltung (Divertissement) sorgen, andererseits fügte es sich in die höfische Repräsentations- und Festkultur ein. Der Abbé François Hédelin d’Aubignac untermauerte in seiner Schrift über die Pratique du théâtre aus dem Jahr 1657, die 1715 neu aufgelegt wurde, nicht nur die dramaturgischen Implikation der doctrine classique, sondern stellte das Theater »ganz im Sinne von Richelieus Projekt einer Politisierung und Instrumentalisierung der Künste«245 in den Dienst staatlicher Machtentfaltung und ihrer öffentlichen Repräsentation.
240 Vgl. Descartes, René (2011) : Discours de la méthode [1637]. Französisch – Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Christian Wohlers. Hamburg : Meiner. S. 21. 241 Vgl. Settekorn, Wolfgang (2007) : Gärten in der Zeit Ludwigs XIV.: Orte genormten höfischen Lebens und barocker Repräsentation. In : Gärten als Spiegel der Seele. Hrsg. von Hans-Peter Ecker. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 51–83. S. 68. 242 Vgl. Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 173–250. 243 Vgl. Kolesch, Doris (2006) : Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a.M.: Campus. S. 95. 244 Vgl. Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 143–147. 245 Kolesch, Doris (2006) : Theater der Emotionen. S. 139.
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Die klassisch-klassizistische Formsprache und Ordnung in der französischen Kunst und Kultur am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts mochte zwar grundsätzlich Anklänge in der Klarheit und Deutlichkeit des Rationalismus gefunden haben, die klare und deutliche Absage der Rationalisten an die Autorität antiker Denk- und Kunsttraditionen begründete aber mehr oder weniger offen zutage tretende Querelen zwischen Klassizisten – wie Nicolas Boileau-Despréaux, Jean Racine und Jean La Bruyère –, die an der kulturellen Vorbildfunktion der Antike festhalten wollten, und jenen Modernisten – wie Charles Perrault, Bernard Le Bovier de Fontenelle und Antoine Houdar de la Motte –, die die normative Kraft des Klassischen zunehmend bezweifelten.246 Im Kontext dieser Querelle des Anciens et des Modernes247 gerieten die Bedingungen der Möglichkeit einer allgemeinen Theorie der schönen Künste unter erheblichen Begründungs- und Legitimationsdruck. Indem die Nachahmung der Alten nicht mehr haltlos Gültigkeit beanspruchen konnte, stellte sich die Frage, wie eine Theorie der schönen Künste begründet werden könne, von Grund auf neu. Charles Batteux’ pseudo-cartesianische Reduktion der schönen Künste auf das Prinzip der imitaio naturae in seiner Schrift Les beaux arts réduits à un même principe von 1746 lässt sich als einen Lösungsvorschlag oder Vermittlungsversuch lesen, der einerseits in rationalistischer Manier versuchte, durch die Abstraktion von allen Eigenheiten der einzelnen Künste ein einheitliches, alle Künste miteinander verbindendes Prinzip zu bestimmen, andererseits aber mit dem gefundenen Prinzip eine seit der Antike bestehende Tradition von Mimesis-Theorien fortsetzte.248 Der Rückbezug auf antike Kunst- und Mimesis-Theorien wird umso deutlicher, wenn Batteux die nachzuahmende Natur als »schöne Natur«249 (belle Nature) bestimmt, die als Ideal nichts Willkürliches oder Zufälliges an sich habe, und zugleich die imitation des anciens als eine Nachahmung der Natur zweiten Grades legitimiert : »Das Alterthum wurde für uns dasjenige«, heißt es in Johann Adolph Schlegels Übersetzung, »was für die Alten die Natur war.«250 Cassirer weist darauf hin, dass ›Natur‹ hier als ein »Synonym der ›Vernunft‹« verstanden werden kann, weil unter ihr all 246 Vgl. Grimm, Jürgen (2005) : Französische Klassik. Romanistisches Lehrbuch. Stuttgart : Metzler. S. 177–203. 247 Vgl. Perrault, Charles (1964) : Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Faksimiledruck der vierbändigen Originalausgabe Paris 1688–1696. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München : Eidos. 248 Vgl. Blumenberg, Hans (2001) : ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen [1957]. In : Hans Blumenberg. Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 9–46. 249 Batteux, Charles (1770) : Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegeln. Dritte von neuem verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig : Weidmanns Erben und Reich. S. 41. – Vgl. auch Batteux, Charles (1753) : Les beaux arts réduits à un même principe. Nouvelle Edition. « A laquelle on a ajouté deux petits Traités, l’un sur l’Art, & l’autre sur la Musique, la Peinture, & la Poésie ; traduits de l’Anglois. Leide : Elie Luzac, fils. » S. 18. 250 Batteux, Charles (1770) : Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. S. 88. Vgl.
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das begriffen werde, »was nicht der flüchtigen Eingebung des Augenblicks, was nicht der Laune oder Willkür entspringt, sondern auf ewige eherne große Gesetze gegründet ist.«251 Im Kontrast zu solchen klassizistischen Theorien der schönen Künste, die Schönheit, Vernunft und Natur bloß als verschiedene Seiten ein und derselben Sache sahen und ihr Hauptaugenmerk auf den Gegenstand der künstlerischen Nachahmung legten, stellten Jean-Baptiste Dubos252 und andere durch die Schriften des englischen Empirismus angeregte Autoren die Wirkung, die ein Kunstwerk auf den Betrachter hat, und das Urteil, in dem er sie zu artikulieren sucht, in den Vordergrund ihrer Theoriebildung. Auch die schauspieltheoretischen Überlegungen, ob ein Schauspieler ›heiß‹ werdend oder ›kalt‹ bleibend, ob er empfindend oder denkend spielen müsse, um auf der Bühne eine unverstellte, natürliche Darbietung zu geben und das Publikum zu rühren, fußen also nicht allein auf der Beobachtung der schauspielerischen Praxis einzelner Darstellerinnen und Darsteller, sondern sind mit den theoriegeschichtlichen und kulturpolitischen Entwicklungen verwoben. Während Schauspieltheorien sich zunächst mit der angemessenen Repräsentation der natürlichen Ordnung befassten, rückte zunehmend die Frage in den Mittelpunkt, welche Wirkung die Schauspielkunst auf das Publikum habe. Diderot hegte großes Interesse am englischen Empirismus und zeigte eine große Bewunderung für die empfindsame Literatur aus England.253 Er wandte sich gegen die Abgehobenheit der vom Absolutismus für die Repräsentation politischer Macht instrumentalisierten klassisch-klassizistischen Kunst sowie gegen den Absolutheitsanspruch rationalistischer Philosophie und rehabilitiert die Sinnlichkeit und Empfindlichkeit des Menschen – die sensualité und sensibilité –, sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Theorie der schönen Künste. Denn die theoriegeschichtliche Entwicklung, »durch die innerhalb der Ästhetik die Herrschaft der klassizistischen Theorien überwunden wird, entspricht in methodischer Hinsicht genau der Wendung, die sich, im Denken der Naturwissenschaft, bei dem Übergang von Descartes zu Newton vollzieht.«254 Ein Blinder, wandte Diderot in seinem Lettre sur les sourds et les muets ein, könne zwar Mathematiker, aber kein Naturforscher werden.255 Denn die Mathematik und der von Descartes beschriebene Weg einer rationalistischen Philosophie bewege sich bloß im auch Batteux, Charles (1753) : Les beaux arts réduits à un même principe. S .49 : « L’antique fut pour nous, ce que la Nature avait été pour les Anciens. » 251 Cassirer, Ernst (2007) : Die Philosophie der Aufklärung. S. 294. 252 Vgl. Dubos, Jean-Baptiste (1719) : Réflexions critiques sur la poésie et la peinture. Paris : Jean Mariette. 253 Diderot übersetzte Shaftesburys An Inquiry concerning Virtue or Merit (1683) unter dem Titel Essais sur le mérite et la vertu (1745) und feierte Samuel Richardsons Briefroman Pamala, or Virtue rewarded (1740) in seiner Éloge de Richardson (1760). 254 Cassirer, Ernst (2007) : Die Philosophie der Aufklärung. S. 311. 255 Vgl. Diderot, Denis (1968) : Brief über die Taubstummen [1751]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 28–69. S. 32. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome IV : Le nouveau Socrate. Idées II. Présentée par Yvon Belaval, Robert Niklaus, Jacques Chouillet et al. Paris : Hermann. S. 140.
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Kreis der selbst geschaffenen Begriffe, welche, wenn sie keine Grundlage in der Natur haben, wie Bäume ohne Wurzeln nur eines Windstoßes bedürften, um umgeworfen zu werden. Diderot vermutet, dass in einem Gespräch zwischen Personen, die jeweils nur über einen einzigen Sinn verfügen, ohne dass mehreren von ihnen ein Sinn gemein wäre, sich alle gegenseitig als verrückt erklären würden, sollten sie nicht über mathematische Gegenstände sprechen. Denn »dank der Abstraktionsfähigkeit, die sie hätten, könnten alle Mathematiker (géomètres) sein und sich ausgezeichnet verstehen, aber eben nur in der Mathematik.«256 Dieses Gespräch der personifizierten Sinne fände aber, so Diderot, zu einem jähen Ende, weil sie nicht in der Sphäre der mathematischen Abstraktionen verweilen, sondern durch Bedürfnisse und Vergnügen immer wieder zu den realen, sinnlich wahrnehmbaren Dingen zurückkehren würden. Diderot will hiermit verdeutlichen, dass jede Erkenntnis auf sensorische Eingaben angewiesen sei. Einen reinen Sensualismus begründet er damit aber nicht. Denn die bloß empirische Beobachtung der Natur erachtet er für ebenso unzureichend wie den rationalistischen Apriorismus : Einer »verbringt sein ganzes Leben mit dem Beobachten von Insekten und findet nichts ; ein anderer wirft im Vorbeigehen nur einen Blick auf sie und entdeckt den Polypen oder die zweigeschlechtliche Blattlaus«257, spottet er. Diderot beabsichtigt vielmehr, die für den Erkenntnisprozess notwendige Erfahrungsbezogenheit theoretischer Konstruktionen herauszustellen und will der spekulativen »Vermutungssucht«258 (fureur des conjectures) ein empirisches Korrektiv zur Seite stellen. »Alles läuft darauf hinaus«, schreibt er, »daß wir von den Sinnen zur Reflexion und von der Reflexion zu den Sinnen zurückkommen müssen.«259 Diese große »Umwälzung«260 (grande révolution) zur beschreibenden Naturwissenschaft, die, so Cassirer, »eine neue Forschungsrichtung und gleichsam ein neues Temperament der Forschung«261 darstellte, kündigte Diderot in seiner 256 Diderot, Denis (1967) : Brief über die Taubstummen. S. 32. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes, Tome IV. S. 140 : « [C]’est que par la faculté qu’elles auraient d’abstraire, elles pourraient toutes être géomètres, s’entendre à merveille, et ne s’entendre qu’en géométrie. » 257 Diderot, Denis (1967) : Gedanken zur Interpretation der Natur [1753]. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. S. 415–471. S. 428. Vgl. auch Diderot, Denis (1981) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome IX : L’interprétation de la nature (1753–1765). Idées III. Présentée par Jean Varloot et al. Paris : Hermann. S. 40 : « [L]’un d’eux emploiera toute sa vie à observer des insectes, et ne verra rien de nouveau ; un autre jettera sur eux un coup d’œil en passent, et apercevra le polype, ou le puceron hermaphrodite. » 258 Diderot, Denis (1967) : Gedanken zur Interpretation der Natur. S. 432. Vgl. auch Diderot, Denis (1981) : Œuvres complètes, Tome IX. S. 45. 259 Diderot, Denis (1967) : Gedanken zur Interpretation der Natur. S. 424. Vgl. auch Diderot, Denis (1981) : Œuvres complètes, Tome IX. S. 34 : « Tout se réduit à revenir des sens des à la réflexion, et de la réflexion aux sens ». 260 Diderot, Denis (1967) : Gedanken zur Interpretation der Natur. S. 421. Vgl. auch Diderot, Denis (1981) : Œuvres complètes, Tome IX. S. 30. 261 Cassirer, Ernst (2007) : Die Philosophie der Aufklärung. S. 78.
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1753 erschienen Schrift De l’interprétation de la nature an. Hier unterscheidet er zwischen Naturbeobachtung, Reflexion und Erfahrung, zwischen dem mühsamen und unablässigen Sammeln von Daten, der Herstellung von Zusammenhängen zwischen den gesammelten Daten sowie der Verifikation oder Falsifikation dieser hergestellten Zusammenhänge in der Erfahrung oder durch Experimente.262 In seinem Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient – der Diderot aufgrund seiner materialistisch-atheistischen Aussagen eine Haftstrafe eintrug – beantwortet er die Frage des irischen Philosophen William Molyneux, ob ein Blindgeborener, dem man durch eine Operation das Sehen ermöglicht habe, eine Kugel von einem Würfel unterscheiden könne – ohne sie aber wie gehabt zu berühren, sondern sie nun mittels des neuerworbenen Gesichtssinns zu erkennen. Diderot antwortet, dass dies – unter bestimmten Umständen – durchaus möglich sei, weil die Sinnentätigkeit nie losgelöst von der Einbildungskraft und der Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken operiere. Er geht davon aus, dass die ersten Denkoperation stets darin bestünden, Wahrnehmungen zu untersuchen, sie miteinander zu vergleichen, sie zu kombinieren und zwischen ihnen Beziehungen der Identität oder Divergenz herzustellen. Klaus Mollenhauer ist der Ansicht, dass Diderot in den Gemälden von Jean Siméon Chardin dieses Problem der Verhältnisbestimmung von Sinnentätigkeit und Begriffsbildung malerisch zutage treten sieht.263 So wie der sehend gemachte Blinde sich durch die Betrachtung und Berührung von Gemälden davon überzeugt hatte, nur eine einförmige Ebene ohne Erhebungen und Tiefen vor sich zu haben,264 glaubt Diderot, dass die Bil262 Die Ähnlichkeit zu Rousseaus erkenntnistheoretischer Bestimmung sinnhafter Vernunft ist frappierend (Reitemeyer 2014 : 57–86). Rousseau beschreibt im dritten Buch des Émile eine Situation, in der Diderots geforderter Weg der Erkenntnis »von den Sinnen zur Reflexion und von der Reflexion zu den Sinnen« (Diderot 1967 : 424) in ein pädagogisches (Gedanken-)Experiment der »Bildung der Sinne« (Hansmann 2012 : 118) übersetzt wird. Die Rede ist von dem Stockbeispiel, in dem Emile zum ersten Mal einen im Wasser als gebrochen erscheinenden Stock beobachtet (Rousseau 1963 : 429–434). Statt dass der Erzieher das Phänomen vorzeitig aufklärt, indem er den Stock aus dem Wasser zieht, regt er Emile an, seine Wahrnehmung experimentell zu überprüfen. Hierzu gehen sie um den Stock herum und beobachten, wie sich die Brechung des Stocks mit ihnen bewegt ; sie blicken genau senkrecht auf den Stock und bemerken, dass die Brechung verschwindet ; sie bewegen die Oberfläche des Wassers und sehen, wie der Stock in mehrere Stücke zerbricht, und schließlich lassen sie das Wasser ab und beobachten, wie sich der Stock mit sinkendem Wasserstand langsam aufrichtet. Zuletzt betasten sie den Stock und können keine Knickung feststellen. Erst aus diesen experimentell erzeugten Erfahrungen, aus der Wechselwirkung von Beobachtung und Reflexion wird die Hypothese gewonnen, dass nicht der Stock, sondern das durch die Wasseroberfläche fallende und zum Auge gelangende Licht gebrochen ist. 263 Vgl. Mollenhauer, Klaus (1988) : Diderot und Chardin – zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung. In : Pädagogische Korrespondenz, 2. Jg. Heft 4. S. 33–46. S. 35. 264 Vgl. Diderot, Denis (1967) : Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden. Mit einem Nachtrag [1749]. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. S. 49–110. S. 89. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œvres complètes, Tome IV. S. 60 f.
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der Chardins den Betrachter zu einem vergleichbaren experimentellen Umgang mit der eigenen Sinnentätigkeit anregen : »Um die Gemälde Chardins zu betrachten«, schreibt er, brauche ich nur die Augen zu behalten, die mir die Natur gegeben hat, und sie gut zu benutzen. […] Man versteht diese Magie überhaupt nicht. Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darauf gespritzt. […] Treten Sie näher : alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich : alles erschafft und erzeugt sich wieder neu.265
Aber anders als bei Molyneux’ Gedankenexperiment spielt die sinnliche Erkenntnis bei der Betrachtung von Kunstwerken für Diderot nur eine untergeordnete Rolle. Für ihn stehen die über die sinnliche Wahrnehmung des Kunstwerks erwirkten Empfindungen im Betrachter im Vordergrund. Bei der Betrachtung von Jean-Baptiste Greuzes Bild Kindesliebe (Piété filiale), dem Diderot den Titel »Belohnung der guten Erziehung«266 (De la récompense de la bonne éducation donnée) gegeben hätte, ruft er begeistert aus : »Das ist moralische Malerei«267 (C’est peinture morale). In seinem Lettre sur les aveugles hatte er bereits darauf hingewiesen, dass »der Zustand unserer Organe und unserer Sinne großen Einfluß auf unsere Metaphysik und unsere Moral hat«,268 was ihn zu der überspitzten und später verschämt revidierten These hinriss, dass Blinde grundsätzlich »inhuman«269 (inhumanité) seien, weil sie aufgrund ihres fehlenden Augenlichts vom Leiden anderer sinnlich nicht affiziert würden. Die Aufgabe der schönen Künste sieht Diderot gerade in dieser über die Sinne vermittelten moralischen 265 Diderot, Denis (1967) : Chardin. Aus dem ›Salon von 1763‹. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 453 f. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XIII : Arts et lettres (1739–1766). Critique I. Présentée par Jean Varloot. Paris : Hermann. S. 380 : « [P]our voir ceux [les tableaux] de Chardin, je n’ai qu’à garder les yeux que la nature m’a donnés, et m’en bien servir. […] On n’entend rien à cette magie. Ce sont des couches épaisses de couleur, appliquées les unes sur les autres, et dont l’effet transpire de dessous en toile ; ailleurs, une écume légère qu’on y a jetée. […] Approchez-vous, tout se brouille, s’aplatit et disparaît. Éloignez-vous, tout se crée et se reproduit. » 266 Diderot, Denis (1967) : Greuze. Aus dem ›Salon von 1763‹. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 461–467. S. 461.Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes, Tome XIII. S. 394. 267 Diderot, Denis (1967) : Greuze. Aus dem ›Salon von 1763‹. S. 462. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes, Tome XIII. S. 394. 268 Diderot, Denis (1967) : Brief über die Blinden. S. 58. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes, Tome IV. S. 26 : Diderot bezweifelte nicht, dass « l’état de nos organes et de nos sens n’ait beaucoup d’influence sur notre métaphysique ». 269 Diderot, Denis (1967) : Brief über die Blinden. S. 59. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes, Tome IV. S. 27.
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Abb. 7 Greuze, Jean-Baptiste (1763): Piété filiale / Le Paralytique. Öl auf Leinwand, 115 × 146 cm. Sankt Petersburg: Eremitage.
Affizierung und ihrer begriffs- und urteilsbildenden Reflexion. Kunstwerke bewirkten diese Affizierung und Reflexion durch die Nachahmung der Natur, die für Diderot stets auch die Lebenswelt der Rezipienten – insbesondere des bürgerlichen Publikums – umfasse. Ebenso wie Riccoboni seine Eleven der Schauspielkunst dazu aufforderte, gewöhnliche Menschen zu beobachten, so ruft auch Diderot den Kunststudenten zu : Geht in die Kirche, schleicht euch zu den Beichtstühlen ! Dort werdet ihr sehen, wie der Mensch sich sammelt, wie er bereut. Morgen geht in die Landschenke ! Dort werdet ihr wahrhaft erzürnte Menschen sehen. Mischt euch in die öffentlichen Auftritte, beobachtet auf den Straßen, in den Gärten, auf den Märkten, in den Häusern, und ihr werdet richtige Begriffe (idées) fassen über die wahre Bewegung der Lebenshandlungen !270 270 Diderot, Denis (1967) : Versuch über Malerei [1765]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 635–694. S. 639. Vgl. auch Diderot, Denis (1984) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XIV : Salon de 1765. Essai sur la peinture. Beaux-Arts I. présentée par Else Marie Bukdahl, Annette Lorenceau et Gita May. Paris : Hermann. S. 348 : « [A]llez à la paroisse, rôdez autour des confessionnaux et vous y verrez la véritable
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Und Mademoiselle Jodin, eine Schauspielerin in Warschau, deren Vater an Diderots Enzyklopädie mitgewirkt hatte, rät er, eine aufmerksame Beobachterin von häuslichen Vorgängen und Volksszenen zu sein. »Dort werden Sie nämlich die wahren Mienen, Bewegungen und Handlungen der Liebe, der Eifersucht, des Zornes und der Verzweiflung sehen.«271 Für François Boucher, den Hofmaler Ludwigs XV., und das Theater der französischen Klassik hat Diderot dagegen nur Spott übrig : »Die Manier ist in den schönen Künsten, was die Heuchelei in den Sitten ist. Boucher ist der größte Heuchler, den ich kenne. Es gibt unter seinen Gestalten keine einzige, zu der man nicht sagen könnte : ›Du willst wahr sein, bist aber unwahr.‹«272 Die Ideen von Feingefühl und Anständigkeit, von Unschuld und Einfachheit seien ihm fremd geworden. Er habe, so Diderot, nicht die Natur gesehen, »die geeignet ist, meine Seele, die Ihrige, die eines normalen Jünglings oder die einer empfindsamen Frau zu fesseln.«273 Allen seinen Gemälden will er entgegenrufen : »Gemälde, was gehst du mich an ?«274 (Sonate que me veux-tu ?) Und in Les bijoux indiscretes macht sich Diderot über das Deklamationstheater der französischen Klassik lustig und behauptet, dass ein Theattitude du recueillement et du repentir. Demain allez à la guinguette ; et vous verrez l’action vraie de l’homme en colère. Cherchez les scène publiques ; soyez observateurs dans les rues, dans les jardins, dans les marchés, dans les maison, et vous y prendrez des idées justes du vrai mouvement dans les action de la vie. » 271 Diderot, Denis (1967) : An Mademoiselle Jodin [1766]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 234–237. S. 236. Diderot, Denis (1876) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par J. Assézat, Tome XIX : Correspondance II. Lettres a Mlle Volland – Lettres a l’Abbé le Monnier. Lettres a Mlle Jodin. Correspondance générale I. Paris : Garnier Frères. S. 388 : « C’est là que voue verrez les visages, les mouvements, les actions réelles de l’amour, de la jalousie, de la colère, du désespoir. » 272 Diderot, Denis (1967) : Verstreute Gedanken über Malerei, Skulptur, Architektur und Poesie als eine Fortsetzung der »Salons« [1776]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 574–645. S. 633. Vgl. auch Diderot, Denis (1876) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par J. Assézat, Tome XII : Beaux-Arts III. Arts du Dessin. Musique. Paris : Garnier Frères. S. 121 : « La manière est dans les beaux-arts ce que l’hypocrisie est dans les mœurs. Boucher est le pus grand hypocrite que je naisse ; il n’y a pas une de ses figures à laquelle on ne pût dire : ‹ Tu veux être vraie, mais tu ne l’es pas. › » 273 Diderot, Denis (1967) : Aus dem »Salon von 1765«. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 527–533. S. 528. Vgl. auch Diderot, Denis (1984) : Œuvres complètes, Tome XIV. S. 55 : Diderot behauptet, dass Boucher « n’a pas vu un instant la nature, du moins celle qui est faite pour intéresser mon âme, la vôtre, celle d’un enfant bien né, celle d’une femme qui sent ». 274 Diderot, Denis (1967) : Aus dem »Salon von 1765«. S. 529. Vgl. auch Diderot, Denis (1984) : Œuvres complètes, Tome XIV. S. 56.
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aterunkundiger, »der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehört hätte ; dem es aber weder an Verstand noch an Welt fehle«275, in Gelächter ausbrechen würde, sähe er den steifen Gang der Deklamatoren, die wunderlichen Kostüme und höre die gestelzte Sprache. Das, was Diderot an Chardins und Greuzes Malerei bewunderte – ihr malerischer Ausdruck von unverstellter Natürlichkeit und die Wahl moralischer Sujets –, versuchte er auch für die Dramatik und das Theater geltend zu machen. Geradezu im Kontrast zur Überbetonung des Vergnügens in der höfischen Theaterkultur solle das bürgerliche Theater, das Diderot in seinen dramentheoretischen Abhandlungen entwirft, einer moralischen Besinnung und Besserung nützen. Seine Handlungen sollten so dargestellt werden, als würde das Publikum einem wirklichen Geschehen beiwohnen – was für die Schauspieler bedeutete, so zu spielen, als würde kein Zuschauer dem Bühnengeschehen beiwohnen. Um diesen Schein von Wirklichkeit zu erzeugen, verlangte Diderot, auf die unpassenden Dekorationen und prunkvollen Kostüme zu verzichten sowie die an das Publikum gerichteten Reden und das deklamierende Sprechen zu unterlassen. An die Stelle der unnatürlichen Deklamation und Gestik sollte ein natürlicher Körperausdruck treten, der die Darstellung von Gefühlen überzeugend und wirklichkeitsgetreu untermalt. In einem Selbstexperiment versuchte Diderot diese Ausdrucksfähigkeit von Schauspielern zu überprüfen. Während der Aufführung eines Theaterstückes, das er auswendig kannte, steckte er sich die Finger in die Ohren und versuchte durch die bloße Beobachtung der Gesten und mittels seiner Kenntnis des dramatischen Textes dem Schauspiel zu folgen. Nur dann, wenn er glaubte, durch die Gebärden irritiert worden zu sein, nahm er die Finger aus den Ohren. Nur wenige Schauspieler bestanden diesen Test.276 Aber ebenso wie Diderot in erkenntnistheoretischer Hinsicht keinen reinen Sensualismus vertritt, propagiert er auch für das Drama, die bildenden Künste und die Schauspielkunst keinen reinen Naturalismus. Hans Robert Jauß bemerkt, dass es sich in Diderots Drama Le Fils naturel, das der Veranschaulichung seiner Dramentheorie dienen sollte, keineswegs um eine wahre Begebenheit, eine Alltäglichkeit oder die Darstellung der Lebenswelt des Bürgertums handelt, sondern um eine Ineinssetzung von einer als lebenswahr angesehenen Handlung mit der Idealvorstellung, wie sie hätte in Wirklichkeit geschehen sollen.277 Auch in Greuzes Kinderliebe wird nicht die Wirklichkeit abgebildet, 275 Diderot, Denis (1967) : Aus den »Geschwätzigen Kleinodien« [1748]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 6–16. S. 11. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes. Edition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome III : Les Bijoux indiscrets. Fiction I. Présentée par Jean Macary, Aram Vartanian et Jean-Louis Leutrat. Paris : Hermann. S. 165 : In dem Beispiel geht es um einen Theaterunkundigen, « qui n’ait jamais entendu parler de spectacles, mais qui ne manque ni de sens ni d’usage ». 276 Vgl. Diderot, Denis (1967) : Brief über die Taubstummen. S. 38. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes, Tome IV. S. 148 f. 277 Vgl. Jauß, Hans Robert (1961) : Diderots Paradox über das Schauspiel. In : Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. XI. S. 380–413. S. 394 f.
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sondern das Bild zeigt eine vom Künstler hergestellte Idealgestalt einer Szenerie aus dem bürgerlichen Leben. Diderot bezeichnet diese Idealgestalt als ein »ideelles Model (modèle idéal)«278, das der Künstler durch die Beobachtung der Natur, die Kombination der verschiedenen sinnlichen Eindrücke und Erinnerungen sowie durch die Wahl des Sujets, der intendierten Wirkung und des spezifischen Ausdrucks vor seinem geistigen Auge erschafft und handwerklich umsetzt.279 Der Theaterhistoriker Roach ist der Ansicht, dass Diderot den experimentellen Umgang mit der Natur, den er als den Weg »von den Sinnen zur Reflexion und von der Reflexion zu den Sinnen«280 beschrieben hat, auch für das künstlerische Schaffen als konstitutiv erachtet : »In science or in art, Diderot believed, the investigation of natural phenomena requires both subjective and objective methods, an alteration of concentration from information registering on the senses to inner reflection ; in short, a combination of observation and introspection.«281 Die Nachahmung der Natur ist für Diderot weder eine bloße Imitation der Natur noch eine idealisierende Verbesserung einer nicht perfekten Natur, »sondern Veranschaulichung einer aus Beobachtung, Reflexion und Erfahrung resultierenden Hypothese, welche die Einheit in der Mannigfaltigkeit vorstellt.«282 Der Künstler gelange nach einer langen Reihe von Beobachtungen, Reflexionen und handwerklichen Arbeiten zu einer 278 Diderot, Denis (1967) : Das Paradox über den Schauspieler. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 481–538. S. 485. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 9. 279 In seinem Essai sur la peinture fordert Diderot die angehenden Maler nicht nur dazu auf, die Natur zu studieren, die lebensweltlichen Umstände und den natürlichen Ausdruck der Menschen zu beobachten, sondern auch die Natur in ihren Bildern so nachzuahmen, dass sie den Betrachter ergreifen, in Erstaunen versetzen, ihm das Herz zerreißen, ihn erschauern, weinen, beben oder aufbegehren lassen (Diderot 1967 : 673). Hierzu müsse ihr Sujet klar und einfach, ihre Idee richtig und konsequent sein. Auch solle das Bild die moralischen Gefühle des Betrachters ansprechen (Diderot 1967 : 676). Maurice Quentin La Tour gelang es offensichtlich nicht, diese Forderungen Diderots umzusetzen. In dem Portrait, dass La Tour von Rousseau anfertigte, suchte Diderot vergebens »den strengen Kritiker der Literatur, den Cato und Brutus unserer Tage ; ich habe erwartet, einen Epiktet in lässiger Kleidung und mit zerzauster Perücke zu sehen, einen Epiktet, der seinen strengen Blick den Schriftstellern, den Großen und den Vornehmen Furcht einflößt ; und ich sehe nur den Verfasser des ›Dorfwahrsagers‹, schön gekleidet, schön frisiert, schön gepudert und lächerlicherweise auf einem Korbstuhl sitzend« (Diderot 1967 : 657). Vgl. auch Diderot, Denis (1984) : Œuvres complètes, Tome XIV. S. 370 : « J’y cherche le censeur des lettres, le Caton et le Brutus de notre âge, je m’attendais à voir Epictete en habit négligé, en perruque ébouriffée, effrayant par son air sévère les littérateurs, les Grands et les gens du monde, et j’y vois que l’auteur du Devin du village bien habillé, bien peigné, bien poudré et ridiculement assis sir une chaise de paille ». 280 Diderot, Denis (1967) : Gedanken zur Interpretation der Natur. S. 424. Vgl. auch Diderot, Denis (1981) : Œuvres complètes, Tome IX. S. 34. 281 Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. S. 126. 282 Achermann, Eric (2005) : Denis Diderot. In : Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard. Hrsg. von Stefan Majetschak. München : Beck. S. 95–116. S. 103
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Gestalt, die aber »nicht mehr die Natur«283 (n’était plus la nature) ist. Hiermit tritt das zutage, was Diderot im Zusammenhang mit der Schauspielkunst als Paradox bezeichnet. Die künstlerische Nachahmung der Natur bringt den paradoxen Zustand einer künstlichen Natürlichkeit hervor, denn die vom Künstler angestrebte Illusion, der Schein von Natürlichkeit, Authentizität und Spontaneität wird vom ihm entworfen und (körper-)technisch hergestellt : »In jeder Nachahmung der Natur«, schreibt Diderot, »gibt es einerseits das Technische und andererseits das Moralische.«284 Das Moralische285 ist für ihn das ideelle Model, in dem sich der Künstler den durch verschiedene Lebenslagen geprägten Menschen – sein Glück und Unglück in all seinen Erscheinungsformen sowie seine physiognomischen Ausdrucksweisen – zum Gegenstand der Nachahmung genommen hat. Mit dem Technischen bezeichnet er den handwerklichen Akt der Realisierung dieses Modells. Während Diderot anfangs wie Sainte-Albine die Ansicht vertrat, der natürliche Ausdruck auf der Theaterbühne werde in einem puren Akt der Spontaneität durch solche Schauspieler erwirkt, die »eine große Empfindlichkeit (sensibilité)«286 besäßen, betrachtet er im Verlauf der 1760er Jahre die Schauspielkunst als eine intellektuelle Leistung und ein körpertechnisches Handwerk.287 Der Schauspielerin Mademoiselle Jodin schreibt Diderot 1766, dass ein Darsteller, der nur Verstand und Urteilskraft habe, kalt, ein Darsteller der lediglich Feuer und Empfindsamkeit habe, schlicht verrückt sei. »Ein gewisses Temperament, das aus gesundem Menschenverstand und Leidenschaftlichkeit gemischt ist, macht den erhabenen Menschen aus, und auf der Bühne wie im Leben ruft derjenige, der mehr Gefühl zeigen will, als er hat, nur Gelächter hervor, anstatt zu rühren.«288 Und im Paradoxe sur Le Comédien schreibt er schließlich : Der empfindsame Mensch gehorcht den Impulsen der Natur und äußert allein den unverfälschten Schrei seines Herzens ; in dem Augenblick, in dem er diesen Schrei mäßigt 283 Diderot, Denis (1967) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 508. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 48. 284 Diderot, Denis (1967) : Verstreute Gedanken. S. 585. Vgl. auch Diderot, Denis (1876) : Œuvres complètes de Diderot, Tome XII. S. 83 : « Dans tout imitation de la nature, il y a le technique et le moral. » 285 Laut Jean-François Férauds Dictionaire Critique de la Langue Française aus dem Jahr 1787 kann das Wort ›morale‹ sich einerseits auf die Sittenlehre oder Sittlichkeit beziehen, andererseits kann es als Gegensatz zum Physischen oder Metaphysischen verstanden werden (Féraud 1994 : 684). 286 Diderot, Denis (1967) : Dorval und ich. S. 184. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes, Tome X. S. 104. 287 Vgl. Opel, Eberhard (1987) : Die Wandlung des Begriffes sensibilité in der Ästhetik Diderots und ihre Auswirkungen auf die Schauspieltheorie. In : Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft, 33. Jg. Heft 3/4. S. 33–53. 288 Diderot, Denis (1967) : An Mademoiselle Jodin. S. 236. Vgl. auch Diderot, Denis (1876) : Œuvres complètes de Diderot, Tome XIX. S. 389 : « C’est un certain tempérament de bon sens et de chaleur qui fait l’homme sublime ; et sur la scène et dans le monde, celui qui montre plus qu’il ne sent fait rire au lieu de toucher. »
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oder verstärkt, ist er nicht mehr er selbst, sondern ein Schauspieler, der etwas mimt. Der große Schauspieler beobachtet die Erscheinungen ; der empfindsame Mensch dient ihm als Modell : er denkt über ihn nach und findet durch Überlegung, was hinzugefügt oder weggelassen werden muß, um das Modell zu verbessern.289
Einen nicht unwesentlichen Einfluss auf Diderots Einstellung zur Funktion der sensibilité im künstlerischen Schaffensprozess muss seine Begegnung mit dem englischen Schauspielvirtuosen David Garrick gehabt haben, der im Winter des Jahres 1764 Gastspiele in Paris gab. Diderot schildert eine Bühnenszene, in der Garrick die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen in seinen Gesichtszügen wie auf einer Klaviatur auf- und abspielt : Garrick steckte seinen Kopf durch eine Türspalte, und sein Mienenspiel geht innerhalb von vier bis fünf Sekunden von toller Freude zu maßvoller Freude über, von dieser zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Überraschung zum Erstaunen, vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Niedergeschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zur Furcht, von der Furcht zum Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung und kehrt dann von dieser tiefsten Stufe wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.290
Dass Garrick all diese Gefühle in dem Moment ihres mimischen Ausdrucks wirklich empfunden haben soll, erscheint Diderot fraglich. In seinem Salon-Bericht291 von 1767 erwähnt er ein Gespräch, das zwischen Garrick und Jean-François Chevalier de Chastellux, einem französischen Offizier und Schriftsteller, stattgefunden haben soll. Garrick soll gesagt haben : »So empfindsam Sie die Natur auch geschaffen haben mag, so werden Sie doch immer mittelmäßig bleiben, wenn Sie nur sich selbst oder die vollkommenste vorhandene Natur 289 Diderot, Denis (1967) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 505. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 43 : « L’homme sensible obéit aux impulsions de la nature et ne rend précisément que le cri de son cœur ; au moment où il tempère ou force ce cri, ce n’est plus lui, c’est un comédien qui joue. » 290 Diderot, Denis (1967) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 500 f. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 35 : « Garrick passe sa tête entre les deux battans d’une parte, et dans l’intervalle de quarte à cinq secondes, son visage passe successivement de la joie folle à la joie modérée, de cette joie à la tranquillité, de la tranquillité à la surprise, de la surprise à l’étonnement, de l’étonnement à la tristesse, de la tristesse à l’abattement, de l’abattement à l’effroi, de l’effroi à l’horreur, de l’horreur au désespoir, et remonte de ce dernier degré à celui d’où il était descendu. » 291 Diderot berichtete mehrfach über die Ausstellungen der Académie royale de peinture et de sculpture, die im Louvre veranstaltet wurden. Der Titel »Salon« leitet sich vom Namen des Ausstellungsraums im Louvre ab – dem Salle carrée. Die erste Ausstellung, über die Diderot nachweislich berichtet hat, fand im Herbst 1759 statt und dauerte etwa drei Wochen. Diderots Salon-Berichte erschienen in der von seinem Freund Grimm herausgegebenen Zeitschrift Correspondance littéraire.
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darstellen, die sie kennen.« – »Mittelmäßig ? Wieso ?« – »Weil es für Sie, für mich und für den Zuschauer einen möglichen ideellen Menschen gibt, der in der vorausgesetzten Lage ganz anders berührt würde als Sie. Dieses imaginäre Wesen müssen Sie sich zum Modell nehmen. Je besser Sie dieses Wesen begriffen haben, desto größer, außergewöhnlicher, vortrefflicher und erhabener werden Sie sein.« – »Sie sind also niemals Sie selbst ?« – »Davor hüte ich mich sehr. Nein, weder ich selbst, Herr Chevalier, noch irgend etwas, was ich um mich herum genau kenne ! Wenn ich mir das Innere zerreiße, wenn ich Schreie ausstoße, die nicht mehr menschlich sind, so ist das nicht mein Inneres, sind das nicht meine Schreie, sondern das Innere und die Schreie eines anderen, den ich mir vorgestellt hab, der aber nicht existiert.«292
Den vermeintlich von Garrick ins Spiel gebrachten Gedanken, dass die von ihm auf der Bühne ausgedrückten Leidenschaften keineswegs seine eigenen seien, er sie sich einbilde und er sich stets davor hüte, auf der Bühne er selbst zu sein, wird Diderot in seinem Paradoxe sur Le Comédien aufgreifen. Dieser Text geht auf seine Rezension des Buches Garrick, ou les Acteur Anglais von Antonio Fabio Sticotti zurück – das eine Übersetzung der von John Hill angefertigten englischsprachigen Übersetzung von Saint-Albines Le Comédien war. Das Manuskript zum Paradoxe sur Le Comédien schrieb Diderot in einem Zeitraum von fast zehn Jahren, zwischen 1769 und 1778, mehrfach um. Veröffentlicht wurde es aber erstmals 1830 postum,293 als man es in seinem Nachlass in Sankt Peterburg entdeckte. Die Abhandlung erweist sich nicht nur als eine Untersuchung der künstlerischen Arbeit des Schauspielers und der mit ihr verbundenen Forderung nach einer Reform des Theaters. Friedrich Bassenge schreibt, dass Diderot »nicht nur die Schauspielkunst, sondern die Kunst überhaupt vor Augen«294 gehabt habe, und Gunter Gebauer und Chris292 Diderot, Denis (1967) : An meinen Freund Grimm. Aus dem »Salon von 1767«. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 7–22. S. 20 f. Vgl. auch Diderot, Denis (1990) : Œuvre complète. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XVI : Salon de 1767. Salon de 1769. Beaux-arts III. Présentée par Else Marie Bukdahl, Michel Delon et Annette Lorenceau. Paris : Hermann. S. 75 : « Le célèbre Garrick disait au chevalier de Chatelux ; quelque sensible que nature ait pu vous former, si vous ne jouez que d’après vous-même, ou la nature subsistante la plus parfaite que vous connaissiez, vous ne serez que médiocre … Médiocre ! et pourquoi cela ? … C’est qu’il y a pour vous, pour moi, pour le spectateur tel homme idéal possible qui dans la position donnée, serait bien autrement affecté que vous. Voilà l’être imaginaire que vous devez pendre pour modèle. Plus fortement vous l’aurez conçu, plus vous serez grand, rare, merveilleux et sublime … Vous n’êtes donc jamais vous ? … Je m’en garde bien. Ni moi, Mr le chevalier, ni rien que je connaisse précisément autour de moi. Lorsque je m’arrache les entrailles, lorsque je pousse des cris inhumains ; ce ne sont pas mes entrailles, ce ne sont pas mes cris, ce sont les entrailles, ce sont les cris d’un autre que j’ai conçu et qui n’existe pas … » 293 Vgl. [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. Ouvrage posthume de Diderot. Paris : A. Sautelet et Compagnie. 294 Bassenge, Friedrich (1967) : Einführung in die Ästhetik Diderots. In : Denis Diderot. Ästhetische
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toph Wulf weisen darauf hin, dass sich Diderots Paradoxe sur Le Comédien auch als eine »philosophische Theorie der natürlichen Gefühle und ihrer theatralischen Darstellung« 295 sowie als eine Beschreibung »des mimetischen Handelns in der Gesellschaft«296 lesen lasse. Richard Sennett ist sogar der Ansicht, dass Diderot hiermit »das intellektuelle Fundament des öffentlichen Lebens seiner Epoche«297 vorlegte. Der Schauspieler erscheint hier also nicht nur als ein Berufs- oder Künstlertypus, sondern erweist sich gar als Prototyp des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Der Schauspieler wird damit im 18. Jahrhundert zum Gegenstand philosophischer Reflexion.298 Bildungstheoretische Relevanz gewinnt Diderots Paradoxe sur Le Comédien, wenn man es als eine Auseinandersetzung mit Rousseaus Kritik des Theaters in seinem Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles aus dem Jahr 1758 versteht.299 Denn in dieser programmatischen Schrift gegen das Theater betreibt Rousseau eine konsequente Fortsetzung seiner kultur- und zivilisationskritischen Gesellschaftsanalysen, die er zuvor in seinem Discours sur les sciences et les arts von 1750 sowie in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes aus dem Jahr 1755 vorgelegt hatte. Sein Lettre à M. d’Alembert führt somit, wie Juliane Rebentisch gezeigt hat, »ins systematische Zentrum seiner politischen Theorie«300. Auch wenn Diderot und Rousseau viele Ansichten teilen, steht Diderots Auffassung vom Theater im Widerspruch zu Rousseaus These, dass das Theater keine (moral-)pädagogische Wirkung besäße.301 Diderot Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. V–LXXXIX. S. XVIII. 295 Gebauer, Gunter & Wulf, Christoph (1992) : Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek : Rowohlt. S. 247. 296 Ebd. 297 Sennett, Richard (2008) : Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. S. 207. 298 Vgl. Käuser, Andreas (1999) : Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie. Vgl. auch Behrens, Rudolf (1993) : Diderots gemimte Körper : Spiel, Identität und Macht. In : Leibzeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Rudolf Behrens und Roland Galle. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 125–149. S. 128. Vgl. auch Konersmann, Ralf (1986/1987) : Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. S. 134–137. 299 Vgl. hierzu auch Zumhof, Tim (2014) : Moralische Anstalt oder unnatürliches Vergnügen ? Rousseaus Theaterkritik und Schillers Apologie der Schaubühne. Anregungen für einen literaturhistorischen Deutschunterricht. In : Rousseau zur Einführung. Hrsg. von Ursula Reitemeyer und Tim Zumhof. Münster : Lit. S. 255–288. 300 Rebentisch, Juliane (2012) : Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 272. 301 In einer kürzeren Notiz, die Diderot während seiner Zeit in Sankt Petersburg zwischen Oktober 1773 und März 1774 als Brief an Katharina II. gestaltete, äußert er sich besorgt darüber, dass die Kinder der russischen Kaiserin in Theaterstücken mitspielen würden. »Die Stücke«, schreibt Diderot, »die man sie spielen ließ, scheinen mir keineswegs geeignet zu sein, die Empfindsamkeit zu üben, zu Mitleid und Wohltun anzuregen und die Sitten zu bilden. Wieviel Worte, die von den Lippen der jungen unschuldigen Kinder anstößig wirken (blessent). Es ist von größter Bedeutung«, rät Diderot hingegen, »daß man ihnen ein kleines ehrbares Theater bietet, das ihnen gehört« (Diderot 1967 :
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deutet einen »Gegenentwurf«302 zu Rousseaus identitätstheoretischer Konstruktion des »Selbstseins«303 an, die nach Günther Buck den deutschen Bildungstheoretikern am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem gemeinsamen theoretischen Bezugspunkt wurde. Der Dissens zwischen Rousseau und Diderot lässt sich anschaulich am Beispiel der schauspielerischen Arbeit der Clairon herausstellen und aus einer historisch-systematischen Perspektive im Zusammenhang mit den Begründungsfiguren der deutschen Bildungsphilosophie betrachten. 2.2.2 »Am wenigstens kennen wir uns selbst«304 – Eine Problematisierung identitätstheoretischer Begründungsfiguren von Bildung im Anschluss an Rousseau und Diderot
Günther Buck betont eigens, dass Identität bei Rousseau »kein Thema einer Philosophie der Bildung oder eines Bildungsentwurfs«305 sei. Dennoch gelte, so Buck, für und seit Rousseau das widerspruchfreie Sein und Verhalten als das wahre Sein und das gute Leben : »Identität ist von nun an das oberste ethische Prinzip ; und sie ist dieses oberste Prinzip um so mehr, als sie Rousseau zunächst dazu dient, eine schlechte und an der internen Widersprüchlichkeit der handelnden Subjekte leidende Gegenwart zu richten«306. Laut Buck nahmen insbesondere die deutschen Rousseauisten Rousseaus These auf, dass dem Menschen durch sein Eintreten in die Geschichte und seine Vergesellschaftung eine natürliche Selbstgenügsamkeit und die Möglichkeit zu einem widerspruchsfreien, glücklichen Sein abhandengekommen sei, und deuteten diese Schwunddiagnose und Verlusterfahrung zu einem »Entwurf eines Seins um, in dem der Mangel behoben ist : die neuzeitliche Philosophie der ›Bildung‹ entsteht.«307 Für Autoren wie Schiller und Humboldt, aber auch 540). Diderot empfiehlt, dass es für die Kinder nützlich sei, wenn sie zunächst den Theaterstücken als Zuschauer beiwohnen würden. »Diese Kinder haben für uns gespielt ; wäre es aber nicht richtig, daß man für sie spielte ? […] Wenn sie spielen sehen, werden sie gut spielen lernen ; wenn sie spielen sehen, werden sie unterrichtet und gerührt werden« (Diderot 1967 : 541). 302 Konsermann, Ralf (1986/1987) : Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. S. 117. 303 Buck, Günther (1984) : Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie. Paderborn : Schöningh. S. 164. 304 Diderot, Denis (1967) : Elemente der Physiologie. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. S. 589–771. S. 681. Vgl. auch Diderot, Denis (1875) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par J. Assézat, Tome IX : Belles–Lettres VI. Poésies diverses. Sciences. Mathématique – Physiologie. Paris : Garnier Frères. S. 346 : « Ce que nous connaissons le moins, c’est nous. » 305 Buck, Günther (1984) : Rückwege aus der Entfremdung. S. 211. 306 Ebd. S. 159. 307 Buck, Günther (1981) : Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre. München : Fink. S. 125.
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Fichte und Hegel erscheine Bildung, so Buck, als Möglichkeit einer Zurücknahme der empfundenen Entfremdung und Wiederherstellung der verlorenen gegangenen Identität. Dieser Prämisse folgend lässt sich Diderots »Kritik überkommener Identitäts- und Authentizitätsvorstellungen«308, die er am Beispiel der Rollenarbeit und Bühnenpraxis der Clairon entwickelt, gegen die identitätstheoretischen Begründungsfiguren der deutschen Bildungsphilosophie richten. Denn anders als Rousseau begreift Diderot, der zwar niemals »in den Kanon pädagogischer ›Klassiker‹«309 aufgerückt sei, aber trotzdem als »gewichtiger Diskussionspartner im Diskurs des 18. Jahrhunderts über Probleme der Bildung des Menschen«310 gelten kann, die Differenzerfahrungen des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Hindernisse, sondern als produktive Momente einer Selbstdistanzierung. Noch bevor Rousseau zum vehementen Kritiker des Theaters wurde, zeigte er sich ganz im Gegenteil als Liebhaber und Kenner der Bühne. Nachdem er im Jahr 1741 nach Paris gereist war, um dort sein auf Zahlen basierendes Notensystem den Mitgliedern der Académie des sciences zu präsentieren, wurde ihm der Zugang zur Pariser Beletage eröffnet. Er erhielt Zugang zu verschiedenen Salons, wo er Bekanntschaft mit den führenden Köpfen Frankreichs machte. Nach einer nur sehr kurzen, vorrübergehenden Beschäftigung als Sekretär des französischen Gesandten in Venedig kehrte Rousseau im Jahr 1744 in die französische Hauptstadt zurück, knüpfte hier Kontakte und schloss Freundschaft mit Diderot. Er beteiligte sich auch an der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des artes et des métiers und steuerte unter anderem Artikel zur politischen Ökonomie und Musiktheorie bei. Wann und wo sich Rousseau und Diderot kennenlernten, ist nicht genau bekannt. Im Jahr 1749 waren sie aber bereits so eng befreundet, dass Rousseau Diderot mehrfach in Vincennes besuchte, wo er wegen seines Lettre sur les aveugles mehrere Monate in Haft saß. In dieser Zeit lernte Rousseau auch die Pariser Theaterszene kennen. In seinen Confessions hält er fest, dass er abends oft ins Theater ging.311 Darüber hinaus verfasste er selbst die Tragödien La Découverte du nouveau monde (um 1739) und La mort de Lucrèce (1752) sowie die zwei Lustspiele : L’engagement téméraire (1747), das er in nur drei Tagen niederschrieb, und Narcisse ou l’Amant de luimême (1752), das er beim Italienischen Theater einreichte. Er schrieb außerdem die Ballettoper Les Muses galantes (1743), die 1747 erst in der Oper, dann 1761 vor dem Prinzen Conti aufgeführt wurde, und den Einakter Les Prisonniers de guerre (1752). Seinen großen Durchbruch erzielte er aber mit seiner Oper Le Devin du village (1752), die ihn zu einem gefeierten Bühnenautor machte.312 308 Behrens, Rudolf (1993) : Diderots gemimte Körper : Spiel, Identität und Macht. S. 138. 309 Mollenhauer, Klaus (1988) : Diderot und Chardin. S. 33. 310 Ebd. 311 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (1985) : Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Ernst Hardt. Mit einer Einführung von Werner Krauss. Frankfurt a.M.: Insel. S. 408. 312 Vgl. Senarclens, Vanessa de (2013) : Theater. (Théâtre). In : Rousseau und die Moderne. Eine kleine Enzyklopädie. Hrsg. von Iwan-Michelangelo D’Aprile und Stefanie Stockhorst. Göttingen : Wallstein.
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Mademoiselle Clairon feierte etwa zur selben Zeit, im Jahr 1743, ihr Bühnendebüt als Phèdre und avancierte rasch zu einer der berühmtesten Schauspielerinnen der Comédie Française. In Diderots Paradoxe sur Le Comédien gilt sie als idealtypische Verkörperung des Reflexionsschauspielers sowie als Beweis für die Möglichkeit einer rationalen Selbstbeherrschung : »Gibt es ein vollkommeneres Spiel als das der Clairon ?«, fragt Diderot. Zweifellos hat sie sich ein Modell (modèle) gewählt, dem sie sich erst anzugleichen versuchte, zweifellos hat sie sich dieses Modell so hoch, so groß, so vollkommen vorgestellt (conçu), wie ihr das überhaupt möglich war ; aber dieses Modell, das sie der Geschichte entliehen oder das ihre Einbildungskraft als ein großartiges Phantom erschaffen hätte, wie schwach und klein wäre dann ihre Darstellung ! Wenn sie sich durch unablässige Arbeit dieser Idee (idée) so weit wie möglich genähert hat ist alles fertig : es festzuhalten ist dann nur noch eine Frage der Übung und des Gedächtnisses. […] Ich zweifle nicht daran, daß die Clairon bei ihren ersten Proben die Qualen von Duquesnoy durchmacht, aber wenn der Kampf überstanden, wenn sie sich einmal zur Höhe ihres Phantoms erhoben hat, dann hat sie sich in der Gewalt und wiederholt sich ohne innere Bewegung. Wie wir es manchmal im Traum erleben, so berührt ihr Kopf die Wolken, ihre Hände greifen nach den beiden Enden des Horizonts : sie ist die Seele einer großen Marionette (mannequin) in die sich gehüllt hat ; die Proben haben die Hülle unlöslich mit ihr verbunden. Nachlässig auf einem Ruhebett ausgestreckt, mit verschränkten Armen, geschlossenen Augen, unbeweglich, kann sie, während sie aus dem Gedächtnis ihrem Träume folgt, sich selbst hören, sehen und beurteilen und kann den Eindruck abschätzen, den sie hervorrufen wird. Sie ist in diesem Augenblick ein Doppelwesen : die kleine Clairon und die große Agrippina.313
Am Beispiel der Clairon erklärt Diderot, dass die Arbeit des Schauspielers damit beginne, sich ausgehend vom dramatischen Text sowie auf der Grundlage des »Studiums S. 315–323. S. 318. Vgl. auch Soëtard, Michel (2012) : Jean-Jacques Rousseau. Leben und Werk. München : Beck. S. 32–45. 313 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 485 f. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 9 f.: « Quel jeu plus parfait que celui de la Clairon ? […] Sans doute elle s’est fait un modèle auquel elle d’abord cherché à se conformer ; sans doute elle a conçu ce modèle le plus haut, le plus grand, le plus parfait qu’il lui a été possible ; mais ce modèle qu’elle a emprunté de l’histoire, ou que son imagination a créé comme un grand fantôme, ce n’est pas elle ; si ce modèle n’était que de sa hauteur, que son action serait faible et petite ! Quand, à force de travail, elle a approché de cette idée le plus près qu’elle a pu, tout est fini ; se tenir ferme là, c’est une pure affaire d’exercice et de mémoire. […] Je ne doute point que la Clairon n’éprouve le tourment du Quesnoy dans ses premières tentatives ; mais la lutte passée, lorsqu’elle s’est une fois élevée à la hauteur de son fantôme, elle se possède, elle se répète sans émotion. Comme il nous arrive quelquefois dans le rêve, sa tête touche aux nues, ses mains vont chercher les deux confins de l’horizon ; ses essais l’ont fixé sur elle. Nonchalamment étendue sur une chaise longue, les bras croisés, les yeux fermés, immobile, elle peut en suivant son rêve de mémoire, s’entendre, se voir, se juger les impressions qu’elle excitera. Dans ce moment elle est double : la petite Clairon et la grande Agrippine. »
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der menschlichen Natur«314 (étude de la nature humaine), den Eindrücken, Erinnerungen und Erkenntnissen ein ideelles Modell der Rolle – das Phantom – zu entwerfen, dem er sich durch »Einstudierung (études)«315, langes Proben und zuweilen durch jahrelange Erfahrung in seinem Bühnenspiel anzugleichen versuche und die Wirksamkeit und Überzeugungskraft seiner Körpertechniken stetig durch eine Selbstbeobachtung experimentell erprobe : »Bevor der Darsteller auf der Bühne die Worte ausspricht«, schreibt Diderot, »hat er sich lange Zeit selbst zugehört.«316 Das so erwirkte Schauspiel gleiche nicht dem gewöhnlichen Schauspiel in der Gesellschaft, »da sich doch auf der Bühne nichts genauso abspielt wie in der Natur«317. Der Umstand, dass ein Schauspieler zu verschiedenen Zeitpunkten sein Rollenspiel unverändert abrufen und wiederholen könne, er wie im Traum agiere, liege darin begründet, dass er im Akt des Schauspielens aufhöre, er selbst zu sein. Der Schauspieler »ist nicht diese oder jene Person, er spielt sie nur und spielt sie so gut, daß Sie ihn mit ihr verwechseln.«318 Diese »Selbstverleugnung«319 (abnégation de soi) und »unbegreifliche Spaltung des eigenen Selbst«320 (incompréhensible distraction de soi) sei nur einem »Kopf von Eisen«321 (tête de fer) möglich. Auch der Musiker sei zu dieser Aufspaltung in der Lage. In seinen Elements de physiologie notiert Diderot unter der Überschrift L’homme double, animal et homme : Ein Musiker sitzt am Klavier ; er plaudert mit seinem Nachbarn, die Plauderei fesselt ihn, er vergißt, daß er in einem Konzert mitwirkt ; dennoch bleiben seine Augen, sein Gehör und seine Finger miteinander in Einklang. Keine falsche Note, kein unpassender Akkord, keine vergessene Pause, nicht der geringste Verstoß gegen den Rhythmus, den Stil und das Tempo. Die Plauderei hört auf, unser Musiker kehrt zu seiner Partitur zurück, und schon 314 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 485. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 8. 315 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 484. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 8. 316 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 488. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 15 : « [C]’est qu’avant de dire […], l’acteur s’est long-temps écouté lui-même […]. » 317 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 482. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 4 : « [R]ien ne se passe exactement sur la scène comme en nature […]. » 318 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 489. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 16 : « [M]ais il n’est le personnage, il le joue si bien que vous le prenez pour tel […]. » 319 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 493. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 23. 320 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 493. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 23. 321 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 493. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 23.
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verliert er den Kopf : er weiß nicht, wo er ist ; der Mensch ist verwirrt, das Lebewesen ist aus der Fassung gebracht. Wenn die Ablenkung des Menschen einige Minuten länger gedauert hätte, so hätte das Lebewesen das Konzert bis zum Schluß begleitet, ohne daß der Mensch es bemerkt hätte.322
Durch eine Irritation wird der Musiker in Diderots Anekdote auf sich selbst zurückgeworfen und verliert die Beherrschung über sein Spiel. Indem der Schauspieler auf der Bühne diese Gewalt über sich, seine Erinnerungen und seinen Körper behalte, besäße er zugleich die Gewalt über die Empfindungen des Publikums : »Nicht der heftige Mensch, der außer sich ist, hat Gewalt über uns ; das ist vielmehr das Vorrecht des Menschen, der sich selbst in der Gewalt hat.«323 Die empfindsamen Menschen, zu denen sich auch Diderot selbst zählte, sollen dem Schauspieler bloß Gegenstand seiner Studien sein, zum Berufsschauspieler seien sie aber ungeeignet. Indem Diderot so den »Schauspieler von Natur (comédien de nature)«324, den Empfindungsschauspieler, der seine eigenen Empfindungen in der schauspielerischen Gestaltung aufgehen lasse, als Dilettanten abwertet und den Reflexionsschauspieler als den eigentlichen Virtuosen feiert, widerspricht er nicht nur SainteAlbines schauspieltheoretischen Annahmen, sondern negiert nun vollends seine frühere These, dass das künstlerische und schauspielerische Genie einer besonders ausgeprägten sensibilité bedürfe. Im Gegenteil, für die Nachahmung der Natur bedürfe der Schauspieler einer strengen Beobachtungsgabe und Urteilskraft aber keiner Empfindsamkeit : Ich verlange von ihm sehr viel Urteilskraft ; für mich muß dieser Mensch ein kühler und ruhiger Beobachter sein ; ich verlange daher von ihm Scharfblick, nicht aber Empfindsamkeit, verlange die Kunst, alles nachzuahmen, oder – was auf dasselbe hinausläuft – eine gleiche Befähigung auf alle möglichen Charaktere und Rollen.325
322 Diderot, Denis (1967) : Elemente der Physiologie. S. 608 f. Vgl. auch Diderot, Denis (1875) : Œuvres complètes de Diderot, Tome IX. S. 271 : « Un musicien est au clavecin ; il cause avec son voisin, las conversation l’intéresse, il oublie qu’il fait sa partie dans un concert, cependant ses yeux, son oreille et ses doigts n’en sont pas moins d’accord entre eux ; pas une fausse note, pas un accord déplacé, pas un silence oublié, pas la moindre faute contre le mouvement, le goût et la mesure. La conversation cesse, notre musicien revient à sa partition, sa tête est perdue, il ne sait où il en est ; l’homme est troublé, l’animal est dérouté. Si la distraction de l’homme eût duré quelques minutes de plus, l’animal eût suivi le concert jusqu’ à la fin sans que l’homme s’en fût douté. » 323 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 487. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 11 « Ce n’est pas l’homme violent qui est hors de lui-même qui dispose de nous ; c’est un avantage réservé à l’homme qui se possède. » 324 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 482. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 4. 325 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 484. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 7 : « Moi, je lui veux beaucoup de jugement ; il me faut dans cet homme un spectateur froid et tranquille ; j’en exige, par conséquent, de la pénétration et nulle
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Die Bedingung dafür, alle Charaktere und Rollen meisterhaft nachahmen und spielen zu können, sieht Diderot in der Charakterlosigkeit des Schauspielers. Hervorragend sei ein Schauspieler dann, wenn er von Natur aus nichts sei, weil dann »seine eigene Gestalt niemals fremden Gestalten widerspricht, die er annehmen muß.«326 Diderot nimmt den Vorwurf der Charakterlosigkeit der Schauspieler,327 den auch Rousseau vorbringt, auf und deutet ihn als unbestimmte Plastizität um. Während Diderots Theaterreformen zwar zunächst ohne Erfolg blieben, zeigt seine Begeisterung für das Schauspiel der Clairon aber doch, wie sehr er dem Theater zugeneigt blieb. Rousseau als gefeierter Bühnenautor wandte sich hingegen vom Theater ab. Das, was Diderot an der Clairon bemerkenswert fand, ihre Fähigkeit zur Aufspaltung in ein »Doppelwesen«328 – in die kleine Clairon und die große Agrippina – gilt Rousseau wiederum als Ausdruck gesellschaftlich bedingter Selbstentfremdung. Die »Doppelwesen«329 (hommes doubles) sind für Rousseau das zweifelhafte Ergebnis eines Modernisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses, den er zum ersten Mal in seinem Discours sur les sciences et les arts aus dem Jahr 1750 kritisch diskutiert. D’Alemberts Artikel Genève im siebten Band der Encyclopédie aus dem Jahr 1757, in dem er die Errichtung eines Theaters in Genf – Rousseaus Heimatsstadt, in der seit 1617 die Aufführung von Theaterstücken untersagt war – vorschlägt, nimmt Rousseau ein Jahr später nicht nur zum Anlass, seine kulturkritisensibilité, l’art de tout imiter, ou ce qui revient au même, une égale aptitude à toutes sortes de caractères et de rôles. » 326 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 509. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 50 : « Et peut-être est-ce parce que qu’il n’est pas rien qu’il est tout par excellence, sa forme particulière ne contrariant jamais les formes étrangères qu’il doit prendre. » 327 »Man hat behauptet, die Schauspieler hätten deshalb keinen Charakter, weil sie alle Charaktere spielten und dabei den Charakter verlören, den ihnen die Natur verliehen hätte, und sie würden dadurch charakterlos, wie der Arzt, der Chirurg und der Fleischer hart werden. Ich glaube, daß man dabei Ursache und Wirkung verwechselt hat und daß die Schauspieler nur deshalb alle Charaktere zu spielen vermögen, weil sie keinen Charakter haben« (Diderot 1967 : 516). – « On a dit que les comédiens n’avaient aucun caractère, parce qu’en les jouant tous ils perdaient celui que la nature leur avait donné, et qu’ils devenaient faux, comme le médecin, le chirurgien et la boucher deviennent durs. Je crois qu’on a pris la cause pour l’effet, et qu’ils ne sont propres à les jouer tous que parce qu’il n’en ont point » ([Diderot] 1830 : 61). 328 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 486. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 10 : « Dans ce moment elle est double : la petite Clairon et la grande Agrippine. » 329 Rousseau, Jean-Jacques (1963) : Emile oder Über die Erziehung [1762]. Stuttgart : Reclam. S. 114. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome VII : Écrits pédagogiques I. Édition critiques par Tanguy L’Aminot. Genève : Slatkine. S. 316. – Vgl. hierzu auch Hansmann, Otto (2014) : Logik der Paradoxie. Jean-Jacques Rousseaus Paradoxien im Spannungsfeld von Philosophie, Pädagogik und Politik. Würzburg : Königshausen und Neumann. Vgl. dazu auch Spaemann, Robert (2004) : Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne. Stuttgart : Klett-Cotta.
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schen Thesen in seinem Lettre à M. d’Alembert auf das Theater auszuweiten, sondern auch mit Diderot und d’Alembert endgültig zu brechen. Dabei war es Diderot, der Rousseau dazu ermutigte, ein eigenes Antwortschreiben auf die Preisfrage der Académie de Dijon, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, einzureichen. Auf die Frage stieß Rousseau im Jahr 1749, als er auf dem Fußweg nach Vincennes, wo er seinen inhaftierten Freund Diderot besuchen wollte, eine Rast einlegte und im Mercure de France blätterte. Den Moment, als Rousseau auf die Preisfrage stieß und ihn die Einsicht traf, dass der moralisch-praktische und wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Geschichte der Menschheit nicht, wie die meisten Aufklärer seiner Zeit propagierten, Hand in Hand gingen, sondern auseinanderliefen, schildert er rückblickend in seinem Brief vom 12. Januar 1762 an seinen Freund und Gönner Guillaume Lamoignon de Malesherbes : Wenn je etwas einer plötzlichen Eingebung glich, so ist es die Bewegung, die sich bei dieser Lektüre in mir vollzog. Auf einmal fühle ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, Massen von lebhaften Gedanken boten sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung stürzte ; ich fühlte, wie mein Kopf von einem Schwindel ergriffen wird, wie bei einem Rausch. Ein heftiges Herzklopfen macht mich beklommen, hebt meine Brust, und da ich im Gehen nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Weg hinsinken und verharre dort eine halbe Stunde so erschüttert, daß meine Weste naß war von Tränen, ohne gemerkt zu haben, daß ich welche vergossen hatte.330
Der deutsche Maler Januarius Zick hielt diesen Moment in seinem Bild Rousseaus Erleuchtungserlebnis fest. Am Fuße eines Baumes im Park von Vincennes zusammengesunken blickt Rousseau auf sein tränenbeflecktes Hemd, hält in der linken Hand die Ausgabe des Mercure de France und greift mit der rechten an seine Brust. Mit dieser Bildgestaltung erzeuge Zick, so die Kunsthistorikern Iris Wenderholm, eine Analogie zum Konversions-
330 Rousseau, Jean-Jacques (2012) : An Guillaume Lamoignon de Malesherbes [12.01.1762]. In : Ich sah eine andere Welt. Philosophische Briefe. Ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. München : Hanser. S. 117–141. S. 124 f. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome XIX : Lettres. Tome 2. 1759–1762. Édition critiques par Jean-Daniel Candaux et Frédéric S. Eigeldinger. Genève : Slatkine. S. 1015 f.: « Si jamais quelque chose a ressemblé à une inspiration subite, c’est le mouvem[en]t qui se fit en moi à cette lecture ; tout à coup je mes sens l’esprit ébloui de mille lumières ; des foules d’idées vives s’y présentèrent à la fois avec une force et une confusion qui me jeta dans un trouble inexprimable ; je sens ma tête prise par un étourdissement semblable à l’ivresse. Une violente palpitation m’oppresse, soulève ma poitrine ; ne pouvant plus respirer en marchant, je me laisse tomber sous un des arbres de l’avenue, et j’y passe une demie heure dans une telle agitation qu’en me relevant j’aperçois tout le devant de ma veste mouillé de mes larmes sans avoir senti que j’en répandais. »
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erlebnis Augustinus’ im Garten von Mailand, das den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben markierte. In der Darstellungstradition dieses Ereignisses wird Augustinus üblicherweise an einem Baum lehnend und Tränen vergießend mit einem Buch in der Hand gezeigt. Rousseau suggerierte diese Bezugnahme freilich selbst, indem er seine Selbstbiographie in Anlehnung an Augustinus als Confessions betitelte.331 In Zicks Bild komme, so Horst Bredekamp, das Motiv des »Philosophen am Scheideweg«332 zum Tragen. Denn in seinem Antwortschreiben, das Rousseau auf dieses vermeintliche Erleuchtungserlebnis hin verfasst, wird er die Selbstgewissheiten und Erscheinungsformen der Aufklärung und ihrer Vertreter radikal infrage stellen und diese kulturkritische Haltung zur ›neuen‹ Grundlage seines philosophischen Denkens machen. In seinem Discours sur les sciences et les arts heißt es : Bevor die Kunst unsere Manieren geformt hatte und unsere Leidenschaften eine geschickte Sprache sprechen lernten, waren unsere Sitten ländlich, aber natürlich. […] Im Grunde war die menschliche Natur nicht besser, aber die Menschen fanden ihre Sicherheit darin, daß sie ohne Mühe durchschauten, was sie voneinander zu halten hatten. […] Heutzutage, wo scharfsinnige Untersuchungen und ein verfeinerter Geschmack die Kunst zu gefallen auf Prinzipien zurückgeführt haben, herrscht in unseren Sitten eine verächtliche Uniformität. […] Unaufhörlich zwingt die Höflichkeit, gebietet die Wohlerzogenheit, unaufhörlich folgt man dem Brauch, nie seiner Eingebung. Man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist.333
Der aufklärerischen und geschichtsoptimistischen These, dass mit dem wissenschaftlichtechnischen auch ein moralisch-praktischer Fortschritt verbunden sei, widerspricht Rousseau vehement. Die höflichen und galanten Verhaltensweisen, die durch die Kunst ge331 Vgl. Wenderholm, Iris (2010) : Verwirrung, Schwindel, Herzklopfen. Januarius Zick malt das Erleuchtungserlebnis von Jean-Jacques Rousseau. In : Zeitschrift für Kunstgeschichte, 73 Jg. Heft 3. S. 413–432. S. 426. 332 Bredekamp, Horst (2012) : Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Berlin : Wagenbach. S. 40. 333 Rousseau, Jean-Jacques (1995) : Über Kunst und Wissenschaft [1750]. In : Jean-Jacques Rousseau. Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übersetzt und hrsg. von Kurt Weigand. Hamburg : Meiner. S. 1–59. S. 11. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome IV : Écrits politiques et économiques 1. Édition critiques par Tanguy L’Aminot. Genève : Slatkine. S. 401 f.: « Avant que l’art eût façonné nos manières et appris à nos passions à parler un langage apprêté, nos mœurs étaient rustiques, mais naturelles ; […] La nature humaine, au fond, n’étaient pas meilleure ; mais les hommes trouvaient leur sécurité dans la facilité de se pénétrer réciproquement ; […] Aujourd’hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l’art de plaire en principes, il règne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité […] ; sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne ; sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. On n’ose plus paraître ce qu’on est ».
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst Abb. 8 Zick, Januarius (1770) Rousseaus Erleuchtungserlebnis. Öl auf Kupfer, 47,4 × 38 cm. Schaffhausen : Museum zu Allerheiligen.
formten Manieren, die er in den Pariser Salons beobachten konnte, versteht er nicht als Ausdruck fortgeschrittener Sittlichkeit, sondern als Formen der Koketterie, Verstellung und Falschheit : »Der Mensch der Gesellschaft«, schreibt Rousseau im Émile, »existiert gänzlich in seiner Maske. Da er fast niemals in sich selber lebt, ist er sich selbst immer fremd und fühlt sich unbehaglich, wenn er gezwungen wird, sich auf sich selbst zu besinnen. Was er ist, gilt ihm nichts ; was er scheint, gilt ihm alles.«334 Diesem Zustand der gesellschaftlichen Selbstentfremdung sowie der gesellschaftlichen Verstellungskunst, welche für Rousseau typische Phänomene höfischer und städtischer Dekadenz sind, hält er das unverstellte Verhalten der ländlichen Bevölkerung entgegen. Die Errichtung eines Schauspielhauses würde, wie er mit seinem Gedankenexperiment im Lettre à M. d’Alembert am Beispiel des in den Alpen lebenden Bergvolks der Montagnons zeigen will, diese unverstellte Echtheit der ländlichen Bevölkerung verderben und ihre Dorfgemeinschaft in eine städtische Salon-Gesellschaft verwandeln. »Das Theater«, schreibt Rousseau im vierten 334 Rousseau, Jean-Jacques (1963) : Emile oder Über die Erziehung. S. 475. Vgl auch Rousseau, JeanJacques (2012) : Œuvres complètes, Tome VII. S. 616 : « L’homme du monde est tout entier dans son masque. N’étant presque jamais en lui-même, il y est toujours étranger, et mal à son aise quand il est forcé d’y rentrer. Ce qu’il est n’est rien, ce qu’il paraît est tout pour lui. »
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Buch des Émile, »ist nicht für die Wahrheit geschaffen ; es ist dafür geschaffen, den Menschen zu schmeicheln und sie zu erheitern ; es gibt keine Schule, wo man so gut die Kunst erlernt, ihnen zu gefallen und das menschliche Herz zu gewinnen.«335 Die Gefahr, die die Errichtung eines solchen Schauspielhauses für die ursprüngliche Authentizität der ländlichen – und der Genfer – Bevölkerung habe, sieht Rousseau in einer möglichen Selbstentfremdung oder gar in einem drohenden Selbstverlust, im Außer-sich-Sein der Darsteller und Zuschauer. Die Tätigkeit des Schauspielers, »sich zu verstellen, einen anderen als den eigenen Charakter anzunehmen, anders zu erscheinen, als man ist«336, fordere von ihm nämlich sein Selbst – und damit, so Rousseau, nicht weniger als sein Mensch-Sein – aufzugeben : »Eine Mischung aus Niedrigkeit, Falschheit, von lächerlichem Dünkel und würdeloser Gemeinheit«, die den Schauspieler befähige, »alle Arten von Rollen zu spielen außer der edelsten, die er aufgibt, außer der des Menschen.«337 Das Außer-sich-Sein des Schauspielers, seine Nicht-Identität birgt für Rousseau die Gefahr, dass der Schauspieler sich selbst und seine Bewunderer davon überzeugen könne, die eigene Existenz außerhalb des Theaters als bloßes Rollenspiel zu begreifen, sein Selbstsein zugunsten eines gesellschaftlichen Rollenverhaltens aufzugeben. Weder der antike Redner, der seine politischen Überzeugungen nicht nur vertrete, sondern für sie eintrete, noch die Schauspieler der antiken Polis – die allesamt Bürger dieser Polis waren – seien, so Rousseau, der Gefahr ausgeliefert gewesen, durch ihr öffentliches Auftreten sich selbst oder ihre Zuschauer davon zu überzeugen, die eigene Existenz abseits der Bühne als bloßes Rollenspiel zu begreifen. Rousseau ist sich indessen bewusst, dass in der modernen Gesellschaft, deren Zukunft unvorhersehbar erscheint, in der sich Normen, Werte, Institutionen und Formen des Zusammenlebens durch wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Erfindungen und politische Reformen stetig wandeln, eine Identität von personaler und soziopolitischer Existenz wie in der antiken Polis nicht mehr glücken könne. Die zunehmende und sich beschleunigende gesellschaftliche Ausdifferenzierung in 335 Rousseau, Jean-Jacques (1963) : Emile oder Über die Erziehung. S. 698. Vgl auch Rousseau, JeanJacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome VIII : Écrits pédagogiques 2. Édition critiques par Tanguy L’Aminot et Marie-Hélène Cotoni. Genève : Slatkine. S. 805 : « Le théâtre n’est pas fait pour la vérité ; il est fait pour flatter, pour amuser les hommes ; il n’y a point d’école où l’on apprenne si bien l’art de leur plaire et d’intéresser le cœur humaine. » 336 Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. S. 414. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes, Tome XVI : Théâtre. Écrit sur le Théâtre. Édition critiques par Alain Cernuschi, Patrick Coleman, Marie-Emmanuelle Plagnol-Diéval et al. Genève : Slatkine. S. 561 : Das Talent der Schauspieler besteht in der Kunst, « de se contrefaire, de revêtir un autre caractère que le sien, de paraître différent de ce qu’on est ». 337 Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. S. 414. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes, Tome XVI. S. 562 : « Un mélange de bassesse, de fausseté, de ridicule orgueil, et d’indigne avilissement, qui le rend propre à toutes sortes de personnages, hors le plus noble de tous, celui d’homme qu’il abandonne. »
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der Moderne erschwert es dem Individuum nicht nur, die zum Teil disparaten Anforderungen der arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft in sich widerspruchsfrei zu integrieren, sondern erweist sich ferner als Ausdruck eines sich seit der neuzeitlichen Stufe der Technizität und Rationalität vollziehenden Schwunds an einer sinnstiftenden kosmologischen Gesamtordnung.338 Die Möglichkeit einer praktischen Umkehrung dieser Prozesse steht für Rousseau völlig außer Frage. Günther Buck findet hierfür eindrückliche Worte : »Wiedergewonnene Identität als Resultat einer absichtsvollen Zurücknahme der Selbstentfremdung ist für Rousseau kein faktisch erreichbares Strebensziel ! Der Gang der Geschichte ist im ganzen irreversibel.«339 Gleichwohl spekuliert Rousseau über die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Identität. Im Contract social entwirft er ein Gemeinwesen, in dem der Wille des Einzelnen nicht durch den Willen eines anderen oder der Gesamtheit der anderen überformt werde, sondern der Einzelwille mit sich im volonté générale identisch bleibe. Dieser Entwurf ist hypothetisch, weil Rousseaus ihn nicht beim selbstentfremdeten, beim durch die Gesellschaft korrumpierten Menschen der Gegenwart beginnen lässt. Rousseau geht vielmehr von freien Menschen aus, die aus vernünftigen Gründen einen Vertrag abschließen, in welchem alle Vertragspartner sich gegenseitig die gleichen Rechte gegenüber einander einräumen und somit ihre Freiheit nicht dem Willen eines Einzelnen unterwerfen, sondern jeweils sich selbst dem allgemeinen Willen, dem volonté générale unterordnen. Einen solchen Gesellschaftsvertrag können nur freie Menschen eingehen, die nicht durch die Gesellschaft korrumpiert und entfremdet wurden. Ihre Erziehung beschreibt Rousseau im Émile als eine rein negative. Unter negativer Erziehung versteht Rousseau erstens eine nicht-ständische Erziehung, die die Heranwachsenden nicht für bestimmte Berufe und gesellschaftliche Rollen vorbereitet oder entsprechend ihrer sozialen Herkunft behandelt, zweitens eine nicht-direktive und nicht-instruktive Erziehung, die auf Belehrung, Beschämung oder Bestrafung verzichtet, sowie drittens eine nicht-teleologische Erziehung, die weder durch Zeitpläne, ehrgeizige Ziele oder andere Zwangsmaßnahmen bestimmte Erziehungsziele verfolge.340 Da das Theater, so Rousseau, unnatürliche Bedürfnisse wie Geltungssucht und Luxusstreben schüre, die Selbstgenügsamkeit störe und eine sich mit anderen vergleichende, kompetitive Lebensweise fördere, rät Rousseau von der Einrichtung eines Schauspielhauses in Genf ab. Stattdessen empfiehlt er einheitsstiftende Feste zu veranstalten :
338 Vgl. Zumhof, Tim (2015) : »Die emsige Arbeit am Bilde« – Anmerkungen zum ›geschichtlichen Unrecht‹ in der Begriffsgeschichte der Bildung im Anschluss an Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit. In : Hans Blumenberg : Pädagogische Lektüren. Hrsg. von Frank Ragutt und Tim Zumhof. Berlin : Springer. S. 225–238. 339 Buck, Günther (1984) : Rückwege aus der Entfremdung. S. 165. 340 Vgl. Zumhof, Tim (2014) : Der pädagogische Rousseau. In : Rousseau zur Einführung. Hrsg. von Ursula Reitemeyer und Tim Zumhof. Münster : Lit. S. 23–59. S. 45.
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Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser : stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.341
Diesen Volksfesten und sportlichen Wettbewerben, die Rousseau hier vor Augen hat, seien sowohl jegliche Formen der Verstellung fremd als auch die Aufteilung in Darsteller und Zuschauer. Alle Beteiligten seien hier ganz bei sich. Der Contract social, der Émile und der Lettre à M. d’Alembert sollten aber nicht als praktische Anleitungen zur Einrichtung eines Staatswesens, zur Erziehung von Kindern oder zur Veranstaltung kultureller Feste missverstanden werden, weil sie als Gedankenexperimente lediglich spekulativ Geltung beanspruchen. Gleichwohl versucht Rousseau in seinen Confessions, die sich wie ein Schlüssel zu seinem Gesamtwerk lesen lassen,342 durch eine schonungslose Offenheit und Selbsttransparenz einen literarischen Ausdruck von Authentizität vorzulegen. In seinen Confessions, die nicht wie Augustinus’ Bekenntnisse die Gottfindung, sondern die Selbstfindung zum Thema haben,343 behauptet Rousseau, ein glückendes Selbstsein zeigen zu können : Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur [verité de la nature] zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, daß ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders.344
So wie Rousseau im Émile sein Alter Ego Jean-Jacques als einen hypothetischen Erzieher konzipiert, der trotz autobiographischer Züge eine Kunstfigur bleibt, so erweist sich 341 Rousseau, Jean-Jacques (1978) : Brief an Herrn d’Alembert. S. 462 f. Vgl. auch Rousseau, JeanJacques (2012) : Œuvres complètes, Tome XVI. S. 610 : « Plantez au milieu d’une place un piquet couronné de fleurs, rassemblez-y le peuple, et vous aurez une fête. Faites mieux encore : donnez les spectateurs en spectacle ; rendrez-les acteurs eux-mêmes ; faites que chacun se voie et s’aime dans les autres, afin que tous en soient mieux unis. » 342 Vgl. Hansmann, Otto (2014) : Vom Menschen über Erziehung zum Bürger. Vorlesungen zu Rousseaus Anthropologie, Pädagogik und Staatsphilosophie. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 12–34. 343 Vgl. Reitemeyer, Ursula (2014) : Rousseau : Leben und Werk. In : Rousseau zur Einführung. Hrsg. von Ursula Reitemeyer und Tim Zumhof. Münster : Lit. S. 7–21. S. 19. 344 Rousseau, Jean-Jacques (1985) : Bekenntnisse. S. 37. Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes. Édition Thématique du tricentenaire. Sous la direction de Raymond Trousson et Frédéric S. Eigeldinger, Tome I : Œuvres autobiographiques. Les Confessions 1. Livres I–VIII. Édition critiques par Raymond Trousson. Genève : Slatkine. S. 67 : « Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature ; et cet homme ce sera moi. Moi seul. Je sens mon cœur et je connais les hommes. Je ne suis fait comme aucun de ceux que j’ai vus ; j’ose croire n’être fait comme aucun de ceux qui existent. Si je ne vaux pas mieux, au moins je suis autre. »
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letztlich auch das erzählende Ich in seinen Confessions als eine literarische Inszenierung : Das »Ich ist künstlich und zum Täuschen echt.«345 Schon das in seinem Brief an Malesherbes vom 12. Januar 1762 geschilderte Erleuchtungserlebnis – der Moment, als er von der Preisfrage der Académie de Dijon erfuhr und angeblich herzklopfend und mit tränendurchnässtem Hemd unter einem Baum zusammensank – erkannten bereits seine Zeitgenossen als eine literarische Selbst-Inszenierung. Der Schriftsteller Jean-François Marmontel, der ebenfalls an der Encyclopédie mitwirkte, bemerkt nüchtern : »Voilà une extase éloquemment décrite«346 – ein redegewandt beschriebener Rausch. Diderot fragt daher zu Recht, gleichwohl ohne sich auf Rousseaus Versuche literarischer Selbsttransparenz zu beziehen : »Gibt es eine künstliche Empfindsamkeit ?«347 Diderot erkannte, dass der Mensch in der Gesellschaft auch dort, wo er natürlich, spontan und authentisch sei, stets Schauspieler bleibe : »Die hitzigen, heftigen, empfindsamen Menschen sind immer wie auf der Bühne ; sie geben ein Schauspiel, aber sie genießen es nicht.«348 Sie können es nicht genießen, weil sie sich ihres Spiels nicht bewusst sind, sondern lediglich ihr Inneres öffentlich zur Schau stellen – so wie ein Empfindungsschauspieler, wie die Dumesnil, die sich auf die Bretter begibt, »ohne zu wissen, was sie sagen wird«349. Dort, wo aber ein innerer Impuls – Diderot spricht von dem »unverfälschten Schrei des Herzens«350 (cri de son cœur) – bewusst gemäßigt oder verstärkt werde, ließe sich bereits von einem Reflexionsschauspieler wie der Clairon sprechen. Dieser Schauspieler weint wie ein ungläubiger Priester, der über die Passion predigt ; wie ein Verführer zu Füßen einer Frau, die er nicht liebt, die er jedoch täuschen will ; wie ein Bettler auf der Straße oder am Portal einer Kirche, der Sie beschimpft, wenn er sieht, daß es ihm nicht gelungen ist, Sie zu rühren ; oder wie eine Kurtisane, die nichts empfindet, aber in ihren Armen die Besinnung verliert.351 345 Gebauer, Gunter & Wulf, Christoph (1992) : Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft. Hamburg : Rowohlt. S. 294. 346 Marmontel, Jean-François (1828) : Œuvre de Marmontel, Tome XI : Mémoires d’un père 1. Paris : Étienne Ledoux. S. 426. 347 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 510. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 51 : « Est-ce qu’il y a une sensibilité artificielle ? » 348 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 487. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 12 : « Les hommes chauds, violens, sensibles, sont en scène ; ils donnent le spectacle, mais ils n’en jouissent pas. » 349 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 486. Vgl auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. Ouvrage posthume de Diderot. Paris : A. Sautelet et Compagnie. S. 11 : « Elle monte sur les planches sans savoir ce qu’elle dira » 350 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 505. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 43. 351 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 489 f. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 16 f.: Der Schauspieler « pleure comme un prêtre incrédule qui prêche la Passion ; comme un séducteur aux genoux d’une femme qu’il n’aime pas, mais qu’il veut
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Diese Schauspieler in der »Komödie der Welt«352 (comédien du monde) agieren wie die Clairon auf der Theaterbühne, indem sie eine reflexive Distanz zwischen sich als Rollenträger und ihrer Rollenfigur, die sie spielen, aufbauen : »Sagt man nicht bisweilen auch in der Gesellschaft«, schreibt Diderot abschließend, »ein Mensch sei ein großer Schauspieler ? Darunter versteht man nicht, daß er empfinde, sondern im Gegenteil, daß er hervorragend simuliere, obgleich er nichts empfinde.«353 Die von Diderot anerkennend und von Rousseau kritisch konstatierte Selbstverdoppelung des Schauspielers auf und jenseits der Bühne in Rollenträger und Rollenfigur ist jeweils in der perfektiblen Natur des Menschen begründet. Unter der Perfektibilität versteht Rousseau die, so formuliert es Otto Hansmann, »naturteleologisch nicht finalisierte Fähigkeit, sich selbst zu befähigen«354. Es ist kein Fähigkeitskanon, den der Mensch von Natur aus mitbringe, sondern die individual- und gattungsgeschichtliche Disposition, im Umgang mit der Um- und Mitwelt sukzessiv Fähigkeiten auszubilden. Als offen und unbestimmt beschreibt Rousseau diese Pluripotenz, weil wir nicht wissen können, »was unsere Natur uns zu sein erlaubt«355 (que notre nature nous permet d’être). Diderot, der Rousseaus Vorwurf der Charakterlosigkeit der Schauspieler aufgreift und als autoplastisches Potential umdeutet und aufwertet, bestimmt das Subjekt der (schauspielerischen) Nachahmung geradezu als »subjektloses Subjekt, ein Subjekt nämlich, dessen Subjektivität sich erst in der und durch die Nachahmung bildet.«356 Die bestimmungsoffene Natur des Menschen ermöglicht ihm also nicht nur im Umgang mit sich, mit anderen und der Welt, Fähigkeiten auszubilden, sondern macht es geradezu erforderlich, auf diese Weise seine Unbestimmtheit in eine Bestimmtheit zu überführen, um so überhaupt erst zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was er ist und was er will. Während Rousseau die Nachahmung gesellschaftlicher (oder dramatischer) Rollen aber als Hindernis und Gefährdung im Prozess dieser Selbstbestimmung zu einem möglichen, glückenden Selbstverhältniss deutet, ist Diderot der Ansicht, dass ein Selbst-Bewusstsein gar nicht durch den Bezug auf sich selbst hergestellt werden könne – denn am »wenigsten kennen wir uns selbst«357. Im Brief über die Taubstummen schreibt er, dass er – wie Descartes in seinen Meditationes – tromper ; comme un gueux dans la rue ou à la porte d’une église, qui vous injurie lorsqu’il désespère de vous toucher ; ou comme une courtisane qui ne sent rien, mais qui se pâme entre vos bras. » 352 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 488. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 13. 353 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 538. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 101 : « Ne dit-on pas dans le monde qu’un homme est un grand comédien ? On n’entend pas par là qu’il sent, mais au contraire qu’il excelle simuler, bien qu’il ne sente rien ». 354 Hansmann, Otto (2012) : Vom Menschen über Erziehung zum Bürger. S. 80. 355 Rousseau, Jean-Jacques (1963) : Emile oder Über die Erziehung. S. 156. Vgl. auch Rousseau, JeanJacques (2012) : Œuvres complètes, Tome VII. S. 354. 356 Rebentisch, Juliane (2012) : Die Kunst der Freiheit. S. 278. 357 Diderot, Denis (1967) : Elemente der Physiologie. S. 681. Vgl. auch Diderot, Denis (1875) : Œuvres complètes de Diderot, Tome IX. S. 346.
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versuchte, sich in sich selbst zurückzuziehen und durch tiefes Nachdenken seinen Geist »in flagranti« (pendre mon esprit sur le fait) zu ertappen. »Mir kam es so vor«, gesteht er, »als müßte man zugleich innerhalb und außerhalb seiner selbst sein und gleichzeitig die Rolle des Beobachters und die der beobachteten Maschine spielen. Aber mit dem Geist verhält es sich wie mit dem Auge : es sieht sich selbst nicht.«358 In dem etwa zeitgleich zum Paradox sur Le Comédien entstandenen und postum veröffentlichten Text Le rêve de D’Alembert entfaltet Diderot die These, dass das Ich nicht wie in einem »cartesianischen Theater«359 Zuschauer und Interpret sinnlicher Eindrücke und eine vom Körper unabhängige Substanz sei – eine solche leib-seele-dualistische Auffassung negiert Diderot vehement. »Self-consciousness, in Diderot’s scheme of things,« erklärt Catherine Glyn Davies, »is always in and of a physical body.«360 Er ist vielmehr der Ansicht, dass das Selbstbewusstsein die emergente Eigenschaft einer fortlaufenden »Organisation«361 (organisation) sinnlicher Wahrnehmungen und Empfindungen seien. Diderot bemüht daher verschiedene Netzmetaphern wie die der »vibrierenden Saiten«362 (cordes vibrantes) eines Musikinstruments, die sich gegenseitig in Schwingung versetzen, oder die einer »Spinne im Zentrum ihres Netzes«363 (une araignée au centre de sa toile), um zu verdeutlichen, dass es im menschlichen Körper eine zentrale Stelle gibt, an der
358 Diderot, Denis (1968) : Brief über die Taubstummen. S. 73. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome IV. S. 198 : « Il m’a semblé qu’il faudrait être tout à la fois au-dedans et hors de soi, et faire en même temps le rôle d’observateur, et celui de la machine obervée. Mais il en est de l’esprit, comme de l’œil ; il ne se voit pas. » 359 Becker, Alexander (2013) : Nachwort. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften. 2. Auflage. Hrsg. und mit einem Nachwort von Alexander Becker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 203–281. S. 246. 360 Davies, Catherine Glyn (1990) : Conscience as Consciousness : the Idea of Self-awareness in French Philosophical Writing from Descartes to Diderot. Oxford : Alden Press (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 272). S. 91. 361 Diderot, Denis (2013) : D’Alemberts Traum. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften. 2. Auflage. Hrsg. und mit einem Nachwort von Alexander Becker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 78–154. S. 85. – In der Ausgabe von 1967 übersetzt Theodor Lücke Diderots Begriff der organisation mit ›organische Einheit‹, was eine naturalistische Lesart nahelegt. In der Suhrkamp-Ausgabe aus dem Jahr 2013, die sich eigentlich auf Lückes Übersetzung stützt, wird der Begriff der organisation aber mit »Organisation« wiedergegeben, wodurch sehr viel deutlicher die Ambivalenz von Diderots »physiologischer und philosophisch-psychologischer Argumentation« (Müller 1998 : 132) erhalten bleibt. Vgl. auch Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert [1769]. In : Denis Diderot. Philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. S. 509–580. S. 516. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XVII : Le Rêve de d’Alembert. Idées IV. Présentée par Jean Varloot. Paris : Hermann. S. 100. 362 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 517. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 101. 363 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 539. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 140.
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alle sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen zusammenlaufen sowie erinnernd wiedergewonnen und miteinander verglichen werden können : Vernunft, Urteilskraft, Einbildungskraft, Wahnsinn, Schwachsinn, Roheit, Instinkt. […] Alle diese Eigenschaften sind nur Folgen des ursprünglichen oder durch Gewohnheit erworbenen Verhältnisses zwischen dem Ursprung des Geflechts und seinen Verzweigungen.364
Die Spinne im Netz – der »Ursprung«365 (origine) des Geflechts – bildet bei der fortlaufenden Vernetzung einen stetigen Bezugspunkt, der aus der Mannigfaltigkeit der Empfindungen und Wahrnehmungen Selbstempfindungen und Wahrnehmungen macht, deren Wahrnehmungsakte sich das wahrnehmende Subjekt selbst zuschreibt. Er ist der unbestimmte Entstehungsort von Subjektivität im Menschen, den Diderot bewusst zwischen einer philosophisch-psychologischen und physiologischen Bestimmung schweben lässt. Unter sensibilité versteht Diderot nun das Verhältnis zwischen dem empfindlichen Geflecht und seinem Ursprung, in dem das Netz die Spinne, die Empfindungen das Subjekt beherrschen. Dieser Zustand der »Anarchie«366 (anarchie), bei der »alle Stränge des Geflechts gegen ihr Oberhaupt rebellieren«367, sei begleitet von Symptomen der Hysterie und Melancholie : Hat ein ergreifendes Wort das Ohr oder eine sonderbare Erscheinung das Auge getroffen, so entsteht plötzlich ein Aufruhr im Innern ; alle Fäserchen des Bündels geraten in Bewegung ; der Schauder verbreitet sich, der Schrecken greift um sich, die Tränen fließen, die Seufzer ersticken, die Stimme versagt ; der Ursprung des Bündels weiß nicht, was los ist ; keine Kaltblütigkeit, keine Vernunft, keine Urteilskraft, kein Instinkt, kein Ausweg mehr.368 364 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 562. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 176 : « La raison, le jugement, L’imagination, la folie, l’imbécillité, la férocité, l’instinct. […] Toutes ces qualités ne sont que des conséquences du rapport originel ou contracté par l’habitude de l’origine du faisceau à ses ramifications. » 365 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 548. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 154. 366 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 557. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 168. 367 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 557 f. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 168 : « [T]ous les filets du réseau sont soulevés contre leur chef ». 368 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 563. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 179 : « Un mot touchant a-t-il frappé l’oreille ? un phénomène singulier a-til frappé l’œil ? et voilà tout à coup le tumulte intérieur qui s’élève, tout les brins du faisceau qui s’agitent, le frisson qui suffoquent, la voix qui s’interrompt, l’origine di faisceau qui ne sait c qu’il devient ; plus de sang-froid, plus de raison, plus de jugement, plus d’instinct, plus de ressource. » – Dieses physiologische Verständnis von Empfindsamkeit drückt auch Martin Ehlers aus : »Die Natur der Sache bringt es mit sich, und die Erfahrung lehrt es, daß die wiederholten starken Erschütterungen des Nervensystems große Nervenschwäche, häufige und
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Auch im Paradox sur Le Comédien stellt er die sensibilité aus einer physiologischen Perspektive als »eine Begleiterscheinung einer Schwäche der Organe, als Folge der Erregbarkeit des Zwerchfells, der Lebhaftigkeit, der Einbildungskraft und der Feinheit der Nerven« dar, die ihren Träger geneigt macht, mitzufühlen, zu erschauern, zu bewundern, zu fürchten, sich zu erregen, zu weinen, ohnmächtig zu werden, zu helfen, zu fliehen, zu schreien, den Verstand zu verlieren, zu übertreiben, zu verachten, zu verschmähen, keinerlei präzise Gedanken vom Wahren, Guten und Schönen zu haben, ungerecht und verrückt zu sein.369
Im Zustand des »Despotismus«370 (despotisme) hingegen, in dem das Subjekt Herr seiner selbst sei – »mentis compos«371 –, erkennt Diderot einen Ausdruck von Selbst-Beherrschung : »Willensstark ist man«, schlussfolgert er, »wenn der Ursprung des Geflechts, sei es durch Erziehung, aus Gewohnheit oder infolge des Körperbaus, die Stränge beherrscht ; schwach dagegen, sobald er von ihnen beherrscht wird.«372 Als Beispiel für eine solche Selbstbeherrschung nennt Diderot wie im Paradox sur Le Comédien die römischen Gladiatoren, die »beim Sterben noch an die Anmut und an die Leibeserziehung dachten«373. zuweilen unaufhörliche Nervenfieber, und heftige von den Nerven bewirkte Erschütterungen des Körpers veranlassen. Empfindsamkeit ist ja das, was unsere Zeit vorzüglich charakterisirt, und das unter Personen von der feinern Welt den Ton angiebt. […] Alles muß diese stärksten Erschütterungen veranlassen, wenn es gefallen soll. Dadurch werden die Nerven weit über ihre natürliche Kraft bewegt und gespannt, und es muß nothwendig ein Zustand der Erschlaffung und der Weichlichkeit darauf folgen, der uns Muth und Kraft zu den gewöhnlichen Geschäften des Lebens raubt, die Gesundheit mindert, und sich auf unsre Nachkommenschaft fortpflanzt« (Ehlers 1790 : 315 f.). 369 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 511. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 52 : Unter sensibilité versteht Diderot hier « cette disposition compagne de la faiblesse des organes, suite de la mobilité di diaphragme, de la vivacité de l’imagination, de la délicatesse des nerfs, qui incline à compatir, à frissonner, à admirer, à craindre, à se troubler, à pleurer, à s’évanouir, à secourir, à fuir, àcrier, à perdre la raison, à exagérer, à mépriser, à dédaigner, à n’avoir aucune idée précise du vrai, du bon et du beau, à être fou. » 370 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 557. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 168. 371 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 557. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 168. 372 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 559. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 170 : « On est ferme, si d’éducation, d’habitude ou d’organisation l’origine du faisceau domine les filets ; faible, au contraire, si elle en est dominée. » 373 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 560. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 172 : Er erinnert sich an « [c]es gladiateurs qui se rappelaient en expirant la grâce et les leçons de la gymnastique ». Vgl auch Diderot, Denis (1967) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 493 : »Der Gladiator der Antike ebenso wie der große Schauspieler und der große Schauspieler ebenso wie der Gladiator der Antike : sie sterben nicht, wie man im Bett stirbt, sondern sie sind gezwungen, uns einen anderen Tod vorzuspielen, um uns
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Wahrscheinlich hatte er hierbei die im 18. Jahrhundert sehr bekannte Skulptur des Sterbenden Gladiators vor Augen.374 In dieser Konstitution, die durch Erziehung, Gewohnheit und eine robuste Physis bedingt sei, erkennt Diderot die Voraussetzung dafür, »ein großer König, ein großer Minister, ein großer Politiker, ein großer Künstler, vor allem ein großer Schauspieler, ein großer Philosoph, Dichter, Musiker oder Arzt«375 zu werden. Erst in diesem Zustand der Selbst-Beherrschung tritt für Diderot das Subjekt deutlich zutage. Dieser Akt, in dem, wie Diderot im Paradox sur Le Comédien schreibt, der unverfälschte Schrei des Herzens gemäßigt oder verstärkt werde,376 gilt für ihn aber auch als erster Akt der Schauspielerei. Ein solches Selbstverhältnis ist für Diderot daher paradoxerweise nur im Moment der schauspielerischen Verstellung möglich, denn das Subjekt werde erst durch die Beherrschung seiner Empfindungen sichtbar. »Wer mit Empfindsamkeit geschlagen ist«, resümiert der Theaterhistoriker Günther Heeg Diderots These, »ist damit, anders als es der Diskurs der Empfindsamkeit behauptet, nicht authentisch und mit sich identisch, sondern außer sich und im eigenen Körper fremd.«377 Gegen diesen Zustand des Außer-sich-Seins und der Selbstentfremdung empfehle Diderot, so Heeg, eine »Steigerung der Entfremdung«378. Ein Beispiel dieser gesteigerten Selbstentfremdung ist Rameaus Neffe aus Diderots gleichnamigen Roman Le Neveu de Rameau, den er zwischen 1761 und 1774 verfasste und der erstmals 1805 postum in einer deutschsprachigen Übersetzung von Goethe379 erschien : »[N]ichts gleicht ihm weniger als er selbst«, heißt es gleich zu Beginn über Rameaus Neffen. Manchmal ist er mager und zusammengefallen, wie ein Kranker auf der letzten Stufe der Schwindsucht ; man würde seine Zähne durch seine Backen zählen ; man sollte glauben, er habe mehrere Tage nichts gegessen oder er käme aus La Trappe. Den nächsten Monat ist er feist und völlig, als hätte er die Tafel eines Financiers nicht verlassen oder als hätte man ihn bei den Bernhardinern in Kost gegeben. Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerriszu gefallen.« Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 22 : « Le gladiateur ancien, comme un grand comédien, un grand comédien, ainsi que le gladiateur ancien, ne meurent pas comme on meurt sur un lit, mais sont tenus de nous jouer une autre mort pour nous plaire ». 374 Die Skulptur des Sterbenden Galliers wurde noch bis ins 18. Jahrhundert fälschlicherweise als ›Sterbender Gladiator‹ bezeichnet. 375 Diderot, Denis (1967) : Gespräche mit d’Alembert. S. 564. Vgl. auch Diderot, Denis (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome XVII. S. 179 : Derjenige, der über eine solche Selbstbeherrschung verfügt, wird ein « grand roi, grand ministre, grand politique, grand artiste, surtout grand comédien, grand philosophe, grand poète, grand musicien, grand médecin ». 376 Vgl. Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 505. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 43. 377 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 103. 378 Ebd. S. 104. 379 Vgl. hierzu Warning, Rainer (2007) : Goethe, Diderot und der ›Neveu de Rameau‹. In : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 81. Jg. Heft 4. S. 522– 545.
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Abb. 9 Statua di Galata morente. Marmor, 93 × 1865 × 89 cm. Rom : Musei Capitolini.
senen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupte, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten.380
Anders als bei Rousseau steht hier nicht das Ideal einer verloren geglaubten Identität im Raum, sondern Diderot hebt vielmehr die Erfahrung der Selbstdifferenz hervor. Hierdurch werde gewiss keine einheitliche Vorstellung von Identität gewonnen, sondern vielmehr eine fortschreitende Bewegung in Gang gesetzt, in der immer wieder aufs Neue infrage gestellt, affirmiert oder neuformuliert wird, was als personale Identität noch Geltung beanspruchen könne. Das Ich enthüllt sich nicht in weltabgewandter Introspektion, son380 Diderot, Denis (1967) : Rameaus Neffe. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 405–480. S. 406. Vgl. auch Diderot, Denis (1989) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XII : Le Neveu de Rameau. Fiction IV. Présentée par Henri Coulet, Roland Desné, Jean Gérard et al. Paris : Hermann. S. 71 : « Rien ne dissemble plus de lui que lui-même. Quelquefois, il est maigre est hâve, comme un malade au dernier degré de la consomption ; on compterait ses dents à travers ses joues. On dirait qu’il a passé plusieurs jours sans manger, ou qu’il sort de la Trape. Le mois suivant, il est gras et replet, comme s’il n’avait pas quitté la table d’un financier, ou qu’il eût été renfermé dans un couvent de bernardins [.] Aujourd’hui, en linge sale, en culotte déchirée, couvert de lambeaux, presque sans souliers, il va la tête basse, il se dérobe, on serait tenté de l’appeler, pour lui donner l’aumône. Demain, poudré, chaussé, frisé, bien vêtu, il marche la tête haute, il se montre, et vous le pendriez au peu près pour un honnête homme. »
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dern zeigt sich konstellativ in der Interaktion mit sich, anderen und der Umwelt. Ohne diese Erfahrung der Differenz kann Selbstbestimmung gar nicht gelingen. Selbstsein gelingt nur in der permanenten Selbstentfremdung.
2.3 »Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Ekhof) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören ?«381 – Die Transformation der Rhetorik und Moralistik zu einer natürlichen Schauspielkunst bei Lessing und Engel Ein allerliebst-gnädiges Paar Kinder, von der Fußsohle bis auf den Scheitel voller Ausdruck von Papa’s Thorheit und Mama’s geschmackloser Eitelkeit. So wie Papa und Mama von ihrer Seite nicht wenig Geisteskraft verschwendet zu haben scheinen, die Oberfläche ihrer Kinder ihrer eigenen ähnlich zu schmücken, so scheint von der seinigen der Informator mit dem ganzen Körper beschäftigt, den Geist der Kinder nach denselben erhabenen Mustern zu modeln.382
So kommentiert Georg Christoph Lichtenberg den von Daniel Chodowiecki angefertigten ersten Kupferstich der Reihe Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens, die im Jahr 1778 und 1779 im Goettinger Taschen-Calender abgedruckt wurde. In Gegensatzpaaren illustriert Chodowiecki hier auf Anregung Lichtenbergs »Scenen aus dem Schauspiel, das wir täglich ansehen, und in welchem wir nicht selten mitspielen«383. Chodowiecki fängt diese ausgewählten Szenen des gesellschaftlichen Umgangs – wie die hier beschriebene Unterrichtssituation – jeweils mit gegensätzlichen Bildpaarungen ein. Einmal zeigt er ein Bild, das ein affektiertes Verhalten vor Augen führt, gleich daneben ein anderes, das einen vermeintlich natürlichen Umgang zum Gegenstand hat. Mit »sanft eindringendem Ernst und fast väterlichem Ansehen«384 steht der Erzieher im zweiten Bild seinen aufmerksamen Zöglingen gegenüber. Dem Jungen seien die Künste zu gefallen, kommentiert Lichtenberg, noch wenig bekannt : Ein »Paar Kleinigkeiten ausgenommen, die ihm die Natur beygebracht hat, ofnes unschuldiges Lächeln und Hände geben.«385 Die zwischen den Bildern angelegte Differenz wird dadurch noch vergrößert, dass die affektierte Unterrichtsszene vor einem Rokokowandtisch stattfindet, auf dem eine chinesische Vase steht und über der ein mit Rocalien verzierter Spiegel hängt. Die Szenerie des natürlichen Unterrichtsgeschehens hingegen entbehrt aller verschnörkelten 381 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 196. 382 Lichtenberg, Georg Christoph (1971) : Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens. Erste Folge [1779]. In : Handlungen des Lebens. Erklärungen zu 72 Monatskupfern von Daniel Chodowiecki. Hrsg. von Carl Brinitzer. Stuttgart : Deutsche Verlags-Anstalt. S. 33–46. S. 33. 383 Ebd. S. 33. 384 Ebd. S. 36. 385 Ebd.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
Abb. 10 Chodowiecki, Daniel Nikolaus (1778) : Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, erste Folge [Der Unterricht. L’instruction]. In : Göttinger Taschen Calender vom Jahr 1779.
Kulissen. Diese kontrastierende Gegenüberstellung entfaltet durch Lichtenbergs spöttische Kommentierung der affektierten Verhaltensweisen und Chodowieckis »Zerrbilder übertriebenen Verhaltens«386 nicht nur eine karikierende Kritik an gesellschaftlichen Umgangsformen, sondern impliziert zugleich ein unausgesprochenes ästhetisches Ideal des gesellschaftlichen Umgangs. Der mit diesem Ideal der Natürlichkeit verbundene Appell nach einer Mäßigung des gestischen und mimischen Ausdrucks im gesellschaftlichen Umgang und die Ablehnung affektierter Verhaltensweisen korrespondiert mit der für die schauspielerische Praxis geforderten Ausdrucksökonomie auf der Bühne und der Überwindung des Deklamationstheaters zugunsten eines illusionistischen Theaters. Zuschauer lobten das natürlich und 386 Busch, Werner (1997) : Daniel Chodowieckis ›Natürliche und affectierte Handlungen des Lebens‹. In : Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann. Tübingen : Niemeyer. S. 77–99. S. 79.
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unverstellt wirkende Spiel von Darstellern. Nicolai berichtet Lessing in einem Brief vom 13. August 1773 begeistert von einer Aufführung von Emilia Galotti in Weimar : »Eckhoff als Odoardo hat alles Vortreffliche, was ich mir von ihm vorgestellt hatte, weit übertroffen. Ganz simpel, aber ganz Natur ! Er war das Individuum Odoardo !«387 Welche Wirkungen Ekhof mit dieser Spielweise beim Publikum entfalten konnte, schildert der Theaterschriftsteller Johann Friedrich Schink rückblickend in seinen Dramaturgischen Fragmenten sehr eindrücklich : [E]r war nicht der Nachahmer der Natur, er war die Natur selbst, und man mus nicht so wol sagen, daß er nach der Natur, sondern durch sie gespielt habe. Von Richard bis zum Masuren, von Fayel bis zum Advokat Patelin, war sein Spiel immer tiefes Studium der Natur, immer Spiegel des Lebens. Das Herz wie Wachs zu schmelzen, Ströme von Zären aus dem Auge zu lokken, aus einer Brust, hart wie Kieselstein, die feurigsten Funken des Mitleids zu schlagen und all den Sturm der Leidenschaften in unsere Seele zu stürmen, war für Ekhofs Talent ein Spiel.388
»Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler«, fragt sich selbst Lessing angesichts Ekhofs schauspielerischer Leistung, »daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören ? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle eben so unterhaltend finden sollen ?«389 Dass Lessing der Ansicht war, dass diese schauspielerische Kunstfertigkeit keineswegs nur der Genialität des Schauspielers geschuldet sei, lässt sich bereits an seiner kritisch kommentierten und bloß in Auszügen abgedruckten Übersetzung von Sainte-Albines Le Comédien erkennen. Er bezweifelt hier Sainte-Albines These, dass der Schauspieler, indem er sich – auf geniale Weise – in den emotionalen Zustand der darzustellenden Rollenfigur versetzte, hierdurch zugleich zu einer ausdrucksstarken und überzeugenden Darstellung auf der Bühne gelange. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwärtig äußern und ausdrücken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht : denn er ist mit sich selbst im Widerspruche.390
387 Nicolai, Friedrich (1988) : Von Friedrich Nicolai [Berlin, d. 13. August 1773]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 11,2 : Briefe von und an Lessing 1770–1776. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 573–576. S. 576. 388 Schick, Johann Friedrich (1781) : Dramaturgische Fragmente, Zweyter Band. Graz : Widmanstättenschen Schriften. S. 421. 389 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 196. 390 Ebd. S. 197 f.
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Lessing folgt damit aber nicht vollends Diderots Ansicht aus seinem Paradoxe sur Le Comédien, dass die Schauspielkunst eine rein körpertechnische und intellektuelle Arbeit sei, sondern weist darauf hin, dass zwischen Empfindungen und ihrem körperlichen Ausdruck eine nicht zu unterschätzende Wechselwirkung bestehe.391 Den Darsteller, der durch einen hastigen Gang, stampfende Füße, eine raue Stimme und zitternde Lippe eine zornige Person vorspiele, wird hierdurch »ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserem Willen abhängen ; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen«392. Auf die Frage, ob ein Schauspieler nun empfindend oder denkend, mit Feuer oder Kälte spielen müsse, antwortet Lessing : »[M]it einer Mischung von beiden, in der aber, nach Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht.«393 Wie aber lässt sich diese Kunst erlernen ? Wie kann sie gelehrt und vermittelt werden ? Lessing, der von der Lehr- und Lernbarkeit der Schauspielkunst überzeugt war – er war willens seine Hamburgische Dramaturgie »Hamburgische Didaskalien«394 zu nennen – hoffte, »dem Publico ein kleines Werk über die körperliche Beredsamkeit vorlegen« zu können, »von welchem ich jetzt weiter nichts sagen will, als daß ich mir alle Mühe gegeben habe, die Erlernung derselben eben so sicher, als leicht zu machen.«395 Obgleich die ersten 25 Stücke der Hamburgischen Dramaturgie als Bruchstücke einer Schauspieltheorie gelesen werden können, ist Lessing dennoch dem Publikum dieses versprochene Werk über die körperliche Beredsamkeit schuldig geblieben. Es liegen nur seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹396 vor. Johann Friedrich Löwen,397 der als Gründer und Direktor der Hamburger Entreprise mit Lessing, Ekhof und dem Theaterprinzipal Konrad Ernst Ackermann zusammengearbeitet hat,398 veröffentlichte, bereits ein Jahr nachdem Lessing sein Werk zur körperlichen Beredsamkeit angekündigt hatte, seine Kurzgefasten Grundsätze über die Beredsamkeit des Leibes.399 391 Vgl. hierzu Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 1–28. 392 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 199. 393 Ebd. 394 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [101.–104. Stück, 19. April 1768]. S. 682. 395 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Auszug aus dem ›Schauspieler‹ des Herrn Remond von Sainte Albine. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 304–311. S. 311. 396 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹ [ca. 1754]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 320–329. 397 Vgl. hierzu Potkoff, Ossip Demetrius (1904) : Johann Friedrich Löwen (1727–1771) mit näherer Berücksichtigung seiner dramaturgischen Tätigkeit. Heidelberg : Winter Universitätsverlag. 398 Vgl. hierzu Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 208–215. 399 Vgl. Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze über die Beredsamkeit des Leibes.
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Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters
Während Löwens Kurzgefaste Grundsätze eine praktische Anleitung für Schauspieler waren, versuchte Johann Jakob Engel, der ein Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft war, dem achtzehnjährigen Wilhelm von Humboldt Privatvorlesungen gab und nach dem Tod Friedrichs II. das Berliner Nationaltheater leitete,400 eine anthropologisch fundierte Theorie der Schauspielkunst vorzulegen, die sich zum einen an Schauspieler richtete, zum anderen an ein anthropologisch interessiertes Publikum adressiert war. In seinen in zwei Bänden erschienenen Ideen zu einer Mimik versucht Engel eine ausdruckstheoretische Schauspielkunst zu begründen, die erklärtermaßen an Lessings unvollendetes Vorhaben, ein Werke über die ganze körperliche Beredsamkeit zu schreiben, anschließen und darüber hinaus einen Beitrag zur anthropologischen Forschung leisten wollte. An Lessings Bemühungen um eine lehr- und lernbare Schauspielkunst und Engels Ideen zu einer Mimik lässt sich erkennen, dass die schauspieltheoretischen Abhandlungen und Anleitungen zu einer natürlichen Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets auch einen »Beitrag zur Kunst des Umgangs«401 darstellten. Denn so wie Greenblatt behauptet, dass sich die »manuals of court behavior«402 der frühen Neuzeit wie »handbooks for actors, practical guides for a society whose members were nearly always on stage«403 lesen lassen, so lässt sich umgekehrt behaupten, dass sich die Anleitungen zur natürlichen Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit ihren Empfehlungen zur Mäßigung des gestischen und mimischen Ausdrucks als explizite oder implizite Beiträge zur Artikulation ästhetischer Verhaltensnormen des gesellschaftlichen Umgangs verstehen lassen. Tanya Cassidy und Conrad Brunström sind ebenfalls der Ansicht, »that eigthteenth-century discussions of acting and oratory, meanwhile, provide base-level constructions of adult formulations of emotion.«404 In diesem Sinne deutet auch Günther Heeg Riccobonis L’Art du théâtre als »eine versteckte Einführung in die Kunst des schönen gesellschaftlichen Umgangs«405 und sieht in William Hogarths Analysis of Beauty nicht nur ein Künstlertraktat, sondern überdies eine »Anleitung für eine Ästhetik der Lebenspraxis.«406 Das Theater und die Schauspielkunst lassen sich daher neben
400 Vgl. hierzu D’Aprile, Iwan-Michelangelo (2006) : Die schöne Republik. Ästhetische Moderne in Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Tübingen : Niemeyer. S. 179–186. Vgl. auch Košenina, Alexander (2005) : Einführung : Johann Jakob Engel und die Berliner Aufklärung. In : Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn. S. 1–25. 401 Bachmann-Medick, Doris (1989) : Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart : Metzler. S. 78. 402 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. S. 162. 403 Ebd. 404 Cassidy, Tanya & Brunström, Conrad (2002) : ›Playing is a Science‹ : Eighteenth-Century Actors’ Manuals and the Proto-Sociology of Emotion. In : British Journal for Eighteenth-Century Studies, 25. Jg. S. 19–31. S. 19. 405 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 156. 406 Ebd. 140.
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der Literatur und der Popularphilosophie als eine bürgerliche »Sozialisationsinstanz«407 betrachten, die dazu beitrug, die kulturellen Praktiken der Bürgerlichkeit mit zu formen und so Vorlagen für eine bürgerliche Selbstinszenierung und Selbstbehauptung zu liefern. »Die Menschen sind insgesamt«, resümiert Kant einerseits in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht am Ende des 18. Jahrhunderts, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler : sie nehmen den Schein der Zueignung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen ; weil ein jeder andere, daß es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständig ist, und es ist auch sehr gut, daß es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rollen spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über.408
Andererseits betonten die Schauspieltheoretiker immer wieder, dass »der Umgang mit der Welt, die Kenntniß der Sitten« die Schulen seien, »wo der Schauspieler geübet, und sogar bis auf den Gang geübet«409 werde. Günther Heeg ist daher der Ansicht, dass das Ergebnis dieser »wechselseitigen Mimikry von Bürger und Schauspieler« die »›bürgerliche Schauspielkunst‹ in der doppelten Bedeutung des Wortes«410 gewesen sei. Die Veränderung dieser zwischenmenschlichen Kommunikations- und Interaktionsformen ging mit dem strukturellen Wandel der öffentlichen Institutionen im 18. Jahrhundert einher. Während sich durch die überregionale, abstrakte Kommunikation in Form von Publikationen sowie durch den Ausbau des Verlags- und Zeitschriftenwesens sowie des Büchermarkts die Sphäre einer literarisch-diskursiven Öffentlichkeit etablierte,411 bildete sich durch den leiblich ko-präsenten Umgang, den die Mitglieder der neu gegründeten Sozietäten, Salons, Clubs und Lesegesellschaften auch im Parterre der Hoftheater, in Kaffeehäusern und Konzertsälen pflegten, eine kulturell-distinktive Praxis öffentlicher Umgangsformen aus. Diese Umgangsformen einer bürgerlichen Geselligkeit und die Praktiken einer bürgerlichen Selbstinszenierung lassen sich als Bestandteile eines nicht widerspruchslosen kulturellen Systems begreifen. Dieses forcierte nicht in erster Linie eine gesellschaftspolitische Opposition zum Adel, sondern war vielmehr ein Ausdruck der Bewältigung dreier Herausforderungen. Es waren Bewältigungsstrategien der sich allmählich vollziehenden 407 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 238. Vgl. hierzu auch Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. S. 90–100. Vgl. auch Kreuder, Friedemann (2010) : Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. S. 55 f. 408 Kant, Immanuel (1977) : Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In : Immanuel Kant Werkausgabe, Bd. XII : Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 442 f. 409 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 41. 410 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 176. 411 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara (2005) : Politische und soziale Physiognomie des aufgeklärten Zeitalters. S. 24 f.
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Transformation der geburtsständischen Gesellschaftsordnung,412 der hiermit verbundenen Herausforderung personaler Identität – die Goethe paradigmatisch für das 18. Jahrhundert in seinem Theater- und Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre thematisierte – sowie der kulturellen Heterogenität im föderal strukturierten deutschen Reich.413 Mit der Transformation der ständischen Ordnung korrespondierte aber auch ein Transzendenzschwund, durch den die barocke Metapher des Welttheaters einen grundlegenden Bedeutungswandel erfuhr. Während in der barocken Vorstellung das diesseitige Leben ein bloßes Schauspiel darstellte und das eigentliche Leben in einem jenseitigen Dasein aufgehoben schien, verlor die Metapher vom theatrum mundi im Übergang zum 18. Jahrhundert ihre tröstende und die Gesellschaftsordnung affirmierende Funktion. Durch die zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der geburtsständisch geordneten Gesellschaft stand das Individuum im 18. Jahrhundert vor dem Problem, disparaten Anforderungen gerecht werden zu müssen, die sich nicht mehr als Ausdruck einer sinnstiftenden Gesamtordnung begreifen lassen.414 Die Rollenmetapher wird so zur Beschreibung des gesellschaftlich-diesseitigen Nebeneinanders von mehr oder weniger zu vereinbarenden Anforderungen und Erwartungen sowie zum Ausdruck eines Nebeneinanders von gesellschaftlichen Teilsystemen. Im Unterschied zur ständischen Gesellschaftsordnung bieten diese Teilsysteme aber keine umfassenden Handlungsvorgaben mehr. Das kulturelle System der Bürgerlichkeit stelle nach Ansicht des Historikers Manfred Hettling eine Reaktion auf die Verunsicherungen dar, die durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse ausgelöst wurden.415 Dieses System, das keineswegs wie religiöse oder ideologische Systeme institutionell und hierarchisch strukturiert gewesen sei, lasse sich als ein loses, zuweilen widersprüchliches Konglomerat von – erstens – Leitideen, Werten und Praktiken, – zweitens – deren individueller Aneignung sowie – drittens – deren kollektiver Praxis beschreiben. Bürgerliche Tugenden, wie sie beispielsweise Friedrich Gabriel Resewitz in Die Erziehung des Bürgers,416 Campe in seinem Sittenbüchlein,417 Salzmann in seinem Elemen412 Vgl. hierzu Batscha, Zwi & Garber, Jörn (1981) : Einleitung. In : Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Politisch-soziale Theorien im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Zwi Batscha und Jörn Garber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 9–38. 413 Knigge weist auf dieses Problem hin, wenn er schreibt, dass es in keinem anderen Land so schwierig sei, allgemeingültige Umgangsformen zu benennen, »denn nirgends vielleicht herrscht zu gleicher Zeit eine so große Mannigfaltigkeit des Conversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und andrer Meinungen, eine so große Verschiedenheit der Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der einzelnen Volks-Classen in den einzelnen Provinzen beschäftigen« (Knigge 1788 : 9 f.). 414 Vgl. Konersmann, Ralf (1986/1987) : Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. 415 Vgl. Hettling, Manfred (2010) : Bürgerlichkeit als kulturelles System. URL : http://wcms.itz.unihalle.de/download.php ?down=16990&elem=2373556 (Stand : 21.04.2015). Vgl. auch Döcker, Ulrike (1994) : Die Ordnung der bürgerlichen Welt. S. 12–19. 416 Vgl. Resewitz, Friedrich Gabriel (1773) : Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes, und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit. Kopenhagen : Heineck und Faber. 417 Vgl. Campe, Joachim Heinrich (1777) : Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen. Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius.
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tarbuch418 oder Carl Friedrich Bahrdt im Handbuch der Moral für den Bürgerstand419 beschreiben, präformieren nicht das Handeln, sondern liefern vielmehr ideelle Bezugspunkte für eine bürgerliche Lebensführung. So war es auch niemals Knigges Absicht in seinem moralphilosophischen Hauptwerk Über den Umgang mit Menschen, starre Vorschriften zu erteilen, sondern »Bruchstücke, vielleicht nicht zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm Nachdenken«420 vorzulegen. Der bürgerliche Wertehorizont im 18. Jahrhundert erweise sich vielmehr als ein Kontinuum, das sich, so Hettling, durch eine Reihe von Gegensatzpaaren beschreiben lasse : Besitz und Bildung, Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung, Muße und Nützlichkeit sowie Empfindsamkeit und Rationalität.421 Diese Widersprüchlichkeit mache eine individuelle Aneignung und Ausgestaltung im Alltag geradezu erforderlich, die zusammen mit der Hochschätzung der Autodidaxie422 das bürgerliche Selbst- und Bildungsverständnis nachhaltig prägte. Forum dieses bürgerlichen Bildungsverständnisses und der bürgerlichen Selbstbehauptung seien insbesondere die diversen Sozietäten, die als »paradigmatisches Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft«423 gelten können. Sie bilden eine identitätsstiftende Sphäre, in der ein reger Austausch über politische, gesellschaftliche, religiöse und künstlerische Themen gepflegt werde, drücken durch ihre Selbstverwaltung eine Unabhängigkeit von staatlichen Einrichtungen aus und seien zugleich ein Ort der Geselligkeit, des gesellschaftlichen Umgangs und der gesellschaftlichen Beredsamkeit. Diese mit der Geselligkeit in Verbindung stehende »Kunst des Umgangs«424 fuße laut Knigge nicht zuletzt auf der Fähigkeit, lebhaft, adressatengerecht und den Umständen entsprechend vorzutragen und dabei »mit natürlichen Farben zu malen.«425 Hierzu sei es erforderlich, sein Äußeres zu studieren, »sein Gesicht in seiner Gewalt [zu] haben«426 und Grimassen zu vermeiden. Für den Umgang mit Hofleuten, deren Auftreten, Gebaren und
418 Vgl. Salzmann, Christian Gotthilf (1782) : Moralisches Elementarbuch, nebst einer Anleitung zum nützlichen Gebrauch desselben. Erster Theil. Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius. 419 Vgl. Bahrdt, Carl Friedrich (1789) : Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen und Neutlingen : Johann Friedrich Balz, Wilhelm Heinrich Schramm und Johann Jacob Fleischhauer. 420 Knigge, Adolph Freiherr von (1788) : Ueber den Umgang mit Menschen. In zwey Theilen, Erster Theil. Hannover : Schmidtsche Buchhandlung. S. 9. 421 Vgl. Hettling, Manfred (2010) : Bürgerlichkeit als kulturelles System. S. 13. 422 Vgl. hierzu Bosse, Heinrich (2012) : Bildungsrevolution 1770–1830. Heidelberg : Winter Universitätsverlag. S. 287–304. 423 Hettling, Manfred (2010) : Bürgerlichkeit als kulturelles System. S. 14. – An der Mitgliederzusammensetzung der Berliner Mittwochgesellschaft (Gose 2015 : 179–182) oder der von Goethe initiierten Weimarer Freitagsgesellschaft (Peter 1999 : 243–254) lässt sich erkennen, dass es sich bei diesen sozialen Vereinigungen keineswegs um rein antifeudale Gesinnungsgenossenschaften handelte. 424 Knigge, Adolph Freiherr von (1788) : Über den Umgang mit Menschen, Erster Theil. S. 7. 425 Ebd. S. 68. 426 Ebd.
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Verstellungskunst Knigge als »Anhänger Rousseaus«427 zutiefst verachtet,428 rät er sogar, sein Gesicht so in seiner Gewalt zu haben, »daß man nichts darauf geschrieben finde, weder Verwunderung, noch Freude, noch Widerwillen, noch Verdruß ! Die Hofleute lesen besser Minen, als Buchstaben : das ist fast ihr einziges Studium !«429 Knigge befürwortet damit aber keineswegs unaufrichtiges, schmeichlerisches Verhalten. Anders als Christian Weise,430 der Galanterie noch als Medium politischer Klugheit erachtete, lehnt Knigge es ab, »den Menschen zu seinen Endzwecken zu misbrauchen, über Alle nach Gefallen zu herrschen, Jeden nach Belieben für unsre eigennützigen Absichten in Bewegung zu setzen.«431 Knigge regt vielmehr an, grundsätzlich einen adressatenbezogenen, den anderen anerkennenden Umgang zu pflegen, der sich auch am äußeren Erscheinungsbild bemerkbar mache. »Der Anstand und die Geberdensprache sollen edel seyn«432. Daher solle man nicht wild gestikulieren und »umsichschlagen«433, die Gesprächspartner nicht am Ärmel zupfen oder beim Sprechen permanent mit Dingen in den Händen spielen : »Kurz ! alles, was eine feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf Andre verräth, das gehört nothwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen«434. Der Körperausdruck erweise sich also nicht nur als spontane und individuelle Äußerung, sondern, so Doris Bachmann-Medick, auch als »expressive Praktik sozialer Darstellung und Reprä427 Grätz, Manfred (1999) : Knigge als Erzieher. In : Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hrsg. von Martin Rector. Göttingen : Wallstein. S. 92–102. S. 94. – Vgl. hierzu auch Nübel, Birgit (1999) : »jede Zeile von ihm mit dem wärmsten Interesse«. Aspekte der Rousseau-Rezeption bei Knigge. In : Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hrsg. von Martin Rector. Göttingen : Wallstein. S. 103–120. 428 Knigge unterstellt diesen Personen, die in der »so genannten großen Welt« der Höfe und Residenzstädte leben und ihren Ton angenommen haben, »Entfernung von Natur ; Gleichgültigkeit gegen die ersten und süßesten Bande der Menschheit ; Verspottung der Einfalt, Unschuld, Reinigkeit und der heiligsten Gefühle ; Falschheit ; Vertilgung, Abschleifung jeder characterischen Eigenheit und Originalität ; Mangel an gründlichen, wahrhaftig nützlichen Kenntnissen« ; Knigge unterstellt ihnen ferner »Unverschämtheit, Persifflage, Impertinenz, Geschwätzigkeit Inconsequenz, Nachlallen ; Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist ; Ueppigkeit, Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Weichichkeit, Ziererey, Wankelmuth, Leichtsinn ; abgeschmackter Hochmuth ; Flitterpracht, als Maske der Betteley ; schlechte Hauswirthschaft ; Rang- und Titelsucht ; Vorurtheile aller Art ; Abhängigkeit von den Blicken der Despoten und Mäcenaten ; sclavisches Kriechen, um etwas zu erringen ; Schmeicheley gegen Den, dessen Hülfe man bedarf, aber Vernachlässigung auch des Würdigsten, der nicht helfen kann ; Aufopferung auch des Heiligsten, um seinen Zweck zu erlangen ; Falschheit, Untreue, Verstellung ; Eidbrüchigkeit, Klatschery, Cabale ; Schadenfreude, Lästerung, Anecdoten-Jagd ; lächerliche Manieren, Gebräuche und Gewohnheiten« (Knigge 1788, 2 : 42 f.). 429 Knigge, Adolph Freiherr von (1788) : Ueber den Umgang mit Menschen, Zweyter Theil. S. 62. 430 Vgl. hierzu Kap. 1. 2 »Der kluge Weltmann« und ›Der geschickte Comödiant‹ – Christian Weise und die komödiantische Erziehung kluger Weltmänner. 431 Knigge, Adolph Freiherr von (1788) : Ueber den Umgang mit Menschen, Zweyter Theil. S. 334. 432 Knigge, Adolph Freiherr von (1790) : Ueber den Umgang mit Menschen. In drey Theilen, Erster Theil [3. Auflage]. Frankfurt und Leipzig : [ohne Verlag]. S. 69. 433 Ebd. 434 Ebd.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
sentation, als kulturspezifisch codierte Vehikel der Affektmodellierung und als Habitus des gesellschaftlichen Umgangs, an dem eine bestimmte Form der Handhabung kultureller Symbolik sichtbar«435 werde. Am Schauspieler lasse sich diese Modellierung affektiver Verhaltensweisen deutlich beobachten. »Der Einfluß der Bühne auf die Sitten und den Geschmack einer Nation ist eben so gewiß, als er unmerklich ist«, schreibt der Jesuit Wenzel Sigmund Heinze. »Sollten also nicht alle unsere Schauspieler einen Ton haben, den man kopieren kann, ohne zu jenem der üblen Gesellschaft herab zu sinken ?«436 Im Folgenden soll daher erstens gezeigt werden, dass Lessing bei der Begründung einer natürlichen Schauspielkunst auf rhetorische Traditionen zurückgreift, um die Lehr- und Lernbarkeit dieser Kunst zu unterstreichen. Hier zeigt sich vor allem der konstruktive, körpertechnische Akt, der sich hinter einem natürlichen Ausdruck verbirgt. An Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik soll dann zweitens gezeigt werden, dass die natürliche Schauspielkunst eine Präzisierung und Reflexion der alltäglichen, natürlichen Handlungen des Lebens ist, wie Lichtenberg sagen würde. 2.3.1 Rhetorik statt »schöne Metaphysik«437 – Lessings und Löwens Vertrauen in die rhetorische Lehr- und Lernbarkeit einer natürlichen Schauspielkunst
Lessing befasste sich bereits früh mit der Theorie, Praxis und Geschichte der körperlichen Beredsamkeit und Schauspielkunst. Bei dem Schauspieler Johann Gottfried Brückner, der zur Schauspielertruppe von Gottfried Heinrich Koch gehörte, nahm er Unterricht und übertraf schon bald seinen Lehrer, wie Lessings Bruder Karl Gotthelf berichtet. Brückner sei von niemanden besser belehrt worden […], als von ihm. Lessing habe ihm sogar die schwersten Stellen selbst vordeklamirt und gestikulirt, und er, Brückner, sey von dessen Richtigkeit und Eindringlichkeit in die Rolle anschaulich überführt worden ; nur den Anstand hätte er an Lessing zuweilen dabei vermißt.438
Lessing nahm eine Aufführung der Kinderpantomimen-Truppe von Philipp Nicolini439 zum Anlass, um die Pantomime der Alten von dem abzugrenzen, was Nicolini anlässlich 435 Bachmann-Medick, Doris (1989) : Die Ästhetische Ordnung des Handelns. S. 79. 436 [Heinze, Wenzel Sigmund] (1780) : Von der Schauspielkunst. S. 25. 437 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Auszug aus dem ›Schauspieler‹ des Herrn Remond von Sainte Albine. S. 309. 438 Lessing, Karl Gotthelf (1793) : Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Erster Theil. Berlin : Vossische Buchhandlung. S. 57 f. – Vgl. hierzu auch Nisbet, Hugh Barr (2008) : Lessing. Eine Biographie. München : Beck. S. 484. 439 »Wer hat nicht schon in Deutschland und Italien von der Pantomimentruppe des berühmten Nicolini gehört ?«, fragt Rousseau im zweiten Buch des Émile und hebt die Agilität der jungen Akteure
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der Ostermesse im Jahr 1748 in Leipzig mit seinen, so Lessing, »kleinen Affen«440 veranstaltete. Lessing erinnert in seiner zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Abhandlung von den Pantomimen der Alten daran, dass in der Antike solche Personen als Pantomimen bezeichnet wurden, »welche tanzend alle Personen eines dramatischen Stücks vorstellen und jeder Person Charakter, Affekten und Gedanken durch die Bewegung ihrer Gliedmaßen ausdrücken konnten.«441 In seinen Vorarbeiten zur Laokoon-Schrift ergänzt er, »daß die Pantomime [der Alten] nicht aus bloß natürlichen Bewegungen und Stellungen bestand, sondern, daß sie auch willkürliche zu Hülfe nahm, deren Bedeutung von der Convention abhing.«442 Und im vierten Stück der Hamburgischen Dramaturgie führt er weiter aus, dass der Schauspieler in der Antike vom Pantomimen dadurch unterschieden wurde, dass die Hände des Schauspielers weit weniger »geschwätzig« waren und seine Gesten »als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme«443 zu Wahrheit und Leben verhelfen sollten. »Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Hände nicht bloß natürliche Zeichen ; viele derselben hatten eine conventionelle Bedeutung, und dieser mußte sich der Schauspieler gänzlich enthalten.«444 Unter verabredeten oder »willkürliche[n] Zeichen«445 versteht Lessing solche Zeichen, bei denen das Verhältnis von Bezeichnetem und Bezeichnendem wie bei einer Sprache oder der »Chironomie der Alten«446 konventionalisiert und arbiträr ist. Insbesondere die Dichtkunst bedient sich dieser willkürlichen, sprachlichen Zeichen, die in der Semiotik als Symbole bezeichnet werden. Da sie nacheinander entziffert werden, eignen sie sich in erster Linie dafür, sukzessive Ereignisse, also Handlungen darzustellen. Wird die Handlung eines dramatischen Textes durch Schauspieler aufgeführt, treten zu den willkürlichen, hervor. »Hat jemals einer bei diesen Kindern weniger vollendete Bewegungen, eine weniger graziöse Haltung, ein schlechteres Gehör und eine plumpere Art zu tanzen bemerkt als bei voll ausgebildeten Tänzern ?« (Rousseau 1963 : 318.) – Vgl auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes, Tome VII. S. 488 : « Qui est-ce que n’a pas ouï parler en Allemagne et en Italie de la troupe pantomime du célèbre Nicolini ? Quelqu’un a-t-il jamais remarqué dans ces enfants des mouvements moins développés, des attendues moins gracieuses, une oreille moins juste, une danse moins légère que dans les danseurs tout formés. » 440 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Abhandlung von den Pantomimen der Alten [Entwurf ]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 1 : Werke 1743–1750. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 711– 721. S. 711. 441 Ebd. S. 712. 442 Lessing, Gotthold Ephraim (1990) : Laokoon : Paralipomena. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 5,2 : Werke 1766–1769. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 316. 443 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 202. 444 Ebd. 445 Lessing, Gotthold Ephraim (1990) : Laokoon : oder über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 5,2 : Werke 1766–1769. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 123. 446 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 202.
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sprachlichen Zeichen die natürlichen Zeichen, die die Schauspieler mit ihren Körpern im Bühnenraum realisieren, hinzu. »Die Kunst des Schauspielers stehet hier«, erklärt Lessing, »zwischen den bildenden Künsten und der Poesie, mitten inne.«447 Bei natürlichen Zeichen beruhe das Verhältnis von Bezeichnetem und Bezeichnendem, so Lessing, auf dem Prinzip der Ähnlichkeit, sodass sie sich ohne die Kenntnis sprachlicher Konventionen verstehen lassen. Solche natürlichen, auf dem Ähnlichkeitsprinzip beruhenden Zeichen – in der Semiotik spricht man von ikonischen Zeichen – lassen sich vor allem in der Malerei oder der bildenden Kunst finden. Lessing geht davon aus, dass auch zwischen den Empfindungen eines Menschen und den »Modificationes«448 seines Körpers eine solche Ähnlichkeitsbeziehung bestehe. Oratorische Bewegungen seien, so Lessing, Veränderungen des Körpers, »welche mit gewissen Veränderungen in der Seele harmonisch sein können.«449 Solche oratorischen Bewegungen können »bis in das Malerische«450 reichen und damit einen ikonischen Charakter annehmen. »Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußeren Merkmalen urteilen können.«451 Lessing bewunderte Ekhof dafür, mit welchem Reichtum von »malenden Gesten […] er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Körper giebt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstände verwandelt !«452 Die Kunst des Schauspielers beschreibt Lessing daher auch als »sichtbare«453 und »transitorische«454 Malerei, die der Schönheit verpflichtet sei und sich als »stumme Poesie […] unmittelbar unseren Augen verständlich machen will«455. Lessing ist der Ansicht, dass das »Gehen mit dem steifen und gestreckten Fuße«456 sich als Gang eines »stolzen und ruhmrädigen«457 Charakters verstehen lasse ; sich von einer Person abzuwenden, lässt sich als Ausdruck der Verachtung, Furcht, des Entsetzens oder der Scham verstehen ; sich ihr zuzuwenden deutet auf Vertraulichkeit oder die Absicht hin, eine Bitte auszusprechen. Eine nach vorne geneigte Haltung des Körpers assoziiere man gewöhnlich mit Nachdenklichkeit oder Niedergeschlagenheit, eine zurückgelehnte Haltung mit Erstaunen oder Erschrecken. Engel, der Lessings Unterscheidung von natürlichen und willkürlichen Zeichen teilt, wird später erklären, dass das Entblößen des Hauptes bei den Europäern »ohne Zweifel kein natürlicher Ausdruck, sondern bloß eine Anspielung
447 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai 1767]. S. 210. 448 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. S. 329. 449 Ebd. S. 320. 450 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 203. 451 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 197. 452 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [17. Stück, 26. Juni 1767]. S. 266. 453 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai 1767]. S. 210. 454 Ebd. 455 Ebd. S. 211. 456 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. S. 323. 457 Ebd.
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auf einen alten willkührlichen Gebrauch«458 sei. Das »Verhüllen des Angesichts«459 als das »demüthigste Geständnis von dem Gefühl seiner eigenen Unvollkommenheit, in Vergleichung mit den erhabnen Vollkommenheiten des Andern«460 sei hingegen ein natürlicher Ausdruck, »weil es allgemein ist ; weil es bey allen Nationen, Ständen, Geschlechtern, obgleich mit verschiedenen Abänderungen, Statt findet.«461 In den Entwürfen zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹, die Lessing wahrscheinlich um das Jahr 1754 unter den Eindrücken seiner Übersetzung von Jean Baptiste Dubos’ Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture erarbeitete,462 bemüht er sich um eine Systematisierung dieser Zeichen : »Die ganze körperliche Beredsamkeit teilt sich in den Ausdruck 1) durch Bewegungen« und »2) durch Töne.«463 Lessing greift hier nicht nur den rhetorischen Terminus der körperlichen Beredsamkeit, der eloquentia corporis auf, spricht nicht nur bezeichnenderweise von oratorischen Bewegungen, sondern unterscheidet hier auch wie in der rhetorischen Tradition zwischen Action und Pronunciation.464 Der körperlichen Beredsamkeit stellt er ferner die »geistige Beredsamkeit«465 voran – also die »Kunst, wie man seine Gedanken dem Eindruck, den man auf einen anderen machen will, gemäß ordnen soll.«466 Es ist aber nicht die Tradition der Rhetorik, die Lessing hier beschwören will, sondern vielmehr ihre Problemstellung. So wie Lessing Aristoteles’ Poetik bei seiner Grundlegung eines bürgerlichen Trauerspiels nicht eigentlich beim Wort nehmen wollte – »Aristoteles kann irren, und hat oft geirrt«467 –, so verfährt er auch mit der eloquentia corporis. Lessing greift zwar die klassische Frage- und Problemstellung der Wirksamkeit von dramatischer und oratorischer Rede auf, bearbeitet sie aber vor dem Hintergrund zeitgenössischer anthropologischer Annahmen und theatertheoretischer Debatten. Die von Aristoteles beschriebene kathartische Wirkung des Theaters, die durch Furcht (phobos) und Mitleid (eleos) ausgelöst werde, deutet Lessing zu einer sittlichen Läuterung um. Das Theater habe nach Lessing den Auftrag, zu einer »Kultivierung der Affekte«468 458 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik. Erster Theil. Berlin : August Mylius. S. 33. 459 Ebd. S. 34. 460 Ebd. S. 35. 461 Ebd. 462 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Des Abts Du Bos Ausschweifung von den theatralischen Vorstellungen der Alten [1755]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 3 : Werke 1754–1757. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. 463 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. S. 327. 464 Vgl. Bender, Wolfgang (1989) : ›Eloquentia corporis‹ : Rhetorische Tradition und Aufklärung bei Lessing. In : Lessing Yearbook, XXI. Jg. S. 45–53. 465 Ebd. S. 328. 466 Ebd. 467 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [38. Stück, 8. September 1767]. S. 369. 468 Parmentier, Michael (2004) : Ästhetische Bildung. S. 15.
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beizutragen, die kein rationaler Akt sei, sondern sich in der Empfindungswelt der Zuschauer vollziehe. Indem die Zuschauer am Leid und Glück der Bühnenfiguren teilhaben und mitempfinden, könne insbesondere das Trauerspiel »unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern.«469 Nicht die Vernunft, sondern das Gefühl wird zur Quelle der Tugendhaftigkeit erklärt : »Das Mitleiden […] bessert unmittelbar ; bessert, ohne daß wir selbst etwas dazu beytragen dürfen ; bessert den Mann von Verstand sowohl als den Dummkopf.«470 Als Bedingungen der moralisierenden Wirkung nennt Lessing einerseits dramaturgische Voraussetzungen wie die Wahrscheinlichkeit der Handlung oder den gemischten Charakter,471 der es den Zuschauern ermögliche, sich mit ihm und seinen Dilemmata zu identifizieren,472 sowie als »Schattenriß«473 der Wirklichkeit einen gewissen Grad an Allgemeinheit erreiche, um damit möglichst viele Zuschauer ansprechen zu können. Andererseits nimmt Lessing die Schauspieler in die Pflicht, diese Charaktere wirkungsvoll durch den Gebrauch willkürlicher und natürlicher Zeichen darzustellen. Eine schauspielerische Herausforderung sei hierbei insbesondere der Übergang von einer Gemütsverfassung in die andere. Der Schauspieler müsse diesen »Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird.«474 Diese »Kunst der Gradation«, so Heeg, sei die Hohe Schule der bürgerlichen Schauspielkunst, in der der Bürger-Schauspieler einerseits den ganzen Reichtum seiner Empfindungsfähigkeit zur Schau stellen, andererseits demonstrieren kann, daß er auch in schwierigen Situationen der ökonomisch denkende Hausvater und Vorstand seines Gefühlshaushaltes bleibt.475
469 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai [Lessing an Nicolai im Nov. 1756]. S. 671. – Vgl. hierzu Michelsen, Peter (1990) : Der unruhige Bürger. Schriften zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 107–136. Vgl. hierzu auch Eigenmann, Susanne (1994) : Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin. S. 54–67. 470 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai [Lessing an Mendelssohn, Leipzig, den 28. Nov. 1756]. S. 683. 471 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [74. Stück, 15. Januar 1768]. S. 369. 472 »Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen ; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen« (Lessing 1985 : 251). 473 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [79. Stück, 21. Februar 1768]. S. 577. 474 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [16. Stück, 23. Juni 1767]. S. 264. 475 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 253 f.
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Der Beifall der Zuschauer könne aber in der Regel nicht als Gradmesser der Wirksamkeit herangezogen werden, da ein großer Teil des Publikums, so beklagt sich Lessing, nach wie vor »ein großer Liebhaber des Lärmenden und Tobenden«476 sei. Lessing ist hingegen der Ansicht, »daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige.«477 Bereits in der Ankündigung der Hamburgischen Dramaturgie erklärt er, dass eine »schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton und eine melodische Stimme« zwar schätzbare »Gaben der Natur«478 für den Beruf des Schauspielers seien, doch notwendigerweise müsse der Schauspieler »überall mit dem Dichter denken«479 ; er müsse Einsicht in die Leidenschaften, die Triebfedern und Bewegungsgründe sowie die Proportion der Neigungen und Kräfte eines Charakters gewinnen und das Allgemeine an ihnen wieder sinnlich und konkret werden lassen. Er müsse sie individualisieren. Eine allgemeine, moralische Aussage, die aus den Umständen der handelnden Charaktere herrühre, müsse durch einen »individualisierenden Gestus«480 wieder anschaulich gemacht werden. An diesen Stellen müsse der Schauspieler seinen Ausdruck mäßigen. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig würden ; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren beleidigt werden ; und nur alsdenn, wenn man bei Äußerung der heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidig, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen verlangt, wenn sie den höchsten Eindruck machen, und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.481
Eine solche Mäßigung des Ausdrucks der Leidenschaften beobachtete Lessing bereits an den antiken Kunstwerken. Im Laokoon schreibt er, dass es Leidenschaften und Grade von Leidenschaften gibt, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigern Stande umschreiben, verloren gehen. Dieser enthielten sich also die alten Künstler entweder ganz und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von Schönheit fähig sind.482 476 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai] 1767. S. 211. 477 Ebd. S. 209. 478 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [Ankündigung, 22. April 1767]. S. 186. 479 Ebd. 480 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 204. 481 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [5. Stück, 15. Mai 1767]. S. 210. 482 Lessing, Gotthold Ephraim (1990) : Laokoon : oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. S. 26.
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Die Mäßigung des Ausdrucks erweist sich aber nicht nur als ästhetische Norm, sondern stellt als Ausdrucksökonomie zugleich eine bürgerliche Verhaltensnorm da. Die sparsame und geordnete Darstellung leidenschaftlicher Empfindungen verweise auf die »innerliche Ökonomie«483 des Bürgers. Der Schauspielerin Frederike Sophie Hensel ist dies nach Lessings Ansicht in der Rolle der Sara aus seinem gleichnamigen Drama Miß Sara Sampson meisterlich gelungen. Hensel, die zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts gehörte, bereits von ihren Zeitgenossen gefeiert wurde und üblicherweise Heroinen und die »temperamentvollen Frauenrollen«484 spielte, brillierte in der Rolle der Sara, als das Stück am 6. Mai 1767 in Hamburg aufgeführt wurde. Die Rolle der Sara bildet nicht nur die für das bürgerliche Trauerspiel paradigmatische Mädchen-Gestalt der moralischen Unschuld und bürgerlichen Tugendhaftigkeit – wie später auch Lessings Emilia Galotti und Schillers Louise Miller –, die Hensels verkörpert zugleich die innere und äußere »Oekonomie des Bürgers«485 : Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet […]. Madame Hensel starb ungemein anständig ; in der malerischen Stellung ; […] in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, äußerte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus ; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank : das letzte Auflattern eines verlöschenden Lichts ; der jüngste Strahl einer untergehenden Sonne. – Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung : aber er sehe sie einmal !486
Dass Lessing sich bei der Grundlegung einer Schauspielkunst, die sich natürlicher Zeichen und eines individualisierenden Gestus bedienen solle, an rhetorischen Traditionen orientiert, ist der Versuch, der beliebigen, »unnatürlich«487 wirkenden Bühnenpraxis sowie der für die schauspielerische Praxis eher unkonstruktive, »schöne Metaphysik«488 bleibende Schauspieltheorie Sainte-Albines ein lehr- und lernbares Regelsystem der Schauspielkunst entgegenzustellen, gleichwohl ohne hinter das Ideal der Natürlichkeit489 zurückzufallen. Denn nicht der eigentliche rhetorische Kanon von Gesten und Bewegungen, an den Franz 483 Bahrdt, Carl Friedrich (1789) : Handbuch der Moral für den Bürgerstand. S. 210. 484 Kord, Susanne T. (1993) : Tugend im Rampenlicht : Friederike Sophie Hensel als Schauspielerin und Dramatikerin. In : The German Quarterly, 66. Jg. Heft 1. S. 1–19. S. 2. 485 Bahrdt, Carl Friedrich (1789) : Handbuch der Moral für den Bürgerstand. S. 210. 486 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [13. Stück, 12. Juni 1767]. S. 249 f. 487 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 200. 488 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Auszug aus dem ›Schauspieler‹ des Herrn Remond von Sainte Albine. S. 309. 489 Vgl. hierzu Kap. 2. 1. 1 »Natur ! Wie viele Leute brauchen dieses Wort, ohne seinen Umfang zu kennen !« – Die Natur der natürlichen Schauspielkunst.
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Lang noch anschloss, interessiert Lessing, sondern das »Vertrauen auf die Lehr- und Lernbarkeit der rhetorischen Kunst«490, welches die Voraussetzung dafür bildete, dass die Rhetorik zu einem zentralen Element der antiken Bildung wurde. Der Gebrauch natürlicher Zeichen, der keineswegs in der bloßen Imitation der Wirklichkeit, sondern wie in der Malerei darin bestehe, »uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit«491 vorzustellen, sei, so Lessing, ebenso lehr- und lernbar wie der Gebrauch willkürlicher Zeichen, wie der Gebrauch einer Sprache. Die »Modificationes des Körpers«, die bei einem gesunden Körper dem Willen unterliegen, erklärt Lessing, »können durch eigentliche und hinlängliche Regeln gelehrt werden. Die andern, welche nicht unmittelbar in unsrer Willkür sind, setzen eine gewisse Beschaffenheit der Seele voraus, auf welche sie von selbst erfolgen, ohne daß wir eigentlich wissen, wie«492. Das schreibt Lessing auch in einem Brief vom 14. September 1757 an Moses Mendelssohn : Einen Teil der Geberden hat der Schauspieler jederzeit in seiner Gewalt ; er kann sie machen, wenn er will […]. Allein zu einem großen Teil anderer […] wird mehr als sein Wille erfordert ; eine gewisse Verfassung des Geistes nemlich, auf welche diese oder jene Veränderung des Körpers von selbst, ohne sein Zutun erfolgt.493
Aber selbst ein »mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben«494 ausgestatteter, körpertechnisch versierter Schauspieler, der Vorbilder bloß imitiere, könne scheitern, dem Publikum Leidenschaften durch natürliche Zeichen vorzuführen. Doch anders als dem von Sainte-Albine beschriebenen Empfindungsschauspieler, traut Lessing dem Körpertechniker, »ungeachtet seiner Gleichgültigkeit und Kälte«495, zu, den wirkungsvollen Gebrauch natürlicher Zeichen erlernen zu können : Wenn er lange genug nichts als nachgeäffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfängt, und durch deren Beobachtung (zu Folge dem Gesetze, daß eben die Modificationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem 490 Niehues-Pröbsting, Heinrich (1999) : Rhetorik und Ästhetik. In : Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 18. Jg. S. 44–61. S. 45. 491 Lessing, Gotthold Ephraim (1990) : Laokoon : oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. S. 13. 492 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. S. 329. 493 Lessing, Gotthold Ephraim (1987) : Brief an Mendelssohn [14. September 1757]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 11,1 : Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag. S. 249–251. S. 250. 494 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [3. Stück, 8. Mai 1767]. S. 198. 495 Ebd.
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Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben.496
Auch wenn Lessings Versuch, die Ausdrucksweisen der körperlichen Beredsamkeit zu systematisieren, eine gewisse »Statik«497 aufweist, der Körpersprache lediglich die Aufgabe zugewiesen wird, die willkürlichen Zeichen der dramatischen Rede zu untermalen, beabsichtigt er keineswegs ein starres Regelwerk der Schauspielkunst vorzulegen. Ein Beispiel für einen missverstandenen Regelgehorsam verdeutlicht er an William Hogarths Anweisung, der Schauspieler solle lernen, seinen Körper und seine Hände »in schönen Schlangenlinien«498 zu bewegen. In The Analysis of Beauty bestimmt Hogarth, der zu den bedeutsamsten Malern des 18. Jahrhunderts gezählt werden kann, die Wellen- und Schlangenlinie (waving and serpentine line) als Ausdruck körperlicher Schönheit, weil sie aufgrund ihrer »Verwicklung […] dem Auge eine angenehme Art von Verfolgen zuführet, und wegen des Vergnügens, welches es dem Gemüthe verursacht«499. Anders als gerade, rechtwinklige oder parallele Linien affiziere die s-förmige Linie die Aufmerksamkeit des Betrachters und evoziere den Eindruck von Lebendigkeit und Dynamik. Zur Untermauerung und Illustration seiner These legt Hogarth seiner Abhandlung mehrere Tafeln mit Kupferstichen bei, auf denen er verschiedene Beispiele zusammenführt. Lessing greift Hogarths Empfehlung zunächst auf, wenn er schreibt, dass beispielsweise bei einer Äußerung wie ›Ich warf mich ihm zu Füßen‹ die Bewegung der Hand, welche das ›warf‹ begleitet, »auf diese [s-förmige] Art sehr schön« sei, »doch so daß die Bewegung geschwinder wird, je näher die Hand dem Ende dieser kleinen Linie kömmt.«500 Gleichwohl dürfe man aber Hogarths Anweisungen nicht so verstehen, »daß das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schönen Linien, immer nach der nemlichen Direktion bestehe.«501 496 Ebd. 497 Bender, Wolfgang (1989) : ›Eloquentia corporis‹ : Rhetorische Tradition und Aufklärung bei Lessing. S. 50. 498 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 203. – Vgl. auch Hogarth, William (1754) : Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. Aus dem Englischen übersetzt von C. Mylius. Verbesserter und vermehrter Abdruck. Berlin und Postdam : Christian Friedrich Voß. S. 83–90. Vgl. auch Hogarth, William (1753) : The Analysis of Beauty. Written with a View of Fixing the Fluctuating Ideas of Taste. London : J. Reeves. S. 143–153. 499 Hogarth, William (1754) : Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. S. 9. Vgl. auch Hogarth, William (1753) : The Analysis of Beauty. S. 25 : »Intricacy in form, therefore, I shall define to be that peculiarity in the lines, which compose it, that leads the eye a wanton kind of chance, and from the pleasure that gives the mind, intitles it to the name of beautiful«. 500 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. S. 324 f. 501 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 203.
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Der Schauspieler Christian Brandes berichtet, wie zuvor schon einmal erwähnt,502 von seinem Unterricht bei einem Ballettmeister, der Hogarths Anweisungen ganz offensichtlich auch zur Kenntnis genommen haben muss. Während der Theatermeister Brandes in der Kunst der Deklamation unterwies, unterrichte der Ballettmeister ihn in der Kunst, seinen Körper mit Anstand zu tragen, seine Hände und Füße gehörig zu gebrauchen, um dem Gesagten Nachdruck und Grazie zu verleihen. Der Ballettmeister wies ihn an, bei Hebung der rechten Hand den linken Fuß, bei Hebung der linken Hand den rechten Fuß vorzusetzen. Hierbei müsse sich erst der obere Theil des Arms vom Körper lösen, bis zu einer gleichen Linie langsam erheben, und dann in der Mitte sanft biegen ; hierauf würde der untere Theil, und endlich die Hand in Bewegung gesetzt, welche nun, mit leicht gesenkten Fingern, den Inhalt des vorzutragenden Textes andeutet müsse – dies nannte er eine Schlangenlinie, oder auch wellenförmige Bewegung.503
Als Brandes dann bei seinem Bühnenauftritt als Römer in Voltaires Trauerspiel La Mort de Cesar, der eben jenen betrauern sollte, »mit einer Art von Gebrülle im tiefsten Baßtone und mit den grimmigsten Gesichtern, nach des Theatermeisters, und mit allen Hebungen der Arme, Setzungen der Füße und malerischen Attitüden, nach des Ballettmeisters Unterricht zu deklamieren und zu gestikulieren«504 begann, brach das Publikum in lautstarkes Gelächter aus. Lessing rät daher später nüchtern, auf ein solches unbedeutendes »Portebras«505, also auf das dem Ballett entlehnte und auf der Theaterbühne gekünstelt wirkende Tragen der Arme (Port de Bras) zu verzichten : »Ich sehe einen Schulknaben sein Sprüchelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand giebt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet.«506 Die Einhaltung von Kunstregeln der Regeln wegen hält Lessing für kleingeistig. Nicht Gelehrsamkeit oder bloßen Naturalismus, sondern eine Interpretation der Wirklichkeit fordert Lessing vom Künstler. Mit »Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen«507. Obwohl Lessing der Dramatik der französischen Klassik, die zu sklavisch an der aristotelische Poetik festgehalten habe, Shakespeare als Antipode entgegenstellt, moniert er zugleich am heraufziehenden Genie-Kult der Stürmer 502 Vgl. hierzu Kap. 1. 1 : Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit« des Körpers. 503 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 169. 504 Ebd. S. 171. 505 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [4. Stück, 12. Mai 1767]. S. 203. 506 Ebd. 507 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [34. Stück, 25. August 1767]. S. 350.
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und Dränger, den Versuch, sich durch das Schlagwort ›Genie‹ jeglicher Kunstkritik entziehen zu wollen : »Anstatt von einer Critik zu beweisen, daß sie falsch ist, beweisen sie, daß sie zu streng ist ; und glauben vertan zu haben ! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an, daß Erfinden schwerer ist als Raisonnieren ; und glauben widerlegt zu haben !«508 Vielleicht war es die Auseinandersetzung mit diesen selbstherrlichen Genies, die dazu führte, dass Lessings schauspieltheoretisches Regelwerk unvollendet und unveröffentlicht blieb, er in der Hamburgischen Dramaturgie bald das Interesse an schauspieltheoretischen Überlegungen verlor, sich stattdessen der Dramentheorie widmete und auf einer eher unversöhnlichen Note endete : Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. […] Allgemeines Geschwätze darüber, hat man in verschiedenen Sprachen genug : aber specielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präcision abgefasste Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wüsste ich kaum zwei oder drei.509
Johann Friedrich Löwen, der Direktor der Hamburger Entreprise, publizierte, nur ein Jahr nachdem Lessing in der Theatralischen Bibliothek sein Werk über die körperliche Beredsamkeit angekündigt hatte, aber noch vor ihrer gemeinsamen Arbeit am Hamburger Nationaltheater, seine Kurzgefasten Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. Wie Lessing ist auch Löwen der Ansicht, dass Regeln das künstlerische Subjekt weder einschränken dürfen, noch das Kunstschaffen sich allein auf einen Regelkonformismus gründen könne : »Ein nach den Schul-Regeln gebildeter Redner ist wie ein an sich ungeschickter Liebhaber, der seiner Schönen tausend Romanen-Schwüre, die er nicht versteht, mit kaltem Blute vorsaget.«510 Gleichwohl ist er der Ansicht, dass selbst ein glückliches Genie »durch Regeln, Muster und Uebungen immer weiter muß gebessert werden.«511 Die für die Schauspielkunst relevante Beredsamkeit des Leibes lasse sich nach Löwen erstens durch vorbildliche Beispiele und Muster, zweitens durch beständiges Üben und drittens durch lesedidaktische Methoden sowie viertens durch rhetorische Regeln lehren und lernen. Für Lessing war die schauspielerische Praxis Ekhofs ein wesentlicher Anstoß dafür, systematisch darüber nachzudenken, »was ein anderer von ihm zu lernen«512 habe. Auch von Cicero ist bekannt gewesen, daran erinnert Löwen,513 dass er sich den römischen Schauspieler Roscius zum Vorbild nahm, ihm nicht selten ganze Textstellen vorlegte, um von ihm zu erfahren, welche Mimik sie am wirkungsvollsten begleiten würde. Das »Studium der großen 508 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [96. Stück, 18. April 1768]. S. 659. 509 Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [101.–104. Stück, 19. April 1768]. S. 683. 510 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 6. 511 Ebd. S. 7. 512 Ebd. S. 196. 513 Vgl. Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 9.
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Meister«514, so heißt es im Theaterkalender auf das Jahr 1778 unter der Überschrift »Muster bilden !«515, sei für Anwärter aller Kunstsparten neben dem »Studium der Natur«516 notwendig. Der Schauspieler müsse aber, um sich ein differenziertes Urteil bilden zu können, sowohl gute als auch schlechte Beispiele studieren. Dies konnte er, wenn er nicht die Gelegenheit hatte, selbst ins Theater zu gehen, in den zahlreichen zeitgenössischen Theaterjournalen. Die hier abgedruckten Schauspielerporträts, Aufführungskritiken und Rollenanalysen trugen dazu bei, eine innovative »Theaterhermeneutik«517 zu entfalten, in der dramatische Texte, Rollenanalysen und Bildrepräsentationen aufeinander bezogen werden konnten. Angesichts der normativen Kraft, die solche Muster entfalten können, rät Lorenz von Westenrieder, der an Gymnasien in Landshut und München als Lehrer für Rhetorik und Poetik tätig war, bei der »Bildung eines fähigen Schauspielers«518 eher davon ab, sich an Vorbildern orientieren zu wollen. Mit Verweis auf den antiken Bildhauer »Theopomp«519 rät er den angehenden Schauspielern, sich ganz dem Studium der Natur zu widmen : Das will ich dich lehren, mein Sohn, antwortete ihm Theopomp, indem er den jungen Menschen nach den öfentlichen Platz an einen Ort führte, von welchem sie das Gewimmel, und das große Schauspiel des Volks übersehen konnten. Sieh, mein lieber, sagte er, das sind meine Muster, die ich unaufhörlich studirt, von denen ich die Natur abgezogen, nachgeahmt habe.520
Bedenkt man, dass das gemeinsame Proben in der alltäglichen Praxis der Wanderschauspieler zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch eine Ausnahme darstellte,521 erscheinen die von Löwen zusammengetragenen lesedidaktischen Anregungen als nützliche Innovationen. Doch der Sänger, Kammermusiker und Komponist Ernst Christoph Dreßler, der in verschiedenen Schriften die Versuche unterstützte, eine selbständige, von den Italienern unabhängige deutsche Oper zu schaffen, betont noch im Jahr 1777, dass Schauspieler und Sänger sinnentnehmendes Lesen beherrschen müssen : Der Sänger muß lesen, schreiben, die Vocalen, die doppelten und die einfachen Mitlauter gut aussprechen können. Wenn ich Lesen von ihm verlange, so verstehe ich nicht das Lesen, 514 [Anonym] (1778) : Muster bilden ! In : Theaterkalender auf das Jahr 1778, 4. Jg. S. 10–11. S. 10. 515 Ebd. 516 Ebd. 517 Vgl. Košenina, Alexander (2011) : Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik aus Rollenanalysen und Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert. In : Aufführungsdiskurse im 18. Jahrhundert. Bühnenästhetik, Theaterkritik und Öffentlichkeit. Hrsg. von Yoshio Tomishige und Soichiro Itoda. München : iudicium. S. 41–74. S. 43. 518 [Westenrieder, Lorenz von] (1779) : Von der Bildung eines fähigen Schauspielers. S. 543. 519 Ebd. S. 545. 520 Ebd. 521 Vgl. Maurer-Schmoock, Sybille (1982) : Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. S. 173.
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wie Kinder anfangen zu buchstabiren, und lesen lernen, und können ; durch Lesen, verstehe ich hier, den Sinn der Worte, den ganzen Verstand der Rede, verstehen, fühlen, empfinden ; um den Vortrag, jeder Leidenschaft gemäß, natürlich werden zu lassen.522
An der Art und Weise, wie ein Schauspieler seinen Text vorlese, könne man erkennen, ob er ihn verstanden habe : »Man lasse den Sänger, wenn er Acteur seyn will, nur lesen, seine Rolle declamiren, so wird man gleich wissen, ob er Einsicht, Stärke oder Schwäche habe.«523 Dreßler, Löwen und Riccoboni sind hier einhellig der Ansicht, dass ein Schauspieler verstanden haben müsse, warum er was in welcher Rolle zu wem sage. Auch das war, als auf der Bühne in erster Linie ex tempore, aus dem Stegreif gespielt wurde, nicht üblich. Dem Schauspieler müssen, so Löwen, die Haupt- und Nebenumstände der Handlung bewusst sein und er müsse wissen, wie »die Menschen in diesen oder jenen Umständen zu handeln pflegen«524, um sich das Geschehen vor Augen führen zu können. Um zu vermeiden, dass auf der Bühne Auswendiggelerntes bloß rezitiert werde, rät Löwen dazu, dramatische Texte durch ein inhaltsbezogenes, lautes und betontes Vorlesen zu erschließen. Wichtig sei hierbei, auf die korrekte Akzentsetzung zu achten, Verse nicht zu »scandiren«525 und zu »Klapperwerk«526 werden zu lassen, sondern wie Prosa vorzutragen, »Macht-Wörter«527 zu identifizieren und entsprechend zu betonen. Für die stimmliche und körpersprachliche Gestaltung der Rede trägt Löwen eine Reihe von Regeln zusammen, die dem Schauspieler zur zweiten Natur, zur Gewohnheit werden sollen. Er fordert, dass die Stimme gemäßigt werden müsse, wenn der Schauspieler sanfte Leidenschaften ausdrücken wolle oder von sich spreche, bei starken und »stürmischen«528 Leidenschaften müsse die Stimme erhoben werden. Hierbei sei auf die »Gradatione«529, auf den allmählichen »Wachstum«530 von Leidenschaften zu achten. Riccobonis Anweisungen zur Bewegung des Körpers auf der Bühne erachtet Löwen als »pedantisch« und eher geeignet »lebendige Marionetten, als Redner und Schauspieler zu bilden«531. Er selbst empfiehlt – nicht weniger pedantisch – die Hände niemals allein, sondern nur zusammen mit dem ganzen Arm und langsam zu bewegen, der Schauspieler solle niemals die Finger bewegen und das »hüpfen«532 auf der Bühne unterlassen. Um das anständige SeTragen 522 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das Ernsthafte Singe-Schauspiel betreffend. Hannover und Cassel : Wilhelm Schmidt. S. 91. 523 Ebd. 524 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 15. 525 Ebd. S. 20. 526 Ebd. S. 22. 527 Ebd. 528 Ebd. S. 25. 529 Ebd. 26. 530 Ebd. 531 Ebd. S. 30. 532 Ebd. 37.
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Abb. 11 Hogarth, William (1753) : Analysis of Beauty, Plate II (Der Tanz). Kupferstich und Radierung, 42,5 × 53 cm. Frankfurt a.M.: Städelsches Kunstinstitut.
des Körpers zu erlernen, empfiehlt Löwen den angehenden Schauspieler die Lektüre von Hogarths The Analysis of Beauty.533 Hogarth bildet hier nicht nur grotesk hüpfende Bürgerpaare ab und stellt sie einem sich anmutig bewegenden, adeligen Paar entgegen, sondern liefert überdies auch eine praktische Anleitung, um die reizvollen Bewegungen zu lernen und zu üben. »Wer diese Bewegungen täglich mit den Händen und Armen, wie auch mit andern solchen Theilen des Körpers, welche derselben fähig sind, übet, der wird in kurzer Zeit seine ganze Person reizend und ungezwungen machen, daß es eine Lust seyn wird.«534 Der natürliche, ungezwungene und anmutig wirkende Ausdruck werde durch körpertechnische Übungen regelmäßig hervorgebracht. 533 Vgl. ebd. S. 29. 534 Hogarth, William (1754) : Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. S. 84. Vgl. Auch Hogarth, William (1753) : The Analysis of Beauty. S. 144 : »Daily practising these movements with the hands and arms, as also with such other parts of the body as are capable of them, will in a short time render the whole person graceful and easy at pleasure.«
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
2.3.2 Die »Präcision des Ausdrucks«535 – Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst als Reflexion des Umgangs in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik
Der Aufklärer Johann Jakob Engel, der die Kindertheaterstücke Der dankbare Sohn536 und Der Edelknabe537 schrieb, im Jahr 1776 als Philosophielehrer538 am Joachimthalschen Gymnasium in Berlin wirkte und schließlich von 1787 bis 1794 das Berliner Nationaltheater leitete,539 kann mit Löwens Darlegungen zur Beredsamkeit des Körpers wenig anfangen : »Denn in der That schwazt der Mann über unsre Materie eben so allgemeine, nichtssagende Dinge hin, wie die Franzosen, die vor ihm waren ; nur in einem weitschweifigern, mattern Style, versteht sich.«540 Durch Löwens Kurzgefaste Grundsätze sei Engel aber bewusst geworden, dass schauspielerische Gesten und Mienen in zweierlei Hinsicht beurteilt werden können : nämlich einerseits, ob sie schön seien und andererseits, ob sie wahr seien. Viel zu sehr habe man sich, so Engel, mit dem ersten Aspekt beschäftigt. Man habe der Frage, wie der Schauspieler seinen Körper auf der Bühne anmutig zu tragen, seine Bewegungen mit Grazie auszuführen, wie sich sein Spiel nach den Vorgaben der bienséance zu richten habe, zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Implizit wirft Engel den französischen Theatertheoretikern und Löwen vor, keine oder bloß unzureichende Beiträge zu einer natürlichen Schauspielkunst geleistet zu haben. Denn die Frage, ob das Spiel des Schauspielers wahr sei, zielt darauf ab, zu beurteilen, ob das Spiel des Schauspielers der »empirisch-anthropologische[n] Naturwahrheit«541 entspreche, ob es natürlich sei. Gleichwohl ist damit nicht gesagt, dass der Schauspieler als »Naturalist«542 die »gemeine alltägliche Gesticulation«543 auf die Bühne zu bringen habe. Die volle »Wahrheit der Natur fordert niemand ; sogar beleidigt sie den guten Geschmack : es ist Regel für jeden Künstler, nie die Nachahmung dem Vorbilde so gleich zu machen, daß sich beyde durch nichts Merklichs mehr unterscheiden.«544 Vielmehr geht es darum, die Darstellung des natürlichen Verhaltens durch die Kunst auf der Bühne zu vervollkommnen. Unter 535 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 19. 536 Vgl. Engel, Johann Jakob (1771) : Der dankbare Sohn. Ein ländliches Lustspiel in einem Aufzug. Leipzig : Dyckische Buchhandlung. 537 Vgl. Engel, J[ohann] J[akob] (1775) : Der Edelknabe. Ein Lustspiel in einem Aufzug. Aufgeführt auf dem Chursürstl[ichen] Theater zu München. München : Johann Nepomuk Fritz. 538 Vgl. hierzu Košenina, Alexander (2005) : Johann Jakob Engels sokratische Lehrmethode am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin (1776–1787). In : Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 189–204. 539 Vgl. hierzu D’Aprile, Iwan-Michelangelo (2006) : Die schöne Republik. S. 179–186. Vgl. auch Košenina, Alexander (2005) : Einführung : Johann Jakob Engel und die Berliner Aufklärung. S. 1–25. 540 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. Berlin : August Mylius. S. 72. 541 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 159. 542 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 22. 543 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. Berlin : August Mylius. S. 131. 544 Ebd. S. 127.
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dieser Vervollkommnung versteht Engel die »Präcision des Ausdrucks«545. Daher lehnt er den von Sainte-Albine beschriebenen Empfindungsschauspieler aus den gleichen Gründen wie Lessing ab. Echte Empfindungen seien nicht nur kein Garant für einen wirkungsvollen, überzeugenden und präzisen Ausdruck, sondern wahre Empfindungen bemächtigen sich zu leicht des Herzens und »hemmen oder verfälschen alsdann den Ausdruck, den sie, der Absicht nach, nur verstärken sollten.«546 Auch dürfen sich im Spiel des Schauspielers seine eigenen »natürlichen und angewöhnten Fehler«547 nicht bemerkbar machen. Er solle nicht sich selber spielen oder zeigen, »wie ihn Natur und Gewohnheit gemacht haben«548. Fischer-Lichte spricht hier davon, dass von dem Schauspieler gefordert werde, dass er seinen »phänomenalen Leib«549, sein leibliches »In-der-Welt-Sein«550 völlig semiotisiere, er völlig im Körperausdruck der Rollenfigur aufzugehen und »seinen Körper in ein vollkommenes Zeichen für die Empfindungen bzw. seelischen Zustände einer Figur«551 umzugestalten habe. In dieser »völligsten, abgemessensten Harmonie«552, so Engel, liege das höchste Ideal des Ausdrucks. Der vom Alter bereits gekrümmte »Ekhoff«, den Engel hier als Vorbild anführt, vergaß in stolzen Rollen keinen Augenblick, was sein Charakter erforderte ; er trug bis zum letzten Blicke, der ihm in die Coulisse nachspähte, seinen steifen unbiegsamen Nacken empor, und erst dann ward er auf einmal wieder das gebükte, in sich zusammengeschrumpfte Männchen, das man eher für alles Andre, als einen Schauspieler, gehalten hätte.553
Denn mögliche Ungenauigkeiten des Ausdrucks, eine fehlende Präzision oder der »Mangel der Harmonie«554 können dazu führen, dass die angestrebte Illusion von Wirklichkeit gestört, die von Diderot beschworene Wand zwischen Schauspielern und Zuschauern durchbrochen,555 das Schauspiel im schlimmsten Fall nicht verstanden werde und seine Wirkung so nicht entfalten könne : »[U]nd was nicht verstanden wird, kann nicht gefallen ; nicht rühren, kann keine der ästhetischen Wirkungen hervorbringen, die man sich bey Werken schöner Künste zum Zweck setzt.«556 Alle Täuschung, alle Wirkung
545 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 19. 546 Ebd. S. 105. 547 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 314. 548 Ebd. 549 Fischer-Lichte, Erika (1997) : Theater. In : Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim und Basel : Beltz. S. 985–996. S. 990. 550 Ebd. 551 Fischer-Lichte, Erika (1999) : Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. S. 58. 552 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 314. 553 Ebd. S. 315 554 Ebd. S. 316. 555 Vgl. Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 208. 556 Ebd. S. 45.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
könne verloren gehen. Daher erscheint Engel die erste Regel der Kunst ausnahmslos in der »Wahrheit des Ausdrucks«557 zu liegen. Unter dem Begriff des Ausdrucks, den Lessing zwar auch schon gebrauchte, aber nicht systematisch entfaltete, versteht Engel in Anlehnung an Ciceros Begriff der »significatio[nis]«558 die sinnliche Darstellung des Zustands, worin die Seele durch ihr Denken versetzt werde.559 Hiervon unterscheidet er die Malerei, die er in Anlehnung an Ciceros Begriff der »demonstraio[nis]«560 als die »sinnliche Darstellung der Sache selbst, welche die Seele denkt«561, bestimmt. »Malen heißt«, schreibt er an anderer Stelle : einen Gegenstand, nicht durch bloß willkürliche verabredete Zeichen für den Verstand andeuten, sondern ihn durch natürliche Zeichen vor die sinnliche Empfindung bringen. Das Wort : Löwe, erweckt bloß eine Vorstellung in meinem Verstande ; das Gemälde eines Löwen stellt mir das sichtbare Phänomen wirklich vor Augen.562
Malende Gebärden auf und abseits der Bühne sind für Engel solche Gesten, bei denen sichtbare Gegenstände voll- oder unvollständig nachgeahmt werden. So lasse sich die Höhe eines Berges gestisch nur unvollständig zum Beispiel durch das Erheben der Hand und des Körpers, durch das Zurücklehnen des Kopfes und einen emporgerichteten Blick andeuten – und bedürfe darüber hinaus einer verbalsprachlichen Erklärung oder der Angabe eines Kontextes, um verstanden werden zu können. »Die Bewegungen der Thiere, als z.B. eines stolzen sich brüstenden Rosses, sind schon nachahmbarer, wie uns das die Knaben in ihren Spielen zeigen ; aber am allernachahmbarsten sind die Gestalten und Veränderungen menschlicher Körper.«563 Da malende Gesten auf dem Prinzip der Ähnlichkeit beruhen, lassen sie sich auch in einer übertragenden Bedeutung verwenden – wie beispielsweise wenn ein Bediensteter, der wegen seiner »Bubenstücke«564 eine Körperstrafe zu erwarten habe, sich im Gespräch bereits den Rücken reibt, um seinem Gesprächspartner die zu erwartenden Schmerzen der Schläge anzudeuten. Im gesellschaftlichen Umgang lässt sich ein solches malendes Gestenspiel auch beobachten, wenn beispielsweise ein Erzieher seinen Schüler »über eine unanständige Stellung, über eine unschickliche Handlung beschämen will«565 und ihm die Handlung hierzu
557 558 559 560 561 562
Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 168. Ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 79. Ebd. S. 60. Ebd. S. 79. Engel, Johann Jacob (1802) : Über die musikalische Malerei [1780]. In : J. J. Engel’s Schriften, Bd. 4 : Reden. Ästhetische Versuche. Berlin : Myliussche Buchhandlung. S. 297–342. S. 300. 563 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 80. 564 Ebd. S. 90. 565 Ebd. S. 82.
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»mit ein wenig Karrikatur«566 vorführt. Das malende Gebärdenspiel zeige sich auch dann, so Engel, wenn eine Französin »ihr gnädiges Fräulein zu einer Grazie in Minen und Bewegungen bilden will ; so zeigt sie ihr das nachahmungswürdige Muster dieser Grazie an sich selbst«567. Meist sind diese Gesten dann »vergrößert«568, um die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners auf Details zu lenken. Auf der Bühne könne es daher unter Umständen natürlich wirken, wenn beispielsweise wie in Lessings Minna von Barnhelm der Wirt Minnas Verhalten – wie sie dem forteilenden Major nachfolgt, ihn halten will und schließlich angesichts seines Abschieds schwer bekümmert in ihr Zimmer zurückkehrt – bei seiner »Wiedererzehlung im dritten Aufzuge«569 nachahmt : »Er wird selbst mit den Händen ausgreifen, als ob er etwas zu halten hätte ; selbst in die Höhe sehen, die Augen troknen, den Körper, wie vor Verlegenheit, hin und her wenden, und wohl gar eine mehr weibliche Stimme annehmen.«570 Engel bemängelt aber, dass viele Schauspieler oft einzelne Worte ihrer Rede mit Gesten illustrieren und malende Gesten dort einsetzen, wo sie eigentlich die Empfindungen und Gedankengänge der Rollenfiguren hätten ausdrücken sollen. Engel berichtet von einer Aufführung von Corneilles Horace, bei der die Schauspielerin der Camilla bei dem Ausruf »Möchte Rom von der Erde verschlungen werden !« erst nach hinten wies, wo man sich Rom denken sollte, dann ihre Hand mit Heftigkeit gegen die Erde bewegte und schließlich ihre geballte Faust mehrfach hintereinander in Richtung ihres weit aufgerissenen Mundes schlug : »Ein Theil der Zuschauer lachte, ein anderer schien wegen der Bedeutung verlegen. Und in der That ; […] wie eine ganz andre, ganz verschiedene Erklärung des nemlichen Spiels ist noch möglich !«571 Leidenschaften oder die verschiedenen Zustände der Seele, in die sie das Denken versetze, sollen aber, so Engel, durch ausdrückende Gesten dargestellt werden. Mit dieser Forderung vollziehe Engel, so Günther Heeg, eine Wende von der Repräsentation zur Expression und breche mit den üblichen Traditionen der rhetorischen Deklamation und Gestikulation auf der Bühne.572 Er überwindet hiermit das rhetorische Primat der Sprache, denn ausdrückende Gesten sind keine körpersprachlichen Ornamente und dienen nicht der bloßen Untermalung oder Verdeutlichung der Rede, sondern fungieren als Expressionen von seelischen Zuständen und Veränderungen. Hierbei unterscheidet er erstens unwillkürliche, physiologische Gesten, zweitens freiwillige, absichtliche Gesten und drittens nachahmende, analoge Gesten. Unter physiologischen Gebärden versteht Engel jene »unwillkürlichen Erscheinungen, die zwar freylich physische Wirkungen der innern Gemüthsbewegungen sind, die wir aber 566 Ebd. 567 Ebd. S. 83. 568 Ebd. 569 Ebd. S. 81 570 Ebd. 571 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 49. 572 Vgl. Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 305.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst Abb. 12 Meil, Johann Wilhelm (1786) : »Möchte Rom von der Erde verschlungen werden !« In : Engel, Johann Jakob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. Berlin : August Mylius.
in der That nur als Zeichen begreifen : als Zeichen, welche die Natur durch geheimnisvolle Bande mit den inneren Leidenschaften verknüpft hat«573. Das Erröten oder Zittern könne zwar als Ausdruck von Scham oder Kälteempfinden verstanden werden, der Bühnenschauspieler sei aber weder in der Lage, sich die Schamesröte plötzlich ins Gesicht schießen zu lassen, noch absichtlich vor Kälte zu zittern. Dies seien physische Reaktionen, »die dem freyen Willen der Seele schlechterdings nicht gehorchen ; die sich weder da, wo wirkliche Empfindung sie hervorpreßt, gut zurückhalten, noch, wo diese wirkliche Empfindung fehlt, durch Kunst gut hervorbringen lassen.«574 Unter absichtlichen Gebärden versteht Engel »freywillige äussere Handlungen, aus welchen die Bewegungen, Triebe und Leidenschaften der Seele, zu deren Befriedigung sie als Mittel dienen, erforderlich sind.«575 Sich zu einem Gegenstand hinzuneigen, kann nicht nur Interesse bekunden, sondern Engel ist der Ansicht, dass hierdurch die Neugierde des Betrachters gestillt werde, die überhaupt erst Anlass zum sich Hinneigen gegeben habe. Es
573 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 98 f. 574 Ebd. S. 101. 575 Ebd. S. 96 f.
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ist somit nicht so sehr die Leidenschaft als vielmehr die Befriedigung dieser Leidenschaft, die durch die Geste ausgedrückt werde. Gesten, die der »Regel der Analogie«576 folgen, bestimmt Engel schließlich als »nachahmend ; nicht das Objekt des Denkens, aber die Fassung, die Wirkungen, die Veränderungen der Seele malend«577. Eine solche Analogie sieht Engel, wenn beispielsweise ein Gedankengang, der sich »leicht und ohne Anstoß«578 entwickle, durch einen freien und schnellen Gang, ein schwieriger hingegen durch einen langsamen und gehinderten Gang ausgedrückt werde. Als zentrales Gestaltungsmittel der Schauspielkunst erachtet Engel diese ausdrückenden Gebärden, da der eigentliche Schauplatz aller Handlungen seiner Ansicht nach die denkende und empfindende Seele sei. Die körperlichen Veränderungen gehören nur insoferne mit in die Reihe, als sie durch die Seele bewirkt werden, die Seele ausdrücken, in der Seele, als Zeichen von den Absichten und Bewegungen einer andern Seele, Begriffe und Entschlüsse hervorbringen, oder irgend einen andern zur Handlung gehörigen Eindruck auf sie machen.579
Auch die Rede müsse sich auf dem Theater letztlich dieser Aufgabe, der Expression von Zuständen und Veränderungen der Seele, verpflichten, wenn sie an einer vollständigen Illusion von Wirklichkeit mitwirken wolle. Das deutet Engel an, wenn er die »Versification«580 der Rede zwar als legitimes Ausdrucksmittel beschreibt, für das Drama aber eine prosaische Sprache als geeigneter erachtet, weil mit ihr die »Idee der Gegenwart«581 auf der Bühne nicht erschwert und eine »ununterbrochene Folge von Empfindungen durch die Rede«582 gewährleistet werde. Unter dieser »Vergegenwärtigung«583 und der »Continuität des Spiels«584 versteht Engel, dass die Personen im Drama »ihre Gefühle selbst im Augenblick des Eindrucks, ihre Ideen selbst im Augenblick des Entstehens mittheilen«585 und die Vergnügen bereitende Wirkung des Theaters eben »auf dieser vollständigen Erkenntnis der Art [beruhe], wie sich eine Handlung, Moment vor Moment, entspinnt, verwickelt, umwälzt, endigt«586. Diese sukzessive Entfaltung der Handlung sowie der sich 576 Ebd. S. 124. 577 Ebd. S. 97. 578 Ebd. S. 124. 579 Engel, Johann Jacob (1802) : Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung [1774]. In : J. J. Engel’s Schriften, Bd. 4 : Reden. Ästhetische Versuche. Berlin : Myliussche Buchhandlung. S. 101– 266. S. 149. 580 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 136. 581 Ebd. S. 151. 582 Ebd. 167. 583 Ebd. S. 150. 584 Ebd. S. 206. 585 Ebd. S. 147 586 Ebd. S. 150.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
»Augenblik vor Augenblik«587 vollziehende Einblick in die Charaktere der Bühnenfiguren erfordere ein unterbrechungsfreies und präzises Ausdrucksspiel der Schauspieler und sei der Garant für eine vollkommene Illusion und ansteckende Wirkung des Theaters. Während Lessing in der Bühnenillusion, der wahrscheinlichen Handlung und der natürlichen Darstellung der Charaktere eine Bedingung für die Übung des Empfindungsvermögens der Zuschauer sah, die das Theater erst zu der beschworenen Schule der Sitten mache, rückt Engel von dieser Funktionalisierung des Theaterspiels ab. Košenina unterstellt Engel zwar, seine wirkungsästhetischen Annahmen liefen stillschweigend darauf hinaus, »die Leidenschaften der Zuschauer zu erregen, um sie moralisch zu bessern.«588 Doch anders als Lessing äußert sich Engel nicht eindeutig dazu, ob und wie eine moralische Besserung mit der Rezeption des Bühnengeschehens einhergehen könne. Deutlicher als Lessing gelingt es ihm aber, die sympathische Gefühlsübertragung zwischen Schauspielern und Zuschauern herauszuarbeiten : Alle Minen der Akteure, sogar manche ihrer Bewegungen, ahmt der so ganz illudirte Zuschauer, wenn gleich schwächer, nach : ohne daß er noch weiß, was gesagt werden wird, wird er ernsthaft mit dem Ernsthaften, fröhlich mit dem Fröhlichen : sein Gesicht wird zum Spiegel, der alle die abwechselnden Gebehrden der auftretenden Personen, Verdruß, Spott, Neugier, Zorn, Verachtung getreu zurückwirft.589
Engel erfasst diese Wirkungsweise des Theaterspiels, bei der die Zuschauer das Dargestellte und Ausgedrückte innerlich und äußerlich nachempfinden und nachahmen, mit der medizinischen Metapher der »Ansteckung«.590 Sie könne nur gelingen, so Engel, wenn das, was auf der Bühne zum Ausdruck gebracht werde, nach dem »Selbstgefühl«591 der Zuschauer einzig wahr sei : Weg also aus dem Drama mit allem, worinn die Seele nur den mindesten Widerspruch, nur die kleinste Mißstimmung mit ihrem eigenen Wesen fühlt ; was sie nicht, beym Platzwechsel mit den handelnden Personen, gerade so wie es vorgestellt wird, in sich selbst hervorbringen kann ; wogegen ihre eigene Natur sich beym Nachempfinden sträubt ; wobey sie irgend ein Hindernis, irgend eine Schwierigkeit, in den Gesetzen ihrer eigenen Kräfte findet.
Eine Theorie der natürlichen Schauspielkunst, die auf dem Begriff des Ausdrucks gegründet wird, könne und dürfe dem Schauspieler keine genauen Vorschriften machen, so »daß der Künstler alles eigenen Nachdenkens überhoben und eben dadurch vom Range des 587 Ebd. 588 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 167. 589 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 87. 590 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (1999) : Der Körper als Zeichen und Erfahrung. S. 64. 591 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 152.
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Künstlers bis zum Range des bloß mechanischen Arbeiters erniedrigt werde.«592 Denn der Körperausdruck sei zwar von den veränderlichen Bewegungen der Seele abhängig, aber nicht determiniert. »Er ist kein Faktum, sondern ein interpretationsbedürftiges Zeichen.«593 Engel zeigt, das Körperausdrücke sich keineswegs eindeutig de- oder encodieren lassen. Beispielsweise lasse sich der Neid zwar analytisch von der Missgunst unterscheiden, im Gebärdenspiel zeige sich aber kein Unterschied. Andererseits finde die Eifersucht eine ganze Reihe von Ausdrücken : Der eifersüchtige Othello »wütet, weint, hohnlächelt, späht mit argwöhnischem Blick, jammert, fällt in Ohnmacht, schlägt, mordet : alle diese Ausdrücke gehören der Eifersucht ; aber wie unendlich abweichend und mannichfaltig sind sie !«594 Das Ausdrucksverstehen bleibt daher nicht nur auf eine verbalsprachliche Vermittlung durch Dialoge oder Monologe angewiesen, sondern ist grundsätzlich ein interpretatives Geschäft : Aus den jedesmaligen Charakter seiner Rolle muß der Schauspieler beurtheilen, was für einen Stand, was für eine Art sich zu tragen er in den ruhigern Conversationsscenen zu wählen habe. Eigenes Nachdenken können auch die bestimmtesten Regeln, auch die weitläufigsten Gallerieen von Gemälden ihm nicht ersparen : denn Anwenden und Aussuchen bliebe doch immer ihm selbst überlassen.595
Daher will und kann Engel den Schauspielern nicht wie in einem rhetorischen Regelwerk minutiös vorschreiben, wie sie ihre Arme und Beine auf der Bühne zu bewegen haben, um bestimmte Affekte darzustellen, er liefert den Schauspielern kein »abrufbares Zuordnungsschema zwischen Empfindungen und Ausdruck«596, sondern legt ihnen – wie Lichtenberg forderte – einen »Orbis pictus«597 vor, der den Schauspielern »allerlei Bemerkungen über den Menschen vorsagte und vorzeichnete, wodurch sie […] in den Stand gesetzt werden, alles mehr zu individualisieren«598. Obwohl Engels Ideen zu einer Mimik keine praktische Anleitung zur Schauspielkunst bieten, ermögliche seine Ausdruckstheorie dennoch eine »Kenntnis des Menschen, die als 592 Ebd. S. 13. 593 Heeg, Günther (2000) : Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 307. 594 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 234. 595 Ebd. S. 116. 596 Heeg, Günther (2000) : Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 308. 597 Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Vorschlag zu einem Orbis Pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler. S. 308. – Wie Comenius’ Orbis pictus sind auch Engels Ideen zu einer Mimik mit zahlreichen Illustrationen versehen. Der Maler und Radierer Johann Wilhelm Meil fertigte die erläuternden Kupfertafeln zu Engels Buch an, das gleichwohl nicht wie Comenius’ Orbis pictus als Lese- oder Lehrbuch konzipiert war, sondern in Form eines fiktiven Briefwechsels verfasst wurde. Durch diese Briefform bedient Engel nicht nur einen literarischen Trend, sondern unterstreicht den um Intersubjektivität bemühten Charakter seines Ansatzes. 598 Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Vorschlag zu einem Orbis Pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler. S. 312 f.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
solche ihren innern absoluten Werth hätte«599, sie wäre »höchst wichtig für die Aesthetik, höchst wichtig für die Seelen- und vielleicht selbst für die Sittenlehre«600 und könne den Schauspieler »wecken und warnen, und in zweifelhaften Fällen ihm zu einer schnellern oder gewissern Entscheidung verhelfen.«601 Insofern erwartet Engel »vom Theoretiker der Mimik wie vom Schauspieler die Auseinandersetzung mit der Anthropologie.«602 Die Bildung der Schauspieler und die Grundlegung der Schauspielkunst beginnt für ihn nicht bei der Rhetorik, sondern muss den Umweg über die Anthropologie, die Psychologie und die empirische Naturbeobachtung nehmen. Denn wir »kennen die Natur der Seele nur durch ihre Wirkungen, und sicher würden wir manchen Aufschluß mehr über sie erhalten, wenn wir diese Art ihrer Wirkungen, die mannichfaltigen Ausdrücke ihrer Ideen und Bewegungen im Körper, fleissiger beobachten wollen.«603 Allerdings weist Engel darauf hin, dass der natürliche Körperausdruck nicht überall beobachtet werden könne : Nur sehen Sie, bitt ich, wenn Sie vollen, kräftigen Ausdruck suchen, nicht auf die vornehmern Stände, nicht auf die sogenannten Leute von Welt, von Lebensart, von Erziehung. Die Erziehung macht den Menschen zu einem zwiefachen Lügner ; sie lehrt ihn die eine Art von Empfindungen nach ihrer wahren Stärke verbergen, die andere in falscher Stärke erheucheln. […] Der Pöbel, das Kind, der Wilde, kurz der Mensch ohne Sitten ist der wahre Gegenstand, an dem man den Ausdruck der Leidenschaften studiren muß, so lange man noch nicht auf seine Schönheit, sondern bloß auf seine Kraft, seine Richtigkeit sieht.604
Unter der Abstraktion von geschlechts-, alters-, standes- und kulturspezifischen Eigenheiten erarbeitet Engel eine grobe Klassifikation der einfachen, nicht-zusammengesetzten Zustände der Seele und rekonstruiert über die Regel der Analogie die natürlichen, allgemein verständlichen Zeichen des Körperausdrucks des »Mensch[en] ohne Sitten«605. Diese Klassifikation habe nicht das, »was geäußert wird, zum Gegenstand (d.h. Malerei), sondern wie, mit welchem Habitus etwas gesagt und getan wird (d.h. Ausdruck).«606 Zunächst unterscheidet er hier zwischen ruhenden und tätigen Zuständen der Seele, differenziert dann bei Letzteren zwischen solchen des Herzens und des Verstandes. Im ruhenden Zustand lasse sich bereits an den »Attitüden des Körpers«607 der Charakter einer Figur erkennen, »die gewöhnliche Stellung wird die gewöhnliche Fassung verrathen ;
599 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 23. 600 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 77. 601 Ebd. S. 14. 602 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 163. 603 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 24. 604 Ebd. S. 176 f. 605 Ebd. 606 Bachmann-Medick, Doris (1989) : Die ästhetische Ordnung des Handelns. S. 97. 607 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 111.
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man wird darinn schon einen Anfang, ein Element von Ausdruck entdecken.«608 Eine eindeutige Zuweisung von Charakter und äußerlicher Gestalt, wie sie Lavater propagierte, vertritt Engel jedoch nicht. Auch der Ausdruck einer untätigen Seele bleibe Gegenstand der Interpretation und löse, so Fischer-Lichte, den von Lang unterschiedslos als Ausgangposition für alle Bühnenfiguren beschrieben Kontrapost ab.609 Da es im Ausdruck keine Pause gäbe, die Bühnenillusion die »Continuität des Spiels«610 erfordere, schließt Engel auf drei mögliche Übergänge, die sich im Ausdrucksspiel zeigen : Die Ablösung verschiedener ruhender Zustände der Seele, das Tätigwerden der Seele sowie den Übergang von verschiedenen tätigen Zuständen der Seele. Aus dem untätigen Zustand werde die Seele, so Engel, entweder durch ein Wollen oder durch Anschauungen gerissen. Daher unterscheidet Engel bei den Zuständen der Seele, die vom Denken betroffen sind, zum einen die Affekte des Anschauens wie zum Beispiel die Bewunderung von Ordnung und Harmonie sowie das Missfallen von Unordnung, zum anderen die Begierde nach Wissen und neuen Erkenntnissen. Die Analogie zwischen dem körperlichen Ausdruck und dem inneren Zustand der Bewunderung sieht Engel darin, dass die »Erweiterung der Seele«611 im Zustand der Bewunderung mit einer Erweiterung des Körpers korrespondiere : »Die Augen, der Mund sind geöfnet ; die Augenbrauen um ein weniges in die Höhe gezogen ; […] denn die Seele mögte von dem Gegenstande, der hier als groß und als sichtbar vorausgesetzt wird, gerne so viel Lichtstrahlen einziehn als möglich«612. Auch bei den Zuständen der Seele, die das Herz und das Empfinden betreffen, unterscheidet er zwischen solchen, die durch Begierden oder durch Anschauungen bewirkt werden. Diese können sich als ein Streben (eine Sehnsucht oder Genießen-Wollen) oder eine Ablehnung (ein Sich-Entziehen oder einen Gegenstand Entfernen-Wollen) äußern, bei jenen, die durch Anschauungen bewirkt werden, differenziert Engel abermals zwischen angenehmen und unangenehmen sowie zwischen selbstbezogenen und fremdbezogenen. Zum Beispiel seien Stolz und Freude für Engel angenehme, selbstbezogene Affekte der Anschauung, die Verachtung oder der Hass hingegen unangenehme, fremdbezogene.613 Der Zustand der Freude, bei der Vorfälle der Seele eine weite Aussicht auf angenehme Folgen in der Zukunft eröffnen, korrespondiere mit einem offenen Gesichtsausdruck, in dem alle Teile »offen und frey, die Stirne heiter und ausgeglättet«614 seien. Die Verachtung, die »Herabwürdigung Anderer in Vergleichung mit uns selbst, indem wir unsre eignen Personen, Eigenschaften, Ideen höher als die ihrigen schätzen«615, zeige sich in 608 Ebd. 609 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2. S. 167. 610 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 206. 611 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 144. 612 Ebd. S. 144 f. 613 Vgl. ebd. S. 137–140, 151–154. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika (2007) : Semiotik des Theaters, Bd. 2. S. 165. 614 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 245. 615 Ebd. S. 276.
Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst
der »Selbsterhebung des Stolzen«616, durch einen flüchtig von der Höhe herabgeworfenen Blick und ein »höhnisches Ausmessen mit dem Auge, indem sich das Haupt ein wenig zur Seite neigt, als ob man Mühe hätte, die ganze Niedrigkeit des Menschen von seiner Höhe herab gewahr zu werden«617. Dass es Engel bei seinen umfangreichen Beschreibungen körperlicher Ausdrücke nicht um eine Normierung, sondern vielmehr um eine Interpretation des analogen Verhältnisses von psychischen Zuständen und ihrem körperlichen Ausdruck geht, verdeutlicht seine Kritik an der Spiegelszene im vierten Akt aus Friedrich Maximilian Klingers Trauerspiel Die Zwillinge. In der Szene sieht Guelfo, der zuvor seinen Bruder erschlagen hat, sein Spiegelbild und zerschmettert den Spiegel, da er seinen Anblick nicht erträgt. Engel hält diesen Akt der Zerstörung für einen eher unwahrscheinlichen Ausdruck von Reue : »Innere Gewissensangst, deucht mir, ist gegen alles Aeussere friedfertig ; was sie angreift, ist lediglich der Geängstigte selbst«618. Ein solcher Angriff geschehe »vorzüglich auf Haupt, Stirne, Busen, Wangen, Seiten, also gerade auf diejenigen Theile […], in welchen das Blut bei den Leidenschaften am meisten stürmt und die Nerven am gewaltsamsten erschüttert werden.«619 Engels Kritik richtet sich gegen solche Schauspieler, die nicht die Zusammenhänge von psychischen Zuständen einer Bühnenfigur und ihrem Körperausdruck ergründen, sich statt dessen in den »heftigsten, gewaltsamsten Bewegungen immer am meisten gefallen«620 und es ablehnen »sich zu vervollkomm[n]en, sich durch Lektüre und Nachdenken und gewähltern Umgang für jedes Erfordernis ihrer Kunst mehr zu bilden«621. Er befürchtet gar, dass der, der sie unterrichten wolle, sich eher ihren Unwillen als ihren Dank einhandle.622 Und bei den Schauspielern, die sich stets im Ausdruck vergreifen, die nicht den »für ihre Kunst unentbehrlichen Sinn«623 für wahre Empfindungen besäßen, könne auch kein Unterricht, keine Theorie und keine Vorschrift etwas an ihrem Spiel ändern : »Kunstregeln überhaupt werden nicht, wie die moralischen Gesetze, nur den Schlechten ; sie werden nur den Guten geschrieben.«624 Engel fordert, »daß der Schauspieler seine einzelne Rolle in die Verbindung aller hineinstudiren, die vom Dichter abgezielte Wirkung sowohl des ganzen Stücks, als der einzelnen Situation fassen, und hieraus die wahre Haltung für seinen einzelnen Charakter finden«625 müsse. Er ist sich jedoch bewusst, dass der durchdringende Blick, der zu diesem 616 Ebd. S. 277. 617 Ebd. 618 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 162. 619 Ebd. S. 303. 620 Ebd. S. 163 621 Ebd. S. 44. 622 Vgl. ebd. S. 45. 623 Ebd. S. 323. 624 Ebd. 625 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 186.
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Rollen-, Text- und Körperstudium erforderlich sei, »nicht jedem, auch sonst Talentvollen, Künstler verliehen«626 wurde. Die Aufgabe der Theaterleiter bestünde deshalb darin, die »weniger einsichtsvollen Schauspieler«627 hierbei anzuleiten. Sie sollen den Schauspielern helfen, das Stück, den zu spielenden Charakter, seine Beziehung zu anderen Charakteren und seine Funktion im Gesamtzusammenhang des Dramas zu verstehen. Die mit dem Rollenstudium verbundene Suche nach dem präzisen Ausdruck der psychischen Zustände einer Bühnenfigur stellt für Engel eine Reflexion des alltäglichen Umgangsverhaltens dar, die nicht in einem eindeutigen Kanon von Regeln münden könne : Aus dem jedesmaligen Charakter seiner Rolle muß der Schauspieler beurtheilen, was für seinen Stand, was für eine Art sich zu tragen er […] zu wählen habe. Eigenes Nachdenken können auch die bestimmtesten Regeln, auch die weitläufigsten Gallerieen von Gemälden ihm nicht ersparen : denn Anwenden und Aussuchen bleibe doch immer ihm selbst überlassen. Und hinlänglich vollständig zu seyn, wäre ohnedieß bei der unendlichen Mannichfaltigkeit gar nicht möglich.628
Doch Engel ist der Auffassung, dass sich diese Forderungen angesichts der misslichen Verhältnisse am Theater nicht umsetzen lassen werden. »Es sind Träume«629, schreibt er, »so lange auch der einsichtsvolle Directeur immer nur für Abwechslung«630 sorgen will, die Schauspieler bei den Proben ihre Rollen »nur einigermassen gelernt«631 haben und »nicht um Beyfall, aber um Brod«632 spielen.
626 Ebd. S. 193. 627 Ebd. S. 194. 628 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 116. 629 Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 194. 630 Ebd. 631 Ebd. 632 Ebd.
3 Die Anstalt der »höhern Sinnlichkeit«1 – Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung Das Theater ist eine »sonderbare Anstalt«2, erklärt Goethe in seinem 1813 verfassten Text über Deutsches Theater, der ursprünglich als Teil eines Kapitels von Dichtung und Wahrheit geplant war, aber erst im Jahr 1833 postum aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Die Emanzipationsbemühungen des Theaters, schreibt Goethe hier, seien nie von langer Dauer gewesen. Drei Hauptgegner seien stets bestrebt gewesen, die Freiheiten und Frechheiten des Theaters einzudämmen : »[D]ie Polizei, die Religion und ein durch höhere sittliche Ansichten gereinigter Geschmack.«3 In England hätten die Puritaner die Bühnen geschlossen,4 in Frankreich hätte die Pedanterie Kardinal Richelieus5 das Theater in seine heutige Form gezwängt und in Deutschland sei das Theater – »ohne es zu wollen«6 – den Forderungen der Geistlichkeit entsprechend gebildet worden : Aus rohen und doch schwachen, fast puppenspielartigen Anfängen hätte sich das deutsche Theater nach und nach durch verschiedene Epochen zum Kräftigen und Rechten vielleicht durchgearbeitet, wäre es im südlichen Deutschland, wo es eigentlich zu Hause war, zu einem ruhigen Fortschritt und zur Entwicklung gekommen ; allein der erste Schritt, nicht zu einer Besserung, sondern zu einer sogenannten Verbesserung geschah im nördlichen 1 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Deutsches Theater [1813]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 19 : Ästhetische Schriften 1806–1815. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 600–602. S. 601. 2 Ebd. S. 600. 3 Ebd. – Vgl. hierzu auch Wild, Christopher (2002) : Die Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit : Der Fall Gottsched. 4 Goethe bezieht sich auf die am 2. September 1642 gesetzlich angeordnete Schließung aller öffentlichen Schauspielhäuser in England, die bis ins Jahr 1660 anhalten sollte (Haider-Pregler 1980 : 76–82). 5 Das Theater der französischen Klassik sollte einerseits für angenehme Unterhaltung und Ablenkung (Divertissement) sorgen, andererseits fügte es sich in die höfische Repräsentations- und Festkultur ein. Kardinal Richelieu, den Goethe hier anführt und der unter Ludwig XIII. als erster Minister das Staatswesen Frankreichs schrittweise zu einer absoluten Monarchie umstrukturierte, stellte das Theater wie die anderen Künste in den Dienst staatlicher Machtentfaltung und ihrer öffentlichen Repräsentation. Der Abbé François Hédelin d’Aubignacs untermauerte in seiner Schrift über die Pratique du théâtre aus dem Jahr 1657, die 1715 neu aufgelegt wurde, nicht nur die dramaturgische Implikation dieser doctrine classique, sondern sah das normpoetisch geregelte Theater »ganz im Sinne von Richelieus Projekt einer Politisierung und Instrumentalisierung der Künste« als Medium zur Repräsentation politischer Ordnung (Kolesch 2006 : 139). Vgl. hierzu auch Kap. 2. 1. 1 : »Natur ! Wie viele Leute brauchen dieses Wort, ohne seinen Umfang zu kennen !« – Die Natur der natürlichen Schauspielkunst. 6 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Deutsches Theater [1813]. S. 600.
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Deutschland von schalen und aller Produktion unfähigen Menschen. […] Zu dieser Zeit nun, als der seichte Geschmack den deutschen Schauspieler zu zähmen und die privilegierten Spaßmacher von den Brettern zu verbannen suchte, fingen die noch nördlichern Hamburgischen Pfarrer und Superintendenten einen Krieg gegen das Theater überhaupt zu erregen an. Es entstand schon vorher die Frage : ob überall ein Christ das Theater besuchen dürfe ; und die Frommen waren selbst untereinander nicht einig, ob man die Bühne unter die gleichgültigen (Adiaphoren) oder völlig zu verwerfenden Dinge rechnen solle.7
Goethe erklärt, dass in Folge dieses Streits das Theater, das eigentlich der »höhern Sinn lichkeit«8 verpflichtet sei, von den Freunden der Bühne als eine Anstalt der Sittlichkeit ausgegeben wurde : Die Theaterreformer behaupteten, das Theater könne lehren und bessern, und also dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen. Die Schriftsteller selbst, gute wackere Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sich’s gefallen, und arbeiteten mit deutscher Biederkeit, daß sie die Gottschedische Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten und sie, ohne es selbst zu wollen und zu wissen, perpetuierten.9
Schon in den mit Schiller verfassten Xenien wird das bürgerliche Theater einem klassischen Theater karikierend gegenübergestellt : Er Also sieht man bei euch den leichten Tanz der Thalia / Neben dem ernsten Gang, welchen Melpomene geht ?
7 Ebd. S. 600 f. – Während es im ersten adiaphoristischen Streit kurz nach Luthers Tod um die Frage ging, welche religiösen Riten im Gottesdienst geduldet werden können ohne zu katholischen Formen zurückzukehren, drehte sich der zweite adiaphoristische Streit zwischen 1690 und 1730, auf den Goethe hier anspielt, um die Frage, welche Rolle Vergnügungen und leibliche Genüsse im Leben eines Gläubigen spielen dürfen (Wels 2012 : 58–88). Dass sich die Protestanten hierüber nicht einig waren, zeigt der sogenannte erste Hamburger Theaterstreit. Als am 2. Januar 1678 das öffentliche Opernhaus am Gänsemarkt mit dem Singspiel Adam und Eva oder Der Erschaffene, Gefallene und Aufgerichtete Mensch von Johann Theile aufgeführt wurde, entzündete sich ein Streit zwischen Befürwortern und Gegnern. Der Hauptpastor der Sankt-Jacobi-Kirche, Anton Reiser, nach dem Moritz den Helden seines gleichnamigen Theaterromans benannte, verfasste in diesem Zusammenhang die polemische Streitschrift theatromania, Oder Die Wercke der Finsterniß (Reiser 1681). Ausgangspunkt des zweiten Hamburger Theaterstreits waren die dramatischen Arbeiten von Johann Ludwig Schlosser, einem protestantischen Prediger. Der Hamburgische Pfarrer und Superintendenten Johann Melchior Goeze, auf den Goethe im Zitat anspielt, versuchte in seiner Theologischen Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen deutschen Schaubühne aus dem Jahr 1769 zu begründen, warum ein im Predigeramt stehender Mann die Schaubühne nicht besuchen, sie nicht als Schule der Sitten anpreisen sowie keine Komödien schreiben, aufführen und drucken dürfe (Haider-Pregler 1980 : 96–102). 8 Ebd. S. 601 [Herv. d. Verf.]. 9 Ebd. S. 601.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
Ich Keines von beiden ! Uns kann nur das christlichmoralische rühren, / Und was recht populär, häuslich und bürgerlich ist. Er Was ? Es dürfte kein Cäsar auf euren Bühnen sich zeigen, / Kein Anton, kein Orest, keine Andromache mehr ? Ich Nichts ! Man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräte, / Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors. Er Aber ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misère / Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn ? Ich Was ? Sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken / Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr. Er Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal, / Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt ? Ich Das sind Grillen ! Uns selbst und unsre guten Bekannten, / Unsern Jammer und Not suchen und finden wir hier.10
Goethes und Schillers Satire richtet sich gegen die Popularität, die motivische Monotonie und die Wirkungsästhetik des bürgerlichen Theaters, das in Form des Rührstücks von Autoren wie Friedrich Ludwig Schröder sowie insbesondere August Wilhelm Iffland, dem »Docteur en Morale à Mannheim«11, und dem »Thränschleusen-Director«12 August von Kotzebue an vielen deutschen Bühnen den Spielplan dominierte. Kritisch beäugten Goethe und Schiller zum einen die, so Lothar Pikulik, »moralisierende[n] Tendenzen«13, durch die das Theater zu einer »Stätte der sittlichen Besserung«14 verklärt und auf seine moralpädagogische Funktion reduziert wurde, sowie zum anderen die »Verbiederung der 10 Schiller, Friedrich (1992) : Xenien aus dem »Musen-Almanach für das Jahr 1797«. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Axel Gellhaus, Klaus Harro Hilzinger u.a., Bd. 1 : Gedichte. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag. S. 577–630. 628 f. – Der gleiche Wortlaut findet sich auch in Schillers parodistischem Gedicht Shakespears Schatten, das 1796 im Zusammenhang mit den Xenien entstanden ist (Schiller 1992 : 159 f ). 11 Zimmermann, Johann Georg (1904) : A Monsieur Iffland Docteur en Morale à Mannheim [26. Juni 1787]. In : A. W. Ifflands Briefe an seine Schwester Louise und andere Verwandte 1772–1814. Hrsg. von Ludwig Geiger. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 304–305. S. 305. 12 [Scholz, Ferdinand Wilhelm von] (1802) : Ueber August von Kotzebue, in den vorzüglichsten und interessantesten Verhältnissen als Mensch, Dichter und Geschäftsmann. Mit Rücksicht auf das merkwürdigste Lebensjahr, den litterarischen Verbindungen, Unternehmungen und Fehden desselben. Frankfurt a. M.: Behrenssche Buchhandlung. S. 4. 13 Pikulik, Lothar (2007) : Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Hildesheim, Zürich, New York : Georg Olms. S. 11. – Auch Karl Philipp Moritz erkennt diese Tendenzen. Ifflands Drama Die Jäger, so Moritz, wende sich gegen Intoleranz und Religionshass und habe einen »unleugbaren moralischen Wert – es kann wirklich bessern – und wer wollte solche Eigenschaften bei irgend einem Produkt des Geistes nicht schätzen – aber hier ist die Frage davon : ob die Kunst dadurch Fortschritte gemacht habe, oder nicht ? – und diese Frage bin ich geneigt mit Nein zu beantworten« (Moritz 1997 : 874). 14 Ebd. S. 12.
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Schaubühne zu einer ›bürgerlichen Anstalt‹«15, die sich damit begnügte, die bürgerliche Alltagswelt theatralisch zu spiegeln und auf eine sentimentalistische Rührung des Publikums abzielte. Eduard Devrient beschreibt in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst Ifflands dramatische Arbeit rückblickend als »Porträtieren«16, als »Genremalerei«17, die auf das Gebiet des bürgerlichen Lebens beschränkt geblieben sei. Seine Zeichnungen hätten stets etwas »Belehrendes«18 gehabt. Während seine Dramen aber dem Schauspieler noch das von ihm selbst umschriebene Geschäft der »Menschendarstellung«19 abverlangten, sei in den Stücken Kotzebues der schauspielerische Anspruch auf Seelenmalerei, auf die Darstellung von Charakteren und Individualität zugunsten der Darstellung von »Schablonenwesen«20 herabgesunken. Bei allen Unterschieden lag dem Rührstück aber, so Ueding, ein »einheitliches Konzept der Wirkungsästhetik«21 zugrunde. Durch die Darstellung gewöhnlicher Charaktere, die Verortung der Handlung im familiären Rahmen und die Domestizierung des Ausdrucks von Empfindungen zielten die Stücke darauf ab, eine »anmutende, Vergnügen und sanfte Gefühlsschwärmerei erlaubende, Wohlwollen erweckende Rührung«22 im Zuschauer zu erzeugen. Solche »schmelzenden Affekte die bloß zärtlichen Rührungen«, schreibt Schiller in Über das Pathetische, gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem die schöne Kunst nichts zu thun hat. Sie ergötzen bloß denn Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung, und beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen. Viele unserer Romane und Trauerspiele, besonders der sogenannten Dramen (Mittelding zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und der beliebten Familiengemählde gehören in diese Klasse. Sie bewirken bloß Ausleerun-
15 Ebd. 16 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 606. 17 Ebd. – Zu einem vergleichbaren Urteil kam auch Ifflands Zeitgenosse Karl Philipp Moritz : »Zum Verfall unsrer dramatischen Literatur tragen selbst die gutgeratnen Familiengemälde von Iffland und Großmann bei. […] Die Ausarbeitung solcher Scenen, die man nur so aus der Natur hebt, und hinwirft, kann einem unmöglich so sehr am Herzen liegen, als wenn man genötigt ist, sie sorgfältig in ein Ganzes zu fügen, und sehr lange ab und zutun muß, bis etwas Vollkommenes daraus erwächst. – Indes sind jene Familiengemälde die sechs Schüsseln, die Jäger, und Verbrechen aus Ehrsucht, fast noch immer das Beste unter den neuern dramatischen Produkten, – sie sind wenigstens das, was die holländische Schule in der Malerei – eine getreue Kopie der Natur« (Moritz 1997 : 873 f ). 18 Ebd. 19 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung [1785]. In : August Wilhelm Iffland. Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn. S. 26–91. S. 40. 20 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 606. 21 Ueding, Gert (1987) : Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815. München : Hanser. S. 321. 22 Ebd. S. 322 f.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
gen des Thränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße ; aber der Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt.23
Der Erfolg dieser Stücke, der bis ins 19. Jahrhundert anhalten sollte, rührte einerseits daher, so Ueding, dass sie das inzwischen zu einer »Zwangsjacke«24 erstarrte bürgerliche Tugendsystem thematisierten und die »unmenschlichen Auswirkungen bürgerlicher Moral«25 illustrierten, andererseits aber die bürgerliche Ordnung hochhielten, indem die Figuren sich am Ende in der Regel in die Obhut der väterlichen Fürsorge ergaben. Ein solches »nationales Erziehungsinstitut für gute bürgerliche Untertanen«26, das es dem fürstlichen Landesvater erlaube, sich in der Rolle des Hausvaters auf der Bühne wiederzuerkennen, hatte Schiller gewiss nicht vor Augen, als er das Theater als moralische Anstalt beschrieb. Dass Schiller eine ideologische, moralpädagogische Verzweckung ebenso wie die nützliche Indienstnahme des Theaters und der Schauspielkunst monierte, aber dennoch an einer möglichen moralisierenden Wirkung des Theaters festhielt, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass er seine Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? in seinen Kleineren prosaischen Schriften im Jahr 1802 unter dem Titel Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet neu herausgab.27 Schillers Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, die ein Beleg dafür ist, wie sehr Schiller von Kants Kritik der Urteilskraft28 in Bann geschlagen wurde, lässt überdies erkennen, dass Schiller zwischen 23 Schiller, Friedrich (1992) : Über das Pathetische [1793]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 423–451. S. 427. 24 Ueding, Gert (1987) : Klassik und Romantik. S. 315 25 Ebd. 26 Ebd. S. 319. 27 Schiller, Friedrich (1802) : Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der Churfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784). In : Kleinere prosaische Schriften. Aus mehrern Zeitschriften vom Verfasser selbst gesammelt und verbessert. 4. Theil. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 3–27. 28 Angeregt durch die Briefe über die Kantische Philosophie (1787) von Carl Leonhard Reinhold, der an der Universität in Jena Philosophie lehrte, beschäftigte sich Schiller seit Februar 1791 mit Kants Kritik der Urteilskraft, die ein Jahr zuvor erschienen war. Unter dem Eindruck der kritischen Philosophie Kants und finanziell abgesichert durch ein dreijähriges Stipendium, das er im Dezember 1791 vom dänischen Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, dem dänischen Thronfolger, und dem Grafen Ernst Heinrich von Schimmelmann erhielt, schreibt und veröffentlicht Schiller im Verlauf der 1790er Jahre in rascher Abfolge eine ganze Reihe kunsttheoretischer Aufsätze : Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), Über tragische Kunst (1792), die Kallias-Briefe (1793, erschienen erst 1847), Über Anmut und Würde (1793), Vom Erhabenen (1793), Über das Pathetische (1793), Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten (1793) und die Briefe an den Augustenburger (1793), die er in einer überarbeiteten Fassung 1795 unter dem Titel Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen in seiner Zeitschrift Die Horen veröffentlicht. Während Kant konsequent ausschloss, dass ein Gegenstand von sich aus schön sein könne, versuchte Schiller gerade im Anschluss an Kants Subjektivierung der Ästhetik eine Brücke
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der Moralisierung als Zweck und als Wirkung der Kunst zu differenzieren wusste. »Die wohlgemeinte Absicht«, schreibt Schiller hier, »das Moralischgute überall als höchsten Zweck zu verfolgen, die in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte und in Schutz nahm, hat auch in der Theorie einen ähnlichen Schaden angerichtet.«29 Wie Goethe ist auch Schiller der Ansicht, dass den Künsten – und somit auch der Schauspielkunst und dem Theater – der Auftrag zur Moralisierung aufgezwängt wurde. Es sei versucht worden, schreibt Schiller, den Künsten einen »Beruf aufzudringen, der ihnen fremd und ganz unnatürlich«30 gewesen sei, um ihnen einen »hohen Rang anzuweisen«31 und sie der »Gunst des Staates, […] [der] Ehrfurcht aller Menschen«32 zu versichern. Schiller ist der Ansicht, dass die Kunst durchaus eine moralisierende Wirkung auf die Rezipienten haben könne, aber eben nur dann, wenn die Kunst nicht dazu gezwungen werde, sie diesen Zweck nicht absichtsvoll verfolge : Ist der Zweck selbst moralisch, so verliert sie das wodurch sie allein mächtig ist, ihre Freiheit, und das, wodurch sie so allgemein wirksam ist, den Reiz des Vergnügens. Das Spiel verwandelt sich in ein ernsthaftes Geschäft, und doch ist es gerade das Spiel, wodurch sie das Geschäft am besten vollführen kann. Nur indem sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllt, wird sie einen wohltätigen Einfluß auf die Sittlichkeit haben ; aber nur indem sie ihre völlige Freiheit ausübt, kann sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllen.33
Daher rügt Schiller in seinem Brief an Goethe vom 7. August 1797 die Instrumentalisierung der Künste in Diderots Schriften zur Malerei und zum Theater : »Er sieht mir bei aesthetischen Werken noch viel zu sehr auf fremde und moralische Zwecke, er sucht diese nicht genug in dem Gegenstande und seiner Darstellung. Immer muß ihm das schöne Kunstwerk zu etwas anderm dienen.«34 Mit dieser Kritik folgt Schiller Kants Bestimmung der »Autonomie des Ästhetischen«35, der kategorialen Abgrenzung des Theoretischen und Praktischen vom Ästhetischen sozu den Gegenständen zu schlagen und einen objektiven Begriff von Schönheit herzuleiten, für den er die Formel von der Freiheit in Erscheinung fand (Feger 2005). 29 Schiller, Friedrich (1992) : Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen [1792]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 234– 250. S. 235. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. S. 236 34 Schiller, Friedrich (2002) : An Johann Wolfgang von Goethe [Jena, den 7. August 97]. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf Peter Janz u.a., Bd. 21 : Briefe II. 1795–1805. Hrsg. von Norbert Oellers. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 308–310. S. 309. 35 Ehrenspeck, Yvonne (2001) : Stichwort : Ästhetik und Bildung. In : Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4. Jg. Heft 1. S. 5–21. S. 8.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
wie der Abgrenzung des Angenehmen und Nützlichen vom Schönen. Kants Theorie der ästhetischen Erfahrung – wie man »heutzutage«36 sagen würde – fußt auf der Annahme, dass Schönheit keine objektive Eigenschaft von Gegenständen, sondern eine mit Lust verbundene Zuschreibung des Gefallens sei, die als reflexives Urteil eines Subjekts das freie Wechselspiel von Einbildungskraft und Verstand, ein interesseloses Wohlgefallen sowie eine subjektive Allgemeinheit zum Ausdruck bringe. Dieses ästhetische Urteil, »ein Urteil, das auf eigenen Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien beruht«37, unterscheidet sich vom »Erkenntnisurteil«38, weil es keine Aussagen über einen Gegenstand enthält, die diesem Eigenschaften zuschreiben, die sich an ihm selbst identifizieren lassen. Ästhetische Urteile beziehen sich vielmehr auf das durch die Reflexion von Wahrnehmungen sich einstellende Wohlgefallen oder Missfallen im urteilenden Subjekt selbst. Sie sind also subjektiv, weil sich das Wohlgefallen oder Missfallen angesichts eines wahrgenommenen Gegenstandes nicht an ihm selbst nachweisen lässt. Es äußert sich im Subjekt und zwar dann, wenn seine Erkenntnisvermögen, der Verstand und die Einbildungskraft durch den Anblick dessen, was es als schön bezeichnet, in den Zustand eines freien, harmonischen »Spiel[s]«39 versetzt werden, ohne dabei auf eine bestimmte Erkenntnis abzuzielen. Die lustvolle Reflexion des Schönen ist damit prinzipiell auf Dauer gestellt und von der Arbeit am Begriff entlastet. Das Wohlgefallen, das hierbei empfunden und im ästhetischen Urteil bekundet wird, ist für Kant »ohne alles Interesse«40, da es ja weder am eigentlichen Dasein des zu beurteilenden Gegenstandes interessiert, noch von einem bestimmten Begriff abhängig ist. Es ist frei, »denn kein Interesse, weder das der Sinne noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab.«41 Das Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten hingegen ist für Kant stets mit Interessen verbunden und könne daher kein ästhetisches Urteil begründen. Das Wohlgefallen am Angenehmen, das »vergnügt«42, ist Ausdruck einer persönlichen Neigung oder eines sinnlichen Bedürfnisses, das Wohlgefallen am Guten setzt eine begriffliche Bestimmtheit voraus und impliziert ein Interesse am Vollzug einer Handlung. 36 Majetschak, Stefan (2010) : Ästhetik zur Einführung. 2., unveränderte Auflage. Hamburg : Junius. S. 42. 37 Gerdenitsch, Claudia (2010) : Erst kommt die Ästhetik, dann kommt die Moral. Bedingungen der Möglichkeit von Moralerziehung. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 59. 38 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. S. 522 [§ 1]. 39 Ebd. S. 539 [§ 9]. 40 Ebd. S. 522 [§ 2]. – Schon vor Kant hatte Karl Philipp Moritz in seinem Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten, der im Jahr 1785 in der Berlinischen Monatsschrift erschien, das Kunstwerk als etwas betrachtet, das unabhängig von seinem Nutzen und »um sein selbst willen Vergnügen gewährt« (Moritz 1997 : 943). Damit spricht Moritz zwar die Autonomie des Kunstwerks aus, nicht aber die Autonomie des Ästhetischen, die für Kant nicht über einen Bezug auf (Kunst)Gegenstände begründet werden könne, sondern vielmehr in der eigentümlichen Struktur des ästhetischen Urteils selbst begründet liegt. 41 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. S. 530 [§ 5]. 42 Ebd. S. 526 [§ 3].
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Während das Urteil über das Angenehme eine subjektiv-private, das Urteil über das Gute eine objektiv-allgemeine Geltung beansprucht,43 erhebt das ästhetische Urteil den Anspruch auf eine allgemeine, wenn auch nur auf eine subjektiv-allgemeine Gültigkeit. Da es zum einen nicht durch Beweisgründe bestimmbar ist – weil es sich auf keine bestimmten Begriffe bezieht –, zum anderen aber von allen Privatinteressen und persönlichen Neigungen absieht – sich also auf das richtet, was allen Subjekten gemein ist –, sinnt man, so heißt es in Kants Duktus, im ästhetischen Urteil das Wohlgefallen an einem Gegenstand »jedermann«44 an. Es erzwingt also keine Zustimmung, sondern impliziert vielmehr, dass prinzipiell jeder diesem Urteil zustimmen könnte. Mit dem »Reinheitspostulat«45 der Interesselosigkeit betont Kant letztlich die Bereitschaft und Fähigkeit, so Birgit Recki, »uns ohne theoretische, praktisch-pragmatische oder hedonistische Absichten in spielerischer Spannung den Gegenständen zuzuwenden und bei der Anregung, die davon ausgeht, uns selbst in einer animierten Stimmung, einem positiven gesteigerten Lebensgefühl zu erleben.«46 Kunstwerke, die ein Subjekt in einen solchen Zustand versetzen können, »die die reflektierende Urteilskraft und nicht die Sinnesempfindungen zum Richtmaße«47 haben, lassen sich laut Kant als schöne Kunst bezeichnen. Wenn also Goethe und Schiller versuchen die Schauspielkunst von ihrer angenehm-unterhaltenden und moralisch-praktischen Indienstnahme zu befreien, dann geht es ihnen darum, eine Schauspielkunst unter der Ägide des Dramas zu begründen, die sich im Sinne Kants als schöne Kunst bezeichnen lässt. Goethe und Schiller kritisierten aber nicht nur die moralisierenden Tendenzen der bürgerlichen Trivialdramen, sondern auch, dass ein »falsch verstandener Konversationston, so wie ein unrichtiger Begriff von Natürlichkeit«48 die schauspielerische Praxis beherrschte.49 Hiermit wendete sich Goethe, der in seiner Rede zum Schäkespears Tag 43 Vgl. ebd. S. 531–538 [§§ 6–8]. 44 Ebd. S. 535 [§ 8]. 45 Schneider, Norbert (1996) : Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Eine paradigmatische Einführung. 5., bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart : Reclam. S. 53. 46 Recki, Birgit (1992) : Das Gute am Schönen. Über einen Grundgedanken in Kants Ästhetik. In : Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 37 Jg. S. 15–31. S. 21. 47 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. S. 654 [§ 44]. 48 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Weimarisches Hoftheater [1802]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 842–850. S. 843. 49 Kotzebues Einakter Der Schauspieler wider Willen, eine Bearbeitung des französischen Lustspiels La fête de campagne, ou L’Intendant comédien malgré lui (1784) von Louis-Archambault Dorvigny, lässt sich als eine Erwiderung auf die theaterästhetische Kritik am unterhaltenden Illusionstheater lesen. Im Stück berichtet der Schauspieldirektor Pfifferling dem Publikum von seinen Schwierigkeiten, am Hof des Grafen eine Komödie aufzuführen, die der Haushofmeister Murrkopf aufgrund von ästhetischen Vorbehalten sowie Vorurteilen gegenüber den Schauspielern zu verhindert versucht. Daraufhin stellt Pfifferling seine schauspielerischen Fähigkeiten unter Beweis, indem er dem Haushofmeister in ver-
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selbst noch laut »Natur ! Natur !«50 ausgerufen hatte, vom »krassen Naturalismus des Sturm-und-Drang-Theaters«51 sowie von der natürlichen Schauspielkunst der Hamburger Schule52 ab. Goethes Theatromanie, die in Götz von Berlichingen noch ganz von seiner Begeisterung für Shakespeare und seiner Ablehnung der Regelpoetik der Tragédie classique getragen wurde, sollte während seiner Zeit in Weimar einen grundlegenden Wandel erfahren. Als Auslöser für diesen Wandel in Goethes Theaterverständnis gilt neben seiner Tätigkeit als Leiter, Schauspieler und Autor am Liebhabertheater in Weimar, seiner Reise durch Italien und der politischen Unruhe im Zuge der Französischen Revolution, vor allem die enge Zusammenarbeit mit Schiller am Weimarer Hoftheater. Nach seiner Ankunft in Weimar im Jahr 1775 wirkte Goethe von 1776 bis 1783 als Leiter, Autor und Schauspieler des hiesigen Liebhabertheaters,53 auf dessen Bühne er unter anderem zusammen mit der Schauspielerin Corona Schröter, Konrad Ekhof – der für ein kurzes Gastspiel54 eingeladen wurde – und den Angehörigen der Weimarer Hofgesellschaft auftrat. Da mit dem Brand im Jahr 1774 auch der Opernsaal im Ilmflügel des Schlosses zerstört wurde, spielte die Liebhabertruppe an verschiedenen Orten, im Redoutenhaus, in den Schloss- und Naturbühnen von Ettersburg und in Tiefurt. Obgleich der »Hauptzweck des Liebhabertheaters«55, so Himmelseher, in einer angenehmen Geselligkeit und der höfischen Unterhaltung bestanden hatte, erprobte Goethe hier, so schiedenen Rollen begegnet, ohne dass dieser ihn erkennt und ohne dass er bemerkt, wie der Graf und seine Gefolgschaft diesem Schauspiel heimlich als Zuschauer beiwohnen (Standke 2011 : 185). 50 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Zum Schäkespears Tag [1771]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 9–12. S. 11. 51 Pikulik, Lothar (2007) : Schiller und das Theater. S. 34. 52 Vgl. hierzu Kap. 2 : Die »Bildung eines fähigen Schauspielers« und die Lehr- und Lernbarkeit einer natürlichen Schauspielkunst. 53 Vgl. hierzu Sichardt, Gisela (1957) : Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. 54 Ekhofs und Goethes Auftritt als Vater und Sohn in Johann Joachim Christoph Bodes Übersetzung und Bearbeitung von Richard Cumberlands Westindier im Januar 1778 auf der Bühne des Weimarer Liebhabertheaters erscheint aus theatergeschichtlicher Perspektive wie die Inszenierung eines Generationenwechsels. Ekhofs Art des Schauspielens gehörte »der vorangehenden Generation der LessingZeit« (Kindermann 1962 : 157) an, die am Weimarer Hoftheater am Ende des Jahrhunderts durch den von Goethe begründeten Darstellungsstil abgelöst werden sollte. So bedeutend dieses Ereignis aber auch erscheinen mag, für Goethe waren die Auftritte Ifflands im Jahr 1796 am Weimarer Hoftheater bei weitem bedeutender. »Es wird bald ein Meister unter uns stehen«, soll Goethe dem Ensemble das Gastspiel angekündigt haben, »den ich hauptsächlich berufen habe, um euch durch ihn zu beweisen, wie gut Kunst und Natur sich verstehen lassen« (Genast 1862 : 96). »Ifflands Ankunft« erachtet Goethe neben der »architektonischen Einrichtung des Schauspielsaales« – am 17.10.1798 – und der »Aufführung der Brüder, nach Terenz« – am 24.10.1801 – als Meilenstein in der Geschichte der Weimarer Bühne (FA I, 18 : 842). 55 Himmelseher, Birgit (2010) : Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Kunstanspruch und Kulturpolitik. Berlin : De Gruyter. S. 42.
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Kindermann, »das Handwerklich-Theatralische«56, das ihm für seine spätere Arbeit als Leiter des Hoftheaters von Nutzen sein sollte. Friedrich Hildebrand von Einsiedel, der Kammerherr Anna Amalias, der auch als Dramatiker und Übersetzer für das Weimarer Liebhabertheater tätig war, hielt später in seinen Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst, so Kindermann, »die Regieprinzipien des frühen Spielleiters und Darstellers Goethe«57 fest. Von Karlsbad aus brach Goethe dann im Jahr 1786 fluchtartig nach Italien auf. Seine Reise führte ihm das antike Schönheitsideal, das Winckelmann in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst als edle Einfalt und stille Größe beschrieben hatte, vor Augen, vermittelte ihm einen Eindruck von der antiken Kunst- und Kulturlandschaft und brachte ihn in Kontakt mit Künstlern und Gelehrten wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Karl Philipp Moritz – dessen Roman Anton Reiser und dessen Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen nachhaltig Goethes Arbeiten am Wilhelm Meister sowie sein Kunstverständnis beeinflussten.58 Goethes Italienreise war aber auch eine Wiederentdeckung des Vergnüglichen und Sinnlichen. Erst aus reiner Notwendigkeit heraus, dann mit einem diebischen Vergnügen reiste Goethe während seines Aufenthalts unter falschem Namen, um unerkannt zu bleiben. Zunächst gab er sich als Johann Philipp Möller, Kaufmann aus Leipzig, aus, begann dann aber, sich in der Landestracht der Einheimischen zu kleiden, ließ sich nach deren Mode frisieren und ahmte deren Gesten und Bewegungen nach. ›Spaß‹ war in dieser Zeit ein Wort, so Roberto Zapperi, das häufig in Goethes Tagebucheinträgen auftauchte.59 Neben diesem Vergnügen am Anders-Werden erfuhr Goethe, als er die Ereignisse des römischen Karnevals als Außenstehender beobachtete, auch die irritierende Andersartigkeit und Fremdheit seiner Umwelt. Er gesteht, »daß das Römische Karneval einem fremden Zuschauer, der es zum erstenmal sieht und nur sehen will und kann, weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck gebe, weder das Auge sonderlich ergötze noch das Gemüt befriedige.«60 Irritiert bemerkt er, dass die Römer eine besondere Neigung hätten, bei Maskeraden die Kleidung beider Geschlechter zu verwechseln. Im Karneval ziehen viele junge Burschen im Putz der Frauen aus der geringsten Klasse umher, und scheinen sich gar 56 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5 : Von der Aufklärung zur Romantik, 2. Teil. Salzburg : Otto Müller. S. 156. 57 Ebd. S. 163. 58 Vgl. Lehmann, Rudolf (1916) : Anton Reiser und die Entstehung des Wilhelm Meister. In : Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, 3. Jg. S. 116–134. 59 Vgl. Zapperi, Roberto (1999) : Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. 2., durchgesehene Auflage. München : Beck. S. 33–62. 60 Goethe, Wolfgang (1993) : Das römische Carneval [1789]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 15,1 : Italienische Reise, Teil 1. Hrsg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 518.
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sehr darin zu gefallen. […] Dagegen finden sich Frauenzimmer des mittleren Standes als Pulcinelle, die vornehmeren in Offiziers Tracht, gar schön und glücklich. Jedermann scheint sich dieses Scherzes, an dem wir uns alle einmal in der Kindheit vergnügt haben, in fortgesetzter jugendlicher Torheit erfreuen zu wollen.61
»Der ›physiognomische Blick‹ des Reisenden, von der deutschen Aufklärung geprägt«, deutet Birgit Wiens Goethes Beobachtungen, »wird angesichts dieses italienischen Treibens irritiert : Jenseits fixierter Grenzen von Illusion und Wahrheit ist im Karneval ein Gleiten zwischen (Geschlechts-)Identitäten und vielfältigen Sinnbezügen eröffnet, das jenes ›Wissen‹ über den Körper verunsichert.«62 Nachdem das Liebhabertheater in Weimar im Jahr 1783 eingestellt wurde und die Schauspielertruppe von Joseph Bellomo – eine von Dresden kommende »Durchschnitts truppe«63, die von 1784 bis 1791 im neu errichteten Komödienhaus gegenüber dem Wittumspalais den Theater- und Unterhaltungsbetrieb fortführte – aus dem Dienst entlassen wurde, übertrug man Goethe am 17. Januar 1791 die Oberleitung des Weimarer Hoftheaters. Seine Spielplangestaltung sowie seine eigenen, wenigen dramatischen Arbeiten während dieser Zeit standen noch ganz im Lichte der Französischen Revolution, der kriegerischen Kampagne in Frankreich und der Belagerung von Mainz. Goethe, der sich später in seinen Gesprächen mit Eckermann als »Freund des Bestehenden«64 ausgab, verfasste in den 1790er Jahren – auch im Interesse seines Herzogs Carl August – eine Reihe von Stücken, die gegen revolutionäre Bestrebungen agitierten, und verdrängte damit wohl auch seine eigene »Sturm und Drang«-Vergangenheit.65 Dass Goethes Blick auf das Theater in dieser Zeit einen Wandel durchlief, lässt sich auch daran ablesen, dass er in dem Jahr, in dem ihm die Leitung des Hoftheaters übertra-
61 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt [1788]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Klassik Verlag. S. 209–213. S. 210. – Pulcinella ist eine Figur des neapolitanischen Volkstheaters und der Comedia dell’arte. In seinem Gespräch mit Eckermann am 14. Februar 1830 erklärte Goethe, dass das Theater, in dem diese Figur auftrat, von solchem Ruf war, »daß Niemand in guter Gesellschaft sich rühmt, darin gewesen zu sein. Frauen, wie man denken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern besucht« (FA II, 12 : 697). 62 Wiens, Birgit (2000) : ›Grammatik‹ der Schauspielkunst. Die Inszenierung der Geschlechter in Goethes klassischem Theater. Tübingen : Niemeyer Verlag. S. 86. 63 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. S. 164. 64 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens 1828– 1832. Hrsg. von Christoph Michel. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. II. Abt.: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl, Bd. 12 (39). Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 532. 65 Vgl. hierzu Himmelseher, Birgit (2010) : Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. S. 32–41.
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gen wurde, die »grundlegende Umarbeitung«66 seines Manuskripts zu Wilhelm Meisters theatralischer Sendung begonnen hatte. In diesem auch als Ur-Meister bezeichneten Manuskript, dessen sechs Bücher zwischen 1777 und 1785 entstanden sind, also während der Zeit, als er noch als Dilettant auf der Bühne des Weimarer Liebhabertheaters stand, erscheint das Theater für den Protagonisten Wilhelm noch als Verwirklichungs- und »Fluchtraum«67. Wilhelm fühlte sich schon früh berufen, als Schauspieler und »Schöpfer eines großen National Theaters«68 zu wirken, um der empfundenen Enge der bürgerlichen Lebenswelt zu entkommen. Im Text ist die Entfaltung seiner Theaterleidenschaft, die vom weihnachtlichen Puppenspiel bis zur Produktion eigener Dramen reicht, mit dem theatergeschichtlichen »Wechsel vom klassizistischen französischen und Gottschedschen Theater zum Drama Shakespeares«69 durch etliche Anspielungen eng verzahnt. Als Wilhelm, dessen Name ja bereits ein Hinweis auf seinen englischen Namenspatron William Shakespeare ist,70 dann als Hamlet auftritt, scheint er seiner theatralischen Sendung, deren endgültiges Ziel das Fragment gebliebene Manuskript freilich offenlässt, nachgekommen zu sein. Im fertiggestellten Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre – in dessen erstem Teil Goethe die Bücher der Theatralischen Sendung in einer zusammengestrichenen71 Form eingearbeitet hatte – scheint das Theater der Ort zu sein, wo es Wilhelm ermöglicht wird, sich selbst, ganz wie er da ist, »auszubilden«72, weil es eine vom Zwang des nützlichen Tätigseins enthobene Sphäre ist und durch die soziale Ächtung der Schauspieler einen beinah 66 Steiner, Uwe (1997) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. In : Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke u.a., Bd. 3 : Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Stuttgart : Metzler. S. 113–152. S. 114. 67 Voßkamp, Wilhelm (1997) : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In : Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke u.a., Bd. 3 : Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. Stuttgart : Metzler. S. 101–113. S. 106. 68 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Henrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt : Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Klassik Verlag. S. 50. 69 Voßkamp, Wilhelm (1997) : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. S. 105. 70 Vgl. ebd. S. 106. 71 Vorsichtig merkte Schiller nach der Lektüre des fünften Buchs des Wilhelm Meisters in seinem Brief vom 15. Juli 1795 an, dass er zuweilen den Eindruck habe, »als schreiben Sie für den Schauspieler, da Sie doch von dem Schauspieler schreiben wollen.« Goethe antwortet ihm in seinem Brief vom 18. Juni 1795, dass er auf seinen Hinweis hin »bei einigen Stellen die Schere wirken« ließ (MA 8,1 : 85–87). 72 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Henrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt : Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 657.
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außergesellschaftlichen Raum bildet. »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt«, heißt es kritisch in Schillers sechstem Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.73
Sich aber ganz auszubilden und alle Anlagen des Menschen zu entfalten, sei bisher, so Wilhelm, nur dem Adel möglich ; dem Bürger, der auf seine nützlichen Qualitäten reduziert werde und sich unter den gesellschaftlichen Bedingungen nur einseitig ausbilde, könne diese Selbstentfaltung nur auf der Bühne gelingen. Schiller brachte dies in seinem Aufsatz Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen auf die Formel, »daß der Bürgerliche arbeitet, und der Adeliche repräsentiert«74. Im sogenannten Bildungsbrief, den Hans-Jochen Gamm, »zu den großen Dokumenten der Bildungstheorie«75 zählt, berichtet Wilhelm dann, dass er während seiner Zeit am Theater durch »Leibesübung«76 viel gewonnen, von seiner »gewöhnlichen Verlegenheit«77 viel abgelegt habe. »Eben so habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet«, schreibt er, »und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in Gesellschaften nicht mißfalle.«78 Offenbar hat das Theater Wilhelm alle Qualitäten angedeihen lassen, die schon Pädagogen zu Beginn des 18. Jahrhunderts als nützliche Wirkungen des Schultheaters bestimmten. Beredsamkeit sowie der damit in Verbindung stehende edle Anstand gehörten zum Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik, dem sich das protestantische Schultheater ebenso wie das katholische Ordenstheater verpflichtet fühlten.79 Dass Bildung von Wilhelm als ein plastischer Vorgang begriffen wird, deutet darauf hin, dass hier an eine Tradition der Moralistik angeschlossen wird. Denn Wilhelms Rede davon, sich ganz, wie er da ist, »auszubilden«80, erinnert an einen Prozess der Selbst-Formung, den 73 Schiller, Friedrich (1992) : Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 572 f. 74 Schiller, Friedrich (1992) : Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 677–679. S. 695. 75 Gamm, Hans-Jochen (1980) : Das pädagogische Erbe Goethes. Eine Verteidigung gegen seine Verehrer. Frankfurt a.M.: Campus. S. 80. 76 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 659. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Vgl. hierzu Kap. 1 : Das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik. 80 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Henrik Birus, Anne
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der englische Moralphilosoph Anthony Ashley-Cooper, der dritte Earl von Shaftesbury, mehrfach in seinen moralisch-ästhetischen Schriften andeutete. Shaftesbury, dessen Schriften nicht nur unter den Mitgliedern der Berliner Aufklärung zirkulierten, sondern auch in Weimar rezipiert wurden,81 prägte den Begriff der »inward form«82, der mit »innerliche Bildung«83 ins Deutsche übertragen wurde.84 In seiner Schrift The Judgment of Hercules, in der er eine Theorie des Historiengemäldes am mythologischen Motiv von Herakles am Scheideweg entfaltet, kommt er auf die Frage zu sprechen, wie der Maler Leidenschaften körperlich darzustellen habe. Der personifizierten Figur der Tugend dürfe er nicht das Korsett der körperlichen Beredsamkeit und der höfischen Etikette überziehen, sie nicht nach »der gewöhnlichen Anständigkeit, und den regelmäßigen Bewegungen einer Schönen des itzigen Jahrhunderts«85 (according to the usual Decorum, and regular Movement of one of the fair Ladys of our Age) einrichten. »Solche studirte Geberden und künstliche Bewegungen kann man allenfalls den Schauspielern zu lassen ; Aber der Maler muß sorgen, daß seine Handlungen nicht theatralisch oder nachgemacht, sondern original und aus der Natur selbst geschöpft seyn.«86 Der körperliche Ausdruck der Figuren solle also nicht verstellt und künstlich, sondern echt und Bohnenkamp u.a. I. Abt : Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 657. 81 Vgl. hierzu Dehrmann, Mark-Georg (2008) : ›Das Orkale der Deisten‹. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen : Wallstein. Vgl. auch Horlacher, Rebekka (2004) : Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18. Jahrhundert. Würzburg : Königshausen und Neumann. 82 [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1713) : A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules, according to Prodicus, lib. II Xen De mem. Soc. [London]. S. 23. – Die Schrift wurde zunächst 1712 auf Französisch unter dem Titel Le Jugement d’Hercule verfasst und sollte dem neapolitanischen Maler Paolo de Matteis als Anleitung dienen, wie er das Motiv von Herakles am Scheideweg – der zwischen einem mühelosen, aber moralisch verwerflichen, und einem beschwerlichen, dafür aber tugendhaften Weg zu wählen hat – malerisch darstellen solle. Paolo de Matteis fertigte mehrere Bilder mit diesem Motiv an. Shaftesbury veröffentlichte ein Jahr später eine englischsprachige Druckfassung seines Aufsatzes und plante, den Text im Folgeband seiner bereits 1711 erschienen Textanthologie Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times aufzunehmen. Da Shaftesbury aber vor der Fertigstellung des Folgebands Second Characteristics starb, wurde der Text stattdessen in die zweite Auflage der Characteristicks aus dem Jahr 1714 aufgenommen. 83 [Nicolai, Friedrich] (1757) : Des Grafen von Shaftesbury Betrachtungen über ein historisches Gemälde von dem Urtheil des Herkules, welches nach einer Erzählung des Prodikus, im zweyten Buche von Xenophons Merkwürdigkeiten des Sokrates, entworfen worden. (Aus dem Engländischen übersetzt). In : Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 2. 1. Stück. S. 1–56. S. 29. 84 Vgl. hierzu Horlacher, Rebekka (2011) : Bildung. Bern : Haupt Verlag. S. 28–31. 85 [Nicolai, Friedrich] (1757) : Des Grafen von Shaftesbury Betrachtungen über ein historisches Gemälde von dem Urtheil des Herkules. S. 29. – Vgl. auch [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1713) : The Judgment of Hercules. S. 24. 86 Ebd. S. 29 f. – Vgl. auch [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1713) : The Judgment of Hercules. S. 24 : »Such study’d Action and artificial Gesture may be allow’d to the Actors and Actresses
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natürlich wirken. Die »auswendige Bildung«87 (outward Form) müsse der »innerlichen«88 (inward) folgen. Diese innerliche Bildung in einem läuternden Selbstgespräch zu erkunden, empfahl er bereits in seiner Schrift Soliloquy, die im Jahr 1710 erschien. Angehenden Schriftstellern, die beabsichtigen, lehrreiche und vorbildliche Ratgeber zu werden, empfahl er, ihre bisherige Erziehung in einem Gespräch mit sich selbst zu prüfen und zu verfeinern. »Es ist das schwerste Ding von der Welt«, schreibt Shaftesbury, »ein guter Dencker zu seyn, ohne daß man ein starcker Selbstprüfer und vollkommener Unterreder auf dieser einsamen Weise ist«89 (’Tis the hardest thing in the world to be a good Thinker, without being a string Self-Examiner, and thorow-pac’d Dialogist, in this solitary way). Zu dieser zu erkundenden und zu prüfenden innerlichen Bildung gehören neben den Empfindungen auch »Entschließungen, Grundsätze, Bestimmungen und Handlungen ; alles was in dieser Art nützlich und edel ist«90 (Resolutions, Principles, Determinations, Actions ; whatsoever is handsom and noble in the kind) ; alles, was dem Verstand, den Gefühlen und dem Willen entspringe. In der Herausbildung dieser innerlichen Bildung bestünde, so Shaftesbury in seinem Dialog The Moralist, die höchste Form der Schönheit des Menschen.91 Dass Wilhelm einen solchen Bildungsprozess der Selbstbefragung und Selbsthervorbringung anstrebt, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass er seine Absichten in einem Brief bekundet, der – darauf weist Klaus Prange eigens hin – im 18. Jahrhundert neben der Autobiographie und dem Tagebuch das Medium der Selbsterkundung und bekundung war,92 sondern auch daran, dass dieser Prozess in der Darstellung der Rolle Hamlets kulminiert, die wie keine andere Rolle für den »Archetypus des modernen neuzeitlichen Subjekts«93 und eine gesteigerte Selbstreflexion steht. of the Stage. But the good Painter must come a little nearer to Truth, and take that his Action be not theatrical, or at second hand ; but original, and draw from Nature her-self.« 87 Ebd. S. 29. 88 Ebd. 89 [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1746) : Soliloquium von den wahren Eigenschaften eines Schriftstellers, und wie einer solches werden könne : Aus dem Englischen in die Hochdeutsche Sprache übersetzt [von Georg Venzky]. Magdeburg und Leipzig : Christoph Seidel und Georg Ernst Scheidhauer. S. 21. – Vgl. auch [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1710) : Soliloquy ; or Advice to an Author. London. S. 16. 90 [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1745) : Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen. Aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt [von Johann Joachim Spalding]. Berlin : Ambrosius Haude und Carl Spener. S. 247. – Vgl. auch [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1709) : The Moralist, a Philosophical Rhapsody. Being a Recital of Certain Conversations upon Natural and Moral Subjects. London : John Wyatt. S. 220. 91 Vgl. hierzu auch Müller, Rüdiger (1998) : Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg : Königshausen und Neumann. S. 59–74. 92 Prange, Klaus (2008) : Schlüsselwerke der Pädagogik, Bd. 1. S. 178. 93 Greiner, Bernhard (2007) : Der Gedanke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. Natur und Theater : Goethes Wilhelm Meister. In : Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 48. S. 215–245. S. 231.
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Gleichwohl deutet Wilhelms Hamlet-Inszenierung eine Umkehrung in seiner Bildungsgeschichte an, denn in dieser Rolle mag zwar das Ideal des unverstellten Selbst-Seins zum Ausdruck gelangen – dem Wilhelm gerecht werden will –, andererseits verzweifelt Hamlet aber darüber, dem durch die Umstände bedingten gesellschaftlichen Rollen- und Verstellungsspiel nicht entkommen zu können.94 In Wilhelms »Shakespeare-Erlebnis«95, das auch eine Reminiszenz an Goethes eigene Auseinandersetzung mit Shakespeare ist, kündigt sich daher ein Perspektivwechsel an, denn die Welt, die Shakespeares Dramen Wilhelm eröffnen, sparte er in seinem Ich-zentrierten Bildungsstreben bisher aus. »Ohne die Gegenstände jemals in der Natur erblickt zu haben«, sagt Aurelie über Wilhelm, erkennen Sie die Wahrheit im Bilde ; es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische Berührung der Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig, fuhr sie fort, von außen kommt nichts in Sie hinein ; ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so wenig kennt, so von Grund aus verkennt, wie Sie.96
Das Theater bildet daher in den Lehrjahren anders als in der Theatralischen Sendung nur noch ein Durchgangsstadium in Wilhelms Bildungsgeschichte, die wie in Rousseaus Erziehungsroman Émile97 durch eine im Hintergrund waltende pädagogische Instanz von Anfang an begleitet wird. Während Emiles Umwelt durch seinen Erzieher Jean-Jacques sorgsam und aufwendig inszeniert wird, damit er nur die Erfahrungen macht, die er machen soll, begegnet Wilhelm auf seiner Reise nicht zufällig den Abgesandten der geheimen Turmgesellschaft. Wie im Émile nehmen ihre Akteure aber nie direkten Einfluss auf ihn, sondern leiten ihn vielmehr indirekt durch Gespräche und Hinweise und offenbaren sich ihm erst gegen Ende des Romans. Jarno, ein Mitglied dieses logenartigen Geheimbundes, der ihn auch mit den Werken Shakespeares in Berührung bringt, erklärt gegen Ende des Romans, dass es gut sei, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche ; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt um anderer willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er sich erst selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.98 94 Vgl. hierzu Kap. 1. 2 : »Der kluge Weltmann« und ›Der geschickte Comoediant‹ – Christian Weise und die komödiantische Erziehung kluger Weltmänner. 95 Steiner, Uwe (1997) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 125. 96 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 621. 97 Vgl. hierzu auch Zumhof, Tim (2014) : Der pädagogische Rousseau. In : Rousseau zur Einführung. Hrsg. von Ursula Reitemeyer und Tim Zumhof. Münster : Lit. S. 23–59. S. 43–48. 98 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 871.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
Das anfängliche Streben nach Individualität, das sich in Wilhelms Theaterleidenschaft ausdrückt, muss hiernach, um nicht bloße Schwärmerei zu bleiben, in eine gesellschaftliche Praxis münden. Wie auch Rousseau dem Émile eine politisch-spekulative Schrift, den Contrat social, zur Seite stellte, um die Zerrissenheit des modernen Menschen in einer politischen Utopie aufzuheben,99 so lässt sich auch die Turmgesellschaft, »die Gemeinschaft der Gebildeten und Tätigen«100, als die Verwirklichung einer gesellschaftspolitischen Utopie verstehen, in die Wilhelm am Ende eintritt. Die politischen Ambitionen der Turmgesellschaft, die in den sozialreformerischen Ideen Lotharios am deutlichsten zutage treten, werden zwar einerseits durch die ironische Darstellung des Erzählers als irreal ausgewiesen, erweisen sich aber andererseits in ihrer fortschrittsoptimistischen Hoffnung auf eine politische Versöhnung von Bürgertum und Adel als eine Kontrastfolie zu den realgeschichtlichen Ereignissen im nachrevolutionären Frankreich. An keinem anderen literarischen Dokument zeigt sich die Zusammenarbeit von Goethe und Schiller so deutlich wie an Wilhelm Meisters Lehrjahren. In seinem Brief vom 23. August 1794 fragte Schiller,101 ob er Goethes neuen Roman vorab in seiner Monatsschrift Die Horen, an der Goethe bereits mitwirkte, abdrucken dürfe. Aus vertraglichen Gründen konnte Goethe der Bitte Schillers nicht nachkommen, schickte ihm aber vom 6. Dezember 1794 an bis zur Fertigstellung des Romans die übrigen Manuskriptseiten bandweise zur kritischen Begutachtung zu. Während Goethe in Schillers ausführlichen Kommentaren eine stetige Herausforderung sah – »[F]ahren Sie fort mich durch Ihre Liebe und Ihr Vertrauen zu erquicken und zu erheben«102, schrieb Goethe am 18. Februar 1795 an Schiller –, erwies sich die Korrespondenz für Schiller als ein nützlicher Impulsgeber für seine Arbeit Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Aus den verschiedenen publizistischen Kooperationen sowie dem regen und freundschaftlichen Austausch, der sich hieran anschloss, erwuchsen dramentheoretische und theaterästhetische Überlegungen, die Rüdiger Safranski als »Weimarische Dramaturgie«103 bezeichnet und die Goethe und Schiller gemeinsam am Weimarer Hoftheater praktisch umsetzen konnten, als Schiller schließlich im Dezember 1799 von Jena nach Weimar umsiedelte.
99 Vgl. hierzu Hansmann, Otto (2012) : Vom Menschen über Erziehung zum Bürger. 100 Hettling, Manfred (1999) : Politische Bürgerlichkeit. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht. S. 297. 101 Vgl. Schiller, Friedrich (2002) : An Johann Wolfgang von Goethe [Jena, den 23. Aug. 94]. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf Peter Janz u.a., Bd. 11 : Briefe I. 1772–1795. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 701–704. 102 Goethe, Johann Wolfgang (1990) : Goethe [an Schiller. Weimar, 18. Februar 1795]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 8,1 : Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805. Hrsg. von Manfred Beetz. München : Carl Hanser. S. 60. 103 Safranski, Rüdiger (2009) : Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft. München : Hanser. S. 238.
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Dem bürgerlichen Illusionstheater, das durch den »gemeinen Begriff des Natürlichen«104 und einer von bürgerlichen Sujets dominierten Dramatik getragen wurde, stellen Goethe und Schiller ein idealistisches, klassisches Theater entgegen, das die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums irritierte, indem es historische und antike Stoffe als dramatische Grundlagen wiederentdeckte, die Stücke in einem nicht-realistischen Darstellungsstil präsentierte und hierzu mit dem Einsatz von Masken, einem antiken Chor sowie einer metrischen Sprache experimentierte. Das Theater erscheint hierdurch geradezu als Gegenort zur Wirklichkeit, als »Heterotopie«105, dessen Anliegen erklärtermaßen nicht mehr allein in der »einfachen Nachahmung der Natur«106 besteht, sondern in der »Veredelung der Natur«107 durch die Kunst, in der Präsentation des Idealen. Der Schauspieler solle, so Goethe in seinen Regeln für Schauspieler, bedenken, »daß er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle, und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinigen habe.«108 Nicht die »Kultivierung der Affekte«109, die Lessing noch mit der Tragödie verbunden sehen wollte, oder die moralische Besserung werden als Zwecke der Bühne ausgegeben, sondern das Theater der »Weimarsche[n] Schule«110 zielt auf ein ästhetisches Vergnügen, auf die Kultivierung der Wahrnehmung und die »Verfeinerung der Einbildungskraft«111. Unter Goethe und Schiller avanciert das Weimarer Hoftheater so zu einer Anstalt der ästhetischen Erziehung und Bildung für die Schauspieler und das Publikum. Als »Experimentierbühne«112 konnten Goethe und Schiller das Weimarer Hoftheater betreiben, da ihnen das Publikum aufgrund ihrer abwechslungsreichen Spielplange104 Schiller, Friedrich (1996) : Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie [1803]. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf Peter Janz u.a., Bd. 5 : Dramen IV. Hrsg. von Matthias Luserke. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 281–291. S. 284. 105 Foucault, Michel (1992) : Andere Räume. In : Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig : Reclam. S. 34–46. S. 39. 106 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Einfach Nachahmung der Natur, Manier und Styl. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 225–229. S. 225. 107 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand von] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 40. 108 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler [1803]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 857–883. S. 871 [§ 35]. 109 Parmentier, Michael (2004) : Ästhetische Bildung. S. 15. 110 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 608. 111 Linder, Jutta (1990) : Ästhetische Erziehung. Goethe und das Weimarer Hoftheater. Bonn : Bouvier. S. 50. 112 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 183.
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staltung gesonnen blieb. Neben den Übersetzungen von französischen Tragödien fanden auch die Rührstücke Eingang in den Weimarer Spielplan. In dem Vorspiel Was wir bringen, das im Jahr 1802 zur Eröffnung des neuerbauten Spielhauses in Lauchstädt vor Mozarts La Clemenza di Tito aufgeführt wurde, lässt Goethe die dramatischen Gattungen des Weimarer Spielplans als Allegorien Revue passieren : Das Possenspiel, das Familiendrama, die Oper, die Tragödie, das Naive, so wie das Maskenspiel, produzieren sich nach und nach in ihren Eigenheiten, spielten und erklärten sich selber, oder wurden erklärt, indem die Gestalt eines Merkurs das Ganze zusammenknüpfte, auslegte, deutete.113
Nicht allein monetäre Gründe114 bewogen die Theaterleitung dazu, auch die populären Unterhaltungsdramen Ifflands und Kotzebues in den Spielplan mit aufzunehmen – Goethe ließ während seiner Zeit am Weimarer Hoftheater immerhin 87 Stücke von Kotzebue und 31 von Iffland aufführen –,115 sondern Goethe und Schiller sahen hierin auch die Möglichkeit, dem Publikum durch das Nebeneinander, durch den abhebenden Vergleich von Illusionstheater und klassischem Bühnenspiel die »Vielseitigkeit«116 des Theaters vorzuführen. Die französischen Tragödien erachteten Goethe und Schiller, so Birgit Himmelseher, als »Übungsmöglichkeiten für die Schauspieler«117 sowie als Erprobungsfelder ihres neuen Darstellungsstils. Auch August Wilhelm Schlegels Drama Ion, das dem Original von Euripides nachempfunden war, kam am 2. und 4. Januar 1802 zur Aufführung. Gebildeten Zuschauern, denen die griechische Mythologie nicht fremd sei, sei der Stoff des Dramas, so Goethe, »völlig klar«118, und den übrigen, weniger gebildeten Zuschauern sei es ein Anlass, »zu Hause wieder einmal ein mythologisches Lexikon zur Hand zu nehmen und sich über den Erichthonius und Erechtheus aufzuklären.«119 Das Stück war kein Publikumserfolg. Aber Goethe und Schiller betrachteten das Theater eben nicht nur als bloßen Unterhaltungsbe113 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Was wir bringen. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 852. 114 Das Weimarer Hoftheater wurde nur zu einem Drittel aus der Kasse des Hofmarschallsamts subventioniert. Der Hofkammerrat Franz Kirms, der Goethe als Assistenz zur Seite gestellt wurde, betrieb eine effektive »Preispolitik« (Linder 1990 : 21), die unter anderem einen günstigen Abonnementverkauf umfasste. 115 Vgl. Ueding, Gert (1987) : Klassik und Romantik. S. 313. 116 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 194. – Diese Mannigfaltigkeit von Stücken ist zugleich Goethes Versuch, so seine kosmopolitische Idee von Weltliteratur auf die Gestaltung des Spielplans zu übertragen (Linder 1990 : 70). 117 Himmelseher, Birgit (2010) : Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. S. 86. 118 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Weimarisches Hoftheater [1802]. S. 846. 119 Ebd. – Genast berichtet, dass man, als am 30. Januar 1809 eine Bearbeitung von Sophokles’ Anti-
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trieb und weigerten sich, es dem Diktat der Kulturindustrie, wie Adorno und Horkheimer sagen würden,120 unterzuordnen. Da das Theater für Goethe auch eine Bildungsanstalt war, vertrat er die Auffassung, dass der Zuschauer erfahren müsse, dass nicht jedes Stück, wie ein »Rock«121 anzusehen sei, der dem Zuschauer völlig, nach seinen gegenwärtigen Bedürfnissen, auf den Leib gepaßt werden müsse. Man sollte nicht gerade immer sich und sein nächstes Geistes-, Herzensund Sinnesbedürfnis auf dem Theater zu befriedigen gedenken, man könnte sich vielmehr öfters wie einen Reisenden betrachten, der in fremden Orten und Gegenden, die er zu seiner Belehrung und Ergötzung besucht, nicht alle Bequemlichkeit findet, die er, zu Hause, seiner Individualität anzupassen Gelegenheit hatte.122
Die Metapher des Reisenden, der zu fremden Orten aufbricht und dort nicht die Bequemlichkeit seines Zuhauses vorfindet, ist nicht nur eine Erinnerung an Goethes eigene Reise nach Italien, die ihn, wie Himmelseher schreibt, in eine »Identitätskrise«123 stürzte, als er nach Weimar zurückkehrte, sondern sie umreißt auch einen Kerngedanken klassischer Bildungstheorien, den Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes als das Heraustreten »aus der Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens«124 beschreibt. Dieses Abstandnehmen von der eigenen Lebenswelt und die damit verbundene (unbequeme) Selbstdistanzierung stellen sich insbesondere beim Studium des Altertums, der antiken Kunst und Kultur ein. Deutlich wird dieser Gedanke in der Antrittsvorlesung des Philologen Georg Anton Friedrich Ast Ueber den Geist des Altertums und dessen Bedeutung für unser Zeitalter aus dem Jahr 1805 ausgesprochen. Die historische Distanz zum klassischen Altertum, »das aus einer fremden Welt in einer fremden Sprache zu uns redet«125, bewirke, »dass wir aus dem beschränkten Kreise unserer Selbstheit heraustreten. Und in der Anschauung und Erkenntniss einer fremden Welt leben lernen«126.
gone gegeben wurde, für die Zuschauer, »die in der griechischen Literatur nicht bewandert waren«, auf der »Kehrseite des Theaterzettels die ganze Fabel abgedruckt« hatte (Genast 1862 : 171). 120 Vgl. Adorno, Theodor & Horkheimer, Max (2006) : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 16. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer. S. 128–176. – Der Bezug zu Adornos und Horkheimers Kritik scheint dann nicht abwegig zu sein, wenn man Daniels Beobachtung teilt, dass das Theater mit den anderen Aufführungskünsten wie der Oper oder dem Ballett im 18. Jahrhundert zur »Massenunterhaltungskultur« (Daniel 1995 : 39) gehörte. 121 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Weimarisches Hoftheater. S. 848. 122 Ebd. [Herv. d. Verf.] 123 Himmelseher, Birgit (2010) : Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leistung. S. 30. 124 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) : Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke [in 20 Bde.], Bd. 3 : Phänomenologie des Geistes [1807]. Frankfurt a.M : Suhrkamp. S. 13. 125 Ast, Georg Anton Friedrich (1805) : Ueber den Geist des Altertums und dessen Bedeutung für unser Zeitalter. Landshut : Attenkofer’sche Buchhandlung. S. 22. 126 Ebd.
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Diese von Ast beschriebene Fremdheitserfahrung im Umgang mit den kulturellen Überresten der Antike – »der Lesung der alten Schriftsteller, in der Anschauung der alten Kunstwerke, in dem Studium der alten Geschichte, in dem Leben auf classischem Boden«127 – stellt Wilhelm von Humboldt, der nicht weniger von der bildenden Qualität des Altertums überzeugt war, als die Erfahrung einer Differenz dar. Er ist der Ansicht, dass in der Auseinandersetzung mit der Antike eine »unüberspringbare Kluft«128 zur Moderne erkennbar werde. Während in der Antike das »Individuum an die Gattung, die Gattung an das Universum«129 zurückgebunden sei, so sei das Individuum in der Moderne von der Gattung, die Gattung vom Universum getrennt. Anders als in der Antike sieht sich das Individuum in der Moderne einer zunehmenden und sich beschleunigenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung ausgesetzt, die es ihm erschwert, die disparaten Anforderungen in sich widerspruchsfrei zu integrieren und sich als Teil einer sinnstiftenden Gesamtordnung zu begreifen. Mit dem Ende der Antike sei, so Humboldt in seiner Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten, diese Ganzheit aber »unwiederbringlich«130 verloren gegangen. Ein Nachhall dieser ganzheitlichen Ordnung sei, so Humboldt, in den alten Kunstwerken noch zu vernehmen. Da die Bestimmung der Griechischen Kunstwerke ursprünglich eine religiöse war, so gewann der Begriff des Verhältnisses eine doppelte Aufmerksamkeit. Denn die Griechen verschmähten die überirdische Macht der Götter hieroglyphisch in Zeichen anzudeuten, und suchten dieselbe in dem Ebenmass ihrer Glieder unmittelbar auszudrücken, indem sie ihrer Gestalt den Typus der Gesetze der Harmonie und der Ordnung anbildeten, nach welchen die Sphären und die Gestirne sich bewegten, und nach welchen sie selbst das Weltall regierten.131
127 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Latinum und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum [1806/1807]. In : Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. 2 : Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 4. Auflage. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 25–64. S. 25. 128 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten [1807]. In : Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. 2 : Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 4. Auflage. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 73–124. S. 99. 129 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben [1807]. In : Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. 2 : Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 4. Auflage. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 65–72. S. 71. 130 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten. S. 99. 131 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Latinum und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum. S. 34.
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Die Differenzerfahrung, die Humboldt als unauflösbaren »Widerstreit des Antiken und Modernen«132 und als »Zwiespalt«133 beschreibt, der sich auch »in der eigenen Brust, im Anschauen, Empfinden und Hervorbringen«134 äußere, deutet Schiller wiederum im Anschluss an Rousseaus kulturkritische Schriften135 zu einer Krisenerfahrung um. Im sechsten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen weist Schiller darauf hin, dass in der Antike »bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte […] die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum [hatten] ; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, mit einander feindselig abzuteilen, und ihre Markung zu bestimmen.«136 Erst die zunehmende Rationalisierung, Technisierung und Spezialisierung im Verlauf der Geschichte, die einerseits wissenschaftliche und technische Fortschritte hervorbrachte, führte laut Schiller aber andererseits zu einer »Verwilderung«137, »Erschlaffung«138 und Vereinseitigung des Menschen, sodass »ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.«139 Für das Individuum bedeute diese »getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte«140, unter seiner einseitigen Verzweckung zu »leiden.«141 Solche Fremdheits-, Differenz- oder Krisenerfahrungen bilden zugleich Ausgangspunkte für Bildungsprozesse, die Hans-Christoph Koller ausgehend von Humboldts Theorie der Bildung des Menschen auch als Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen beschreibt. Anknüpfend an Humboldt lasse sich Bildung, so Koller, als ein Prozess der grundlegenden Veränderung des Verhältnisses von Ich und Welt begreifen. Anlass zu einer solchen Umgestaltung der bisherigen Weltsicht bilden Problemlagen, für deren Bewältigung sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis als unzureichend erweise.142 In der Auseinandersetzung mit der Antike – oder dem idealisierten Bild, das Ast, Humboldt und Schiller von der Antike entwerfen – werde sich der moderne Mensch selbst zur Frage. Für Humboldt hat dieses Sich-zur-Frage-Werden aber nicht nur ein melancholisches,
132 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben. S. 71. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Vgl. hierzu Kap. 2. 1. 2 »Am wenigstens kennen wir uns selbst« – Eine Problematisierung identitätstheoretischer Begründungsfiguren von Bildung im Anschluss an Rousseau und Diderot. 136 Schiller, Friedrich (1992) : Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. S. 570. 137 Ebd. S. 568. 138 Ebd. 139 Ebd. S. 571. 140 Ebd. S. 577. 141 Ebd. 142 Vgl. Koller, Hans-Christoph (2012) : Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart : Kohlhammer. S. 11–19.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung Abb. 13 Füssli, Johann Heinrich (1778–1780) : Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der antiken Trümmer. Rötel, braun laviert, 42 × 35,2 cm. Zürich : Kunsthaus Zürich.
sehnsüchtiges Moment,143 das in Johann Heinrich Füsslis Rötelzeichnung Der Künstler, verzweifelnd vor der Größe der antiken Trümmer zum Ausdruck kommt. Für Humboldt stellt diese Irritation auch ein produktives Moment da. Denn indem der moderne, der aus der Schöpfung und dem Kosmos entlassene Mensch sich auf sich selbst besinnt, auf sich selbst zurückgeworfen wird, stellt sich die Frage nach seiner Bestimmung völlig neu. Sie lasse sich nicht weiter aus einer teleologischen Gesamtordnung ableiten oder von einer metaphysischen Instanz empfangen, sondern müsse vielmehr aus einer selbsttätigen Vermittlung von individueller und gesellschaftlicher Daseinsweise des Menschen gewonnen werden.144 Für Humboldt ist daher der »wahre Zweck des Menschen […] die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem
143 Vgl. hierzu Reichenbach, Roland (2007) : Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung. Stuttgart : Kohlhammer. S. 113–122. 144 Vgl. Benner, Dietrich (2003) : Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. 3., erweiterte Auflage. Weinheim und München : Juventa. S. 46.
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Ganzen.«145 Und er ergänzt, dass die »erste, und unerlassliche Bedingung«146 hierfür die »Freiheit«147 sei. Humboldt ist der Ansicht, dass ein solcher Bildungsprozess auch im Umgang mit der schönen Kunst angeregt werden könne, weil sie die Kräfte – hier ist wie bei Kant die Rede vom Verstand und der Einbildungskraft – in ein Zusammenspiel versetze, das sich losgelöst von praktischen Zwecken und theoretischen Begriffen – also in Freiheit – vollziehe. Kunst habe den Vorzug, »uns von den inneren und äusseren Fesseln zu lösen, durch die wir uns im wirklichen Leben so oft gehemmt fühlen«148. Die Rezeption schöner Kunst könne daher das Selbst- und Weltverhältnis des Rezipienten transformieren, weil sie, so Humboldt, einen »von aller Wirklichkeit hinweg, in eine Welt von Idealen hinüberzaubert«149, welche sich in der Realität nicht in Erscheinung bringen können und als Wahrheit der Erscheinung nicht zu denken seien.150 In Goethes Epos Hermann und Dorothea sehe der Leser, so Humboldt, Gestalten, so wahr und individuell, als nur die Natur und die lebendige Gegenwart sie zu geben, und zugleich so rein und idealisch, als die Wirklichkeit sie niemals darzustellen vermag. In der blossen Schilderung einer einfachen Handlung erkennen wir das treue und vollständige Bild der Welt und der Menschheit.151
Diese Kunsterfahrung sei nicht belehrend, sondern bildend, da der Akt der Kunstrezeption für Humboldt weder ein passiver, noch ein bloß reproduktiver Vorgang sei, sondern Kunst den Rezipienten vielmehr zu einer »Vorstellungsarbeit«152 nötige. In der Rezeption habe der Rezipient nicht nur Teil an der Weltsicht des Künstlers, sondern sei an der Vervollständigung des Kunstwerks selbsttätig beteiligt. Als Kunst bestimmt Humboldt daher »die Fertigkeit, die Einbildungskraft nach Gesetzen productiv zu machen«153.
145 Humboldt, Wilhelm von (1980) : Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen [1792]. In : Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. 1 : Schriften zur Anthropologie und Geschichte. 3., gegenüber der 2. unveränderte Auflage. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 56–233. S. 64. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Ästhetische Versuche. Erster Theil : Ueber Göthes Herrmann und Dorothea [1798]. In : Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden, Bd. 2 : Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. 4. Auflage. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 317. 149 Ebd. S. 154. 150 Vgl. ebd. S. 141. 151 Ebd. S. 134. 152 Otto, Wolf Dieter (1987) : Ästhetische Bildung. Studien zur Kunsttheorie Wilhelm von Humboldts. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 117. 153 Humboldt, Wilhelm von (1986) : Ästhetische Versuche. S. 138.
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Die Kunst eröffne dem Menschen die Wirklichkeit, so deutet Clemens Menze die Kunstauffassung Humboldts, »indem sie ihn aus ihr heraushebt und auf jenen Punkt führt, von dem her er sich die Welt durchsichtig zu machen und zu bewegen vermag. […] Kunst und Selbstbildung schließen sich so unmittelbar zusammen.«154 Indem Goethe und Schiller das Theater in diesen Funktionszusammenhang von Kunst und Selbstbildung stellen wollen, beabsichtigen sie nicht nur die Schauspielkunst als schöne Kunst zu etablieren, sondern das Theater als eine Institution der ästhetischen Bildung zu begründen. Deutlich wird diese Funktionszuschreibung, als am 12. Oktober 1798 der von Nikolaus Friedrich Thouret neu eingerichtete Theatersaal in Weimar wiedereröffnet wurde : Auf elliptisch gestellten Pfeilern, die das Parterre einschließen und wie Granit gemalt sind, sieht man einen SäulenKreis von Dorischer Ordnung, vor und unter welchem die Sitze für die Zuschauer, hinter einer bronzierten Balustrade bestimmt sind. Die Säulen selbst stellen einen antiken gelben Marmor vor, die Kapitäle sind bronziert, das Gesims von einer Art graugrünlichem Cipollin, über welchem, lotrecht auf den Säulen, verschiedne Masken aufgestellt sind, welche von der tragischen Würde an, bis zur komischen Verzerrung, nach alten Mustern, mannigfaltige Charaktere zeigen.155
Schon das Betreten dieses Raums kann als »Schwellenerfahrung«156 beschrieben werden, da nicht nur eine räumliche Grenze zwischen »des Bürgerlebens enger Sphäre«157 und einer der antiken Architektur nachempfundenen, künstlichen Sphäre überschritten wird, sondern dieser neu eingerichtete Theatersaal von Schiller mit einer kultischen Stätte verglichen wird. In seinem Prolog zu Wallensteins Lager, das zur Eröffnung des neuen Theatersaals aufgeführt wurde, schreibt er :
154 Menze, Clemens (1991) : Ästhetische Erziehung als Erziehung überhaupt. In : Kunst und Bildung. Hrsg. von Clemens Menze. Münster : Aschendorff. S. 16–85. S. 47. 155 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Weimarischer, neudekorierter Theatersaal. Dramatische Bearbeitung der Wallensteinischen Geschichte durch Schiller. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 520–524. S. 520. 156 Fischer-Lichte, Erika (2003) : Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In : Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hrsg. von Joachim Küpper und Christoph Menke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 138–161. S. 140. 157 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Prolog [zum ›Wallenstein‹]. Von Schiller [von Goethe bearbeitet]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 525–528. S. 525.
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Vom Schultheater zur Theaterschule – Genealogien des Bildungstheaters
Und sieh ! er hat sich neu verjüngt, ihn hat / Die Kunst zum heitern Tempel ausgeschmückt / Und ein harmonisch hoher Geist spricht uns / Aus dieser edeln Säulenordnung an, / Und regt den Sinn zu festlichen Gefühlen.158
Mit dem Prolog kündigen Goethe und Schiller nicht nur programmatisch an, die »alte Spur«159 der bisherigen Dramatik und Schauspielkunst zu verlassen und »auf einen höheren Schauplatz«160 zu versetzen, sondern mit ihrer Rede vom ›Tempel‹ und den ›festlichen Gefühlen‹ deuten sie auf den rituellen Charakter und Ursprung des Theaters hin. Als eine dem Ritus und dem Fest161 entsprungene Kunstform weise das Theater eine »eigene Zeitlichkeit«162 auf, die, so Hans-Georg Gadamer, im Gegensatz zum Alltag wie aus dem Fluss der Zeit »herausgehoben«163 erscheint. Die Affinität des Theaters zum Ritual bestehe ferner, so Fischer-Lichte, in der transformatorischen Kraft, die eine Theateraufführung entfalten könne. Zwar werde nicht wie in einem Initiationsritual der gesellschaftliche Status der Zuschauer durch eine Theateraufführung verändert, ihr Rezeptionsprozess könne aber als »Transformation des Bedeutungssystems des Rezipienten«164 verstanden werden. »Der Zuschauer kann von der Aufführung in einen Zustand versetzt werden, der ihn seiner alltäglichen Umwelt, den in ihr gültigen Normen und Regeln, entfremdet, ohne ihm immer Wege zu weisen, wie er zu einer Neuorientierung zu gelangen vermöchte.«165 In diesem Sinne experimentierten Goethe und Schiller mit Gestaltungsmitteln, die solche Schwellen-, Fremdheits- und Differenzerfahrungen begünstigen. Im Stück Paläophron und Neoterpe, das anlässlich des Geburtstags der Herzoginmutter Anna Amalia im Oktober des Jahres 1800 im engen Kreise aufgeführt wurde, experimentierte Goethe erstmals mit dem Einsatz von Masken. In Die Brüder, eine Komödie von Terenz, die Einsiedel bearbeitet hatte und die ebenfalls anlässlich des Geburtstags der Herzoginmutter am 24. Oktober 1801 aufgeführt wurde, ließ Goethe nun die Schauspieler in Masken auftreten. »Es war der erste Versuch mit Masken und für uns alle eine schwierige Aufgabe«166, 158 Ebd. 159 Ebd. S. 526. 160 Ebd. 161 Vgl. hierzu Primavesi, Patrick (2008) : Das andere Fest. S. 11–27. 162 Gadamer, Hans-Georg (1993) : Über die Festlichkeit des Theaters [1954]. In : Hans Georg Gadamer. Gesammelte Werke, Bd. 8 : Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Tübingen : Mohr. S. 296–304. S. 297. 163 Ebd. S. 299. 164 Fischer-Lichte, Erika (2003) : Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. S. 143. 165 Ebd. S. 149. 166 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers [3 Bde.], Bd. 1. 2. Auflage. Leipzig : Voigt und Günther. S. 121. – Eduard Genast, der Sohn des Schauspielers und Regisseurs Anton Genast, berichtet in seiner Biographie neben seinen eigenen Erfahrungen, die er am Weimarer Hoftheater gemacht hat, auch von den Erlebnissen seines Vaters, der als Schauspieler am Weimarer Hoftheater tätig war.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
berichtet der Schauspieler Anton Genast, der während Goethes Theaterintendanz am Hoftheater als Regisseur tätig war. »Nicht ganze Masken gebrauchte man ; Stirn, Nase, Kinn und Bart wurden nach Bedarf des Charakters angewendet, Augen, Mund und Backen blieben frei.«167 Im Jahr darauf spielte man Paläophron und Neoterpe »auf dem öffentlichen Theater. Schon war durch die Vorstellung der Terenzischen Brüder das Publicum an Masken gewöhnt, und konnte das eigentliche erste Musterstück seine gute Wirkung nicht verfehlen.«168 Auch die allegorischen Figuren im Vorspiel Was wir bringen traten mit Masken auf. Der Einsatz von Masken zur Darstellung von Typen, Temperamenten oder Generischem war ein gezielter Bruch mit dem Anspruch der natürlichen Schauspielkunst und des Illusionstheaters, einen physiognomisch geschulten Ausdruck von Leidenschaften sowie schauspielerische Charakterstudien auf die Bühne zu bringen. Denn nicht die Hervorbringung einer Illusion von Wirklichkeit, die Nachahmung des Zufälligen oder Partikularen in der Natur war der Anspruch der Weimarer Theaterästhetik, sondern die Präsentation eines Ideals. Etwas »idealisch«169 vorzustellen bedeute, so Goethe in den Regeln für Schauspieler, nicht nur das Wahre zu zeigen, sondern es dabei »mit dem Schönen zu vereinigen.«170 Diese idealische Darstellungs- und Inszenierungspraxis zeichnete sich durch drei Aspekte aus. Angeregt durch Wilhelm von Humboldts Brief Ueber die gegenwärtige französische tragische Bühne,171 den Goethe in den Propyläen abdrucken ließ, sowie Ifflands Gastauftritte am Weimarer Hoftheater, die Karl August Böttiger in seiner Schrift Entwicklung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath 1796 dokumentierte,172 rückte erstens der malerische Ausdruck der Schauspieler und die Rhythmisierung ihrer Bewegungen ins Zentrum der Weimarer Theaterästhetik. Mit der Betonung des Malerischen im Gestus jedes einzelnen Schauspielers spielte zweitens auch der malerische Charakter des gesamten Bühnentableaus, der Gruppierung von Personen auf der Bühne wie in einem Gemälde oder in einer Skulpturengruppe, eine wesentliche Rolle in der Inszenierungsarbeit. Und drittens erforderten die Versdramen eine Musikalisierung und Rhythmisierung der Deklamation, auf die Goethe großen Wert legte.
167 Ebd. S. 121 f. 168 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. Als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagbücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 17 : Tagund Jahreshefte. Hrsg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 110. 169 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 871 [§ 35]. 170 Ebd. 171 Vgl. Humboldt, Wilhelm von (1800) : Ueber die gegenwärtige französische tragische Bühne. In : Propyläen. Eine periodische Zeitschrift, Bd. 3. 1. Stück. S. 66–109. 172 Vgl. Böttiger, Karl August (1796) : Entwicklung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath 1796. Leipzig : G. J. Göschen.
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Durch die »Einführung einer metrischen Sprache«173 – die »Versification«174, die Engel ja für die Herstellung einer Illusion von Wirklichkeit auf der Bühne als abträglich erachtete – unterstrichen Goethe und Schiller zum einen die Künstlichkeit des Bühnengeschehens. »Der Tag selbst auf dem Theater ist nur ein künstlicher, die Architektur ist nur eine symbolische, die metrische Sprache selbst ist ideal«175. Zum anderen war sie freilich auch ein Beweis der künstlerischen Formbeherrschung. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt Schiller, dass in einem wahrhaft schönen Kunstwerk »der Inhalt nichts, die Form aber alles tun«176 solle, »denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt.«177 Mit der »Einführung des Chors«178, die Schiller ausführlich in seinem Prolog zu Die Braut von Messina erläutert, will er dem »Naturalism in der Kunst«179 den Krieg erklären und versuchen, die Tragödie auf diesem Weg »von der wirklichen Welt rein abzuschließen«180. Durch das verfremdende Gestaltungsmittel eines antiken Chors, wie man mit Blick auf Brechts Theatertheorie sagen könnte, will Schiller eine Entfremdung der Zuschauer von ihren Sehgewohnheiten im (Illusions)Theater und ihren Alltagserfahrungen provozieren. Schon in seiner Schaubühnenrede hat er darauf aufmerksam gemacht, dass die Schaubühne den Zuschauer im Idealfall in einer ästhetischen Welt über die schlechte Wirklichkeit hinweg »träumen«181 lasse. Insbesondere Kotzebues Dramen thematisieren aber die Ehe-, Familien- und Generationenverhältnisse sowie die sozialund mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen vor dem Hintergrund der ökonomischen Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In den Xenien wird dem Zuschauer solcher Dramen daher die Frage gestellt : »Warum entfliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht ?«182 Als »Heterotopie«183, wie Foucault sagen würde, ist das Theater der Weimarer Klassik eigentlich kein Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern ein symbolischer Raum, der nach anderen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut ist. In Goethes fiktivem Gespräch Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, in dem sich ein Zuschauer darüber beschwert, dass bei einer Opernaufführung in den Logen gemalte Zuschauer zu sehen seien und solche künstlichen Attrappen den Anschein des Wahren und Wirklichen emp173 174 175 176
Schiller, Friedrich (1996) : Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. S. 285. Engel, Johann Jacob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. S. 136. Schiller, Friedrich (1996) : Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. S. 285. Schiller, Friedrich (1992) : Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. S. 641 [22. Brief ]. 177 Ebd. 178 Schiller, Friedrich (1996) : Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. S. 285. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich Wirken ? S. 200. 182 Schiller, Friedrich (1992) : Xenien aus dem »Musen-Almanach für das Jahr 1797«. S. 629. 183 Foucault, Michel (1992) : Andere Räume. S. 39.
Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung
findlich stören, erläutert ein »Anwalt des Künstlers«184, dass es gar nicht der Anschein des Wahren und Wirklichen sei, den man bei den Künsten suche und schätze. Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eigen Gesetzen beurteilt, nach ihren eigenen Eigenschaften gefühlt sein will.185
Das ästhetische Vergnügen, das Goethe und Schiller als maßgebend für ihre Theaterarbeit erklärten, beschreibt Goethe in einem Beitrag, den er kurz nach seiner Italienreise verfasste und der im Jahr 1789 im Teutschen Merkur erschien. Er berichtet hier von seinem nicht vorurteilsfreien Theaterbesuch im Januar 1787 in Rom, als dort La Locandiera von Goldoni, ein Stück in der Tradition der Comedia dell’arte ohne Verwendung von Masken, aufgeführt wurde. Als das Stück am Weimarer Liebhabertheater am 8. Januar 1777 gegeben wurde, spielte damals Corona Schröter die Rolle der Wirtin Mirandolina. Dass diese Frauenrolle in der römischen Komödie von einem Mann gespielt wurde, bereitete Goethe ein ihm »noch unbekanntes Vergnügen«186 : Ich dachte der Ursache nach, und glaube sie darin gefunden zu haben : daß bei einer solchen Vorstellung, der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst, immer lebhaft blieb, und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde.187
Das ihm bisher unbekannte Vergnügen entzündet sich an dem, was Goethe als selbstbewusste Illusion bezeichnet. Mit Blick auf Diderots Paradoxe sur Le Comédien könnte man sagen, dass es die künstliche beziehungsweise künstlerische Natürlichkeit in der Darstellung gewesen ist, die ihm ein solches ästhetisches Vergnügen bereitete. Das »geschickte Spiel«188 gewährte ihm einen anhaltenden Blick auf die Schwelle zwischen Kunst und Natur, die auch Wilhelm Meister faszinierte, als dieser als Kind beim heimischen Puppenspiel einen kurzen Blick hinter den »mystischen Vorhang«189 warf, um dort zu se184 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch [1798]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 501–507. S. 501. 185 Ebd. S. 504. 186 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt [1789]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 209–213. S. 211. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 363. – In Wilhelm Meisters the-
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hen, wie die kurz zuvor noch als lebendig erscheinenden Puppen Saul und Goliath in einen »Schiebkasten«190 gepackt wurden. Wilhelm interessierte, »[w]ie das zugehe«191, »warum das alles doch so hübsch aussah«192 und warum das Puppenspiel die Illusion erzeugte, »als wenn [die Puppen] selbst redeten und sich bewegten«193. Die Faszination an der Kunstfertigkeit der römischen Komödianten, einen Anschein von Echtheit hervorzubringen, gewährte Goethe ein doppeltes Vergnügen. Eben so entsteht ein doppelter Reiz daher, daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern Frauenzimmer vorstellen. Der Jüngling hat die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen und Betragen studiert ; er kennt sie und bringt sie als Künstler wieder hervor ; er spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur. […] Ich wiederhole also : man empfand hier das Vergnügen, nicht der Sache selbst, sondern ihre Nachahmung zu sehen, nicht durch Natur sondern durch Kunst unterhalten zu werden, nicht eine Individualität sondern ein Resultat anzuschauen.194
Für Goethe besteht das ästhetische Vergnügen am Theaterspiel nicht darin, eine perfekte Illusion der Wirklichkeit zu sehen, die Schiller auch als einen »armselige[n] Gauklerbetrug«195 herunterspielt, sondern das Künstlerische in der Darstellung des Natürlichen beobachten zu können. Das Theater, notiert Goethe, sei eine »Lehranstalt zur Kunst mit Heiterkeit«196. Es verliert damit zwar nicht seinen pädagogischen Index, wohl aber seine moralpädagogische Engführung. Durch die Frei- und Einsetzung der Schauspielkunst erwächst das Theater der Weimarer Schule zu einer Anstalt der »höhern Sinnlichkeit«197, die, mit Kant gesprochen, »die reflektierende Urteilskraft und nicht die Sinnesempfindungen zum Richtmaße«198 hat.
atralischer Sendung heißt es gar, dass so »wie in gewissen Zeiten die Kinder auf den Unterschied der Geschlechter aufmerksam werden […], so war’s mit dieser Entdeckung« (FA I, 9 : 18). 190 Ebd. S. 369. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt. S. 211. 195 Schiller, Friedrich (1996) : Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. S. 285. 196 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. Als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. In : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedrich Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., Bd. 17 : Tag- und Jahres-Hefte. Hrsg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 30. 197 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Deutsches Theater. S. 601. 198 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. S. 654 [§ 44].
Teil II Theaterschulen und Ausbildungskonzepte der Schauspieler im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Wie sollen auch Jünglinge gefunden werden, die schon Künstler sind ?1 – Goethe
1 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : [Jugend der Schauspieler, 1825]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 13,1 : Die Jahre 1820–1826. Hrsg. von Gisela Henckmann und Irmela Schneider. München : Hanser. S. 569.
1 »Kulissen- und Landstraßenerziehung«1 – Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland 1.1 Er »schilderte mir die Reisen, die ich ohne Kosten machen könnte, die Gelegenheiten, […] Welt- und Menschenkenntniß zu sammeln so reizend, daß ich mich endlich erklärte, ihm zu folgen.«2 – Über Wege zur Bühne und das Reisen der Wanderbühnen im 18. Jahrhundert in Deutschland In einer amtlichen Anstellung als wirklicher Königlicher Hofschauspieler hätt’ ich keine poetische Beruhigung für meine jugendliche Unruhe gefunden ! Reisen, fremd und unbeachtet am fremden Orte anlangen, sein Zelt aufschlagen, spielen, die Leute entzücken und mitten im allgemeinen Freudenrausche aufbrechen und weiter ziehen ! das war mein Ideal ! das wollt’ ich vom Schauspielerleben.3
So spricht der Schauspieler Karl von Holtei über das Reisen der Wandertruppen. Aber »war denn das Vagabundenleben der Schauspieler wirklich poetisch ? Hielt es denn in der Tat ihr Blut und ihre Phantasie lebendig und frisch ?«4, fragte sein Zeitgenosse und Schauspielerkollege Eduard Devrient skeptisch in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Der Schauspieler Christian Brandes jedenfalls erzählt in seiner Lebensgeschichte von seiner mühseligen und gefährlichen Reise mit der Schuchschen Gesellschaft während des Siebenjährigen Krieges, die nur wenig Poetisches erkennen lässt : »Die Gesellschaft mußte dießmal, weil die Feinde durch ihre Streifereien die gewöhnliche Straße unsicher machten, ihren Weg durch Pohlen nehmen. Der Brodmangel war um diese Zeit allgemein«5. Als die Schauspieler eines späten Abends mit ihren Kutschen an einem Wirtshaus angelangten, erklärte der misstrauische Wirt, dass er zwar weder Lebensmittel noch Futter für die Tiere habe, dass aber keine Meile von hier, jenseits des Waldes, »ein ganz vortrefflicher großer Gasthof«6 zu finden sei. Ein Führer, den die Gesellschaft im Voraus bezahlte, leitete sie dann durch diesen Wald. Als aber der Pfad immer unwegsamer wurde und die Mitglieder der Gesellschaft sich allmählich beschwerten, dass der Gasthof noch immer nicht in Sicht sei, löschte der Führer seine Laterne und verschwand in der Dunkelheit. 1 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 440. 2 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der K. K. Hof- und NationalSchaubühne. S. 25. 3 Holtei, Karl von (1843) : Vierzig Jahre [8 Bde.], Bd. 2. Berlin : Berliner Lesecabinet. S. 389. 4 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 362. 5 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 250. 6 Ebd. S. 252.
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Im Stockfinstern blieb uns nun kein ander Mittel übrig, als auf der nämlichen Stelle Halt zu machen, und in Geduld den Anbruch des Tages abzuwarten. So wie wir nach und nach die Gegenstände unterscheiden konnten, bemerkten wir in der ganzen Gegend weder Weg noch Steg ; dagegen aber rings um uns her abscheuliche Moräste und undurchdringliche Gebüsche, […]. Nur mit äusserster Anstrengung gelang es uns, den halb umgeworfenen Wagen wieder aus dem Sumpf herauszuarbeiten7.
Nachdem die Truppe zunächst ihre Spuren zurückverfolgte, dann einen Pfad fand, der aus dem Wald und nach vielen Stunden zu einem Dorf führte, gelangten die Schauspieler schließlich wieder auf die Landstraße. »Endlich kamen wir, nach einer höchst beschwerlichen Reise von einigen Wochen, in Breslau an ; aber wirklich so ausgehungert und abgemattet, daß wir einige Tage nöthig hatten, uns wieder zu erholen, und neue Kräfte zu sammeln.«8 Das Reisen stellte für die Komödiantentruppen und Schauspielergesellschaften, die durchschnittlich aus 20 künstlerischen und zwei oder drei technischen Kräften bestand, noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit dar. Der Theaterhistoriker Herbert Frenzel gibt in seiner Geschichte des Theaters an, dass Konrad Ernst Ackermann mit seiner Truppe vom 31. Oktober 1753 bis zum 6. März 1767 und vom 15. März 1769 bis zum 6. Dezember 1771 »insgesamt etwa 3000 Vorstellungen in 40 Städten auf 44 verschiedenen Schauplätzen«9 gegeben hat. Ackermann besaß einen umfangreichen Theaterfundus, der die Truppe stets begleitete. Wandertruppen reisten mit gemieteten Mistkarren, Bauernwägelchen, denen Ochsen vorgespannt wurden, oder Reisekutschen, die von sechs Pferden gezogen wurden und in denen bis zu 24 Personen Platz fanden, oder mit Schlitten. Die Schauspieler nutzten Postkutschen, gingen zu Fuß, fuhren auf den Wasserwegen mit Flößen oder reisten per Schiff. »Das Fuhrwerk bestand dießmal in ein Paar bedeckten Frachtwagen«, schreibt Brandes über seine Reise mit der Schuchschen Gesellschaft von Breslau über Berlin nach Magdeburg im Jahr 1761, worauf aus Kisten und Koffern Sitze für die Reisenden, so bequem als es seyn konnte, zubereitet waren. Bei der Abreise packten sich die Damen, mit großen Modehauben, oder Federhüten den Kopf bedeckt ; und in taftne Enveloppen gehüllt, nebst ihren Schooßhündchen in den für sie bestimmten Wagen hinein, legten die Decke desselben, damit sie von den Leuten in ihrem Glanze recht beantlitzt werden konnten, so weit als möglich zurück, und so fuhren sie zur Schau, durch die Stadt, zum Thor hinaus.10
7 Ebd. S. 253. 8 Ebd. S. 254. 9 Frenzel, Herbert A. (1984) : Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470–1890. 2., durchgesehene Auflage. München : dtv. S. 235. 10 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 240.
Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland
Einen Eindruck, wie beschwerlich sich das Reisen in Kutschen gestalten konnte, vermittelt Karoline Schulze-Kummerfeld, die mit ihrer Familie acht Jahre in Ackermanns Truppe engagiert war. Ihre Reise nach Kassel im Jahr 1763 blieb ihr lange in Erinnerung : Denn unsere vier Wagen mit Menschen und Bagage, alle fielen, einer nach dem anderen. An jedem brach was. Die Pferde fielen in Löcher bis an die Bäuche. Kurz, es war zum Erbarmen, so sehr ich auch und wir alle nachher gelacht haben. Gottlob, daß keiner von uns zu Schaden kam. Denn daß wir alle braun und blau gestoßen und gefallen waren, wurde nicht geachtet.11
Die Beweggründe für das Umherreisen der Wandertruppen lagen nicht allein darin, dass sie sich eine Aufführungserlaubnis bei der Obrigkeit einholen mussten und dieses Spielprivileg von Empfehlungsschreiben der Landesherren oder Magistrate abhing – und auch 11 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld [2 Bde.], Bd. 1. Hrsg. und erläutert von Emil Benezé. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 145. Vgl. auch Schulze-Kummerfeld, Karoline (1988) : Ein fahrendes Frauenzimmer. Die Lebenserinnerungen der Komödiantin Karoline Schulze-Kummerfeld 1745–1815. Hrsg. von Inge Buck. Berlin : Orlanda Frauenverlag. – Emil Benezé gab im Jahr 1915 erstmals die Lebenserinnerungen der Schauspielerin Karoline Schulze-Kummerfeld in zwei Bänden im Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte heraus. Er stützte sich hierbei auf eine Hamburger sowie auf eine Weimarer Handschrift, die er in einem zusammenhängenden Text arrangierte. Teilweise ersetzte er Schulze-Kummerfelds Erzählungen durch zusammenfassende Passagen, die er in eckigen Klammern setzte und in der dritten Person wiedergab. Die Historikerin Gudrun Emberger, die im DFG-Projekt »Die Selbstzeugnisse der Schauspielerin Karoline Schulze-Kummerfeld (1742–1815)« an einer historisch-kritischen Ausgabe der Lebenserinnerungen von Karoline Schulze-Kummerfeld arbeitet, kritisiert an der von Inge Buck 1988 herausgegebenen Bearbeitung der Lebenserinnerungen, dass sie nicht nur nicht die eigentlichen Handschriften Schulze-Kummerfelds herangezogen habe, sondern die Zusammenfassungen von Benezé in die erste Person umschrieb, sodass der Eindruck entstand, Schulze-Kummerfeld hätte diese Passagen selbst geschrieben. So sei eine wissenschaftlich unhaltbare und nicht belastbare Version der Lebenserinnerungen entstanden. Die Hamburger Handschrift, in der Karoline Schulze-Kummerfeld unter dem Titel »Die ganze Geschichte meines Lebens« ihre Erlebnisse bis ins Jahr 1775 festhält, ist Fragment geblieben und bricht mitten im Satz ab. Nach dem Tod der Schauspielerin gelangte die Hamburger Handschrift, so Emberger, durch den Weimarer Hofrat Kirms und den Journalisten und Literaturhistoriker Hermann Uhde in die Stadtbibliothek Hamburg. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie nach Sachsen gebracht, dann in die Sowjetunion. Zuletzt wurde sie in die Deutsche Staatsbibliothek Berlin-Ost ausgelagert und kehrte 1989 wieder nach Hamburg zurück. Die Weimarer Handschrift, die unter dem Titel »Die Geschichte meines Theatralischen Lebens« eine Kritik der damaligen Theaterverhältnisse enthält, ist eine der zwei von Schulze-Kummerfeld selbst angefertigten Abschriften. Der Verbleib des ursprünglichen Manuskripts und der weiteren Abschriften sei, so Emberger, im Moment noch nicht geklärt (Emberger 2005). Da die von Emberger in Aussicht gestellte historischkritische Ausgabe noch nicht vorliegt, wird hier aus der Bearbeitung von Emil Benezé zitiert, die zwar nicht zu erkennen gibt, nach welchen Kriterien er das Textmaterial der Handschriften arrangiert hat, an der aber immerhin zu erkennen ist, welche Textpassagen Schulze-Kummerfeld eigenhändig geschrieben hat.
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wieder entzogen werden konnte –, sondern dass der Umfang des Repertoires es oft nicht zuließ, längere Zeit an einem Ort zu spielen, ohne dass die Truppe Gefahr lief, das Publikum durch zu häufige Wiederholungen von Stücken zu langweilen. Denn für das Einstudieren neuer Stücke blieb auf den Reisen meist nur wenig Zeit. Lukrativ waren für die Wanderbühnen außerdem jährlich stattfindende Messen wie in Leipzig, Frankfurt am Main, Frankfurt an der Oder, Kiel, Basel, Zürich oder Bern, die viele potentielle Zuschauer anzogen.12 Das Reisen der Schauspielergesellschaften stellte aber nicht nur einen Versuch dar, das finanzielle Auskommen sicherzustellen, es war in gewisser Weise auch ein Grund für ihre gesellschaftliche Randstellung. Denn die vagabundierende Lebensform der Komödianten schürte fremdenfeindliche Vorurteile. Stehende und staatlich subventionierte Theater sollten diesem Umstand entgegenwirken. Sie sollten für eine finanzielle Absicherung der Schauspieler sorgen, das Prinzipalwesen abschaffen und Schauspielern eine sesshafte und bürgerliche Lebensführung ermöglichen. Doch die Mehrheit der Schauspieler war im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und noch in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts weder sesshaft noch bürgerlich.13 Selbst die wenigen Theatertruppen, die nicht mehr mit ihren Wanderbühnen durch die deutschen Lande zogen und deren Prinzipale nicht mehr um Spielprivilegien buhlen mussten, sondern an stehenden Theatern und Hofbühnen befristete Anstellungen fanden, bespielten stets mehrere Bühnen. Johann Friedrich Schönemann, der bereits früh – zwischen 1751 und 1756 – mit seiner Truppe am Mecklenburgischen Hof eine feste Anstellung fand, trat mit ihr in Schwerin, Rostock, Güstrow, Hamburg, Braunschweig und Wismar auf. Auch das Ensemble des Weimarer Hoftheaters unter Goethes Leitung, dessen Schauspieler sich Hofschauspieler nennen durften, bespielte neben der Bühne in Weimar, die nur zu einem Drittel aus den Kassen des Hofes subventioniert wurde, auch Bühnen in Lauchstädt, Erfurt und Rudolstadt. Konkurrenz und Konkurs von Theatertruppen bewogen viele Schauspieler dazu, eingegangenen Angeboten von anderen Truppen zu folgen und ihnen hinterher zu reisen. Herausragende Schauspieler wurden darüber hinaus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vermehrt zu Gastspielen an andere Bühnen eingeladen und sie nutzten diese »Gastspielreisen«14, um ihr Können auch außerhalb ihres Ensembles zur Schau zu stellen. Friedrich Ludwig Schröders Gastspielreisen führten ihn nach Berlin, Wien, München und Mannheim. Auch August Wilhelm Iffland wurde nach Weimar, Hamburg, Saarbrücken und Frankfurt am Main zu Gastspielen eingeladen. Mit der Verbesserung der Verkehrswege, dem Ausbau stehender Bühnen und dem zunehmenden Bekanntheitsgrad deutscher Schauspielvirtuosen nahm die Nachfrage an solchen Gastspielen im 19. Jahrhundert sogar noch zu.15 12 Vgl. Frenzel, Herbert A. (1984) : Geschichte des Theaters. S. 235. 13 Vgl. Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne zur Sittenschule. S. 59. 14 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 138. 15 Vgl. Ebert, Gerhard (1991) : Der Schauspieler. Geschichte eines Berufes. Ein Abriß. Berlin : Hentschel
Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland
Welche Gründe und Umstände führten nun dazu, dass Menschen sich im 18. Jahrhundert einer Truppe von Schauspielern anschlossen, deren Stand trotz Beifall gesellschaftlich wenig anerkannt wurde, mit vielen Unsicherheiten verbunden war und der ein Leben im Transit bedeutete ? Für Frauen stellte der Beruf der Schauspielerin im 18. Jahrhundert einen Bereich dar, in dem sie selbstständig neben Männern beruflich tätig sein und finanziell unabhängig von männlichen Bezugspersonen oder Vormündern arbeiten konnten. Von einer Gleichberechtigung kann hierbei allerdings nicht die Rede sein, denn die meisten Ensemblemitglieder waren Männer, da die dramatischen Texte weitaus mehr männliche Rollen vorsahen. Mit Ausnahme der Primadonna oder der ersten Liebhaberin wurden Frauen außerdem geringer entlohnt als ihre männlichen Kollegen.16 Knigge antwortet auf die Frage, warum man Schauspieler werde, dass der Schauspielerstand sehr viel »[B]lendendes«17 an sich habe. Er schüre Sehnsüchte und Hoffnungen : Freyheit ; Unabhängigkeit von dem Zwange des bürgerlichen Lebens ; gute Bezahlung ; Beyfall ; Vorliebe des Publicum ; Gelegenheit, da einem ganzen Volke öffentlich Talente zu zeigen, die außerdem vielleicht versteckt geblieben wären ; Schmeichelei ; gute gastfreundliche Aufnahme von jungen Leuten und Liebhabern der Kunst ; viel Muße ; Gelegenheit, Städte und Menschen kennen zu lernen – Das alles kann manchen Jüngling, der mit einer unangenehmen Lage, oder mit einem unruhigen Gemüthe, mit übel geordneter Thätigkeit kämpft, bewegen, diesen Stand zu wählen, besonders, wenn er in vertraueten Umgang mit Schauspielern und Schauspielerinnen geräth.18
In seiner anonym erschienenen Biographie schreibt Knigge, dass er ohne Vorurteile gegen diesen Stand sei, »welcher der bürgerlichen Gesellschaft immer sehr nutzbar seyn könnte«19, er sei aber der Ansicht, dass die meisten unter ihnen diesen Beruf nur ergreifen, »weil sie sich keiner Zucht und Ordnung, welche ihnen andre Lebensarten vorschreiben, unterwerfen wollen«20.
Verlag. S. 212–225. 16 Vgl. Heinz, Andrea (2005) : Weimarer Schauspielerinnen um 1800 : Caroline Schulze-Kummerfeld, Luise Rudorf, Caroline Jagemann. Ein Leben zwischen Bühne, Bett und bürgerlicher Existenz. In : Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Hrsg. von Julia Frindte und Siegrid Westphal. Heidelberg : Winter Universitätsverlag. S. 407–418. S. 408. Vgl. hierzu auch Becker-Cantario, Barbara (2000) : Von der Prinzipalin zur Künstlerin und Mätresse. Die Schauspielerinnen im 18. Jahrhundert in Deutschland. In : Die Schauspielerin – Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Hrsg. von Renate Möhrmann. Frankfurt a.M.: Insel. S. 100–126. 17 Knigge Adolph Freiherr von (1788) : Ueber den Umgang mit Menschen, Zweyter Theil. S. 92 f. 18 Ebd. 19 [Knigge, Adolph Freiherr von] (1781) : Der Roman meines Lebens in Briefen herausgegeben [4 Bde.], Zweyter Theil. Riga : [ohne Verlag]. S. 165 f. [17. Brief ]. 20 Ebd.
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Das Theater war im 18. Jahrhundert nicht nur ein Ort, der es erlaubte, vor der Realität zu fliehen – über die schlechte Wirklichkeit, so Schiller, hinweg zu »träumen«21 –, sondern übte eine tatsächliche Anziehungskraft auf die Jugend aus. Obwohl es keine Zahlen gibt, die Aufschluss darüber geben, wie groß der Anteil von Kindern und Jugendlichen im Theaterpublikum war, lassen sich in etlichen biographischen Texten von Schauspielern Hinweise darauf finden, dass sie bei Aufführungen zugegen waren. Für das Jahr 1759 notiert Goethe in den Entwürfen seiner Selbstbiographie Dichtung und Wahrheit : Französisches Theater. Freibillett. Alle Abend im Schauspiel, ohne Anfangs ein Wort zu verstehen. Abgehorchter Ton, besonders der Verse. Ich las Racines Trauerspiele, die in meines Vaters Bibliothek sich befanden, in der Art wie die Schauspieler sie deklamierten, und verstand kein Wort davon. Die Vorstellung selbst war eine Art von Pantomim für mich, wozu ich nach und nach die erklärenden Worte auch verstehen lernte.22
Goethe war zu diesem Zeitpunkt neun oder zehn Jahre alt. Als August Wilhelm Iffland sein erstes Schauspiel gesehen hat, war er nur halb so alt. In seiner Selbstbiographie, die er der Sammlung seiner dramatischen Werke vorausschickt, schreibt er : In meinem fünften Jahr habe ich das erste Schauspiel gesehen und es machte einen wundersamen Eindruck auf mich. […] Es war, glaube ich, der Kranke in der Einbildung, der den Tag gegeben wurde. […] Das zierliche Benehmen der Personen, welche vorher im Schauspiel gesprochen hatten, und daß sie so hinter einander gesprochen hatten, dünkte mich so reitzend, so vornehm, so ehrwürdig ! Man erklärte mir, daß sie das alles auswendig gelernt hätten. Nun staunte ich sie an, wie hohe, besondre Wesen.23
Als im Jahr 1767 die Seylerische Gesellschaft nach Hannover kam und im Schlosstheater Lessings Miß Sara Sampson spielte, konnte Iffland es kaum erwarten, ein Stück zu sehen, das von seinem Vater, einem Registrator und Revisor der Kriegskanzlei in Hannover, als »lehrreich«24 bezeichnet wurde und auf dem Schloss des Königs zu sehen war. Ich bin in Thränen zerflossen während dieser Vorstellung. […] Die Leiden der Menschen kannte ich bis daher nur aus Hübners biblischen Geschichten, oder von armen Leuten, wel-
21 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken ? S. 200. 22 Goethe, Johann Wolfgang (1985) : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 16 : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Peter Sprengel. München : Carl Hanser Verlag. S. 838. 23 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. Leipzig : Georg Joachim Göschen. S. 1–6. 24 Ebd. S. 12.
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che Almosen empfingen : von einer solchen Leidensgeschichte, von einer solchen Sprache hatte ich keinen Begriff. Eckhof als Mellefont, die Hensel als Sara, die Bäck als Marwood !25
Ifflands anhaltende »Schauspielwuth«26, seine Lust an Theaterbesuchen, am Dramen lesen und Reden halten, die sein Vater mit Unbehagen beobachtete, sollte schließlich dazu führen, dass er zehn Jahre später heimlich aus Hannover floh und bei Ekhof am Gothaer Hoftheater vorstellig wurde. »Den 15ten März 1777 habe ich auf dem herzoglichen Hoftheater zu Gotha zuerst die Bühne betreten.«27 Die Theaterbegeisterung junger Männer und Frauen veranlasste einige von ihnen wie in Ifflands Fall, der Einförmigkeit ihrer bürgerlichen Herkunft entkommen zu wollen und beim Theater die verhofften Freiheiten zu finden. Doch im 19. Stück des Magazins der Sächßischen Geschichte bemerkt man 1785 knapp : Bei der ietzt herschenden Theatromanie läuft so mancher unbesonnene Jüngling, der zu nichts taugt, so manches freyseynwollende Mädchen aufs Theater und glaubt hier sein Glück zu machen ; grade als ob die Bühne nicht viel Studium der Welt, Kenntniß der Seele, Leidenschaften, Sitten, Costume u. s. w. erforderte28.
In ähnlicher Weise bemerkte auch der Jesuit Wenzel Sigmund Heinze in seiner aphoristischen Abhandlung Von der Schauspielkunst : »Weil sie nichts lernen wollten, wenden Sie sich zu einer Kunst, die der nie in ihrem ganzen Umfange erlernt, der sonst nichts gelernt hat ; wo unwissende Lehrjungen selten große Meister werden ? – heißt das sein Intresse verstehen ?«29 Einen literarischen Ausdruck findet dieser Eskapismus in Philipp Moritz’ Roman über den gleichnamigen Protagonisten Anton Reiser, dessen unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasien, als in der Wirklichkeit lebte – das Theater als die eigentliche Phantasiewelt sollte ihm also ein Zufluchtsort
25 Ebd. S. 17. – Iffland bezieht sich auf das biblische Lesebuch des Rektors des Hamburger Gymnasiums Johanneum Johann Hübner. Vgl. hierzu Hübner, Johann (1714) : Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset. Leipzig : Johann Friedrich Gleditsch und Sohn. 26 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 23. 27 Ebd. S. 67. 28 [Anonym] (1785) : Vermischte Dresdner Nachrichten. In : Magazin der Sächßischen Geschichte, Neunzehntes Stück. S. 423–430. S. 428 f. 29 [Heinze, Wenzel Sigmund] (1780) : Von der Schauspielkunst. S. 24.
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gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein. – Hier allein glaubte er freier zu atmen, und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden.30
Der Schauspieler Johann Friedrich Müller, der zunächst von seinem 20 Jahre älteren Bruder unterrichtet wurde und in die Domschule in Halberstadt ging, besuchte als dreizehnjähriger Junge das »berühmte Waisenhaus«31 in Halle – die Keimzelle der Franckeschen Stiftungen. Den Schülern war es hier strengstens untersagt, die Marionetten-Spieler auf dem Jahrmarkt im nahegelegenen Glaucha zu besuchen oder andere Buden von Komödianten zu betreten. »Jedoch die salbungsvolle Predigt, welche bey dieser Gelegenheit über das sündliche Schauspielwesen gehalten wurde«, schreibt Müller, »machte keinen Eindruck. Sie erweckte vielmehr eine brennende Neubegierde, welcher einige Eleven dieses Instituts nicht zu widerstehen vermochten.«32 Als Müller unabsichtlich ein Papiertheater, das er gebastelt hatte, nachdem er heimlich in der Aufführung des Doktor Faustus im Puppentheater auf dem Jahrmarkt gewesen war, in Brand steckte und ihm eine derbe Strafe angedroht wurde – Stockschläge in Gegenwart aller Schüler, drei Tage Carcer-Arrest, Rutenhiebe und die Versetzung in eine niedrigere Klasse –, floh er früh morgens zu seinem Bruder. Dieser unterrichtete ihn zunächst weiter und brachte ihn schließlich nach Magdeburg, wo ihn Johann Eustachius Goldhagen, der von 1753 bis 1772 Rektor der Domschule war, aufnahm. Goldhagen ermutigte seine Schüler, das Theater zu besuchen und verschaffte Müller eine Anstellung als Privatlehrer. Als der Schauspieler und Theaterdirektor Franz Schuch im Jahr 1755 mit seiner Theatertruppe in Magdeburg gastierte, suchte er für seine Kinder einen Hauslehrer. Mit einem Empfehlungsschreiben Goldhagens sprach Müller bei Schuch vor und wurde eingestellt. In seiner Selbstbiographie schreibt Müller : [Schuch] gab mir wöchentlich einen Reichsthaler für sechs Stunden, in welchen ich seine Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten mußte, zugleich freyen Eintritt ins Theater und gewöhnlich in jeder Woche zweymal freyen Tisch. Dieser launenvolle jovialische Mann wurde mir außerordentlich gut, und machte mir nach einigen Tagen unserer Bekanntschaft den Vorschlag, als Hofmeister seiner Söhne mit ihm zu reisen. Nebst freyer Wohnung, Tisch, und andern kleinen Emolumenten, trug er mir einen Gehalt von fünfzig Thalern jährlich an, und wenn ich zugleich Lust hätte, die Bühne zu betreten, wozu er große Anlagen in mir zu finden vorgab, sollte mein Gehalt wöchentlich mit zwey Thalern vermehrt werden.33 30 Moritz, Philipp Karl (1999) : Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In : Karl Philipp Moritz. Werke [3 Bde.], Bd. 1 : Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 414. 31 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der K. K. Hof- und NationalSchaubühne. S. 12. 32 Ebd. S. 13. 33 Ebd. S. 23.
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Nach einigem Zögern willigte Müller ein, folgte Schuch mit seiner Truppe nach Potsdam und debütierte in einer kleinen Rolle in Molières Tartuffe. Die zeitgenössischen Autoren waren sich aber weitgehend einig, dass ein großer Teil der Schauspieler sich aus (davongelaufenen) Schneidern, Friseuren oder Barbieren zusammensetzte. Der Schauspieler Johann Friedel war der Ansicht, dass die Lebensläufe der meisten Schauspieler einem sich wiederholenden Muster folgten : Ein »Schneider, oder Friseur, oder sonst einer der ehrsamen Handwerkergenossen war zu faul, weiter fortzuarbeiten, wurde Schauspieler, und zeigt in seinen Handlungen, wes Geistes Kind er sey«34. Für Frauen sei der Anlass, Schauspielerin zu werden, so Friedel, eine »vorhergegangene Verführung, oder Begierde nach Gelegenheiten zu selber«35. Im Theater-Kalender auf das Jahr 1782 heißt es in einem anonymen Beitrag mit Vorschlägen zur Verbesserung des deutschen Theaters in ganz ähnlicher Weise, dass Schauspieler entweder Studenten seien, die »auf der Universität nichts gelernt«36 hätten, oder Schneider und Friseure, die ihren Meistern davongelaufen seien. »Ihre Verdienste kann man nur nach der Anzahl Bouteillen, oder Gläser, die sie täglich leeren, beurtheilen. Aus solchem Pöbel sollen Lehrer des Volks werden ! Solche Leute spielen Weise, Tugendhafte, Männer vom Stande, Fürsten und Könige !«37 Johann Jakob Engel war hingegen der Ansicht, dass die Entscheidung, Schauspieler zu werden, selten überlegt oder aus freien Stücken getroffen wurde : »Man
34 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Siebenzehntes Stück. S. 15–27. S. 20. – In ähnlicher Weise heißt es auch im ersten Stück des Tagebuchs der Mainzer Schaubühne, dass es insbesondere Friseure, Schneidergesellen, Studenten und Prostituierte waren, die den Schauspielerberuf ergriffen : »So lange Friseurs, Schneiderpursche, relegirte Studenten, Bordelschwestern, und wer noch mehr ? sich zum Theater drängt, um da in thatenloser Ruhe zu verdorren oder ihr bischen Kraft unter dem Schilde der Gesetzlosigkeit zu verschwelgen, so lange läßt sich wenig für die Bildung des Schauspielers erwarten« ([Anonym] 1788 : 7 f.). Und im Nachlass des Schauspielers und späteren Direktors des Wiener Burgtheaters Franz Hieronymus Brockmann findet sich ein Brief zur Bildung eines angehenden Schauspielers, der vermutlich als Einleitung zu einer eigenständigen Publikation geplant war. Hier schreibt Brockmann ebenfalls, dass auf den meisten deutschen und europäischen Bühnen Leute zu sehen seien, »die sich stolz den Namen Schauspieler geben, ohne irgend auch nur ein einziges Verdienst zu haben, daß sie dazu berechtigen könnte. Haarkräuser, denen ihr Kamm, Schneider denen ihr Biegeleisen zu schwer ward und die keinen anderen Beruf zur Schaubühne als Faulheit gegen ihre gelehrte Profesion aufweisen können, liederliche aus der Schule und Lehre entlaufene Buben, die, wenn sie zur Montur zu schlecht sind, herzhaft den Cothurn anziehen, und bis an ihr seliges Ende im Trauerspiel die Luft durchsägen und im Lustspiele ein Häufgen alberner Thoren durch ihre abgeschmackten Spässe lachen machen wollen. […] Vorworfene Weibsgeschöpfe, die das Theater theils als Freystatt, theils als einen Orth betrachten, wo sie täglich ihre geilen buhlerischen Reitze in manigfaltigsten Wendungen zur Schau auslegen und an den meistbietenden verkauffen können« (Brockmann 1955 : 55). 35 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 20. 36 [Anonym] (1782) : Vorschläge zur Verbesserung des Theaters. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1782. [Hrsg. von Heinrich August Ottokar Reichard]. Gotha : Carl Wilhelm Ettinger. S. 57–65. S. 59. 37 Ebd.
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wird Akteur, wie man Soldat wird ; insgemein aus Unbedacht oder Noth, selten aus Beruf oder Neigung.«38 Christian Schulze, der Vater der Schauspielerin Karoline Schulze-Kummerfeld, konnte aus finanziellen Gründen sein Studium nicht fortsetzen : »Was also tun ?«, schreibt seine Tochter in ihrer Biographie. »Wie kannst du doch zum Teil das erlangen, was du wolltest ? Geh aufs Theater : der Weg, wo du reisen, die Welt und Menschen sehn und doch ein ehrlicher Mann bleiben kannst. War sein Schluß zu übereilt, daß er just den Weg einschlug ? Er war 19 Jahre und arm.«39 Von dem Theaterdirektor und Schauspieler Karl Friedrich Abt – hinter dessen Künstlernamen seine Zeitgenossen einen Hinweis auf die mit der Theologie verbundene Tätigkeit seines Vaters vermuteten –, wird berichtet, dass er seinen Eltern zwar vorgab, in Jena juristische Vorlesungen zu besuchen, in Wirklichkeit aber seine meiste Zeit mit Texten lateinischer und deutscher Dichter verbrachte. »Besonders hatten die Romane sein ganzes Herz gefesselt. Diese fröhliche und geschäftige Unthätigkeit milderte seine Sitten, bildete seinen Geschmack des Schönen und Empfindsamen, und machte ihm die damals rohe studentikose Lebensart unausstehlich.«40 Wegen Streitereien musste er Jena verlassen. Er nahm eine Stelle als Hauslehrer an, verliebte sich in die Freundin seiner Schülerin und brannte schließlich mit ihr durch. Aus Rücksicht auf ihre Familie gab sich seine Frau den Namen Felicitas. Karl Friedrich und sie wohnten zunächst bei dem Prediger Jakob Brechter, der sie getraut hatte. Da Brechters Bemühungen, Abt als Pächter oder Verwalter eines Stück Lands in Lohn und Brot zu bringen, nicht aufgingen, beschloss Abt, Schauspieler zu werden. Er musste »sich aber erst vorbereiten, sich Theaterkenntnisse, Kunst und Ansehen erwerben. [Johann Martin] Leppert machte damals etwas Aufsehen mit seiner Bühne ; und diese wurde zur Schule gewält.«41 38 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 143. 39 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 1. S. 2. 40 Müller, M. (1784) : Beyträge zur Lebensgeschichte des Schauspieldirektor Abbt’s. Frankfurt und Leipzig : [ohne Verlag]. S. 6 f. 41 Ebd. S. 18. – In der Geschichte Gottfried Walthers, eines Tischlers, und des Städtlein Erlenburg erzählt der Schriftsteller Johann Martin Miller die Begebenheit, dass ein Sohn, statt die Universität zu besuchen, sich einer Schauspielertruppe anschließt, aus der Sicht der bekümmerten Eltern : Philipp Walther, der Sohn des Hoftischlers Gottfried Walther und seiner Frau Anne, studierte Theologie in Jena und bat seinen Vater regelmäßig, er möge ihm Geld zu senden. Nach einem Jahr wurde Gottfried ungeduldig und schrieb seinem Sohn, er solle bald nach Erlenburg zurückkehren. Er und seine Mutter würden es kaum erwarten können, ihn auf der Kanzel zu sehen, denn eine Stelle beim Pfarrer in der hiesigen Gemeinde sei für ihn frei. Doch Philipp antwortete, man habe ihm eine Stelle als Magister in Leipzig angeboten, er bräuchte aber 300 Taler, um sie antreten zu können. Der Magistertitel erschien den eitlen Eltern als eine lohnenswerte Investition und Gottfried schickte seinem Sohn das Geld. Doch als Philipp sich hierauf ein Vierteljahr nicht meldete, beauftragte der Vater einen Gesellen, der sich in Leipzig nach seinem Sohn erkundigen sollte. »Es erfolgte nun bald darauf eine Antwort, die Gottfrieden ganz darnieder schlug. Herr Walther, hieß es, sey nicht mehr in Leipzig, sondern schon vor einem Vierteljahr mit einer Komödiantengesellschaft, unter dem Namen eines Theaterdichters, weggezogen
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Und von dem Grafen Albert Joseph von Hoditz berichtet der Schauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller, der seine drei Bühnen auf dem Landgut Rosswalde bis 1761 leitete, dass er während des Siebenjährigen Kriegs den Offizieren und Kommandierenden der kaiserlich-königlichen Armee ihr Winterquartier so angenehm und unterhaltend wie möglich machen wollte. Er gab fast täglich Tafel, Schauspiele, Concerte, Bälle, Jagden und Schlittenfahrten. Jede Stunde des Tages wurde mit abwechselnden Vergnügungen gewürzt. Die Mitglieder seiner Bühne waren Leibeigene, von welchen er aus allen seinen Besitzungen die wohlgebildetsten beyderley Geschlechts in der zartesten Jugend den Frohndiensten entriß, und sie in der Religion, Musik, Tanz- und Schauspielkunst, Zeichnen, Geschichtskunde, und andern Wissenschaften unterrichten ließ.42
Peter Schmitts quantitative Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass die meisten Schauspieler im 18. Jahrhundert aus Schauspielerfamilien stammten.43 Die Eltern von Karoline Schulze-Kummerfeld waren Schauspieler, die zusammen mit ihr in verschiedenen Wandertruppen durch Deutschland reisten. In ihrer Selbstbiographie schreibt sie : »Ich bin bei dem Theater geboren, erzogen worden. Dies war Zufall.«44 Eine »kindische Erziehung«45, die Zeit mit Puppen zu spielen, habe sie nie gehabt. Um Kosten zu sparen, beschäftigten viele Prinzipale schlicht die Kinder und Schwiegermütter der Schauspieler, statt neue Ensemblemitglieder einzustellen.46 »Die Schauspieler haben Kinder genug. Laßt diesen«, bittet Schulze-Kummerfeld, »die dabei erzogen und geboren werden, ihr Brot ! Nehmt es ihnen nicht durch euer Zudringen, auch Schauspieler zu werden.«47 Die Schauspielerin Felicitas Abt, die mit ihrem Mann eine und habe gar nicht das beste Lob hinterlassen. – Gottfried war ausser sich über diese Nachricht. Er fluchte, tobte, weinte. Sein Sohn hatte ihn so viel schweres Geld gekostet, ihn aus einem reichen Mann zu einem kaum vermöglichen gemacht ; Und jetzt, da er hoffte, die Frucht seiner großen Kosten einzuerndten, kommt die Nachricht an, er sey Komödiant geworden. Jeder Vater kann sich selbst vorstellen, wie äusserst weh dieß Gottfrieden thun mußte. Er wurde ganz melancholisch, und Anne ward es auch auf eine Zeit lang. Er gieng nirgends mehr hin, weil er sich seines Sohnes wegen schämte, und weil viele Leute ihre Schadenfreude über sein Unglück nicht verbergen konnten« (Miller 1786 : 455 f.). 42 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der K. K. Hof- und NationalSchaubühne. S. 34. – An anderer Stelle schreibt Müller, dass Graf von Hoditz die Mitglieder seiner Bühne »in der zartesten Jugend, den ländlichen Arbeiten entzieht, und in der Geschichtskunde, Mahlerey, Tonkunst, und andern Wissenschaften unterrichten läßt« (Müller 1772 : 85). 43 Vgl. Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 96. 44 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 2. S. 160. 45 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 1. S. 59. 46 Vgl. Dreßler, Roland (1993) : Von der Schaubühne zur Sittenschule. S. 59. 47 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld [2 Bde.],
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Anstellung am Theater im westfälischen Münster gefunden hatte und eine Gastspielreise mit ihm plante, sorgte sich um die Zukunft ihrer Kinder. Sie sollten nicht wie sie Schauspieler werden. Felicitas »war zärtliche Mutter«, schreibt ein zeitgenössischer Biograph, sie wünschte ihre Kinder gut erzogen zu sehen, sah die Gefahr, wenn sie dem Theater nahe blieben ; und da sie bemerkte, daß die Münsterschen Schulen, wo ihre Kinder hingingen, nach Fürstenbergs herrlichen Plan gut seyn sollten, aber bei weitem nicht waren ; so wollte sie zugleich auf dieser Reise eine Gelegenheit aufsuchen, ihre Kinder nach ihrem Gutfinden vortheilhaft unterzubringen. Diese fand sie hernach in Gotha.48
Die Pensionskosten für ihre Kinder brachte sie alleine auf. Auch ihr Vater hatte beschlossen, »daß sie nie Schauspieler werden sollten ; lieber wollte er in ihnen ruhige Schuhfliker sehn, als Verwandte des glänzenden Elends, wie er das Schauspielerleben nannte.«49 Laut Schmitts Untersuchung machten neben den etwa 58 Prozent der Schauspieler, die aus Schauspielerfamilien stammten, Schauspieler aus dem niederen, meist verarmten Adel oder aus Handwerkerkreisen einen sehr geringen Anteil aus. Der Schauspieler Jakob Neukäufler, der später ein Mitglied der Theatertruppe Emanuel Schikaneders50 wurde, war Sohn eines Schuhmacher-Meisters, seine Mutter die Tochter eines Hofbraumeisters aus Freising. Nachdem Neukäufler die Schule in Neustift und das Gymnasium in Freising besucht hatte, wurde er von Ferdinand Reisner im Jesuiten-Kolleg in Innsbruck aufgenommen. Bei den Jesuiten erhielt er unter anderem praktischen Unterricht in Rhetorik, bei dem »die Schüler eine von ihnen selbst komponierte Oration auf dem Katheder peroieren mußten, wozu gewöhnlich der Herr Rektor nebst einigen Professoren und dem Präfekten geladen wurden. Auch gab man öfters im Jahre Komödien, z. B. Fastnachtspiele und Proklamationen«, erinnert sich Neukäufler, »besonders aber zu Ende des Schuljahrs. Ich spielte meistens mit.«51 Nach seiner Schulzeit trat er im Jahr 1772 in die GesellBd. 2. Hrsg. und erläutert von Emil Benezé. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 162. 48 Müller, M. (1784) : Beyträge zur Lebensgeschichte des Schauspieldirektor Abbt’s. S. 56. – Zusammen mit Bernhard Overberg reformierte Freiherr Franz von Fürstenberg im Bistum Münster das Schulwesen nach dem Vorbild Österreichs (Hanschmidt 1969). Mit der ›Gelegenheit‹, die Felicitas Abt in Gotha fand, um ihre Kinder nach ihrem Gutfinden vorteilhaft unterzubringen, könnte das Gymnasium Ernestinum gemeint sein, das von 1768 bis 1779 von Johann Gottfried Geißler geleitet wurde. 49 Ebd. S. 123 f. 50 Vgl. hierzu Price, Henry (2008) : Emanuel Schikaneder and Jakob Neukäufler : Family Affairs. In : Mozart-Studien, Bd. 17. Hrsg. von Manfred Hermann Schmid. Tutzingen : Schneider. S. 347–358. 51 Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. Jakob Neukäufler (1754–1835). Hrsg. von Konrad Schiffmann. Linz : Feichtingers Erben. S. 13. – Laut Konrad Schiffmann sind die 42 Quartblätter, die seiner Ausgabe der Selbstbiographie des Schauspielers Jakob Neukäufler zugrunde liegen und 1930 im Besitz der Münchener Juweliersgattin Bertha Thom waren, eine im Jahr 1825 entstandene, von Neukäufler aber selbst begutachtete und korrigierte Fassung. Eine Lücke im Text, eine offenbar beim Abschreiben übersprungene Zeile, deutet daraufhin, dass es sich um eine Kopie
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schaft Jesu ein und setzte seine Ausbildung im Jesuitenkolleg bei Landsberg am Lech fort. Als aber der Jesuitenorden nur ein Jahr später, im Jahr 1773, aufgelöst wurde, sagte man den Novizen, sie sollen dahin zurückgehen, wo sie herkamen. »Mich Ärmsten traf das Schicksal der Aufhebung am härtesten. Meine fünf Kameraden hatten wohlhabende Eltern und ein fürsorgliches Vaterhaus. Wohin aber nun mit mir ?«52 Neukäufler reiste nach München, wo er sich Rat von seinem ehemaligen Mentor Reisner erhoffte. Reisner konnte ihm glücklicherweise eine günstige Anstellung verschaffen. Als Neukäufler aber von der Armut seiner vom Alter gezeichneten Eltern erfuhr, sah sich der Zwanzigjährige gezwungen, auch für ihren Unterhalt aufzukommen. Daher sprach er beim Theaterregisseur Johann Baptist Nießer am Münchener Hoftheater vor, um sich als Schauspieler zu bewerben. »Ich überlegte gar nicht, ob ich Talent zum Schauspieler hätte oder nicht, mir lagen immer nur meine armen Eltern im Sinn.«53 Da Neukäuflers Mentor Reisner der ehemalige Lehrer Nießers in Augsburg gewesen war, engagierte Nießer ihn. Adlige Schauspieler wählten in der Regel einen Künstlernamen, um ihre Familienzugehörigkeit zu verschleiern : Der ungarische Offizier Karl Franz d’Akácz – Franz von Akácz oder Akats – nannte sich, als er Schauspieler am Weimarer Hoftheater wurde, Karl Franz Grüner, der preußische Offizier Friedrich Julius von Kleist wählte seine beiden Vornamen Friedrich Julius als Pseudonym und Johann Reinhold von Lenz ließ sich Kühne nennen.54 Karl von Holtei, der keinen Künstlernamen wählte, schreibt, dass es damals um das Jahr 1820 herum unerhört gewesen sei, das Wörtlein »von« auf dem Komödienzettel zu erblicken. […] Aber nicht nur der Adel, auch die Kaufmannschaft, der Bürgerstand waren gegen mich, und – spashaft genug – wenn gleich aus ganz verschiedenem Gesichtspunkte, doch angeregt durch den nämlichen Beweggrund. Jene verachteten mich, daß ich den schlesischen Adel auf dem Theater entweihen würde, diese haßten mich, weil ich so unglücklich war, von Adel zu sein.55
Franz Anton von Weber, der Vater des Pianisten und Komponisten Carl Maria von Weber, reiste als Kapellmeister und Schauspieldirektor verschiedener Schauspielergesellschaften durch Deutschland und Österreich.56 Seinen Adelstitel trug er aber unrechtmäßig.57 handelt. Auszüge wurden angeblich bereits 1912 im Neuen Wiener Tagblatt von G. Denemy und in den Innsbrucker Nachrichten von Ferdinand Lentner veröffentlicht. 52 Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. S. 25. 53 Ebd. S. 33. 54 Vgl. Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 99 f. 55 Holtei, Karl von (1843) : Vierzig Jahre [8 Bde.], Bd. 3. Berlin : Berliner Lesecabinet. S. 151. 56 Vgl. Ziegler, Frank (2011) : Die Webers – eine Familie macht Theater. Wanderbühnenbetrieb im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel der Weberschen Schauspielergesellschaft. In : Musiker auf Reisen. Beiträge zum Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling. Augsburg : Wißner Verlag. S. 133–157. 57 Vgl. Schwedes, Hermann (1993) : Musikanten und Comödianten – eines ist Pack wie das andere. S. 261.
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Etwa 20 Prozent der Schauspieler kamen, so Schmitt, aus Elternhäusern, in denen der Beruf des Vaters einem Bereich zuzuordnen sei, den man im weitesten Sinne als »öffentlichen Dienst«58 beschreiben könne und der oft mit einer akademischen Bildung einherging. Über August Wilhelm Iffland schreibt Klaus Gerlach, dass er aus einer »angesehenen Beamtenfamilie in Hannover«59 stammte. »Der Vater war Registrator und Revisor in der Kriegskanzlei und ließ seinen Kindern eine sorgfältige Erziehung und Ausbildung zukommen. Dazu gehörte auch, dass der Vater gemeinsam mit den Kindern Predigten las und das Theater besuchte.«60 Bevor Iffland heimlich aus Hannover floh, um in Gotha Schauspieler zu werden, hatte er zuhause »Privatunterricht«61 erhalten, besuchte die »öffentliche Schule«62 – wo er höchstwahrscheinlich seinen Schulfreund Karl Philipp Moritz kennenlernte, der eigentlich auch Schauspieler werden wollte –, und war zeitweise bei einem Pastor namens Richter untergebracht, der mit ihm Cicero und Montaigne las. »Durch ihn lernte ich feinere Sitten der Welt kennen«, schreibt Iffland über ihn, »und bekam, wovon ich vorher nichts wußte, Lebenserfahrung.«63 Ein weiteres Beispiel für Schauspieler, die aus einem Haushalt stammten, in dem der Vater in einem Beamtenverhältnis stand und über eine akademische Bildung verfügte, ist Caroline Jagemann, die später unter Goethe am Weimarer Hoftheater tätig war. Von ihrem Vater, Christian Joseph, schreibt sie, dass er ein »sehr gelehrter Mann«64 gewesen 58 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 102. 59 Gerlach, Klaus (2015) : Ifflands Berliner Bühne. ›Theatralische Kunstführung und Oekonomie‹. Berlin : De Gruyter. S. 28. 60 Ebd. 61 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 29. 62 Ebd. S. 32. 63 Ebd. S. 51. 64 Jagemann, Caroline (2004) : Autobiographie 1777–1801. In : Selbstinszenierungen im klassischen Weimar : Caroline Jagemann [2 Bde.], Bd. 1 : Autobiographie, Kritiken, Huldigungen. Hrsg. von Ruth B. Emde. Göttingen : Wallstein. S. 91. – Bislang lagen Caroline Jagemanns autobiographische Schriften lediglich in einer fragmentarischen und fehlerhaft redigierten Druckfassung von 1926 vor. Der Herausgeber Eduard von Bamberg war mit den Vorlagen sehr frei umgegangen, hatte den Text anders strukturiert, Passagen gestrichen und paraphrasiert. Die Grundlage für die von Ruth B. Emde neu edierte und historisch-kritisch aufgearbeitete Selbstbiographie der Schauspielerin basiert auf verschiedenen Manuskripten aus dem Freien Deutschen Hochstift Frankfurt und dem Nachlass der Familie von Heygendorff in Essen (Emde 2004 : 50–53). Karl von Heygendorff war der außereheliche Sohn von Herzog Karl August und Caroline Jagemann. Sein Familiennachlass umfasste neben zwei Manuskripten der Autobiographie und einigen Bildnissen ungefähr 230 Briefwechsel und Urkunden der Familien Jagemann und von Heygendorff aus der Zeit zwischen 1775 und 1850. Emde beschaffte in Zusammenarbeit mit Achim von Heygendorff einen Großteil der Druckwerke und Archivalien, auf die Bamberg seine Biographie stützte, und vermerkte penibel alle Abweichungen von anderen Überlieferungen. Andrea Heinze und Birgit Himmelseher kommen daher zu dem Urteil, dass durch Emdes »textkritisches Vorgehen bei der Rekonstruktion der Autobiographie […] ein wissenschaftlich überprüfbares, lebendiges Zeugnis Caroline Jagemanns [entstanden sei], das die Ausgabe Eduard von Bambergs vollkommen ersetzt« (Heinze & Himmelseher 2006).
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sei. Er war von 1774 bis 1775 Direktor des Gymnasiums Emmericianum in Erfurt,65 anschließend persönlicher Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia in Weimar und veröffentlichte verschiedene Abhandlungen über die Kunst, Kultur und Literatur Italiens – wie beispielsweise die fünfbändige Geschichte der freyen Künste und Wissenschaften in Italien.66 Nicht nur der Vater nutzte die Bibliothek der Herzogin für seine eigenen Studien, auch Caroline durfte sie mit ihrem Vater betreten. Caroline schreibt, dass die Bücher, Kupferstiche und anderen Werke »Ideale für die Bildung meines Geschmacks, Nahrung für den Kunstsinn, der sich unverkennbar in mir regte«67, waren. Auch suchte mir mein Vater zuweilen etwas zu lesen aus. So verging mir die Zeit, während er in seinem Geschäfte waltete, unterhaltend und belehrend zugleich, und ich verließ die classische Stätte nie ohne irgend einen Gewinn für meinen Kopf mit hinweg zu nehmen. Ich war damals 7 Jahre alt und wußte schon recht viel. Sprach italienisch, konnte etwas Clavier, war nicht unbekannt mit der Geschichte und Mythologie, hatte meinen Catechismus gut gelernt und war dabei ein sehr fröhliches Kind.68
Es ist daher kaum verwunderlich, dass Christian Joseph Jagemanns Kinder eine Laufbahn als Künstler einschlugen. Seine Tochter nahm Gesangsunterricht bei David Heinrich Grave, dem Kammersänger der Herzoginmutter Anna Amalia, der bei Jagemanns im Haus wohnte. Caroline erhielt daraufhin ein Stipendium zur Gesangsausbildung bei Josepha Beck in Mannheim, wo sie schließlich auch die Bühne des Hoftheaters betrat. Im Jahr 1797 wurde sie dann am Weimarer Hoftheater als Hofsängerin engagiert. Ferdinand Jagemann, Carolines Bruder, begann eine Ausbildung zum Maler bei Johann Friedrich August Tischbein, die von Herzog Carl August finanziert wurde. Auf Wunsch und Kosten des Herzogs setzte er seine Ausbildung bei Jacques Louis David in Paris fort und wurde in Weimar später Lehrer und Direktor der dortigen freien Zeichenschule. Der Vater des Schauspielers Johann Christian Brandes war »Magister der Theologie«69, der als Hauslehrer, Hausverwalter und Rechnungsführer bei einem wohlhabenden Brauer tätig war, wo er seine spätere Ehefrau kennenlernte. Doch nachdem Brandes’ Vater durch verschiedene Ereignisse in finanzielle Schwierigkeiten geriet und gesellschaftlich geächtet 65 Vgl. hierzu Seifert, Rita (2006) : Christian Joseph Jagemann (1735–1804). Das Erfurter Zwischenjahr 1774 und die Berufung nach Weimar 1775. In : Die Italianistik in der Weimarer Klassik : Das Leben und Werk von Joseph Jagemann (1735–1804). Akten der Tagung im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni vom 3.–7. Oktober 2004. Hrsg. von Jörn Albrecht und Peter Kofler. Tübingen : Gunter Narr Verlag. S. 52–64. 66 Vgl. Jagemann, Christian Joseph (1777–1781) : Die Geschichte der freyen Künste und Wissenschaften in Italien [5 Bde]. Leipzig : Weidmanns Erben und Reich. 67 Jagemann, Caroline (2004) : Autobiographie 1777–1801. In : Selbstinszenierungen im klassischen Weimar : Caroline Jagemann, Bd. 1. S. 93. 68 Ebd. 69 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 4.
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wurde, verließ er seine Familie, um anderswo ein Auskommen und Unterhalt für seine Familie zu finden. Nach seinen wenig erfolgreichen Bemühungen verließ Brandes’ »unglücklicher, umherirrender Vater«70 seine Familie schließlich gänzlich. Brandes wurde zunächst zu seiner Tante nach Stettin gebracht, die sich um seinen Unterhalt kümmerte und ihm eine strenge Erziehung zuteilwerden ließ, wurde dann von einem Rektor in Naugard aufgenommen, kehrte von dort nach Stettin zurück, wo er kurze Zeit die Schule besuchte und anschließend bei der Witwe eines Kaufmanns namens Kretschmar in die Lehre gegeben wurde. Als die Witwe starb, übernahm der ehemalige Buchhalter Borcher die Geschäfte. Er vertraute dem vierzehnjährigen Brandes, der rasche Fortschritte gemacht hatte, die Führung einiger Handlungsbücher an. Brandes las in dieser Zeit mit großer Begeisterung Reiseromane – Robinson Crusoe, Die Insel Felsenburg und Der amerikanische Freybeuter –,71 die in ihm den Wunsch nährten, Stettin, das ihm längst wie ein »Gefängniß«72 vorkam, mit dem Schiff in Richtung Holland zu verlassen, um von dort aus in die neue Welt aufzubrechen. Als aber aufflog, dass Brandes für seine Reisepläne Geld veruntreute, floh er 1751 aus Stettin und schlug sich arbeitend und bettelnd durch Preußen bis nach Warschau durch. Auf seiner Flucht arbeitete er unter anderem als Schweinehirt, als Gehilfe eines Wunderdoktors und Betrügers und erhielt seinen ersten ›Schauspielunterricht‹ von einem Greifswalder Kürschner, der ihn in die Kunst des Bettelns einweihte : Er »unterrichtete mich demnach in allerlei Ränken«, schreibt Brandes, »um das Mitleid der Leute rege zu machen.«73 Sein Lehrer wurde aber als Dieb ertappt und vermutlich gehenkt. Im Jahr 1753 kehrte Brandes schließlich nach Stettin zurück und wurde Bediensteter eines Offiziers, dann des preußischen Ministers Franz Wilhelm von Happe in Berlin. Hier besuchte er auch erstmals die Oper : Ganz ausser mir für Entzücken war ich bei dem ersten Anblick einer Oper ! Noch nie hatte ich ein Theater gesehn ; wie versteinert stand ich da, und staunte. Musik, Erleuchtung, Dekoration, Kleidung – Alles schien mir Zauberwerk ; ich glaubte mich in einen Himmel versetzt, und die Sänger und Tänzer schienen mir keine Menschen, sondern überirdische Wesen zu seyn ; das lebhafte Roth, welches ihre Wangen bedeckte, hielt ich – weil ich damals noch nicht wußte, was Schminke war – für Reiz der Natur, und beschämt sah ich auf mich herab, daß meine Gestalt, die man doch sonst rühmte, im Verhältnisse mit diesen so häßlich war.74
Als aber bemerkt wurde, dass Brandes unerlaubterweise versuchte, eine vermeintlich bessere Anstellung zu finden, floh er nach Hamburg, wo er erfuhr, dass er bereits von seinem 70 Ebd. S. 29. 71 Vgl. ebd. S. 38. 72 Ebd. S. 39. 73 Ebd. S. 114. 74 Ebd. S. 134.
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ehemaligen Dienstherrn steckbrieflich gesucht wurde. Es gelang ihm aber dennoch, beim holsteinischen Konferenzrat von Buchwald in Fresenburg, einem Landgut bei Oldesloe, eine Stelle als Bediensteter anzutreten. Sein Können ließ ihn bald zum Gehilfen des alten Sekretärs aufsteigen, der sich bemühte, so Brandes, mich nicht allein für sein Geschäft brauchbar zu bilden, sondern auch die Fehler meiner Erziehung zu verbessern, und mir zugleich in den Grundsätzen einer gesunden Moral, und in dem Fache der schönen Wissenschaften, wozu ich vorzügliche Neigung äusserte, Unterricht zu ertheilen ; seine Bibliothek stand mir zu diesem Zweck beständig offen ; und so bekam mein ganzes Wesen, unter seiner Leitung und mittelst einer fleißigen von ihm mit Sorgfalt gewählten Lektüre, nach und nach eine für mich sehr vortheilhafte Richtung.75
In Lübeck, wo sein Dienstherr die Wintermonate verbrachte, besuchte Brandes regelmäßig das Theater. Als im dritten Jahr seines Aufenthalts die Schönemannische Schauspielergesellschaft in Lübeck auftrat, fasste Brandes den Entschluss, Schauspieler zu werden, ließ sich von Schauspielern dem Direktor empfehlen und wurde daraufhin von Schönemann engagiert.76 »Ich war nun zwar zum Schauspieler angenommen, aber noch nicht dazu gebildet.«77
1.2 »Ich bin bei dem Theater geboren, erzogen worden.«78 – Über die nichtinstitutionalisierte Ausbildung von Schauspielern Aber was wurde den angehenden Schauspielern von ihren Kollegen beigebracht ? Was lernten junge Schauspieler, während sie mit ihrer Truppe durch die deutschen Lande zogen und worin bestand die von Devrient als »Kulissen- und Landstraßenerziehung«79 bezeichnete Ausbildung der Komödianten ? Die Tradition, dass angehende Schauspieler von Mitgliedern der Wandertruppe ausgebildet wurden, lässt sich bis zu den ersten englischen Schauspieltruppen in Deutschland zurückverfolgen.80 Robert Browne, einer der ersten Theaterprinzipale, der mit seiner Truppe über die Niederlande nach Deutschland zog und um das Jahr 1620 zusammen mit John Spencer, John Green und Thomas Sackeville zu 75 Ebd. S. 156. 76 Vgl. hierzu auch Borchardt, Karl-Heinz (1994) : Johann Christian Brandes – ›aus Stettin gebürtig‹. In : Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Horst Langer. Tübingen : Max Niemeyer. S. 659–670. 77 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 167. 78 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 2. S. 160. 79 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 440. 80 Vgl. hierzu Haekel, Ralf (2004) : Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung in die Ursprünge des deutschen Berufsschauspiels. Heidelberg : Universitätsverlag Winter. S. 31.
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den bekanntesten englischen Theaterprinzipalen in Deutschland gehörte, war bereits in England zwischen 1608 und 1615 für die Leitung und Ausbildung der Kindertheatertruppe Children of the Queen’s Revels verantwortlich.81 In der schriftlichen Vereinbarung, die Browne mit dem Landgraf Moritz von Hessen-Kassel traf, heißt es, dass er nicht nur für stetig neue Theaterstücke sorgen soll, darneben soll er Auch schuldig sein unnss uff unser begeren ein oder mehr Knaben wie wir ihme dieselben jederzeit undergeben werden, es seyen gleich in oder Auslendische, Abzurichten, damitt wir sie uffn fall unserm Lusten nach gebrauch können, deswegen wir den ihme jederzeitt ein sondere begnadigung thun lassen wollen.82
Auch der Hanswurst-Darsteller Johann David Meyer, der in Begleitung eines fahrenden Wunderdoktors nach Karlsruhe kam und vom Markgrafen Karl Wilhelm von BadenDurlach als Lakaie eingestellt wurde, erhielt 1725 die Erlaubnis, unter den Hofdienern passende Akteure zu suchen und sie in einer »Art Theaterschule«83 zu unterrichten, um kleine Vorstellungen mit ihnen zu geben. So berichtet es zumindest Karl Friedrich Schöchlin 1857 in der Karlsruher Zeitung nach zeitgenössischen Aufzeichnungen. Von Karoline Neuber ist bekannt, dass sie ihre Schauspieler anhielt, ein Leben nach bürgerlichen Maßstäben zu führen. Unverheiratete Schauspielerinnen lebten wie Pflegetöchter bei ihr, sie bekochte die gesamte Truppe, damit ihre Schauspieler sich an ein kollegiales Zusammensein gewöhnten sowie weder Geld noch Zeit in Wirtshäusern verschwendeten.84 Johann Elias Schlegel greift diese Tradition in seinem Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen auf und empfiehlt, dass man »Kinder, welche man zu Acteurs aufziehen«85 wolle, bei der Einrichtung eines stehenden Theaters bei Schauspielern des Ensembles »in die Kost thun«86 könne. Die vierzehnjährige Caroline Jagemann, die in Mannheim bei der Frau des Schauspielers Heinrich Beck Gesangsunterricht erhielt und bei der sparsamen Witwe des Kriegsrats 81 Vgl. Brand, Peter & Rudin, Bärbel (2010) : Der englische Komödiant Robert Browne (1563– ca. 1621). Zur Etablierung des Berufstheaters auf dem Kontinent. In : Daphnis. Zeitschrift für mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). 39. Jg. Heft 1/2. S. 1–134. S. 94. 82 Zit. nach Hartleb, Hans (1936) : Deutschlands erster Theaterbau. Eine Geschichte des Theaterlebens und der englischen Komödianten unter Landgraf Moritz dem Gelehrten von Hessen-Kassel. Berlin und Leipzig : De Gruyter. S. 32. 83 Rudin, Bärbel (2008) : Doktoren, Faust, Hanswurst, Shakespeare, Molière, Lederhändler, alle herauf aus der Versenkung ! Eine Karlsruher Theaterschule (1725) und die Gründerjahre des Hofschauspiels. In : Badische Heimat. Zeitschrift für Landes- und Volkskunde, Natur-, Umwelt- und Denkmalschutz. 88. Jg. Heft 3. S. 369–379. S. 369. 84 Vgl. Emden, Ruth B. (1997) : Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. S. 159 f. 85 Schlegel, Johann Elias (1971) : Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen [1764]. In : Johann Elias Schlegel. Werke, Bd. 3. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegel [Faksimiledruck] Frankfurt a.M.: Athenäum. S. 251–258. S. 254. 86 Ebd.
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Heydel, ihren beiden Kindern und dem Hausfreund der Familie namens Backhaus in einem kargen Zimmer ohne Vorhänge am Bett und weichem »Sopha«87 untergebracht war, beklagte sich über ihre »kummervollen Verhältniße«88 : Meine Lehrstunden wurden eifrig betrieben, ich machte große Fortschritte im Gesang ; aber mit meiner wissenschaftlichen Ausbildung war’s vorüber. Außer dem, was Musik betraf, ward gar nichts für die Bildung meines Geistes gethan. Für meine Erheiterung eben so wenig.89
Caroline beklagt sich, dass Becks »Erziehungsmethode«90, sie von hübschen, jungen Männern, mit denen sie sich »gerne einmal unterhalten, gern getanzt hätte«91, fernzuhalten, jedes Vergnügen entzog. Ich lernte Musik und Singen, weiter nichts. In das wirkliche Leben von Niemandem eingeführt existirte ich in einer Ideenwelt, und setzte mir selbst Grundsätze und Character zusammen. Meine Ideale waren die edlen Charactere, die ich auf der Bühne darstellen sah. Aus ihnen und dem, was ich in dem elterlichen Hause gehört und gelernt, was sich mir von dem Umgang mit Louisen [von Koppenfels] eingeprägt, was der frühe Druck des Schicksals in meiner Seele zurückgelassen ; bildete sich ein nicht gewöhnliches Ganzes.92
Karoline Schulze-Kummerfeld berichtet von einer jungen Frau von einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren, Catharina Schädel, die ihre Eltern bei sich aufnahmen. »Sie mußte in unserem Haus wohnen, schlief in dem Zimmer, wo ich mit meiner Schwester schlief, und speiste mit uns am Tisch. Meine Eltern begegneten ihr, als wenn sie ihre Tochter gewesen wäre, und gaben sich alle Mühe, sie zu unterrichten.«93 Als ihr besorgter Vater sie zu sich zurückholte, sie aber weinend insistierte, Schauspielerin werden zu wollen, soll Karolines Vater den ratlosen Vater beruhigt haben. »Endlich sagte mein Vater : ›Herr Schädel, da sehen Sie meine unmündigen Kinder, und so wahr, als ich wünsche, daß es diesen Kindern einst wohl ergehe, ebenso wahr will ich das für ihre Tochter.«94
87 Jagemann, Caroline (2004) : Autobiographie 1777–1801. In : Selbstinszenierungen im klassischen Weimar : Caroline Jagemann, Bd. 1. S. 112. 88 Ebd. S. 114. 89 Ebd. 90 Ebd. S. 123. 91 Ebd. S. 122. 92 Ebd. S. 118. 93 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld [2 Bde.], Bd. 1. Hrsg. und erläutert von Emil Benezé. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 23. 94 Ebd. S. 24.
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Lesen und Schreiben lernte Karoline von ihren Eltern. Während eines Aufenthalts in Eichstädt mit Johann Joseph von Brunians Theatertruppe im Jahr 1753 erhielt Karoline bei der Frau des Kapitelrichters mit dem Namen Molidor Unterricht : Sie hatte eine Tochter von 11 und einen Sohn von 7 Jahren. Alle Morgen um 9 Uhr ging ich zu der Dame, und des Abends 9 Uhr wurde ich wieder zu meinen Eltern gebracht, wenn ich nicht in der Komödie zu tun hatte. Diese Dame, die viel Lebensart hatte, gab mir mit ihrer Tochter gleichen Unterricht sowohl in Handarbeit als in übrigen Dingen, die ein Mädchen angenehm und beliebt machen müssen. Sie war mir eine zweite Mutter.95
Bei den Verhandlungen mit dem italienischen Theaterunternehmer Giovanni Battista Locatelli, der in Prag Opern und deutsche Komödien aufführte, erwirkte Karolines Vater, dass sie und ihr Bruder »von einem Ballettmeister im Tanzen«96 unterrichtet wurden. In Dresden gelang es ihm mithilfe eines alten Bekannten, dass seine Kinder »in der Tanzakademie, der Monsieur Jaen vorstand, aufgenommen«97 wurden. Für europaweites Aufsehen sorgte die Ballett- und Pantomimentruppe des italienischen Theaterunternehmers Philipp Nicolini.98 Entgegen Rousseaus Bewunderung der körperlichen Gewandtheit dieser Kinderschauspieler,99 merkt Martin Ehlers kritisch an, dass bei den Übungen dieser Kunstfertigkeiten, die die Kinderschauspieler unter Beweis stellen, »die menschliche Natur dabei doch weit über das natürliche Maaß ihrer Kräfte angegriffen«100 werde. Er befürchtet, dass die Übungen eine gesundheitliche Belastung für die Kinder seien, die ihre Lebenserwartung einschränken könne. Er hätte sich daher gerne gewünscht, 95 Ebd. S. 48 f. 96 Ebd. S. 51. 97 Ebd. S. 56. 98 Vgl. hierzu Benzin, Johann Gottlieb (1751) : Versuch einer Beurtheilung der Pantomimischen Oper des Herrn Nicolini. Erfurt : Johann Heinrich Nonne. 99 »Wer hat nicht schon in Deutschland und Italien von der Pantomimentruppe des berühmten Nicolini gehört ?«, fragt Rousseau im zweiten Buch des Émile und hebt die Agilität der jungen Akteure hervor. »Hat jemals einer bei diesen Kindern weniger vollendete Bewegungen, eine weniger graziöse Haltung, ein schlechteres Gehör und eine plumpere Art zu tanzen bemerkt als bei voll ausgebildeten Tänzern ?« (Rousseau 1963 : 318.) – Vgl auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes, Tome VII. S. 488 : « Qui est-ce que n’a pas ouï parler en Allemagne et en Italie de la troupe pantomime du célèbre Nicolini ? Quelqu’un a-t-il jamais remarqué dans ces enfants des mouvements moins développés, des attendues moins gracieuses, une oreille moins juste, une danse moins légère que dans les danseurs tout formés. » 100 Rousseau, Jean-Jacques (1789) : Emil oder über die Erziehung, Erster Theil. Aus dem Französischen übersetzt von C. F. Cramer. Mit erläuternden, bestimmenden und berichtigenden Anmerkungen der Gesellschaft der Revisoren. In : Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft practischer Erzieher, Zwölfter Theil. Hrsg. von Joachim Heinrich Campe. Wien und Braunschweig : Rudolph Gräffer und Compagnie und Schulbuchhandlung. S. 671.
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daß man Nachricht von dem Maaß der Gesundheit und des Lebens der Kinder, die Nicolini gebildet und gebraucht hat, und besonders auch von dem Grade der Seelenkräfte, die die sie in der Folge mögen bewiesen haben, irgendwo gesammelt hätte und sie der Welt mittheilte. Nachdem, was ich von Personen weiß, welche bei den Uebungen und beim Unterricht jener Kinder zugegen gewesen, und nach den, was ich in den Nicolinschen Pantomimen selbst zu meinem und aller Anwesenden höchsten Erstaunen von jenen Kindern ausgeführt gesehen habe, zu urtheilen, müssen sie bald zu allen Schwächen des hohen Alters gekommen und sehr jung gestorben seyn.101
Und Ehlers ergänzt, dass die »nicolinischen Kinder […] gezittert und gebet«102 hätten, »wenn sie zu ihren Uebungsstunden gerufen«103 wurden. »Das ist auch der Fall sehr oft bei den Kindern, die man zum Seiltanzen und zu Balancirkünsten gebraucht«104. Campe ist der Ansicht, dass sich hinter Rousseaus Bewunderung für Nicolinis Kinderpantomimen-Truppe niemals die Absicht verborgen habe, »junge Virtuosen«105 bilden zu wollen, sondern bloß ein Anlass gewesen sei, um zu zeigen, daß die Kinder, trotz ihrer kleinen unausgebildeten Gliedmaaßen, es doch in allerlei Künsten und Leibesübungen schon sehr weit bringen können, und daß Uebungen solcher Art viel unschädlicher und nützlicher für sie gemacht werden können, als die übertriebenen Uebungen des Verstandes durch Schul- und Bücherunterricht für sie sind.106
Unterricht bei einem Tanz- und einem Theatermeister erhielt, wie bereits erwähnt, auch der Schauspieler Johann Christian Brandes,107 als er der Schönemann’schen Schauspielergesellschaft beitrat und bevor er in einer Nebenrolle die Bühne betreten durfte. Als Jakob Neukäufler seine Karriere als Schauspieler am Münchener Hoftheater begann, hielt ihm der Regisseur und Prinzipal Johann Baptist Nießer zwar zugute, dass er bei den Jesuiten bereits in der Redekunst unterwiesen wurde und schon viele Rollen auf ihrer Bühne gespielt habe, wies aber darauf hin, dass er »vor allem erst Körperhaltung, stehen, ja gehen lernen«108 müsse. »Bevor ich einen Anfänger das Theater betreten lasse«, soll Nießer zu ihm gesagt haben,
101 Ebd. 102 Ebd. S. 673. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. S. 671. 106 Ebd. S. 671 f. 107 Brandes, Johann Christian (1799) : Meine Lebensgeschichte, Bd. 1. S. 168–171. – Vgl hierzu auch Teil I, Kap. 1. 1 : Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit« des Körpers. 108 Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. S. 35.
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schicke ich ihn erst in die Tanzschule zu Herrn Konstant oder Lefevre. Menuett ist das erste, was jeder angehende Schauspieler erlernen muß. Dadurch kommt Haltung in Hände und Füße. Hat er ihn vollständig inne, dann lasse ich ihn erst vierzehn Tage und oft noch länger links und rechts auf dem Theater herumgehen, Stühle setzen, Briefe hereintragen, Besuche anmelden, damit er die Furcht verliert. Wenn das alles in Ordnung ist, dann erst bekommt er mehrere kleine Rollen zu spielen. Sieht man, daß er geschickt ist und eine Rolle zu spielen schon tauglich ist, bekommt er eine größere.109
Nießer führte Neukäufler daraufhin »ins Theater, wo eben die Tanzschule«110 war und stellte ihm Herrn Konstant vor. In ähnlicher Weise riet auch Johann Friedrich Löwen, dass angehende Schauspieler in kleinen Rollen behutsam in die Sitten und Gepflogenheiten des Theaters eingeführt werden sollten, bevor es ihnen erlaubt sei, größere Rollen zu spielen : Allein, nichts verdirbt eine junge Schauspielerin mehr, als wenn sie zu früh zu wichtigen Rollen gebraucht wird. In Nebenrollen muß man erst das Coutume [die Sitten und Gepflogenheiten] des Theaters lernen, seine Stimme ausbilden, sich in einer guten Stellung, in einem ungezwungenen Anstande, in einer natürlichen Gesticulation, in einer harmonischen Declamation üben ; und wenn man damit fertig ist, alsdann erst Charakterrollen, affectvolle Rollen zu agieren unternehmen. Aber wenn man bey diesen letztern anfängt,
warnt Löwen, so ist nichts natürlicher, als daß man sich nie dem Charakter, den man vorstellen, dem Affecte, worinn man sich zeigen soll, ganz überlassen kann, weil man immer an jene gemeine Regeln der Schauspielkunst, deren Befolgung man sich noch nicht habituel gemacht hat, ängstlich zurück denken muß.111
Nießer bot Neukäufler ferner an, ihm Unterricht im Deklamieren zu erteilen. In der Theatergarderobe sagte er zu ihm, wenn er eine freie Stunde habe, solle er nachmittags um zwei Uhr zu ihm kommen. »Sie werden mir dann immer etwas vorlesen. Ich gebe Ihnen da eine Stunde Unterricht in der Deklamation«112. Neukäufler besuchte daraufhin einen Monat lang die Tanzschule, ging in die »Lesestunde«113 und dann fingen die Theaterproben an : 109 Ebd. 110 Ebd. S. 36. 111 [Löwen, Johann Friedrich] (1766) : Schreiben an einen Freund über die Ackermannsche Schaubühne zu Hamburg. Hamburg und Leipzig [ohne Verlag]. S. 10 f. 112 Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. S. 37. 113 Ebd.
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Ich mußte auf der Bühne bald rechts bald links, dann wieder aus der Mitte nach vorne gehen, um einer Dame ein Kompliment zu machen oder ihr von der Toilette verschiedenes zu präsentieren. Verstieß ich wider die Etikette, so wurde der Fehler gerügt und gezeigt, wie ich es hätte machen sollen. Am Abend mußte ich dann eine Livree anziehen, Stühle und Tische setzen, auch wieder wegräumen helfen, Briefe übergeben und Besuche anmelden und das alles, um die Furcht zu verlieren. Dies mußte ich wieder einen ganzen Monat hindurch üben, so oft Proben und Aufführungen waren.114
Als Neukäufler seine erste Rolle zugewiesen wurde, lernte er sie zwar geschwind auswendig, eine große Herausforderung stellte für ihn aber die Kostümierung da, die er bisher noch nicht kannte. Der Klappzylinder, den man gewöhnlich unterm Arm trug, behinderte ihn, der Galanteriedegen geriet ihm ständig zwischen die Beine und die hohen Absätze, die man damals unter den Schuhen trug, waren ihm ungewohnt. »Kurz, alles genierte mich.«115 Bei jedem Schritt und Tritt merkte man ihm »das Angelernte der Rolle«116 an. Den anständigen Umgang, der Neukäufler offensichtlich fremd war, studierte der Schauspieler Joseph Anton Christ im Haus der Familie des Grafen von Ingelheim. Während seines Engagements am Mainzer Nationaltheater in den 1790er Jahren war Christ in der Familie des Grafen ein oft gesehener Gast. »Da hatte man Gelegenheit«, schreibt er in seiner Biographie, »die Großen zu studieren. Man sah ihr Benehmen unter sich und mit denen, die unter ihrem Stande waren. Es war eine schöne Schule für einen aufmerksamen Schauspieler.«117 Im Umgang mit den Großen könne der Schauspieler lernen, daß man erhaben sein kann, ohne sich zu bäumen und auf den Spitzen zu stehen oder in jeder Periode mit einem Schritt vor und mit einem zweiten wieder zurückzutreten, sie würden das Lächerliche der immerwährenden unnotwendigen Bewegungen einsehen und lernen, fest zu stehen, welches freilich ungleich schwerer ist als das unaufhörliche Gezapple und überflüssige Gestikulieren.118
Die Verfechter einer natürlichen Schauspielkunst wie Riccoboni, Diderot oder Löwen betonten immer wieder, dass ein wesentlicher Teil in der Ausbildung der Schauspieler die Beobachtung der Natur, also des ›natürlichen‹, unverstellten Verhaltens der Menschen, zu sein habe. Löwen schrieb, dass »der Umgang mit der Welt, die Kenntniß der Sitten« die Schulen seien, »wo der Schauspieler geübet, und sogar bis auf den Gang geübet«119 114 Ebd. S. 37 f. 115 Ebd. S. 38. 116 Ebd. 117 Christ, Joseph Anton (1912) : Schauspielerleben im 18. Jahrhundert. Erinnerungen von Joseph Anton Christ. Zum ersten Male veröffentlicht von Rudolf Schirmer. München und Leipzig : Wilhelm Langewiesche-Brandt. S. 252. 118 Ebd. S. 253. 119 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 41.
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werde. Riccoboni hielt die Eleven der Schauspielkunst dazu an, ihre Mitmenschen zu beobachten und zu studieren. In Lessings Übersetzung heißt es : Wir wollen die Menschen betrachten, doch nicht allein die, die sich artiger Sitten befleißigen, sondern die Menschen überhaupt, und vielmehr die Geringen als die Vornehmen. […] Allein Leute von einem weniger vornehmen Stande, die sich ihren Eindrücken leichter überlassen, und der Pöbel, welcher seine Empfindungen nicht zu bändigen weiß, das sind die wahren Muster eines starken Ausdrucks. […] Kurz, man muß sich ausdrücken wie der Pöbel, und betragen wie Leute von Stande.120
Ganz in diesem Sinne gab Diderot der Schauspielerin Mademoiselle Jodin den Rat, eine aufmerksame Beobachterin von häuslichen Vorgängen und Volksszenen zu sein. »Dort werden Sie nämlich die wahren Mienen, Bewegungen und Handlungen der Liebe, der Eifersucht, des Zornes und der Verzweiflung sehen.«121 Als der Theaterdirektor Franz Schuch den jungen Johann Heinrich Friedrich Müller als Schauspieler gewinnen wollte, malte er ihm die Freiheiten und das Leben eines Schauspielers mit den schönsten Farben. Er »schilderte mir die Reisen«, schreibt Müller, »die ich ohne Kosten machen könnte, die Gelegenheiten, die vorzüglichsten Städte der preußischen Staaten zu sehen, Welt- und Menschenkenntniß zu sammeln so reizend, daß ich mich endlich erklärte, ihm zu folgen.«122 Die Autobiographien von Schauspielern im 18. Jahrhundert sind zwar rückblickende Rekonstruktionen und literarische Selbstinszenierungen, sie geben aber auch Zeugnis von den beschwerlichen Reisen durch verschiedene europäische Städte, den eigenen ärmlichen Verhältnissen, überstandenen Krankheiten und der Armut der Bevölkerung zur Zeit des Siebenjährigen Krieges sowie den Menschen, mit denen die Schauspieler verkehrten. Karoline Schulze-Kummerfeld, die während des Siebenjährigen Kriegs mit ihren Eltern in einer Theatertruppe durch Deutschland zog, berichtet in ihrer Biographie immer wieder von den Wirtsleuten, bei denen sie und ihre Familie unterkamen :
120 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 906 f. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 42 f.: « Observons le monde : je ne dis pas seulement ce monde choisi qui se pique du bel air ; je dis le monde en général, & plûtôt les petits que les grands. […] Mais les hommes d’un rang moins élevé, qui s’abandonnent plus aisément aux impressions qu’ils reçoivent , le peuple qui ne sçait point contraindre ses sentiments, ce sont-lá les vrais modéles de la forte expression. […] En un mot il faut exprimer comme le peuple, & se présenter comme les grands. » 121 Diderot, Denis (1967) : An Mademoiselle Jodin [1766]. In : Denis Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. S. 234–237. S. 236. Diderot, Denis (1876) : Œuvres complètes de Diderot, Tome XIX. S. 388 : « C’est là que voue verrez les visages, les mouvements, les actions réelles de l’amour, de la jalousie, de la colère, du désespoir. » 122 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der K. K. Hof- und NationalSchaubühne. S. 25 [Herv. d. Verf.].
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In dem Dorfe, wo wir abends so früh einkehrten, fing ich eine Wäsche an ; denn ich konnte mich nicht länger ansehen. […] In meinem Kämmerchen hatte ich mir mein Schäffchen hingestellt und wusch. Mama kochte Kaffee statt Suppe, daß wir was Warmes in die Gedärme bekommen sollten. Ein treuherziger Bauer, der alles verloren und nun auf seine alten Tage Knecht bei dem Wirt war, sah mir zu, und wir schwatzten zusammen vom Krieg und von der Hoffnung besserer Zeiten. Darauf ging er weg und kam bald wieder und brachte mir ein langes Halstuch von ihm. »Oh«, sagte er, »wasche Sie mir das doch mit ; ist morgen Sonntag !« Die treuherzige Art gefiel mir ; ich besann mich nicht lange und wusch es nach allem Fleiß mit aus. Nun sollte ich zum Kaffee kommen. »Gleich !« Der Bauer sagte : »Gehe Sie, und ich will bei der Wäsche bleiben. Soll Ihr nichts wegkommen !« Ich hüpfte fort und erzählte, was ich wieder für einen neuen Auftritt hätte, o ganz wieder für mein Herz. Mag so gerne Menschen sehen, wie sie sind. Von etwas Haarpuder in einem zinnernen Löffel machte ich so viel Stärke, als ich zu dem Tuche nötig hatte, kam wieder – und seitdem ich weg war, hatte mir der gute Bauer drei schöne, große Aepfel auf den Tisch gesetzt.123
»Ich habe«, schreibt sie weiter, um in meiner Kunst zu werden, was ich war, alle Stände, alle Menschen, alle Auftritte, alle Leidenschaften, kurz, alles an andern studiert, nachgedacht und behandelt, sogar die Tollhäuser. […] Ich habe Menschen studiert, nicht auf dem Theater, nein, wie sie in der Natur waren, und solche verfeinert, wie auf dem Theater auch ein Bauernmädchen seidene Schuhe und Strümpfe anhaben und nicht, wie auf dem wahren Dorfe, barfuß gehen darf.124
Schulze-Kummerfeld betont ihre Beobachtungsgabe, weil sie der Meinung war, dass die Schauspielerin Frederike Sophie Hensel – die Lessing für ihre Darstellung der Sara aus seinem Drama Miss Sara Sampson in den höchsten Tönen gelobt hatte –125 eine Geste von ihr kopiert haben soll. Das von Lessing lobend erwähnte Zupfen der Finger an der Kleidung im Herannahen des Todes habe Schulze-Kummerfeld selbst an vielen Sterbebetten beobachten können und integrierte es in ihr Bühnenspiel : »Mad. Hensel bestahl mich ; ich, weiß Gott, nicht sie.«126 Ohne diesen Streit, wer wen nachgeahmt hat, hier entscheiden zu wollen, bleibt zu bemerken, dass Schauspieler ganz offensichtlich auch von einander ›lernten‹. 123 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 1. S. 146 [Herv. d. Verf.]. 124 Ebd. S. 224. 125 »Madame Hensel starb ungemein anständig« (Lessing 1985 : 250). – Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2. 2 : »Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Ekhof ) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören ?« – Die Transformation der Rhetorik und Moralistik zu einer natürlichen Schauspielkunst bei Lessing und Engel. 126 Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, Bd. 1. S. 224.
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Alexander Košenina zeigt, dass die zeitgenössischen Kommentatoren die eigentümlichen Darstellungsweisen von Schauspielern in ihren Beiträgen für Theaterjournale mit großer Genauigkeit beschrieben und mit Rollenanalysen und Bildrepräsentationen verknüpften. Als Beispiele nennt er Lichtenbergs Briefe über David Garricks Auftritt als Hamlet, Friedrich Nicolais Erinnerungen an Ekhofs Bühnenspiel sowie Ifflands Erläuterungen seiner eigenen Darstellung der Rolle des Franz Moor.127 Diese Beiträge mit ihren detaillierten Beschreibungen von Bewegungsabläufen konnten Schauspieler wie Anleitungen und Interpretationshilfen lesen oder zumindest als Anregungen für ihre eigene Bühnenpraxis nutzen. Ferner fühlten sich etliche Autoren, die entweder Theaterkritiker oder selbst Schauspieler waren, berufen, den Schauspielern durch Beiträge in den Theaterjournalen oder in eigenständigen Publikationen Ratschläge zur Ausübung ihrer Kunst sowie zu ihrem Betragen in der Öffentlichkeit mit auf den Weg zu geben. Die Theaterjournalisten verwiesen die Schauspieler, so Heßelmann, auf die Möglichkeit einer »autodidaktischen Fortbildung.«128 Als im Theater-Journal für Deutschland die Briefe eines alten Schauspielers an seinen Sohn in mehreren Fortsetzungen erschienen,129 hieß es in einer Fußnote, dass sie zunächst in der Allgemeinen dänischen Bibliothek unter dem Titel »Briefe eines alten Schauspielers, der die Bühne verlassen, an seinen Sohn, der sich ihr gewidmet hat ; aus dem Deutschen nach der Originalhandschrift übersetzt, von L…«130 veröffentlicht und nun wiederum ins Deutsche übertragen wurden. Offen bleibe aber, so der Übersetzter, ob es sich bei der vermeintlichen deutschen Originalhandschrift nicht um eine »Maske«131 handle. Dies war offensichtlich der Fall, denn der dänische Schriftsteller Knud Lyne Rahbek, der 1809 Mitglied der Theaterkommission des Kongelige Teater zu Kopenhagen wurde und Vorsitzender der im Jahr 1804 von ihm ins Leben gerufenen Theaterschule war,132 127 Vgl. Košenina, Alexander (2011) : Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik. S. 41–74. 128 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 303. – Im Jahr 1816 beklagte sich Carl Nikolaus Heusser aber noch, »daß man unter hundert Schauspielern, selbst solchen der ersten Bühnen mitgerechnet, wenige finden wird, welche Sulzers Theorie der Künste, Engels Mimik, u. d. gl. gelesen, noch weniger sich eigen angeschafft haben.« Und solche, die »mit Fleiß die Theorie ihrer Kunst studieren würden«, können sich die Werke nicht leisten, weil sie »zu kostspielig« seien (Heusser 1816 : III). 129 Vgl. [Rahbek, Knud Lyne] (1779) : Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. Aus dem Dänischen übersetzt. In : Theater-Journal für Deutschland, Zwölftes Stück. S. 41–53. Vgl. auch [Knud Lyne Rahbek] (1780) : Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. In : Theater-Journal für Deutschland, Dreizehntes Stück. S. 3–19. Vgl auch [Knud Lyne Rahbek] (1780) : Zweyte Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. In : Theater-Journal für Deutschland, Vierzehntes Stück. S. 9–19. 130 [Rahbek, Knud Lyne] (1779) : Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. Aus dem Dänischen übersetzt. S. 41. 131 Ebd. 132 »Auf Initiative von Knud Lyhne Rahbek entstand 1804 eine erste Schauspielschule im Hoftheater
Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland
veröffentlichte im Jahr 1782 die Breve fra en gammel Skuespiller til hans søn,133 die drei Jahre später unter dem Titel Briefe eines alten Schauspielers an seinen Sohn von Rahbek, von dem Verfasser neu bearbeitet, und unter seinen Augen aus dem Dänischen übersetzt von Christian Heinrich Reichel herausgegeben wurden. In der Vorrede gestand Rahbek, dass er sich stets gefragt habe, warum ihn die eine Theateraufführung langweile, die andere aber begeistere, und er daher ein »Buch«134 gesucht habe, »das mich leiten, mich die Regeln der Kunst lehren könnte.«135 Da er unter den dänischen Veröffentlichungen nicht fündig wurde, wandte er sich den fremdsprachigen Texten zu und stieß hierbei auf Lessings harsche Kritik in der Hamburgischen Dramaturgie, dass es zwar Schauspieler gebe, die Schauspielkunst aber verloren gegangen sei, falls es sie je gegeben habe.136 Diese Feststellung nahm Rahbek zum Anlass, seine eigenen theaterästhetischen Beobachtungen in Form eines Briefromans zusammenzufassen. Die Form erschien ihm angemessen, da sich so die Unvollständigkeit seiner Thesen verzeihen und seine Autorschaft verschleiern ließ. Als seine Briefe aber Zuspruch fanden und sogar ins Deutsche übersetzt wurden, bearbeitete er sie und gab sie schließlich neu heraus. In dieser Fassung beschränkte er sich aber ausschließlich auf die Schauspielkunst und ließ dramentheoretische Aspekte außen vor.
Christiansborg, wo sie auch öffentliche Sonntagsvorstellungen gab. Rahbeks Vorlesungen erschienen als Buch Om Skuespillerkunsten (1809)« (Frenzel 1979 : 312). 133 Vgl. Rahbek, Knud Lyne (1782) : Breve fra en gammel Skuespiller til hans søn. Kisbenhavn : Johan Rudolph Thiele. 134 Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. Von dem Verfasser neu bearbeitet, und unter seinen Augen aus dem Dänischen übersetzt von Christian Heinrich Reichel. Kopenhagen und Leipzig : Christian Gottlob Probst. S. III. – Am Ende seiner 1804 erschienen Aphorismen für Schauspieler stellt der Dramatiker Benedict Joseph Koller eine Liste mit Lektüreempfehlungen für Schauspieler zusammen. Neben den bekannten Schriften von Löwen (Kurzgefasste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes, 1755), Engel (Ideen zu einer Mimik, 1785 und 1786), Antonio Fabio Sticotti (Garrick, oder die engländischen Schauspieler, 1771) sowie Einsiedel (Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst, 1798), Böttiger (Entwicklung des Ifflandischen Spiels in 14 Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath, 1796) und Iffland (Fragmente über Menschendarstellung auf den teutschen Bühnen, 1785) empfiehlt Koller auch Texte von Johann Michael von Loën (Von der Schauspiel-Kunst, 1752), Albrecht Georg Walch (Von der Schauspielkunst, dem Verhältnis derselben gegen andere schöne Künste und dem höchsten Grundsatze ihrer Regeln, 1769), Schack Hermann Ewald (Ueber Empfindungen, Leidenschaften, Charaktere und Sitten, ein philosophischer Versuch für Schauspieler, 1777), Christian Siegmund Grüner und Christian August Vulpius (Theatralische Reisen, 1789 und 1790) sowie Dressler (Theaterschule für die Teutschen, das ernste Singschauspiel betreffend, 1777), Westenrieder (Ueber die Bildung eines fähigen Schauspielers, 1778), Heinze (Von der Schauspielkunst, 1780), Heinrich Gottfried Bernhard Franke (Ueber Deklamation, 1789 und 1794) und Christian Garve (Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben, 1796). Schließlich empfiehlt Koller auch Rahbeks Briefe eines alten Schauspielers. (Koller 1804 : 290–295). 135 Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. III. 136 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim (1985) : Hamburgische Dramaturgie [101.–104. Stück, 19. April 1768]. S. 683.
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In den Briefen lässt Rahbek den Vater seinen Sohn anweisen, »tugendhaft«137 und »flei ßig«138 zu sein. Tugendhaft solle er als Schauspieler sein, da zum einen der Schauspieler nur so eine moralisierende Wirkung auf das Publikum entfalten könne – »will er bessern, so muß er tugendhaft seyn«139 –, zum anderen erweise sich die Tugendhaftigkeit als eine grundsätzliche Bedingung der Schauspielkunst. Wenn auch ein Tugendhafter von Einem, der als lasterhaft bekannt wäre, gut gespielt würde, so würde er doch nicht wirken, noch würde der Lasterhafte von solchen Lastern abschrecken, die er selbst hätte. Aber derjenige, welcher gut spielen will, muß gut seyn ; reine Lippen müssen das Lob der Tugend verkündigen.140
Ein lasterhafter Schauspieler, argumentiert Rahbek, der einen Lasterhaften auf der Bühne spiele, sei kein fähiger Schauspieler, da er bloß sich selbst spiele. Und »die edleren Gefühle«141, die ihm fremd seien, könne er nicht nur nicht darstellen, er würde sie bloß als Karikaturen wiedergeben : Der Lasterhafte soll einen großmüthigen Held oder eine zärtliche Liebhaberinn vorstellen ; anstatt Hoheit empfangen wir Stolz, anstatt Zärtlichkeit Liebeln. Wir sehen den aufgeblasenen Schauspieler, wo wir den edlen Held, die Buhlerinn, wo wir das zärtliche Mädchen erblicken sollten.142
Unter fleißigen Schauspielern versteht Rahbek nicht nur diejenigen, die ihre Texte auswendig gelernt haben, sondern die, die ihre Kunst, die Natur und das »menschliche Herz studiren.«143 Für Ersteres, das Studium der Kunst, der Beredsamkeit des Leibes, empfiehlt Rahbek Leibesübungen und Lektüren : »Der Schauspieler muß auch in allen Leibesübungen Fertigkeit besitzen, wenn er das Leichte, das Reizende in den Bewegungen erreichen will, worinne sich ein Garrik so sehr ausgezeichnet haben soll.«144 Da Lessing seinen Lesern das versprochene Werk über die körperliche Beredsamkeit schuldig geblieben ist, empfiehlt Rahbek zum einen Jean-Georges Noverres Lettres sur la danse et sur les ballets,145 deren deutschsprachige Übersetzung von Lessing angefertigt wurde, zum ande137 138 139 140 141 142 143 144 145
Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. 28. Ebd. S. 45. Ebd. S. 7. Ebd. S. 8. Ebd. S. 18. Ebd. S. 14. Ebd. S. 45. Ebd. S. 46. Vgl. Noverre, Jean-Georges (1760) : Lettres sur la danse, et sur les ballets. Lyon : Aimé Delaroche. Vgl. auch Noverre, Jean-Georges (1769) : Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette von Herrn Noverre. Aus dem Französischen übersetzt. Hamburg und Bremen : Johann Hinrich Cramer.
Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland
ren William Cookes Buch Elements of Dramatic Criticism,146 das eine Liste mit antiken Skulpturen beinhaltet, an denen die Schauspieler die Beredsamkeit des Leibes studieren können. Neben der Venus de’ Medici, dem Apollo von Belvedere und dem Farnesischen Hercules wird auch die im 18. Jahrhundert oft kopierte Skulptur des Sterbenden Gladiators147 genannt. Wenn er über eine Galerie solcher Skulpturen verfügen würde, schreibt Rahbek, würde er sie der Öffentlichkeit und insbesondere den Schauspielern und Künstlern zugänglichen machen wollen wie es Charles Lennox, der dritte Duke of Richmond, in seinem Haus in Whitehall getan habe. Doch müsse sich der angehende Schauspieler davor hüten, so Rahbek, »daß er nicht, indem er sich an den antiken Skulpturen orientiert, in das Steife und Gigantische falle.«148 Vor allem müsse er sich an der Natur orientieren und den natürlichen Ausdruck der Leidenschaften studieren. Als empfehlenswert erachtet Rahbek hier die Lektüre der Werke von Henry Fielding und Samuel Richardson149 sowie Shakespeare, Lessing, Goethe – und vor allem : Rousseau. »Aber vornehmlich müsse er Dich lieben, großer, herrlicher Rousseau !«150 Ein anderes Beispiel für Verhaltenslehren, die den Schauspielern in Zeitschriften erteilt wurden, ist ein kurzer Beitrag mit dem Titel Katechismus deutscher Schauspieler, der im Theater-Kalender auf das Jahr 1779 zusammen mit Fragmenten aus Ekhofs Brieftasche – knappe Auszüge aus einem Brief von Ekhof an Nicolai – erschienen ist. Hier heißt es, dass der Schauspieler keine Rollen spielen solle, die er nicht auswendig kenne, er solle ein strenger »Beobachter des Kostum’s«151 sein, den »Flitterstaat unserer Operetten«152 ignorieren und niemals die Proben verlässigen. Lest »das Stück von einem Ende bis zum andern mit Bedacht durch ehe ihr an eurer Rolle zu lernen anfangt ; studiert ihren Ka146 Vgl. Cooke, William (1775) : The Elements of Dramatic Criticism. Containing an Analysis of the Stage under the following Heads, Tragedy, Tragi-Comedey, Comedy, Pantomime and Farce. With a Sketch of the Education of the Greek and Roman Actors ; Concluding with some General Instructions for succeeding in the Art of Acting. London : G. Kearsly and G. Robinson. Vgl. auch Cooke, Wilhelm (1777) : Grundsätze der dramatischen Kritik. Nebst einem Abriß von der Erziehung der griechischen und römischen Schauspieler und einem allgemeinen Unterrichte, ein guter Schauspieler zu werden. Aus dem Englischen übersetzt, mit Zusätzen und Anmerkungen. Lübeck und Leipzig : Christian Gottfried Donatius. 147 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2. 2. 2 : »Am wenigstens kennen wir uns selbst« – Eine Problematisierung identitätstheoretischer Begründungsfiguren von Bildung im Anschluss an Rousseau und Diderot. 148 Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. 47. 149 »Ich weis keine Schule«, schreibt auch Johann Friedrich Schink in seinen Dramaturgischen Fragmenten, »in der Schauspieler das wahre feine Betragen des Mannes von Welt so richtig lernen könnte, als diese Richardsonsche Romane. Nirgends herrscht hier das ekkigte, steife, gerekte, gezierte im Anstand ; nirgends die Affennoblesse, die unsere Schauspieler, und oft unsere Herren von Adel selbst, uns für Noblesse verkaufen« (Schink 1782 : 717 f.). 150 Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. 47. 151 [Anonym] (1779) : Katechismus für deutsche Schauspieler. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1779. S. 3–5. S. 3. 152 Ebd.
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rakter wohl, […].«153 Beim Beiseite-Sprechen solle man sich vom Mitspieler abwenden, nicht aber zum Publikum sprechen : Erinnert euch immer Diderot’s Wand zwischen euch und dem Zuschauer […] ; Sprecht natürlich, im Ton des Umgangs und der guten Gesellschaft, und sind es Verse was ihr deklamirt, so hütet euch vor dem Reimgeklingel […], schreyt nicht wie Zahnbrecher, und entheiligt das Trauerspiel nicht durch Geheule.154
Und schließlich sollen Schauspielerinnen ihre Aufmerksamkeit auf ihr Rollenspiel richten, statt sich um ihren »Putz«155 auf der Bühne zu kümmern. Nur vier Jahre später, im Jahr 1793, erschien ein Neuer Katechismus für deutsche Schauspieler und andere, mit dem Theater in Verbindung stehende Personen, der aber eine in Form eines Ratgebers geschriebene Parodie auf die Verhaltensweisen von Schauspielern, Prinzipalen und dem übrigen Personal am Theater war. Dass es sich bei diesem Text um eine Parodie handelt, konnte der Leser bereits am vermeintlichen Erscheinungsort der Schrift erkennen : Abdera. Der Name der griechischen Polis war spätestens seit Wielands satirischem Roman Die Abderiten aus dem Jahr 1774 ein Pseudonym für Kleingeistigkeit, Naivität und Dummheit. Dieser Neue Katechismus für deutsche Schauspieler aus Abdera erhebt den Anspruch, zeigen zu können, wie Schauspieler »beim Theater berühmt werden können, ohne gut, und treflich zu seyn.«156 Der anonyme Autor rät den angehenden Schauspielern, zunächst unbedeutende Rollen anzunehmen, sich stets mit der Frau oder der Tochter des Prinzipals gut zu stellen, ihr zu schmeicheln, um später bessere Rollen zu bekommen. Man solle sich mit Geschmack kleiden, »Werthers Empfindungen«157, wenn man sie nicht habe, affektieren, möglichst spät heiraten – eine gut aussehende Schauspielerin –, und am Ende selbst Prinzipal werden. Als Prinzipal sei die Hauptbeschäftigung dann, jeden Abend die Einnahmen zu zählen, um sie am nächsten Tag wieder zu verspielen oder auf andere Vergnügungen zu verwenden. Den angehenden Schauspielerinnen rät der Autor, nie Männerrollen zu spielen, beim Tanz durch geschickte Wendungen »vorwitzige Augen rege«158 zu machen und sich stets zwischen Kulissen und verschlossenen Logen aufzuhalten. Den Verehrern solle man schmeicheln, zuweilen ihren künstlerischen Rat befolgen, um in Theaterjournalen für kunstsinnig gelobt oder »mit Gedichten«159 überschüttet zu werden. Diese zwar satirisch verzerrte, vermutlich aber nicht völlig unzutreffende Schilderung der Sitten des Theaterpersonals erklärt, warum im Taschenbuch 153 Ebd. 154 Ebd. 155 Ebd. S. 5. 156 [Anonym] (1793) : Neuer Katechismus für deutsche Schauspieler und andere, mit dem Theater in Verbindung stehende Personen. Abdera. S. 3. 157 Ebd. S. 6. 158 Ebd. S. 15. 159 Ebd. S. 17.
Reisen und Bildungswege von Schauspielern im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland
für die Schaubühne ein anonymer Schauspieler noch 1796 unter anderem »theatralische Pflanzschulen«160 fordert, um die Theaterverhältnisse zu verbessern : So lange […] nicht theatralische Pflanzschulen errichtet [werden], um moralisch gute Schauspieler zu erziehen, so lange noch […] religierte Studenten, liederliche Weibsbilder, verlaufene Buchbindergesellen, Karten-Pfuscher, Barbier, Friseur, Schneider und Aventuries aller Art, einen Zufluchtsort am Theater finden ; so lange der Staat diesem Unwesen nicht steuert, und ein theatralisches Zuchthaus erbauen läßt, so lange werden wir dann auch noch kein eigentliches wahres Nationaltheater haben, folglich auch keine Bürgerrechte genießen161.
Zeitgleich erschien auch in Christian August von Bertrams Berliner Annalen des Theaters ein Beitrag, der in ähnlicher Weise beklagt, dass es zwar »Akademien für Zeichenund Mahlkünsler«162, nicht aber für Schauspieler gebe : »Glauben Sie, werther Freund, ein Hauptgrund, warum unsre deutschen Schauspieler sowohl in ihren Kenntnissen, als in der Achtung des Publikums noch so sehr zurück sind, ist der : das es überall in Deutschland keine Schauspielerschulen giebt.«163 Und solange der Schauspieler ein »Nomadenleben«164 führe, das »für Sitten und Karakter sehr nachtheilig«165 sei, heißt es im Tagebuch der Mainzer Schaubühne, sei »an seine Bildung nicht zu denken.«166
160 [Anonym] (1796) : Etwa über den Schauspieler-Stand, Ursache des öftern Verändern der Schauspielerinnen mit ihren Männern, und Mittel, diesem itzt so einreißenden Uebel vorzukommen, als eine Antwort auf die im vorjährigen Theater-Kalender, Seite 93 stehende Anfrage. In : Taschenbuch für die Schaubühne, auf das Jahr 1796 (Nebst dem Nachtrage von 1795). Gotha : Wilhelm Ettinger. S. 85–92. S. 85. 161 Ebd. 162 [Anonym] (1796) : Briefe über die hamburgischen Bühnen. Fortsetzung. Geschrieben in den Wintermonaten des Jahres 1795 und 1796. In : Annalen des Theaters, Siebzehntes Heft. S. 19–68. S. 37. 163 Ebd. 164 [Anonym] (1788) : Ein Wort über das Theaterwesen in Deutschland. In : Tagebuch der Mainzer Schaubühne, 1. Stück. S. 5–9. S. 7. 165 Ebd. 166 Ebd.
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2 »Auch die Schauspielkunst setzt […] eine Pflanzschule voraus«1 – Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland
»Erziehungskunst, in diesem Fach ?«, fragt Ernst Christoph Dreßler in seinen 1777 erschienen Ratschlägen zur Ausbildung von Schauspielern und Opernsängern. »Zu unseren Zeiten ist ja alles von der Erziehungskunst belebt ; allenthalben spricht und schreibt man davon.«2 Nur drei Jahre später wundert sich der Jesuit Wenzel Sigmund Heinze : »Es giebt Malerakademien, es giebt Bildhauerakademien, und warum giebt es nicht auch Schauspielerakademien ? Warum machen Schauspieler nicht unter sich Akademien ? Warum behandeln sie ihre Kunst nicht wie eine Kunst ? – warum ? – warum ? – darf man viel fragen ?«3 Und der Schauspieler Johann Sigismund Grüner bemerkte, dass sich auch noch am Ende des Jahrhunderts nichts an diesem Mangel geändert habe. Im Gothaer Theater-Kalender auf das Jahr 1798 beklagt er, dass sich die körperliche Beredsamkeit auf Regeln stütze, »als Lehranstalt wird sie jedoch nicht angetroffen. Hier ist ein Seufzer über unsere Erziehung (trotz der Flut von Erziehungsschriften) am rechten Orte.«4 Schon knapp 60 Jahre zuvor, im Jahr 1740, konstatierte der französische Schauspieler Luigi Riccoboni, der sich durch seine Reflexions historiques et critiques sur les differens theatres de L’Europe als Kenner der europäischen Theatergeschichte auswies, dass in all den Jahren und in all den verschiedenen Nationen bisher keine Deklamations- oder Schauspielschulen (Ecoles de Déclamation) eingerichtet wurden.5 Die europäische Geschichte der Schauspielschulen beginnt streng genommen erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Als nicht unwesentliche Vorgeschichte erweist sich aber die Ausbildung schauspielerischer Fähigkeiten im Schultheater.
1 Wötzel, [Johann Carl] (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule oder der einzig richtigen Kunst und Methode, vollkommener Kunstschauspieler, Opernsänger, Pantomime und Balletttänzer im höhern Grade und in kürzerer Zeit zu werden, als auf dem bisherigen Wege. Ein Praktischer Leitfaden für angehende Künstler, Künstlerinnen und Dichter, für Theaterunternehmer und Vorsteher, für Gönner und Freunde dieser schönen Kunst. Wien : Joachim Georg Ritter von Mösele. S. 232. 2 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das ernste Singe-Schauspiel betreffend. S. 5. 3 [Heinze, Wenzel Sigmund] (1780) : Von der Schauspielkunst. S. 63. 4 Grüner, Johann Sigismund (1956) : Über körperliche Beredsamkeit. Eine Rhapsodie [Aus dem Gothaer Theater-Kalender auf das Jahr 1798]. In : Maske und Kothurn. Vierteljahrsschrift für Theaterwissenschaft, 2. Jg. S. 182–186. S. 182. 5 Vgl. Riccoboni, Louis (1738) : Reflexions historiques et critiques sur les differens theatres de L’Europe. Avec les Pensée sur les Déclamation. S. 43 f.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
England
Der Leibarzt des Landgrafen von Hessen-Kassel, Johann Rheinlandt – der sich auch Johannes Rhenanus nannte –, deutet in der auf den 30. Januar 1613 datierten Vorrede zum Stück Speculum aistheticum – einer Übersetzung von Thomas Tomkis’ Drama Lingua (1607) – an, dass es in England eine Schule gegeben haben soll, in der Schauspieler ausgebildet wurden : Was aber die actores antrifft, werden solche (wie ich in England in Acht genommen) gleichsam in einer Schule täglich instruiret, daß auch die vornembsten actores deren orter sich von den Poeten müßen vnder wayßen laßen, welches dann einer wolgeschriebenen Comoedien das Leben vnd Zierde gibt und bringet ; Daß also kein wunder ist, warumb die Englische Comoedianten (Ich rede von geübten) andern vorgehen vund den Vorzug haben.6
Rhenanus’ Rede von einer Schule, in der die Schauspieler instruiert wurden, bezieht sich aber nicht auf eine berufsbildende Schule für angehende Schauspieler, sondern wahrscheinlich auf eine gewöhnliche grammar oder choir school. Die britische Literaturhistorikerin Lucy Munro erklärt, dass »the majority of early-to-mid Elizabethan child performers were linked either with grammer schools or with choir schools«7. Die zehn- bis vierzehnjährigen Kinderschauspieler waren in der Regel rhetorisch geschult und beherrschten die lateinische Sprache. Wie die Truppen der erwachsenen Schauspieler gingen die Kindertheatertruppen bald dazu über, ihren Nachwuchs selbst auszubilden. Die Verbindung zwischen »children’s performance and the educational process dissipated and eventually disappeared.«8 Ob es im Verlauf des 17. oder 18. Jahrhundert in England instutionalisierte Ansätze zur Ausbildung von Schauspielern gegeben hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In einem Brief vom 5. September 1735 bekundet Aaron Hill, Schriftsteller und Verfasser des 1747 erschienenen Essays The Art of Acting, die Absicht, eine »tragic academy«9 einrichten zu wollen :
6 Rhenanus, Johannes (1889) : Anfang des speculum aistheticum von Johannes Rhenanus [1613]. [Aus der Casseler Handschrift. Manuscr. Theatralia 40 2. 64 eng beschriebene Blätter]. In : Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. Hrsg. von Joseph Kürschner, Bd. 23 : Die Schauspiele der englischen Komödianten. Hrsg. von Wilhelm Creizenach. Berlin und Stuttgart : Spemann. S. 327– 329. S. 328. 7 Munro, Lucy (2011) : Children of the Queen’s Revels. A Jacobean Theatre Repertory. Cambridge : Cambridge University Press. S. 37. 8 Ebd. 9 Hill, Aaron (1753) : To Mr. Thompson [Sept. 5, 1735]. In : The Works of the late Aaron Hill in four Volumes, Vol. II. London : [ohne Verlag]. S. 126–130. S. 128.
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Theaterschulen und Ausbildungskonzepte der Schauspieler im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Whereas certain gentlemen have propos’d, at their own expence, to attempt an improvement, under name of a tragic academy for extending, an regulating theatrical diversions, and for instructing and educating actors, in the practice of dramatic passions, and a power to express ’em strongly ; the success of which laudable purpose, might establish the reputation of the stage, by appropriating its influence, to the service of wisdom, and virtue10.
Ob eine solche Einrichtung tatsächlich zustande gekommen ist, lässt sich wie gesagt nicht nachweisen. Am Ende des 17. Jahrhunderts, 1698, hatte Jeremy Colliers Pamphlet A Short View of Immorality and Profaneness of the English Stage das Theater für bürgerliche Kreise diskreditiert und die Schließung aller Theater empfohlen.11 Gleichwohl setzte in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Theoriedebatte über die Schauspielkunst ein, deren Theoretiker sich am natürlichen und lebensnahen Darstellungsstil des Schauspielers David Garrick abarbeiteten.12 Dennoch vermerkt William Cooke im Jahr 1775 in seinen Elements of Dramatic Criticism, dass im Vergleich mit der Ausbildung von Schauspielern in der Antike »man gegenwärtig nicht so aufmerksam mehr ist, ein guter Schauspieler zu werden«13. Obwohl die Schüler der freien Künste, der Geistliche, der Rechtsgelehrte und der Mediziner »eine vorgeschriebene Ordnung ihres Studirens«14 (some previous education) beachten müssen, selbst der Handwerker sieben »Lehrjahre«15 (apprenticeship) durchlaufe, werde der Beruf des Schauspielers, der mit nichts weniger als der »Verbindung aller schönen Künste«16 (combination of the polite arts) betraut sei, »durchgehend vernachlässigt«17 (universally neglected). »Die gemeinste Erziehung und eine Neigung zur Bühne, sind gemeiniglich schon ein Freybrief für ihre Kandidaten, und mit diesen gewaltigen Vollkommenheiten, glauben sie wohl gar einem Garrick gleich zu seyn.«18
10 Ebd. S. 128 f. 11 Vgl. hierzu Colliers, Jeremy (1698) : A Short View of Immorality and Profaneness of the English Stage. Together with the Sense of Antiquity Upon this Argument. London : S. Keble. 12 Vgl. hierzu Cassidy, Tanya & Brunström, Conrad (2002) : ›Playing is a Science‹. Vgl. auch Brauneck, Manfred (1996) : Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2. S. 659–666. Vgl. auch Roach, Joseph R. (1985) : The Player’s Passion. 13 Cooke, Wilhelm (1777) : Grundsätze der dramatischen Kritik. S. 219. Vgl. auch Cooke, William (1775) : Elements of Criticism. S. 178 : »[T]he profession of acting is not as much attended to now as it was formerly.« 14 Cooke, Wilhelm (1777) : Grundsätze der dramatischen Kritik. S. 222. Vgl. auch Cooke, William (1775) : Elements of Criticism. S. 181. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. Vgl. auch Cooke, William (1775) : Elements of Criticism. S. 181 : »The commonest educations, with an inclination for the stage, generally make out a passport for its candidates, and with these powerful accomplishments, they look forward, even to the chair of a Garrick.«
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Theaterschulen gab es im englischsprachigen Raum höchstwahrscheinlich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Schauspielerin Frances ›Fanny‹ Maria Kelly richtete in der Dean Street im Londoner Stadtteil Soho im Jahr 1839 ein Modeltheater für ihre drama school ein. Da der Duke of Devonshire Kellys Ersuch, das Theater The Duke’s Theatre und ihre Schule Royal Dramatic School nennen zu dürfen, ablehnte, trug es erst den Namen Miss Kelly’s Theatre, später dann The Royalty Theatre. Eröffnet wurde es am 24. Mai 1840.19 Frankreich
In Frankreich spielte das Jesuitentheater im 17. Jahrhundert und frühen 18. Jahrhundert eine nicht unwichtige Rolle für die Ausbildung von Schauspielern. »Anders als in der Kaiserstadt Wien waren es hier vorwiegend bürgerliche Kreise, für die gespielt wurde, ja, die durch diese Jesuitentheateraufführungen für ein Theater mit höheren Ansprüchen erst gewonnen wurden.«20 Dass neben den französischen Dramatikern wie Corneille, Molière und Voltaire21 auch Schauspieler wie Henri Louis Cain, der unter dem Künstlernamen Lekain berühmt wurde,22 Jesuitenschulen besuchten und an den aufwendigen Aufführungen mitwirkten, verdeutlicht, so Kindermann, die wichtige »Schwellenfunktion«23, die das Jesuitentheater in der Geschichte des französischen Theaters eingenommen habe. Gleichwohl wiesen die führenden Mitglieder der Comédie française, darunter Lekain, Préville – der mit bürgerlichem Namen Pierre-Louis Dubus hieß – und Jean-Claude-Gilles Colson, der sich Bellecour nannte, im September des Jahres 1756 auf die Notwendigkeit hin, eine staatlich subventionierte Theaterschule einzurichten. Sie waren der Meinung, dass der schauspielerische Nachwuchs, der aus den Provinztruppen in die Hauptstadt kam, nicht mehr den darstellerischen Ansprüchen genügte. In Lekains Memoiren, die sein Sohn 1801 herausgegeben hat, ist ein öffentliches Schreiben enthalten, in dem er seiner Sorge um die Zukunft der Schauspielkunst Ausdruck verleiht. Er befürchtet, dass die Schauspielkunst zu ihrer barbarischen Form (la barbarie), die durch die Schauspieler Michel Baron und die Schauspielerin Adrienne Couvreur, genannt Lecouvreur, erst über-
19 Vgl. Robertson, Ben P. (2012) : Kelly, Frances Maria, and the Royalty Theatre. In : The Encyclopedia of Romantic Literature, Bd. 1 : A–G. Hrsg. von Frederick Burwick. Hoboken : Wiley-Blackwell. S. 717– 723. S. 721. 20 Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 55. 21 Voltaire war von 1704 bis 1711 Schüler am Pariser Jesuitenkolleg Louis-le-Grand gewesen und hatte dort im Jahr 1708 die Aufführung einer lateinischen Tragödie seines Lehrers Charles Porée miterlebt (von Stackelberg 2006 : 41). Porée, der sich schriftstellerisch vielseitig betätigte, lehrte Rhetorik und verfasste im Jahr 1733 eine Verteidigungsrede De theatro oratio. Theatrum sit ne, vel esse possit Schola informandis moribus idonea ?, die von Pierre Brumois ins Französische und von Johann Friedrich May ins Deutsche übersetzt wurde. Trotz Voltaires ablehnender Haltung gegenüber dem Jesuitenorden hatte er über seinen ehemaligen Lehrer nie etwas Schlechtes zu sagen. 22 Vgl. Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 64. 23 Ebd. S. 57.
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wunden wurde, zurückfallen könne, wenn die jetzige Generation von Schauspielern als mögliche Vorbilder und Lehrer erst verstorben sei.24 Als Lekain selbst im Jahr 1778 starb, verlor das Vorhaben einer staatlichen Schauspielschule einen seiner wichtigsten Befürworter und wurde vertagt. Erst in den letzten Jahren des Ancien régime, im Jahr 1784, wurde in Paris die Ecole royale de chant nach dem Vorbild der Konservatorien in Neapel und Venedig am 3. Januar gegründet und von dem Komponisten François-Joseph Gossec geleitet, Gesangsunterricht erteilte der italienische Opernkomponist Niccolò Piccinni. Zwei Jahre später wurde am 1. April 1786 die Ecole Royale dramatique25 dem Konservatorium angeschlossen, an der die Schauspieler Jean-Henry Gourgaud Dugazon, François-René Molé und Abraham Joseph Bénard, der Fleury genannt wurde, Unterricht im Deklamieren (pour la Déclamation) erteilten. Laut Les Spectacles de Paris aus dem Jahr 1790 unterrichteten ferner M. des Essarts Mythologie, Geschichte und Geographie (Mythologie, Histoire & Géographie), M. Delaporte gab Unterricht in Französisch (La Langue Françoise), M. Marchand erteilte Unterricht in der Bühnentanzkunst (Danse pour les formes théârales) und M. Monrose arbeite mit den Schülern an einzelnen Szenen (en Scène avec les Eleves).26 Laut des deutschen Schauspielers Johann Friedel soll auch der Schriftsteller Claude-Joseph Dorat an der Schule beteiligt gewesen sein. »Man kennt die Verdienste«, schreibt Friedel angesichts der Frage, ob auch in Deutschland eine Schauspielschule eingerichtet werden könne, »die Dorat und Preville, praktisch dieser, theoretischer jener, sich in der Bildung junger Zöglinge fürs Theater erwarben ; und der Nutzen, der für das Schöne und Vollkommene der Kunst daraus entsprang, liegt jedem Kenner der französischen Schaubühne vor Augen.«27 Als am 20. Juni 1786 der Unterricht begann, hatten sich fünf Studenten eingeschrieben, am Ende des Jahres waren es bereits 23 männliche und 25 weibliche Studierende. Zu den bedeutendsten Absolventen gehörte der Schauspieler François-Joseph Talma. Während das Conservatoire de musique – ein Zusammenschluss der Ecole royale de chant sowie der Ecole de musique municipale – nach der französischen Revolution weiterbestand, wurde der Betrieb der Ecole Royle dramatique eingestellt.28
24 Vgl. [Lekain, Henri Louis] (1801) : Mémoires de Henri Louis Lekain, publiés par son Fils ainé ; suivis d’une correspondance (inédite) de Voltaire, Garrick, Colardeau, Lebrun, etc. Paris : Colnet, Debray, Monie. S. 37. 25 In der Histoire physique, civile, et moral de Paris des französischen Historikers Jacques-Antoine Dulaure aus dem Jahr 1824 wird die Schule mit dem Titel École de Déclamation pour le Théatre-François aufgelistet (Dulaure 1824 : 343). 26 Vgl. [Anonym] (1790) : École Royale Dramatique établie le premier Avril 1786. In : Les spectacles de Paris, ou Calendrier Historique & Chronologique des Théatres, Bd. 39. Paris : Veuve Duchesne. S. 72. 27 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück. S. 20. 28 Vgl. Hemmings, Frederic William John (1993) : The Theatre Industry in Nineteenth Century France. Cambridge : Cambridge University Press. S. 172–182.
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Die Schauspielerin Clairon, die mit bürgerlichem Namen Claire-Josephe Léris hieß, war der Ansicht, dass es keiner eigens für Schauspieler eingerichteten »Schulen«29 (écoles dramatiques) bedürfe, ein umfangreiches Selbststudium aber erforderlich sei. Sie räumt ein, dass es viele Rollen gäbe, die ein Schauspieler mit gewissen natürlichen Anlagen ohne Weiteres spielen könne. »Ohne Bildung [culture] kann man viel natürlichen Verstand haben«, schreibt sie, »und bisweilen auf einfache und rührende Wahrheiten treffen. Es giebt mehrere Rollen auf der Schaubühne, für welche dieser Verstand vollkommen hinreicht.«30 Die »geheime Arbeit des Schauspielers«31 (travail secret du comédien) sieht sie aber in einem weitreichenden Studium, das die Grundlage sei, um sich die dramatischen Texte zu erschließen und eine angemessene Rollenbiographie der zu spielenden Rolle zu erarbeiten. Alle Künste, alle Handwerke, haben bekannte Grundsätze ; für den tragischen Schauspieler gibt’s keine. Aus der Geschichte aller Nationen der Welt muss er seine Kenntnisse schöpfen. Sie nur lesen, würde ihm nichts helfen ; er muss sie studieren, sich bis in die kleinsten Details damit vertraut machen, jeder Rolle Alles, was seine Nation Eigenthümliches haben kann, anpassen. Unaufhörlich muss er überlegen, hundert und hundertmal muss er die gleiche Sache wiederholen, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die ihm bey jedem Schritte aufstoßen. Nicht genug ist’s, dass er seine Rolle studiere ; er muss das ganze Stück studieren32.
Das Studium, das ein angehender Schauspieler ihrer Ansicht nach zu bewältigen habe, um sich seine Rolle und das Stück zu erarbeiten, umfasst das Studium der Sprache (langue), Geschichte (histoire), Geographie (géographie) und antiken Mythologie (fable)33 sowie 29 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 102. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 99. 30 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 25. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 38 : « On peut, sans culture, avoir on esprit naturel, et rencontrer quelquefois des vérités simples et touchantes. On a beaucoup de rôles au théâtre auxquels cet esprit suffit. » 31 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 14. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 28. 32 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 13 f. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 27 f.: « Tous les arts, tous les métiers ont des principes connus ; il n’en existe point pour le comédien tragique. C’est dans l’histoire de tous les peuples du monde qu’il doit puiser ses lumières ; la lire ne serait rien : il doit l’approfondir, se la rendre familière jusque dans les plus petits détails, adapter à chaque rôle tout ce que sa nation peut avoir d’originalité ; il doit réfléchir sans relâche, répéter cent et cent fois la même chose, pour surmonter les difficultés qu’il rencontre à chaque pas. Ce n’est point assez d’étudier son rôle, il faut qu’il étudie l’ouvrage entier ». 33 Laut Jean-François Férauds Dictionaire Critique de la Langue Française aus dem Jahr 1787 gebrauche man das Wort fable oft für den Begriff »Mithologie« (Féraud 1994 : 204).
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der Zeichenkunst (dessin), Musik (musique), Literatur (belles-lettres), moderner und antiker Dichtungsarten (genre de poésie) und Theatertheorie (effets et des règles du théâtre). Ferner sei es für die Körperhaltung von großem Nutzen, sich auch in der Tanzkunst (danse) zu üben. Auch der sorgfältige Umgang mit den Kostümen müsse geübt werden.34 Für die Erarbeitung ihrer Rollen in den klassischen Dramen vergegenwärtige sich die Clairon die Lebensumstände, Rechte und Stellung der Frau in den antiken Stadtstaaten und berücksichtige das Alter ihrer Rollen. Sie versuche die Rollen und die Handlung der Dramen in einen sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext zu stellen, um so zu einer eigenen Interpretation des dramatischen Textes zu gelangen. Allein meine Neigung zur Untersuchung des Alterthums --- der Vorsatz, den ich fest gefasst hatte, alle meine Personen in die Zeiten und Orte zu verpflanzen in denen sie lebten --- machten mir oft viele Mühe ; […] [.] [D]ie einzige Arbeit, die sie [die Rolle der Elektra in Voltaires Drama Oreste (1750)] fodert [sic !], ist, seine Seele und sein Genie bis zu ihr zu erheben. Oh, ihr, wer ihr auch sein mögt, die ihr diese Rolle in Besitz habt, unterrichtet euch, beobachtet euch, aber leiht ihr nichts ! Jedes gewöhnliche Wesen ist unter ihr. Opfert ihr eure Gewohnheiten, eure persönlichen Neigungen auf ; […] [.] Kein Flitter, kein zierliches, oder in gezwungene Falten gelegtes Gewand müssen das edle und rührende Elend verderben, dessen Gemählde ihr mir darstellen sollt !35
Das von der Clairon für angehende Schauspieler vorgesehene Studium solle aber wie gesagt nicht an »Schulen«36 (écoles dramatiques) stattfinden. Die Clairon ist der Ansicht, dass ein sechsmonatiger Aufenthalt an den Bühnen der »Provinzial-Truppen«37 (troupes de province) mehr lehrreiche Erfahrungen verspreche als ein zweijähriger Besuch einer für 34 Vgl. Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 57–59. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 62–65. 35 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 140 f. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 143 f.: « [M]ais mon goût de recherche pour l’antiquité, cette volonté que je m’étais faite de transporter tous mes personnages dans les temps et les lieux dont ils étaient, me donnait souvent beaucoup de peine ; […] le seul travail qu’il exige est d’élever son ame et son génie jusqu’à lui. O qui que vous soyez ! vous, qui possédez ce rôle, instruisez-vous, observez-vous, ne lui prêtez rien ; tout être ordinaire est au-dessous de lui ; faites-lui le sacrifice de vos habitudes, de vos affections personnelles ; qu’aucun colifichet, aucune draperie élégante ou tortillée ne vienne gâter la noble et touchante misère dont vous devez m’offrir le tableau. » 36 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 102. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 99. 37 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 103. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 100.
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Schauspieler eingerichteten Schule. Sie selbst gesteht, dass ihr Versuch, den ihr anvertrauten Schauspielschülerinnen Demoiselles Huss, Dubois und Raucourt die Schauspielkunst zu lehren, nur so lange erfolgreich schien, wie diese in ihrer Obhut waren. »Ach ! ungeachtet aller meiner Mühe, ungeachtet aller Gaben die sie von der Natur empfangen hatten«, schreibt sie rückblickend, »hab’ ich nie etwas anders als meine Affen aus ihnen machen können«38. Die umfangreichen Kenntnisse und Fähigkeiten müsse sich der Schauspieler vielmehr in einem mühevollen Selbststudium aneignen und unablässig an der Vervollkommnung seiner Kunstfertigkeit arbeiten. Sie selbst gestand, dass sie, als sie die Bühne verließ, »noch ungeheuer viel Fehler machte«39. Neben dem Nutzen für die Erarbeitung der Rollen erscheint ihr die Selbstbildung der Schauspieler aber noch aus drei weiteren Gründen notwendig : Erstens sollte der Schauspieler hierdurch dem Dichter intellektuell ebenbürtig werden und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit die Ehrenwürdigkeit seines Standes beweisen. Da die meisten Schauspieler von »gemeinen und dürftigen Eltern«40 (parens obscure et mal-aisés) stammten, fehlte es ihnen meist an einer entsprechenden Erziehung. Zweitens stelle die Bildung der Schauspieler die Grundlage ihrer Beurteilungskraft da, die vor allem dann gefordert werde, wenn ihr Spiel der Kritik ausgesetzt werde. »Nur dann ist der Beyfall schmeichelhaft, nur dann der Tadel erträglich«, schreibt die Clairon, »wenn man im Stand ist, für den einen wie für den andern seine Gründe zu geben. Denn es ist nicht genug, das Recht zu haben, ein Werk anzunehmen oder zu verwerfen ; man muss sich auch würdig zeigen, dasselbe beurtheilen zu können.«41 Und schließlich – drittens – sah die Clairon im Theater eine pädagogische 38 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 105. – In den beiden französischsprachigen Ausgaben werden nur Demoiselles Dubois und Raucourt genannt. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 101 : « Mes charmantes écolières ont-elles été de grands sujet ? Hélas ! Malgrémes soins et tout ce qu’elles tenaient de la nature, je n’en ai jamais pu faire que mes singes ». In der zweiten Auflage der Mémoires ist diese Stelle leicht überarbeitet worden. Der Vergleich der beiden Schülerinnen Demoiselles Dubois und Raucourt mit Affen taucht hier nicht mehr auf. Vgl Clairon, Hyppolite (1799) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur la Déclamation théatrale. S. 324 : « Mes charmantes écolières ont-elles été de grands sujet ? Mais, persuadée que le temps et les réflexions peuvent procurer plus talens que les écoles, je ne me permets point de prononcer sur les acteurs actuels ; je le dois d’autant moins que les spectacles me sont inconnus depuis environ douze ans. » 39 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 70. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 74 : « [J]e suis sûre que je faisais encore énormément de fautes, lorsque j’ai quitté le théâtre. » 40 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 19. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 31. 41 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 59. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 65 f.: « Une approbation n’est pas flatteuse, une critique n’est sup-
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Anstalt für das Publikum : »Die Schaubühne soll die Schule der Fremden, und desjenigen Theils der Nation seyn, der weder Zeit noch Vermögen genug hat, sich selbst Lehrer zu halten.«42 Dieser Auftrag mache es erforderlich, dass die Schauspieler über die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um dem Publikum die Handlung und Rollen der Dramen sowie die Schönheit der Sprache angemessen präsentieren zu können. Deutschland
Für den deutschen Sprachraum lässt sich wie für den englischen und französischen festhalten, dass es vor dem 18. Jahrhundert keine institutionalisierte Ausbildung von Schauspielern gegeben hat. Allenfalls lassen sich der Unterricht in Rhetorik sowie die Theaterpraxis an Schulen und Universitäten als eine institutionalisierte Ausbildung schauspielerischer Fähigkeiten erachten, auch wenn es nicht um die Ausbildung von Berufsschauspielern ging. Der Germanist und Theaterhistoriker Willi Fleming schreibt in diesem Sinne, dass das Jesuitentheater der Ort war, wo man sich in Deutschland erstmals bemühte »Schauspieler zu erziehen.«43 Schultheater waren somit die ersten Theaterschulen in Deutschland.44 Johann Friedrich Löwen schreibt noch im Jahr 1755, dass die meisten Lehrer zwar »die ungeschicktesten Redner«45, die »öffentlichen Reden in den niedern Schulen«46 aber eine erste und wichtige Gelegenheit seien, die körperliche Beredsamkeit zu üben. Insbesondere die »Vorstellung einiger Schauspiele«47 seien trotz der verbreiteten Vorurteile eine nützliche und löbliche Möglichkeit, um Anstand und Dreistigkeit zu erlangen, den gestischen und mimischen Ausdruck zu üben sowie die »Blödigkeit« abzulegen, die junge Leute oft befalle, »wenn sie zum erstenmal vor einer ansehnlichen Versammlung auftreten sollen.«48 Riccoboni räumt allerdings ein, dass den Schülern an den gemeinen Schulen zwar Unterricht in Rhetorik und Literatur erteilt werde, aber doch nur, um in Wahrheit die lateinische und griechische Sprache zu lehren.49 Gottsched und Löwen sind ebenfalls portable qu’autant qu’on est en état de motiver l’une et l’autre. Ce n’est pas assez d’avoir le droit de recevoir ou de rejeter un ouvrage, il faut se montrer digne de le juger. » 42 Clairon, Claire Josèphe Hippolyte Leris de LaTude (1799) : Betrachtungen über sich selbst, und über die dramatische Kunst, Bd. 2. S. 57. Vgl. auch Clairon, Hyppolite (1798) : Mémoires d’Hyppolite Clairon, et Réflexions sur l’art dramatique. S. 64 : « Le théâtre doit être l’école des étrangers, et de cette partie de la nation qui n’a ni le temps ni le moyen d’avoir des maîtres. » 43 Flemming, Willi (1923) : Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge. S. 195. 44 Vgl. hierzu Teil I, Kap. I : Das Schultheater und das Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik. 45 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 11. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Vgl. Riccoboni, Louis (1738) : Reflexions historiques et critiques sur les differens theatres de L’Europe. Avec les Pensée sur les Déclamation. S. 44.
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dieser Ansicht : »Man weiß ja nämlich wohl«, bemerkt Gottsched in seiner Vorrede zur ›Deutschen Schaubühne‹, daß Schulknaben insgemein solche Stücke [wie die von Aeschylus, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Plautus, Terenz und Seneca] nur um der alten Sprachen durchgehen müssen und sich also mehr bei den Worten und Ausdrückungen, ja wenn es hochkömmt, bei dem Silbenmaße der griechischen und römischen Dichter aufhalten, als daß sie den Inhalt und Zusammenhang solcher Stücke einsehen lernen.50
Und Löwen kenne genügend Schulmänner, die ihre Schüler mit einem liederlichen Geschwätz hinhalten, und ihnen die griechischen und lateinischen Redner und Poeten nicht anders als dem höchst magern Wort-Verstand nach erklären, ihnen eine Menge von Flosceln in das Gedächtniß bringen lassen, und sie übrigens gar nicht auf die innern und äusserlichen Schönheiten dieser Schriftsteller führen.51
Der Jesuit Heinze schreibt zudem : Unsere Erzieher thun oft wenig mehr, als daß sie uns den Rock von dem Fürsten, oder Schuster anziehen, den wir auf der Bühne vorstellen sollen ; den Ueberrest überlassen sie unserem fürstlichem oder schusterischen Gefühle ! Was können da für große Schauspieler gebildet werden ?52
Während in Frankreich bereits der Ruf nach einer institutionalisierten und staatlich subventionierten Ausbildung von Schauspielern in der Mitte des 18. Jahrhunderts laut wurde, setzte die Professionalisierung der Schauspieler in Deutschland mit der Gründung einer von Schauspielern selbst verwalteten Vereinigung ein. In Christian Heinrich Schmids Chronologie des deutschen Theaters aus dem Jahr 1775 wird erstmals erwähnt, dass die Schauspieler der Schönemann’schen Gesellschaft im Jahr 1753 »ein sehr nützliches Institut«53 gegründet hätten und die Mitglieder dieser »Schule«54 wöchentlich zusammenkämen, um sich über ihre Kunst auszutauschen und verbindliche Regeln festzusetzen. Kurz darauf wird auch im Theater-Kalender auf das Jahr 1779 Nachricht von »einer« – von der ersten – »deutschen Schauspieler-Akademie« gegeben.55 Die von Konrad Ekhof und den Mitgliedern der Schönemann’schen Gesellschaft gegründete Akademie bestand zwar 50 Gottsched, Johann Christoph (2003) Vorrede zur ›Deutschen Schaubühne‹ [1741]. S. 254. 51 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 11 f. 52 [Heinze, Wenzel Sigmund] (1780) : Von der Schauspielkunst. Wien : Joseph Edlen von Kirzbek. S. 8. 53 Schmid, Christian Heinrich (1775) : Chronologie des deutschen Theaters. [Ohne Ort : ohne Verlag]. S. 170. 54 Ebd. 55 Vgl. [Anonym] (1779) : Nachricht von einer deutschen Schauspieler-Akademie. (Aus den Tagebü-
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nur knapp dreizehn Monate und es wurden auch keine neuen Mitglieder aufgenommen oder ausgebildet,56 der Akademiegedanke sollte aber Schule machen – vor allem am Mannheimer Nationaltheater.57 Fortschrittlich war Ekhofs Schauspieler-Akademie, da sie den Anspruch erhob, als eine Art gelehrte Gesellschaft einen Beitrag zur Förderung der Schauspielkunst zu leisten. Der Hof subventionierte zwar die Mitglieder der Akademie als Hofschauspieler mit einem regelmäßigen Einkommen, die Mitglieder gaben sich aber eine republikanisch anmutende Satzung, nach der alle Mitglieder gleichermaßen zu Lernenden erklärt wurden und alle Leitungs- und Verwaltungsposten mittels Wahlen besetzen werden sollten. Ekhofs Akademie unterscheidet sich von den bisherigen Ausbildungseinrichtungen und -möglichkeiten von Schauspielern, da Ekhof den Anspruch erhob, neben theaterpraktischen Angelegenheiten auch dramen- und schauspieltheoretische Fragen zur Diskussion zu stellen, um in Abstraktion von der konkreten Praxis zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Schauspielkunst zu gelangen. Johann Friedrich Löwen, der im Gründungsjahr der Akademie nach Schwerin kam und 1757 als Sekretär am Hof beschäftigt wurde,58 greift Ekhofs Akademiegedanken auf und empfiehlt in seiner Geschichte des deutschen Theaters aus dem Jahr 1766, eine »theatralische Akademie«59 einzurichten, um den »Stand der Comödianten vorzüglich ehrwürdig«60 sowie das Bühnenspiel und die Lebensart der Schauspieler besser und sittlicher zu machen. Seiner Ansicht nach sei eine solche Einrichtung notwendig, da »nämlich die meisten in der Kunst zu declamiren, und um so viel mehr in der Kunst zu agiren Fremdlinge sind, und die wenigstens sich mit den sehr weitläufigen Regeln des Schauspielers bekannt zu machen Gelegenheit gehabt haben«61. Als Direktor der Hamburger Entreprise kündigte Löwen in einer Vorläufigen Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters an, »für
chern diese Akademie gezogen.) In : Theater-Kalender, auf das Jahr 1779 [Gotha : Carl Wilhelm Ettinger]. S. 22–36. 56 Vgl. hierzu Kap. 2. 1 : »›Studieren !‹ Das war ja Eckhofs Wort und hatte mir die Sache, die ich so lieb hatte, noch mehr veredelt !« – Konrad Ekhof und die Akademie der Schönemann’schen Gesellschaft in Schwerin (1753–1754). 57 Vgl. hierzu Kap. 2. 2 : Der Schauspieler, »dieser Volkslehrer muß durchaus philosophische Denkungsart haben« – Der Theaterausschuss am Mannheimer Hof- und Nationaltheater unter Wolfgang Heribert von Dalberg (1782–1789) und der »edle Anstand« der Mannheimer Schule. 58 Vgl. auch Potkoff, Ossip D. (1904) : Johann Friedrich Löwen (1724–1771). Mit näherer Berücksichtigung seiner dramaturgischen Tätigkeit. Heidelberg : Carl Winters Universitätsbuchhandlung. S. 59. Vgl. hierzu auch Jäger, Hans-Wolf (1987) : Löwen, Johann Friedrich. In : Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15 : Locherer – Maltza(h)n. Berlin : Duncker und Humblot. S. 88 f. 59 Löwen, Johann Friedrich (1905) : Geschichte des deutschen Theaters (1766) und Flugschriften über das Hamburger Nationaltheater (1766 und 1767). S. 69. 60 Ebd. S. 70. 61 Ebd. S. 69.
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die Bildung des Herzens, der Sitten und der Kunst junger, angehender Schauspieler«62 Unterricht in einer »theatralischen Akademie«63 erteilen zu wollen. Er war selbst zwar kein Schauspieler, wohl aber bekannt mit der Geschichte des Theaters und den Lehren der Rhetorik. Über die von ihm verfassten Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes64 sowie über Claude-Joseph Dorats Essai sur la Déclamation Tragique65 wollte er daher Vorlesungen halten. Diese »Vorlesungen für die Bildung der Schauspieler«66 fanden aber ein jähes Ende, so der Theaterchronist Johann Friedrich Schütze. Die »Damen und Herren, die grossentheils so beschaffen waren, dass sie von ihm, der unstreitig gute theoretische Kenntnisse besaß, lernen konnten«67, waren nur wenig lernwillig und blieben der Veranstaltung bald fern. Ob Löwen den Schauspielern der Ackermann’schen Gesellschaft tatsächlich Unterricht erteilt habe, ist eher zu bezweifeln, denn er galt bei ihnen schon vor seinem Amtsantritt als »intriganter Schleicher«68. Es war vielmehr ein ehemaliges Mitglied dieser Schauspielergesellschaft, der Schauspieler Georg Friedrich Wolfram, der laut des Theaterhistorikers Gerhard Steiner die »erste Theaterschule Deutschlands«69 in Hildburghausen gegründet haben soll. Der Schauspieler Johann Friedel berichtet im Theaterjournal für Deutschland aus dem Jahr 1781, dass 62 Ebd. 87. 63 Ebd. 64 Vgl. Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kruzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. 65 Vgl. [Dorat, Claude-Joseph] (1758) : Essai sur la Déclamation Tragique, Poëme. [Ohne Ort : ohne Verlag]. 66 Schütze, Johann Friedrich (1794) : Hamburgische Theatergeschichte. Hamburg : J. P. Treder. S. 335. – Als der Schauspieler Friedrich Ludwig Schröder im Jahr 1810 das Theater in Hamburg übernommen hatte, »erklärte er den Mitgliedern dieser Bühne Riccoboni’s Bemerkungen über ihre Kunst« (Riccoboni & Schröder 1822 : III). Schröder kommentierte Riccobonis Abhandlung über L’Art du Théâtre und ergänzte nach dem zwölften Paragraphen drei weitere Abschnitte über Sittlichkeit, Kostüme und die Erziehung der zum Theater bestimmten Kinder – ohne sich aber als Verfasser dieser neuen Abschnitte kenntlich zu machen. Der »Abdruck dieser gehaltvollen, lehrreichen Schröderischen Vorlesungen« (Riccoboni & Schröder 1822 : IV) wurde im Jahr 1821 in Leipzig herausgegeben. Die wenigen Hinweise, die Schröder hier zur »Theatererziehung« (Riccoboni & Schröder 1822 : 57) gibt, beschränken sich darauf, dass Kinder nur selten Theaterstücke sehen sollen. Diese sollten sittlichen Inhalts sein und Kinderrollen beinhalten. Eltern sollten ihre Kinder, so Schröder weiter, nicht dazu ermutigen, Leidenschaften nachzuäffen, das Deklamieren zu lernen oder schnell zu sprechen. Stattdessen solle man die Kinder daran gewöhnen, »etwas tiefer zu sprechen« und »jede Sylbe vernehmlich auszusprechen«. Sobald das Kind lesen könne und man ihm die Zusammenhänge des Stücks erklärt habe, solle es »seine Rolle selbst lernen« und den erwachsenen Schauspielern nicht zuhören, wie sie ihre Rollen durch lautes Lesen sich einprägen (Riccoboni & Schröder 1822 : 55–57). 67 Schütze, Johann Friedrich (1794) : Hamburgische Theatergeschichte. S. 339. 68 Waentig, Karl (1968) : Johann Friedrich Löwen und sein Ansehen als Journalist und Bühnenschriftsteller. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Nationaltheaters von 1767 in Hamburg. In : Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Jg. 54. S. 21–49. S. 26. 69 Steiner, Gerhard (1990) : Geschichte des Theaters zu Hildburghausen. Spezieller Beitrag zur Kulturgeschichte des thüringisch-fränkischen Raumes und der theatergeschichtlichen Beziehungen Coburg-Meiningen. Rodach bei Coburg (= Schriften des Rodacher Rückert-Kreises e.V., Heft 14). S. 61.
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sich »Herr Wolfram«, der von 1754 bis 1763 Mitglied der Ackermann’schen Gesellschaft war und 1763 die Leitung des Hoftheaters in Hildburghausen übernommen hatte,70 »aus Liebe zum wahren nützlichen der Kunst, schon in Hildburghausen mit dem Unterrichte junger Schauspieler«71 befasste. Berühmte »Genies unserer Bühne«72, so Friedel, erhielten ihre erste Bildung in »seiner Schule«73. Als berühmte Schüler Wolframs nennt Steiner den aus Hildburghausen stammenden Schauspieler Karl August Dobler (oder auch Tobler), den späteren Prinzipal Johann Peter Florenz Ilgener sowie den späteren Prinzipal Karl Wahr.74
2.1 »Vorschlag zu einer Theaterschule«75 – Die Debatte um die Einrichtung von Theaterschulen in Theaterperiodika, theaterhistoriographischen Darstellungen und rhetorischen Lehrbüchern (1775–1818) Das Thema der Professionalisierung und Ausbildung von Schauspielern findet im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Eingang in die Theaterzeitschriften und die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung zur Verbesserung des deutschsprachigen Theaterwesens wird öffentlich diskutiert. In der ersten Ausgabe des Theater-Kalenders, des »verbreitetste[n] und wohl einflußreichste[n] deutsprachige[n] Theaterperiodikum[s]«76, das der Gothaer Hofbibliothekar und Direktor des dortigen Hoftheaters Heinrich August Ottokar Reichard herausgab, wird den Lesern ein Vorschlag zu einer Theaterschule unterbreitet. Die Mitglieder einer Theatertruppe sollen den »Erfahrensten«77, der in der »Theorie und Praxis der Bühne ausgelernt habe«78, als ihren »Führer«79 ernennen, der »bey den Proben die Aufsicht«80 habe und den anderen als »Spiegel«81 diene. Hiermit wird gewiss kein ausgearbeitetes Theaterschulkonzept vorgelegt, allenfalls wird das Profil eines Theaterlehrers umrissen. Doch hinter diesem Vorschlag verbirgt sich ein bildungsund theatertheoretisch relevantes Argument für die Notwendigkeit eines ›Lehrers‹ der Schauspielkunst. Da anders als in der Dicht- oder Malkunst das Künstlersubjekt und 70 Vgl. ebd. S. 49–62. 71 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück. S. 21. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Vgl. Steiner, Gerhard (1990) : Geschichte des Theaters zu Hildburghausen. S. 53–56. 75 [Anonym] (1775) : Vorschlag zu einer Theaterschule. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1775. S. 91–93. S. 91. 76 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 49. 77 [Anonym] (1775) : Vorschlag zu einer Theaterschule. S. 92. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd.
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das Kunstobjekt in der Schauspielkunst eine unhintergehbare Einheit bilden, ist es dem Schauspieler unmöglich, eine ausreichend reflexive Perspektive zu seiner eigenen künstlerischen Praxis zu erlangen. Ebenso wie Diderot über das Auge schreibt, dass es sich beim Sehen nicht selbst beobachten könne,82 wird der Vorschlag zu einer Theaterschule an die Unfähigkeit des Schauspielers zurückgebunden, sich selbst auf der Bühne beobachten zu können. Zwangsläufig ist er also auf eine Zuschauerperspektive angewiesen : »Allein der Schauspieler, der sich auf der Bühne weder selbst sehen noch beurtheilen kann, ist gar leichtlich der Gefahr ausgesetzt, auf schlimme Angewohnheiten zu verfallen, und braucht also nothwendig jemanden, der über ihn mit Strenge wache und ihn davor hüte«83. Doch nicht allein an der »Meinung des Publikums«84 solle sich der Schauspieler orientieren, da es »vorübergehenden Irrthümern oder Anfällen von Eigensinn«85 ausgeliefert sein könne. Viele Theaterreformer begründeten ihre Forderung nach Theaterschulen damit, dass die künstlerische und moralpädagogische Wirkung, die sie mit dem Theater und der Schauspielkunst verbunden sahen, erst dann realisiert werden könne, wenn die Grundlagen der Schauspielkunst wissenschaftlich erschlossen und Schauspieler wissenschaftlich gebildet seien. Die Reinigung der Leidenschaften, die Besserung der Charakter und Sitten sollen die Endzwecke des Schauspiels seyn ; wie aber können sie erreicht werden, wenn der Schauspieler von dem ganzen Umfange der Leidenschaften, Charakters u.s.w. keinen Begriff, kein richtiges Gefühl hat, und beyde in Fetzen zereißt ?86
Der Göttinger Dichter, Publizist und Herausgeber der Gothaischen Gelehrten Zeitung Schack Hermann Ewald87 ist der Ansicht, dass die meisten Schauspieler keine »philosophischen Menschenbeobachter«88 seien und ihre Kunst durch diese »Unwissenheit«89 zum »Handwerk«90 herabsinke. Ihre Studien bestünden in der Regel im Auswendiglernen der Rollen. Die etlichen Bücher, die zur Schauspielkunst geschrieben wurden, enthielten zwar 82 Vgl. Diderot, Denis (1968) : Brief über die Taubstummen. S. 73. Vgl. auch Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée, Tome IV. S. 198 : « Mais il en est de l’esprit, comme de l’œil ; il ne se voit pas. » 83 [Anonym] (1775) : Vorschlag zu einer Theaterschule. S. 92. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 [Ewald, Schack Hermann] (1777) : Ueber Empfindung, Leidenschaften, Charaktere und Sitten, ein philosophischer Versuch für Schauspieler. In : Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften, Bd. 2. S. 195–230. S. 198. 87 Vgl. hierzu Schröpfer, Horst (2015) : Schack Hermann Ewald (1745–1822). Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha. Köln, Weimar und Wien : Böhlau. 88 [Ewald, Schack Hermann] (1777) : Ueber Empfindung, Leidenschaften, Charaktere und Sitten, ein philosophischer Versuch für Schauspieler. S. 197. 89 Ebd. 90 Ebd.
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»allgemeine Regeln«91 zur Deklamation, aber keines kläre die angehenden Schauspieler über »das Wesen der Empfindungen, Leidenschaften und Charaktere«92 auf. Daher wünsche er sich ein »Institut«93, das den »Anfängern einen ordentlichen gründlichen Unterricht«94 in der »Wissenschaft der Schauspielkunst«95 erteilen könne. Man hat schon geraume Zeit her angefangen zur Beförderung der schönen Künste Akademien zu errichten ; alle schönen Künste, Maler- Bildhauer- Kupferstecher- Ton- und Tanzkunst u.s.w. haben ihre Pflanzschulen. Nur die Schauspielkunst entbehrt noch zur Zeit allein dieses Vortheils, sie, die in Ansehung des Umfangs und des Lehrreichen, alle ihre andern Schwestern übertrifft, und der die Malerey- Ton- und Baukunst ihre Reitze leihen müssen.96
Mit Verweis auf Dorats und Prévilles École de Déclamation, auf Wolframs schauspielpädagogische Unternehmungen in Hildburghausen und die »Theaterschule«97 des Schauspielers Gottlieb Friedrich Lorenz in Mannheim hebt der österreichische Schauspieler und Journalist Johann Friedel98 hervor, dass die Idee einer Schauspielschule keineswegs neu sei und bereits praktisch umgesetzt wurde. Im Theater-Journal für Deutschland unterbreitet er selbst einen Vorschlag zu einer solchen Schule für angehende Schauspieler und bezeichnet sie in Anlehnung an die von Basedow eingereichte Reformschule in Dessau als »Schauspielerphilanthropin«99. Es solle aber »nicht von einem Basedow entworfen, oder von einem seiner Antielementaristen«100 eingerichtet werden. Der »Plan«101, den er vorlege, sei kein »Elementarwerk«102, das er wie »Pestbeulen«103 scheue, »weil jeder, der Dessau und Basedow, oder Heidesheim und Bahrdt gesehen hat, glaubt im Stande zu seyn, 91 Ebd. 92 Ebd. S. 198. 93 Ebd. S. 200. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. S. 199. 97 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtzehntes Stück. S. 21. – Vgl. hierzu Kap. 2. 2 : »Über Anmut und Würde« – Der Mannheimer Theaterausschuss unter der Leitung des Reichsfreiherrn Heribert von Dalberg. 98 Vgl. hierzu Gugitz, Gustav (1905) : Johann Friedel. Ein literarisches Porträt aus der josephinischen Aufklärungszeit. In : Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, Bd. 15. S. 186–250. 99 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Siebzehntes Stück. S. 15–27. S. 22. Vgl. auch Friedel, Johann (1784) : Philanthropin für Schauspieler. In : Johann Friedels gesammelte kleine gedruckte und undgedruckte Schriften. [Ohne Ort : ohne Verlag]. S. 147–173. S. 154. 100 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 18. 101 Ebd. S. 25. 102 Ebd. 103 Ebd.
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Elementarwerke fur die ganze Christenheit liefern zu können.«104 Auch wenn dies derzeit »Mode«105 sei, wolle er das Heer der pädagogischen »Stümper«106 nicht vergrößern. Die Notwendigkeit eines Philanthropins für Schauspieler begründet Friedel damit, dass »die wenigsten Schauspieler in ihrer Jugend eine Erziehung genossen, die sie in der Folgezeit ihrer größern Ausbildung fühlen machte, wie nöthig die Moralität jeder Handlung alle Schritte seines Lebens vorzüglich bezeichnen müsse.«107 Er vermutet, dass das Theater die »so sehr ausposaunte Schule der Sitten noch nicht«108 sei, weil »moralische Kenntniß der Pflichten unter dem großen Haufen der Schauspieler eben so selten«109 zu finden sei. Solange die Schauspieler aber durch ihr eigenes Verhalten sich nicht als Lobredner der Tugend und Lehrer der Sitten ausweisen, solange sie in ihrem »Häußlichen Muster«110 nicht den dargestellten Sitten entsprechen, könne das Theater nicht moralisierend wirken. »Man bessere ihre Herzen selbst, und dann werden sie auch andre bessern.«111 Die »[f]rühe Bildung des Schauspielers« sei, so Friedel, der alleinige Weg, »der zur wahren Verbesserung der Sitten von dieser Seite«112 führe. Ein angehender Schauspieler solle hierfür zunächst eine gewöhnliche Schule durchlaufen, um im allgemeinen und vorläufigen Unterricht, der sich auf »alle Stände«113 beziehe, alle zum »gemeinen Leben«114 erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erlangen. Er könne dann »lesen, schreiben, kennt die Pflichten der Religion, und liebt sie ; hat einen vorläufigen Begriff – ohngefähr nach den Schulbüchern der österreichischen Normalschulen – von der Moral, der Geographie, Historie, und dem reinen Stile erlangt.«115 Solche Schüler, die dann eine besondere Begabung für das Theater aufweisen, könne man dann auf dem Schauspielerphilanthropin weiter ausbilden. Eine Möglichkeit, die für den Schauspielerberuf begabten Schüler zu entdecken, sei das Schultheater : Durch die, in so manchen Schulen üblichen Kinderkomödien, welche ich wünschte, daß sie statt so vieler anderer weniger nutzbaren Unterhaltungen allgemeiner würden – könnte von dem geschickten Lehrer das zum Theater verborgen liegende Talent frühzeitig genug entdeckt, und sodann benutzt werden.116 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. S. 20. 108 Ebd. S. 17. 109 Ebd. S. 18. 110 Ebd. S. 19. 111 Ebd. 112 Ebd. S. 21. 113 Ebd. 114 Ebd. S. 26. 115 Ebd. 116 Ebd. S. 22.
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Im Anschluss an den »allgemeinen Unterricht«117 folge die besondere »Theaterbildung«118 im Schauspielerphilanthropin. Sie ziele darauf ab, den Schüler mit den Gegenständen bekannt zu machen, die die Schauspielkunst ausmachen. Auf dem Lehrplan119 stehe daher zuerst die allgemeine Geschichte der Literatur und des Theaters sowie insbesondere die deutsche Literatur- und Theatergeschichte im europäischen Vergleich. Als Lektüregrundlage für diesen Unterricht empfiehlt Friedel »Bodmers Kritische Dichtkunst«120, deren »Lücken«121 der Lehrer mit Vorträgen ergänzen könne, die sich auf die Schriften von »[Charles] Rollin, [Henry] Home, [Gotthold Ephraim] Lessing, [Karl Wilhelm] Ramler«122 beziehen. Dieser Unterricht solle, so Friedel, mit der Lektüre von Dramen unterstützt werden. Trotz seiner Abneigung gegenüber Basedow und seinem Elementarwerk hebt Friedel hervor, dass diese Lektüre möglichst wie am Dessauer Philanthropin geschehen solle : Man lese aber diese Produkten [sic !] des Geschmacks genau nach der Vorschrift, welche die Dessauischen Lehrer beobachten, um nicht blos die Worte den Schülern faßlich zu machen, sondern zugleich sie mit dem wahren Geist, und der Energie der Schriftsteller bekannt zu machen.123
Friedel betont, dass es bei dieser Lektüre nicht allein darum gehe, die Schüler mit den Autoren und ihren Werken bekannt zu machen, ihnen ein Sinn entnehmendes Lesen beizubringen, sondern sie zum »wahren Geschmack«124 zu führen. Da dies für Friedel bedeutet, dass der künftige Schauspieler nicht nur treffliche Stücke kennen und erkennen, 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ein vergleichbarer Entwurf eines möglichen Lehr- und Studienplans für angehende Schauspieler lässt sich auch im Tagebuch der Mainzer Schaubühne finden. Hier heißt es im ersten Stück aus dem Jahr 1788 : »Nach meinem Dafürhalten müßte doch jeder Schauspieler über Sprach und Stil, Aesthetik, Mimik und Seelenlehre einen populären Unterricht genießen, der Umgang mit der feineren Welt würde seine Bildung vollenden, seinen Ideenkreis erweitern, sein Gefühl verfeinern, und ihm die Gewandheit und Grazie in Bewegung und Manieren geben, die sich nicht vor dem Spiegel lernt. Aber wo ist diese Schule der Schauspieler«. – [Anonym] (1788) : Ein Wort über das Theaterwesen in Deutschland. In : Tagebuch der Mainzer Schaubühne, 1. Stück. S. 5–9. S. 8. 120 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 26. – Friedel meint vermutlich Johann Jakob Breitingers Critische Dichtkunst (1740), denn Johann Jakob Bodmer schrieb im gleichen Jahr zwar eine Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740) und ein Jahr später die Kritische Betrachtung über die poetischen Gemälde der Dichter (1741), aber keine ›Kritische Dichtkunst‹. 121 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 26. 122 Ebd. 123 Ebd. S. 27. – Im Philanthropischen Archiv heißt es zur Lektürepraxis : »Unter Leseübungen aber verstehen wir nicht bloß die Erwerbung der mechanischen Fertigkeit in der Silben-Aussprache, sondern auch in dem verständigen, geschickten und nützlichen Lesen zweckmäßig geschriebener Bücher« ([Anonym] 1776 : 107 f.). 124 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. S. 16.
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sondern auch weniger treffliche »verbessern können«125 solle, fordert er, den Unterricht mit dem Abfassen von »Aufsätzen und eigenen Ausarbeitungen«126 zu verknüpfen. Ferner solle man die angehenden Schauspieler dazu befähigen, die dramatischen Texte »nach allen Verfliessungen der Leidenschaften«127 deklamieren zu können. Diese »Hermeneutik«128, nach bestimmten Grundsätzen den richtigen Sinn und Ton der Rede zu fassen, erfordere es, sich mit der »Lehre der Leidenschaften«129 zu befassen – aber ohne sich in »philosophischen Spitzfündigkeiten«130 zu verlieren, sondern mit einem Bezug auf »praktische Erfahrungen«131 : Der Schauspieler bedarf der Lehre der Leidenschaften eben so wohl als der Historienmahler ; denn beyde unterscheiden sich blos dadurch, daß der Mahler seine Empfindungen auf seine Helden überträgt, der Schauspieler aber sie selbst ausdrückt. So wenig nur der Historienmahler nöthig hat, nach den Sophismen der Philosophie von den Leidenschaften schwatzen zu können, so wenig hat es der Schauspieler nöthig, wenn er nur durch richtige Grundsätze, die auf Erfahrung gebaut sind, geleitet wird.132
125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. S 17. – Lesedidaktische Anregungen zu einer solchen Hermeneutik lassen sich bei Dreßler und Löwen finden : »Der Sänger muß lesen, schreiben, die Vocalen, die doppelten und die einfachen Mitlauter gut aussprechen können. Wenn ich Lesen von ihm verlange, so verstehe ich nicht das Lesen, wie Kinder anfangen zu buchstabiren, und lesen lernen, und können ; durch Lesen, verstehe ich hier, den Sinn der Worte, den ganzen Verstand der Rede, verstehen, fühlen, empfinden ; um den Vortrag, jeder Leidenschaft gemäß, natürlich werden zu lassen« (Dreßler 1777 : 91). In der Ausgabe vom 15. April 1780 der Litteratur- und Theater-Zeitung heißt es, dass die Schauspielkunst unter den vielen, kleinen Schauspielertruppen leide, deren Mitglieder »oft nicht reden, nicht lesen, nicht schreiben können« ([Anonym] 1780 : S. 243). An der Art und Weise, wie ein Schauspieler seinen Text vorlese, so Dreßler, könne man erkennen, ob er ihn verstanden habe : »Man lasse den Sänger, wenn er Acteur seyn will, nur lesen, seine Rolle declamiren, so wird man gleich wissen, ob er Einsicht, Stärke oder Schwäche habe.« (Dreßler 1777 : 91). Dem Schauspieler müssen, so Löwen, die Haupt- und Nebenumstände der Handlung bewusst sein und er müsse wissen, wie »die Menschen in diesen oder jenen Umständen zu handeln pflegen« (Löwen 1755 : 15), um sich das Geschehen vor Augen führen zu können. Um zu vermeiden, dass auf der Bühne bloß Auswendiggelerntes herdeklamiert werde, rät Löwen dazu, dramatische Texte durch ein inhaltsbezogenes, lautes und betontes Vorlesen zu erschließen. Wichtig sei hierbei, auf die korrekte Akzentsetzung zu achten, Verse nicht zu »scandiren« (Löwen 1755 : 20) und zu »Klapperwerk« (Löwen 1755 : 22) werden zu lassen, sondern wie Prosa vorzutragen, »Macht-Wörter« (Löwen 1755 : 22) zu identifizieren und entsprechend zu betonen. 130 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. S. 17. 131 Ebd. 132 Ebd.
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Um den sichtbaren Ausdruck der Leidenschaften charakterisieren zu können, erachtet Friedel auch das Zeichnen als hilfreich. Aber weniger die »wirkliche Praxis«133 als vielmehr die »Grundsätze der Zeichenkunst«134 und die »Theorie des Historienmahlens«135 in Verbindung mit dem »Studium der Phisiognomie [sic !]«136 und der »Annalisirung [sic !] der besten Kunststücke dieser Art«137 trüge dazu bei, die verschiedenen Ausdrücke der Leidenschaften zu studieren. Unentbehrlich sei in diesem Zusammenhang auch die »gründliche Kenntniß des Menschen«138 sowie die »Zergliederung des menschlichen Körpers – zurückgeführt auf die verschiedenen Wirkungen der einzelnen Theile auf den Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften«139. Ebenso wenig wie der Schauspieler Maler seien müsse, verlangt Friedel von ihm, auch nicht ein musikalischer »Virtuos«140 zu sein. »Aber durch eine richtige Theorie derselben, wird das Fallen und Steigen seiner Stimme, die verschiedenen Modulationen, die Kadanz, die Pause, oder den Fortschritt derselben richtiger und bestimmter.«141 Nicht Gesang, sondern die »Harmonie der Rede«142 solle man ihm lehren. Und um zu einem Verständnis zu gelangen, wie das Kostüm an der theatralischen Täuschung mitwirke, müsse sich der angehende Schauspieler auch mit dem »Studium der Nationen, ihrer Sitten, ihrer Gebräuche, so wie ihrer Geschichte überhaupt«143 befassen. Diese »scientistischen«144 oder theoretischen Gegenstände müssten durch die Übung der »mechanische[n] Geschicklichkeit des Schauspielers«145 ergänzt werden. Hierfür nennt Friedel die »Tanzkunst«146, die »Pantomime«147 sowie die »Lehre der Mienen«148. Kritisch würdigend erwähnt Friedel die »Kinderentreprise in Wien«149 des Schauspielers Johann Heinrich Friedrich Müller. Müller hatte das Theater in der Nähe des Kärntnertors bezogen, an dem er Kinder zu Schauspielern ausbildete. Lobenswert sei die »Müllersche Unternehmung«150, so Friedel, da Müller begriffen habe, dass es eines solchen 133 Ebd. S. 18. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd. S. 17. 139 Ebd. 140 Ebd. S. 19. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd. S. 17. 145 Ebd. 146 Ebd. S. 18. 147 Ebd. 148 Ebd. 149 Ebd. S. 21. 150 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. S. 23.
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Instituts bedürfe. Kritisch merkt Friedel jedoch an, dass hier lediglich der ›mechanische‹, der körpertechnische Teil der Schauspielkunst gelehrt, der intellektuelle, wissenschaftliche Teil aber vernachlässigt werde. Da auch Ärzte nicht bloß durch Krankenbesuche ihre Ausbildung erhalten, sondern sich zuvor Kenntnisse verschiedener Heilungsarten und die mit ihnen verbundenen Wissenschaften aneignen, gelte grundsätzlich auch für die Ausbildung von Schauspielern der Satz : In »jeder Wissenschaft, in jeder Kunst, wollt ihr brauchbare Männer bilden – trennt Theorie und Praxis nie !«151 Nur wenn theoretischer und praktischer Unterricht am Schauspielerphilanthropin verbunden sein, die Schauspielkunst nicht bloß als »Handwerk«152 betrachtet werde und die Kinder nicht zu »Marionetten«153 erzogen, sondern ihnen die »Pfade der Wissenschaften«154 gezeigt würden, dann könne diese Schule ihren Zweck erfüllen. Der »Zögling, der in diesem Philanthropin gezogen wird, ist dann der Mann, der dem Staat, auch in jedem andern Stande nützlich seyn kann und wird, nützlich durch Kenntniß und Rechtschaffenheit«155. Als möglichen Standort eines solchen Philanthropins nennt Friedel die Städte Wien, Hamburg und Berlin.156 Während in Wien und Hamburg bereits bescheidene Versuche unternommen wurden, Theaterschulen einzurichten, verfügte Berlin bisher über keine vergleichbare Einrichtung, wie Carl Martin Plümicke in seinem Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin konstatiert : Noch immer giebts kein deutsches Theater, durch dessen Sorgfalt man eine wohl eingerichtete Erziehungsanstalt oder Pflanzschule für die Kunst, imgleichen eine auf solide Grundsätzen errichtete Akademie, zu Ausbildung der Künstler, aufweisen könnte. Was hiervon bisher vorhanden war, blieb nur der Schatten des Wesens.157
Und in einer Fußnote ergänzt Plümicke, der zeitweise in Carl Theophil Doebbelins Theatertruppe als Dramaturg beschäftigt war,158 dass das »Müllersche Institut zu Wien«159 das einzige sei, »welches hier ganz vorzüglich erwähnt zu werden verdient.«160 Für Berlin
151 152 153 154 155 156 157
Ebd. S. 25. Ebd. S. 26. Ebd. S. 25. Ebd. S. 26. Ebd. S. 24. Vgl. ebd. S. 22. Plümicke, Carl Martin (1781) : Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin, nebst allgemeinen Bemerkungen über den Geschmack, hiesige Theaterschriftsteller und Behandlung der Kunst, in den verschiedenen Epochen. Berlin und Stettin : Friedrich Nicolai. S. 215. 158 Vgl. Meier, Albert (2010) : Plümi(c)ke, Carl (Carl) Martin, Dramaturg, Schriftsteller. In : Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 : Pagenstecher – Püterich. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin : Duncker und Humblot. S. 551–552. 159 Plümicke, Carl Martin (1781) : Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin. S. 215. 160 Ebd.
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wünsche er sich ein »Erziehungsinstitut«161, in dem gründlicher Unterricht »in der Theorie, mit der Anweisung zu allen für den theatralischen Künstler erforderlichen Nebenwissenschaften vereinigt«162, erteilt werde. Aber wo, fragt Plümicke, sind nach Ekhofs Ableben die geeigneten deutschen Schauspieler geblieben, die wie ihre französischen oder englischen Kollegen – wie Sarrazin, Baron, Quinault oder Garrick –, »Erfahrung und Talent bei hinreichender Theorie besitzen, um sich […] durch Ausbildung und Unterricht aufkeimender Talente […] nützlich zu zeigen ?«163 Neben der Frage, wo und was unterrichtet werden solle, befasst sich Friedel mit der Frage, wer den Schauspielern Unterricht erteilen beziehungsweise nicht erteilen solle. Wissenschaftliche Gelehrte gebe es viele, aber »Leute, die ihre Zöglinge die menschliche Natur in ihren geheimsten Gängen studiren, und für sich kopiren lehren sollen«164, seien rar und über ganz Deutschland verteilt. Wünschenswert wäre es, wenn die Lehrer am Schauspielerphilanthropin selbst Schauspieler seien, doch die besten Künstler seien eben nicht immer auch die besten Lehrer. Friedel zweifelt zudem, ob Schauspieler oder pensionierte Schauspieler in der Lage seien, die geforderte »theoretische Erziehung der Philantropisten«165 zu leisten. Während Friedel eine endgültige Antwort auf die Frage, wer am Schauspielerphilanthropin unterrichten solle, offenlässt und lediglich ein Stellenprofil entwirft, kommt Rahbek zu dem Schluss, dass es viele Vorteile habe, wenn Dramaturgen diese Unterweisung vornähmen. Gute Schauspieler, die als Vorbild und »Instructeur«166 dienen und unterrichten können, die viel Bühnenerfahrung und richtige Begriffe von ihrer Kunst haben, gäbe es nur sehr wenige : »Man sieht leicht, daß ein Garrik, ein Ekhof, ein Moliere erfordert wird, ein solcher Instructeur zu seyn«167. Aber egal wie gut ein Schauspieler als Vorbild oder Instrukteur auch agiere, er habe stets damit zu rechnen, bloß »nachäffende Maschinen statt selbstdenkender Schauspieler«168 auszubilden. Denn geistlose Schauspieler, so Rahbek, ahmen oft »die Art zu reden«169, die »gewöhnlichen Stellungen und Gebärden«170 ihrer Lehrer nach, andere kopieren die »Manier«171, wie ihre Vorbilder eine bestimmte Rolle zu spielen pflegen oder integrieren einzelne Züge von ihnen in ihr eigenes Spiel. Ein »Dramaturg«172 sei diesem Problem nicht ausgesetzt, da er selbst nicht 161 Ebd. S. 216. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 24. 165 Ebd. 166 Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. 88. 167 Ebd. S. 89. 168 Ebd. S. 95. 169 Ebd. S. 96 170 Ebd. 171 Ebd. S. 98. 172 Ebd. S. 99.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
schauspielerisch tätig sei und nicht nachgeäfft werden könne. Gleichwohl könne er den Schauspielern behilflich sein, Rollen, Charaktere und dramatische Text zu verstehen, damit sie ihre eigenen schauspielerischen Interpretationen erarbeiten. Plümicke macht einen konkreten Vorschlag und schreibt, dass falls ein »Erziehungsinstitut für junge Schauspieler und Schauspielerinnen«173 gegründet werden sollte, er sich dann eine Schauspielerin wie Johanna Christiane Starke wünsche, die »dem Institut für Künstlerinnen vorgesetzt«174 sei, da sie neben umfangreicher theoretischer Kenntnisse eine »besondre sehr glückliche Gabe der Mittheilung«175 besitze, die zum »Unterricht schlechterdings erforderlich«176 sei. Der in Magdeburg geborene und in der Schweiz heimisch gewordene Schriftsteller und Pädagoge Heinrich Zschokke177 ist der Ansicht, dass es eine »traurige Ausnahme«178 sei, dass die Schauspielkunst noch nicht wie die Poesie, Malerei, Bildhauerei oder Baukunst als ehrwürdig und »Nationalzierde«179 erachtet werde, ihre Künstler noch nicht von Hohen und Niederen geschätzt und ihre Werke keineswegs von allen Ständen mit Entzücken rezipiert werden. Dies habe mit den »Sitten der Schauspieler«180 und Vorurteilen ihnen gegenüber zu tun : Mag sich die Bühne noch so sehr durch artistische Vollkommenheiten empfehlen, der Einfluß derselben auf das gemeine Wesen wird jedesmahl durch mehr moralische Unvollkommenheiten der Schauspieler verdrängt werden. Diese sind Lehrer des Volks und – der ärgste Auswurf desselben !181
Zschokke, der selbst als Theaterdichter Mitglied einer Theatertruppe gewesen ist, glaubt, dass sich hieran nichts ändere, solange Schauspieler wie Handwerker oder Tagelöhner bloß für ihr »täglich Brod«182 und nicht für »Ehre«183 und »Einfluß auf Sitten und Ge schmack«184 arbeiten würden. Um die Sittlichkeit der Schauspieler zu verbessern, könn-
173 Plümicke, Carl Martin (1781) : Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin. S. 386. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Vgl. hierzu Ort, Werner (2013) : Heinrich Zschokke 1771–1848. Eine Biographie. Baden : Hier und Jetzt Verlag. 178 Zschocke, Heinrich (1791) : Aphorismen : über relative Schönheit ; Moral für Schauspieler, Akademie des Schauspiels. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1791. S. 52–62. S. 55. 179 Ebd. 180 Ebd. S. 56. 181 Ebd. 182 Ebd. S. 57. 183 Ebd. 184 Ebd.
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ten eine schriftlich abgefasste »Moral für Schauspieler und Schauspielerinnen«185 sowie die »Errichtung einer Akademie des Schauspiels«186 hilfreich sein. Da vielen Schauspielern der Zweck des Theaters nicht bewusst sei – viele glaubten, er bestünde in der »täuschenden Nachahmung der Natur«187, andere glaubten, es ginge um die »Belustigung des Publikums«188 –, müsse der Verfasser einer Moral für Schauspieler »erst über den Adel, die Würde und Endabsichten der Kunst«189 schreiben und dann zu den »Gedanken über die Sittlichkeit des Schauspielers und des Schauspiels«190 übergehen. Er könne dann über das »Privatleben der Schauspieler im Detail«191, ihre »Verhältnisse mit andern Bürgern des Staats«192 schreiben, »den Ursprung der vermischten, sehr oft äußerst seltsamen Karaktere beim Theater«193 schildern sowie über »Theaterkabale, Rollenneid, Koketterie der Aktrizen, gesetzwidriges ehliches Leben, Selbstsucht, Theaterstolz, Renomisterei, Betrügereien«194 sowie die »Nachlässigkeit im Anzuge«195 sprechen. Die Gründe dafür, dass die Schauspielkunst in Deutschland nur wenig ausgebildet sei, lägen zum einen darin, dass Schauspieler »ohne Theorie des Wahren, Schönen und Anständigen, nur durch vieljährige Praxis, sich zu vervollkommnern suchen. Ihre Kunst besteht größtentheils in, durch manche Uebung empfangnen Mechanism, ohne Wissenschaft.«196 Zum anderen sei die »die Kunst nicht Sache des Staats, sondern nur unternehmender Privatpersonen […]. Daher kommt es, daß dieselbe so vielen Misbräuchen und Mishandlungen ausgesetzt ist«197. Zschokke empfiehlt daher die Einrichtung einer Schauspielakademie, an der unter dem »Schutze eines Fürsten«198 eine gelehrte Gesellschaft von Dichtern, Dramaturgen und berühmten Schauspielern vereint werde, um einen »Plan zur wissenschaftlichen Veredlung der Schauspielkunst«199 auszuarbeiten und dem Fürsten zur »Approbation«200 vorzulegen. Sollte die Akademie nicht aus einem eigenen Fond subventioniert werden, brauche sie eine eigene Bühne, auf der öffentliche Vorstellungen gegeben werden könnten. Die in die »Pflanzschule«201 zur Ausbildung auf185 Ebd. 186 Ebd. S. 60. 187 Ebd. S. 58. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Ebd. 196 Ebd. S. 59. 197 Ebd. 198 Ebd. S. 60. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Ebd. S. 61.
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genommenen Schauspieler sollen keine willkürlichen, sondern »klassenweis, nach ihren Fähigkeiten«202 bemessene Gagen erhalten. Obwohl »so viel über Schauspieler-Schulen und Akademien gesagt, geschrieben, abgehandelt, detaillirt, und entworfen worden«203 sei, beklagt sich der Dramenschriftsteller Andreas Joseph von Guttenberg, habe »unter so viel großen und erhabenen Fürsten Deutschlands noch keiner mit dieser, für das allgemeine Wohl eines Staats so nützlichen und wohlthätigen Einrichtung«204 einen Anfang gemacht. Dieser Mangel sorge dafür, dass »nur zu oft Schauspieler aus Friseurs, und Musketiers« werden, »so wie einst Päbste aus Sauhirten wurden.«205 Da es nun solche Schulen nicht gäbe, bestünde die Alternative darin, »ein weises theatralisches Gesetzbuch«206 abzufassen, das verbindliche Regeln für Schauspieler beinhalte. Solche Theatergesetze, die im Sinne einer sozialen und ästhetischen Disziplinierung die Probenabläufe regeln, Richtlinien für das Bühnenspiel enthalten, den Schauspielern auch jenseits der Bühne ein sittliches und anständiges Verhalten vorschreiben und bei Zuwiderhandeln mit Bußgeldern und anderen Strafen drohen, waren bereits im Vorfeld an verschiedenen Theatern wie in Neuwied207, Wien208, Hamburg209, Riga210, Mannheim211, Prag212 und Mainz213 eine gängige Praxis.214 Die Theater
202 Ebd. 203 Guttenberg, A[ndreas] J[oseph] von (1800) : Fortsetzung des im ersten Heft angefangenen Fragments [Betrachtung, über den vormaligen und gegenwärtigen Zustand des kurfürstl. Hoftheaters zu München]. In : Münchener Theater-Journal. Eine Wochenschrift, Zweites Heft. S. 59– 69. S. 60. 204 Ebd. 205 Ebd. 206 Ebd. S. 61. 207 Vgl. Buri, [Ernst C. von] & Gryß, [Christian Carl] (1778) : Regeln für die Hochgräflich WiedNeuwiedischen Hof-Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Achtes Stück. S. 42–46. 208 Vgl. [Anonym] (1780) : Vorschriften und Gesetze, nach welchen sich die Mitglieder des K. K. National-Hoftheaters zu halten haben. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1780. S. 29–46. 209 Vgl. [Anonym] (1781) : Hamburger Theatergesetze. In : Litteratur- und Theater-Zeitung, Vierter Jahrgang, erster Theil, Nr. VIII [24. Februar 1781]. S. 116–118. Vgl. auch [Anonym] (1782) : Hamburgische Theatergesetze. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1782. S. 41–43. 210 Vgl. [Anonym] (1783) : Rigaische Theater-Gesetze. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1783. S. 279– 283. 211 Vgl. [Anonym] (1784) : Gesetze des Ausschusses der Nationalbühne zu Mannheim. In : TheaterKalender auf das Jahr 1784. S. 27–29. 212 Vgl. [Anonym] (1786) : Theater-Reglement der deutschen Schauspieler Gesellschaft unter der Impressa des Pasqual Bondini in Prag. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1786. S. 41–48. 213 Koch [Eckhard, Siegfried] (1791) : Gesetze des Mainzer Nationaltheaters. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1791. S. 41–52. 214 Vgl. hierzu Belitska-Scholtz, Hedvig & Ulrich, Paul S. (2008) : Theatre Laws and Company Regulations. Unusual Sources about Actors, Stage Managers, Prompters and Librarians in Areas where German-language Theatre was Performed in the 19th Century. In : Du document à l’utilisateur. Rôles et responsabilités des centres spécialisés dans les arts du spectacle. Société Internationale des Bibliothèques et Musées des Arts du Spectacle (25e Congrès : Barcelone, 6–10 septembre 2004). Hrsg. von Mathias
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Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft,215 die von den Weimarer Hofschauspielern im Jahr 1793 unterschrieben wurden, waren den Mainzer Theatergesetzen nachempfunden. Zusammen mit den Regeln für Schauspieler, die Peter Eckermann später aus Goethes Theaternotizen herauszog, bilden sie einen strengen Vorschriftenkatalog, der die Schauspieler einer permanenten Sichtbarkeit unterwirft und sie zu dauerhaft öffentlichen Personen macht.216 Guttenbergs Entwurf ist in diesem Sinne noch einmal exemplarisch für die hierbei zu beobachtende Verschränkung von ästhetischer und moralischer Erziehung der Schauspieler. Das erste Gesetz »nähme also auf die strengste Sittlichkeit der Gesellschaft nicht nur auf, sondern auch außer dem Theater Bezug, und jede Sünde gegen Moralität würde ich mit möglichster Härte und gleich das erstemal fühlbar bestrafen.«217 In der Debatte um Theaterschulen meldeten sich auch solche Kritiker zu Worte, die grundsätzlich die Lehrbarkeit der Schauspielkunst bezweifelten. Johann Georg Sulzer, der sich auf John Hills englischsprachige Übersetzung von Sainte-Albines Le Comédien beruft, ist der Ansicht, dass der Schauspieler wie jeder andere Künstler »zu seinem Beruf gebohren seyn«218 müsse. Er könne daher, »wo die Natur nicht das Beste an ihm gethan hat, so wenig, als ein andrer durch Regeln gebildet werden.«219 Sulzer glaubt, beobachtet zu haben, dass Schauspieler, die »am fleißigsten nach diesen Regeln gebildet worden«220 seien, »noch etwas von dem Gepräge der Schule, wo sie die Kunst gelernt haben, an sich«221 hätten, »so wie man gar ofte an einem neuen Kleide noch einige Spuhren des Schneiders entdeckt. Dieses ist für den feinern Geschmack immer anstößig.«222 Sulzer zustimmend schreibt ein anonymer Autor in seinem Beitrag Ueber die Art deutsche Schauspielerinnen zu bilden, dass es irrig wäre, zu glauben, »die Schauspielkunst [könnte] durch Unterricht gelernt werden«223 und »eine angehende Schauspielerinn müsse nothwendig zu einer erfahrnern in die Schule gehen, um eben das zu werden, was
Auclair, Kirsty Davis und Sylvie François. Brüssel : Peter Lang. S. 107–126. Vgl. auch Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 280–296. 215 Vgl. Vohs, Johann Heinrich & Wilms, Carl (1793) : Theater Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft. Zit. nach Linder, Jutta (1990) : Ästhetische Erziehung. S. 136–141. 216 Vgl. hierzu Kap. 2. 4 : »Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben« – Goethes Theaterschule am Weimarer Hoftheater. 217 Guttenberg, A[ndreas] J[oseph] von (1800) : Fortsetzung des im ersten Heft angefangenen Fragments. S. 64. 218 Sulzer, Johann Georg (1774) : Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikel, Zweyter Theil : von K bis Z. Leipzig : M. G. Weidmanns Erben und Reich. S. 1028. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 [Anonym] (1790) : Ueber die Art deutsche Schauspielerinnen zu bilden. In : Annalen des Theaters, sechstes Heft. S. 18–21. S. 18.
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diese ist.«224 Er sei hingegen der Ansicht, dass sich der Unterricht in der Regel darauf beschränke, dass der angehenden Schauspielerin die zu spielende Rolle bloß vorgesagt werde, was dazu führe, dass »die natürlichen Töne der jungen Schauspielerinnen, so wie ihr natürliches Gefühl«225 verdorben und ihnen »statt dessen künstliche Sprache und künstliches Gefühl«226 eingepflanzt werden. Denn es sei unmöglich, durch »raisoniren«227 Leidenschaften fühlbar zu machen. Gleichwohl will der Autor damit aber nicht jeglichen Unterricht verbannen. Unterricht, der den Zweck hat, die Urtheilskraft und den Witz der jungen Schauspielerinn zu schärfen, sie die Nüanzen eines Karakters bemerken zu machen, ihr die Verschiedenheit des Ausdrucks einer Leidenschaft, dessen was Erziehung, Temperament, Gewohnheit u.s.w. beiträgt, daß sie bei diesem Karakter so und nicht anders seyn müsse ; – dieser Unterricht kann eine angehende Schauspielerinn von Talent zur Künstlerinn bilden.228
Einige Kritiker seien, konstatiert Plümicke, von »Erziehungsinstitute[n]«229 für Schauspieler nicht überzeugt, da »ihnen der Nutzen nur wenig einleuchtend scheint, der daraus für eine Kunst entsteht, die, so wie die Tugend, nicht gelernt, sondern geübt seyn will.«230 Plümicke glaubt aber, dass viele »verborgene Talente, aus Mangel an Unterstützung, ganz unentwickelt«231 bleiben würden und Schauspieler ihren Kindern keine angemessene Erziehung zuteilwerden lassen könnten, wenn keine Schauspielerschulen eingerichtet würden. Den genieästhetischen Vorbehalten gegen eine Schauspielerschule sowie der Ansicht, Kinder seien besser erzogen worden, bevor es eine »Erziehungskunst«232 gegeben habe, hält ein anonymer Autor entgegen, dass die Schauspielkunst nicht »auf der genialischen Höhe« stehe, »daß wir fürchten müßten, sie durch Empfehlungen eines gründlichen, vollständigen Studiums, durch Aufstellung einer haltbaren Theorie derselben, herabzuziehen und zu verderben«233. Der Autor ist vielmehr der Ansicht, dass Zwang und Willkür im Handeln durch verständige Zweckmäßigkeit und Besonnenheit abgelöst werden würde, wenn der Künstler
224 Ebd. 225 Ebd. S. 19. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd. S. 20. 229 Plümicke, Carl Martin (1781) : Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin. S. 216. 230 Ebd. 231 Ebd. 232 [Anonym] (1803) : Die Schauspielerschule. In : Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten, Bd. 2 (September) S. 242–248. S. 242. 233 Ebd. S. 244.
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über den ganzen Zweck und Umfang seines Treibens nachdenkt, sich darin gründlich unterrichten läßt, und sich die Regeln seines Handelns so aneignet, daß er sie ungezwungen, mit Fertigkeit und Leichtigkeit, an gehörigem Orte, unterstützt von einer guten und schönen Natur, anwenden234
könne. Mit einer regelmäßigen Ausbildung von Schauspielern sei außerdem »die Würde der Kunst, ihr Einfluß auf die allgemeine Geschmacksbildung und die Ehre des Schauspielerstandes«235 verbunden. In der von Ignaz Aurelius Feßler und J. K. C. Fischer herausgegebenen Zeitschrift Eunomia legt der Autor daher eine »Skizze des Plans zu einer Schauspielerschule oder Akademie«236 vor. Als Voraussetzungen für den Besuch einer Schauspielerakademie werden hier zum einen physische und psychische Eigenschaften genannt – wie eine »angenehme Gestalt, eine feste Brust, viel Gedächtniß, eine feurige Einbildungskraft und schnelle Fassungskraft«237 –, zum anderen solle der angehende Schauspieler zuvor an einem regulären Gymnasium oder einer gelehrten Schule so studiert haben, als würde er im Anschluss eine Universität besuchen wollen. Er »erlerne, neben dem grammatischen Studium der klassischen Sprachen des Alterthums, vorzüglich die neueren Sprachen der dichterisch gebildeten Völker, der Franzosen, Italiäner, Spanier und Engländer ; die Muttersprache erlerne er gründlich.«238 An der Schauspielerakademie solle der angehende Schauspieler dann drei aufeinander folgende Klassen durchlaufen. In der ersten Klasse werde neben dem fortzusetzenden Fremdsprachenunterricht das Vortragen »klassischer Stellen aus deutschen Dichtern und Prosaisten«239, das Anfertigen von eigenen »Aufsätzen und Uebersetzungen aller Art, so wie die Erklärung und Entwicklung deutscher Gedichte«240 geübt. Die Schauspieler werden ferner in »Geschichte und Geographie«241 in Hinsicht auf die »Sitten und Gebräuche aller Nationen«242 unterrichtet und werden in einer einfachen und zweckmäßigen »Gesundheitslehre (Diätetik)«243 unterwiesen. Neben »ununterbrochenen Gedächtnißübungen«244 sollen sich die Schauspieler auch im »Tanzen«, »Zeichnen«, »Singen«, »Klavier- oder Violinspielen«245 sowie in der »Gymnastik«246 üben. Die zweite Klasse
234 Ebd. 235 Ebd. S. 245. 236 Ebd. 237 Ebd. 238 Ebd. 239 Ebd. S. 246. 240 Ebd. 241 Ebd. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd.
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setze die »Stylübungen«247 sowie das Einüben der verschiedenen »Kunstfertigkeiten« fort und betreibe praktische Übungen in der »Kunst der Deklamation«248. Die Schüler erhalten Anleitungen zur »Betrachtung der Dichterwerke«249 und eine Einführung in die Musiktheorie. Im historischen Unterricht befasse man sich nun mit »Antiquitäten«250 und Kostümen. Außerdem werden Vorträge über »Anthropologie, Psychologie und Moral für Schauspieler«251 gehalten. Und in der dritten Klasse werde der Lehrplan erweitert um erstens die »Theorie der Deklamation, Action und Mimik«252, die »Geschichte der antiken und modernen dramatischen Kunst«253 und die Lehren der »Poetik und Rhythmik«254 sowie zweitens um eine »Klugsheits- und Rechtslehre für Schauspieler«255 und drittens um eine »Theorie der Kosmetik (Verschönerungskunst im weitesten Sinne)«256. Ferner sollen Stücke, Bühnencharaktere und deren Darstellungen auf dem nächstgelegenen Theater diskutiert und beurteilt werden. Und zu den zu übenden Kunstfertigkeiten trete nunmehr das Fechten. Die Schüler sollen bei den Proben und Aufführungen der anderen Klassen stets zugegen sein. Sie »studiren ausgewählte Stücke ein und führen sie vor dem Publikum auf, und werden nach jeder Vorstellung von den Lehrern und ihren Mitschülern beurtheilt.«257 Die »Erziehung der Schauspielerinnen«258 unterscheide sich von der der männlichen Schüler nur wenig. Von den Fremdsprachen müssten sie nur die französische beherrschen, statt der schriftlichen Aufsätze sollen sie ihre Gedanken in Form von »Briefen u. dgl. vortragen«259, gymnastischer Übungen bedürften sie weniger, »aber dafür einer besonderen Anweisung zur weiblichen Kosmetik.«260 Als Standort der Akademie empfiehlt der Autor die Stadt Berlin und rät überdies eine »vollständige Bibliothek, welche die theatralische Literatur aller Nationen, nebst den besten Uebersetzungen, so wie alle Dramaturgien, Theaterkritiken und Beiträge zur Geschichte der Bühne«261 enthält, den Schülern und Lehrern der Akademie sowie allen anderen Schauspielern zugänglich zu machen.
247 Ebd. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Ebd. 252 Ebd. 253 Ebd. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Ebd. S. 247. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Ebd. S. 248. 260 Ebd. 261 Ebd. S. 248.
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Der Schriftsteller und Schauspieler Carl Nikolaus Anton Heusser verfasste im Jahr 1816 Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler,262 die er als »vade mecum für angehende Schauspieler«263 verstand, und veröffentlichte unter eben diesem Titel knapp zehn Jahre später erneut ein Buch, das eine Bearbeitung und Erweiterung seiner Grundlinien war und im Untertitel versprach, einen Elementar-Unterricht zur Bildung angehender Schauspieler264 geben zu können. Ferner erschien im Jahr 1824 von Heusser ein Encyclopädisches Künstlerlexicon mit besonderer Rücksicht auf Schauspiel-, Ton-, Dicht- und Mahlerkunst.265 In seinen Grundlinien rät Heusser, am »Haupt-Hoftheater jedes Staates eine dramatische Schulanstalt« einzurichten, »welche einzig und allein befugt seyn sollte, junge Leute nach gewissen zu bestimmenden Gesetzen aufzunehmen, bilden zu lassen, und aus ihrer Mitte die Provinzial-Bühnen des Reichs zu besetzen.«266 Doch schon 1827 konstatiert er, dass während in den »Maler- und Bildhauer-Akademien, in Musik und Zeichenschriften das Kunsttalent Bildung und Ermunterung«267 erfahre, der Schauspieler auf systematischen Unterricht zu verzichten habe und »sich selbst überlassen«268 sei. Heussers Bücher haben nicht den Anspruch, systematische Einführungen in die Rede- oder Schauspielkunst zu sein, sondern sollen dem angehenden Schauspieler vielmehr als praktische Nachschlagewerke dienen. Für tiefere Einblicke in die Theorie der Schauspielkunst verweist er die interessierten Leser auf die Werke Engels, Sulzers und seines Schauspielerkollegen Carl Friedrich Solbrig. Die Schauspielkunst erfordere, so Heusser, »geistige Kräfte, körperliche Eigenschaften und eine besondere Kunstbildung«269. Als besondere Voraussetzungen, die ein angehender Schauspieler mitbringen solle, nennt er »eine wohlgeordnete körperliche Bildung«270, »Biegsamkeit und Gewandheit«271 des ganzen Körpers sowie eine bildsame Stimme. Als 262 Vgl. Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. Aschaffenburg : [Daniel] Knode. – Heusser schickte Goethe am 1. Februar 1816 ein Exemplar seines Buches, das Goethe in seiner Bibliothek aufbewahrte (Ruppert 1958 : 375). Ein Engagement am Weimarer Hof, das sich Heuser erhoffte, sprang aber nicht für ihn heraus. 263 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 5. 264 Vgl. Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. Oder : Elementar-Unterricht zur Bildung dramatischer Künstler. Nebst einem Anhange über den gegenwärtigen Verfall der Provinzialbühnen, und deren zu bewirkenden Fortbestand. Hadamar : Gelehrten-Buchandlung. 265 Vgl. Heußer, Carl (1824) : Encyclopädisches Künstlerlexicon mit besonderer Rücksicht auf Schauspiel-, Ton-, Dicht- und Mahlerkunst. Zum Gebrauch angehender Künstler und Kunstfreunde. Hadamar : Gelehrten-Buchandlung. 266 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 14. 267 Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 3. 268 Ebd. 269 Ebd. S. 3 f. 270 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 17. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 19. 271 Ebd. S.18.
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weitere Voraussetzungen nennt er ein glückliches »Gedächtniß, in Verbindung mit Erinnerungs-Vermögen«272, »Einbildungskraft«273 und »Empfindung«274 oder »Gefühl«275, was im Französischen als »Sentiment«276 bezeichnet wird. Bei der »Ausbildung eines Schauspielers«277 unterscheidet Heusser die körperliche, die geistige sowie die besondere schauspielerische Bildung. Zur Körperbildung gehöre für ihn das Tanzen, Fechten und Exerzieren. Die »Haltung des Körpers muß den Elementar-Unterricht der Tanzschule ausmachen, und diese Kenntniß ist dem Schauspieler höchst nothwendig.«278 Zur »Geistesbildung«279 gehöre für ihn »das Studium der Deutschen Sprache.«280 Der muttersprachliche Unterricht solle die angehenden Schauspieler dazu befähigen, »Hochdeutsch«281 dialektfrei sprechen zu können. Ferner zählten auch die »gründliche Erlernung«282 der französischen und italienischen Sprache sowie das »Geschichtsstudium«283 und das Studium der griechischen, römischen und nordischen »Mythologie«284 zum Kanon der geistigen Bildung eines angehenden Schauspielers. Heusser geht des Weiteren davon aus, dass angehende Schauspieler die »untern Schulen durchstudiert«285 haben und somit auch in der lateinischen Sprache und Grammatik bewandert seien. Zusätzlich müssten sie sich nun auch mit der antiken Geschichte und Kultur auseinandersetzen, da sie als Schauspieler »oft Gegenstände und Personen der römischen Geschichte«286 darstellen werden. Auch wenn der Schauspieler nicht zum »Kompositeur«287 oder »Virtuos«288 ausgebildet werden solle, gehöre auch die »Musik«289 zur Geistesbildung, denn ein musikalisches Gehör und Taktsinn seien hilfreich bei der Deklamation von Versen. »Das wichtigste Studium des Schauspielers« bestehe aber 272 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 20. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 11. 273 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 24. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 13. 274 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 25. 275 Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 14. 276 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 25. 277 Ebd. S. 28. 278 Ebd. S. 29. 279 Ebd. S. 30. 280 Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 21. 281 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 31. 282 Ebd. 283 Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 22. Vgl. auch Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 35. 284 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 36. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 23. 285 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 32. 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Ebd.
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in dem des innern und äußern Menschen, oder in der Menschenkenntniß. Eine stete Aufmerksamkeit, angestrengter Beobachtungsgeist und Umgang mit allen bürgerlichen Volksklassen bilden hier das offene Buch, aus welchem der Schauspieler die Originale zu seinen Darstellungen aufsuchen muß290.
Neben der körperlichen und geistigen Bildung zeichne sich die Ausbildung zum Schauspieler dadurch aus, dass er sich als Künstler auch mit den grundsätzlichen Fragen der »Aesthetik«291 zu befassen sowie besondere schauspielerische Studien zu betreiben habe. Diese besonderen »Studien des Schauspielers«292 unterteilt Heusser in die Bereiche der geistigen und der körperlichen Beredsamkeit, der Deklamation293 – der stimmlichen Gestaltung einer dramatischen oder erzählenden Rede – sowie der Gestikulation294 – der Bewegung des Gesichts, des Mundes, der Hände sowie der verschiedenen Stellungen des Körpers. Während Heusser sich in seinen Grundlinien noch damit abmüht, seine Ausführungen mit Verweisen auf Autoritäten wie Sulzer, Lessing oder Engel zu versehen, reduziert er sie in seinem Handbuch aus dem Jahr 1827 auf aphoristische Merksätze und Regeln. Einen weiteren Entwurf legte der Leipziger Privatgelehrte Johann Carl Wötzel vor. »Ich habe mich erboten«, schreibt er, »eine solche Kunstakademie, wodurch z. B. Wien vollends das neue Athen werden würde, zweckdienlich einrichten zu helfen : allein mein Vorschlag ist bis jetzt ohne Erfolg.«295 In seinem Entwurf einer völlig zweckmäßigen Theaterschule greift Wötzel zahlreiche Aspekte bisheriger Theaterschulentwürfe auf und spiegelt dadurch, so der Theaterhistoriker Peter Schmitt, die »Widersprüche zwischen den aufklärerischen Reformideen der vornapoleonischen Zeit und der kulturpolitischen Situation der Restauration.«296 Wötzels Plan sei ein Versuch, so Schmitt weiter, »in einer Zeit des 290 Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 24. 291 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 38. 292 Ebd. 293 Vgl. Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 38–58. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 27–34. 294 Vgl. Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 58–70. Vgl. auch Heußer, Carl (1827) : Vade mecum für angehende Schauspieler. S. 34–59. 295 Wötzel, [Johann Carl] (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule oder der einzig richtigen Kunst und Methode, vollkommener Kunstschauspieler, Opernsänger, Pantomime und Balletttänzer im höhern Grade und in kürzerer Zeit zu werden, als auf dem bisherigen Wege. Ein Praktischer Leitfaden für angehende Künstler, Künstlerinnen und Dichter, für Theaterunternehmer und Vorsteher, für Gönner und Freunde dieser schönen Kunst. Wien : Joachim Georg Ritter von Mösele. S. 240. 296 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 161. – Ein anderer Grund dafür, dass Wötzels Text zahlreiche schauspielpädagogische Aspekte zusammenbringt, könnte auch sein, dass er wie bei seinen Veröffentlichungen zur Anthropologie aus etlichen Texten ohne Angabe von Quellen abgeschrieben hat. – Vgl. hierzu McKnight, Phillip (1987) : Wezelforschung in der DDR : Miszellaneen, Material, Mutmaßungen aus Sondershausen und Leipzig. In : Lessing Yearbook, XIX. Jg. S. 221–266. S. 247–254.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
gesellschaftlichen Umbruchs und der damit verbundenen Unsicherheit bürgerlich-kultureller Orientierung, alle relevanten Theaterschulkonzeptionen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in ein einheitliches Modell zusammenzuzwingen.«297 Seinem Entwurf schickte Wötzel mehrere rhetorische Werke voraus : den Grundriß eines allgemeinen und faßlichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation nach Schocher’s Ideen298, den Grundriß einer pragmatischen Geschichte der Declamation und Musik, nach Schocher’s Ideen299, den Kurzen Grundriß einer declamatorisch-charakteristischen Statistik und Physiognomik aller gebildeten Staaten und Völker300 sowie den Grundriß eines allgemein interessanten und fasslichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation überhaupt und der Mimik insbesondere, mit Anwendung ihrer Gesetze auf Musik, Poesie, Oper, Pantomimie und Ballet.301 Letzteren Grundriß legte er angehenden Schauspielern ans Herz, da ihnen hier ein richtiger Begriff von Schauspielkunst vermittelt und die Differenz zwischen einem bloßen Schauspieler und einem »Kunstschauspieler oder Schauspielkünstler«302 erläutert werde. Der wahre Kunstschauspieler ist demnach derjenige schöne Künstler, welcher jede übernommene Rolle irgend eines Theaterstücks durch zweckmäßig passende Ton- und Geberdensprache musterhaft oder charakteristisch darzustellen weis. Wer hingegen dieß nicht vollkommen zu leisten vermag, der ist nur ein gemeiner, alltäglich gewöhnlicher Theaterspieler, ein bloser Theaterkünstler, Comödiant oder Acteur, aber kein wahrer Kunstschauspieler.303
Aus »Mangel eines Theaterinstituts«304 sei die bisherige Ausbildung von Schauspielern planlos und zufällig verlaufen. In der Regel wurden sie ohne eine Prüfung ihrer künstlerischen Eignung zum Theater zugelassen, als »Lückenbüßer«305 für bestimmte Rollen eingesetzt, 297 Ebd. S. 162. 298 Vgl. Wötzel, J[ohann] C[arl] (1814) : Grundriß eines allgemeinen und faßlichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation nach Schocher’s Ideen, für Dichter, Vorleser, Declamatoren, Redner, Lehrer und Kunstschauspieler aller Art, für deren Zuhörer und Zuschauer zur richtigen Würdigung der Erstern. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. – Goethe besaß ein Exemplar dieser Schrift in seiner Bibliothek (Rüppel 1958 : 377). 299 Vgl. Wötzel, J[ohann] C[arl] (1815) : Grundriß einer pragmatischen Geschichte der Declamation und der Musik, nach Schocher’s Ideen. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. 300 Vgl. Wötzel, [Johann Carl] (1815) : Kurzer Grundriß einer declamatorisch-charakteristischen Statistik und Physiognomik aller gebildeten Staaten und Völker ohne alles Politik- und Religionswidrige, nach Schocher’s Ideen. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. 301 Vgl. Wötzel J[ohann] C[arl] (1817) : Grundriß eines allgemein interessanten und fasslichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation überhaupt und der Mimik insbesondere, mit Anwendung ihrer Gesetze auf Musik, Poesie, Oper, Pantomimie und Ballet. Wien : [ohne Verlag]. 302 Wötzel, Johann Carl (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule. S. 8. 303 Ebd. S. 10. 304 Ebd. S. V. 305 Ebd. S. IV.
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durchliefen verschiedene Rollen und endeten »wie bei einem unwissenden Altgesellen der Handwerker«306 als gehaltlose und entblößte Gliedermänner »ohne Studium, Geschmack, Kenntniß und hinlängliche Kunstfertigkeit«307. Diese fehlerhafte »Bildungs- und Erziehungsmethode angehender Schauspieler«308 erzeuge die Vorurteile, dass das einzige Studium des Schauspielers im Auswendiglernen seiner Rollen bestehe, dass das bloße Aufsagen des Rollentextes sein Hauptgeschäft sei und dass das natürliche Sprechen und Agieren auf der Bühne sich »wie im täglichen Leben«309 vollziehe. Deswegen sind auch die meisten unserer bisherigen Schauspieler entweder verdorbene Studenten, oder doch sonst leichtsinnige und zügellose Menschen, die Actricen aber leichtfertige Zofen gewesen, welche nirgends gut thun wollten und aus ähnlichen Gründen bei dem Theater zuerst noch ihr Glück zu finden wähnten, wie dieß leider noch häufig geschieht !310
Andere wiederum seien der Ansicht, dass ihre schwärmerische Empfindsamkeit sie für die Bühne in besonderem Maße prädestiniere. Doch Wötzel gibt zu bedenken, dass der Umstand, Dinge intensiv zu erleben und zu fühlen, kein Garant dafür sei, diese Gefühle darstellerisch auch bei Zuschauern hervorrufen zu können. Er empfiehlt daher eine künstlerische Eignungsprüfung für angehende Schauspieler, bei der man sie »schriftliche Schilderungen mehrerer Charaktere liefern«, sie »darüber mit Künstlern sich unterreden« und sie »einzelne Stellen der geschielderten Rollen vortragen«311 lasse. Schauspieler seien nur dann geeignet, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle über darzustellende Charaktere »passend, lebendig, zweckmäßig und gefällig vortragen« sowie »das Leben, die Mannichfaltigkeit und Anmuth« ihres »Talents durch eine Theaterprobe etlicher mittelmäßig schwerer Rollen aus mehreren Fächern beurkunden«312 können. Ferner nennt Wötzel eine Reihe von physischen und psychischen Voraussetzungen, die angehende Kunstschauspieler – »Theatercandidaten«313 – mitbringen müssen. Der angehende Kunstschauspieler müsse eine ansehnliche körperliche Gestalt aufweisen : einen länglich runden Kopf, einen nicht zu auffallenden Mund, große Augen, die nicht hervorstehen oder zu tief liegen. Er müsse über eine helle, durchdringende Stimme, eine reine, richtige und deutliche Aussprache sowie über vollkommen eingerichtete, geschmeidige und biegsame »Sprachwerkzeuge«314 verfügen. Er solle über eine feine Urteils- und Einbil-
306 Ebd. S. VIII. 307 Ebd. S. VII. 308 Ebd. S. XIII. 309 Ebd. S. XII. 310 Ebd. S. X. 311 Wötzel, Johann Carl (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule. S. XIX. 312 Ebd. 313 Ebd. S. 24. 314 Ebd. S. 16.
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dungskraft, eine schnelle Auffassungsgabe, ein lebhaftes Gefühl, ein verläßliches Gedächtnis sowie einen »moralisch guten festen Charakter und anständige Sitten«315 verfügen. Darüber hinaus müsse der angehende Kunstschauspieler etliche wissenschaftliche Vorkenntnisse und diverse körpertechnische Fertigkeiten mitbringen. Grundlegende Kenntnisse solle er auf den Gebieten der Sprachlehre, »vorzüglich der Rhetorik, Poetik, Aesthetik, Logik, Seelenlehre und der Philosophie überhaupt«316 vorweisen können. Als Hilfsmittel zur Aufführung von Opern, Pantomimen oder allen anderen mündlichen und mimischen Vorträgen bedürfe er nötiger Vorkenntnisse auf den Gebieten der Musik, Malerei und Zeichenkunst. Unentbehrlich für die Bühnenpraxis sei ferner die Beherrschung der Tanz-, Fecht- und Reitkunst. Ebenso wichtig seien Übungen in Deklamation und Mimik, die in Verbindung mit einer alle Stände und Völker umfassenden Welt- und Menschenkenntnis zu stehen haben. Hierzu gehöre auch die »Kenntniß aller Zustände der Gesundheit und Krankheit des Geistes und Körpers, aller Gemüthszutände, Gefühle und Geistesthätigkeiten, aller Affecte und Leidenschaften, aller Charaktere und Charakterzüge«317. Neben diesen besonderen »Naturgaben und Vorkenntnisse[n]«318 erfordere die Schauspielkunst »ein sehr sorgfältiges Studium, eine ununterbrochen fortgesetzte Beobachtung seiner selbst und anderer Menschen«319. Die Einrichtung einer staatlich getragenen und subventionierten Theaterschule würde diesem Studium nicht nur einen Anfangspunkt und eine zweckmäßige Ordnung verleihen, sondern könne zusammen mit anderen Theaterreformen (wie beispielsweise dem Aufführungsverbot schlechter Theaterstücke oder der Einrichtung einer »Theaterbibliothek«320) dazu beitragen, dass das Theater seine veredelnde Wirkung auf Zuschauer und Schauspieler weiter entfalte.321 Durch »eine zweckmäßige Theaterpflanzschule« könne der Staat »die Schaubühne zu der möglichst höchsten Stufe von Vollkommenheit«322 erheben, um hierdurch nicht etwa blos die Nationalsprache und Sitten zu reinigen, Geist und Herz aller Staatsbürger zu bilden und zu veredeln, wahre praktische Lebensweisheit und Menschenkenntniß, Tugend und Sittlichkeit am besten zu verbreiten, sondern auch sogar dauerhafte Liebe und Dankbarkeit gegen den Regenten und Staat […] zu erwecken […] [und] für alles Wahre, Gute und Schöne, für alles Große und Erhabene empfänglich zu machen !323
315 Ebd. S. 17. 316 Ebd. S. 20. 317 Ebd. S. 21. 318 Ebd. S. IX. 319 Ebd. 320 Ebd. S. 218 321 Vgl. ebd. S. 232–239. 322 Ebd. S. XXII. 323 Ebd.
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Idealerweise sollten solche »Theaterphilanthropin[e]«324 in Residenz- oder Universitätsstädten eingerichtet werden, denn so können die angehenden Schauspieler »für geringe Unkosten auch fechten und reiten« lernen, »ohne daß man in ihrem Institute besondere Lehrmeister dieser Fächer mit großen Unkosten zu halten«325 brauche. In Residenzstädten hätten die Zöglinge ferner die Gelegenheit, »sich nach guten Mustern einer feinen Lebensart theils außer dem Theater, theils in demselben zu bilden und die Schaubühne fleißig zu besuchen, welche man in Provinzialstädten nie ganz gut besetzt findet.«326 Auch könnten sie hier »Provinzialismen«327 entgehen und eine »rein teutsche Mundart«328 im sprachlichen Umgang erlernen. Drei oder vier solcher Schulen würden nach Wötzels Ansicht in Deutschland genügen, um die bestehenden Theater allmählich mit ausgebildetem Nachwuchs zu versorgen.329 An diesen Schulen könnten auch »arme, oder verwaisete Kinder von hinlänglichen Fähigkeiten […] nützlich versorgt und ausgebildet werden«330. Die Anzahl der Schüler einer solchen Pflanzschule sollte »wenigstens 30, aber nicht über 60 seyn. Unter zehn bis zwölf Jahren sollte kein Zögling aufgenommen werden, welche sich hiezu wohl leicht in Menge würden finden lassen, oder sich von selbst melden würden.«331 Die »Hauptgegenstände dieser Bildungsanstalt«332 umfassten die Disziplinierung des Sozialverhaltens sowie die Unterweisung in den nötigen Sprach- und Vorkenntnissen – wie der lateinischen, der französischen, der italienischen und englischen Sprache sowie allen anderen »Hülfs- oder Vorbereitungswissenschaften und zweckdienlichen Mitteln zur Schauspielkunst«333. Den Ausbildungsgang von Schauspielern unterteilt Wötzel in drei Phasen : in die vorbereitende, die fortbildende und die völlig ausbildende Phase, die jeweils ungefähr ein Jahr in Anspruch nehmen sollen. Theaterkandidaten mit den entsprechenden Voraussetzungen und Vorkenntnissen durchlaufen in der vorbereitenden Phase ihrer Ausbildung mindestens ein Jahr lang eine Reihe von Sprech-, Vorlese- und Deklamationsübungen sowie kleinere Rollenproben. Schrittweise bauen die verschiedenen Übungen, die Wötzel bereits in seiner Schönen Vorlesekunst für alle gebildeten Personen beiderlei Geschlechts vorgestellt hatte,334 aufeinander auf und sollen die Anfänger von einfachen Vorleseübungen, 324 Ebd. S. 232. 325 Ebd. S. 235. 326 Ebd. S. 236. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Vgl. ebd. S. 236. 330 Ebd. S. 237. 331 Wötzel, Johann Carl (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule. S. 237. 332 Ebd. 333 Ebd. S. 238. 334 Vgl. Wötzel, [Johann, Carl] (1816) : Schöne Vorlesekunst für alle gebildeten Personen beiderlei Geschlechts. Ein interessantes und nützliches Lesebuch auch für die oberen Classen in Akademien, Gymnasien, Seminaren, Real- und Bürgerschulen. Zweite, ganz umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Ausgabe. Wien : [ohne Verlag].
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bei denen das Pausieren und Betonen erprobt werde, zu kleineren szenischen Übungen führen. Den Anfang dieser Übungen bildet das »Vorlesen aus wissenschaftlichen, oder Geschichtsbüchern ruhigen Inhalts«335. An Sachtexten solle das betonte Lesen, das Pausieren, das Atemholen und eine klare Aussprache geübt werden. »Nach diesem blos mechanisch richtigen Lesen muß man zu dem schönen Vorlesen und Vortrage aus Büchern von charakteristischem Inhalte übergehen, nämlich zum lebhaften Vortrage von Fabeln, Erzählungen und Geschichten überhaupt«336. Die Anfänger sollen lernen, den verschiedenen Personen im Text entsprechende Stimmen zu verleihen, die zu ihren Charakteren passen. Wötzel warnt aber davor, die angehenden Schauspieler hierbei mit Regeln, Meinungen oder Vorschriften zu überhäufen oder ihre Fehler während des Vorlesens permanent korrigieren zu wollen. Gestalten die Theaterkandidaten ihr Vorlesen und Vortragen überzeugend, könne zu kleineren szenischen Übungen fortgeschritten werden : »Nun erst lasse man einzelne Scenen gründlich einstudieren, auswendig lernen und zuletzt in mehrern Proben so einüben, daß der angehende Künstler auch die übrigen Rollen anderer handelnder Personen auswendig weis«337. Nachdem die Szenen aufgeführt wurden, solle man den Kandidaten nie bloß allgemeines Lob aussprechen, sondern vielmehr ein Auswertungsgespräch mit der Frage eröffnen, was dem jungen Künstler in der Darstellung am schwersten gefallen sey ? Hierauf lasse man sich mit Neigung geduldig ein, berichtige das Nöthige und lasse den Anfänger die vorgekommenen Schwierigkeiten näher auseinander setzen, wobei er sich gewöhnlich größtentheils selbst belehrt, ohne es zu wissen und zu glauben.338
Die schwierigen Stellen solle man mit den Schülern wiederholen, man solle ihnen hierbei Hilfestellungen anbieten, sich aber davor hüten, »vollständige Anweisungen über Richtigkeit, Fertigkeit und Schönheit zugeben«339, da dies die Schüler verwirre und zu »Dratpuppe[n]«340 verbilde. Ferner sollen die Theaterkandidaten regelmäßig theatralische Vorstellungen besuchen und sich theoriegeleitet darüber austauschen. Erforderlich sei daher auch Dichter, Redner, Geschichte, Mythologien, gute Reisebeschreibungen, nebst Völker- und Länderkunde fleißig zu studiren […]. In diesem Studiren und Einüben müssen sie wenigs-
335 Wötzel, Johann Carl (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule. S. 27. 336 Ebd. S. 30. 337 Ebd. S. 32. – Vgl. hierzu auch [Iffland, August Wilhelm] (1808) : Ueber die Bildung der Künstler zur Menschen-Darstellung auf der Bühne. In : Almanach fürs Theater, 2. Jg. S. 34–64. 338 Ebd. S. 32. 339 Ebd. S. 32 f. 340 Ebd. S. 33.
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tens ein Jahr fortfahren und dann untersuchen, ob sie noch eben so viel Drang, als vorher, in sich fühlen, ausübende Künstler dieses Fachs zu werden.341
Nachdem die Theaterkandidaten verschiedene Rollen studiert und schriftlich interpretiert haben, nachdem sie fleißige Besucher und scharfe Beobachter »theatralischer Darstellungen«342 geworden seien, solle ihnen in der zweiten Ausbildungsphase die Gelegenheit gegeben werden, das erste Mal in »eingeübten Rollen (wo möglich auf einem Lieblings- und Gesellschafts- oder Familientheater, oder doch auf einem kleinern Theater in einer Provinzialstadt) öffentlich aufzutreten.«343 Denn auch Liebhabertheater, so Wötzel, »könnten bei zweckmäßiger Einrichtung mit der Zeit eine Art von Pflanzschulen für die öffentliche Schaubühne werden.«344 Die Rolle, die der angehende Schauspieler bei seinem ersten Auftritt spielen dürfe, solle »weder zu leicht, noch zu schwer«345 sein und solle eine Bewährungsprobe sein, um sich »zum zweiten öffentlichen Auftritt die Erlaubniß«346 zu verdienen. Die wesentliche Lektion, die die angehenden Schauspieler in dieser zweiten Ausbildungsphase erhalten sollen, bestehe darin, dass sie einsehen lernen, dass sie nicht »wie der Redner, sich immer blos selbst als redlichen Mann, sondern vielmehr stets eine fremde Person darstellen«347 sollen. Ekhofs Akademiegedanken aufgreifend sieht Wötzel für die letzte Ausbildungsphase »eine wöchentliche Versammlung von wahren Sachkennern und Künstlern«348 vor, in der sich die angehenden Schauspieler über Theaterstücke, Schauspieltheorien und Aufführungserfahrungen austauschen sollen. Sie sollen »über die schon aufgeführten Stücke und deren Vorzüge, oder Fehler und Mängel« sowie über »die künftig zunächst zugebenden Vorstellungen, über den verschiedenen Charakter der darin vorkommenden Rollen, über deren zweckmäßigstes Einstudieren und Darstellen zweckdienliche Gespräche und Unterredungen«349 führen. Hierbei gehe es um das »Umtausche[n] von Ideen, Beobachtungen, Erfahrungen, Bestrebungen und Gefühlen über diese Kunst«350. Wie am Mannheimer Nationaltheater sollen die angehenden Schauspieler in ihrer wöchentlichen Versammlung darüber hinaus »einige passende Fragen«351 die Schauspielkunst betreffend diskutieren und schriftlich beantworten, »um in steter Uebung der Ausarbeitung und
341 Ebd. 342 Ebd. S. 35. 343 Ebd. 344 Ebd. S. 211. 345 Ebd. S. 36. 346 Ebd. 347 Ebd. S. 39. 348 Ebd. S. 183. 349 Ebd. 350 Ebd. S. 184. 351 Ebd. S. 183.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
schriftlichen Charakterisierung theils der gegebenen, theils der noch aufzuführenden Theatervorstellungen zu bleiben !«352 Ziel dieses dreiphasigen Ausbildungsganges ist aber nicht nur die Ausbildung von schauspielerischem Nachwuchs, sondern auch der Versuch, den Schülern die Möglichkeit zu bieten, »ein anderes nützliches Fach wählen und ein brauchbares Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden«353 zu können. Obwohl sich Heusser 1816 darüber beklagte, dass ein Schauspieler »nirgends durch Ertheilung eines Unterrichts in seiner Kunst etwas erwerben«354 könne, entstand im 19. Jahrhundert ein regelrechter Markt für eine »private, nicht-institutionalisierte Schauspielerausbildung«355. Der Theaterhistoriker Peter Schmitt schreibt, dass »die Schüler von literarisch gebildeten Schriftstellern und Gymnasialprofessoren, von ehemaligen oder noch aktiven Schauspielern und Sängern oder von Kirchenmusikern und Kantoren gegen (meist) geringes Entgelt unterrichtet«356 wurden. Der Schauspieler Heinrich Anschütz bezweifelte nicht nur, dass die Schauspielkunst auf diese Weise lehrbar sei, sondern unterstellte ihren Lehrern auch, dass sie den Schülern bloß das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Die »Schauspielkunst läßt sich nicht lehren«, schreibt er 1866 in seiner Biographie, sie läßt sich bei angeborenem Talent durch unermüdliche Beobachtung und Uebung nur erlernen. Ich wenigstens habe diesen Weg eingeschlagen und halte ihn für den einzig richtigen. Jeder, der sich zum Lehrer oder Professor der Declamations- oder Schauspielkunst aufwirft, betrügt sich und Andere um die Zeit und wenn er sich bezahlen lässt, nimmt er dem Schüler nur das Geld ab. […] Die Eleven der sogenannten dramatischen Lehrer werden selten mehr als abgerichtete Dilettanten357.
Die meisten Theaterschulentwürfe im 18. und frühen 19. Jahrhundert sind in Deutschland nicht über ihren Entwurfs- oder Forderungscharakter hinausgekommen. Die wenigen bedeutenden Ausnahmen werden in den folgenden Abschnitten ausführlicher dargestellt. Hier sind vor allem Ekhofs Schauspieler-Akademie in Schwerin, die verschiedenen schauspielpädagogischen Unternehmungen in Stuttgart und Mannheim, Müllers Kindertheaterschule in Wien sowie die Theaterschule am Weimarer Hoftheater unter Goethe und Schiller zu nennen. Außerdem werden die Theaterschulen in Regensburg, Karlsruhe und Braunschweig vorgestellt, die im frühen 19. Jahrhundert entstanden sind. 352 Ebd. S. 183 f. 353 Ebd. S. 238. 354 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 13. 355 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 120. 356 Ebd. – Vgl. hierzu auch Lackner, Peter (1985) : Schauspielerausbildung an den öffentlichen Theaterschulen der Bundesrepublik Deutschland. S. 11–16. 357 Anschütz, Heinrich (1866) : Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Nach eigenhändigen Aufzeichnungen und mündlichen Mittheilungen. Wien : Leopold Sommer. S. 309.
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2.2 »›Studieren !‹ Das war ja Eckhofs Wort und hatte mir die Sache, die ich so lieb hatte, noch mehr veredelt !«358 – Konrad Ekhof und die Akademie der Schönemann’schen Gesellschaft in Schwerin (1753–1754) »Musikanten […] und Comödianten, – eines ist Pack, wie das andere«359, soll Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg erbost, nur wenige Wochen nachdem Konrad Ekhof verstorben war, gesagt haben. Er hatte über die ewigen Zänkereien und Unverschämtheiten der Comödianten, über die Schulden, zu denen seine Gemahlin durch ihre Geschenke und Costüme für einzelne Actricen sich hinreißen ließ, und die der Fürst dann aus seiner Schatulle bezahlen sollte die Lust an der Schaubühne endlich360
verloren. Auch konnte der unbefangene Zuschauer sich nicht verhehlen, daß in der jüngsten Zeit die meisten neu angenommenen Schauspieler die Lücken der abgegangenen nicht auszufüllen vermochten und daß überhaupt das Personal – seit Ekhofs starke Hand nicht mehr eisern die Zügel führte – sich Vernachlässigungen des Spiels zu Schulden kommen ließ, welche das Vergnügen der Vorstellungen im höchsten Grade beeinträchtigte.361 358 [Anonym] (1812) : Das Leben des Souffleurs Leopold Böttger. In : Almanach fürs Theater, [Bd. 5]. Hrsg. von August Wilhelm Iffland. Berlin : Duncker und Humblot. S. 26–240. S. 96. – Die Zeitgenossen haben bereits erkannt, dass es sich bei dieser Erzählung um eine fiktive Begebenheit handelt. In der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung lobt ein Rezensent den Text dafür, dass er »einen solchen Schein der Wirklichkeit zu geben weiß, dass man in der Täuschung nicht unterlassen kann, zu fragen, ob sich solches nicht wirklich zugetragen habe« (L. W. 1811 : 401). Im Text berichtet Leopold Böttger, dass er nach langen Jahren der Orientierungslosigkeit, in denen er nicht recht wusste, was er mit seinem Leben anfangen solle, zum ersten Mal ins Theater ging und daraufhin den Entschluss fasste, Schauspieler zu werden. Er bat Konrad Ekhof darum, ihn auszubilden. Dieser trug ihm auf, einige Szenen aus dem Kaufmann von London zu lernen und die Rolle des jungen Barnwells zu studieren. Böttger lernte die Rolle auswendig, sprach alles laut und kräftig aus und hatte nicht den kleinsten Zweifel, dass Ekhof unzufrieden sein würde. Als Böttger seine Rolle aber vor Ekhof rezitierte, sagte dieser : »Junger Mann ! – Komplimente wären hier falsche Münze« und riet ihm eindringlich davon ab, Schauspieler zu werden ([Anonym] 1812 : 102). – W., L. (1811) : Schöne Künste [Rezension zu : Almanach für’s Theater 1812, Taschenbuch für das Jahr 1812, Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1812, Rheinisches Taschenbuch für das Jahr 1812]. In : Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 8. Jg. Bd. 4 : Oktober, November, December, Nr. 274 [30. November 1811]. S. 401–405. 359 [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1877) : H. A. O. Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie. Überarbeitet und hrsg. von Hermann Uhde. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. S. 147. 360 Ebd. – Vgl. hierzu Heinz, Andrea (2005) Liebhabertheater, Wandertruppe oder Hoftheater ? Theater in den Residenzstädten Weimar und Gotha um 1800. In : Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745 –1804). Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung. Köln, Weimar und Wien : Böhlau. S. 239–249. 361 [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1877) : H. A. O. Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie. S. 147 f. [Herv. d. Verf.].
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Mit starker Hand soll Ekhof eisern die Zügel geführt haben. In Ifflands Almanach für Theater und Theaterfreunde heißt es, dass Ekhof in seinen letzten Lebensjahren am Gothaer Schlosstheater – das heute den Namen Ekhof-Theater362 trägt und zu den ältesten Barocktheatern zählt – alle Proben mit »einem heiligen Eifer«363 behandelt habe : Jedes Detail besorgte er mit strengem Ernst ; denn die Ueberzeugung, daß ohne diese Weise kein Zusammenhang und Fortschritt des Ganzen möglich sei, belebte ihn durchaus. Jeder sollte seine Geschäfte ganz und selbst thun, so wie er das seine, außer wenn er das Bette hüten mußte, ganz allein und ohne eines andern Mitwirkung thun wollte.364
Selbst die »Klingel, welche damals noch den Anfang der Stücke bezeichnete«365, ließ er niemals in andere Hände kommen. In dieser »anscheinenden Kleinigkeit«366, über die »viel gelächelt worden«367 sei, lag der »feste Ordnungssinn, der alles, was er betrieb, auszeichnete.«368 Hans Konrad Dietrich Ekhof, der als Sohn eines Stadtsoldaten am 12. August 1720 in Hamburg geboren wurde, in einfachen Verhältnissen aufwuchs und ab Oktober 1732 das Johaneum in Hamburg besuchte,369 war nach seiner Schulzeit für kurze Zeit als Schreiber beim schwedischen Postkommissar Johann Friedrich König370 in Hamburg tätig. Der Grund, warum Ekhof seine dortige Anstellung aufgab, war, wie es in der Gartenlaube später heißt, »komisch« genug : »Sein Herr verlangte, daß der junge Schreiber zugleich Lakaiendienste versehen und auch, auf dem Trittbret des Wagens stehend, die Frau Postcommissarin zur Kirche begleiten sollte.«371 Auf diese »unbillige Zumutung«, schreibt der Theaterhistoriker Hugo Fetting, antwortete Ekhof angeblich, »er werde zwar dem unwürdigen Befehle folgen, aber dann sofort Haus und Dienst verlassen.«372 362 Vgl. hierzu Jung, Carsten (2010) : Historische Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Berlin : Deutscher Kunstverlag. S. 44–47. 363 [Iffland, August Wilhelm] (1807) : Ueber Eckhof. In : Almanach für Theater und Theaterfreunde, [Bd. 1]. Hrsg. von August Wilhelm Iffland. S. 1–30. S. 19. 364 Ebd. 365 Ebd. S. 19 f. 366 Ebd. S. 20. 367 Ebd. 368 Ebd. 369 Vgl. Puttfarken, Werner (1933) : Album Johannei, Teil 2 : Schülerverzeichnis 1732–1802. Hamburg : Hans Christians Druckerei und Verlag. S. 56. – Auch Johann Bernhard Basedow besuchte laut Puttfarkens Schülerverzeichnis das Johaneum seit Oktober 1732 (Puttfarken 1933 : 20). 370 In Johann Friedrich Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte wird der schwedische Postkommissar fälschlicherweise unter dem Namen »Bostel« aufgeführt (Schütze 1794 : 248). 371 K., R. (1878) : Der Vater der deutschen Schauspielkunst. In : Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, 26. Jg. Heft 24. S. 390–394. S. 390. 372 Fetting, Hugo (1954) : Conrad Ekhof. Ein Schauspieler des achtzehnten Jahrhunderts. Berlin : Henschel. S. 22.
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Das Verhalten des Achtzehnjährigen lässt sich als jugendliches Aufbegehren gegen eine vermeintlich unwürdige Tätigkeit deuten. Günther Heeg sieht in dieser Episode aber ein erstes Anzeichen für Ekhofs ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl, das nicht nur sein späteres Berufs- und Arbeitsethos als Schauspieler auszeichnen, sondern überdies auch das Ideal des »Bürger-Schauspieler[s]«373 prägen sollte : »Die Spannung zwischen Pflichtgefühl (dem Befehl folgen) und dem Pochen auf ein der eigenen Position angemessenes Ansehen in der Öffentlichkeit (aus verletzter Ehre Haus und Dienst verlassen) bestimmt Ekhofs Leben und seine Theaterarbeit.«374 Der Bürger-Schauspieler Ekhof brillierte als Bürger auf und jenseits der Bühne. Er feierte in Lessings Emilia Galotti als Emilias Vater Odoardo375 seine größten Erfolge und galt unter Zeitgenossen als »tugendhafter Mann.«376 Nach der Kündigung seiner Anstellung beim Postkommisar fand Ekhof 1738 eine Anstellung bei einem Anwalt in Schwerin, der eine ansehnliche Bibliothek besaß, in der neben belletristischen Schriften auch Bücher über das Theater zu finden waren. Ekhof nutzte die Gelegenheit zur Lektüre, sodass ihm die zahlreichen Dramen nicht nur eine neue Welt erschlossen, sondern in ihm auch das Bedürfnis nährten, Schauspieler zu werden.377 Am 15. Januar 1740 schloss er sich in Lüneburg der Schauspielertruppe von Johann Friedrich Schönemann an.378 Nachdem Schönemanns Truppe bereits in verschiedenen mecklenburgischen Städten und mehrfach auf der Schlossschaubühne des Schweriner Hofes aufgetreten war, stellte Herzog Christian Ludwig II. von Mecklenburg-Schwerin Schönemann und seine Truppe, wie es in den Mecklenburgischen Nachrichten vom 7. August 1751 heißt, als Hof-Comödianten »mit einem anständigen Gehalt unter gewissen Bedingungen«379 ein. Dreimal in der Woche sollten sie auftreten. Obgleich Schönemann sich das Recht einbehielt, mit 373 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 157. 374 Ebd. S. 180. 375 Vgl. [Nicolai, Friedrich] (1988) : Von Friedrich Nicolai [Berlin, d. 13. August 1773]. In : Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 11,2 : Briefe von und an Lessing 1770–1776. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 573–576. S. 576. Vgl. auch Nicolai, Friedrich (1807) : Ueber Eckhof. In : Almanach für Theater und Theaterfreunde, 1. Jg. S. 31–49. 376 [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1778) : Ekhof. In : Theater-Journal für Deutschland, siebentes Stück. [Nachtrag zum siebenten Stück des Theater-Journals]. S. [115–120. S. 117]. 377 Vgl. hierzu Fetting, Hugo (1953) : Conrad Ekhof. Ein Schauspieler des 18. Jahrhunderts. Im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste eingeleitet und herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin : Henschelverlag. S. 9–68. Vgl. auch Uhde, Hermann (1876) : Konrad Ekhof. In : Der neue Plutarch. Biographien hervorragender Charaktere der Geschichte, Literatur und Kunst, Dritter Theil. Hrsg. von Rudolf Gottschall. Leipzig : F. A. Brockhaus. S. 121–238. Vgl. auch Kürschner, Joseph (1872) : Conrad Eckhof ’s Leben und Wirken. Eine biographische Skizze. Wien : A. Hartleben. S. 9–14. 378 Vgl. hierzu Devrient, Hans (1895) : Johann Friedrich Schönemann seine Schauspielergesellschaft. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts. Hamburg : Voss. 379 [Anonym] (1751) : Schwerin vom 7ten August. In : Mecklenburgische Nachrichten, Fragen und Anzeigen, No. XXXII [7. August 1751].
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seiner Truppe auch weiterhin in Hamburg auftreten zu dürfen, sorgte die Anstellung am Hof, die bis zum Tod des Herzogs im Jahr 1756 andauern sollte, für eine finanzielle Sicherheit. Obwohl die Schauspieler hierdurch zwar nicht sesshaft wurden – denn vier Monate lang begab sich die Truppe außerhalb des Herzogtums auf Gastspielreisen –, wirkte sich diese finanzielle Absicherung aber offensichtlich begünstigend auf die Muße der Schauspieler aus. Am 28. April 1753 lud Ekhof die Mitglieder der Schönemann’schen Theatertruppe in einem Rundschreiben ein, sich durch ihre Unterschrift dazu zu verpflichten, »alle vierzehn Tage Sonnabends, des Nachmittags von zwey bis vier Uhr, eine Versammlung zu halten, um in derselben auf Dinge ihre Aufmerksamkeit zu richten, die geschickt sind zur Aufnahme des Theaters«380. Es bot sich erstmals die Gelegenheit, die Spielplangestaltung und Bühnenpraxis nicht aus einer rein wirtschaftlichen, sondern aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Christian Heinrich Schmid merkte in seiner Chronologie des Theaters an, dass Schönemanns Schauspieler »ein sehr nützliches Institut«381 gegründet hätten. »Sie kamen nehmlich an festgesetzten Tagen wöchentlich zusammen, lasen gemeinschaftlich, unterredeten sich über ihre Kunst, und setzten Regeln fest, welche jeder auszuüben suchte.«382 Nicht Schönemann, der Prinzipal der Truppe, sondern Konrad Ekhof initiierte diese erste deutsche Schauspieler-Akademie. Die Sitzungen der Akademie wurden in Protokollen festgehalten, von denen Auszüge im Theater-Kalender auf das Jahr 1779 veröffentlicht worden sind.383 Laut der Protokolle fand am 5. Mai 1753 eine vorbereitende Sitzung statt, an der fünf Schauspielerinnen (Anna Rahel Schönemann und ihre Tochter Elisabeth Lucia Dorothea Schönemann, Antoinette Rainer, Georgina Sophia Carolina Augustina Ernestine Ekhof und Johanna Starke) und neun Schauspieler (Johann Friedrich Schönemann, Konrad Ekhof, Carl Heinrich Schö380 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 8. 381 Schmid, Christian Heinrich (1775) : Chronologie des deutschen Theaters. [Ohne Ort : ohne Verlag]. S. 170. 382 Ebd. 383 Vgl. [Anonym] (1779) : Nachricht von einer deutschen Schauspieler-Akademie. (Aus den Tagebüchern diese Akademie gezogen.) In : Theater-Kalender, auf das Jahr 1779. [Gotha : Carl Wilhelm Ettinger]. S. 22–36. – Lange Zeit lagen die Protokolle der Akademiesitzungen nur fragmentarisch vor. Nachdem Schmid in seiner Chronologie des Theaters auf die Existenz der Akademie hingewiesen hatte (Schmid 1775 : 170), fanden sich erstmals »aus den Tagebüchern« der Akademie gezogene Passagen im Theater-Kalender, auf das Jahr 1779. Joseph Kürschner (1872) und Herrmann Uhde (1876) zitierten in ihren biographischen Arbeiten zu Ekhof aus einer Kopie der Protokolle, von der der Theaterhistoriker Heinz Kindermann vor der Umlagerung der Bestände und in Absprache mit der Direktion im Jahr 1944 eine photomechanische Reproduktion anfertigen ließ. Das Transkript der Protokolle veröffentlichte er im Jahr 1956 (Kindermann 1956). Laut der Titelseite des Manuskripts, auf der »Copia« steht und Ekhofs Unterschrift zu sehen ist, handelt es sich beim »Journal der Academie der Schönemannischen Gesellschaft« selbst um eine Abschrift aus Ekhofs Nachlass, die von den Sekretären der Akademie – erst von Johann Peter Berger und ab dem 18. August 1753 von Johann Bernhard Rainer – angefertigt wurde (Piens 1956 : 10, Kindermann 1956 : 73). Heute gelten die Protokolle als verschollen.
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nemann, Johann Bernhard Rainer, Johann Ludewig Starke, Gustav Friedrich Kirchhof, Johann Peter Berger, Christian Lebrecht Martini und Dieterich Leopold Schleifer) teilgenommen haben – also beinah das gesamte künstlerische Personal der Schönemann’schen Truppe. Nur ein älterer Schauspieler, Herr »Fabricius«384, erklärte schriftlich, alle seine Rollen »wie sichs gebührt zu spielen«385, lehnte es aber ab, an den Sitzungen der Akademie teilzunehmen, da er »zu andern Stunden […] keine Zeit«386 habe. In der vorbereitenden Sitzung wurde eine von Ekhof entworfene Satzung »vorgelesen und bestätigt«387, von deren »Grundgesetzen […] keiner frey zu schätzen«388 sei und die »in jeder Sitzung bey der Thür aufgehangen, und auf die Vollziehung derselben auf das strengste«389 geachtet werden und von der sich jedes Mitglied eine »Abschrift«390 beschaffen müsse. Diese Satzung umfasste 24 Artikel, die organisatorische und disziplinarische Angelegenheiten regelten wie den Wahlvorgang von Ämtern, die Sitzordnung, die thematischen Schwerpunkte der Akademiesitzungen, Umgangsformen und Gesprächsordnung während der Sitzung sowie die Beträge der Strafgelder bei Verstößen. Da die ersten vier Artikel der Verfassung sich ausschließlich mit der Beschreibung der Art, Anzahl und Wahl von Ämtern und nicht zuletzt mit der Sitzordnung der Mitglieder befassen, vergleicht Günther Heeg die Akademiesitzungen mit einer »presbyterianischen Kirchenversammlung«391, bei der Männer und Frauen getrennt von einander sitzen und das Amt wie in der lutherischen Orthodoxie eine zentrale Bedeutung einnimmt.392 »Ein jeder ist verbunden«, heißt es im zweiten Artikel der Satzung der Akademie, »die auf ihn gefallene Wahl, wenn die Glieder ihn dazu tüchtig befinden, ohne Murren und Wiederstreben anzunehmen, und seiner Pflicht, so viel an ihm ist, nachzukomen.«393 Und am 30. Juni erinnert Ekhof noch einmal an die Pflichten, die mit der Amtsausübung verbunden seien : »Diejenigen, welche von der Academie Aemter in derselben zu bekleiden erwählet worden, sind schuldig, ihre Pflicht, so viel an ihnen ist, nachzukomen, nach der Vorschrift des 2ten Artikels, wofern sie nicht straffällig seyn wollen.«394 Anders als in einer republikanischen Verfassung werden die Ämter in der Akademie nicht über Rechte, sondern ausschließlich über Pflichten definiert. Zusammen mit den empfindlichen Geldstrafen, die bei Verstößen eingetrieben werden, erweisen sich diese Ämter als Diszipli384 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 9. 385 Ebd. 386 Ebd. 387 Ebd. S. 9. 388 Ebd. S. 10. 389 Ebd. S. 16. 390 Ebd. 391 Heeg, Günther (2000) : Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 182. 392 Vgl. Fagerberg, Holsten (1978) : Amt / Ämter / Amtsverständnis. Von ca. 1600 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In : Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 2 : Agende – Anselm von Canterbury. Berlin : De Gruyter. S. 574–593. S. 580. 393 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 10. 394 Ebd. S. 19.
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nierungsmaßnahmen : »Die Academie hat einen jeden zu seinem Amte eingesetzt ; Sie ist auch der Richter eines jeden Verhaltens.«395 Schönemann als Prinzipal der Truppe wurde zum »Präses«396, Ekhof zum »Vice Präses«397 und »Propositus«398 gewählt. Außerdem wurden die Ämter des »Vice Propo situs«399, des »Inspector[s]«400, des ersten und zweiten »Lector[s]«401 sowie des »Vice Lector[s]«402, des »Secretaire[s]«403 und des »Pedell[s]«404 besetzt. Bis auf den Pedell, den Sekretär und die Lektoren sollen alle Ämter in einer geheimen Abstimmung gewählt werden. An diesen Wahlen, die jährlich wiederholt werden sollen, nehmen laut Satzung auch die Frauen teil. Hierfür solle der Pedell jedes Mitglied aufrufen und fragen, wem er seine Stime zu dem zu wählenden Ammte gäbe ? Er läßt sich hierauf die Antwort heimlich sagen und sagt sie dem Secretaire gleichfalls ins Ohr, der sie verdeckt vor sich auf einem Papier bey den Namen des oder der Befragten niederschreibt. Wenn er auf die Weise alle Stimen gesammelt hat (wobey der Secretaire und der Pedell die ihrigen zuerst gegeben), sieht er nach, welche Person die mehresten Stimen für sich hat, und ruft : Die Academie erwählt N. N. zum N. N., welcher von dem Augenblicke an seine Stelle annimt und bekleidet405.
Nicht frei von Spott griff Goethe diese Form der schauspielerischen Selbstverwaltung später in seinem Wilhelm Meister auf. Auch hier gibt sich Wilhelms Theatertruppe eine republikanisch anmutende Verfassung : Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten Menschen die republikanische Form die beste sei ; man behauptete, das Amt eines Direktors müsse herum gehen ; er müsse von allen gewählt werden, und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. […] Man schritt sogleich zur Sache, und erwählte Wilhelm zum ersten Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme, man schlug Gesetzte vor, man verwarf, man genehmigte.406 395 Ebd. 396 Ebd. S. 9. 397 Ebd. 398 Ebd. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 402 Ebd. 403 Ebd. 404 Ebd. 405 Ebd. S. 10. 406 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Henrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt : Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wil-
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Mit einem ironischen Unterton fährt der Erzähler allerdings fort : »Die Zeit ging unvermerkt unter diesem Spiele vorüber, und weil man sie angenehm zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches getan und durch die neue Form eine neue Aussicht für die vaterländische Bühne eröffnet zu haben.«407 Auch Ekhof erhoffte sich durch die Akademiegründung eine »Aufnahme des Theaters«408 und der Schönemann’schen Gesellschaft. Heßelmann ist daher der Ansicht, dass Ekhof die Schauspieler-Akademie in die Tradition »der alten europäischen Wissenschaftssozietäten«409 – wie der von Kardinal Richelieu gestifteten Académie française oder der von Leibniz angeregten Akademie der Wissenschaften in Berlin – stellen wollte. Akademien waren im engeren Sinne keine Ausbildungseinrichtungen, sondern »freie Vereinigungen, deren Mitglieder ein gemeinsames Erkenntnisinteresse besaßen, sich mit ihrer Mitgliedschaft Regeln der Tätigkeit und des Verhaltens unterwarfen und sich zu Vortrag, Vorlage eigener Ausarbeitungen und deren Publikation nach Approbation verpflichteten.«410 Hinter Ekhofs kühner Geste, die organisierten Treffen von (ehemals) vagabundierenden Komödianten in den Rang einer wissenschaftlichen Sozietät zu rücken und als Akademie zu bezeichnen, erinnert an sein selbstbewusstes Handeln, als er seine Stelle als Schreiber beim schwedischen Postkommissar in Hamburg aufgab. »Nicht zu einem Fürsten geht Ekhof, um ihn zu bitten«, schreibt Kindermann, »er möge, gleich den Gelehrten, so auch den Schauspielern eine Akademie stiften.«411 Ekhofs Absicht bestand darin, die Schauspielkunst durch die eigenständige Akademiegründung demonstrativ in den Kreis der schönen Künste zu heben und den Stand des Schauspielers dem der anderen Künstler gleichzustellen. Kindermann ist der Ansicht, dass Ekhof durch Jacob Friedrich Freiherr von Bielfelds Schrift über den Progrès des Allemands dans les Sciences, les Belles-Lettres et les Artes, die im Jahr 1752 erschienen ist, auf den Akademiegedanken aufmerksam geworden ist. Denn Bielfeld schreibt sowohl über die deutsche Theatergeschichte412 als auch über « des acadé-
helm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 577. 407 Ebd. 408 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 14. 409 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 296. 410 Vierhaus, Rudolf (1999) : Die Organisation wissenschaftlicher Arbeit. Gelehrte Sozietäten und Akademien im 18. Jahrhundert. In : Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Berliner Akademiegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Kocka. Berlin : Akademie Verlag. S. 3–21. S. 7. 411 Kindermann, Heinz (1956) : Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie. In : Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie. Hrsg. von Heinz Kindermann. Wien : Rudolf M. Rohrer (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, Bd. 230, 2. Abhandlung). S. 46–106. S. 71. 412 Vgl. Bielfeld, Jacob Friedrich von (1752) : Progrès des Allemands dans les Sciences, les Belles-Lettres et les Artes. Particulierement dans la Poesie, et l’Eloquence. [Breslau]. S. 188–243.
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mies allemandes ».413 In zwei Briefen414 an Johann Friedrich Löwen berichtet Ekhof über Bielfelds Arbeit, wo er glaubte, »einige wahrscheinliche Spuren von dem ersten Anfange der deutschen Komödie«415 gefunden zu haben, und fertigte eine deutschsprachige Übersetzung416 des Theaterkapitels an, die aus seinem Nachlass im Theater-Journal für Deutschland veröffentlicht wurde. Peter Schmitt bezweifelt hingegen, dass Ekhof durch den Akademiebegriff einen Bezug zur Tradition wissenschaftlicher Akademien herstellen wollte. Denn das übliche fürstliche Patronat habe hierzu gefehlt : Christian Ludwig II. wusste »nichts«417 von Ekhofs Unternehmung. Die demokratische Wahl von Ämtern, die Geschlossenheit der Mitglieder, die Geheimhaltung des Besprochenen, die Sitzordnung nach Dauer der Mitgliedschaft – nach »Anciennität«418 – sowie die Einbeziehung der Symbole des Theaters – »ein Dolch und eine Masque«419 – »deuten eher auf freimaurerische Einflüsse«420 hin. Gerhard Piens sieht in der Sitzordnung, in der Regelung, dass die Zeichen der Akademie während der Sitzungen »vor dem Präside auf dem Tisch liegen sollen«421, sowie in der Bestimmung, dass die Strafgelder »jährlich zum Andenken des Stiftungstags von den sämtlichen Mitgliedern der Academie auf eine anständige Art verzehret«422 werden sollen, »zünftlerische Zöpfe«423. Grundsätzlich lässt sich Schmitt zustimmen, der resümiert, dass es sich bei Ekhofs Akademie »um eine jener vielen Formen von Sozietäten handelt, wie sie im 18. Jahrhundert in den gelehrten, gemeinnützigen, patriotischen, ökonomischen, literarischen und Lese-Gesellschaften zu finden sind […]. Die Grenzen sind hierbei fließend«424. Als »paradigmatisches Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft«425, so Hettling, seien diese Sozitäten Ausdruck und Forum eines bürgerlichen Bildungs- und Selbstverständnisses.
413 Ebd. S. 14. 414 Vgl. Ekhof, Konrad (1781) : Noch etwas aus Ekhofs Brieftasche. [An Hern. Sekret. Löwen nach Schwerin den 14. Nov. 1765, an Hern. Sekret. Löwen nach Schwerin den 7. März 1766]. In : Theater-Journal für Deutschland. Siebenzehntes Stück. S. 74–94. Vgl. auch Ekhof, Konrad (1952) : Briefe an Johann Friedrich Löwen [14. November 1765, 7. März 1766]. In : Conrad Ekhof. Ein Schauspieler des achtzehnten Jahrhunderts. Im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste eingeleitet und hrsg. von Hugo Fetting. Berlin : Henschelverlag. S. 104–119. 415 Ekhof, Konrad (1952) : Briefe an Johann Friedrich Löwen [14. November 1765]. S. 104. 416 Vgl. Ekhof, [Konrad] (1780) : Von dem deutschen Theater, übersetzt aus dem Progrès des Allemands dans les sciences. In : Theater-Journal für Deutschland, 14. Stück. S. 19–40. 417 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 174. 418 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 11. 419 Ebd. S. 16. 420 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 174. 421 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 16. 422 Ebd. S. 15. 423 Piens, Gerhard (1956) : Conrad Ekhof und die erste deutsche Theater-Akademie. Berlin : Ministerium für Kultur (= Studienmaterial für die künstlerischen Lehranstalten, Heft 4). S. 27. 424 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 175. 425 Hettling, Manfred (2010) : Bürgerlichkeit als kulturelles System. S. 14.
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In der Sitzung vom 30. Juni erinnerte Ekhof die Mitglieder der Akademie daran, dass der »hauptsächlichste Bewegungsgrund«426 der Akademie der »Fortgange in der theatralischen Arbeit«427 sei. Hierzu müssen sich die Schauspieler, so Ekhof bereits in der Sitzung vom 2. Juni, »um die Mittel bekümern, die ihre Bemühungen erleichtern«428. Eine lebhafte »Einbildungskraft, eine männliche Beurteilungskraft, ein unermüdeter Fleiß und eine nimermüßige Uebung«429 seien diese Mittel, mit denen es dem Schauspieler auf der Bühne gelinge, die Natur so nachzuahmen, dass »Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten«430 gehalten werden. »Der Zweck unserer Sitzungen ist«, merkt Ekhof nochmals an, diese Mittel so viel als möglich auseinander zu setzen und zu erleichtern. Bevor wir aber die Seelenkräfte eines Schauspielers in Erwegung ziehen, wird es nöthig seyn, Betrachtungen über die mechanischen Theile der Schauspielkunst anzustellen, und in den künftigen Sitzungen unser Augenmerk auf folgende Dinge zu richten, nemlich : (a) auf die Schauspiele, (b) auf das Theater und dahin gehörigen Theile, (c) auf die Schauspieler, und endlich (d) auf die Vorstellungskunst.431
Die thematischen Schwerpunkte hatte Ekhof bereits im fünfzehnten Artikel der Satzung verankert. Hier heißt es, dass die »Hauptsachen, die in den Sitzungen«432 stattfinden sollen, erstens die gemeinsame Lektüre der Dramen sei, die für eine Aufführung in Erwägung gezogen werden. Zweitens stünden »Untersuchungen der Charactere und Rollen solcher Stücke«433 auf dem Plan und drittens die kritische Beurteilung dieser Stücke und gegebenenfalls ihrer Aufführungen. Schließlich wolle man viertens »Abhandlungen und Erläuterungen über die Schauspielkunst überhaupt«434 gemeinsam studieren und sich fünftens über die Pflichten der Schauspieler »im gemeinen Leben«435 austauschen, welche durch ihre Ausübung dem Schauspielerstand und der Schauspielkunst mehr Ansehen verleihen würden. Beim gemeinsamen Lesen sollte festgestellt werden, welche Stücke »cassiret«436 werden, welche »Nachlernungen nöthig haben«437 und welche »gleich gespielt werden«438 können. So wurde beispielsweise Gottscheds Übersetzung von Voltaires Trauerspiel Alzire 426 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 18. 427 Ebd. 428 Ebd. 17. 429 Ebd. 430 Ebd. 431 Ebd. S. 18. 432 Ebd. S. 13. 433 Ebd. 434 Ebd. 435 Ebd. 436 Ebd. S. 22. 437 Ebd. 438 Ebd.
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aus dem Repertoire gestrichen, die Übersetzung von Peter Stüven hingegen konnte gleich gespielt werden. Voltaires Mahomet bedurfte des Nachlernens. Auch das Gespenst mit der Trommel musste nachgelernt werden, Molières Komödien Tartuffe und Der Geizige sowie Christian Fürchtegott Gellerts rührende Komödie Die zärtlichen Schwestern wurden ins Repertoire aufgenommen.439 Gerhard Piens weist darauf hin, dass die Akademiemitglieder bei dieser Beurteilung ihres Repertoires nicht nur Harlekinaden und andere (sit venia verbo) Dramen aus den ersten Lebensjahren des deutschen Theaters von der Bühne [verbannten], sondern auch solche Lustspiele aus der Gottsched-Zeit, deren künstlerischer Wert ihre Aufführung als nicht mehr zulässig erscheinen ließ, die dem künstlerischen Aufschwung des deutschen Theaters im Wege standen.440
In der Sitzung vom 9. Februar 1754 ergänzte Ekhof schließlich die Satzung um die Regelungen, dass einmal »cassirt[e]«441 Stücke der Akademie nicht erneut zur Beurteilung vorgelegt werden dürften, die Aufführung von nachzulernenden Stücken mindestens zwei Tage im Voraus anzukündigen sei und Soufflierbücher – »Exemplare zum Zusagen«442 – »rein, ordentlich und deutlich geschrieben, eingebunden, die gedrukten durchgeblättert, wie die ersten besonders gezeichnet und zu rechter Zeit auf dem Theater seyn«443 sollen. Neben den Leseproben und den Beratungen über das Repertoire sollten auch schauspieltheoretische Texte gelesen, studiert und diskutiert werden. »Lassen Sie uns also, meine Herren und Damen«, lädt Ekhof die Akademiemitglieder ein, die Grammatik der Schauspielkunst studieren, wenn ich so sagen darf, und uns mit den Mitteln bekannter machen, durch deren Anwendung wir zu der Fähigkeit gelangen, die Ursachen von allem einzusehen, nichts ohne hinlänglichen Grund zu reden noch zu thun, und den Namen eines Freykünstlers mit Recht zu verdienen.444
Indem Ekhof von der ›Grammatik‹ der Schauspielkunst spricht, verdeutlicht er, dass es sich bei der Schauspielkunst um eine sprachähnliche, regelbasierte und somit auch lehrund lernbare Kunst handle. »Es ist gewissermaßen mit der Schauspielkunst wie mit der Sprache beschaffen. Wir lernen in unsern zartsten Jahren reden ; wir lernen es, so wie wir es hören und begnügen uns, Worte zu wissen, durch deren Ineinanderfügung wir unsere Gedanken ausdrücken können.«445 Wie im grammatischen Studium der Muttersprache, in dem vom konkreten sprachlichen und sprecherischen Umgang abstrahiert werde, so 439 Vgl. ebd. S. 22 f. 440 Piens, Gerhard (1956) : Conrad Ekhof und die erste deutsche Theater-Akademie. S. 41. 441 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 35. 442 Ebd. 443 Ebd. 444 Ebd. S. 21. 445 Ebd.
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solle auch beim ›grammatischen‹ Studium der Schauspielkunst von der konkreten Bühnen- und Theaterpraxis abstrahiert werden. Gleichwohl solle das theoretische Studium anwendungsbezogen bleiben. Wie in Gottfried Wilhelm Leibniz’ Denkschrift in Bezug auf die Einrichtung einer Societas Scientiarum et Artium in Berlin steht auch bei Ekhof die Forderung im Raum, »theoriam cum praxi zu vereinigen«446. Seine eigene Rolle in diesem Prozess beschreibt Ekhof als Lernender unter Lernenden : »Glauben Sie aber nicht, daß ich mich dabey zum Lehrer aufzuwerfen willens bin ; Im geringsten nicht. Ich bin ein Lernender.«447 Diese Haltung bestätigt der Chronist des Hamburger Theaters Johann Friedrich Schütze, der sich daran erinnert, Ekhof mehr als einmal in einem bekannten Gartenhause vor dem Hamb[urgischen] Dammthore in einem Zirkel hamburgischer Gelehrten und Kaufleute gesehen zu haben, und unter andern eines sehr lebhaften Gesprächs, in welchem der unsterbliche Prof[essor] des Hamb[urgischen] Gimnasiums Reimarus den lernbegierigen Eckhof über philosophische Materien belehrte, wie der Achtung, womit jener große Gelehrte und andre wackre Männer den großen Künstler auszeichneten, der dieser Auszeichnung so würdig war.448
Ekhof hob hervor, dass er sich keineswegs die Rolle eines Lehrers anmaßen wolle und ihn vielmehr das Amt des Propositus dazu verpflichte, »für Materien zu sorgen«449. Für die gemeinsame Lektüre wählte er daher die aktuellsten Texte zur Theorie der Schauspielkunst, die er größtenteils aus den von Lessing und Mylius herausgegebenen Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters bezog. Christlob Mylius’ Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey wurde in der Sitzung vom 30. Juni 1753 vorgelesen. Dieser programmatische Text veranlasste Ekhof nicht nur dazu, den Mitgliedern der Akademie den Status eines »Freykünstlers«450 in Aussicht zu stellen, sondern teilt Ekhofs Auffassung, dass die Schauspielkunst kein bloßes Handwerk sei und ein Schauspieler nicht nur ein gutes Gedächtnis brauche, sondern viel »Witz und Beurtheilungskraft«451. Eine lebhafte »Einbildungskraft, eine männliche Beurteilungskraft, ein unermüdeter Fleiß und eine nimermüßige Uebung«452 sind für 446 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1991) : Leibnizens Denkschrift in Bezug auf die Einrichtung einer Societas Scientiarum et Artium in Berlin vom 24./26. März 1700. In : Dokumente zur Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1700 bis 1990. Hrsg. von Gert Wangermann und Werner Hartkopf. Berlin : Spektrum Akademie Verlag. S. 216–218. S. 217. – Vgl. hierzu auch Laitko, Hubert (2001) : Theoria cum praxi. Anspruch und Wirklichkeit der Akademie. In : Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. 45. Jg. Heft 2. S. 5–57. 447 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 20. 448 Schütze, Johann Friedrich (1794) : Hamburgische Theater-Geschichte. S. 255 f. 449 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 20. 450 Ebd. S. 21. 451 [Mylius, Christlob] (1750) : Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey. In : Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Erstes Stück. S. 1–13. S. 4. 452 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 17.
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Ekhof die Eigenschaften, mit denen es dem Schauspieler auf der Bühne gelinge, die Natur so nachzuahmen, dass »Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten«453 gehalten werden. Ferner erinnert Ekhof die Mitglieder daran, dass auch das »Lesen und Schreiben, ein gutes Gedächtniß, Lernbegierigkeit, einen unermüdeten Trieb, imer vollkomener zu werden, und die Stärke, sich weder durch schmeichelhafte Lobeserhebungen, Stolz noch durch unvernünftigen Tadel furchtsam machen zu lassen«454, zu den Fähigkeiten und Eigenschaften eines Schauspielers gehören müssen. Neben einer Übersetzung von Luigi Riccobonis Pensées sur la Déclamation, die am 11. August 1753 in der Akademie gelesen wurde,455 besprach man auch Lessings Übersetzung von Francesco Riccobonis Abhandlung L’Art du Théâtre : »Wir sind jeden Punkt derselben mit Aufmerksamkeit durchgegangen und haben sie, wo es nöthig gewesen ist, mit Anmerkungen und Exempln erläutert und bewiesen.«456 In der Auseinandersetzung mit den Abhandlungen der französischen Schauspieltheoretiker und -praktiker sei man in der Akademie zu der Ansicht gelangt, dass das »innere Wesen der Vorstellungskunst«457 darin bestehe, die »Natur nachzuahmen«458. Ekhof und die Mitglieder der Akademie teilen hierbei Riccobonis – und Lessings – schauspieltheoretisches Verständnis, dass die natürlich anmutende Schauspielkunst darin bestehe, »durch geschikte Bewegung und Anordnung seines Körpers den erdichteten oder angenomenen Zustand seiner Seele als wirklich glaubend«459 machen zu können. Die Kunst bestünde also darin, die darzustellenden Leidenschaften eines Charakters glaubhaft zu verkörpern, ohne sie aber selbst zu empfinden. Ekhof, der bereits kurz nach seinem Tod als »Vater der deutschen Schauspielkunst«460 bezeichnet wurde, merkt in den Protokollen an, dass die Franzosen bei dieser »schweren Kunst […] Vorgänger«461 und »Lehrmeister«462 gewesen seien. Nur solche Facetten ihres Bühnenspiels habe man abgelehnt, die nicht mit der Natur übereinstimmten oder sich nicht auf dem »Probierstein der Wahrscheinlichkeit«463 bewährten. Fritz Assmann vermutet, »dass Gottsched, der Ekhof und Ackermann 1741 nach Leipzig gerufen hatte […], ihn auf die französischen Theoretiker hingewiesen oder gar den Plan einer Akademie mit ihm besprochen hat.«464 Denn erst 1727 war Gottsched an der Umwandlung der Leip453 Ebd. 454 Ebd. S. 39. 455 Vgl. ebd. S. 27. 456 Ebd. S. 40. 457 Ebd. 458 Ebd. 459 Ebd. 460 [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1778) : Ekhof. In : Theater-Journal für Deutschland, siebentes Stück. [Nachtrag zum siebenten Stück des Theater-Journals]. [S. 115–118. S. 117]. 461 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 40. 462 Ebd. 463 Ebd. 464 Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. Greifswald. S. 18.
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ziger Teutschübenden poetischen Gesellschaft zur Deutschen Gesellschaft beteiligt gewesen und beabsichtigte sie nach dem Vorbild der Académie française zu einer Akademie der deutschen Sprache und Dichtung auszubauen.465 Ebenfalls vom französischen Theater inspiriert war Gellerts Abhandlung Pro comoedia commovente, von der Ekhof eine Übersetzung in der Sitzung vom 16. März 1754 vorlesen ließ.466 Gellert war auf eine französische Dramenform aufmerksam geworden, in der nicht-adelige Charaktere nicht wie sonst üblich der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, sondern in ihren alltäglichen, privaten Verhältnissen gezeigt wurden. Gellerts rührendes Lustspiel Die zärtlichen Schwestern (1747), das er diesem Dramentypus nachempfunden hatte, nahmen die Akademiemitglieder in ihr Repertoire auf. Anders als Johann Friedrich Löwen, der die Absicht hatte, den Schauspielern in Hamburg Vorlesungen über die von ihm selbst verfassten Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes467 sowie über Claude-Joseph Dorats Essai sur la Déclamation Tragique468 halten zu wollen,469 stellte Ekhof heraus, dass es in den Akademiesitzungen nicht so zugehen solle wie auf »einem unglücklichen pohlnischen Reichstage«470 – eine Anspielung auf den sogenannten »›Stummen Sejm‹ [von 1717], auf dem keine Diskussion zugelassen war«471. Seine Beiträge verstand Ekhof vielmehr als Diskussionsangebote : Mein Vortrag wird in nichts als in Anträge, Betrachtungen, Vorlesungen fremder Schriften über die Schauspielkunst und in Anmerkungen über dieselben bestehen ; wobey ein jedes Mitglied die Freyheit behalten, und, was noch mehr, gebührend darum gebeten wird, seine Gedanken nach der Vorschrift des 10ten Artikels zu erkennen zu geben ; ich hergegen werde die meinige selbst nicht eher für gegründet halten, biß sie von der Academie geprüft und für richtig erkläret worden sind.472
465 Vgl. hierzu Döring, Detlef (2002) : Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen : Niemeyer. S. 205– 227, 279–305. 466 Vgl. Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 37. – Vgl. hierzu Gellert, Christian Fürchtegott (1968) : Abhandlung für das rührende Lustspiel [1754]. In : Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Klaus Hammer. Berlin : Hentschel. S. 112–126. 467 Vgl. Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. 468 Vgl. [Dorat, Claude-Joseph] (1758) : Essai sur la Déclamation Tragique, Poëme. [Ohne Ort : ohne Verlag]. 469 Vgl. Schütze, Johann Friedrich (1794) : Hamburgische Theatergeschichte. S. 335. 470 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 20. 471 Hoensch, Jörg K. (1998) : Geschichte Polens. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart : Eugen Ulmer. S. 159. 472 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 20 f.
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Laut des zehnten Artikels der Satzung solle ein Mitglied, wenn es etwas »einzuwenden«473 habe, dem Propositus durch einen »Wink mit den Augen«474 oder durch »Aufstehen vom Sitze«475 ein Zeichen geben. Obwohl es sich bei der Schauspieler-Akademie um keine Theaterschule im engeren Sinne handelte, ließ Ekhof aber keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es ihm um die Erziehung und Bildung der Schauspieler ging : Ich werde mich bemühen, durch meine Betrachtungen Anfängern Einsicht beyzubringen, und ihnen die Mittel zu zeigen, in dieser Kunst eine Geschicklichkeit zu erlangen. Ich werde mir und denen, welche schon Begriffe davon haben, zur Uebung reden und Gelegenheit zu fernern Nachdenken geben ; und blos denen werden meine Betrachtungen überflüssig oder lächerlich vorkommen können, welche glauben, daß sie den höchsten Gipfel der Vollkommenheit längst erreicht haben.476
Darüber, wie die Akademiesitzungen letztlich verlaufen sind, geben die Protokolle leider keine Auskunft. Als Ergebnisprotokolle halten sie bloß fest, was in den Sitzungen besprochen und beschlossen wurde. Allerdings lässt sich anhand der Satzung, der wiederholten Ermahnungen zur Einhaltung der verabredeten Umgangsformen sowie anhand der Hinweise auf eingenommene Strafgelder ein vages Bild rekonstruieren. Die Satzung verlangt von den Mitgliedern der Akademie pünktlich zu den verabredeten Sitzungsterminen zu erscheinen und ein mögliches Fernbleiben aufgrund von Reisen, Krankheit oder anderen Geschäften frühzeitig anzukündigen und zu entschuldigen. Die Mitglieder sollen weder »betrunken«477 noch in einer anderen »Unordnung des Verstandes«478 zur Sitzung erscheinen. Während der Sitzungen sollen die Mitglieder ihre Plätze entsprechend der Sitzordnung einnehmen, mit gebührender »Stille und Aufmerksamkeit«479 den Vorträgen und Gesprächen zuhören und allen Mitgliedern grundsätzlich »höflich und bescheiden begegnen ; aller unanständiger Spaaß, Privat-Haß, Sticheleyen oder wohl gar Heftigkeiten und pöbelhafte Ausdrücke aber sollen auf das sorgfältigste vermieden werden«480. Zutritt 473 Ebd. S. 12. 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Ebd. S. 21. 477 Ebd. S. 11. 478 Ebd. 479 Ebd. S. 13. – In ähnlicher Weise erklärt Kant in seinen Vorlesungen Über Pädagogik, dass man Kinder in die Schule schicke, »nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und augenblicklich in Ausübungen bringen mögen« (Kant 1977 : 698). Damit ist keineswegs gemeint, dass den Schülern ein blinder Gehorsam aufgezwungen werden soll. Im Gegenteil, diese Form der »Zucht« befreie die Kinder von ihrer Wildheit und ermächtige sie so erst zur Selbstbeherrschung. 480 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 12.
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zu den Sitzungen haben nur Mitglieder der Akademie und über die besprochenen Inhalte solle man außerhalb der Akademie nicht sprechen.481 Bei Verstößen gegen diese Artikel treibt der Inspektor »Strafgelder«482 ein : Wer unentschuldigt von der Sitzung fernbleibt, müsse acht Schilling zahlen, wer betrunken erscheint, solle beim ersten Mal vier, beim zweiten Mal acht Schilling bezahlen. Wer zu spät kommt und am Ende der Sitzung »keine genugsame Entschuldigung vorbringen kann«483, der müsse einen Schilling, wer über eine Stunde zu spät kommt, müsse zwei Schilling bezahlen. Wird gegen Artikel zehn der Satzung verstoßen, der das ungeordnete Durcheinanderreden, das lautstarke Geschrei untereinander verbietet, dürfe der Präses »nach Willkühr«484 Bußgelder verteilen. Die auf diese Weise eingenommenen Geldbeträge sollen vom Sekretär protokolliert, in einer verschlossenen Schatulle, zu der nur der Inspektor einen Schlüssel besitzt, an den Präses übergeben und jährlich am Gründungstag der Akademie »auf eine anständige Art verzehret«485 werden. Ekhofs Anmerkungen und wiederholte Ermahnungen deuten darauf hin, dass die Mitglieder der Akademie eine gewisse Disziplinlosigkeit an den Tag legten. Am 28. Juli sah sich Ekhof daher genötigt, die Mitglieder daran zu erinnern, dass es nicht ausreiche, »die Ordnung fest zu setzen, sondern sie muß auch erhalten werden.«486 Während seiner Zeit in Gotha setzte Ekhof für die Disziplinierung der Schauspieler keine Strafgelder ein, sondern bediente sich einer genuin theatralen Bestrafung : dem Vorführen und Beschämen. In Ifflands Almanach für Theater und Theaterfreunde wird berichtet, dass Ekhof in den Proben stets großen Wert auf Pünktlichkeit und Genauigkeit legte. Als zwei junge Schauspieler in Gotha zu spät zur Probe erschienen und sich damit entschuldigten, dass sie ihre Rollen nicht zu üben brauchten, da sie ja schließlich bloß über die Bühne zu gehen hätten, führte Ekhof sie dem Ensemble zur Schau vor. Er bat sie auf die Bühne zu treten, der Rest des Ensembles sollte im Zuschauerraum Platz nehmen. Dann probte er die Szene mit den beiden Schauspielern : Ekhof : »Stehen Sie dort still ! – (Er setzt sich der Tür gegenüber nieder.) Ich stelle den König vor, ich sitze unter dem Baldachin. Sie beide stellen – wie es anders nicht sein kann – spanische Granden vor. Sie kommen aus jener Tür, Sie gehen an dem König vorüber und begrüßen ihn. Nun, meine Herren, wie werden Sie es wohl machen, wenn Sie durch ein Zimmer gehen und den König, der da sitzt, begrüßen wollen ? Probieren Sie es nunmehro.«487
481 Vgl. ebd. S. 14. 482 Ebd. S. 15. 483 Ebd. S. 12. 484 Ebd. 485 Ebd. S. 15. 486 Ebd. S. 26 487 [Anonym] (1807) : Anecdoten und Characterzüge aus der Theaterwelt. In : Almanach für Theater und Theaterfreunde, 1. Jg. [Hrsg. Von August Wilhelm Iffland. Berlin]. S. 228–272. S. 259 f.
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Die Schauspieler waren verlegen und begaben sich zur Tür. Als sie heraustraten und an Ekhof vorbei gingen, grüßten sie ihn »gut bürgerlich !«488 Ekhof stand auf und sagte ernst, sie sollen den Platz des Königs einnehmen und er werde ihnen zeigen, auf was sie zu achten hätten : »›Sie sind schlecht genug gegangen und haben erbärmlich das Kompliment gemacht‹«, erklärte Ekhof, »wenn Sie es einem wohlhabenden Manne hätten machen sollen. Es sind hier aber noch ganz andere Dinge zu beachten. Einmal sollen Sie erst ausmachen, wer von Ihnen beiden zuerst heraustreten wird. Dann denken Sie an die Türschwelle und wie Sie das Bein geschickt über die Schwelle setzen wollen. Hierauf präsentieren Sie dem Könige Ihre Gestalt anständig, dann treten Sie vorwärts und ziehen den Hut auf folgende Weise ab und machen die Verbeugung. Der König entblößt zur Erwiderung das Haupt, dieses empfangen Sie mit einem Blicke der Ehrfurcht, gehen dann etliche Schritte, bedecken sich und verlassen das Zimmer. Dies alles muß Bestimmtheit haben, genau geschehen und doch nicht aufhalten. […] Das Ganze muß mit Leichtigkeit, Sinn und Art geschehen.«489
Ekhof machte den Schauspielern alles vor und ließ sie es dann so oft probieren, »bis das Lahme sich aus der Sache mindestens verlor.«490 Schließlich wandte sich Ekhof an den Rest des Ensembles, der im Zuschauerraum alles beobachtet hatte : »Meine Herren und Damen, ich bedanke mich im Nahmen jener beiden Schauspieler, daß sie haben beitragen wollen, durch ihre Gegenwart den jungen Leuten Achtsamkeit einzuflößen für das, was ihnen obliegt.«491 Günther Heeg versteigt sich in seiner Interpretation dieser Episode, wenn er die Beschämung und Disziplinierung der jungen Schauspieler vor einem kulturanthropologischen Hintergrund als »(theatralische) Opferrituale«492 deutet. Ebenfalls übertrieben erscheint Michael J. Sosulskis Versuch, Ekhofs Disziplinierung der Schauspieler in eine Reihe mit den Reformen der preußischen Armee, der philanthropischen Körperertüchtigung sowie der politisierten Turnerbewegung im 19. Jahrhundert zu stellen und damit die körperliche Zucht als eine die deutsche Nationalidentität stiftende Praktik zu bestimmen.493 Es sollte nicht übersehen werden, dass Ekhofs Akademiegründung nicht nur am Anfang eines langwierigen Institutionalisierungsprozesses des deutschsprachigen Theaterwesens stand,494 der sich während einer gesellschaftlichen Umbruchphase in Deutschland 488 Ebd. S. 260. 489 Ebd. S. 260–262. 490 Ebd. S. 262. 491 Ebd. 492 Heeg, Günther (2000) : Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 188. 493 Vgl. Sosulski, Michael J. (1999) : Trained Minds, Disciplined Bodies : Konrad Ekhof and the Reform of the German Actor. In : Lessing Yearbook, XXXI. Jg. S. 131–156. Vgl. hierzu auch Sosulski, Michael J. (2007) : Theater and Nation in Eighteenth-Century Germany : Diciplined Bodies. Aldershot : Ashgate. 494 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2. 1 : Das Theater-Dispositiv – Institutionalisierungsprozesse des Theaterwesens im 18. Jahrhundert in Deutschland.
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vollzog, sondern zugleich auch Ausdruck des »›aesthetic turn‹ im 18. Jahrhundert«495 war. Mit diesem ideengeschichtlichen Wandel, der im Zusammenhang mit der Rehabilitation der Sinnlichkeit stand, wurde Kunst nicht mehr ausschließlich als Repräsentationsmedium von Souveränität und Macht betrachtet, sondern zunehmend als Möglichkeit zur Produktion und Reproduktion von Subjektivität begriffen. Die Disziplinierung der Schauspieler, die Nötigung zur Pünktlichkeit, Reinlichkeit496 und Aufrichtigkeit ist Ausdruck eines bürgerlichen Erziehungsprogramms. Noch bevor Autoren wie Friedrich Gabriel Resewitz in Die Erziehung des Bürgers,497 Campe in seinem Sittenbüchlein,498 Salzmann in seinem Elementarbuch499 oder Carl Friedrich Bahrdt im Handbuch der Moral für den Bürgerstand500 bürgerliche Verhaltensrichtlinien zusammenstellen, realisierte Ekhof mit seiner Akademiegründung ein pädagogisches Programm, um Schauspielern ein bürgerliches Arbeitsethos zu vermitteln. Als eine bürgerliche Tätigkeit sollte die Schauspielkunst erachtet werden, da sich ihre Ein- und Ausübung – wie Goethe es 1825 formulierte – zwar im Medium des Spiels vollziehe, sie aber »nicht spielend«501 geschehe. Die beschlossenen Artikel der Satzung der Akademie zielten zwar, so Ekhof, »nur auf das Betragen jedes Mitgliedes in den Sitzungen selbst«502. Dennoch erhoffte er sich von der Einübung bürgerlicher Verhaltensweisen, auch das Betragen der Schauspieler jenseits der Bühne und außerhalb der Akademie zu beeinflussen. Nicht ohne Grund machte er die Pflichten, die ein Schauspieler gegenüber sich selbst, seinen Kollegen, der Öffentlichkeit und Gott habe, eigens zum Gegenstand mehrerer Akademiesitzungen.503
495 Menke, Christoph (2003) : Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von ›Überwachen und Strafen‹. In : Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung. Hrsg. von Gertrud Koch, Sylvia Sasse und Ludger Schwarte. München : Wilhelm Fink Verlag. S. 109–121. S. 110. 496 Ekhof verlangte nicht nur, dass die Soufflierbücher »in einer reinlichen und deutlichen Schrift geschrieben seyn müssen« (Ekhof 1956 : 26), sondern bestand auch darauf, dass kein Schauspieler »mit beschmutzter Wäsche, befleckten Strümpfen oder unreinem Gesichte und Händen aufs Theater kommen« (Ekhof 1956 : 36) dürfe. 497 Vgl. Resewitz, Friedrich Gabriel (1773) : Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes, und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit. Kopenhagen : Heineck und Faber. 498 Vgl. Campe, Joachim Heinrich (1777) : Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen. Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius. 499 Vgl. Salzmann, Christian Gotthilf (1782) : Moralisches Elementarbuch, nebst einer Anleitung zum nützlichen Gebrauch desselben. Erster Theil. Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius. 500 Vgl. Bahrdt, Carl Friedrich (1789) : Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen und Neutlingen : Johann Friedrich Balz, Wilhelm Heinrich Schramm und Johann Jacob Fleischhauer. 501 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : [Jugend der Schauspieler, 1825]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 13,1 : Die Jahre 1820–1826. Hrsg. von Gisela Henckmann und Irmela Schneider. München : Hanser. S. 569. 502 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 26. 503 Vgl. ebd. S. 32 f.
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Um diesen »Betrachtungen über die Schauspieler«504 eine Verbindlichkeit zu verleihen, ergänzte Ekhof die Satzung der Akademie in der Sitzung vom 9. Februar 1754 um entsprechende Verpflichtungen, die das konkrete Verhalten der Schauspieler betrafen : Bei der Aufnahme neuer Mitglieder müsse darauf geachtet werden, dass die Kandidaten keine groben »Naturfehler«505 oder »Laster«506 aufwiesen. Jeder Schauspieler solle sich »eines gesetzten und vernünftigen Lebens befleissigen«, er solle »Zänkerey, Schlägereyen oder andern Ausschweifungen sorgfältig vermeiden«507 und seinen Kollegen »ohne allen Hochmuth, Eigennutz, Zanksucht, Heimtükke, und überhaupt ohne Bosheit begegnen«508. Schauspielerinnen und Schauspieler sollen ihre »Ehre zu behaupten und einen guten Ruf zu erhalten suchen.«509 Hierfür sollen sie »übertriebenen Stolz«, »niederträchtige Handlungen«, »Besoffenheit« und ein »unordentliches ausschweifendes Leben«510 vermeiden. Ekhofs Disziplinierung der Schauspieler steht am Anfang einer Reihe von Theatergesetzen, mit den an verschiedenen Theatern Probenabläufe und das Verhalten der Schauspieler auf und jenseits der Bühne geregelt werden sollten.511 Gleichwohl dürfen diese Maßregeln nicht als reine Repressionen verstanden werden. Insbesondere Ekhofs pädagogische Bemühungen, die Schauspieler zu Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen, lassen sich vielmehr als Formen der Hervorbringung ästhetischer Subjekte verstehen – als Weisen der Subjektivierung. Foucault konnte zeigen, dass die verschiedenen Formen der aufkommenden »Disziplinarmacht«512 im 18. Jahrhundert darauf abzielten, Körper nicht mehr zu peinigen, zu verletzen oder zu zerstören, sondern tauglich, nützlich und produktiv zu machen. Sie erweisen sich als Formen der Subjektivierung, da sie die Subjekte erst als subjecta, als Unterworfene hervorbrachten.513 Die Disziplinar504 Ebd. S. 31. 505 Ebd. S. 36. 506 Ebd. 507 Ebd. 508 Ebd. 509 Ebd. 510 Ebd. 511 Vgl. hierzu Belitska-Scholtz, Hedvig & Ulrich, Paul S. (2008) : Theatre Laws and Company Regulations. S. 107–126. Vgl. auch Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 280–296. 512 Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. S. 220. 513 Vgl. Rieger-Ladich, Markus (2004) : Unterwerfung und Überschreitung. Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung. In : Michel Foucault : Pädagogische Lektüren. Hrsg. von Norbert Ricken und Markus Rieger-Ladich. Wiesbaden : VS Verlag. S. 203–223. – Mit dem Begriff der Subjektivierung verneint Foucault die klassische Vorstellung der Subjektphilosophie eines souveränen und überhistorischen Subjekts und betont stattdessen, dass Subjektivität das Resultat einer Wechselwirkung von Wissen, Macht und Selbstverhältnissen sei, die sich als ein historisch variables Set von »Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit« (Foucault 2007 : 283) analysieren ließe. In Anlehnung hieran beschreiben Bührmann und Schneider Formen der Subjektivierung als »die gesellschaftlich vorgegebene, über Dispositive produzierte und vermittelte Art und Weise, wie sich Individuen im Verhältnis zu und im sozialen Austausch mit anderen bzw. mit der Welt wahrnehmen, (leibhaftig) fühlen und in ihren verkörperten Praktiken mehr oder
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macht unterwerfe und kontrolliere die Körper, »indem sie sie übt.«514 Man unterwerfe sich in der Übung wiederholt, methodisch reglementiert sowie leib- und selbstbezogen einer bestimmten Form. Die Übung sei nämlich jene »Technik«, so Foucault, »mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen.«515 Das durch die Übung verinnerlichte Können ist aber nicht nur ein bloßes Ausführen-Können, sondern immer auch ein Sich-Führen-Können.516 Die Disziplinarmacht ist somit keine von außen auf den Körper einwirkende Kraft, sondern lässt sich vielmehr als eine Reihe von Techniken und Apparaturen beschreiben, die Selbstdisziplin erzwingen und die Seele so zum »Gefängnis des Körpers«517 werden lassen. Man finde sie, so Foucault, »in den Praktiken des Militärs, der Religion, der Universitäten – als Initiationsritual, Vorbereitungszeremonie, Theaterprobe, Prüfung.«518 »Macht kann nur über ›freie Subjekte‹ ausgeübt werden«, schreibt Foucault, »insofern sie ›frei‹ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen.«519 In den Rahmen dieser Handlungsmöglichkeiten fallen stets Formen des Widerstandes, um sich der Einflussnahme zu entziehen, sie zu kritisieren, gegen sie zu arbeiten oder sich gegen sie aufzulehnen. Foucault definiert Kritik daher als die »Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.«520 Kritik und Widerstand liegen laut Foucault niemals außerhalb von Machtbeziehungen, sondern seien immer selbst Teil eines agonalen Machtgefüges : »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.«521 Diesen Widerstand schienen auch die Schauspieler ihrem Lehrer entgegenzubringen und entzogen sich den disziplinarischen Maßnahmen. In einem Brief an Friedrich Ludwig Schröder im März 1778 klagte Ekhof, dass Schauspieler sich über »Tyrannei und Despoweniger habitualisiert präsentieren« (Bührmann & Schneider 2008 : 60, vgl. hierzu auch Reckwitz 2010 : 13). Foucault resümiert, dass es bei seinen Untersuchungen nie allein um Macht oder Wissen, sondern stets um die Frage ging, wie Menschen zu Subjekten werden, also um die Frage : »Was sind die Subjektivierungs- und Objektivierungsprozesse, die bewirken, dass das Subjekt als Subjekt Objekt einer Erkenntnis werden kann ?« (Foucault 2007 : 221 f.). Dabei gehe es ihm nicht darum, eine Theorie der Subjektivität oder des Selbstbewusstseins zu entfalten, sondern unterschiedliche Aspekte der abendländischen Geschichte der Subjektwerdung zu versammeln. 514 Menke, Christoph (2003) : Die Disziplin der Ästhetik. S. 112. 515 Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. S. 207 f. 516 Vgl. Brinkmann, Malte (2008) : Über-sich-selbst-siegen und Sein-Leben-ordnen. S. 99. 517 Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. S. 42. 518 Ebd. S. 208. 519 Foucault, Michel (2007) : Subjekt und Macht. In : Michel Foucault : Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 81–104. S. 97 f. 520 Foucault, Michel (1992) : Was ist Kritik ? Berlin : Merve. S. 12. 521 Foucault, Michel (1983) : Sexualität und Wahrheit, Bd. 1 : Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 94.
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tismus« beschweren, wenn er streng sei. »[I]st man gelinde, so treten sie einem auf den Kopf und spielen auf der Nase.«522 In dem Auszug aus dem Journal der Schönemann’schen Schauspieler-Akademie, der im Theater-Kalender abgedruckt wurde, lässt sich ferner eine kurze Bemerkung finden, die Ekhof vermutlich in der letzten Sitzung der Akademie am 15. Juni 1754 machte und die seine tiefe Resignation zu erkennen gibt. Nachdem er seine Ämter niedergelegt hatte, soll er in seiner Abschiedsrede über die Akademie gesagt haben : »Ich war Mensch […], als ich sie stiftete, und konnte alle die Hindernisse, die Widerspenstigkeiten, die elenden Spötteryen nicht vorhersehn.«523 Da diese Passage in Kindermanns Transkript der Protokolle aber fehlt, ist sich die theaterhistoriographische Forschung uneins darüber, ob Ekhof seine Akademie als gescheitert ansah oder nicht. Dass sie unabhängig von seinem Urteil Schule machte, zeigt sich aber am Beispiel des Mannheimer Theaterausschusses.
2.3 Die Aus- und Fortbildung von Schauspielern in Stuttgart und Mannheim im späten 18. Jahrhundert »Das Theater glich einem Irrenhause«, berichtet ein Augenzeuge, »rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum ! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe.«524 Und aus einer Loge heraus beobachtete der Urheber des Bühnengeschehens die Reaktionen des Publikums. Die Gerüchte, die sich in der Stadt den Tag über verbreitet hatten, trafen zu. Friedrich Schiller war anwesend. Einen Tag zuvor hatte er sich mit seinem Schulfreund Johann Wilhelm Petersen unerlaubterweise aus Stuttgart davongestohlen und war mit einer Kutsche über Schwetzingen in die Pfalz gereist, um am 13. Januar 1782 der Uraufführung seines Dramas Die Räuber am Mannheimer Theater beizuwohnen.525 Nachdem Schiller, der als Regimentsmedicus der Württembergischen Armee angehörte, am 25. Mai 1782 ein zweites Mal ohne Urlaubsbewilligung eine Reise nach Mannheim machte und dessen Stück zu einer öffentlichen Beschwerde führte,526 bestrafte ihn 522 Ekhof, Konrad (1954) : An Friedrich Ludwig Schröder. In : Conrad Ekhof. Ein Schauspieler des achtzehnten Jahrhunderts. Im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste eingeleitet und herausgegeben von Hugo Fetting. Berlin : Henschelverlag. S. 87–90. S. 88. 523 [Anonym] (1779) : Nachricht von einer deutschen Schauspieler-Akademie. S. 36. 524 Zit. nach Pichler, Anton (1879) : Chronik des Großherzoglichen Hof- und Nationaltheaters in Mannheim. Zur Feier seines hundertjährigen Bestehens am 7. October 1879. Mannheim : Bensheimer. S. 67 f. – Vgl. hierzu auch Plachta, Bodo (2012) : Schillers Die Räuber auf dem Mannheimer Nationaltheater (1782). In : ›Das Theater glich einem Irrenhause‹. Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg : Winter. S. 115–131. 525 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit [2 Bde], Bd. 1. München : Beck. S. 281. 526 Über Spiegelbergs Verunglimpfung Graubündens als »Athen der heutigen Gauner« (Schiller 1988 : 72) in der dritten Szene des zweiten Akts der Räuber echauffierte sich ein Bündner so sehr, »daß er eine Vertheidigung seines Vaterlandes in den Hamburger Correspondenten einrücken ließ. Wahr-
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Herzog Carl Eugen nicht nur mit einem vierzehntägigen Kerkerarrest, sondern verbot ihm überdies jede schriftstellerische Tätigkeit, die sich nicht auf medizinische Themen konzentrierte. Schon während seiner Schul- und Studienzeit an der Hohen Carlsschule, einer Militärakademie, die im Jahr 1781 von Kaiser Joseph II. den Status einer Universität verliehen bekam,527 wurde Schiller zum »Opfer der Erziehungslust und -sucht«528 des Herzogs. Obgleich die Carlsschule sich durch ein breites Spektrum von Ausbildungsgängen auszeichnete – darunter auch die Ausbildung bildender Künstler529, Musiker530, Tänzer und Schauspieler –, war die pädagogische Praxis durch militärische Strenge geprägt. Die Schüler wurden der Obhut ihrer Eltern entzogen, permanent von Aufsehern überwacht und bei Vergehen zuweilen persönlich vom Herzog bestraft. Sie trugen uniformierte Kleidung, durchliefen einen strikten Tagesplan und absolvierten ein umfassendes Lern- und Arbeitspensum. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, der im Juli 1781 die Eliteschule besucht hatte, zeigte sich zwar beeindruckt angesichts des Niveaus der Ausbildung, monierte aber die soldatische Zucht : »Doch muß ich offenherzig gestehen«, schreibt er in seinem Reisebereicht, daß ich eine militärische Erziehung solcher Kinder die nicht Soldaten werden sollen, nicht für zweckmäßig halten kann. […] Die Einschließung in solche militärische Akademieen hat in Absicht auf die Bildung des Charakters gewissermaßen eben die Fehler, welche die auf mönchische Art eingerichteten Schulen […] haben.531
Schiller, den der Herzog nicht nur gezwungen hatte, sein Studium der Jurisprudenz abzubrechen und fortan Medizin zu studieren, sondern dessen Studienabschluss der Herscheinlich wäre diese Protestation ohne alle Folgen geblieben, wenn nicht die Zeitung als eine Anklage gegen Schiller dem Herzog vor Augen gelegt worden wäre. Dieser war um so mehr über diese öffentliche Rüge aufgebracht, indem derjenige, gegen den sie gerichtet worden, nicht nur in seinen Diensten stand, sondern auch einer der ausgezeichneten Zöglinge seiner, mit so vieler Mühe und Aufmerksamkeit gepflegten Akademie war« (Streicher 1836 : 43 f.). 527 Vgl. Uhland, Robert (1953) : Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. Stuttgart : Kohlhammer. S. 192. Vgl. hierzu auch Hauer, Wolfram (2003) : Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt. Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806. Stuttgart : Franz Steiner Verlag. S. 481–484. S. 482. 528 Wolgast, Eike (1990) : Schiller und die Fürsten. In : Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack. Tübingen : Niemeyer. S. 6–30. S. 7. 529 Vgl. hierzu Zahlten, Johannes (1990) : Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis. In : Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack. Tübingen : Niemeyer. S. 31–46. 530 Vgl. hierzu Sittard, Josef (1970) : Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Württembergischen Hofe [1890/1891]. Zwei Bände in einem Band. Hildesheim : Georg Olms. S. 145–147. 531 Nicolai, Friedrich (1795) : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahr 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Zehnter Band. Berlin und Stettin : [ohne Verlag]. S. 56–58.
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zog überdies absichtlich herauszögerte,532 forderte daher in seiner 1784 gehaltenen Rede über die Schaubühne, dass ein derartiges Erziehungsverständnis der satirischen Kritik unterzogen werde : Der gegenwärtig herrschende Kitzel, mit Gottes Geschöpfen Christmarkt zu spielen, diese berühmte Raserei, Menschen zu drechseln und es Deukalion gleichzutun (mit dem Unterschied freilich, daß man aus Menschen nunmehr Steine macht, wie jener aus Steinen Menschen), verdiente es mehr als jeder andere Ausschweifung der Vernunft, die Geißel der Satire zu fühlen.533
Zusammen mit seinem Schulfreund Andreas Streicher floh Schiller schließlich am 22. September 1782, als anlässlich des Staatsbesuchs des russischen Großfürsten und späteren Zaren Paul I. und seiner Frau Maria Feodorowna festliche Illuminationen, Feuerwerke und Theateraufführungen veranstaltet wurden und für eine nützliche Ablenkung sorgten.534 Schiller hegte die Hoffnung, eine Anstellung als Theaterdichter am Mannheimer Theater zu erhalten. Doch für den Theaterintendanten Wolfgang Heribert Freiherr von Dalberg stellte der Fahnenflüchtige »eher eine Verlegenheit als einen Gewinn«535 dar. Erst im August des nächsten Jahres stellte ihm Dalberg einen befristeten Arbeitsvertrag in Aussicht. Schiller verpflichtete sich hierin, innerhalb eines Jahres drei neue Stücke für den Spielplan zu liefern. Indessen erhielt er das Mitspracherecht im Theaterausschuss, ein Jahresgehalt von 300 Gulden sowie eine Gewinnbeteiligung an den Theateraufführungen. Am 1. September 1783 trat Schiller seine Stelle an und nahm zwischen Oktober 1783 und Mai 1784 an sieben Sitzungen des Ausschusses teil, in denen über Repertoirefragen entschieden und Fragen zur Schauspielkunst diskutiert wurden. Schiller ist damit Zeuge zweier sehr verschiedener Modelle geworden, Schauspieler aus- und fortzubilden. Mannheim ist zugleich der Schauplatz mehrerer schauspielpädagogischer Unternehmungen. Bereits vor Schillers Ankunft in Mannheim und seiner Mitgliedschaft im Theaterausschuss bildete eine unscheinbare Theaterschule nicht nur den Ausgangspunkt des Mannheimer Nationaltheaters, sondern inspirierte auch Johann Heinrich Friedrich Müllers Plan einer Theaterschule in Wien.
532 Vgl. Wolgast, Eike (1990) : Schiller und die Fürsten. S. 7–11. 533 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? S. 198. 534 Vgl. Streicher, Andreas (1836) : Schiller’s Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785. Stuttgart und Augsburg : Verlag bei J. G. Cotta’schen Buchhandlung. S. 79–97. 535 Reed, Terence James (2011) : Schillers Leben und Persönlichkeit. In : Schiller-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart : Alfred Körner. S. 1–23. S. 10.
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2.3.1 Zur »Vollständigkeit seiner Akademie gehörte auch der Unterricht in Musik, Gesang, Schauspiel und Tanzkunst«536 – Aufklärerische Programmatik und höfische Pragmatik bei der Ausbildung von Schauspielern an der Carlsschule in Stuttgart (1770–1794)
»Der verewigte Herzog Carl hatte vom Jahr 1755 an […] bis Anfang der 1770er Jahre, nach dem ungetheilten Urtheil aller Kenner, eines der besten Orchester und der glänzendsten Theater in ganz Deutschland.«537 Keine Kosten scheute er, berichtet Johann Georg August von Hartmann, der an der ökonomischen Fakultät der Hohen Carlsschule im Jahr 1788 zum Professor für Hauswirtschaft (Ökonomie) berufen wurde. Carl Eugen holte »nicht nur die grösten Virtuosen in der Instrumental-Musik, sondern auch die ersten Sänger und Sängerinnen aus Italien«538 nach Württemberg. Zwischen 1760 und 1767 engagierte der Herzog den Verfasser der Lettres sur la Danse,539 Jean-Georges Noverre, dessen choreographische Arbeiten sich bald auf die gesamte europäische Ballettwelt auswirkten.540 Neben einem Orchester und einem »Corps de Ballet«541 mit 28 bis 30 Tänzerinnen und Tänzern beschäftigte Carl Eugen seit 1761 auch ein Ensemble mit zehn bis zwölf Schauspielern und acht bis neun Schauspielerinnen aus Frankreich, die vor allem französische Komödien spielten. 536 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Auf einer Reise in die Schweiz über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen im Jahr 1797 [Brief an den Herzog von Weimar, Tübingen, den 11. September 1797]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 16 : Campagne in Frankreich, Belagerung von Mainz, Reiseschriften. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 171–177. S. 172. 537 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters (1750–1799) [1799]. In : Musik und Musiker am Stuttgarter Hoftheater (1750–1800). Quellen und Studien. Hrsg. von Reiner Nägele. Stuttgart : Württembergische Landesbibliothek. S. 85–108. S. 87. – Der vollständige Titel von Hartmanns Abhandlung lautet Kurze Fragmentarische Geschichte Des Wirtembergischen Hof-Theaters Von Herzog Carls Regierung an, bis auf die gegenwärtige Zeit, nebst Vorschlägen Zu einer Pensions-Caße für dieses Theater, und Zur Verbesserung desselben überhaupt 1799 von J. G. H. Das Original lasse sich, so Reiner Nägele, im Hauptstaatsarchiv Stuttgart unter der Signatur A 12, Bü 75 finden. 538 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 87. 539 Vgl. Noverre, Jean-Georges (1760) : Lettres sur la danse et sur les ballets. Lyon : Aimé Delaroche. Vgl. auch Noverre, Jean-Georges (1769) : Briefe über die Tanzkunst und die Ballette. Aus dem Französischen übersetzt [von Gotthold Ephraim Lessing]. Hamburg und Bremen : Johann Heinrich Cramer. 540 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 48. – Da die Schüler der Carlsschule regelmäßig auf dem sonst geschlossenen, oberen Rang des Stuttgarter Theaters Opernund Ballettaufführungen mitverfolgen durften, sei es sehr wahrscheinlich, so Alt, dass der sechzehnjährige Schiller Noverres choreographische Arbeiten kennengelernt habe (Alt 2000 : 48, Michelsen 1979 : 27). 541 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 87.
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Carl Eugens Repräsentation absolutistischer Macht durch prunkvolle Theaterbauten, prächtige Festveranstaltungen und zahlreiche Opern-, Ballett- und Theateraufführungen belastete aber in hohem Maße den Haushalt des Hofes. Allein für die Beleuchtung des Foyers im Opernhaus verbrauchte man bei jeder Vorstellung 2000 Kerzen und zahlreiche Kanister Öl.542 Zu den anfallenden Kosten für die Beleuchtung, Dekoration, Kostümierung und Ausstaffierung des Bühnenraums kamen die laufenden Instandhaltungs-, Heiz- und Personalkosten. So erhielten der am 29. Mai 1759 eingestellte Schauspieler Fierville und seine Frau jährlich 5000 Gulden. Der am 17. Dezember 1759 in herzogliche Dienste berufene Schauspieler Balville erhielt 1000, die am 7. März 1760 angestellten Schwestern Marianne und Rosette Dugazon aus Bordeaux sowie deren Mutter erhielten ein Jahresgehalt von 3000 Gulden.543 Für sein dreimonatiges Engagement während der Karnevalszeit erhielt der berühmte italienische Tänzer Gaetano Vestris ein Honorar von 12000 Gulden.544 Angesichts dieser Ausgaben sah sich der Herzog bald gezwungen, seinen Haushalt zu konsolidieren und die kostspielige Honorierung ausländischer Künstler einzusparen.545 Im Jahr 1770 wurde daher nicht nur der Oberkapellmeister Niccolò Jomelli entlassen, »sondern in der Folge auch das übrige ausländische Personal des Orchesters, der opera, der Komödie und des Ballets, nach und nach, bis auf wenige Lehrer, für die militärische Pflanzschule«546. Denn der Herzog beabsichtigte, so Hartmann, die Künstler, Musiker, Tänzer und Schauspieler für den hofeigenen Bedarf nun in dieser neugegründeten militärischen Pflanzschule auszubilden.
542 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 49. 543 Vgl. Sittard, Josef (1970) : Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Württembergischen Hofe. S. 58. 544 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 35. 545 Eine dieser Maßnahmen, die Schiller in der sogenannten Kammerdienerszene im zweiten Akt seines Dramas Kabale und Liebe anprangert, war Carl Eugens Versuch, im Jahr 1776 4000 württembergische Soldaten an England zu verkaufen, damit sie im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die aufständischen Kolonien eingesetzt werden könnten (Kapp 1864 : 124–145). In dieser Szene bringt ein Kammerdiener Lady Milford ein Schmuckkästchen mit Brillanten, die der Herzog ihr zur Hochzeit schenken will. Auf die Frage, was der Herzog hierfür bezahlt habe, antwortet der Kammerdiener, dass es ihn nichts gekostet habe und ergänzt : »Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort – die zahlen alles.« Auf die Frage, ob man sie gezwungen habe, antwortet er fürchterlich lachend : »O Gott ! – Nein – lauter Freiwillige ! Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch’ vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe. – Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren, und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster sprützen, und die ganze Armee schrie : Juchhe ! nach Amerika !« (Schiller 1988 : 590 f.). Anders als in Schillers Drama ist Carl Eugens Handel nicht aufgegangen. Die missliche Haushaltslage ließ es nicht zu, die Soldaten ausreichend mit Waffen und Uniformen auszurüsten. 546 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 88.
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Zwischen 1763 und 1767 hatte Carl Eugen ein frühklassizistisches Landschloss in den Ausläufern des Schönbruchs zwischen Stuttgart und Ludwigsburg errichten lassen, das Solitude genannt wurde. Am 5. Februar 1770 ließ er hier in den Nebengebäuden des Schlosses auf seine Kosten zunächst ein »militärisches Waisenhaus«547 einrichten, um – wie sich August Friedrich von Batz ausdrückt – »einige bedrängte und nach Brod seufzende Aeltern zu unterstützen und die Last ihrer Sorgen zu mindern«548. Vierzehn Soldatenkinder wurden hier untergebracht und sollten zu Gärtnern und Stuckateuren ausgebildet werden. Christoph Dionysius von Seeger, der bereits an den Planungsarbeiten zum Schloss- und Gartenbau der Solitude beteiligt gewesen war, entwarf einen Plan zur Aufnahme, Unterrichtung, Betätigung, Verpflegung, Bekleidung und Unterbringen der Schüler.549 Bereits im Dezember des gleichen Jahres war die Zahl der Schüler auf 42 angestiegen. Nach einem weiteren Entwurf Seegers wurde das Waisenhaus zu einer »militärischen PflanzSchule«550 ausgebaut. Als ihren Gründungstag bestimmte man den 14. Dezember 1770 und Seeger wurde zum Intendanten der Schule ernannt. Nach ihrem Curriculum zu urteilen, ähnelte diese militärische Pflanzschule zunächst einer klassischen Ritterakademie. Seit 1771 wurde Unterricht in allen Grundlagenfächern erteilt, die für eine Offizierskarriere unabdingbar waren : Lesen, Schreiben, Latein, Französisch sowie Tanzen, Reiten und Fechten. Ferner gehörte die Unterweisung in Religion, Geographie und Geschichte zum Lehrplan. Der Fächerkanon wurde bald erweitert um die Bereiche der Mathematik und der Militärbaukunst. Später traten auch die Fächer Griechisch, Italienisch, Physik, Mythologie und Logik hinzu. Außerdem wurden an der Carlsschule weiterhin Musiker und Künstler ausgebildet. Am Ende des Jahres 1771 verzeichnete die Anstalt eine Zahl von 300 Schülern.551 Anders als an den klassischen Ritterakademien – wie etwa dem Tübinger Collegium illustre – spielten Herkunftsprivilegien für die Aufnahme keine Rolle mehr. Ganz im Sinne einer Bestenauslese zählten lediglich die schulischen Leistungen und die körperliche Gesundheit der Schüler, sodass auch wie in Schillers Fall begabte Kinder unvermögender Eltern Zugang zur Schule bekamen. Ein Schulgeld wurde für die Carlsschüler nicht erhoben. Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Lernmaterialien wurde ihnen gestellt. Im Jahr 1773 wurde die Carlsschule nach dem Vorbild der École militaire in Paris zu einer »Militär-Akademie«552 umgebildet. Die Ausbildung von Offizieren war zwar erklärtes Ziel, aber nicht das Hauptanliegen der Einrichtung. Vielmehr stand die Ausbildung von Beamten für den Hof- und Staatsdienst im Vordergrund. Durch die Ausweitung der propädeutischen und (berufs-)wissenschaftlichen Lehrbereiche gestaltete sich die 547 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. In eigenem Druck und Verlag. S. 3. 548 Ebd. S. 2. 549 Vgl. Uhland, Robert (1953) : Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. S. 62–65. 550 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 4. 551 Vgl. Uhland, Robert (1953) : Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. S. 83. 552 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 11.
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Akademie zunehmend zu einer polytechnischen »Gesamthochschule«553. Hiermit waren erhebliche Veränderungen im Unterrichtswesen verbunden. Lesen und Schreiben wurde bei der Aufnahme von neuen Schülern, die in der Regel zwischen sieben und neun Jahren alt waren, vorausgesetzt. Sie durchliefen einen vorbereitenden Unterricht in Latein, Griechisch und Philosophie. Im Laufe ihres vierzehnten Lebensjahrs wurde ihre Befähigung für eine »universitätsähnliche Spezialausbildung«554 geprüft : Es gefiel daher dem Durchlauchtigsten Stifter, eine genau Absonderung zu machen ; und, damit k arl derselben desto gewißer seyn konnte, ließ er jeden Zögling, dem sein Alter die Wahl eines künftigen Standes erlaubte, allein vor sich kommen, fragte ihn auf eine sehr herablassende Art, und befahl nur Zöglinge gleicher Bestimmung in eine Abtheilung zu sezen, welche hierauf nach jener benannt wurde, und im Fall einer allzugrossen Ungleichheit der Lehrlinge, wieder in mehrere Theile zerfiel.555
Daraufhin wurden die Schüler auf die juristische, die militärische, die kameralistische oder die forst- und jagdwissenschaftliche Abteilung verteilt und dort unterrichtet. Dazu unterrichte man je eine Gruppe von Künstlern, Musikern und Tänzern. Im Jahr 1773 ließ Carl Eugen überdies eine École des demoiselle – eine »Frauenzimmer schule«556, wie Nicolai anmerkt – einrichten. Am 5. Mai des vorherigen Jahres hatte Carl Eugen den Hofbibliothekar Joseph Uriot gebeten, einen Plan zu einer Mädchenschule für Offizierstöchter nach dem Vorbild der Maison Royale de Saint-Louis in Saint-Cyr bei Versailles zu erarbeiten. Am 17. April 1773 wurde diese Mädchenschule auf dem Gelände der Solitude eingerichtet und von Seegers Frau, Johanna Luise, geleitet. »Das Innere dieser Frauenzimmerschule bekam kein männlicher Fremder zu sehen ; und also kann man von dem Unterricht nur vermuthen«, so Nicolai, »daß er so vorzüglich gewesen sey, als er wirklich auf der Hohen-Karlsschule war.«557 Die 25 Mädchen, unter denen sich auch die Töchter des Herzogs und Verwandte von Franziska von Hohenheim befanden, wurden hier in Religion, Geschichte, Geographie, verschiedenen Sprachen, Musik und Handarbeiten unterrichtet. Neben Offiziers- und Beamtentöchtern wurden auch junge Mädchen aufgenommen, die sich dem Theater oder Ballett widmen wollten. Die in der École ausgebildeten Tänzerinnen und Sängerinnen sollten später ins Opernensemble aufgenommen werden. Uriots Idee, die Mädchen zu Erzieherinnen für alle größeren Städte des Herzogtums auszubilden, wurde vom Herzog abgelehnt.558 553 Vgl. Quarthal, Franz (1988) : Die ›Hohe Carlsschule‹. In : ›O Fürstin der Heimath ! Glückliches Stuttgard‹. Politik, Kultur und Gesellschaft im Südwesten um 1800. Stuttgart : Klett-Cotta. S. 35–54. S. 41. 554 Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 83. 555 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 14. 556 Nicolai, Friedrich (1795) : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahr 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Zehnter Band. S. 68. 557 Ebd. 558 Vgl. Uhland, Robert (1953) : Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. S. 91 f.
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In Schillers Gedicht Von der École des demoiselle, das er um das Jahr 1778 für die Vorsteherin dieser Einrichtung, Franziska von Hohenheim, dichten sollte, heißt es : »Franziska wird mit gnadevollem Blick / Auf ihrer Töchter schwaches Opfer schauen – / Franziska stößt die Herzen nie zurück ! / Und feuervoller wird der Vorsatz uns beleben, / Dem Meisterbild der Tugend nachzustreben !«559 Der Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart fand für die ehemalige Mätresse des Herzogs hingegen ganz andere Worte und bezeichnete sie als ›Lichtputze, die glimmt und stinkt‹560. Er trug sich damit – und durch seine anhaltende Kritik an der Politik des Herzogs – eine zehnjährige Gefängnisstrafe ein.561 Im Jahr 1775 zog die Akademie nach Stuttgart und baute ihr berufswissenschaftliches Spektrum um eine medizinische Abteilung weiter aus. Die Carlsschule war damit nun ein Zusammenschluss, so der Historiker Franz Quarthal, aus Gymnasium, Ritterakademie, Universität (ohne Theologie, aber mit modernen Lehrstühlen für Kameralistik und Forstwissenschaft), Kriegsakademie, Kunst-, Musik- und Theaterakademie und Handelsschule und war damit in der Tat eine unvergleichbare Einrichtung in der Bildungslandschaft des deutschen Reiches.562
Kaiser Joseph II. verlieh ihr im Jahr 1781 schließlich den Status einer Hohen Schule mit Promotionsrecht. Die Feiern am Gründungstag der Carlsschule endeten jährlich »mit einem kleinen Französischen Schauspiel, das Zöglinge beyderley Standes zur Uebung in der Französischen Sprache unter der Anleitung des Professor Uriot gaben, und wobey auch Musik und Ballets von Eleven aufgeführt wurden.«563 Mit der Förderung des Bühnenspiels der Schüler folgte das herzogliche Institut nicht nur dem Beispiel der frühneuzeitlichen Jesuitenschulen und Gymnasien, wie Peter-André Alt erklärt,564 sondern auch der aufklä-
559 Schiller, Friedrich (1992) : Von der École des demoiselle. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Axel Gellhaus, Klaus Harro Hilzinger u.a., Bd. 1 : Gedichte. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag. S. 649–650. S. 650. 560 Als Lichtputzer wurden im Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts die Personen bezeichnet, die die Lampen vom Ruß der Kerzen säuberten und ihre Dochte regelmäßig kürzen mussten. Da Kerzen aus Bienenwachs sehr teuer waren, wurden im Theater oft Talgkerzen zur Beleuchtung verwendet. Talg, der aus dem Bindegewebe der Gedärme von Säugetieren gewonnen wurde, verlieh den Kerzen eine unansehnliche, fettige Oberfläche. Da Talgkerzen schneller verbrennen als Kerzen aus Bienenwachs, verkohlte schnell der obere Teil des Dochts, wodurch sie sehr stark flackerten und rußten. Sie verbreiteten außerdem einen ranzigen Geruch (Krzeszowiak 2009 : 368). 561 Vgl. hierzu Warneken, Bernd Jürgen (2009) : Schubart. Der unbürgerliche Bürger. Frankfurt a.M.: Eichborn. S. 240–249. 562 Quarthal, Franz (1988) : Die ›Hohe Carlsschule‹. S. 42–44. 563 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 15. 564 Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 111.
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rungspädagogischen Idee eines modernen, nützlichen Fremdsprachenunterrichts.565 Am 14. Dezember 1772 führten laut Hartmann ungefähr 30 Schüler Charles Collés Drama La Partie de chasse de Henri IV auf, ein Jahr später spielte man Molières Drama L’Avre ou l’École du mensonge und im Jahr 1774 Louis-Sébastien Merciers Drama Le Déserteur.566 »Viele Zöglinge […] gaben sich damals zu diesen jugendlichen Theatralischen Spielen, welche sie als Übungen ihrer besten Bildung ansahen, gerne her«567. Ihr Lehrer für französische Literatur und Sprache, Joseph Uriot568, »war am 19. April 1760 als ›Comödiant‹ mit 1200 Gulden an den Hof berufen worden.«569 Nach seiner Ausbildung am Jesuitenkolleg in Nancy und seinem Studium an der Universität von Pont à Mousson unterrichtete er zunächst von 1732 bis 1737 die alten Sprachen, wurde dann Professor für Geographie und Geschichte sowie Bibliothekar an der Ritterakademie in Lunéville des Königs Stanislaus I. Leszczyński. Er »ging aber nach vier Jahren auf das Theater und durchreiste die Hauptstädte von Deutschland, Frankreich und Holland.«570 Auf diese Weise gelangte er 1760 an den württembergischen Hof. Herzog Carl Eugen machte ihn neben seiner Tätigkeit als Schauspieler, die er noch 1765 ausübte, am 19. Oktober 1761 zum herzoglichen Bibliothekar und ließ ihn schließlich ab 1772 Unterricht in französischer Literatur und Sprache erteilen. Christoph Heinrich Pfaff, der von 1782 bis 1793 die Carlsschule besuchte, erinnert sich, dass Uriot »von einer besonderen Liebenswürdigkeit«571 war. Er las uns die vorzüglichen Stücke von Molière, Rancine, Voltaire u.s.w. so vor, daß die Personen in ihrer Charakteristik erschienen, wodurch das Interesse an denselben sehr erhöht wurde, welchem Unterrichte ich zum Theil meine Neigung, bei theatralischen Vorstellungen selbst thätig zu sein, zuschreibe, welche auch schon in der Academie, als wir im Chevalier-Saal eine mehr unabhängige Existenz hatten, und unser Lehrerpersonal sogar um uns versammeln durften, mehr als einmal durch Aufführung von dramatischen Studien Iffland’s und Kotzebue’s befriedigt wurde, und deren Bethätignng [sic !] mir auch in reife565 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 1. 3. 2 »Soll man Kinder Komödien spielen lassen ?« – Die Kritik am Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik am Beispiel des Schul- und Kindertheaters. 566 Vgl. Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 89. 567 Ebd. 568 Vgl. Schauer, Eberhard (2000) : Das Personal des Württembergischen Hoftheaters 1750–1800. In : Musik und Musiker am Stuttgarter Hoftheater (1750–1800). Quellen und Studien. Hrsg. von Reiner Nägele. Stuttgart : Württembergische Landesbibliothek. S. 11–83. S. 75. Vgl. auch [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 106–108. 569 Sittard, Josef (1970) : Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Württembergischen Hofe. S. 58. 570 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 106. 571 Pfaff, Christoph Heinrich (1854) : Lebenserinnerungen von Christoph Heinrich Pfaff. Mit Guilielmi Nitzschii Memoria Christophori Henrici Pfaffii, und mit Auszügen aus Briefen von C. F. Kielmeyer, Fried. Brun geb. Münter, dem Grafen Fr. Reventlow auf Emkendorf und Chr. H. Pfaff. Hrsg. von Henning Ratjen. Kiel : Schwers’sche Buchhandlung. S. 30.
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ren Jahren in gebildeten gesellschaftlichen Kreisen, die mit daran Theil nahmn, manchen Genuß verschaffte.572
Uriot war nicht nur Schillers Französischlehrer,573 machte ihn nicht nur mit Noverres Lettres sur la Danse bekannt,574 sondern unterrichtete ihn auch in der Deklamation, Mimik und Pathognomik. Zur Anwendung brachte Schiller diesen Schauspielunterricht, als er zum Geburtstag des Herzogs am 11. Februar 1780 in Goethes Drama Clavigo auftrat. Die Wahl des Stücks, die Verteilung des Rollenfachs und andere Anordnungen wurden Schillern überlassen. Er wählte Goethe’s Clavigo und für sich die Hauptrolle des Stücks. Und wie trat er auf, wie spielte ? Ohne alle Übertreibung darf man sagen – abscheulich. Was rührend und feierlich sein sollte, war kreischend, strotzend und pochend ; Innigkeit und Leidenschaft drückte er durch Brüllen, Schnauben und Stampfen aus, kurz, sein ganzes Spiel war die vollkommenste Ungebärdigkeit, bald zurückstoßend, bald lachenerregend. […] In der Unterredung mit Beaumarchais, wo der Dichter in einer Klammer sagt : Clavigo bewegt sich mit höchster Verwirrung auf seinem Sessel : fuhr Schiller in so wilden Zuckungen auf dem Stuhle herum, daß die Zuschauer lachend erwarteten, er falle herunter.575
Schillers Darstellungsstil soll, so behauptet es Michelsen, der gewesen sein, »der an der Anstalt, jedenfalls von Uriot, gepflegt wurde.«576 Laut Hartmann war Uriot »der deutschen Sprache nicht mächtig, und mit dem Geiste derselben nicht vertraut genug, um seine Zöglinge immer den richtigen Ausdruck in der Declamation, und die accente und Pausen am rechten Orte im Dialog zu lehren.«577 August Friedrich von Batz, der 1783 zum Professor an der juristischen Fakultät der Hohen Carlsschule berufen wurde, berichtet in seiner Beschreibung der Hohen Karls-Schule, dass die Theateraufführungen anlässlich des Gründungstages zwar fortgesetzt wurden, doch »daß von jetzt an blos Zöglinge spielen, die sich der Schaubühne widmen, und denen Herr Uriot noch während der kurzen Zeit, als sie in Verbindung mit der Akademie waren, in der Aktion Unterricht gab.«578 Im November des Jahres 1775 wurden zunächst 572 Ebd. S. 30 f. 573 Vgl. Michelsen, Peter (1979) : Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers Räubern. Heidelberg : Winter Universitätsverlag. S. 28–30. 574 Vgl. Brandstätter, Gabriele (1990) : ›Die Bilderschrift der Empfindungen‹. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde. In : Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack. Tübingen : Niemeyer. S. 77–93. 575 [Anonym] (1807) : Schiller als Schauspieler. (Aus einer noch ungedruckten Schrift.) In : Morgenblatt für gebildete Stände, 1. Jg. Heft 57 [Sonnabend, 7. März 1807]. S. 227. 576 Michelsen, Peter (1979) : Der Bruch mit der Vater-Welt. S. 29. 577 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 91. 578 [Batz, August Friedrich von] (1783) : Beschreibung der Hohen Karls-Schule zu Stuttgart. S. 15.
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»die dem Ballet gewiedmete[n] Zöglinge«579 von den übrigen akademischen Abteilungen abgesondert, und der Aufsicht eines eigenen Offiziers unterstellt, im November 1779 und den darauffolgenden Jahren trennte man überdies die Schüler, die zum Orchester und zum Schauspiel bestimmt wurden. Hartmann berichtet, dass sich die Schüler, vor allem aber ihre Eltern und Verwandten, »gegen einen beständigen Beruf dieser Art«580 sträubten. Wie in Schillers Fall mussten sich die Eltern aber durch eine im Jahr 1774 eingeführte Verpflichtungserklärung (Revers) bereiterklären, ihre Kinder nach abgeschlossen Ausbildung in den Dienst des Herzogs treten zu lassen. Allein, da ihre Eltern meistens Soldaten oder arme Leute waren, welche Erziehung und Bildung ihrer Kinder lediglich der Gnade Carls zu verdanken hatten ; so wurden diese dadurch für obligat angesehen, und der Wahl irgend einer andern Lebens Art abgehalten.581
Als ein Hofbediensteter darum bat, seinen Sohn aus der Schule nehmen zu dürfen, lehnte der Herzog sein Anliegen ab und schrieb am 15. August 1774 an Seeger, dass das Gesuch gegen das Grundgesetz der Schule verstoße, »nach welchem es die größte Billigkeit sei, daß junge Leute, denen er solche vorzügliche Principia und Erziehung beibringen lasse, ihm auch zeitlebens dienten.«582 Der Maler Joseph Anton Koch, der an der Carlsschule seine Ausbildung begonnen hatte, schreibt während einer Ferienreise zum Bodensee in sein Tagebuch,583 dass ihn der Aufenthalt in der Schweiz – »im Lande der Freyheit«584 – schmerzlich an die Zwänge zurückdenken ließe, die in zu Hause erwarten : Bey diesen Empfindungen überfiehl mich wie der heulende Sturm die Rück Erinnerung an meine Knechtschaft, in die ich nun bald wieder zurückkehren mußte. Schon mahlte sich meine düstre Fantasie die Fesseln, die man von neuem für mich schmiedete, die Klauen meiner Würger, die mir drohen. Ach ! Ich will keine Zügellosigkeit ! Aber warum versagt man mir die Freyheit, meine Kräfte die mir die Natur verlieh recht benutzen zu können.585
579 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 90. 580 Ebd. 581 Ebd. 582 Wagner, Heinrich (1856) : Geschichte der Hohen Karls-Schule, Bd. 1 : Die Carls-Schüler nach archivalischen Quellen. Würzburg : C. Etlinger. S. 44. 583 Vgl. hierzu Hofmann, Barbara (2004) : Joseph Anton Koch. Das Tagebuch einer Ferienreise an den Bodensee von 1791. Eine Studie zu Inhalt und Form des malerischen Reiseberichts im ausgehenden 18. Jahrhundert. Berlin : Peter Lang. – Kochs Tagebucheintragungen zu seiner Ferienreise an den Bodensee von 1791 sind hier als Transkript abgedruckt (Hofmann 2004 : 327–356). 584 Hofmann, Barbara (2004) : Joseph Anton Koch. Das Tagebuch einer Ferienreise an den Bodensee von 1791. S. 336. 585 Ebd.
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Eine Karikatur, die Koch seinem Reisetagebuch beifügte und die eine Scene aus dem Kunstleben der jungen Maler zeigt, verdeutlicht Geschmack und Zwang, der an der Carlsschule vorherrschend war. In der Mitte des Bildes stürzt sich der Intendant der Carlsschule Christoph Dionysius von Seeger mit erhobenem Stock auf einen Schüler, während eine Person mit Schürze Seeger auf den wahren Schuldigen aufmerksam machen will, der empört am rechten Bildrand steht und durch eine Fackel mit der Aufschrift ›Prometheus‹ ausgewiesen wird. Zu Seegers Füßen liegt Lessings Laokoon-Schrift. Über dieser Szene tritt der personifizierte Geschmack des Barocks – eine bunte und verschnörkelte Gestalt – eine am Boden liegende Apolloskulptur mit Füßen. »Hierzu brauche ich nicht die brodtlose Vernunft, welche wenig verfertigt, weitläu[fig] darüber räsonirt, und den Magen leer läßt. Ich brauche keine gebildete Seelenkräfte. Ein gutes Aug, eine gute Faust sind hinlänglich, um zum Künstler zu machen. […] Die schönen Wissenschaften nebst allem was man Theorie heißt braucht der Künstler nicht zu seinem Fach«586, lässt Koch den personifizierten Geschmack in seinem Tagebucheintrag sprechen. Der Kunsthistoriker Johannes Zahlten weist darauf hin, dass sich Kochs Kritik in dieser Karikatur und seinen Tagebucheintragungen nicht nur auf die künstlerischen Vorgaben und erzieherischen Zwänge an der Carlsschule bezog, sondern auch darauf, dass junge Maler als kostengünstige Arbeitskräfte zu Dekoraktion- und Theatermalereien herangezogen wurden.587 Die Ausbildung und Professionalisierung von Malern, Musikern, Tänzern und Schauspielern erwuchs nicht zuletzt aus der Notwendigkeit zur Konsolidierung des höfischen Haushalts und dem Bedürfnis nach angenehmer Unterhaltung und Repräsentation absolutistischer Macht. Am 11. September 1797 schrieb Goethe in einem Brief, dass dem Herzog »eine gewisse Großheit«588 bei seinen Unternehmungen nicht abgesprochen werden könne. Er wirkte doch nur zu Befriedigung seiner augenblicklichen Leidenschaften und zur Realisierung abwechselnder Phantasien. Indem er aber auf Schein, Repräsentation, Effekt arbeitete, so bedurfte er besonders der Künstler, und indem er nur den niedern Zweck im Auge hatte, mußte er doch die höheren befördern.589
Schillers Schulfreund Andreas Streicher erinnert sich, dass man die Schüler, die für das Schauspiel bestimmt wurden, in der Übung halten wollte, während ein neues Theater in Stuttgart errichtet wurde. Sie gaben daher
586 Ebd. S. 333 f. 587 Vgl. Zahlten, Johannes (1990) : Die bildenden Künste an der Hohen Carlsschule in Theorie und Praxis. S. 44–46. 588 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Auf einer Reise in die Schweiz über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen im Jahr 1797 [Brief an den Herzog von Weimar, Tübingen, den 11. September 1797]. S. 172. 589 Ebd.
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Abb. 14 Koch, Joseph Anton (1791) : Karikatur auf die Kunstpraxis an der Hohen Carlsschule in Stuttgart, Kunstleben der jungen Maler. Bleistift, Feder in Schwarzgrau, aquarelliert, 35 × 50,1 cm. Stuttgart : Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung.
die Woche einige deutsche Operetten in dem Opernhause, für deren Genuß das Publikum ein sehr mäßiges Eintrittsgeld bezahlte. Auch als das kleinere Theater fertig stand, wurden anfänglich nichts als kleine, deutsche Opern aufgeführt ; was um so natürlicher war, da sich unter allen, welche sich dem Theater gewidmet hatten, nur eine einzige Person fand, welche wahrhaft großes Talent, für sowohl komische als ernsthafte Darstellungen zeigte. Dies war – Herr Haller, ein wahrer Sohn der Natur.590
Unter Uriots Direktion wurden im Jahr 1779 wöchentlich zwei Schauspiele im großen Opernhaus in Stuttgart aufgeführt, für die das Publikum Eintritt zahlen musste. Am 1. Fe590 Streicher, Andreas (1836) : Schiller’s Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785. S. 30 f. – Auch der Stuttgarter Stadtrat und ehemalige Schüler der Carlsschule Friedrich Ritter schreibt 1828 : »Welcher Angehörige der Akademie erinnert sich nicht der durch dieselbe gebildeten ersten stehenden Bühne in Stuttgart und des freundlichen, von Fischer erbauten, später abgebrannte kleinen Theaters, wer nicht der schönen Abende, die uns, um nur des Vorzüglichsten unter vielem Guten zu erwähnen, der ernste Geist, wie der unerschöpflich heitere Humor Hallers, des Lieblings aller, schuf ? Er stand Iffland nahe und hatte den Vorzug einer edleren Gestalt und der Vielseitigkeit ; denn auch im französischen, italienischen und deutschen komischen Singspiel leistete er Treffliches« (Ritter 1828 : 14).
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bruar 1781 wurde das kleine Schauspielhaus von Teinach nach Stuttgart verlegt und mit dem Singspiel Das Gärtner-Mädchen591 eröffnet.592 Die Schauspielerinnen und Schauspieler waren weiterhin an der École des demoiselle und der Carlsschule untergebracht. »Sie genossen daselbst ihre Verpflegung und, neben den Lehranstalten in den schönen Wissenschaften, den Unterricht«593 in der Musik, im Ballett und im Schauspiel. Der Hoforganist Säman, die Kapellmeister Poli und Mazanti sowie der Musikmeister Celestini unterrichteten sie in Musik. Ballettunterricht wurde ihnen von den Ballettmeistern Balletti, Saunier und Regnaud sowie den Tanzmeistern Kochel, Hutti und Herrmann erteilt. Den Schauspielunterricht erhielten sie weiterhin von Uriot. »Von denen, die in dieser Schule ausdrücklich zu Schauspielern, Tänzern und Musikern erzogen wurden, will ich nicht einmal etwas sagen«, schreibt Nicolai, »denn es waren ganz besondre Zöglinge.«594 Über sie lässt sich tatsächlich wenig sagen, da in den offiziellen Schülerlisten selten eindeutig verzeichnet wurde, ob sie als Tänzer, Schauspieler oder Sänger ausgebildet und nach ihrem Austritt aus der Schule tatsächlich am Hoftheater beschäftigt wurden.595 Als Uriot im Jahr 1787 die Direktion des Theaters abgab und ein Jahr darauf verstarb, übernahm »der durch sein ungünstiges Schicksal bekannte«596 Christian Friedrich Daniel Schubart seine Aufgaben. Schubart, der aus seiner zehnjährigen Haft entlassen wurde, gab sich alle Mühe, so Hartmann, Uriots Fehler in der Deklamation »zu verbessern, und statt der eingeschlichenen französischen Manieren dem Schauspiele mehr deutsche Würde zu geben.«597 Er erteilte den angehenden Schauspielern nicht nur Musikunterricht, sondern unterrichtete sie auch in Deklamation und Mimik. Selbst die am Hoftheater beschäftigten Schauspieler konnten an Schubarts Kursen teilnehmen.598 Als Schubart im Jahr 1792 verstarb, wurde der Griechisch- und Lateinlehrer der Hohen Carlsschule Johann Friedrich Schlotterbeck – nicht zu verwechseln mit dem Hofkupferstecher Jakob Christian Schlot591 Vgl. Wolf, Ernst Wilhelm (1771) : Das Gärtner-Mädchen. Eine komische Oper in drey Aufzügen. Weimar : Karl Rudolf Hoffmann. 592 Vgl. Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 90. 593 Ebd. 594 Nicolai, Friedrich (1795) : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahr 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, zehnter Band. S. 67. 595 Vgl. Uhland, Robert (1953) : Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. S. 112. – Johann David Friedrich Haller, von dessen schauspielerischem Talent Streicher und Ritter schwärmten, wirkte als Regisseur, Schauspieler und Musiker am Stuttgarter Hoftheater. In den Schülerlisten der Carlsschule wird er als »Hofmusikus« aufgeführt (Gebhardt 2011 : 272). Ludwig Michael Kaz und andere Schüler wurden in den Listen als Tänzer aufgelistet, wirkten später aber auch als Schauspieler (Gebhardt 2011 : 318). 596 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 91. 597 Ebd. 598 Vgl. Krauß, Rudolf (1908) : Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stuttgart : Metzler. S. 78 f.
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terbeck – zum »Hof und Theater Dichter […], welcher zugleich die Function eines Sekretärs bei der Theater Direction«599 übernahm. Aber schon zwei Jahre später wurde mit Carl Eugens Tod die Carlsschule aufgelöst. Laut Hartmann verließen so viele Mitglieder das Theater, dass die »jüngeren Zöglinge«600 der zum Teil noch erhalten gebliebenen Lehranstalten ihre abgegangenen Vorgänger nicht ersetzen konnten. »Am Ende wurde daher«, so Hartmann, »durch diese letzte Anstalt, welcher Unterstützung und Carls Anleitung fehlte, für die Musik und das Theater nicht viel gewonnen.«601 Goethe bestätigte diesen Eindruck in seinem Brief vom 11. September 1797. Die Akademie, an der »Unterricht in Musik, Gesang, Schauspiel und Tanzkunst«602 erteilt wurde, »erhält sich noch, aber nicht als ein lebendiges, fortschreitendes, sondern als ein stillstehendes und abnehmendes Institut.«603 2.3.2 »Machen sie ihrem Kaiser Vorstellungen, ein Theater-Philanthropin zu errichten, so wie der Churfürst von der Pfalz gegenwärtig eine Singschule gestiftet hat, die viel Gutes verspricht.«604 – Die Theaterpflanzschule unter Gottlieb Friedrich Lorenz und Theobald Marchand am Mannheimer Hof- und Nationaltheater (1776–1778)
»Ich ging darauf in die Theatral-Pflanzschule«605. Der Schauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller, der von Kaiser Joseph II. den Auftrag erhalten hatte, die besten deutschen Theater zu besuchen und ihre Eigenheiten zu studieren, hatte von Lessing im Oktober 1776 den Hinweis erhalten, dass der »Churfürst von der Pfalz gegenwärtig eine Singschule gestiftet« habe, »die viel Gutes«606 verspreche. Ein gewisser Lorenzo, der bey uns [in Wien] vor einigen Jahren die kleinsten Rollen spielte, seit dieser Zeit immer herumgewandert, und fast bey allen deutschen Gesellschaften eine kurze Zeit gestanden ist, auch von der wahren Kunst nichts versteht, ist hier seit einem halben Jahre gegen 600 Gulden Besoldung, Lehrer und Unterweiser der künftigen Mitglieder der Mannheimer Nationalbühne.607
599 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 91. 600 Ebd. S. 93. 601 Ebd. 602 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Auf einer Reise in die Schweiz über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen im Jahr 1797 [Brief an den Herzog von Weimar, Tübingen, den 11. September 1797]. S. 172. 603 Ebd. 604 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 133. 605 Ebd. S. 210. 606 Ebd. 607 Ebd.
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Kurfürst Karl Theodor ließ zu dieser Zeit das Mannheimer Zeughaus – das sogenannte »Schütthaus«608 –, in dem bisher Feuerspritzen, Waffen und Getreideabgaben gelagert wurden, nach den Plänen des Hofarchitekten Domenico Quaglio zu einem Redoutenund Komödienhaus umbauen.609 Aus Kostengründen hatte er die französische Theatertruppe, die noch bis 1770 für geladene Gäste und Mitglieder des Hofes im Schlosstheater in Schwetzingen Aufführungen gab, entlassen und beabsichtigte im neu eingerichteten Theater deutschsprachige Schauspielertruppen auftreten zu lassen. Während der Umbauphase wurde aus den Mitgliedern des Hofballetts eine Gruppe von Darstellern rekrutiert, die unter Anleitung des Schauspielers Gottlieb Friedrich Lorenz seit Oktober des Jahres 1776 den Theaterbetrieb wieder aufnahmen und Aufführungen in Schwetzingen gaben. Im Jahr 1776, ohngefähr sechs Jahre nach der Entlassung der französischen Schauspielergesellschaft, die lange Zeit hindurch mit großen immer steigenden Kosten und immer abnehmendem Vergnügen am kurpfälzischen Hofe unterhalten wurde, weckte Deutschlands Genius [Karl Theodor] den Gedanken auf, eine stehende deutsche Bühne zu errichten. Man suchte fähige Subjekte, und fand deren unter dem Tänzerchor. In wenigen Wochen formte sich eine kleine Gesellschaft, die in Schwetzingen deutsche Schauspiele aufführte. […] Diese [Schauspieler] dilettirten den Sommer hindurch den Hof, das Publikum und sich selbst durch die Aufführungen verschiedener auch großer deutscher Originalstücke. […] Es war kein einziger unter ihnen, der vorher jemals ein Wort auf der Bühne gesprochen hatte, und da nun die Sache, die anfangs nur ein lächerlicher Scherz war, ernsthafter betrachtet wurde, so hielt man es für nöthig, einen Schauspieler von Profession zu ihrer ferneren Anleitung zu engagiren. Dieser war Herr Lorenz.610
Gottlieb Friedrich Lorenz,611 der am 19. Februar 1750 in Marienburg geboren wurde und im Alter von 20 Jahren als Schauspieler zum Theater gelangte, war nur für kurze Zeit – von Juni 1776 bis etwa Mitte des Jahres 1777 – als Theaterleiter und -lehrer in Mannheim beschäftigt. Laut Stephan Freiherr von Stengel kam sein Engagement eher zufällig zu Stande. Stengel, der ab 1778 Geheimer Kabinettssekretär Karl Theodors war, schreibt, dass »sich mehrere junge Leute von dem Ballet zusammen gethan [hatten], und unter der Leitung eines gerade durchreisenden komischen Akteurs Nahmens Lorenz auf dem Schwetzinger Theater einige ganz artige deutsche Lustspiele«612 aufführten. Ihre erste Auf608 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 183. 609 Vgl. ebd. S. 183 f. Vgl hierzu auch Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 689. 610 [Anonym] (1782) : Entstehung der dermaligen Schaubühne in München. In : Der dramatische Censor, Erstes Heft. Weinmonat. S. 3–12. S. 3. 611 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. Die Wanderbühnen im Mannheim des 18. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur Gründung des Nationaltheaters. Frankfurt a.M.: Lang. S. 232–255. 612 Stengel, Stephan von (1993) : Denkwürdigkeiten. Hrsg. von Günther Ebersold. Mannheim : Palatium
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führung bestritten Lorenz’ Schüler am 12. Juli 1776. Sie spielten das Lustspiel Die vier Vormünder von Susanna Centlivre in einer deutschsprachigen Bearbeitung von Friedrich Ludwig Schröder.613 Als Johann Friedrich Heinrich Müller vom 19. bis zum 24. Dezember 1776 die Mannheimer Bühne besuchte, interessierte er sich für die Theaterschule, die laut Lessing »viel Gutes«614 verspreche. Der Finanzminister Franz Karl von Hompesch berichtete ihm, dass man im »vergangenen Sommer durch Tänzer aus der hiesigen National-Tanzschule einen Versuch mit einigen deutschen Original-Stücken gemacht [habe] und es wären einige Subjekte darunter, die große Hoffnung blicken ließen.«615 Man würde diese Schule nun »fortsetzen und sich in der Folge nicht viel um Auswärtige bewerben.«616 Ferner bemühe man sich darum, Ekhof ans Mannheimer Theater zu holen, »der nicht mehr agiren, sondern bloß unterrichten, und eine lebenslängliche gute Versorgung erhalten«617 solle. Laut Müllers Bericht bestand Lorenz’ Theaterschule aus acht Mädchen und vier Jungen, die zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt waren und bereits im Hofballett tätig gewesen seien. »In ihren Unterrichts-Stunden müssen sie lesen lernen. Jedes Kind hat eine Komödie, die es laut und nach vorgeschriebener Accentuation des Lorenzo herablesen muß.«618 Müller bemerkte, »daß die meisten erst seit kurzer Zeit die Buchstaben kennen gelernt hatten und in ihren Kinderjahren von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt seyn mußten.«619 Lorenz versicherte Müller, »daß alle gar nicht hätten lesen können, daß er ihnen erst die Buchstaben und das Buchstabiren hätte beybringen müssen.«620 Unter ihnen befanden sich lediglich drei Mädchen und ein Junge, so Müller, die Talent gezeigt hätten. Allein, alle hatten einen fehlerhaften Dialekt. Sie lesen statt ist, ischt, bist – bischt und lassen bey den Endsylben der meisten Wörter gemeiniglich den letzten Buchstaben aus. Zum Beyspiele – Ist es wahr, daß Sie heute nicht spazieren gehen werden ? Wird von ihnen gelesen : – Ischt es wahr, daß Sie heut’ nicht spaziere gehe werde ?621
Anders als Lessing kommt Müller daher zu dem Urteil : »Viel Gutes verspreche ich mir von dieser Anstalt nicht, um so weniger, wenn sie nicht andere und bessere Lehrer bekom-
Verlag. S. 80. 613 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 238. 614 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 133. 615 Ebd. 207. 616 Ebd. 617 Ebd. S. 208. 618 Ebd. S. 211. 619 Ebd. 620 Ebd. 621 Ebd. S. 211 f.
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men. Die Stunden werden freylich ordentlich gehalten, allein Nutzen wird und kann die gegenwärtige Einrichtung schwerlich bewirken.«622 Lorenz’ Nachwuchstruppe und das umgebaute Zeughaus bilden gleichwohl den Ausgangspunkt des Mannheimer Nationaltheaters. Denn Stengel berichtet, dass Hompesch durch diesen »unbedeutende[n] Anfang«623 auf die Idee gekommen sei, ein »eigenes deutsches Theater in Mannheim«624 einzurichten. Als Mitinitiator der im Jahr 1775 in Mannheim gegründeten Kurpfälzisch deutschen Gesellschaft, die sich um die Förderung der deutschen Sprache und Literatur bemühte, befürwortete Stengel dieses Vorhaben : Die Idee, die Schaubühne zur Würde der Künste empor zu heben und sie gleichsam zum Mittelpunkte zu machen, von welchem aus die bildenden Künste und der gute Geschmack einen neuen Schwung erhalten sollten, der Gedanke, in meiner Vatterstadt die erste regelmäßige national Schaubühne im vollen Glanze eines diesem so vieles zu opfern gewöhnten Hofes zu sehen und endlich die Ansicht , daß die Bühne das würksamste Vehikel seyn würde, eine reinere und vollkommene Sprache und Mundart unter meinen Landsleuten zu verbreiten, auch selbst den Hof für die Schönheiten unserer Muttersprache empfänglich zu machen, all dieses ware mehr als hinreichend, mich für Hompeschens Plan in Feuer zu setzen. Die nehmliche Beweggründe machten nun auch bey der deutschen Gesellschaft die nehmliche Würkung, und alle boten willig die Hände.625
Zu Müller soll Hompesch gesagt haben, dass man beabsichtige, »nichts als OriginalStücke«626 aufzuführen »und die Produkte ausländischer Bühnen durch geschickte Männer originalisiren«627 zu lassen. Bei einer Audienz bestätigte Kurfürst Karl Theodor dieses Vorhaben : »Ich habe bereits ein Haus erbauen lassen«, soll er Müller gesagt haben, »worin nichts als deutsche Trauer- und Lustspiele aufgeführt werden sollen.«628 Von nun an wolle man »kein ausländisches Spektakel mehr«629 auf den Mannheimer Bühnen veranstalten. Der Maler und Schriftsteller Friedrich Müller, der unter dem Namen ›Maler Müller‹ bekannt war, im Jahr 1776 zum kurpfälzischen Kabinettsmaler ernannt wurde und am Hofe Karl Theodors, so sein Biograph Bernhard Seuffert, »eine geachtete Persönlichkeit [war], auf deren Ansichten man etwas hielt«630, wurde beauftragt, sich zu diesem Vorhaben zu äußern. Im April des Jahres 1776 schrieb er dem Schriftsteller und Dramatiker 622 Ebd. S. 212. 623 Stengel, Stephan von (1993) : Denkwürdigkeiten. S. 80. 624 Ebd. 625 Ebd. 626 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 207. 627 Ebd. 628 Ebd. S. 212. 629 Ebd. 630 Seuffert, Bernhard (1877) : Müllers Leben. Geburt bis Romfahrt 1749–1778. In : Maler Müller. Im
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Jakob Michael Reinhold Lenz, der sich zu dieser Zeit in Weimar aufhielt und den er dort einen Monat zuvor auf seiner Durchreise angetroffen hatte,631 dass man ihn aufgefordert habe, einen Entwurf zu einer Theaterschule anzufertigen : Apropos mit dem Nationaltheater wirds hier zu Stande kommen – habe einen Plan zur Anlegung einer Theaterschule machen müssen den ich Dir zuschicken will wenn Dus begehrst[.] [D]er Grund zu einem weitläufigen prächtigen Schauspielhause wird in aller Hastigkeit gelegt[.] [D]iesen Sommer noch solls fertig seyn und zukünftigen January schon drauf gespielt werden.632
Maler Müller sieht die Ausbildung und Erziehung der Schauspieler an die Etablierung einer Schaubühne geknüpft, von der »aus die bildenden Künste und der gute Geschmack einen neuen Schwung erhalten«633 sollen, wie Stengel schrieb. Müller verbindet in seinen beiden Gutachten den Gedanken über Errichtung eines deutschen National Teaters mit den Gedanken über Errichtung und Einrichtung einer Teater Schule. Den einzigen »Weg, auf dem mann bis zum Besiz eines teutschen National Teaters vordringen«634 könne, sieht er in der Ausbildung von jungen Leuten, »die sich der Pfälzischen Schaubüne widmen wollen«635. Er empfiehlt daher, »einige Geschickte Männer, die alle erforderliche Gaben nebst hienlänglichen Teaterkenntnissen zum Unterweisen besitzen«636, zu engagieren und ihnen die Aufgabe zu übertragen, die »pfälzischen, jungen accteurs«637 auf ihr Talent hin zu prüfen, sie in den notwendigen Wissenschaften zu unterweisen und ihnen zu Anstand, Geschmeidigkeit und Biegsamkeit zu verhelfen.
Anhang Mittheilungen aus Maler Müllers Nachlaß. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Berlin : Weidmann. S. 10–32. S. 28. 631 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 231. 632 [Müller, Friedrich] (1987) : Maler Müller an Lenz. Mannheim [April 1776]. In : Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 3. München : Hanser. S. 430–432. S. 431. – Lessing, der zeitweise für die Position des Theaterdirektors in Mannheim vorgesehen war und das Angebot ausschlug, kommt zu einem nüchternen Urteil über das Pfälzer Nationaltheater (Herrmann 1999 : 269–286, Schmitt 1990 : 138 f.). An seinen Bruder Karl schreibt er am 25. Mai 1777 : »Mit einem deutschen Nationaltheater ist es lauter Wind, und wenigstens hat man in Manheim nie einen andern Begriff damit verbunden, als daß ein deutsches Nationaltheater daselbst ein Theater sey, auf welchem lauter geborne Pfälzer agirten« (Lessing 1994 : 79). 633 Stengel, Stephan von (1993) : Denkwürdigkeiten. S. 80. 634 Müller, [Friedrich] Maler (1877) : Gedanken über Errichtung eines deutschen National Teaters [1776]. In : Maler Müller. Im Anhang Mittheilungen aus Maler Müllers Nachlaß. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Berlin : Weidmann. S. 563–566. S. 565. 635 Ebd. S. 564. 636 Ebd. 637 Ebd. S. 565.
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Diese Lehrenden – Maler Müller dachte hierbei insbesondere an »Eckhoff«638, den er bereits angeschrieben habe639 – müssten über ein schauspielpädagogisches Geschick verfügen, um ihre Schüler »ganz zu durchschauen«640. Sie müssten erkennen können, wo sie »der raschen und unbändigen Hitze eines feurigen Jünglings den Zaum anlegen«641 oder »im gegentheil den Sporn«642 zu gebrauchen haben, um ein »rundre Gruppe«643 von Schauspielern hervorzubringen. Im Sinne einer natürlichen Schauspielkunst sollen die Lehrenden, so Maler Müller, ihre Schüler zur »beobachtung der Natur«644 und zur wahren »Darstellung der Caracteren [sic !] durch alle bewegungen des Körpers«645 anleiten. Sie sollen sie »Ausdruck und Stellung im Kampf der Leidenschaften«646 lehren – vom »weiblichen Ausströmen der Klagen, der Bangigkeit, biß zum wilden unarticulirten thierischen Geschrey der Schmerzen, der Angst, der Wuth«647. Ebenso sollen sie ihnen das »urbane, sittliche, Edle nach jedem Carrakter und Standt«648 sowie das »Comische«649 vermitteln – »von der verzerrten Grimaße der Caricatur, vom breiten Lautlachen des Bauern, durchs trollichte Humoristische hindurch biß zum feinen satyrischen Lächeln des Mannes von Erziehung und Geschäft«650. Vor allem sollen sie ihre Schüler darin üben, »ganz physiologisch zu seyn, ganz Seelen Ausdruck im Gesicht zu tragen«651. Das letzte Augenmerk in der Ausbildung der angehenden Schauspieler müsse auf dem »Wohlklang der Stimme«652 und der »Würde in Stellung und Bewegung einzelner Glieder«653 liegen. Maler Müller verlangt, dass diese Unterweisungen »ohnvermischt von Manier oder sonstigen Gewohnheiten und Teater Herkommen, durch und durch ganz beobachtung des Menschen, simple Zurückspieglung der reinen Natur«654 seien. Bevor die »selbstgezogenen jungen accteurs«655 jedoch regelmäßige Vorstellungen geben könnten, müssten sie mindestens zwei bis drei Jahre Unterricht erhalten. Wolle man 638 Ebd. S. 564. 639 Vgl. [Müller, Friedrich] (1987) : Maler Müller an Lenz. Mannheim [April 1776]. S. 432. – Lenz antwortet Müller knapp : »Mit Ekhof ist nichts, er befindet sich allzuwohl in Gotha« (Lenz 1987 : 430). 640 Müller, [Friedrich] Maler (1877) : Gedanken über Errichtung eines deutschen National Teaters. S. 564. 641 Ebd. 642 Ebd. 643 Ebd. 644 Ebd. 645 Ebd. 646 Ebd. 647 Ebd. 648 Ebd. 649 Ebd. 650 Ebd. 651 Ebd. 652 Ebd. 653 Ebd. 654 Ebd. 655 Ebd. S. 565.
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nicht so lange warten, könne man, schlägt Maler Müller vor, gleich acht erfahrene Schauspieler – fünf Männer und drei Frauen – einstellen, die zugleich fähige Lehrer wären. Diese Ensemblegröße erlaube es, die meisten Stücke zur Aufführung zu bringen. Und die Nebenrollen, die unbesetzt blieben, könne man mit den »jungen zöglingen auffüllen – denn immer müßte mit instuiren fort gefahren werden.«656 Wenn junge Schauspieler in »neben rollen oder leichten Hauptrollen auftretten«657 könnten, würden »auf diese Weiße theorie und pra*k*tik [sic !] Hand in Hand neben einander gehen […], um gleich schnell den Anfänger zum Ziel zu führen.«658 In seinen Gedanken über Errichtung und Einrichtung einer Teater Schule führt Maler Müller aus, welche Schüler zur Ausbildung aufgenommen werden sollen. Da der »verrächtliche Blick, den mann bißher in Deutschland auf Comödianten geworfen«659 habe, viele Talente und »Leuthe von Erziehung und Ehre«660 vom Schauspielerstand abschrecke, müsse man bei der Erziehung der Schauspieler »edler verfahren«661. »Mann laße derowegen nimals Persohnen von ganz niedriger Herkunft zu, es sey denn«, räumt Maler Müller ein, »daß Sie sich durch ungemeine Talenten unterscheiden, durch Lebhaftigkeit und Feuer und einer gutwillichen Unterwerfung aller disciplin […] und aus denen sich auch in kurzer Zeit was herausbilden läßt.«662 Mache man die Gründung einer Theaterschule öffentlich bekannt, werde sich bald »eine hinlängliche anzahl von Lehrlingen beyderley geschlechts«663 einfinden. Die aufzunehmenden »Manspersohnen«664 sollten zwischen sechzehn und zweiundzwanzig, die »Frauenzimmer«665 zwischen vierzehn und zwanzig Jahren alt sein. Überdies müsse zwischen solchen Schülern unterschieden werden, die »von ihren Eltern während der Lehrjahre beköstigt«666, und solchen, die »aus der Teater Caße unterhalten – simpel genährt, simpel gekleidet«667 werden. Letztere hätten nach Müller erst im dritten Jahr einen »anspruch auf einige Besoldung«668, damit sie »der Teater Caße das wieder ein verdienen, was Sie daraus gekostet.«669 656 Ebd. 657 Ebd. 658 Ebd. 659 Müller, [Friedrich] Maler (1877) : Gedanken über Errichtung und Einrichtung einer Teater Schule [1776]. In : Maler Müller. Im Anhang Mittheilungen aus Maler Müllers Nachlaß. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Berlin : Weidmann. S. 566–568. S. 566. 660 Ebd. S. 567. 661 Ebd. 566. 662 Ebd. S. 567. 663 Ebd. 664 Ebd. 665 Ebd. 666 Ebd. 667 Ebd. 668 Ebd. 669 Ebd.
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Die Ausbildung an dieser Theaterschule stellt sich Maler Müller so vor, dass die Schüler zweimal in der Woche öffentlich und in Gegenwart des Direktors »unterrichtet werden, um zu sehen, wie eins vor dem andern zu nimt«670. Die übrigen Tage der Woche verbringen die Schüler damit, ihre Rollen abzuschreiben und auswendig zu lernen sowie mit »andren kleinen neben beschäftigungen aufm Teater«671. Außerdem werde den Schauspielern des Ensembles, die eine »gabe zum unterricht«672 besitzen, »eine gewiße anzahl Lehrlingen zum besonderen Unterrichte zugeordnet.«673 Bei Proben und Aufführungen sollen die Schüler nicht nur deshalb zugegen sein, um zu beobachten, sondern auch um im Notfall als Statisten aushelfen zu können. Schließlich solle alle zwei Monate die Tauglichkeit der Zöglinge geprüft werden. Als untauglich erachtete Schüler würden aus der Schule entlassen. Halte man sich an diese Richtlinien, so Maler Müller, werde »nicht allein eine reiche Teater Schule auf dieße Weiße« angepflanzt, »woraus wir wie aus einem garten bey jeglichem Falle immer die stelle wieder besetzen können, die uns abgeht und mangelt – sondern wir werden auch«, glaubt er, »unterschieben [sic !] von allen andern Bühnen, mit der Zeit ein eigenes neues Teater besitzen, ganz natur, ganz wahrheit.«674 Ob Maler Müllers Ratschläge einen Einfluss auf die Gestaltung von Lorenz’ Theaterschule gehabt haben, ist ungewiss. In der Teutschen Chronik schloss man sich im Oktober 1776 zumindest seinem Enthusiasmus an : An unserem neuen Komödienhaus arbeiten täglich 400 Menschen, und schwerlich wird Teutschland künftig ein schöneres aufzuweisen haben. In Schwetzingen üben sich alt und jung, dereinst auf unserm Theater zu spielen, das, wenn die Absicht unseres Churfürsten erfüllt wird, mit der Zeit ganz Originalpfälzisch werden soll. Das Orchester wird aus jungen Pfälzern bestehen, die sich hierdurch den Weg zu dem großen Orchester bahnen. Wer dort künftig unterzukommen denkt, muß in der teutschen Komödie mitspielen. Diese wird also eine Pflanzschule für jenes.675
Gegen Ende des Jahres 1776 war der Umbau des Schütthauses zu einem Theater noch nicht abgeschlossen, aber schon so weit fortgeschritten, dass sich auf der Bühne Aufführungen geben ließen. Am 6. Januar 1777 wurde das Theater daher mit Johann Christian Brandes’ Lustspiel Der Schein trügt eröffnet.676 Lorenz’ Schüler spielten von da an »wo-
670 Ebd. S. 568. 671 Ebd. 672 Ebd. 673 Ebd. 674 Ebd. 675 [Anonym] (1776) : Zur Geschichte des teutschen Theaters. In : Teutsche Chronik auf das Jahr 1776. Hrsg. von M. Christ. Friedrich Daniel Schubart, viertes Vierteljahr, dritter Jahrgang, Achtzigstes Stück [3. October 1776]. S. 629–631. S. 630. 676 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 242.
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chentlich dreymal«677 in dem mehr als tausend Besucher fassenden »neuen […] prächtigen Schauspielhause«678. Der Theaterhistoriker Wilhelm Herrmann zitiert aus den Mannheimer Briefen, einer vierzehntäglich erscheinenden, in Briefen verfassten Chronik des Mannheimer Theaters, eine Passage über Lorenz und seine Schüler. Die Schauspieler seien, heißt es hier in einem anonymen Beitrag, aus den hiesigen Tänzern und Tänzerinnen gezogen. Herr Lorenz, der hierher berufen worden, und unter dessen Aufsicht sie sich bilden, ist seiner Kunst mächtig und in den komischen Rollen ein Meister. Er giebt sich alle Mühe, seine Talente gemeinnützig zu machen, und unter den Schauspielern Nacheiferung zu erwecken. Seine Bemühungen sind auch nicht ohne Erfolg und die Zeit wird ihn immer noch schönere Früchte seiner Arbeiten einernden [sic !] lassen679.
In der Zeitschrift Der dramatische Censor wird dagegen von Lorenz’ Nachwuchstruppe berichtet, dass sie zu klein gewesen sei, »um die Aufführung mancher Stücke bestreiten zu können«680, und dass sie »außer einigen talentvollen Subjekten […] aus unfähigen Nothelfern« bestand, »die auch bescheiden genug waren, wieder abzutreten, sobald sie sich für überflüßig erkannten.«681 Der Hofkammerrat Johann Lambert von Babo, der bereits an der finanziellen Planung des Bühnenumbaus beteiligt war,682 nahm vermutlich daher Verhandlungen mit dem Theaterprinzipal Theobald Marchand auf,683 der seit 1771 regelmäßig mit seiner Theatergesellschaft in Mannheim gastierte. Am 23. April 1777 wurde mit Marchand ein Beschäftigungsvertrag geschlossen.684 Nicolaus Graf von Porcia (auch »Porzia« oder »Portia« geschrieben), der als Intendant die Gesamtverantwortung für das Theaterwesen und die Hofmusik trug, erkundigte sich beim Kurfürsten, ob Lorenz nun zu »behalten oder […] zu beabschiden«685 wäre und was aus den »Däntzer[n]«686 werden solle, »welche bis hiehin sich alle mühe gegeben haben […] Schauspiele aufzuführen.«687 Schon am gleichen Tag wies Carl Theodor an, dass die Tänzer – also Lorenz’ Schüler – Marchand unterstellt werden sollten und er Vorschläge zur 677 [Anonym] (1782) : Entstehung der dermaligen Schaubühne in München. S. 5. 678 Ebd. 679 [Anonym] (1777) : Dritter Brief. In : Mannheimer Briefe, 1. Stück. S. 7 f. Zit. nach Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 243. 680 [Anonym] (1782) : Entstehung der dermaligen Schaubühne in München. S. 5. 681 Ebd. 682 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 184. 683 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 245. 684 Vgl. ebd. Vgl. auch Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 186. 685 [Portia, Nicolaus von] (1899) : Promemoria des Musik-Intendanten Grafen Portia, 23. April 1777. In : Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und Nationaltheaters in Mannheim 1779–1839, Bd. 1 : Das Theater-Archiv. Hrsg. von Friedrich Walter. Mannheim : Hirzel. S. 41. 686 Ebd. S. 40. 687 Ebd.
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Errichtung einer Schauspielschule machen solle. Marchand erklärte sich bereit »die Woche hindurch selbsten Dramatische Vorleßungen zu halten, um die Leuth nicht allein als Practische Schauspieler zu bilden, sondern auch solchen in der Theorie die nöthige Kenntniße beyzubringen.«688 Ob und auf welche Weise Marchand diese Vorlesungen hielt, lässt sich nicht bestimmen : »Nichts erfahren wir von irgendeinem Unterrichtsplane, nichts von den erzielten Erfolgen«689, schreibt Assmann enttäuscht. Eine Liste, die Porcia dem Kurfürsten vorlegte, verrät allerdings, dass elf von Lorenz’ Schülern in Marchands Ensemble übernommen werden sollten. Von den acht Jungen wurden sieben, von den acht Mädchen wurden vier aufgenommen.690 Lorenz erhielt ferner einen Betrag von 150 Gulden, um seine Schüler weiter zu unterrichten. Es lässt sich daher vermuten, dass Lorenz die praktische Ausbildung seiner Schüler fortsetzte,691 während Marchand in seinen Vorlesungen die theoretischen Aspekte der Schauspielkunst vermitteln sollte. Die Fusion der beiden Truppen sowie die Fortsetzung der schauspielpädagogischen Anstrengungen am Mannheimer Theater wurde im Litterarischen Correspondenz- und Intelligenzblatt gefeiert. Der Theaterhistoriker Wilhelm Herrmann zitiert aus einem anonymen Beitrag vom 6. Juni 1777 : National-Schaubühne ? Wie sich da mein Busen hebt ! aber sie ists nicht : wie kann sie es werden ? Antwort. Durch Pflanzschule, – und Direktor […]. Zwey Gesellschaften vereinigen sich miteinander, Marchand und Pfälzer, obgleich nicht primitiver Pfälzer. Das Produkt zweyer Kräfte ist nur eins. Gut ist es, ich versichere dich. Geh und schau.692
Offensichtlich muss auch Lenz über den pädagogischen Auftrag Marchands in Kenntnis gesetzt worden sein. Denn Lenz beabsichtige Marchand ein Exemplar seines bürgerlichen Trauerspiels Die Soldaten zu schicken. Es würde ihn freuen, schreibt Lenz, wenn es von seiner »Schauspielerbaumschule als Übungsstück deklamiert werden könnte«693. Lenz verschickte den Brief allerdings nicht, da er kein Druckexemplar seines Dramas besaß. Wilhelm Herrmann weist darauf hin, dass Lenz’ Brief angeblich im Juni 1776 verfasst wurde, Marchands Schauspielergesellschaft aber erst im Mai des Jahres 1777 mit Lorenz’ 688 [Portia, Nicolaus von] (1899) : Promemoria des Musik-Intendanten Grafen Portia, 3. Mai 1777. In : Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und Nationaltheaters in Mannheim 1779–1839, Bd. 1 : Das Theater-Archiv. Hrsg. von Friedrich Walter. Mannheim : Hirzel. S. 41. 689 Assmann, Peter (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. S. 41 f. 690 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 247 f. 691 Vgl. ebd. S. 246. 692 [Anonym] (1777) : Litterarisches Correspondenz- und Intelligenzblatt, 15. Stück [6. Juni 1777]. S. 117–120. S. 118 f. Zit. nach Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 246. 693 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1987) : Lenz an Marchand [Weimar, Juni 1776]. In : Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 3. München : Hanser. S. 466–467. S. 466.
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Nachwuchstruppe fusioniert wurde. Möglicherweise wollte Lenz sein Drama Marchand »zur Weitergabe an Lorenz zuschicken, weil er mit Lorenz überhaupt nicht oder nicht so gut wie mit Marchand bekanntgeworden war.«694 Wilhelm Herrmann vermutet ferner, dass Lorenz, der seit der Neuregelung Marchand unterstellt war, »Abwanderungsgedanken« mit sich trug, »die er zwar nicht sogleich, doch bald in die Tat umsetzte.«695 Denn entgegen der Behauptung, dass Lorenz zeitgleich mit der Vereinigung der beiden Ensemble Mannheim verließ, wie es im Dramatischen Censor heißt,696 werden im Litterarischen Correspondenz- und Intelligenzblatt eine Reihe von Schauspielern aus Marchands Ensemble genannt, mit denen Lorenz noch zusammen aufgetreten sein soll.697 Verlassen hat Lorenz die Mannheimer Bühne vermutlich erst in der Mitte des Jahres 1777. Ein endgültiges Ende fand die Theaterschule am Mannheimer Hoftheater aber erst, als Marchand im Jahr 1778 zusammen mit dem Kurfürsten nach München zog. 2.3.3 Der Schauspieler, »dieser Volkslehrer muß durchaus philosophische Denkungsart haben«698 – Der Theaterausschuss am Mannheimer Hof- und Nationaltheater unter Wolfgang Heribert von Dalberg (1782–1789) und der »edle Anstand«699 der Mannheimer Schule
In der Zeitschrift Rheinische Thalia schreibt Schiller im Jahr 1785, dass Freiherr von Dalberg zu Mannheim, der […] durch anhaltenden Enthusiasmus für die dramatische Kunst, und eine tiefe Theaterkenntnis dem verworrenen Chaos seiner deutschen Bühne die schöne Gestalt einer akademischen Stiftung gegeben, und den mechanischen Künstler zum Denker gebildet hat – […] vor einigen Jahren auf den vortrefflichen Gedanken geraten [ist], die besten Köpfe der Mannheimer Nationalbühne durch aufgeworfene Preisfrage über die Philosophie ihrer Kunst zu beschäftigen, und ihnen auf diese Weise Rechenschaft über ihr Studium und Spiel abzufordern.700
694 Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 228. 695 Ebd. S. 247. 696 Vgl. [Anonym] (1782) : Entstehung der dermaligen Schaubühne in München. S. 7. 697 Vgl. Herrmann, Wilhelm (1999) : Hoftheater – Volkstheater – Nationaltheater. S. 247. 698 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung [1785]. In : August Wilhelm Iffland. Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn. S. 26–91. S. 57. 699 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim : J. Bensheimer S. 105. 700 Schiller, Friedrich (1992) : Dramaturgische Preisfragen [1785]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf-Peter Janz u.a., Bd. 8 : Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 914–917. S. 914 [Herv. d. Verf.].
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Wolfgang Heribert von Dalberg, der jüngere Bruder des Erzbischofs von Mainz und späteren Früstprimas Karl Theodor von Dalberg, war ein theaterbegeisterter Hofbeamter, der als Geheimrat und Präsident des Oberappellationsgerichtshofes am kurpfälzischen Hof tätig war. Er war Obervorsteher der Kurpfälzisch Deutschen Gesellschaft, die sich nach dem Vorbild der Académie française die Förderung der deutschen Sprache und Literatur zum Ziel gesetzt hatte. Ferner betätigte er sich als Theaterautor701 und gehörte überdies einer »adeligen Dilettantengruppe«702 an, die Anfang des Jahres 1778 unter anderem sein Drama »Walwais und Adelaide«703 aufführte. Der Literaturhistoriker Peter-André Alt bezeichnet ihn als »Aristokrat[en] mit bürgerlichem Kunstgeschmack«704. Seine politische Haltung, so Martin Völker, changiere zwischen »Anerkennung des neuen bürgerlichen Willens zur Selbstbestimmung und einer Huldigung landesväterlicher Herrschaft«705. Als Theobald Marchand zusammen mit einem Teil seiner Theatertruppe im Jahr 1778 Mannheim verließ, weil Kurfürst Karl Theodor seine Residenz nach München verlegt hatte, befürchtete Dalberg, dass durch den Residenzwechsel ein wirtschaftlicher Schaden für Mannheim entstehen könne. Er schlug daher vor, entweder die Universität von Heidelberg nach Mannheim zu verlegen oder den Theaterbetrieb in der Stadt durch die finanzielle Unterstützung des Kurfürsten wiederaufzunehmen.706 Minister Hompesch lehnte die Verlegung der Universität ab. Dalberg erhielt aber am 2. September 1778 die Genehmigung, ein neues Ensemble für die Mannheimer Bühne engagieren zu dürfen, und wurde zum Intendanten ernannt. Als neues Ensemble gewann Dalberg die Truppe des Theaterunternehmers Abel Seyler. Seyler gehörte zu jenen Kaufleuten, die 1767 das Hamburger Nationaltheater mitfinanziert hatten. Nach dem Scheitern der Hamburger Entreprise übernahm er die Leitung der Theatertruppe, leitete das Theater in Hannover, spielte mit seiner Truppe bis zum Schlossbrand 1774 in Weimar und zog von dort schließlich mit seiner Truppe ans Gothaer Hoftheater. Da in Gotha der Hof die Verwaltung der Bühne übernommen hatte, ging Seyler nach Mainz, um eine neue Theatertruppe zu gründen, während seine Schauspieler unter Ekhof in Gotha blieben. Seylers Mainzer Truppe wurde schließlich von Dalberg in Mannheim engagiert und spielte von Oktober 1778 bis März 1779 ein- bis dreimal die Woche. Dalbergs Rolle beschränkte sich in dieser »Aufbruch- und 701 Vgl. hierzu Homering, Liselotte (2012) : Wolfgang Heribert von Dalberg als Theaterleiter und Autor. In : Zwischenwelten. Das Rheinland um 1800. Tagung vom 28. bis 30. Oktober 2011 in Schloß Herrnsheim, Worms. Hrsg. von Volker Gallé und Werner Nell. Worms : Worms Verlag. S. 69–94. S. 85–91. 702 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 187. 703 Ebd. S. 193. – Vgl. hierzu auch Dalberg, Wolfgang Heribert von (1778) : Walwais und Adelaide in fünf Aufzügen. Mannheim : Schwan. 704 Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 274. 705 Völker, Martin A. (2006) : Raumphantasien, narrative Ganzheit und Identität. Eine Rekonstruktion des Ästhetischen aus dem Werk und Wirken der Freiherren von Dalberg. Hannover : Wehrhahn. S. 211. 706 Homering, Liselotte (2012) : Wolfgang Heribert von Dalberg als Theaterleiter und Autor. S. 76 f. Vgl. auch Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 187 f.
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Gründungsphase«707 von 1778 bis 1781 »auf die administrative und disziplinarische Oberaufsicht«708 der Mannheimer Bühne. Die künstlerische Leitung fiel allein Seyler zu. Als Direktor war er für die Auswahl der Stücke, die Leitung der Proben, die anfallende Korrespondenz sowie die Aufsicht über die Theaterbibliothek, die Garderobe und die Disziplin unter den Schauspielern verantwortlich. Nach dem Tod Ekhofs und der plötzlichen Schließung des Gothaer Hoftheaters bemühten sich Dalberg und Seyler darum,709 Seylers ehemalige Truppe nach Mannheim zu holen. Iffland erinnert sich, dass zwei Wochen nach Schließung des Theaters »Briefe des Freyherrn von Dalberg aus Mannheim an die Gemahlin des Gothaischen Ministers von Lichtenstein« eintrafen, »worin jener, Namens des Churfürsten von der Pfalz, fast das gesamte Theater von Gotha dorthin zu engagiren den Antrag machte«710. So wurden aus dem bisherigen gothaischen Hoftheater August Wilhelm Iffland, der siebzehnjährige Heinrich Beck und David Beil, der damals 23 Jahre alt war, sowie Johann Michael Boek, Wilhelm Christian Dietrich Meyer und seine Frau, Johann Wilhelm Backhaus, Friedrich Hoenike sowie Karoline Kummerfeld und Christiane Henriette Beck (auch bekannt unter dem Namen Wallenstein) nach Mannheim geholt. Von diesem neu zusammengesetzten Ensemble wurde am 7. Oktober 1779 das kurpfälzische Theater in Mannheim mit dem Lustspiel Geschwind, eh es jemand erfährt711 von Goldoni nach einer Bearbeitung von Johann Christian Bock eröffnet. Seyler und Dalberg legten den Mitgliedern des Ensembles im Herbst des Jahres 1780 einen Katalog mit Theatergesetzen, die sie »nach dem löblichen Beispiel verschiedener anderer wohl eingerichteter deutscher TheaterGesetze«712 entworfen hatten, zur Unterschrift vor. Diese Vorschriften sollten Probenabläufe regeln und Seylers Weisungsbefugnis als Direktor unterstreichen. Sie sahen bei Missachtung empfindliche Bußgelder vor. Ein Viertel wird von der wöchentlichen Gage abgezogen, wenn die Schauspieler Rollen ablehnen, sie ihren Text nicht memoriert haben, die Stadt ohne Ankündigung länger als 24 Stunden verlassen, sie Proben verpassen oder wenn wegen ihnen eine Aufführung abgesagt werden muss. Beginnt ein Schauspieler einen Streit unter Kollegen, kommt er zu spät zu Proben oder spielt seine Rolle bei der Generalprobe nicht so, dass man wenigstens
707 Homering, Liselotte (2012) : Wolfgang Heribert von Dalberg als Theaterleiter und Autor. S. 80. 708 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 195. 709 Vgl. hierzu Kap. 2. 2 : »›Studieren !‹ Das war ja Eckhofs Wort und hatte mir die Sache, die ich so lieb hatte, noch mehr veredelt !« – Konrad Ekhof und die Akademie der Schönemann’schen Gesellschaft in Schwerin (1753–1754). 710 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 89. 711 Vgl. hierzu [Bock, Johann Christian] (1777) : Geschwind, eh es jemand erfährt, oder der besondre Zufall. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Aufgeführt auf dem k. k. Nationaltheater. Wien : Logenmeister. 712 Koffka, Wilhelm (1865) : Iffland und Dalberg. Geschichte der classischen Theaterzeit Mannheims. Nach den Quellen dargestellt. Leipzig : J. J. Weber. S. 534–538. S. 534.
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die »Skizze von dem zu spielenden Charakter deutlich«713 erkenne, wirde ein Sechstel von der Wochengage abgezogen. Außerdem wird mit Bußgeld geahndet, wenn Schauspieler bei Proben oder Aufführungen ihren Auftritt verpassen, sie ihren Dienstboten, Kindern oder Fremden Zugang zur Bühne gewähren und wenn sie Rollentexte oder Kostümierungen abändern. Die Hälfte der wöchentlichen Gage wirde einbehalten, wenn Schauspieler »gegen die Befehle, Ermahnungen, Anordnungen und Weisungen«714 des Direktors verstoßen oder »sich in Wort oder Handlungen gegen ihn ungebührlich«715 betragen, eine Aufkündigung des Beschäftigungsvertrags riskiere man bei »unsittliche[r] Aufführung«716. Die eingenommenen Strafgelder werden in einer Kasse gesammelt und sind »zur Austheilung unter reisende bedürftige Schauspieler bestimmt.«717 Der Schauspieler Johann Michael Boeck hielt diese Vorschriften schlicht für »überflüssig«718 und behauptete, dass selbst Ekhof die Theatergesetze des gothaischen Hoftheaters »belacht, stillschweigend in seinen Schrank geschlossen und niemals Gebrauch davon gemacht«719 habe. In Anbetracht der Tatsache, dass Ekhof aber den Mitgliedern der Schauspieler-Akademie ebenfalls eine Reihe von Regeln und Bußgeldern vorgesetzt hatte, ist Boecks Schilderung eher zu bezweifeln. Da Boeck der einzige war, der sich weigerte, die Theatergesetze zu unterschreiben, antwortet ihm Dalberg hierauf schriftlich : Was eine ganze Gesellschaft beschließt und stillschweigend anerkennt, muß sich ein einzelnes Mitglied derselben Gesellschaft nach allen Regeln der Vernunft und Billigkeit gefallen lassen ; Sie allein, Herr Boek wollen Einwendugen gegen Gesetze machen, wovon Ordnung und Erhaltung eines gesitteten Theaters allein abhängt ; Sie allein glauben also, daß eine Schauspielergesellschaft keine Gesetze, keine Strafe brauche ; ich glaube es nicht. Was an andern Orten desfalls geschehen und noch geschieht, beweist nur höchstens so viel, daß anderwärtige Intendanzen und Theaterdirectionen sehr gut und nachgiebig gewesen sein müssen, oder es noch sind, um Schauspieler und Schauspielerinnen willkürlich ohne vorgeschriebene Gesetze schalten und walten zu lassen, und ihnen bei Vergehungen keine zweckmäßige Strafen anzusetzen.720
Schiller gestand später in einem Brief an Dalberg, dass er ihn dafür bewundere, »einer so reizbaren Menschenklasse vorzustehen, ohne die Liebe eines einzigen Individuums zu verlieren.«721 Die Theatergesetze sollten insbesondere die immer wiederkehrenden Que713 Ebd. S. 535. 714 Ebd. S. 537 715 Ebd. 716 Ebd. 717 Ebd. 718 Ebd. S. 68. 719 Ebd. 720 Ebd. S. 68 f. 721 Schiller, Friedrich (2002) : An Wolfgang Heribert von Dalberg [Mannheim, 19. März 1785]. In :
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relen über die Rollenverteilung beenden und Seylers Autorität in dieser Angelegenheit stärken. Dennoch führte eine Auseinandersetzung zwischen der Schauspielerin Franziska Toscani und Seyler am 3. Februar 1781 zu einem Streit, in dem Seyler gegenüber der Schauspielerin handgreiflich wurde und Dalberg ihn »nach den Theatergesetzen ›wegen unsittlicher Aufführung‹ entlassen«722 musste.723 Als Übergangslösung beschloss Dalberg am 13. Februar 1781, die vakante Position bis zur Einstellung eines neuen Direktors durch einen Schauspieler zu besetzen, der von allen Ensemblemitgliedern gewählt werden sollte. Diesem Ausschuss – wie der Posten etwas missverständlich bezeichnet wurde, da es sich hierbei um kein Gremium handelte – stellte Dalberg einen zweiten Ausschuss zur Seite, der von Dalberg selbst ernannt wurde und idealerweise alle drei Monate neu besetzt werden sollte. »Nach des Direktors Seyler Abgange«, erinnert sich Iffland, wurde ein erster Ausschuß unter Vorsitz der Intendanz von den Schauspielern erwählt. Die Intendanz ernannte zu dessen Unterstützung einen zweyten Ausschuß, welcher letztere alle drey Monate wechselte. Erster Ausschuß ward der Schauspieler [Christian Dietrich] Meyer, und blieb es bis zu seinem Tode im September 1783.724
Als zweiten Ausschuss ernannte Dalberg den Schauspieler David Beil. Die Ausschüsse, die bald als ›Regisseure‹ bezeichnet wurden – mit dem Regisseur des Regie-Theaters im 20. Jahrhundert aber keineswegs vergleichbar sind –,725 hatten die Aufgabe, die Probenarbeiten zu beaufsichtigen sowie die Kostüme und Requisiten bereitzustellen. Sie waren einerseits für Aufgaben zuständig, die später die Inspizienten übernehmen sollten, verfügten aber andererseits auch über gewisse künstlerische und disziplinarische Kompetenzen, die beim Wandertheater üblicherweise die Prinzipale innehatten. Die Regisseure erhielten hierfür einen Aufschlag zu ihrer Gage.726 Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf-Peter Janz u.a. Bd. 11 : Briefe I. 1772–1795. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 139–140. S. 140. 722 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 120 f. 723 Iffland erinnert sich, dass die Schauspielerin Toscani »auf einer Probe, bey einer kaltblütigen, vorsetzlichen Uebertretung der Theatergesetze, auf die ruhigste Zurechtweisung des Direktors Seyler, mit steigender Unart und so hämischer Kälte und offenbarem Hohn antwortete, daß der gekränkte, vom Gefühl des schändlichen Undanks überwältigte, lebhafte Mann, da sie eben eine boshafte Tirade ihm dicht unter die Augen sagte – sich vergaß und mit der Hand antwortete« (Iffland 1798 : 106). – Vgl. auch Koffka, Wilhelm (1865) : Iffland und Dalberg. S. 538–545. Vgl. auch Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 198. 724 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 120 f. 725 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 204. 726 Vgl. ebd. S. 205.
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»Die provisorische Organisation, die Dalberg dem Theater im Frühjahr 1781 g egeben hatte«, schreibt Daniel, erwies sich aber bald »als revisionsbedürftig, weil sie eines der hauptsächlichen und zeitraubenden Aufgabengebiete einer damaligen Bühnenleitung ungeregelt gelassen hatte : die Suche nach neuen Stücken und die Aufstellung des Reper toires.«727 Mit diesen Fragen befasste sich seit Ende Mai des Jahres 1781 ein Ausschuss, der in diesem Fall tatsächlich eine Versammlung von Schauspielern der Bühne war, die in der Regel von Dalberg geleitet wurde und idealerweise alle vierzehn Tage zusammentreten sollte.728 Am 21. Oktober 1782 beriet sich Dalberg mit den Schauspielern Beil, Beck, Meyer, Kirchhöfer, Rennschüb und Iffland darüber, welche Aufgaben der Ausschuss in Zukunft zu übernehmen habe. Dalberg, der laut Daniel zu diesem Zeitpunkt angesichts der finanziellen Lage des Theaters die Hoffnung aufgegeben hatte, einen neuen Direktor einstellen zu können,729 legte nach der Aussprache fest, dass im Ausschuss nach der Verlesung des Protokolls der vorherigen Sitzung erstens die stattgefundenen Aufführungen kritisch diskutiert, zweitens neue Stücke vorgeschlagen, drittens Verstöße gegen die Theatergesetze angemerkt und viertens alle eingegangenen Klagen unparteiisch besprochen werden sollen. Überdies solle fünftens der Spielplan der nächsten zwei Wochen beschlossen sowie sechstens über aktuelle Nachrichten aus den Theaterjournalen berichtet werden.730 Als »constituionelle Regierungsform«731 bezeichnet der Chronist der Mannheimer Bühne Wilhelm Koffka diese Organisationsform, weil einerseits durch die Wahl des Regisseurs und die Teilnahme am Theaterausschuss den Schauspielern zumindest eingeräumt wurde, eine Mitsprache an der Führung des Theaters geltend zu machen, Dalberg als Intendant sich aber andererseits direkt in künstlerische Gestaltungsfragen einschaltete und letztlich »für alle Personal- und Sachfragen«732 die Entscheidungsinstanz blieb. Devrient urteilt in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst, dass Dalberg hiermit die Grenze 727 Ebd. S. 206. 728 Lessing, der zeitweise für die Leitung der Mannheimer Bühne vorgesehen war, hatte vorgeschlagen, die Auswahl und Beurteilung von Stücken einem Ausschuss der Kurpfälzisch deutschen Gesellschaft zu übertragen : »Die Aufsicht aber von Seiten der Kunst und Moral sollte der Churfürst der Akademie anvertrauen, woraus sowohl das Theater als diese Akademie nicht geringen Vortheil ziehen könnte. Zu dem Ende müßte sie erstens die neu herauskommenden Stücke lesen und prüfen, und diejenigen davon vorschlagen, die der Aufführung am würdigsten wären ; zweytens über die Sprache der Schauspieler wachen, und durch ihre Erinnerungen so viel wie möglich verhindern, daß weder üble Aussprache, noch grammatische Fehler, sich in dem Publicum verbreiten. […] Drittens, die Deutsche Gesellschaft müsse zu dieser Absicht einen Ausschuß von sechs oder sieben Gliedern ernennen, die von jeder Vorstellung dasjenige vor sie brächte, was einer allgemeinen Berathschlagung würdig wäre« (Lessing 1793 : 386). 729 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 206. 730 Vgl. Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 68 f. 731 Koffka, Wilhelm (1865) : Iffland und Dalberg. S. 86. 732 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 204.
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der bloß beaufsichtigenden Oberbehörde überschritten und die Leitung des rein künstlerischen Gebiets übernommen habe. Und dennoch war er weit entfernt, sich in künstlerischen Dingen eine unbeschränkte Entscheidung beizumessen, nein, in ebenso bescheidener, als liberaler Gesinnung wollte er den Gesammtgeist, die künstlerische Intelligenz zum Lenker des Nationaltheaters machen.733
Liselotte Homering bestimmt das Jahr 1781 daher auch als Zäsur und weist den Zeitraum zwischen 1781 und 1789 als die Phase in Dalbergs Intendanz aus, in der er sich mit großer »Gewissenhaftigkeit«734 und »überdurchschnittlichem Engagement«735, so Daniel, für die Mannheimer Bühne einsetzte. »Offenbar besaß er zu Beginn seiner Intendanz genügend Idealismus«, schreibt Homering, »die Schauspieler auf einen Weg führen zu wollen, die die Mannheimer Bühne in der Tat zu einer Art Schule der Nation hätte machen sollen – dies ist auch erklärtermaßen ein Aspekt gewesen, warum Dalberg die Ergebnisse der Ausschussarbeiten protokollieren ließ.«736 In der Ausschusssitzung vom 30. November 1785 gibt Dalberg zu Protokoll, dass die Verfassung der Mannheimer Bühne gegenwärtig an einem Punkt stehe, »der vielleicht anderen Bühnen zum Muster aufgestellt zu werden verdient. […] Es ist gewiß hier mehr für die Kunst überhaupt gethan – und zugleich weit weniger in öffentlichen Schriften von unserem Theater, als von allen übrigen geringeren Theatern gesagt worden.«737 In drei Foliobänden protokollierte der Souffleur und Kopist Trinkle die Beschlüsse, Besprechungen, Nachrichten, Rezensionen und Beschwerden, die im Theaterausschuss diskutiert wurden.738 Dieser Ausschuss, schreibt Iffland, berathschlagte über Verbesserung des Theaters, brachte neue Stücke in Vorschlag, las die Rezensionen über empfangene Schauspiele vor, empfing Lob oder Tadel über bedeutende Vorstellungen, von dem Intendanten selbst verfaßt, stimmte ab über eingegangene Vorstellnngen [sic !], Klagen, Vorschläge, und es war jedermann, der nicht im Ausschusse war, verstattet dahin zu kommen und seine Sache selbst zu führen.739 733 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 501. 734 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 194 735 Ebd. 736 Homering, Liselotte (2012) : Wolfgang Heribert von Dalberg als Theaterleiter und Autor. S. 83. 737 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim : J. Bensheimer. S. 296–297. S. 296. 738 Der Theaterhistoriker Max Martensteig gab diese Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789 im Jahr 1890 gesammelt in einem Band heraus (Martensteig 1890). Die Dramaturgische Gesellschaft veranlasste im Jahr 1980 einen Nachdruck, der als vierzehnter Band in der Reihe Schriften der Dramaturgischen Gesellschaft erschienen ist. 739 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 121.
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Dass sich aus dieser Organisationsform der Mannheimer Bühne und der Diskurskultur keineswegs auf eine Selbstverwaltung des Ensembles schließen läßt, zeigt sich aber beispielsweise an der Diskussion um die Aufführung von Schillers Drama Die Räuber. Der Mannheimer Buchhändler und Verleger Christian Friedrich Schwan hatte die Veröffentlichung von Schillers Drama im März 1781 zwar abgelehnt, den Text aber an Dalberg weitergegeben. Ende Juni bekundete Dalberg Interesse daran, Schillers Stück in Mannheim aufführen zu wollen, verlangte vom Autor aber, dass er die Kritik an Kirche und Obrigkeit im Stück entschärfen solle. Eine überarbeitete Version unter dem Titel Der verlorene Sohn, oder die umgeschmolzenen Räuber schickte Schiller dann am 6. Oktober 1781 an Dalberg. Unzufrieden mit Schillers Änderungen und im Zuge der großen Begeisterung des Publikums für Goethes Ritterstück Goetz von Berlichingen beschloss Dalberg, die Handlung des Dramas ins späte Mittelalter zu verlegen. Nicht zuletzt beabsichtigte er damit auch die gesellschaftskritischen Aussagen des Stücks zu entkräftigen.740 Die Mitglieder des Mannheimer Theaterausschusses sprachen sich dagegen aus, den Gegenwartsbezug des Stückes zu verschleiern. Die Schauspieler Iffland, Beck, Beil, Meyer und Kirchhöfer erklärten in der Ausschusssitzung vom 17. November 1781, daß in Betracht der Räuber die allgemeine Stimme wider das altdeutsche Kostüm sich erklärt hat. Da die Wirkung, welche dieses Stück im Ganzen machen wird, schwer zu bestimmen ist, sollten wir im Fall einer nicht ganz erwünschten Wirkung uns wohl nicht dem Vorwurf aussetzen, das veränderte Kostüm habe die Wirkung gemindert ?741
Dalberg antwortete hierauf unmissverständlich : Mag die allgemeine Stimme sagen, was sie immer will ; Urtheil des Publikums über Stücke kann nur alsdann Eindruck machen, wenn die Stücke erst vorgestellt sind. […] Die Räuber können nach allen Begriffen vom Theater-Effekt nicht anders als mit idealistischem Anstrich und älteren Kostümen gegeben werden. Dann, wo ist nur der geringste Grad von Wahrscheinlichkeit, daß in unsern jetzigen politischen Umständen und Staaten-Verfassung sich eine solche Begebenheit zutragen könne. Dies Stück in unserer Tracht wird Fabel und unwahr.742
Schiller war aber nicht nur Gegenstand der Debatten, sondern seit dem 1. September 1783 selbst Mitglied dieses Ausschusses. Dalberg hatte den Stuttgarter Deserteur für ein Jahresgehalt von 300 Gulden und eine Beteiligung an den Gewinnen des Theaters als Dramaturgen und Theaterdichter engagiert. In dieser Rolle nahm Schiller zwischen Ok740 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 280 f. 741 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 45 742 Ebd. S. 46.
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tober 1783 und Mai 1784 an sieben Sitzungen des Ausschusses teil. Sein Vertrag sah vor, dass er in dieser Spielzeit drei neue Theaterstücke für die Mannheimer Bühne schreiben sollte. Neben dem Stück Louise Millern, für das Iffland den publikumswirksameren Titel Kabale und Liebe vorschlug, und das am 15. April 1784 in Mannheim aufgeführt wurde, legte Schiller das nur wenig erfolgreiche Trauerspiel Die Verschwörung des Fiesko zu Genua vor, das erst nach einer misslungenen Lesung und einer längeren Umarbeitungsphase am 11. Januar 1784 in Mannheim aufgeführt wurde. Da das Manuskript zu Don Carlos am Ende von Schillers Vertragslaufzeit nur unvollendet vorlag, verlängerte Dalberg Schillers Vertrag nicht weiter.743 Auch der Vorschlag, eine Theaterzeitschrift unter dem Titel Mannheimer Dramaturgie herausgeben zu wollen, in der wie in Lessings Hamburgischen Dramaturgie über das aktuelle Repertoire der Mannheimer Bühne mit theoretischen Bemerkungen und Anekdoten berichtet werden sollte, lehnte Dalberg ab.744 Für Schiller hatte der Mannheimer Theaterausschuss die »Gestalt einer akademischen Stiftung«745, denn »Dalberg, der Erzieher seiner Schauspieler«746, so Kindermann, legte ihnen am Ende der Ausschusssitzungen dramaturgische Fragen vor, die sie, so Daniel, wie »Hausaufgaben«747 schriftlich zu beantworten hatten. Den Vorschlag hierzu hatte der Schauspieler und Regisseur Meyer gemacht : »Diejenigen Mitglieder des Ausschusses, welche die Fähigkeit haben, über ihre Kunst zu raisonniren«, schreibt er, könnten durch kleine Aufsätze über diesen oder jenen Gegenstand der Kunst ihren Mitspielern manche Bemerkung mittheilen, die ihnen nützlich, und überhaupt jeden jungen Schauspieler anspornten, selbst zu denken. […] Solche Aufsätze könnten jährlich gedruckt werden, und das Theater sowohl, als die Verfasser würden davon gleiche Ehre haben.748
Dalberg nahm Meyers Vorschlag auf und beschloss, dass von nun an die Intendanz bei jeder Sitzung eine dramaturgische Frage zur Beantwortung aufstelle, »welche ein jedes Mitglied in der kommenden Sitzung schriftlich zu beantworten hat ; wer sich das Jahr hindurch in solchen Arbeiten vorzüglich auszeichnet, empfängt am Ende desselben eine Medaille von 12 Dukaten zum Preis.«749 Als ›akademisch‹ erachtete Schiller den Ausschuss daher zu Recht, denn auf die schriftliche Beantwortung von Fragen einen Preis auszusetzen, war eine gängige Praxis von akade743 Neben Schillers mäßigen Bühnenerfolgen sorgte auch sein zunehmend gespanntes Verhältnis zu den Schauspielern sowie seine politische Haltung als Stürmer und Dränger dazu, dass Dalberg keine Anstalten machte, seinen Vertrag zu verlängern (Safranski 2004 : 192–194). 744 Vgl. Alt, Peter-André (2000) : Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1. S. 320–328. 745 Schiller, Friedrich (1992) : Dramaturgische Preisfragen. S. 914 [Herv. d. Verf.]. 746 Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 697. 747 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 208. 748 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 67. 749 Ebd. S. 69.
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mischen Vereinigungen.750 Als ›akademisch‹ lässt sich dieser Ausschuss aber auch deshalb bezeichnen, da er vergleichbar mit Ekhofs Schauspieler-Akademie ein Zusammenschluss von Sachverständigen war, die sich in dieser »Theaterwerkstatt«751, so Košenina, über theoretische Fragen der Schauspielkunst austauschten. – Einen solchen diskursiven Austausch über die »schönen Wissenschaften nebst allem was man Theorie heißt«752 hatte sich der Maler Joseph Anton Koch, der wie Schiller die Carlsschule besucht und unter dem dortigen militärischen Drill gelitten hatte, für seine Ausbildung gewünscht. In seiner Eröffnungsrede der zweiten öffentlichen Sitzung der Kurpfälzisch Deutschen Gesellschaft am 3. Juli 1779 betonte Dalberg, dass Aufklärung und gesellschaftlicher Fortschritt gerade vom diskursiven Austausch der Mitglieder solcher akademischen Einrichtungen wesentlich mitgetragen werde : Das Bestreben einzelner Menschen, sich in ein oder dem andern wissenschaftlichen Fache hervor zu thun, es sei durch Sprachkunde, durch Philosophie, durch Naturlehre, durch schöne Künste oder durch irgend eine andere Wissenschaft, ist nicht zureichend, um einen so mächtigen, so allgemeinen und schnell wirkenden Einfluß auf eine Nazion zu haben, als eine ganze Gesellschaft, die mit vereinigten Kräften nach disem Endzwecke mächtig strebt.753
Auch die Aufgabe des Mannheimer Theaters und des Theaterausschusses bestand für Dalberg darin, »Aufklärung und dramatische Kunstbeförderung«754 zu betreiben : »Längst schon war ich überzeugt«, schreibt Dalberg 1787 im Vorwort seines Dramas Montesquieu, oder die unbekannte Wohlthat, daß unserm allgemein etwas vernachläßigten Theaterwesen dadurch ein neuer Schwung, und der dramatischen Kunst zugleich eine neue Laufbahn zu ihrem Ruhme geöffnet werden könnte, wenn (wie ehedem bey Griechen und Römern) es sich unsere besten Dichter noch angelangen seyn ließen, rühmliche Thaten unserer Landsleute und Mitbürger dramatisch zu behandeln. Solche Darstellungen würden noch Preis und Lohn der Tugend, Verewigung
750 Vgl. hierzu Herges, Catherine (2007) : Aufklärung durch Preisausschreiben ? Die ökonomischen Preisfragen der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen 1752–1852. Verlag für Regionalgeschichte. S. 33–73. 751 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 147. 752 Hofmann, Barbara (2004) : Joseph Anton Koch. Das Tagebuch einer Ferienreise an den Bodensee von 1791. S. 334. 753 Dalberg, Wolfgang Heribert von (1779) : Eröffnungsrede. In : Rheinische Beiträge zur Gelehrsamkeit, 2. Jg. 2. Band, 8tes Heft [1. August 1779]. S. 81–89. S. 82 f. – Vgl. hierzu auch Völker, Martin A. (2006) : Raumphantasien, narrative Ganzheit und Identität. S. 212–229. 754 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 345.
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und Sporn zu patriotisch-moralisch guten Handlungen seyn und die Bühne der Ort werden, wo Volksstimme der Tugend ihren lauten Beyfall zurufen könnte.755
Angesichts der zunehmenden Nachlässigkeit, Disziplinlosigkeit und den etlichen Verstößen gegen die Theatergesetze, die in den Ausschusssitzungen regelmäßig geahndet wurden, erinnert Dalberg seine Schauspieler in der Sitzung vom 28. Mai 1784 in einer längeren Stellungnahme daran, dass das Theater nur dann mehr als bloße Unterhaltung sein könne, wenn alle Beteiligten fleißig und anständig ihre Aufgaben erfüllen würden : Seit einiger Zeit reißt das Extemporiren, das willkürliche Streichen in Rollen, das schlechte Memoriren und die Nachlässigkeit in der Darstellung selbst wieder dergestalt ein, daß allenthalben gegründete Beschwerden gegen den schlechten Gang vieler Stücke einlaufen. […] Meine Herren ! Entweder steuern Sie diesem Unfug durch wechselseitigen Fleiß und wachen Sie selbst als Mitglieder des Ausschusses, (dem überhaupt die Erhaltung des Ganzen mit anvertraut ist), daß neue sowohl, als schon gegebene Stücke lebhafter gehen, und die Proben nach denen Gesetzen besser gehalten werden, oder ich sehe mich endlich genöthigt, nach so manchen mißlungenen Versuchen allen Theater-Intendance-Beschäftigungen gänzlich zu entsagen und sie einem Andern zu überlassen. […] Wie gern will ich mich diesem Geschäft noch länger unterziehen, wenn durch wahres Gefühl der Ehre, durch Liebe zum Ganzen, und durch gemeinschaftlichen Fleiß das Handwerksmäßige der Schauspielkunst und die übel verstandene Laune von unserer Bühne endlich ganz verbannt werden kann ; aber auch nur unter dueser Bedingniß kann ich’s länger, weil sonst alle Hoffnung, durch die Bühne zu wirken, gänzlich verlischt, und jede hergelaufene Truppe, blos zur eitlen Belustigung, gut genug ist.756
Dalbergs Hoffnung, »durch die Bühne«757 wirken zu können, stützt sich vermutlich auf die sensualistische Annahme des schottischen Philosophen Henry Homes, dass leidenschaftliche Darstellungen von Handlungen analoge Leidenschaften im Gemüt der Betrachter hervorbringen oder anregen können. In Homes Schrift Elements of Criticism, die Dalberg seinen Schauspielern ausdrücklich als Lektüre empfahl,758 heißt es :
755 [Dalberg, Wolfgang Heribert] (1787) : Montesquieu, oder die unbekannte Wohlthat. Ein Schauspiel in drey Handlungen ; für die Mannheimer Nationalbühne. Mannheim : Schwan- und Gößische Buchhandlung. S. VI. 756 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 260–262. 757 Ebd. S. 262. 758 Vgl. ebd. S. 58. – Vgl. hierzu auch Bachleitner, Norbert (1985) : Die Rezeption von Henry Homes Elements of Criticism in Deutschland 1763–1793. In : arcadia. Internationale Zeitschrift für literarische Kultur, 20. Jg. Heft 1–3. S. 113–133.
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Eine gerechte Handlung vermehrt unsre Liebe zur Gerechtigkeit, und eine großmüthige muntert uns zur Großmuth auf. Kurz, man wird, in Ansehung aller tugendhaften Handlungen, in einzelnen Fällen finden, daß sie uns zur Nachahmung leiten, indem sie uns Bewegungen einflößen, die den Leidenschaften, welche dergleichen Handlungen hervorbrachten, ähnlich sind.759
Der Theaterausschuss sollte nach Dalbergs Auffassung für die Sicherstellung dieser moralpädagogischen Wirkungsweise des Theaters einen wesentlichen Beitrag leisten. Die kollegiale Begutachtung geeigneter Theaterstücke, die regelmäßige Kritik der stattgefundenen Aufführungen sowie die Diskussion dramaturgischer Fragestellungen diente der theoretischen Reflexion der alltäglichen schauspielerischen Praxis, um zu einem vertieften Verständnis der Wirkungsweisen der Schauspielkunst zu gelangen.760 »Welche Gewalt hat der Schauspieler nicht auf ein jedes Publikum«, schreibt Dalberg, wenn er sich jener Vortheile, Mittel und Kräfte durch Fleiß und Anstrengung und feines Studium seines Publikums gehörig zu bedienen weiß, welche ihm seine Kunst verleiht ; eine Kunst, deren Wirkung und Gewalt auf die menschlichen Gefühle, Empfindungen und Leidenschaften stets gewiß ist, so oft es nur des Schauspielers fester Vorsatz ist, des Zuschauers Seele Feuerfunken zu entlocken. Der Schauspieler sage sich : heute will ich wirken !761
Der Ausschuss war daher, so Devrient, »die trefflichste Pflanzschule für künftige künstlerische Führer«762, da er insbesondere jungen Schauspielern Einblicke in die Aufgaben und Arbeitsweisen einer Theaterleitung gewährte : Bisher war der Übergang vom bloß darstellenden Künstler zum Prinzipal oder Regisseur immer ein mehr oder weniger gewagter Sprung gewesen – weil niemand über seine Fähigkeiten dazu klar werden konnte, bevor er sie nicht geübt – ; hier war die trefflichste Vorbereitungsstufe gegeben : praktische Erfahrung über das innere Getriebe der Direktion zu sammeln und aus einer beratenden Stellung in eine anordnende überzugehen.763 759 Home, Heinrich (1775) : Grundsätze der Kritik. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Nikolaus Meinhard. Nach der vierten Englischen verbesserten Ausgabe. Frankfurt und Leipzig : Johann Gottfried Dyk. S. 261. Vgl. auch Home, Henry (1769) : Elements of Criticism. The fourth edition. With Additions and Improvements. In two Volumes, Vol. 1. Edinburgh : A. Kincaid, J. Bell. S. 179 : »[A] just action fortifies our love of justice, and a generous action rouses generosity. In short, with respect to all virtuous actions, it will be found by induction, that they lead us to imitation by inspiring emotions resembling the passions that produced these actions.« 760 Vgl. hierzu auch Völker, Martin A. (2006) : Raumphantasien, narrative Ganzheit und Identität. S. 230–243. 761 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 391. 762 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 502. 763 Ebd.
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An den schriftlichen Reflexionen, die die Schauspieler über Dalbergs dramaturgische Fragen anstellten und die in den Ausschusssitzungen verlesen wurden, könne man erkennen, so der Theaterhistoriker Hans Knudsen, dass die Schauspieler die öffentlichen Debatten über die Schauspielkunst verfolgten und ihnen Sulzers Theorie der schönen Künste, Heinrich August Ottokars Theater-Journal für Deutschland und Knud Lyne Rahbeks Briefe eines alten Schauspielers an seinen Sohn durchaus bekannt waren.764 In seiner Laudatio, die Schiller anlässlich der Verleihung der Preismedaille verfasste, lobte er den Schauspieler Heinrich Beck dafür, dass er »durch das philosophische Studium seiner Kunst sich ebenso glänzend als durch Wahrheit und Stärke des Spiels unter dem großen Haufen seiner anmaßlichen Kollegen«765 auszeichne. Obwohl sich Schiller selbst nicht an der Beantwortung der dramaturgischen Fragen beteiligte und – nach den Protokollen zu urteilen – sich auch sonst wenig in die Debatten einschaltete,766 weist Daniel allerdings darauf hin, dass er in der Ausschusssitzung vom 14. Mai 1784 anwesend war, als Dalberg die Frage aufgab, was die »National-Schaubühne im eigentlichsten Verstande«767 sei. Schillers Rede über die Schaubühne als moralische Anstalt, die er wenig später am 26. Juni 1784 vor der Kurzpfälzisch Deutschen Gesellschaft hielt, nahm sich zwar die Frage zum Titel, was eine stehende Schaubühne wirken könne, berührte aber auch die Frage, was die Schaubühne als eine »öffentliche Anstalt des Staates«768 auszeichne. Es sei daher nicht auszuschließen, so Daniel, »daß es eine der dramaturgischen Fingerübungen des Mannheimer Intendanten für seine Truppe war, die diesen vielzitieren Vortrag angeregt«769 habe. Die »dramaturgischen Fingerübungen«770, die Dalberg den Mitgliedern des Theaterausschusses aufgab, betrafen allesamt zentrale Problemstellungen der Schauspielkunst in 764 Vgl. Knudsen, Hans (1970) : Deutsche Theatergeschichte. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart Kröner. S. 215. 765 Schiller, Friedrich (1992) : Über die Mannheimer Preismedaille. In : Friedrich Schiller. Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 895 [Herv. d. Verf.]. – Im Journal von und für Deutschland wurde kurz über die Preisverleihung berichtet, allerdings wurde fälschlicherweise Johann Heinrich Boek als Preisträger ausgegeben. – Vgl. [Anonym] (1784) : Theater. In : Journal von und für Deutschland, 1. Jg. 5. Stück [Mai]. S. 580–585. S. 581. Vgl. auch Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 275. 766 In der Sitzung vom 15. Oktober 1783 erhielt Schiller den Auftrag, Monvels Drama Kronau und Albertine für eine mögliche Aufführung zu begutachten. In der Sitzung vom 14. Januar 1784 befindet er, dass das Stück auf der Bühne nicht ohne Wirkung bleiben würde, »denn solche Situationen, wie diese, rühren, auch wenn sie höchst mittelmäßig ausgeführt sind, schon durch sich selbst, ohne die Hilfe eines lebhaften Pinsels« (Martersteig 1890 : 241). 767 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 259. 768 Schiller, Friedrich (1992) : Was kann eine gute stehende Schaubühne wirken ? S. 194. 769 Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S.208. 770 Ebd. – »Was ist Natur, und wie weit sind ihre Grenzen auf der Bühne ? Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Laune ? Welches ist der wahre Anstand auf der Bühne, und wodurch erlangt ihn
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der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schon mit der ersten Frage, die Dalberg am 21. Oktober 1782 den Ausschussmitgliedern vorlegte, thematisierte er die Möglichkeiten und Grenzen einer natürlichen Schauspielkunst : »Was ist Natur und welches sind die wahren Grenzen derselben bei theatralischen Vorstellungen ?«771 In der Auseinandersetzung mit den Abhandlungen der französischen Schauspieltheoretiker und -praktiker sind Ekhof und die Mitglieder der Schweriner Schauspieler-Akademie zu der Einsicht gelangt, dass das »innere Wesen der Vorstellungskunst«772 darin bestehe, die »Natur nachzuahmen«773. Sie teilten hiermit Riccobonis und auch Lessings schauspieltheoretische Auffassung, dass eine natürliche Schauspielkunst darin bestehe, »durch geschikte Bewegung und Anordnung seines Körpers den erdichteten oder angenomenen Zustand seiner Seele als wirklich glaubend«774 machen zu können. Wilhelm Christian Dietrich Meyer, der immerhin von 1767 bis 1769 zusammen mit Ekhof auf der Bühne der Hamburgischen Entreprise stand,775 antwortet auf Dalbergs Frage, dass eine natürliche Schauspielkunst darauf abziele, die Nachahmung einer Handlung oder eines Charakters so darzustellen, »als wäre man es wirklich. Jede dramatische Handlung oder Vorstellung eines einzelnen Charakters, die uns Begriffe von den Sachen giebt, als ob wir sie wirklich gesehen hätten, wird natürlich genannt.«776 Die Darstellung von Leidenschaften erfordere es einerseits, so Meyer, dass der Schauspieler sie zwar aus sich selbst schöpfe, andererseits seine eigenen Leidenschaften aber nicht auf der Bühne sichtbar werden. Natürlicher Zorn, Liebe, Schreck u.s.w. können in Rücksicht der theatralischen Natur höchst unnatürlich sein, wenn sie nichts mehr, nichts weniger sind, als das eigene Gefühl des Schauspielers ohne charakteristische Richtigkeit. – Es ist Natur, aber nicht die Natur der Sache und deswegen unnatürlich.777 der Schauspieler ? Können französische Trauerspiele auf den deutschen Bühnen gefallen ? Und wie müssen sie vorgestellt werden, wenn sie allgemein Befall erhalten sollen ? Ist Händeklatschen oder allgemeine Stille der schmeichelhafteste Beifall für den Schauspieler ? Gibts allgemein sichre Regeln, nach welchen der Schauspieler Pausen machen soll ? Was ist Nationalschaubühne im eigentlichsten Verstande ? Wodurch kann ein Theater Nationalschaubühne werden ? und gibt es wirklich schon ein deutsches Theater, welches Nationalbühne genannt zu werden verdient ?« (Schiller 1992 : 914 f.) 771 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 74. 772 Ekhof, Conrad (1956) : Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft. S. 40. 773 Ebd. 774 Ebd. 775 Vgl. Gotter, [Friedrich Wilhelm] (1783) : Gotha den 10ten September 1783. In : Litteratur- und Theater-Zeitung für das Jahr 1783, Dritter Theil, No. XXXVIII [20. September 1783]. S. 607–608. S. 607. 776 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 74. 777 Ebd. S. 75.
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Johann Ludwig Rennschüb merkt in seinem Antwortschreiben kritisch an, dass es wünschenswert wäre, genauer zu spezifizieren, was unter Nachahmung der Natur zu verstehen sei.778 Iffland, der seine Antwortschreiben später unter dem Titel Fragmente über Menschdarstellung779 in leicht abgeänderter Form und Reihung veröffentlichte, liefert hierzu eine ausführliche Erläuterung. Unter Natur versteht er einen Ausdruck von Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit : »Natur überhaupt wäre also : Wenn eine Sache so beschaffen ist, daß der anschauende Mensch fühlt : Hier ist nichts zu viel, nichts zu wenig, hier fehlt nichts.«780 Das Schauspiel bestimmt er als ein Gemälde von Menschen, ihren Leidenschaften und Handlungen. Der Schauspieler habe die Aufgabe, dieses Gemälde mit Leben zu füllen : »Natur auf der Bühne ist also Menschendarstellung.«781 In Goethes Wilhelm Meister wird es später heißen : Der Menschen ist dem Menschen das Interessanteste, und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. […] Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht.782
Diese Menschendarstellung ist für Iffland aber wie für Diderot nicht mit einem bloßen Naturalismus zu verwechseln, der »die allerschmuzigste Natur darstelt«783. In seinen Briefen über die Schauspielkunst, die 1781 und 1782 in den Rheinischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit erschienen sind, schreibt Iffland, dass die Natur auf der Bühne so veredelt werden müsse, dass ihre Wahrheit nicht verzerrt werde und sie »doch im Ganzen eine gewisse Grazie«784 beibehalte. Die Veredelung der Natur ist wie das Gemälde eines grosen Meisters, das einen besoffenen Schuster vorstellt, die Lumpen, die ihn bekleiden, sind nicht in die Tracht eines reinlichen Bauers verwandelt, es ist wirklich die schmutzige Wäsche des besoffenen Schusters, die wir durch das zerrissene Westchen sehen – nichts ist geschmeichelt785.
778 Vgl. ebd. S. 77. 779 Vgl. Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen [1785]. In : August Wilhelm Iffland. Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina Hannover : Wehrhahn. S. 26–91. 780 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 80. 781 Ebd. 782 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 454. 783 Iffland, August Wilhelm (2009) : Briefe über die Schauspielkunst [1781/1782]. In : August Wilhelm Iffland. Beiträge zur Schauspielkunst. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina Hannover : Wehrhahn. S. 7–25. S. 9. 784 Ebd. S. 10. 785 Ebd. S. 11.
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Iffland meint vermutlich das Bild Der betrunkene Schuster (Le Cordonnier ivre) des bekannten französischen Malers Jean-Baptiste Greuzes. In dem Bild kehrt ein Schuster, dessen Kleidung und Verstand offensichtlich durch seine Trunksucht in Unordnung geraten sind, zu seiner Frau und seinen Kindern zurück, die ihn vorwurfsvoll und wütend empfangen. Das Bild, so Iffland, erzeuge aber keinen »Eckel«786, sondern lasse den Kunstkenner sich mit Phantasie »im Gemälde verlieren.«787 Ob, wo und wann Iffland das Bild gesehen haben könnte, lässt sich nicht ermitteln. Dass Iffland aber einen besonderen Gefallen an Greuzes Bildern gefunden haben könnte, deren häusliche Familienszenen von Diderot als »moralische Malerei«788 (peinture morale) gelobt wurden, lässt sich nachvollziehen, wenn man Ifflands dramatische Werke betrachtet, die Devrient wiederum bezeichnenderweise als »Genremalerei«789 charakterisierte, die stets etwas »Belehrendes«790, Moralisierendes an sich gehabt habe. Ifflands Dramen, die, so Kindermann, »vom Publikum als theatralische Selbstinterpretation«791 empfunden wurden, behandelten familiäre Konflikte im bürgerlichen Milieu, in denen die »wohlvertrauten Typen der aufbrausenden Söhne und der verstehenden Väter«792 auftraten, und die mit der Restauration der bürgerlichen Ordnung endeten. Es lässt sich daher vermuten, dass Iffland in Greuzes Genremalerei eine Vorlage für seine schauspielerische und dramaturgische Praxis erkannte, die durch eine ästhetisierte Darstellung häuslicher Sittengemälde beim Zuschauer das Gefühl der Rührung bewirken solle : »Wenn die Natur in der Menschendarstellung das allerfeinste Gefühl für das sinnlich Schöne nicht verletzt, dann ist auch gewiß die Grenze derselben, das sittlich Schöne beobachtet, da die Bestimmung von diesem aus dem Gefühl von jenem entstanden ist.«793 Rennschüb und Meyer teilen Ifflands Auffassung. Der Anstand, so Meyer, müsse jede Rollendarstellung leiten : »Der Bauer und der Trunkenbold ohne theatralischen Anstand, Verfeinerung, werden ekle Geschöpfe.«794 Und Rennschüb schreibt, dass »die Beobachtung des Wohl(an)standes die Grenze ist, die der Schauspieler nie überschreiten darf.«795 Es könne von einem Schauspieler nicht erwartet werden und wäre schlichtweg unanständig, dass er, wenn er auf der Bühne erstochen werde, den »Stich durch Blut wahrscheinlich, natürlich«796 machen solle. Diese Praxis, einen Schauspieler mit blutverschmiertem Hemd 786 Ebd. 787 Ebd. 788 Diderot, Denis (1967) : Greuze. Aus dem ›Salon von 1763‹. S. 462. Vgl. auch Diderot, Denis (1980) : Œuvres complètes, Tome XIII. S. 394. 789 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 606. 790 Ebd. 791 Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4 : Von der Aufklärung zur Romantik. S. 700. 792 Ebd. 793 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S.80 f. 794 Ebd. S. 105. 795 Ebd. S. 77. 796 Ebd. S. 78.
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Abb. 15 Greuze, Jean-Baptiste (1780) : Le Cordonnier ivre. Öl auf Leinwand, 75,2 × 92,4 cm. Portland : Portland Art Museum.
auftreten zu lassen, wie es Ekhof bei einer Aufführung von Carlo Gozzis Die glücklichen Bettler in Gotha noch veranlasste, gehöre laut Rennschüb »in die Marionettenbude«797 verband. Das Gebot der Anständigkeit ›sticht‹ das Gebot der Natürlichkeit. Während die natürliche Schauspielkunst auf der Annahme basierte, dass zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum eine imaginäre vierte Wand eingezogen sei und der Schauspieler, indem er so spiele, als seien keine Zuschauer anwesend, eine lebensechte Illusion der Wirklichkeit auf der Bühne erzeuge, fordert das Gebot des Anstandes von ihm, nicht nur seine Rolle angemessen und lebensecht zu spielen, sondern sich darüber hinaus auch gegenüber dem Publikum angemessen zu verhalten. Die imaginäre Wand zwischen Zuschauer- und Bühnenraum wird somit für die Schauspieler transparent. Eine Regel der Schauspielkunst sei, so Beck, »nichts auf der Bühne zu sagen oder abzuhandeln, was man in einer gesitteten Gesellschaft vorzunehmen sich scheuen würde«798. Dalbergs Fragestellung, 797 Ebd. 798 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 110.
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was der »wahre Anstand auf der Bühne«799 sei und wodurch der Schauspieler ihn erlangen könne, ist letztlich eine Frage nach der »Selbstrepräsentation des Schauspielers«800 und den Mitteln einer moralisch-ästhetischen Erziehung und Bildung der Schauspieler. Unter Anstand verstehen die Mitglieder des Theaterausschusses einen Ausdruck edler Würde durch körperliche »Vollkommenheit«801. In ihm lasse sich »Geschmack, Erziehung und Kenntniß der feinen Welt«802 erkennen und er zeichne sich durch einen offenen und freien »Blick«, »feine Bewegungen«803 und einen deutlichen, nachdrucksvollen »Ton der Rede«804 aus. Der wahre Anstand vermittle eine »stille Größe«805 und »edle Simplizität«806 – eine Variation von Wickelmanns ästhetischem Ideal der edlen Einfalt und stillen Größe, die er in den Werken der griechischen Antike zu sehen glaubte.807 Die Notwendigkeit, diesen Anstand auf der Bühne zu beherrschen, rührt daher, so Rennschüb, dass nichts so oft auf der Bühne vorkomme wie »die Darstellung des Mannes aus der großen Welt : sowohl von der guten als schlimmen Seite ; und nichts ist auffallender, als das üble Benehmen von Seiten des Schauspielers bei Darstellung eines solchen Charakters.«808 Den Grund hierfür sieht Rennschüb darin, dass die wenigsten Schauspieler in ihrer Jugend eine gute Erziehung genossen hätten, obwohl es an »Vorschlägen zur Bildung des angehenden Schauspielers«809 nicht gefehlt habe. »So lange noch Personen von Welt und feinen Sitten von Schauspielern dargestellt werden«, schreibt auch Meyer, 799 Ebd. S. 96. 800 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 382. 801 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 105. 802 Ebd. S. 108. 803 Ebd. S. 109. 804 Ebd. 805 Ebd. 806 Ebd. S. 113. 807 Vgl. Winckelmann, Johann Joachim (1756) : Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. 2., vermehrte Auflage. Dresden : Verlag der Waltherischen Handlung. – Vgl. hierzu auch Klepacki, Leopold (2014) : Kunst als Projektionsfläche idealistischer Zuschreibungen. Die Bildung des Menschen durch die Bewunderung der Kunst bei Johann Joachim Winckelmann. In : Geschichte der ästhetischen Bildung, Bd. 3.1 : Aufklärung. Hrsg. von Jörg Zirfas, Leopold Klepacki und Diana Lohwasser. Paderborn : Schöningh. S. 141–155. 808 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 107. 809 Ebd. S. 108. – Rennschüb verweist auf einen Beitrag in der Berliner Litteratur- und Theater-Zeitung, in dem der anonyme Verfasser Schauspielschulen fordert, die besonderen Wert auf die moralische Erziehung der Schüler legen : »Alle Künstler bilden wir durch Unterricht in der Jugend, können wir nicht auch Schulen für Schauspieler haben, wo aber, weder die Jünglinge noch Mädchen, schon als Kinder Komödien spielen dürften, weil man dadurch den Endzweck verfehlt, sondern wo sie in den nöthigen Kenntnissen eines vollkommnen Schauspielers unterrichtet würden. Frühzeitig flößte man ihnen Gefühl für Tugend und Rechtschaffenheit ein, ohne welches keiner ein wirklicher grosser Schauspieler seyn kann«. Hauptbeschäftigung der Lehrlinge solle die Malerei, Dichtkunst, Musik, Deklamations- und Tanzkunst sein. Darüber hinaus müssten sie »alle lebendige Sprachen […] bis zur
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welche nie Gelegenheit hatten, praktische Kenntniß derselben zu erlangen, so lange junge Schauspielerinnen Damen vom Stande vorstellen, welche außer der Bühne ihre Figur in einen Mantel zusammendrücken, werden die Franzosen in diesem Theil der Kunst immer unsre Meister bleiben.810
Der wahre Anstand auf der Bühne erfordere »selbst bei der edelsten Bildung des Körpers Fleiß und Studium«811, so Meyer. Er empfiehlt unter anderem das genaue Studium von aussagekräftigen Kupferstichen. Der bekannte Kupferstecher, Herr von Götz hat einen Versuch gemacht, ein leidenschaftliches Gestikulations-System zu liefern. […] Bei jeder Stellung ist eine Erklärung, um, wie er sagt, begreiflich zu machen, wie bei verschiedenen Ausdrücken, vermöge des Mechanismus innerer Revolutionen, Ton, Geschichtsausdruck und Extremitäten der Glieder sich auf die vorgezeichnete Art wahrscheinlich bewegen812.
Gleichwohl gibt Meyer zu bedenken, dass bei der Darstellung von edlen Charakteren »eine vorgezeichnete Stellung lächerlich« wäre. »Die kleinste Wendung des Kopfes, ein Blick, so oder so angebracht, kann die ganze Stellung des Körpers veredeln ; und wer wollte alle die mannigfaltigen Abwechslungen, welche in der Bewegung einer Hand liegen zergliedern und für jeden Ausdruck bestimmen ?«813 Förderlich sei vielmehr, so Rennschüb, »der Umgang mit Personen aus der großen Welt.«814 Doch der Zugang zu kultivierteren Kreisen der Gesellschaft bleibe Schauspielern in der Regel verschlossen. Sie sollten sich daher auch jenseits der Bühne im Anstand üben und widrige Gewohnheiten ablegen : »Junge Schauspieler und Schauspielerinnen sollten dahero auf jede unwillkürliche Bewegung des Körpers genau Acht haben und sich außer der Bühne nie eine unschickliche Stellung erlauben«815. Um unangemessene Gewohnheiten zu überwinden und dem Körper eine anmutige Gestalt zu verleihen, könne die Tanz- und Fechtkunst hilfreich sein. »Daß Tanzen, Fechten und andere Leibesübungen viel dazu beitragen, den Körper degagé zu machen«816, erachtet Rennschüb als eine ausgemachte Sache. Mit einem kritischen Vollkommenheit sprechen, und sich viel in Gesellschaft höherer und niederer Stände befinden, um die Sitten jener sich zu eigen zu machen«. Der Verfasser macht auch den Vorschlag, die Schüler eine Reise durch Europa machen zu lassen, um sie zu »gesellige[n] Gelehrte[n]« zu machen. – [Anonym] (1780) : Erinnerungen und gute Wünschen. In : Litteratur- und Theater-Zeitung, 3. Jg. Erster Teil. No. XVI [15. April 1780]. S. 241–244. S. 242 f. 810 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 106 f. 811 Ebd. S. 105. 812 Ebd. S. 106. 813 Ebd. 814 Ebd. S. 108. 815 Ebd. S. 106. 816 Ebd. S. 107.
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Seitenhieb auf Schillers Beschäftigung am Mannheimer Theater fragt Müller : »Wäre ein geschickter Tanzmeister einem Theater nicht nützlicher, als ein Theaterdichter ?«817 Der Tanzmeister George Frank bemerkte, dass verschiedene jüngere Schauspielerinnen der Mannheimer Bühne »besonders in edlen Rollen, sowohl in Gang als in Aktion oft gar nicht mit dem gehörigen Charakter der Rolle übereinstimmen«818 würden. In einem Schreiben bot er am 17. April 1783 an, »einen kleinen Plan zu einer wohlgesitteten Theater-Tanzschule zu entwerfen«819 und die Schauspielerinnen Schäffer, Ziegler, Baumann, Boudet, Jacquemin und Boeck vier Tage die Woche jeweils zwei Stunden in Gang, Stellung, Verbeugung und Anstand zu unterrichten. Nach Franks Entwurf, den er am 4. Mai 1783 dem Ausschuss vorlegte, solle der Unterricht montags, mittwochs, freitags und samstags jeweils von drei bis fünf Uhr im Saal oder in einem Zimmer der Redoute stattfinden. Nach Möglichkeit wolle er auch bei den Theateraufführungen zugegen sein, um seinen Schülerinnen im Anschluss seine »Bemerkungen auf eine freundschaftliche Art schriftlich«820 mitteilen zu können. Nach dem »Versuch- oder Probe-Monat«821 meldete Frank erste Erfolge, betonte aber noch einmal, daß wenn der Zweck einer vollkommenen Besserung nicht verfehlt werden soll, wenn der von Kindheit auf genommene Gang – so auch Stellung und unanständiges Benehmen, wenn das Alles abgewöhnt und gänzlich vertilgt werden soll, nothwendigerweise diese Lehren von einiger Dauer sein müssen822.
Im Ausschuss wurde daher beschlossen, dass Frank seine Lehrstunden bis Januar 1784 fortführen solle.823 Am 15. Oktober 1783 legte Frank eine Auflistung der in den letzten zwei Monaten erteilten Unterrichtsstunden vor, die zugleich Auskunft über die An- und Abwesenheit seiner Schülerinnen gab. Dass der Unterricht nicht fruchtlos gewesen sei, habe Karoline Ziegler im Stück Wie man eine Hand umkehrt, oder : Der flatterhafte Ehemann824, das am 30. September 1783 aufgeführt wurde,825 unter Beweis stellen können, als sie »Anstand mit Lebhaftigkeit«826 verbunden habe. »Daß ich mit Mlle. Baumann und 817 Ebd. 818 Ebd. S. 166. 819 Ebd. 820 Ebd. S. 182. 821 Ebd. 822 Ebd. S. 190 f. 823 Vgl. ebd. S. 191. 824 Vgl. Bock, [Johann-Christian] (1778) : Wie man eine Hand umkehrt, oder : Der flatterhafte Ehemann. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Wien. 825 Vgl. Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 205. 826 Ebd. S. 212.
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Boudet nicht eben so weit gekommen bin«, wendet Frank ein, »ist ersterer ihre Krankheit schuld, bei der zweiteren ein Unmöglichkeit, wie man leicht aus meinem Verzeichniß ersehen kann.«827 Sie nahm nämlich nur an fünf von insgesamt achtundzwanzig Unterrichtsstunden teil. Iffland, Beil und Beck betrachteten die Möglichkeit, einen edlen Anstand durch Tanzunterricht vermitteln zu können, eher skeptisch. »Es ist zum Todlachen«, schreibt Beil, »wenn solche Unmenschen ihr preußisches Exercitium, oder ihre paar erlernten Tempos, die sie mit steifer Richtung befolgen, für Anstand verkaufen wollen«828. Durch Fleiß und äußerliche Bildung des Körpers könne der Schauspieler, so Beck, nur einen »zierlichen Anstand«829 erlangen. Iffland, der die Tanzkunst für die Ausbildung von Schauspielern nicht missbilligt, gibt aber zu bedenken, dass man sich nur schwerlich entschließen könne, »[j]emand für einen denkenden Mann zu halten, welcher durch sich so wenig zu wirken glaubt, daß er bei jeder Gelegenheit eine Tanzbewegung gebraucht, um sich geltend zu machen.«830 Iffland ist der Ansicht, dass es letztlich keine »Kunstregel«831 gebe, um den wahren edlen Anstand zu erlangen. Er könne nicht nachgeahmt werden, sondern trete vielmehr als Ausdruck einer inneren Einstellung zutage : »Das sicherste Mittel, ein edler Mann zu scheinen, – wäre also wohl, wenn man sich bemüht, es zu sein.«832 Iffland ist daher der Ansicht, dass beim Schauspieler »die Bildung des Körpers unzertrennlich von der Bildung der Seele«833 verlaufe. In der Hoffnung, dass der Schauspieler sich als »Volkslehrer«834 verstehe und die Anerkennung verlange, die, so Beck, dem »denkenden Künstler«835 zustehe, sieht Iffland im sich selbst bildenden Menschendarsteller eine Darstellung der Bildung des Menschen. Denn der edle Anstand der sogenannten Mannheimer Schule ist als moralisch-ästhetisches Ideal nicht bloß eine schauspielerische Darstellungsweise oder ein auf das Bühnenspiel begrenztes Berufsethos, sondern eine auch jenseits der Bühne Geltung beanspruchende Maxime für den gesellschaftlichen Umgang. Iffland bestimmt den ästhetischen Stellenwert der Schauspielkunst letztlich in Abhängigkeit zur Anständigkeit oder moralischen Verfasstheit des Schauspielers : »Die schönen Darstellungen edler Charaktere auf der Bühne«, heißt es in den von Iffland anonym verfassten Bemerkungen über die theatralischen Grundübel, ihre Wirkung und Folgen aus dem Jahr 1798, »erwecken das
827 Ebd. 828 Ebd. S. 116 f. 829 Ebd. S. 109. 830 Ebd. S. 114. 831 Ebd. S. 115. 832 Ebd. S. 112. 833 Ebd. S. 115. 834 Ebd. 835 Ebd. S. 110.
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gute Gefühl der Zuschauer und täuschen dann am meisten, wenn des Darstellers Sitten außer der Bühne, denselben nicht widersprechen.«836 Eingang findet der edle Anstand auch in Beils Theaterstück Die Schauspielerschule837. In dem Stück wird dem Komödianten Raster der Schauspieler Waldeck kontrastiv entgegengestellt, der als Verkörperung des edlen Anstands die Idealgestalt des Schauspielers der Mannheimer Schule repräsentiert. Raster pflegt verschiedene Laster, verschuldet sich und wirbt aus erbschleicherischen Gründen um eine ehrbare Wirtstocher. Auf der Bühne schlüpft er in derbkomische Rollen, die seinem unsittlichen Charakter entsprechen. Waldeck hingegen, der sich nach seinem Universitätsstudium der Schauspielkunst widmete, sich durch eine vorbildhafte Lebensführung auszeichnet und als Prinzipal für Ordnung und Sittlichkeit in seiner Truppe eintritt, spielt anspruchsvolle Rollen und sieht die Aufgabe des Theaters darin, durch die Rührung des Publikums dessen Sitten zu verbessern : Hier »hast du den Samen einer guten Handlung ausgestreut ! Dort eine fromme Entschließung befeuert ! Jenem Jüngling vielleicht die Klippen seiner Lieblingsneigung aufgedeckt ! – Das ist für mich der höchste Gewinn der Schauspielkunst !«838 Der Leipziger Arzt Gottfried Wilhelm Becker bringt in seinem Aufsatz Ueber Perfektibilität und Größe des Schauspielers den Grundsatz der Mannheimer Schule noch einmal auf den Punkt : Je mehr der Schauspieler alle Aeußerungen des Menschen, bis in ihre kleinsten Nuancen verfolgt, durch Kunst hervorzuschaffen weiß, und außer der wahren Darstellung derselben auch die Bedingungen des Schönen und des Sittlichen, mit beständiger Hinsicht auf das Ganze, darstellt, desto vollkommener wird er sein.839
Indem der edle Anstand als Handlungs- und Gestaltungsmaxime die Gebote der natürlichen Schauspielkunst überlagert, erweist sich die Mannheimer Schule, so Heeg, als Wegbereiterin »für die Autonomisierung der Kunst in der Weimarer Theaterästhetik«840. Die Mannheimer Schule schließt damit zugleich eine »theoriegeschichtliche Lücke«841 zwischen Hamburger und Weimarer Schule. Trotz der produktiven Theoriearbeit des Ausschusses darf nicht übersehen werden, dass sich nur ein sehr kleiner Kreis von Schauspielern an den theoretischen Debatten betei836 [Iffland, August Wilhelm] (1798) : Bemerkungen über die theatralischen Grundübel, ihre Wirkung und Folgen. Erste Lieferung. Mainz : [ohne Verlag]. S. 5. 837 Vgl. Beil, Johann David (1786) Die Schauspielerschule. Ein Original-Lustspiel in drei Aufzügen. Mannheim : Hof- und Akademische Buchhandlung. 838 Ebd. S. 88. – Vgl. auch Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 229. 839 Becker, G[ottfried] W[ilhelm] (1801) : Ueber Perfektibilität und Größe des Schauspielers. In : Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft von Gelehrten, 1. Jg. [September]. S. 193–210. S. 207. 840 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 383. 841 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 147.
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ligte. »Bedauerlicherweise waren seine Schauspieler nicht annährend so gelehrige Schüler, wie er sich dies erhofft haben mochte«, schreibt Homering über Dalberg, »sodass die Arbeit der Ausschüsse, aber nicht nur aus diesen Gründen, sondern sicher auch wegen der zunehmenden anderweitigen Inanspruchnahme Dalbergs durch zusätzliche aufwendige Amtsgeschäfte, […] peu à peu mehr oder weniger im Sand verlief.«842 Die letzte Phase seiner Intendanz von 1789 bis 1803 war durch Konzessionen an den Publikumsgeschmack, finanzielle Krisen und die Besatzung Mannheims durch französische Truppen geprägt. Nach 1789 fanden keine Ausschusssitzungen mehr statt. Die letzte Sitzung des Ausschusses am 3. Mai 1789 beschließt Dalberg mit den Worten : Möchten meine Bemerkungen zum Besten des Ganzen in Zukunft etwas fruchten und jedes Mitglied der hiesigen Bühne anfeuern, mehr Feuer, Leben, Fleiß und Anstrengung anzuwenden, wodurch den hiesigen Vorstellungen allein Rundung und Vollkommenheit gegeben werden kann. Möge jeder Schauspieler, jede Schauspielerin (fern von jenem unzeitigen Egoismus : allein brilliren, den Beifall allein an sich reißen zu wollen) etwas mehr Rücksicht auf ’s Ganze, als besonders auf die einzelne, vorzutragende Rolle nehmen, dann glaube ich gewiß, wird in Zukunft jede besondere Rolle selbst mehr wirken, mehr Dank empfangen, und unsre Vorstellung werden zuverlässig besser und lebhafter aufgenommen werden. Dies ist mein Wunsch.843
Ifflands vertragswidriger Abgang im Jahr 1796 nach Berlin, wo er die Direktion des Nationaltheaters übernahm, stellte nicht nur für die Mannheimer Bühne einen schwerwiegenden Verlust dar, sondern war insbesondere für Dalberg eine persönliche Enttäuschung. Vermutlich als Reaktion auf die finanziellen Schwierigkeiten des Theaters legte Dalbergs Privatsekretär Ockhart844 im Jahr 1796 einen Theaterschulentwurf vor, in dem er den Vorschlag unterbreitete, durch die Einrichtung einer Theaterschule die Personalkosten für Schauspieler zu verringern. Der Plan, der von Heinrich Beck zwar redigiert, höchstwahrscheinlich aber nie umgesetzt wurde,845 sah vor, dass die Schüler verpflichtet würden, nach dem Ende ihrer dreijährigen Ausbildung weitere sechs Jahre am Hoftheater beschäftigt zu sein : »Auf diese Weise hätte die hiesige Bühne gleichsam ein kleines Seminarium von jungen Acteuren und Actricen und erhielt immer die Blüthe der neu ausgebildeten Talente vom 18ten bis zum 24ten Jahre«846. 842 Homering, Liselotte (2012) : Wolfgang Heribert von Dalberg als Theaterleiter und Autor. S. 83. 843 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 395 f. 844 Schmitt vermutet, dass es sich hierbei um den sächsischen Advokaten Alexander Ockhardt handeln könnte (Schmitt 1990 : 144). 845 Vgl. Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 146. 846 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 3 : Erster Versuch über die Verbesserungen, welche bey dem hiesigen Churfürstlichen National Theater eingeführt werden könnten]. S. 87–103. S. 93.
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2.4 »Wie will er erziehen, ohne selbst Erziehung zu haben ?«847 – Johann Heinrich Friedrich Müllers »Peppiniere«848 am Kärtnertortheater in Wien (1779–1782) »Durch eine Schule«, soll Lessing im Jahr 1776 auf Johann Heinrich Friedrich Müllers Frage geantwortet haben, wie das Theater zu verbessern sei. »Machen sie ihrem Kaiser Vorstellungen, ein Theater-Philanthropin zu errichten, so wie der Churfürst von der Pfalz gegenwärtig eine Singschule gestiftet hat, die viel Gutes verspricht.«849 Lessing spielt auf die Theaterschule am Mannheimer Hoftheater an. Jede Kunst, soll Lessing laut Müller gesagt haben, brauche eine Schule. Nur dadurch, durch eifriges Studium und mühsamen Schweiß erwirbt sich der darin gebildete Schauspieler das Recht auf die Achtung und Ehre seiner Zeitgenossen. […] Alle Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen und Fähigkeiten müssen in ihrem ersten Keime geleitet werden, wo das weiche unbefangene Herz noch jeder Biegung gehorcht. So zweifellos dieser Satz in Ansehung der moralischen Bildung ist, eben so gewiß ist er es auch in Rücksicht auf die Bildung eines jeden Künstlers ; und da durch eine zweckmäßig eingerichtete Theater-Pflanzschule beyde Arten erzielt werden können, so ist der unschätzbare Nutzen eines solchen Instituts offenbar und einleuchtend bewiesen.850
Selbst wenn das Theater nur den Zweck erfüllen solle, das Publikum zu unterhalten, dürfe »dem Volke seine Unterhaltungen nicht durch Idioten und sittenlose Menschen«851 vorgetragen werden. Doch die Schaubühne könne und solle mehr sein, als ein bloßer Unterhaltungsbetrieb. Das Theater könne Liebe für den Landesvater und echten Patriotismus in die Herzen der Bürger pflanzen ; der Regent kann es zum Vehikel der Gesetzgebung erheben, und sein Volk dadurch in eine Stimmung setzen, Verordnungen mit Dank und Beyfall aufzunehmen ; es bildet und reiniget Sitten und Sprache, veredelt den Darsteller und die Zuschauer852. 847 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. ÖNB, Cod. Ser. n. 12621 Han. S. 10. 848 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 237. 849 Ebd. S. 133. – Vgl. hierzu auch Kap. 2. 3. 2 : »Machen sie ihrem Kaiser Vorstellungen, ein TheaterPhilanthropin zu errichten, so wie der Churfürst von der Pfalz gegenwärtig eine Singschule gestiftet hat, die viel Gutes verspricht.« – Die Theaterpflanzschule unter Gottlieb Friedrich Lorenz und Theobald Marchand am Hof- und Nationaltheater in Mannheim (1776–1778). 850 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 133. 851 Ebd. S. 133 f. 852 Ebd. S. 134.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert Abb. 16 Mansfeld, J[ohann Ernst] (o. J.) : Johann Heinrich Friedrich Müller. Schauspieler auf der K. König. Deutschen Schaubühne in Wien. Österreichische Nationalbibliothek.
Doch werde der edle Zweck der Schaubühne »durch unedle, nicht nach Grundsätzen dazu erzogene Mitglieder eben so vereitelt, als die Wirkung der besten Kanzelrede durch die tadelhaften Sitten des Redners. Beyde gleichen einer Uhr, die gut schlägt, aber unrichtig zeigt.«853 Der Schauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Schröter hieß und auch »Vater Müller »854 genannt wurde, um ihn von seinem Sohn Friedrich Joseph Müller zu unterscheiden, besuchte Lessing am 25. Oktober 1776 in Wolfenbüttel. Müller hatte von Kaiser Joseph II. den Auftrag erhalten, die besten deutschen Theater – darunter die Theater in Hamburg, Berlin und Dresden – zu besuchen, ihre »Charakteristika«855 zu studieren und neues Personal für das Wiener Hoftheater anzuwerben. Der Kaiser erhoffte sich von den Erkenntnissen, die Müller auf dieser »Thea-
853 Ebd. 854 Thürmann, Ludwig Ferdinand (1839) : Friedrich Joseph Müller. Kaiserl. Königlicher Kammerdiener und Künstler der ergötzenden Physik. Biographische und Charakter-Skizze. Wien : Franz Wimmer. S. 3. 855 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 98.
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tral-Reise«856 zusammentrug, Anregungen für die Verbesserung seines Wiener Hof- und Nationaltheaters zu gewinnen. Nachdem Müller von seiner Reise zurückgekehrt war und am 27. Februar 1777 ein »Belobungs-Dekret«857 erhalten hatte, sagte man ihm, dass der Kaiser beim Jesuitenpater Ignaz »Parhammern«858, dem Leiter des Waisenhauses am Rennweg, »einige Knaben und Mädchen« bemerkt habe, »in welchen er Genie und Talent für das Theater gefunden zu haben« glaubte. »Besonders haben ihm ein paar junge Mädchen aufmerksam gemacht, die bey dem Hochamte sangen und von der Natur mit einer ausnehmend schönen Stimme begabt«859 seien. Müllers Bericht über die Mannheimer Sing- und Theaterschule habe ihn auf den Gedanken gebracht, eine solche »Peppiniere«860 in Wien errichten zu lassen. Müller solle hierzu einen entsprechenden Plan entwerfen. In einer Audienz am 4. März 1777 legte Müller dem Kaiser seinen Vorschlag vor.861 Hierin stellte Müller die Notwendigkeit und den Nutzen einer Theaterschule dar, beschrieb die Voraussetzungen, die die Schüler eines solchen Instituts erfüllen müssen, trug die »Hauptgegenstände bey der Bildung angehender Schauspieler«862 zusammen und bestimmte, wie vieler Lehrenden es bedürfe und wo der Unterricht stattfinden solle. Auf seiner Reise habe Müller »dreyhundert und eilf Subjekte kennen gelernt, und unter diesen nur siebenzehn [Schauspieler], von denen man sagen kann, sie haben die Kunst studirt. Die Meisten treiben sie als ein Handwerk.«863 Er habe beobachtet, wie künstlerisch begabte Genies ohne Vorkenntnisse, ohne Unterricht für ihre Bestimmung von diesem Mangel unterdrückt und zur Unbrauchbarkeit herabgesunken seien. Durch »Eigensinn oder Unglücksfälle«864 gelängen »Personen von aller Art«865 in ihrem zwanzigsten oder dreißigsten Lebensjahr an das Theater ohne Kenntnisse der Grundsätze eines »gereinigten
856 Ebd. S. 228. 857 Ebd. S. 235. 858 Ebd. S. 237. 859 Ebd. 860 Ebd. 861 Vgl. ebd. S. 239–245. Vgl. auch [Gräffer, Franz] (1850) : Joesephinische Curiosa ; oder ganz besondere, theils nicht mehr, theils noch nicht bekannte Persönlichkeiten, Geheimnisse, Details, Actenstücke und Denkwürdigkeiten der Lebens- und Zeitgeschichte Kaiser Josephs II., Fünftes und letztes Bändchen. Wien : J. Klang. S. 110–121. Vgl. hierzu auch Haider-Pregler (1992) : Komödianten, Literaten und Beamte zur Entwicklung der Schauspielkunst im Wiener Theater des 18. Jahrhundert. In : Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hrsg. von Wolfgang Bender. Stuttgart : Franz Steiner Verlag. S. 179–203. S. 202 f. 862 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 243. 863 Ebd. S. 234. 864 Ebd. S. 240. 865 Ebd. S. 239.
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Geschmacks«866, »ohne Lektüre«867, ohne Kenntnis deutscher Dichter und ohne zu wissen, »mit Nutzen zu lesen«868. Der Nutzen, der von einer Theaterschule ausgehen könne, beschränke sich nicht allein auf das Wiener Theaterwesen, sondern beträfe auch die »Provinzialtheater«869 und äußere sich in der allgemeinen Verbreitung »des sittlichen Gefühls und des verbesserten Geschmacks, der berichtigten und verfeinerten Sprache«870. Ließe man die Schüler des Instituts ferner auf einer eigenen Bühne auftreten und für sie angemessene Stücke aufführen, könne das eingenommene Eintrittsgeld die staatlichen Aufwendungen für das Institut vermindern oder gar als alleinige finanzielle Quelle dienen. Da die Schüler »Eingebohrene«871 wären, würde das Wiener Publikum großen Anteil an ihrer Entwicklung nehmen und würde »hoffentlich den Schauplatz nicht leer lassen«872. Schüler aus anderen deutschen Ländern könnten für ein »jährliches Kostgeld«873 aufgenommen werden. Gewähre man den Waisenkindern Wiens Zugang zur Theaterschule, verdiene sie sich überdies die »Würde einer wohltätigen und menschenfreundlichen Nationalstiftung.«874 Da es schwierig sei, eine freie Bühne in Wien hierfür zu finden, schlägt Müller vor, das Institut nach Larenburg oder Schönbrunn zu verlegen.875 Ein Vorschlag, der mit dem Hinweis abgelehnt wurde, dass die jungen Leute, »um sich zu bilden und schnellere Fortschritte zu machen«876, täglich das Theater besuchen sollten. Am Institut sollten mindestens dreißig, aber nicht mehr als sechzig Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Sie sollten zwischen zehn und zwölf Jahren alt sein, die üblichen Kinderkrankheiten bereits überstanden haben und keine Sprachfehler oder einen übel gebauten Körper aufweisen. Als Unterrichtsgegenstände und Erziehungsziele nennt Müller ein gesittetes, einträchtiges Betragen, das nicht nur von Schauspielern verlangt werde, sondern sie auch befähige – sollten sie keine Karriere als Schauspieler machen –, ein brauchbares und nützliches Mitglied »der bürgerlichen Gesellschaft in anderen Verhältnissen und Gewerben zu werden.«877 Zweitens sollen die Schüler die schickliche und angenehme »Bewegung des Körper[s]«878 im Umgang und nach den Regeln der Tanzkunst erlernen. Sie sollen drittens einen nicht-deklamatorischen Vortragsstil üben, der
866 Ebd. S. 240. 867 Ebd. 868 Ebd. 869 Ebd. 870 Ebd. 871 Ebd. 872 Ebd. 873 Ebd. S. 241. 874 Ebd. S. 240. 875 Vgl. ebd. S. 245. 876 Ebd. S. 246. 877 Ebd. S. 243. 878 Ebd.
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auch das »Geberdenspiel«879 berücksichtige. Durch Vorlesungen, tägliches Lesen und das Abfassen von Aufsätzen sollen viertens die Urteilskraft und der Geschmack geschult werden. Fünftens sollen allgemeine Kenntnisse über die dramatische Kunst und die mit ihr verbundenen Wissenschaften vermittelt werden. Und zuletzt sollen die Schüler die englische und französische Sprache erlernen. Müller sieht in seinem Plan vor, dass insgesamt sieben Pädagogen an der Theaterschule beschäftigt werden sollen : Ein »vorurtheilsfreyer Religionslehrer«880, ein Mann, der über wissenschaftliche Kenntnisse verfüge, Vorlesungen und Übungen veranstalte und zugleich »eine Art von Aufsicht über die Sitten, besonders der männlichen Eleven«881 haben solle, die »Correspondenz«882 führe und die Besorgungen für die beim Institut angesiedelte »Theatral-Bibliothek«883 übernehme. Bei seinen Aufgaben solle ihm ein Gehilfe assistieren und mit den Schülern Übungen wiederholen. Außerdem solle eine gesittete, rechtschaffene Frau eingestellt werden, die »wohlgeübt in allen weiblichen Arbeiten«884 sei und die Aufsicht über die Schülerinnen übernehme. Auch ihr solle eine »geschickte Gehülfinn«885 zur Seite gestellt werden. Zuletzt bedürfe es noch eines »guten Tanzmeisters«886 und eines »gesetzten Schauspielers von gutem Rufe, der vom Publikum geliebt«887 werde und die Aufgabe habe, die Theaterproben zu leiten. Obwohl Müllers Entwurf gefiel, sollten Gutachten von Lessing, Engel und Weiße eingeholt werden.888 Müller sammelte die Gutachten und übergab sie am 3. November 1777 dem Kaiser mit dem Hinweis, dass sich die Gutachter »nur in den Vorschlägen zum Unterrichte dieser zur Kunst gezogenen Jugend« uneinig, aber einstimmig der Meinung seien, »Theorie gleich mit Praktik zu verbinden.«889 Aus dem Gutachten des Herausgebers der Zeitschrift Der Kinderfreund Christian Felix Weiße zitiert Müller folgende Stellungnahme : Sicher ist es, daß aus einer wohl eingerichteten Theaterschule die besten Schauspieler gezogen werden können. Als ich noch in Frankreich war, hatten Preville und Clairon eine solche Schule errichtet ; die Eleven durften nicht auf dem Theatre français spielen, aber es war ein kleines Theatre de societé, wo sie alle Freytage, wenn grand jour a l’opera war, spielten. Diese Kinder machten in kurzer Zeit einen unglaublichen Fortgang in der Kunst, und zieren jetzt 879 Ebd. S. 244. 880 Ebd. 881 Ebd. 882 Ebd. S. 245. 883 Ebd. 884 Ebd. 885 Ebd. 886 Ebd. 887 Ebd. 888 Vgl. ebd. S. 250. 889 Ebd. S. 253.
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Frankreichs Hauptbühnen. Sollte diese Schule Ihrer [Müllers] Leitung überlassen werden, so müßten sie, mein theurer Freund ! es auch darauf antragen, die Kinder ihrer Kammeraden hinein zu ziehen ; denn bey vielen Kindern von Schauspielern ist es unmöglich, daß sie von ihren Eltern in ihren ersten Jahren die gehörige Zucht erhalten, da bald der [sic !] mäßige Gehalt nicht zureicht, ihnen die gehörigen Lehrer zu geben, bald der Eltern ihre Zeit, zumal wo täglich die Schaubühne eröfnet [sic !] wird, ihnen jene genaue Sorgfalt nicht zuläßt, und sie endlich dadurch theils in ihrer Sorge, theils in ihrem Aufwande eine große Erleichterung erhielten, und ihrer Kunst mehr Zeit widmen könnten.890
Warum das Institut daraufhin nicht eingerichtet wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Joseph II. forderte Müller stattdessen in einer Audienz am 17. Dezember 1777 auf, das erste deutsche Singspiel einzustudieren und die Direktion der deutschen Oper zu übernehmen, die er dann bis zum Ende der Spielzeit 1778/1779 innehatte.891 Müller, der laut eines Hinweises in der Zeitschrift Meine Empfindungen im Theater bereits Theateraufführungen mit Kindern veranstaltet hatte,892 ließ den Gedanken an eine Theaterschule für Kinder nicht fallen. Er bat den Kaiser im Februar 1779, mit seinen eigenen »und mit Zuziehung einiger fremden Kinder nach dem letzten eingereichten Plane, eine Pflanzschule im Theater nächst dem Kärnthnerthore auf […] eigene Gefahr und Kosten errichten zu dürfen.«893 Das Kärntnertortheater stand seit 1776 Wandertruppen frei zur Verfügung.894 In der Spielzeit 1779/1780 schien es zunächst geschlossen gewesen zu sein, sodass der Kaiser Müllers Anliegen stattgab. Christian Löper und Johann Friedrich Schink berichten im Vorwort ihrer 1781 erschienenen Sammlung von Kinderkomödien, dass Müller eine Gruppe von Kindern beiderlei Geschlechts versammelt habe, »die derselbe zu Schauspielern, Sängern und Tänzern abrichtet : die schon würklich in so kurzer Zeit und nach ihren Jahren grosse Schritte in der Kunst selbst gemacht haben, und unter denen viele dereinst unsre ersten Meister und Meisterinnen zu ersetzen versprechen.«895 Da Müllers Bühnen- und Schulbetrieb nicht vom Hof subventioniert wurde, war er darauf angewiesen, die anfallenden Kosten durch die eingenommenen Eintrittsgelder aus890 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. ÖNB, Cod. Ser. n. 12621 Han. S. 11 f. 891 Vgl. Hadamowsky, Franz (1988) : Wien Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Wien und München : Jugend und Volk. S. 298. 892 Vgl. [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, erstes Stück. S. 6–16. S. 7. 893 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 266. 894 Vgl. Hadamowsky, Franz (1988) : Wien. Theatergeschichte. S. 274. 895 Löper, [Christian] & Schink, [Johann Friedrich] (1781) : Kinderkomödien. Wien : Joseph Gerold. S. [VIII f.].
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zugleichen. Dass Kindertheatertruppen durchaus kommerziellen Erfolg haben konnten, bewiesen die Theaterunternehmer Philipp Nicolini896 und Felix Berner. Über die »Bernersche Kindergesellschaft«897 schrieb ein anonymer Berichterstatter im Theater-Journal für Deutschland : [I]ch erstaunte sehr über die Gegenwart des Geistes vieler dieser kleinen Schauspieler, die, wofern ihre Sache nicht blos mechanisch ist, manchen Schauspieler beschämen würden, […]. Genug, ich kann sagen, daß Berner mit seinen lebendigen Marionetten alle Aufmerksamkeit und Achtung verdient ; nur könnte er sie wohl, da er viel Geld einnimmt, und doch fast gar keine Gage ausgiebt, zu Hause und auf der Gasse besser kleiden.898
Die Aufführungen gab Müller mit seinen Schülern am Kärntnertortheater, der Unterricht fand in seiner Wohnung statt. In der Zeitschrift Meine Empfindungen im Theater berichtet »eine Dame unseres ersten Adels«899 von ihrem Besuch in Müllers Theaterschule : Ich fuhr, […] an einem schönen Morgen […] hinaus in Müllers Wohnung auf die Wiede. Beym Aussteigen aus dem Wagen, sah ich Herrn Müllers in den häuslichen Geschäften ihrer Familie unermüdete Frau, die so eben ihren Mägden in der Küche das Mittagsmahl anordnete – sie empfing mich mit ihrem natürlichen angenehmen Wesen und mit vieler Ehrfurcht ; ich fragte nach Herrn Müller, sie wollte ihn rufen lassen, ich verbat mirs aber und überfiel ihn in seinem Gartenhäuschen, in dem er saß und ein Theaterstück für seine Eleven zuschnitzte. […] Ich bat ihn, mir seine Zöglinge zu zeigen, und er führte mich, da es eben acht Uhr vorüber war, in ein großes reinliches Zimmer, das zu einer vollkommenen Schule zugerichtet, und mit allem dazu Erforderlichen versehen ist – es war eben Singstunde : ich bemerkte da einige Mädchen, unter denen sich vorzüglich die kleine Patsch auszeichnete, und Knaben, die ganz vortreflich Anlage zum Singen verriethen, und die in der kurzen Zeit, da sie im Gesange unterrichtet werden, schon weit genug gekommen sind, um uns Hoffnung zu machen, einst sehr geschickte Sängerinnen und Sänger aus ihnen zu erhalten.900
Nach dem Gesangsunterricht folgte an diesem Vormittag der Französischunterricht. Der Beobachterin fiel hierbei Müllers Tochter Josephe auf, die »von den Lehrmeistern auch als ein besonders fleißiges und ämsiges Mädchen«901 bezeichnet wurde. 896 Vgl. hierzu Kap. 1. 2 : »Ich bin bei dem Theater geboren, erzogen worden.« – Über die nicht-institutionalisierte Ausbildung von Schauspielern. 897 [Anonym] (1779) : Aus Briefen [Dünkelsbühl, den 20. Sept. 1778]. In : Theater-Journal für Deutschland, Zehntes Stück. S. 86–92. S. 86. 898 Ebd. 899 [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Eilftes Stück. S. 176–180. S. 176. 900 Ebd. S. 177 f. 901 Ebd. S. 178.
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Auf die französische Sprachstunde folgte der Unterricht in der Religion und in der Glaubensgeschichte – dann kam die Stunde für das deutsche Lesen und Schreiben der kleineren, die größeren Knaben wurden im Lateinischen unterrichtet, und die größeren Mädchen giengen hinauf in ihre Zimmer, um ihre Rollen zu studiren, und die keine hatten, häusliche, weibliche Arbeiten zu verrichten.902
Nachmittags, erklärte Müller der Besucherin, würde »an gewissen Tagen«903 um drei Uhr den kleineren Schülern Tanzunterricht erteilt, die größeren erhielten abermals Gesangsunterricht, dann Unterricht in »Geographie«904, im »richtig Lesen«905 und schließlich folge »die Probe der neuen Stücke«906. Dass an Müllers Theaterschule Tanzunterricht erteilt wurde, bestätigt der Schauspieler Anton Hasenhut : Herr Müller hatte die Erlaubniß, mit seinen Zöglingen im Kärnthnerthor-Theater […] Vorstellungen zu geben. Er gab sich daher selbst mögliche Mühe, uns zu Schauspielern zu bilden, und hielt uns zwey Tanzlehrer, den dazumahl bey Herrn Noverre engagierten Herr Decamp für das heroische, Herr Merk für das komische Fach.907
Der berühmte Ballettmeister Jean Georges Noverre, der von 1760 bis 1767 in Stuttgart908 engagiert gewesen war und seit 1768 Aufführungen in Wien gab, hatte von 1771 bis vermutlich 1774 selbst eine »Theatral-Tanzschule«909 eingerichtet, die Müller 1772 in seinen Genauen Nachrichten kurz erwähnt. Acht Jungen und acht Mädchen wurden in dieser Schule, so Müller, täglich von den Ballettmeistern Frühmann und Heloin und dem Ballettgeiger Herrn Hofer unterrichtet. Noverre setzte die Schüler nicht in seinen großen 902 Ebd. S. 179. 903 Ebd. 904 Ebd. 905 Ebd. 906 Ebd. 907 Hadatsch, Franz Josef (1834) : Launen und Schicksals, oder : Scenen aus dem Leben und der theatralischen Laufbahn des Schauspielers Anton Hasenhut. Nach seinen schriftlichen Mittheilungen bearbeitet. Wien : Franz Ludwig. S. 81. 908 Vgl. hierzu Kap. 2. 3. 1 : Zur »Vollständigkeit seiner Akademie gehörte auch der Unterricht in Musik, Gesang, Schauspiel und Tanzkunst« – Aufklärerische Programmatik und höfische Pragmatik bei der Ausbildung von Schauspielern an der Carlsschule in Stuttgart (1770–1794). 909 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1772) : Genaue Nachrichten von den beyden Kaiserlich-königlichen Schaubühnen und andern öffentlichen Ergötzlichkeiten in Wien. Preßburg, Frankfurt und Leipzig : Anton Löwen. S. 84. – In seinen Lettres sur la danse bestimmt Noverre den Ballettmeister als Choreographen und zugleich als Tanzpädagogen (Dahms 2010 : 118–124). Bezeichnenderweise beschließt Noverre den letzten seiner Briefe mit dem Kommentar : »Es wäre zu wünschen, mein Herr, daß alle die, welche sich aufs Tanzen oder Balletkomponiren legen wollen, solche Lehrmeister hätten, die sie in allen den Dingen unterrichteten, die sie nicht wissen, u. die doch wesentlich dazu gehören« (Noverre 1769 : 358).
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Balletten ein, sondern führte mit ihnen einige »Kinderballette«910 auf. Gegenüber Lessing erklärte Müller, dass Ballette »wie sie ein Noverre gab«, viel zu der »äußerlichen Bildung junger Schauspieler beytragen«911 können. Am 15. Juli 1779 gaben Müllers Schüler ihre erste Vorstellung auf der Bühne des Kärtnertortheaters. Gespielt wurde Zermes und Mirabella oder die vollkommen verliebten. »Der Zulauf war groß und der Beyfall ungetheilt«912, schreibt Müller. Gleich von Anfang hatte dieses kleines [sic !] Schauspiel, mit Trauer und Lustspiel, mit kleinen Opern, Ballet und Melodramen abgewechselt. Mit dem Jahr 1780. stieg die Vervielfältigung dieses Schauspiels, die Sauberkeit der Decorazionen und der Garderobe immer mehr und mehr. Itzt kamen die Noverischen grossen Ballets, Ariadne, Miedea, Schakespears Hamlet, der Sturm von Schakespear und noch verschiedene größere Schauspiele auf dies Theater.913
Kaum ein Jahr nach der Gründung der Theaterschule führte Müller mit seinen Schülern »Noverens herrlichste Meisterstücke, die großen Ballete, Agamemnon, Adelheid von Ponthieu, und die Horazier«914 auf. Über die Hamlet-Aufführung seiner Schüler heißt es in der Zeitschrift Meine Empfindungen im Theater : Das Haus war bey jeder Vorstellung voll, und der laute Beyfall des Publikums lohnte der unaussprechlichen Mühe, die diese Aufführung Herrn Müller gekostet haben muß – ich selbst war erstaunt das alles von Zöglingen ausgeführt zu sehen : aber es sey mir erlaubt zu sagen – ich schloß daraus nicht auf die Kräfte der vor mir spielenden Jugend, sondern auf […] die Vortrefflichkeit seiner [Müllers] Direktion.915
Ludwig Ferdinand Thürmann berichtet, dass Müller seinen Schülern zur Belohnung ihres Fleißes in der aufführungsfreien Zeit eine Überraschung machen wollte und den Taschenspieler (Escamoteur) Jonas916 einlud, der neben Jacob Philadelphia und Giuseppe Pinetti 910 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1772) : Genaue Nachrichten von den beyden Kaiserlich-königlichen Schaubühnen und andern öffentlichen Ergötzlichkeiten in Wien. S. 84. 911 Müller, Johann Heinrich Friedrich (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und NationalSchaubühne. S. 145. 912 Ebd. S. 267. 913 [Anonym] (1782) : Vereinigung der Teatralpflanzschule mit dem Nazionalteater. In : Allgemeiner Theater Allmanach von Jahr 1782. S. 145–150. S. 146. 914 [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, erstes Stück. S. 6–16. S. 9. 915 Ebd. S. 10. 916 Vgl. hierzu auch Künstlich, Jonas (1791) : Der bewunderungswürdige Taschenspieler welcher lehret dreyhundert belustigende Kunststücke. Zweyte völlig umgearbeitete Auflage. Wien : Joseph Gerold. – Der Rezensent der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung vermutet, dass der Verfasser dieser Sammlung der bekannte Taschenspieler Jonas sei. Vgl. [B–r.] (1791) : Der bewunderungswürdige
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zu den berühmtesten Zauberkünstlern gehörte. Nach einem der schwierigsten Kartentricks soll Müllers Sohn Friedrich gesagt haben : »O, das ist recht schön ! Das kann ich auch !«917 Jonas gab ihm daraufhin seine Karten und forderte ihn auf, es ihm gleich zu tun. [Dem] Knaben gelang zwar das Kunststück höchst unvollkommen, allein der geübte Meister bemerkte doch sogleich, daß sein Scharfsinn das Wesen der Aufgabe, die Stelle, wo die Täuschung anzubringen, und wie sie anzubringen war, erfaßte, und er nur an dem Mechanismus der Ausführung scheiterte.918
Erstaunt wandte sich Jonas an Müller und versicherte ihm, sein Sohn habe »ein entschiedenes, ein hervorleuchtendes Talent«919 und bot ihm an, seinen Sohn als Schüler zu sich zu nehmen. »Es versteht sich von selbst«, schreibt Thürmann, »daß der großmüthige Antrag von Jonas nicht zurückgewiesen wurde, und Friedrich wurde nun Jonas – und zwar sein einziger Schüler.«920 Ungeachtet des Erfolgs der Theaterschule und des Kindertheaters sah sich Müller jedoch genötigt, das Institut mit »Ende des Faschings 1780«921 aufzugeben. »Seine Tochter Demoisell Müller kündigte dies mit vieler Rürung dem Publikum an.«922 Durch eine »beträchtliche Subscriptzion«923 von Zuschauern und die Erlaubnis des Kaisers, »sein Institut mit dem Nationalteater zu verbinden«924, konnte Müller den Bühnenbetrieb der Theaterschule jedoch kurzfristig fortsetzen. In der Wiener Zeitung vom 29. August 1781 heißt es daher : Ehrbietungsvoll, macht die der Schauspielkunst sich widmende Jugend, einem verehrungswürdigen Publico bekannt, daß sie ihre theatralischen Uebungen künftigen Freytag als den 31. August im k. k. Nationaltheater wiederum anfangen, und in der Folge ununterbrochen alle Freytage fortsetzen werde. Da sie sich bisher vorzüglich beschäftiget hat, Kenntniß in der Tonkunst zu erlangen, so wird sie mit Adelheid von Veltheim oder der Bascha zu Tunis, einem Original-Singspiele von vier Aufzügen, den Anfang machen.925 Taschenspieler welcher lehret dreyhundert belustigende Kunststücke. Zweyte völlig umgearbeitete Auflage. Wien, bey Joseph Gerold, k. Reichshofraths-Buchdrucker und Buchhändler. 1791. S. 250. In : Oberdeutsche, allgemeine Litteraturzeitung im Jahr 1791. Vierter Jahrgang. Zweyte Jahreshälfte Julius bis December. Salzburg : Oberdeutschen Staatszeitungs-Comtoir. Sp. 518 f. 917 Thürmann, Ludwig Ferdinand (1839) : Friedrich Joseph Müller. S. 9. 918 Ebd. 919 Ebd. 920 Ebd. 921 [Anonym] (1782) : Vereinigung der Teatralpflanzschule mit dem Nazionalteater. S. 146. 922 Ebd. 923 Ebd. 924 Ebd. S. 147. 925 [Anonym] (1781) : [o. T.]. In : Wiener Zeitung, Nr. 69 [Mittwoch, 29. August 1781]. [S. 7]. – Die beiden österreichischen Volkskundler Emil Blümml und Gustav Gugitz sind sich einig, dass es sich
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Am Wiener Nationaltheater wurden von Müllers Schülern überdies Lessings Philotas, das von Müller verfasste Lustspiel Präsentirt das Gewehr926 sowie Jean-Baptiste Rousseaus Lustspiele Der Zaubergürtel und Hans bleibt Hans !927 aufgeführt.928 Da die Aufführung von Balletten verboten wurde929 und einige von Müllers Schülern in das Ensemble des Nationaltheaters wechselten, sah sich Müller aber bald wieder gezwungen, den Betrieb seiner Bühne und Schule aufzugeben : »Mit Ende des Theaterjahrs gab Hr. Müller sein Kinderinstitut gänzlich auf, und beschloß am 8. Febr. [1782] mit Hamlet.«930 Zu Müllers Schülern gehörte der Wiener Schauspieler Diestler – ein »Scholar des Herrn Müller zu Wien«931, der in Leipzig der Bondinischen Schauspielergesellschaft beitrat –, Gabriel Gromann, »Demoiselle Schwarzenfeld«932, »Demoiselle Patsch«933, »Demoiselle Trautmann«934 sowie Müllers Tochter Demoiselle Josephe Müller, die »eine angenehme Figur, eine biegsame, sanfte Stimme, viel Gefühl und eine rühmliche Begierde auf Kritik zu hören«935 besaß. Der Schauspieler Johann Friedel lobte die »Müllersche Unternehmung«936, da Müller die Notwendigkeit eines solchen Instituts erkannt habe. Kritisch erachtet Friedel jedoch, dass an Müllers Institut lediglich der praktische Teil der Schauspielkunst gelehrt, der theoretische angeblich aber vernachlässigt wurde. Devrient urteilt über Müllers Einrichtung abfällig : hierbei nur um Müllers schauspielpädagogische Unternehmung handeln könne (Blümml & Gugitz 1929 : 177). 926 Vgl. Müller, Johann Heinrich Friedrich (1775) : Präsentirt das Gewehr. Ein Lustspiel in zwei Aufzügen. Aufgeführt in den kaiserl. königl. privilegirten Theatern.Wien : Logenmeister. 927 Vgl. [Rousseau, Jean-Baptiste] (1781) : Hans bleibt Hans oder der Bauer, ein Fürst. Ein Lustspiel in drei Aufzügen. Nach dem Französischen [von Christoph Martin Wieland]. Aufgeführt im Kärntnerthortheater. Wien : Joseph Gerold. 928 Vgl. [Anonym] (1782) : Vereinigung der Teatralpflanzschule mit dem Nazionalteater. S 148 f. 929 Vgl. hierzu [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, zweites Stück. S. 28–32. 930 Vgl. [Schletter, Salomo Friedrich] (1783) : Vollständiges Verzeichniß aller Schauspiele und musikalischen Akademien, welche sowohl auf dem k. k. National Hoftheater nächst der k. k. Burg als auch dem Theater nächst dem Kärntnerthor vom 1. Januar bis 31. December 1782 aufgeführt worden sind. In : Litteratur- und Theater-Zeitung für das Jahr 1783, Erster Theil. S. 140–142. S. 141 f. 931 [Anonym] (1783) : Nachricht von den Vorstellungen der Bondinischen Schauspieler-Gesellschaft zu Leipzig in der Michael-Messe 1783. In : Litteratur- und Theater-Zeitung. Für das Jahr 1783, Dritter Theil. S. 715–718. S. 718. 932 [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, zweites Stück. S. 28–32. S. 30. 933 Ebd. 934 Ebd. 935 [Anonym] (1782) : Vereinigung der Teatralpflanzschule mit dem Nazionalteater. S. 336. 936 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. S. 23.
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Dies Verfahren, dressierte Kinder zu öffentlichen Darstellungen zu bringen, lag freilich weitab von einer gesunden künstlerischen Erziehung, und die Anstalt, obwohl sie eine Zeitlang die Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte so wenig Dauer und Nutzen, als jener verfehlte Versuch, der in Mannheim mit einer Theaterschule gemacht worden war.937
Beinah zwanzig Jahre nach Gründung seiner Theaterschule legte Müller erneut einen Entwurf vor. In den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek existiert ein handschriftliches Dokument938 Müllers, das den Titel Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer trägt, auf das Jahr 1797 datiert wird und von der Forschung bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde. Wie der Titel verrät, entwirft Müller hier – vermutlich in Anlehnung an Friedels Beitrag über die Einrichtung eines »Schauspielerphilanthropin[s]«939 – einen ausführlichen Plan zu einem Philanthropin für Schauspieler, Sänger und Tänzer, da Kaiser Franz II., wie Müller schreibt, ihm am 13. Dezember 1793 die Frage vorgelegt habe, ob nicht die nach und nach alt werdenden verdienstvollen Mitglieder unserer Bühne durch einheimische, zur Schauspielkunst angeleitete Zöglinge ergänzt werden könnten ; da unter einer Menge von Schauspielern in Teutschland so wenig gute und brauchbare Subjekte angetroffen würden, welche den gerechten Forderungen des hiesigen Publikums Gnüge zu leisten im Stande wären940.
Als Müller ihm von seiner »im Jahr 1778 errichteten Theatral-Pflanz-Schule Meldung machte«941, erhielt er wenig später »durch die damalige k. k. Obriste Hof-TheatralDirektion den Allerhöchsten Befehl, den Plan zu einem solchen Institute zu entwerfen, und Seiner Majestät allerunterthänigst vorzulegen.«942 Die Theatral-Direktion erklärte Müller im Februar 1794, dass der Kaiser seinen Entwurf zur Kenntnis genommen habe
937 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 484. – Auch in einer zeitgenössischen Kritik heißt es, dass Müllers Kinderschauspieler kleine »Maschinen« gewesen seien, die die »mechanische Nachahmung ihres Lehrers« sehr gut beherrschten. –([Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, erstes Stück. S. 6–16. S. 9 f. 938 Vgl. hierzu Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. ÖNB, Cod. Ser. n. 12621 Han. 939 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. In : Theater-Journal für Deutschland, Siebzehntes Stück. S. 15–27. S. 22. Vgl. auch Friedel, Johann (1784) : Philanthropin für Schauspieler. In : Johann Friedels gesammelte kleine gedruckte und undgedruckte Schriften. [Ohne Ort : ohne Verlag]. S. 147–173. S. 154. 940 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 4. 941 Ebd. 942 Ebd.
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und vielleicht »nach erfolgten Frieden«943 – also nach dem Ende der Koalitionskriege – realisieren würde. Am 28. September 1796 soll auch die Kaiserin bei einer Audienz den Wunsch geäußert haben, »Schauspiele von Kindern zu sehen, welche zur Kunst gezogen werden könnten.«944 Für Müller ergibt sich die Notwendigkeit einer solchen Schule aus dem Zweck des Theaters. Ohne sich mit Rousseaus Kritik am Theater zu befassen oder sich vom »Enthusiasmus der Vertheidiger der Bühne«945 anstecken zu lassen, bestimmt Müller den Zweck der Bühne schlicht mit einem Verweis auf ein Zitat von Horaz : »Ridendo corrigo mores«946 – Durch Lachen verbessere ich die Sitten. »Das Theater soll eine Sittenschule seyn ! ruft Jeder, der das Theater kennt, oder nicht kennt.«947 Kritisch fragt Müller jedoch : »Ist aber auch jetzt das Theater diese Schule ?«948 Er bezweifelt es : »Noch ist das Theater die Schule der Sitten nicht.«949 Da er auf eine zweiundvierzigjährige Karriere als Schauspieler zurückblicken könne, spräche aus ihm keine Häme, sondern eine langjährige Erfahrung. Die Verantwortung dafür, dass das Theater seinen Zweck bisher nicht erfülle, sieht Müller bei den Schauspielern. »Ist es wohl möglich, daß eine Schule, die so selten von moralisch guten Lehrern dirigirt wird, den moralisch guten Zweck erreiche ?«950 Zur Schande des Theaters sei es eine ausgemachte Wahrheit, so Müller, dass »moralische Kenntniß der Pflichten unter dem großen Haufen der Schauspieler«951 zu selten angetroffen werde. Diese Leute, deren »Gesellschaft der Biedermann aus moralischer Delikatesse« scheue, »sollen die Lehrer der Sitten seyn ? Sollen Leute seyn, die warmes Streben nach Tugend, Gefühl, Liebe für Edles in den Busen ihrer Zuhörer anfachen könnten ?«952 Der Grund für ihre defizitäre Moralität liege darin, dass »die wenigsten Schauspieler in ihrer Jugend eine Erziehung genossen [hätten], die sie in der Folgezeit ihrer größeren Ausbildung fühlen machte, wie nöthig die Moralität jeder Handlung alle Schritte ihres Lebens vorzüglich 943 Ebd. S. 4v. 944 Ebd. 945 Ebd. S. 5. 946 Ebd. 947 Ebd. S. 5v. – Ihrer Bestimmung nach sei die Schaubühne, so Müller, eine »Gehilfin der Religion«. Sie könne »Liebe für den Landesvater« und »echten Patriotismus« durch zweckmäßige Theaterstücke beim Publikum beschwören. Angesichts des gegenwärtigen »Hohngelächter[s] des Atheismus«, so Müller, das der Religion spotte, und einer Nation, die »die Fackel der Vernunft zu schwingen wähnt, um alle bürgerlichen Tugenden durch die Flamme des anarchischen Aufruhrs zu verzehren«, brauche es eines Theaters, das als »Vehikel der Gesetzgebung« das Volk in eine Stimmung versetze, »Verordnungen mit Dank und Beifall aufzunehmen« (Müller 1797 : 9 f.). 948 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 5v. 949 Ebd. 950 Ebd. 951 Ebd. S. 6. 952 Ebd. S. 6v.
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bezeichnen müsse.«953 Leichtsinn, Zügellosigkeit und ein Hang zum ungebundenen Leben habe sie zum Theater getrieben. Frauen gelängen durch Verführungen zum Theater oder suchten sie selbst dort.954 Bisher seien die »Provinzial-Schaubühnen«955 in der Verlegenheit gewesen, so Müller, alle Schauspielanwärter – darunter berufslose »Vagabunden und feile Freudenmädchen«956 – aufnehmen zu müssen, obwohl die meisten von ihnen »bis in ihr 20tes – 30tes Jahr«957 einer ganz anderen Bestimmung nachgegangen seien und durch »Eigensinn oder Unglücksfälle«958 zum Theater gelangten. »Sie haben keine Begriffe von irgend einer mit ihrer Kunst verwandten Wissenschaft, keine ästethischen [sic !] Kenntnisse, keine Lektüre, mitten in Deutschland kennen sie oft Deutschlands erste Dichter nicht – wissen sie nicht einmal zu lesen !«959 Von diesen Schauspielern sei nur eine »einförmige Unterhaltung für das Publikum«960 zu erwarten und die Gegner der Bühne behaupten zu Recht, so Müller, dass solche Schauspieler »nicht nur die Sitten nicht verbessern, sondern : die Verderbtheit derselben noch vermehren.«961 Rhetorisch fragt Müller daher abermals : Wie will aber der Schauspieler gute Sitten und Tugend liebenswürdig machen, wenn seine Erziehung diesem Zwecke gerade entgegen arbeitet, wenn eine falsche Richtung seines Genies den guten Geschmack und das Gefühl des Schönen in seiner eigenen Seele geschwächt hat, oder ihn das Falsche für wahr erkennen läßt ? Wie will er erziehen, ohne selbst Erziehung zu haben ?962
Damit das Theater seinen Zweck als Schule der Sitten erfüllen könne, bedürfe es einer moralischen Erziehung der Schauspieler. »So lange also die Lehrer der Sitten nicht selbst in ihrer häuslichen Verfassung Muster derselben sind, so lange ist auch die Hoffnung einer glücklichen Wirkung ihrer Bemühungen vergebens.«963 Nur »frühe Bildung des Schauspielers«964 sei allein der Weg, so Müller, »der zur reinen und wahren Verbesserung der Sitten«965 führe.
953 Ebd. S. 7 954 Vgl. ebd. 955 Ebd. S. 10. 956 Ebd. S. 10v. 957 Ebd. 958 Ebd. 959 Ebd. 960 Ebd. 961 Ebd. S. 7v. 962 Ebd. S. 10. 963 Ebd. S. 7. 964 Ebd. S. 7v. 965 Ebd. S. 8. – Vgl. hierzu Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 21.
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Auf seiner »Theatralreise«966, die Müller im Auftrag und auf Kosten Josephs II. im Jahr 1776 gemacht habe, haben ihm nicht nur Deutschlands »berühmteste Männer im dramatischen Fache«967 zur »Einrichtung einer Pepiniere für die Bühne«968 beigepflichtet, Müller sei auch, wie er selbst schreibt, oft genug Zeuge geworden, dass oft das beste Genie brach und ungenüzt liegen bleiben muß, weil dessen erste Erziehung verwahloset, der Unterricht in den jeden Menschen unentbehrlichen Kenntnissen vernachlässiget, und die Bildung derselben, oft durch drückenden Mangel durchaus unmöglich gemacht wurde, indessen oft schwache Talente durch eine glückliche und zweckmäßige Bildung zu einer ziemlichen Brauchbarkeit und über das Mittelmässige erhoben werden können.969
Müller betont, dass die Einrichtung eines entsprechenden »Theatral-ErziehungsInstitute[s]«970 nicht nur die körpertechnische und intellektuelle Ausbildung von angehenden Schauspielern leiste, sondern auch wesentlich zur moralischen Erziehung beitragen könne. »Die Erziehung«, schreibt er, »gewinnt hier einen doppelten Wirkungskreis : nemlich sowohl von Seite des Publikums, als auch von Seite der Zöglinge selbst.«971 Müller hebt an dieser Stelle noch einmal den Beitrag des Kindertheaters hervor, den es auf die moralische Erziehung der Kinder haben könne. Gleichzeitig betont er, dass durch die Auswahl und Aufführung von »Stücke[n] der verdienstvollsten Kinderfreunde«972 auch Eltern und Erzieher geläutert werden können : Eltern und Erzieher finden in diesen Gattungen eine wahre Schule für ihr häusliches Bedürfniß. Die Zöglinge lernen das Gute und Böse aus Beispielen kennen, welches sie selbst darstellen, und auf diese Art wird das Mittel zu ihrer Erziehung selbst zum Endzweck derselben. Sie werden gebildet, indem sie andere bilden und lernen, indem sie lehren. Erwägt man noch obendrein, daß moralische Wahrheiten im Munde eines unschuldigen Kindes eben so viel an Ausdruck gewinnen, als sie gewöhnlich im Munde eines ungesitteten Mannes verlieren, so ist es außer Zweifel, daß nicht leicht ein nützlicheres Institut erdacht werden könne, als eine Theatralpflanzschule von Kindern.973 966 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 8. 967 Ebd. 968 Ebd. 969 Ebd. S. 8 f. 970 Ebd. S. 9v. 971 Ebd. 972 Ebd. – Vgl. hierzu Teil I, Kap. 1. 3. 2 »Soll man Kinder Komödien spielen lassen ?« – Die Kritik am Bildungsideal der Rhetorik und Moralistik am Beispiel des Schul- und Kindertheaters. 973 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 9v f.
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Die Einrichtung einer solchen Schule wäre nicht nur ein Nutzen für die Wiener Nationalbühne, sondern auch für die Provinzialbühnen. Sie trüge zur allgemeinen Beförderung und Verbreitung »des sittlichen Gefühls und verbesserten Geschmacks, der berichtigten und verfeinerten Sprache«974 bei. Träten die Schüler des Instituts beim Aufenthalt des Kaisers und seines Hofes in Schönbrunn auf, bilde sie einen neuen »Gegenstand der Unterhaltung und des Vergnügens«975. Überdies könne man »mittellosen Eltern«976 bei der Ausbildung ihrer Kinder behilflich sein und ihnen »die drückende Sorge für die Erziehung ihrer Kinder«977 nehmen. Und »manchem verwaistem Genie«978 könne das Institut Unterstützung bieten, um »sich zu bilden«979. Die Einrichtung verdiene sich dadurch die »Würde einer wohlthätigen menschenfreundlichen Stiftung.«980 Müller skizziert dem Kaiser daher den Plan eines solchen Instituts, das er »in der Nähe von Wien mit glänzendem Erfolge und mäßigem Aufwande«981 einrichten wolle. In Schönbrunn, so Müller, sei ein ungenutztes, »völlig eingerichtetes Theater vorhanden«982 und in Penzing, kaum 400 Schritte von diesem Theater entfernt, befinde sich das »so genannte Prinz Karl Gebäude«983, das »nach einer kleinen Reperatur«984 alle Voraussetzungen für ein Theaterphilanthropin besitze. Von »allen Stadtzerstreuungen«985 entfernt, könne man die Schüler hier in allen für die Schauspielkunst relevanten Gegenständen unterrichten. Müller verspricht, dass bereits »sechs Monate nach Einrichtung dieser Pflanzschule schon einige Vorstellungen mit den Eleven derselben«986 gegeben werden könnten und »sie nach einem Zeitraume von anderthalb Jahren so weit« seien, »daß sie wöchentlich einen Tag Schauspiele und Ballette in den Stadt-Theatern zu liefern im Stande seyn«987. Die »Neuheit der Stücke«988, die »Neugierde«989 an der Entwicklung der Schule und seiner Schüler sowie der Umstand, dass die Schüler »Eingebohrene«990 seien und die Schule vom Kaiser eingerichtet worden sei, sorge dafür, dass der Zuschauerraum niemals
974 Ebd. S. 12. 975 Ebd. 976 Ebd. S. 12v. 977 Ebd. 978 Ebd. S. 13. 979 Ebd. 980 Ebd. 981 Ebd. S. 11v. 982 Ebd. S. 14. 983 Ebd. 984 Ebd. 985 Ebd. 986 Ebd. S. 12 f. 987 Ebd. S. 12v. 988 Ebd. 989 Ebd. 990 Ebd.
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leer stehe. Die Einnahmen, die das Institut durch Aufführungen der Schüler erwirtschafte, könnten teilweise oder sogar gänzlich die Kosten der Schule tragen. In das Institut sollten »20 Mädchen und 20 Knaben«991 aufgenommen werden. »Ratsam wäre es«, schreibt Müller, »eine Auswahl unter den hiesigen Waisen- und überhaupt Kindern solcher Eltern zu treffen, die in einer […] gesetzlichen Ehe erzeugt wurden.«992 Müller betont, dass bei der Gründung des Instituts unter den ausgewählten Schülern zunächst keine »Findelkinder«993 sein sollen – egal wie »hervorstechend auch ihre Talente«994 seien. Die zur Aufnahme bestimmten Kinder sollten ferner nicht älter als zwölf und nicht jünger als acht Jahre alt sein. Die Ablehnung von älteren oder gar erwachsenen Schülern begründet Müller damit, dass im Alter zwischen vierzehn und zwanzig Jahren – in den »Jahren des Starrsinns, wo die […] falschen Grundsätze einer vernachläßigten ersten Erziehung bereits zu tiefe Wurzeln gefaßt haben«995 – die »Leitung des Talentes aus Mangel an Biegsamkeit beinah unmöglich«996 sei. Eine entsprechende Erziehung müsse früher einsetzen, denn ihre ersten Eindrücke seien »unvertilgbar«997 und ihr Einfluss wirke sich, so Müller, auf das ganze Leben aus : Alle Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen, und Fähigkeiten müssen in ihrem ersten Keime geleitet werden, wo das weiche unbefangene Herz noch jeder Biegung gehorcht. Wird dieser einzige Zeitpunkt vernachlässiget, so vereitelt der Eigensinn, oder die Heucheley den ganzen Aufwand einer zu späten Sorgfalt. So zweifellos dieser Satz in Ansehung der moralischen Bildung ist, eben so gewiss ist er es auch in Rücksicht auf die Bildung des Künstlers998.
Aus »eigener Erfahrung weiß ich«, schreibt Müller : »Kinder sind weit gelehriger, als erwachsene Leute.«999 Aber noch bedenklicher als ihre Unbelehrbarkeit sei, dass Jugendliche im Alter zwischen vierzehn und zwanzig Jahren beginnen, »Leidenschaften«1000 zu haben, sodass sie eine »Gefahr der Verführung für die jungen Zöglinge«1001 darstellten. Die zur Aufnahme bestimmten Kinder sollten sich ferner durch »einen guten Wuchs, eine regelmäßige Bildung, und gute Sprach-Organe«1002 ausweisen und bereits die übli 991 Ebd. S. 13. 992 Ebd. 993 Ebd. 994 Ebd. 995 Ebd. S. 13v. 996 Ebd. 997 Ebd. S. 8v. 998 Ebd. 999 Ebd. S. 13v. 1000 Ebd. 1001 Ebd. 1002 Ebd.
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chen Kinderkrankheiten – wie die »Kinderblattern«1003 – überstanden haben. Überdies sollten sie bereits über grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen : Sie können lesen, etwas schreiben, und kennen die ersten Grundsätze der Religion. Sie haben einen vorläufigen Begriff, ohngefähr nach den Schulbüchern unserer Normalschulen, von Moral, Physik, Geographie und Historie erlangt. Sie kommen nun, bestimmt für die Bühne, in dieses Philanthropin.1004
Am Theaterphilanthropin erhalten die Schüler dann zuerst Unterricht in der Geschichte der Literatur überhaupt. Dieser folgt die Geschichte des Theaters. Nach dieser allgemeinen Vorbereitung wird ihnen die Literatur des Theaters, in so fern sie unser Vaterland allein angeht, beigebracht. Dieser Unterricht muß mit der Auswahl der besten Stücke und deren Lektüre unterstützt werden.1005
Da es unzureichend sei, die Stücke bloß auf ihre Schönheit hin zu lesen, sondern es darauf ankomme, sie gleichsam zu verstehen und auch »nach allen Verflößungen der Leidenschaften«1006 deklamieren zu können, sollen die Schüler in einer entsprechenden »Hermeneutico«1007 unterwiesen werden. Eine »richtige Deklamation«1008 erfordere es überdies, »daß mit den vorhergehenden Gegenständen auch die Lehre der Leidenschaften verbunden«1009 werde. Zwar nicht so viel auf philosophische Spitzfindigkeiten zu gründen, als vielmehr auf praktische Erfahrungen. Der Schauspieler bedarf der Lehre der Leidenschaften als so wohl als der Historienmahler : denn beyde unterscheiden sich blos dadurch, daß der Maler seine Empfindungen auf seine Helden überträgt, der Schauspieler aber sie selbst ausdrückt. So wenig nun der Historienmaler nöthig hat nach den Sophismen der Philosophie von den Leidenschaften schwatzen zu können, so wenig hat es der Schauspieler nöthig1010.
Das »reichhaltigste, für den Schauspieler unendlichste Studium«1011, das mit der erfahrungsbezogenen Lehre der Leidenschaften verbunden sei, bestehe in der »Kenntniß des Menschen von allen Klassen und Ständen.«1012 1003 Ebd. 1004 Ebd. S. 14. 1005 Ebd. S. 14v. 1006 Ebd. 1007 Ebd. 1008 Ebd. S. 15. 1009 Ebd. 1010 Ebd. 1011 Ebd. S. 15v. 1012 Ebd. S. 15 f.
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Das Ziel dieses Studiums sei : »Wahrheit, Empfindung, und Ausdruck im lesen, und deklamieren.«1013 Müller merkt allerdings an, dass Niemand »schön schreiben lernen wird, wenn er nicht im Anfang die Haar- und Grundstriche mechanisch nachmalt«1014. Seinen Kritikern, die seine Schüler als kleine »Maschinen«1015 bezeichnet haben, hält er entgegen, dass junge Schauspieler anfänglich »mechanisch abgerichtet werden«1016 müssen, um auf der Bühne richtig gehen und stehen zu können. Neben den »scientistischen«1017 Unterrichtsgegenständen müsse daher auch die »mechanische Geschicklichkeit des Schauspielers«1018 trainiert werden. Hierzu gehöre die Unterweisung in der »Tanzkunst«1019, der »Pantomime«1020 sowie in den praktischen Grundsätzen der »Zeichenkunst«1021 und der »Musik«1022. Aus eigener Erfahrung wisse Müller, dass die Schüler in der Tanzkunst die schnellsten Fortschritte machen würden. »Sobald meine Zöglinge sechs Tanzschritte richtig ausarbeiten konnten«, erinnert sich Müller, führte ich nach einem sechs monathlichen Vorunterrichte das erste kleine Ballet durch sie mit ungetheiltem Beifalle auf, und nach Verlauf eines Jahres gab ich die großen tragischen Ballette vom Noverre : Adelheit von Pontheu, den gerechten Agamemnon und die Hotazien und Kurazien mit ihnen, denen damalige Zeitgenossen Beifall und Bewunderung nicht versagen konnten. Mein Grundsatz ist : mit dem theoretischen Theatral-Unterrichte, muß die Praktik schnell verbunden werden.1023
Auch der »Unterricht in der Musik«1024, den Müller seinen Schülern erteilte, machte es möglich, im dritten Jahr seiner Schule »einige Singspiele aufzuführen, welche das Publikum mit Vergnügen sah.«1025 Für die Schauspielkunst nicht unwichtig seien auch der Unterricht im Umgang mit dem Kostüm sowie das »Studium der Nationen, ihrer Sitten, ihrer Gebräuche, so wie ihrer Geschichte«, um das »Kostüm auf das genaueste zu beobachten.«1026 Im zweiten 1013 Ebd. S. 17. 1014 Ebd. 1015 [Anonym] (1781) : Fortsetzung der Antwort über Müllers Institut. In : Meine Empfindungen im Theater niedergeschrieben für Schauspieler und Theaterfreunde, Zweytes Quartal, erstes Stück. S. 9. 1016 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 17v. 1017 Ebd. S. 15v. 1018 Ebd. 1019 Ebd. 1020 Ebd. 1021 Ebd. 1022 Ebd. 1023 Ebd. S. 17. 1024 Ebd. S. 17v. 1025 Ebd. 1026 Ebd. S. 16.
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Jahr müssten die Schüler ferner die französische, italienische und später auch die englische und spanische Sprache erlernen. Denn nach »dem Urtheile des verstorbenen Fürsten von Kaunitz, Wielands, Eschenburgs, und Lessings« sei insbesondere »die spanische Sprache für eine Theatral-Erziehungsschule unentbehrlich.«1027 Schülerinnen und Schüler sollten ferner ihrem Geschlecht entsprechend in Handarbeiten oder im Fechten unterrichtet werden : Da die Zöglinge mehr für das, was man eigentlich die feine Welt zu nennen pflegt, erzogen werden müssen, so haben sie daher auch im fechten Unterricht nothwendig. Unter den Fechtstunden der männlichen Eleven wurden bey meinem Institute die Mädchen zum sticken, garnieren, und Blumen machen angehalten.1028
Und schließlich bestünde »das erste Hauptaugenmerk eines jeden Erziehers«1029 in der »Bildung des Herzens«1030. Die »tägliche Anleitung zur Religion, der Unterricht in den Lehren der Kirche, die Geschichte des Glaubens, und die Bekanntschaft mit den allerheiligsten Wahrheiten«1031 trage zu einem gesitteten und einträchtigen Benehmen bei. So sei gewährleistet, »daß die Zöglinge nicht blos gute Schauspieler, sondern auch gute Bürger und brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft werden.«1032 Getragen werde der Betrieb des Theaterphilanthropins laut Müller von insgesamt sechzehn Personen, die mit der Unterweisung, Beaufsichtigung und der Versorgung der Schüler betraut seien : ein Direktor, ein Religionslehrer, ein Kunst- und Theaterlehrer, ein Musikmeister, eine Oberaufseherin und eine Assistentin, ein Schreibmeister, zwei Knechte, eine Köchin und vier weibliche Gehilfen sowie ein Paar verheiratete Invaliden. Der Religionslehrer, »welcher die christliche Bildung der Eleven besorgt«1033, unterricht die Schüler überdies im Lateinischen. Der Kunst- und Theaterlehrer sollte nach Möglichkeit selbst »Dichter«1034 und fähig genug sein, um »im dramatischen Fache nützliche und zweckmäßige Anleitungen zu geben.«1035 Neben seinen »Vorlesungen und Erläuterungen über die Kunst«1036 solle er auch »Stücke«1037 für das Institut verfassen und übersetzen sowie die »Theatral-Bibliothek«1038 und Korrespondenz des Instituts führen und verwal1027 Ebd. S. 18. 1028 Ebd. 1029 Ebd. S. 16v. 1030 Ebd. 1031 Ebd. 1032 Ebd. 1033 Ebd. S. 18v. 1034 Ebd. 1035 Ebd. 1036 Ebd. 1037 Ebd. 1038 Ebd.
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ten. Bei seinen Unterweisungen über Sprache und Ausdruck der Leidenschaften solle er die Schüler »zum Selbstdenken und Selbstprüfen«1039 anleiten. Zuletzt solle er wie der Religionslehrer die männlichen Schüler beaufsichtigen. Der Musikmeister soll Musikunterricht erteilen und zugleich im Stande sein, »neue Singspiele zu komponieren, in welchen er die Musik den Fähigkeiten«1040 seiner Schüler anpasse. Die Oberaufseherin sei für die Küche, Wäsche und Kleidung verantwortlich, gebe Anweisungen im Garnieren und »Putzmachen«1041 und habe ein wachsames Auge »auf die übrigen weiblichen Lehrerinnen«. Ihre Assistentin dirigiere die »Reinigung der Kinder«1042 und unterrichte die Mädchen im »nähen, stricken, sticken, Blumen machen, frisieren, und anderen weiblichen Arbeiten«1043. Der Schreibmeister hat zunächst die Aufgabe, die Rollen aus den Dramen zu kopieren, bis die Schüler sie selbst abschreiben können. Er unterrichtet sie im Schönschreiben und Rechnen. Aus Müllers Plan spricht ganz offensichtlich die Erfahrung, die er mit seiner Theaterschule am Kärtnertortheater gemacht hat, wenn er zuletzt auch an die alltägliche Versorgung der Schüler und die Ausstattung der Räumlichkeiten denkt : Der Köchin sollen, so Müller, vier Gehilfinnen unterstellt werden und die beiden Hausknechte seien für die übrigen »häuslichen Verrichtungen«1044, die Reinigung der Kleidung, Schuhe und Zimmer sowie für die Beheizung der Räume verantwortlich. Obwohl der Plan ausführlicher ausgearbeitet wurde als sein letzter und von konkreten Erfahrungen geprägt ist, wurde seine Realisierung nicht weiterverfolgt. Selbst die Forschung nahm wie gesagt von ihm bis jetzt keine Notiz.
2.5 »Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben«1045 – Goethes Theaterschule am Weimarer Hoftheater (1791) In der Zeitschrift Frankfurter gelehrte Anzeigen erschien im Jahr 1772 in der Ausgabe vom 24. April eine anonyme Rezension zu Johann Heinrich Friedrich Müllers Genaue Nachrichten von beyden K. K. Schaubühnen in Wien. Der Rezensent lobt hier zwar, dass auf den Wiener Bühnen das »Extemporisieren«1046 aufgegeben und der »Hanswurst
1039 Ebd. 1040 Ebd. S. 19. 1041 Ebd. 1042 Ebd. 1043 Ebd. 1044 Ebd. 1045 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 122. 1046 [Anonym] (1970) : [Rezension zu] Preßburg, Frankfurt und Leipzig. Müller, J. H. F. Genaue Nachrichten von beyden K. K. Schaubühnen in Wien, mit Kupfern. In : Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. [Nachdruck der Ausgabe des Verlages der Eichenbergischen Erben 1772. Erweitert
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verbannt«1047 wurde, doch die Wiener Bühne deswegen als »Nationalschaubühne«1048 zu erklären, das hält er dann doch für übertrieben. Der Rang eines Nationaltheaters erfordere weit mehr als bloß die Überwindung des Stegreifspiels, es bedürfe neben der gesellschaftlichen Anerkennung des Schauspielerberufs und eines empfindsamen Publikums auch geschulter Schauspieler : Wenn nicht die Akteurs und Aktricen in einer eigenen Schule angewiesen werden, die Natur und den Homer, den Sophokles, Euripides, Aristophanes, Plautus, Terenz und Schakespear zu studieren ; wenn ihre Seelen nicht durch eine eigene Erziehungsart zu großen Empfindungen gebildet werden, die sie in ihrem ganzen Leben ausdrucken müssen ; […] so ist alle Bemühung, der Bühne eine eigenthümliche Größe und ihren wahren Werth zu geben, ganz vergeblich.1049
Die Rezension wurde zunächst Goethe zugeschrieben,1050 der neben Johann Heinrich Merck, Johann Georg Schlosser und Johann Gottfried Herder die meisten Beiträge zu dieser Ausgabe beisteuerte. Heute geht man in der Forschung aber davon aus, dass Merck die Rezension verfasste und Goethe vermutlich bloß die wenigen Anmerkungen zu den Kupferstichen hinzufügte.1051 Denn als Goethe im Jahr 1775 nach Weimar kam und dort von 1776 bis 1783 als Leiter, Autor und Schauspieler des dortigen Liebhabertheaters wirkte,1052 spielte die Ausbildung oder Erziehung von Schauspielern für ihn noch keine Rolle. Die Akteure dieser Bühne waren vor allem Mitglieder des Hofes und der Hauptzweck dieses Theaters bestand in einer geistreichen und geselligen Unterhaltung. Obgleich die Liebhaberbühne keinen pädagogischen Anspruch verfolgte, war sie für Goethe immerhin ein lehrreicher Erfahrungsraum gewesen. Denn Goethe, so resümiert Eduard Devrient, hatte durch seine Tätigkeiten am Liebhabertheater »die Grenzen der szenischen Darstellung ermessen gelernt, praktische Erfahrungen über die Schauspielkunst an um ein Vorwort von Hermann Bräuning-Oktavio und Konkordanz zu Bernhard Seufferts Nachdruckausgabe 1883]. Bern : Herbert Lang. S. 263 f. S. 263. 1047 Ebd. 1048 Ebd. 1049 Ebd. S. 263 ff. 1050 Vgl. auch Goethe, Johann Wolfgang (1897) : [Rezension zu] Preßburg, Frankfurt und Leipzig. Müller, J. H. F. Genaue Nachrichten von beyden K. K. Schaubühnen in Wien, mit Kupfern.In : Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 38. Weimar : Hermann Böhlaus Nachfolger. S. 344 f. 1051 Vgl. Thiele, Joachim (1966) : Untersuchung der Goethe zugeschriebenen Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen mit Hilfe einfacher Textcharakteristiken. In : Studia linguistica, 20. Jg. Heft 2. S. 83–85. Vgl. auch Bräuning-Oktavio, Hermann (1966) : Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen : Niemeyer. Vgl. auch Roertgen, William F. (1964) : The Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 1772–1790. An Analysis and Evaluation. Berkeley : University of California Press. 1052 Vgl. hierzu Sichardt, Gisela (1957) : Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung.
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sich selbst und seinen Mitspielern gemacht und sich dadurch seines besten Vermögens vergewissert.«1053 Ende des Jahres 1776 ließ Goethe die Sängerin Corona Schröter, die an der Singschule des Komponisten und Kapellmeisters Johann Adam Hiller in Leipzig ausgebildet wurde, als Hofvokalistin und Schauspielerin für das Liebhabertheater verpflichten. Goethe hatte sie während seiner Studienzeit in Leipzig kennengelernt. Als Goethe sie nach Weimar einlud, war sie, so ihr Biograph Peter Braun, eine »gebildete, kunstsinnige Frau von fünfundzwanzig Jahren […], die in allen Beschreibungen als überaus schön bezeichnet wird.«1054 Das Ölgemälde Goethe als Orest und Corona Schröter als Iphigenie von Georg Melchior Kraus zeigt sie bei ihrem gemeinsamen Auftritt in der Uraufführung der Prosafassung1055 von Goethes Drama Iphigenie auf Tauris am 6. April 1779. Abgesehen von Ekhofs kurzem Intermezzo auf der Weimarer Liebhaberbühne war Corona Schröter unter den Dilettanten des Liebhabertheaters die einzige professionelle Schauspielerin.1056 Die Erziehung und Ausbildung von professionellen Schauspielern wurde Goethe zur praktischen Angelegenheit, als ihm im Jahr 1791 die Leitung des Weimarer Hoftheaters übertragen wurde. Joseph Bellomo, der nach dem Ende der Liebhaberaufführungen mit seiner Truppe von 1784 bis 1791 vor allem mit Opernaufführungen für einen kontinuierlichen Theaterbetrieb gesorgt hatte, verließ mit einem Teil seiner Truppe Weimar in Richtung Graz. Das neue Weimarer Ensemble setzte sich aus Schauspielern aus »ganz Deutschland«1057 und einigen ehemaligen Mitgliedern der Bellomo’schen Gesellschaft zusammen. Unter diesen Schauspielern, die aus der Truppe Bellomos rekrutiert wurden, befand sich auch die erst vierzehnjährige Tochter des Schauspielers Johann Christian Neumann, der 1784 mit nach Weimar gekommen war und dort am 15. Februar 1791 – also kurz nachdem Goethe die Leitung am 17. Januar 1791 übernommen hatte – an einem heftigen Fieber verstarb. »Kurz vor der Veränderung«, merkte Goethe dazu an, »starb ein sehr schätzbarer Schauspieler Neumann ; er hinterließ uns eine vierzehnjährige Tochter, das liebenswürdigste, natürlichste Talent das mich um Ausbildung anflehte.«1058 1053 Devrient, Eduard (1967) Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 610. 1054 Vgl. hierzu Braun, Peter (2004) : Corona Schröter. Goethes heimliche Liebe. Biographie. Düsseldorf : Artemis und Winkler. S. 49. 1055 Laut seinem Tagebuch erarbeitete Goethe zwischen dem 14. Februar und dem 28. März 1779 eine erste, »mit latenten Versen schon reichlich durchsetzte Prosafassung« (Reed 1996 : 197), die am 6. April 1779 vor dem Hof erstmals aufgeführt wurde. Goethe spielte die Rolle des Orest, Corona Schröter spielte Iphigenie. Goethe begann 1781 das Drama umzuschreiben, setzte seine Arbeiten während seiner Italienreise fort und vollendete 1787 eine in Blankversen gesetzte Version. 1056 Christian Heinrich Schmids Chronologie des deutschen Theaters, die 1775 erschienen ist, beginnt mit einer Lobrede auf »Mademoiselle C[orona] E[lisabeth] W[ilhelmine] Schröter zu Leipzig«, die auf einem Privattheater in der Rolle der Eugenie und der Cäcilie in Falbaires Der Galeerensklave sich neben den Schauspielerinnen Madam Seyler und Madam Starke behauptete (Schmid 1775 : 3–6). 1057 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. S. 21. 1058 Ebd.
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Anton Genast, der als Schauspieler und Regisseur1059 am Weimarer Hoftheater tätig war, berichtet, dass sich die Herzogin der vierzehnjährigen Christiane Louise Amalie Neumann »mit mütterlicher Sorgfalt«1060 annahm und die »vielbegabte Corona Schröter«1061 ihre weitere »geistige Ausbildung«1062 übernahm. Auch Goethe widmete sich, so Genast, »der Ausbildung dieses wunderbaren Talents«1063, sodass sie sich unter seiner Leitung »immer glänzender entwickelte«1064. Zufrieden resümiert Goethe daher ein Jahr nach der Übernahme der Leitung des Theaters, »daß die gebildeten Schauspieler den Fleiß fortgesetzt und ihre Talente vermannigfaltigt, daß die jüngeren bei jeder neuen Rolle sich hervorzutun und in ihrer Kunst mehr zu leisten bestrebt haben, daß das ganze an Ton und Spiel mehr in Verbindung gekommen ist«1065. Allerdings wiesen der Schauspieler Johann Heinrich Vohs und der Souffleur Carl Wilms am 7. März 1793 in einem Rundschreiben an sämtliche Mitglieder des Herzoglichen-Weimarischen Hoftheaters auf eine sich häufig einschleichende »Unordnung«1066 hin, die zu einer »Erschlaffung im Bestreben nach Vollkommenheit«1067 führe und drohe, die Kunst zum »Handwerk«1068 herabsinken zu lassen. Ihrem Schreiben legten sie siebzehn Paragraphen bei, die den Theatergesetzen des Mainzer Nationaltheaters nachempfunden waren und zu deren Einhaltung sich möglichst alle Ensemblemitglieder durch ihre Unterschrift verpflichten sollten. Diese Theater Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft regelten betriebliche Abläufe von Lese- und Theaterproben, erklärten die notwendigen Aufgaben, die vom »Requisiteur«1069, »Dècorateur«1070 und »Gaderobier«1071 zu leisten 1059 Unter »Regie« wurde am Weimarer Hoftheater eine Art »verwaltungstechnische Unterdirektion« (Schwind 1996 : 66) verstanden, die vor allem mit der Leitung der Proben befasst war. Die Regisseure am Weimarer Hoftheater Johann Heinrich Vohs (bis 1802), Carl Schall (bis 1799), Heinrich Becker und Anton Genast, die auch als Schauspieler tätig waren, wurden seit dem Jahrsende 1796 als Wöchner bezeichnet, da sie sich in ihrem Dienst wöchentlich abwechselten. Diese Regelung übernahm die Weimarer Bühne vom Wiener Burgtheater (Linder 1990 : 29). 1060 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 79. 1061 Ebd. 1062 Ebd. 1063 Ebd. S. 78. 1064 Ebd. S. 80. 1065 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Herzogl. Hoftheater zu Weimar [1792]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771– 1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Klassik Verlag. S. 286 f. S. 286. 1066 Vohs, Johann Heinrich & Wilms, Carl (1793) : Promemoria. Zit. nach Linder, Jutta (1990) : Ästhetische Erziehung. S. 135 f. S. 135. 1067 Ebd. 1068 Ebd. 1069 Vohs, Johann Heinrich & Wilms, Carl (1793) : Theater Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft. Zit. nach Linder, Jutta (1990) : Ästhetische Erziehung. S. 136–141. S. 139. 1070 Ebd. 1071 Ebd. S. 140.
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waren, bestimmten das Verhältnis zwischen Regie und Schauspielern und setzten die Beträge der »Strafgelder«1072 bei eigenmächtigem »Extemporiren, Abkürzen der Rolle«1073 und »Possenreißereien«1074 fest. Bußgelder sollten auch dann gezahlt werden, wenn während der Proben oder bei Aufführungen störende Geräusche gemacht oder hinter den Kulissen laut geredet, wenn Requisiten vergessen, Proben verpasst, fremde Personen mit zu Proben oder Aufführungen gebracht würden. Eine Entlassung drohe gar dem, der sich »Unsittlichkeit, lasterhaftes und pöbelhaftes Betragen, oder Betrunckenheit auf dem Theater zu Schulden kommen«1075 lasse. Ein Brief, den Goethe am 2. November 1800 an Hofkammerrat Franz Kirms, der Goethe bei finanziellen Angelegenheiten der Theaterleitung zur Hand ging, schrieb, deutet darauf hin, dass er seine Schauspieler bei Vergehen sogar einsperren ließ. Goethe schreibt, dass die »unerträgliche Unordnung, welche durch keine Ermahnung noch Drohung zu verbessern war«, ihn nötige »von nun an mit Strenge zu verfahren. Ich werde mich künftig, wenn ein Fehler passiert, nicht mehr ärgern, sondern […] einen oder den andern auf die Wache schicken und sehen wie die Kur anschlägt.«1076 Und so verhängte der studierte Jurist für die nicht autorisierte Verlängerung eines Gastspiels der achtzehnjährigen Schauspielerin Wilhelmine Maas im Frühjahr 1804 in Berlin einen achttägigen Hausarrest. Die Schildwache vor der Tür musste die Schauspielerin aus der eigenen Tasche bezahlen. Iffland, der Kirms am 30. April 1804 aus Berlin schrieb, zeigte sich entsetzt über Goethes drakonische Strafe : Nun aber höre ich, daß man ihr eine Schildwache vor die Thür gesetzt haben soll. Dies kann ich in der That nicht glauben und bitte um Auskunft darüber. […] An einem Frauenzimmer, einem Mädchen, einem Mädchen von achtzehn Jahren für einen Fehler, der unrecht aber nicht boshaft und aus der Natur der Sache, daß ein junges Wesen in ihrer Heimath zeigt was sie gelernt hat und deshalb länger ausbleibt – der daraus entsteht – da handelt die humane Direction, in der Hand des ersten Dichters der Welt – gewiß mit Achtung für das Geschlecht ! Gewiß nimmt man eine mädchenhafte Inconsequenz nicht kriminalisch !1077
1072 Ebd. 1073 Ebd. S. 137. 1074 Ebd. 1075 Ebd. S. 139. 1076 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Kirms [So. 2.11.1800]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. Karl Eibl. II. Abt.: Briefe Tagebücher und Gespräche, Bd. 5 : Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805, Teil II : Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. S. 86 f. S. 86. 1077 Zit. nach Wahle, Julius (1892) : Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Aus neuen Quellen. Weimar : Verlag der Goethe Gesellschaft. S. 203 f. – In seiner Selbstbiographie merkt Iffland an, dass etliche Theatergesetze pedantisch, kleinlich und mit dem Künstlergefühl nicht vereinbar seien. »Sie scheinen mehr für Handwerksbursche [sic !], als für Künstler entworfen. Sind freylich nur wenige Schauspieler Künstler, so gewinnt dennoch eine Direktion, wenn sie alle als Künstler
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Die »unerträgliche Unordnung«1078, von der Goethe schrieb, sorgte offensichtlich dafür, dass selbst Schiller, der laut Genast bei den Proben »voll Nachsicht und Freundlichkeit gegen die Schauspieler«1079 war, die Geduld verlor. Er gestand in einem Brief an Goethe wütend, dass er »mit dem Schauspielervolk nichts mehr zu schaffen haben will, denn durch Vernunft und Gefälligkeit ist nichts auszurichten ; es gibt nur ein einziges Verhältnis zu ihnen, den kurzen Imperativ, den ich nicht auszuüben habe.«1080 Den Schauspieler Johann Michael Friedrich Haide fuhr Schiller bei den Proben zu Goethes Übersetzung von Voltaires Tancred auf Schwäbisch an : »Ei was ! Mache Sie’s, wie ich’s Ihne sage und wie’s der Goethe habbe will. Und er hat Recht – es ischt ä Graus, des ewige Bagire mit dene Händ und das Hinauspfeife bei der Recitation.«1081 Die »Disziplinarmaßnahmen«1082, die Inhaftierungen und Eingriffe in die persönlichen Anliegen der Schauspieler, legitimierte Goethe vor dem Hintergrund seiner patriarchalischen1083 Auffassung der Theaterleitung, wie sie nur von einem »›Kultur‹-Minister im absolutistischen Kleinstaat«1084 betrieben werden konnte. Ein Beispiel hierfür ist der sogenannte Verheiratungsfall des Hofschauspielers Wilhelm Deny. Als Deny im März 1809 bei seiner vorgesetzten Behörde um die Erlaubnis bat, heiraten zu dürfen – was
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behandelt. Sie hat dann von den Schauspielern zu fordern, was sie ihnen vorher geleistet hat – Humanität« (Iffland 1798 : 211 f.). Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Kirms [So. 2.11.1800]. S. 86. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 113 f. – Genast berichtet, dass bei den Proben zu Schillers Bearbeitung von Macbeth der Schauspieler Vohs seinen Text nicht beherrschte. »Was ist denn mit diesem Herrn Vohs ?«, fuhr Goethe Genast an. »Der Mann kann ja kein Wort von seiner Rolle ; wie will er denn den Macbeth spielen ? Sollen wir uns vor den höchsten Herrschaften und dem Publikum blamiren ?« Schiller und Genast versuchten Goethes Zorn zu beschwichtigen und rühmten Vohs’ künstlerische Ruhe, seine Genialität, die ihn bei der Darstellung über diese Klippen hinwegführen würde. Bei der Aufführung am nächsten Tag war Vohs immer noch nicht textsicher und nach dem zweiten Akt kam Schiller hinter die Bühne »und fragte in seinem herzigen schwäbischen Dialekt : ›Wo ischt der Vohs ?‹ Dieser trat ihm mit etwas verlegener Miene und gesenktem Kopf entgegen ; Schiller umarmte ihn und sagte : ›Nein, Vohs ! Ich muß Ihne sage : meischterhaft ! Meischterhaft ! Aber nun ziehe Sie sich zum dritten Act um !‹ Vohs mußte sich Anderes erwartet haben. Denn mit inniger Freude dankte er Schiller für seine unbegrenzte Nachsicht. Dann wandte sich Schiller mit den Worten zu mir : ›Sehen Sie, Genascht, wir habbe recht gehabt ! Er hat zwar ganz andere Vers gesproche, als ich sie geschriebe hab, aber er ischt trefflich !« (Genast 1862 : 110 f.) Schiller, Friedrich (2002) : An Johann Wolfgang von Goethe [Weimar, 28. April 1801]. In : Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Axel Gellhaus, Klaus Harro Hilzinger u.a., Bd. 12 : Briefe II. 1795–1805. Hrsg. von Norbert Oellers. Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag. S. 567. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 114 f. Linder, Jutta (1990) : Ästhetische Erziehung. S. 34. Vgl. hierzu Wiens, Birgit (2000) : ›Grammatik‹ der Schauspielkunst. S. 136–140. Schwind, Klaus (1996) : ›Man lache nicht !‹ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schauspielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 21. Jg. Heft 2. S. 66–112. S. 68.
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eine bürokratisch notwendige Formalie für die Ausstellung des Trauscheins war –, sprach Goethe sich dagegen aus : Jeder Vorgesetzte hat zu seinen Untergebenen ein väterliches Verhältniß. Es war dieses glücklicher Weise bey dem weimarischen Theater im höchsten und besten Sinne herkömmlich. Junge Schauspieler bildeten sich hier, die mit nichts als einigem Talent hier her kamen. Man sorgte für sie, man begünstigte sie, und sollte nun im Heiratsfalle, der eine neue Bestimmung für’s ganze Leben herbeyführt, nicht die Einwilligung solcher Vorgesetzten wichtiger als selbst der Eltern seyn, die entfernt und gleichgültig einem erwachsenen Sohne, der sich selbst ernährt, wenig vorzuschreiben haben.1085
Als sich Deny daraufhin direkt an den Herzog wandte, rügte dieser Goethes Rigorismus und Herrschsucht.1086 Während die ältere Forschung in Goethes Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen das unendlich geduldige Ringen mit den unwilligen Schauspielern sah – und wie es ihm gelang, die Darsteller »in ihren Grenzen«1087 von seinen Spielprinzipien zu überzeugen –, deuten neuere Forschungsarbeiten Goethes Theater zum einen in Anlehnung an Foucaults Studie zur »Disziplinargesellschaft«1088 als »Gefängnis«1089, als eine »Institution der umfassenden Kontrolle aller ästhetischen, ethischen und ökonomischen Gegebenheiten«1090, zum anderen weisen sie auf die asymmetrischen Abhängigkeits- und »Ausbeutungsverhältnisse«1091 hin. In Anlehnung an eine bekannte Formel aus Kants Vorlesungen Über Pädagogik lässt sich für das Weimarer Hoftheater daher sagen, dass die Freiheit der Schauspielkunst durch den Zwang kultiviert wurde.1092 Die Autonomie, die Goethe und Schiller mit Blick auf Kants Autonomisierung des Ästhetischen für die Schauspielkunst in Anspruch nehmen wollten, äußerte sich als Heteronomie für die Schauspieler. Für sie galt es, sich dieser Zielsetzung, einer Begründung der Schauspielkunst als schöne Kunst zu unterwerfen und sie
1085 Zit. nach Witkowski, Georg (1935) : Neue Urkunden zu Goethes Theaterleitung [HoftheaterCommissions-Acten die Verheirathung der Hofschauspieler pp im allgemeinen und den Verheirathungsfall des Hofschauspielers Deny insbesondere betr. Weimar 1809] In : Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, Bd. 10. S. 49–117. S. 88. 1086 Vgl. Schwind, Klaus (1996) : ›Man lache nicht !‹ Goethes theatrale Spielverbote. S. 70–72. 1087 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 174. 1088 Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. S. 276. 1089 Wiens, Birgit (2000) : ›Grammatik‹ der Schauspielkunst. S. 143. 1090 Ebd. S. 143 f. 1091 Schwind, Klaus (1996) : ›Man lache nicht !‹ Goethes theatrale Spielverbote. S. 82. 1092 W. Daniel Wilson wird in seiner Studie noch deutlicher : »Die hohen Ideale der Humanität, der Autonomie des Individuums und der Bildung standen auf einem brüchigen Fundament, einem Boden, der mit Überwachung, Zensur und Einschüchterung durchzogen war : kurz, mit der Dialektik von Macht und Moral, die diesen Begriffen viel von ihrem Gehalt nahmen« (Wilson 1991 : 263).
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zu ihrer eigenen Agenda zu machen. »Unsere Theatergesetze, haben zwar allerlei Strafbestimmungen«, gestand sich Goethe später im Gespräch mit Eckermann ein, allein sie haben kein einziges Gesetz, das auf Ermunterung und Belohnung ausgezeichneter Verdienste ginge. Dies ist ein großer Mangel. Denn wenn mir bei jedem Versehen ein Abzug von meiner Gage in Aussicht steht, so muß mir auch eine Ermunterung in Aussicht stehen, wenn ich mehr tue, als man eigentlich von mir verlangen kann. Dadurch aber, daß Alle mehr tun, als zu erwarten und zu verlangen, kommt ein Theater in die Höhe.1093
Die Höherentwicklung des Theaters bestand für Goethe darin, es zu einer Anstalt der »höhern Sinnlichkeit«1094 zu machen, das »tolle Handwerk«1095 – wie es an einer Stelle in Wilhelm Meisters Lehrjahren heißt – zur Schauspielkunst weiterzuentwickeln und die Schauspieler zu Künstlern auszubilden. »Obgleich Goethe vom Jahr 1793 bis zu Anfang des neuen Jahrhunderts mehrere junge Talente, die ihm der Ausbildung werth erschienen, engagiert hatte und sich selbst mit ihnen beschäftigte, so war doch im Ensemble ein störender Zwiespalt fühlbar.«1096 Genast deutet damit an, dass sich im neuen Ensemble eine dialektale und theatrale Uneinheitlichkeit bemerkbar machte. Sie widersprach Goethes ästhetischer Idealvorstellung einer »Harmonie / Des ganzen Spiels«1097, wie es in seinem Prolog Der Anfang ist in allen Sachen schwer zu Ifflands Drama Die Jäger heißt, das zur Eröffnung des Weimarer Hoftheaters am 7. Mai 1791 gegeben wurde. »Von allen Enden Deutschlands kommen wir / Erst jetzt zusammen ; sind einander fremd, / Und fangen erst nach jenem schönen Ziel / vereint zu wandeln«1098. Diese Einheitlichkeit, die Goethe programmatisch ankündigte, sollte dadurch eingelöst werden, dass es erstens unter den Schauspielern keine Hierarchien oder Vorrechte aufgrund von Rollenfächern mehr geben sollte und zweitens sollte eine Einheitlichkeit auf der Bühne hergestellt werden, indem den Schauspielern ein verbindlicher, einheitlicher Darstellungsstil diktiert wurde, den Peter Eckermann später in den Regeln für Schauspieler festhielt. »Bestimmte Rollenfächer durften die Schauspieler unter Goethe nicht beanspruchen«, berichtet Genast, »und selbst die ersten durften sich nicht weigern, wenn es zum Besten des Ganzen war, eine Anmelderolle zu übernehmen.«1099 Als sich der Schauspieler Hein1093 1094 1095 1096 1097
Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 563. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Deutsches Theater. S. 601. Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 637. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 83. Goethe, Johann Wolfgang (1993) : Prolog [zu Ifflands Die Jäger]. Gesprochen den 7. Mai 1791 [von Johann Friedrich Domaratius]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 6 : Dramen 1791–1832. Hrsg. von Dieter Borchmeyer und Peter Huber. Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag. S. 875 f. S. 875. 1098 Ebd. S. 875. 1099 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 100.
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rich Becker weigerte eine untergeordnete Rolle zu spielen, soll Goethe darauf bestanden und gesagt haben : »Sagen Sie dem Herrn Becker, wenn er sich dennoch weigern sollte, so würde ich die Rolle selber spielen.«1100 Denn nicht die Leistung eines einzelnen Schauspielers, eines Virtuosen, zeichne eine gelungene Aufführung aus, sondern das Zusammenwirken aller Teile sei entscheidend. Zu seinen Schauspielern soll Goethe ferner gesagt haben, dass Virtuosität von der dramatischen Kunst ferngehalten werden müsse. »Keine einzelne Stimme darf sich geltend machen ; Harmonie muß das Ganze beherrschen.«1101 In seinem Prolog zur Eröffnung des Weimarer Theaters heißt es daher auch : Denn hier gilt nicht daß einer atemlos / Dem andern heftig vorzueilen strebt, / Um einen Kranz für sich hinweg zu haschen. / Wir treten vor euch auf, und jeder bringt / Bescheiden seine Blume, daß nur bald / Ein schöner Kranz der Kunst vollendet werde, / Den wir zu eurer Freude knüpfen möchten.1102
Wie in einem Gemälde oder bei einer Skulptur seien es nicht die bloßen Details, sondern ihre harmonische Komposition, die gleichmäßige Anordnung im Raum, die auf den Betrachter wirke. Goethe rät daher, die Bühne als »ein figurenloses Tableau anzusehen, worin der Schauspieler die Staffage macht«1103. Darüber hinaus verpflichtete Goethe, der nach seinem Italienaufenthalt und in enger Zusammenarbeit mit Schiller die natürliche Schauspielkunst und ihren darstellerischen Naturalismus zu überwinden versuchte, die Schauspieler auf einen idealistischen, ästhetisierten Darstellungsstil. »Die Schauspieler sollen nicht aus mißverstandner Natürlichkeit unter einander spielen, als wenn kein Dritter dabei wäre«1104. Stattdessen solle der Schauspieler bedenken, »daß er um des Publikums willen da«1105 sei und »daß er nicht allein die Natur nachmachen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle, und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinigen habe.«1106 Für die älteren Schauspieler, deren Bühnenspiel noch den Maximen der natürlichen Schauspielkunst folgte, bedeutete Goethes Aufforderung, so Kindermann, grundsätzlich umzulernen : Innerhalb zweier Schauspielergenerationen sollte ja damals zweimal umgelernt werden : zuerst aus dem Pathos- und Typenspiel der franzosenhörigen Neuberin zur Bewältigung 1100 1101 1102 1103
Ebd. S. 101. Ebd. S. 168. Goethe, Johann Wolfgang (1993) : Prolog. Gesprochen den 7. Mai 1791. S. 875 f. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler [1803]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Klassik Verlag. S. 857–883. S. 859. 1104 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 858. 1105 Ebd. S. 871. 1106 Ebd.
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des Charakteristisch-Natürlichen bei Ekhof, des Charakteristisch-Wahrhaftigen bei Schröder. Und nun verlangte Goethe den schwierigen Schritt herüber zur Darstellung des Wesensmäßigen, d. h. zum darstellerischen Aufspüren der»Urformen« hinter der Fassade des Individuell-Einmaligen.1107
Den Anlass zum Umlernen gab die antike Plastik.1108 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Heinrich von Kleist in seinem Text Über das Marionettentheater das Ideal der natürlichen Schauspielkunst, die unverstellte Natürlichkeit und Echtheit, in der antiken Plastik des Dornausziehers realisiert sah. Der »Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen.«1109 Ein unbekleideter Junge, der auf einem Stein sitzt, das linke Bein über den rechten Oberschekel gelegt, den Kopf über den Fuß geneigt, zieht einen nicht sichtbaren Dorn aus seiner linken Fußsohle. In Kleists Text berichtet der Erzähler von einem sechzehnjährigen Jüngling, »über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war«1110, und der sich durch Zufall im Spiegel beobachtete, wie er nach dem Baden seinen Fuß auf einen Schemel stellte. Da ihn die Pose an die anmutige Gestalt des Dornausziehers erinnerte, versuchte er sie absichtlich nachzustellen. Seine vielzähligen, eitlen Versuche aber, diese Pose und ihre Anmut nachzuahmen, missglückten ihm. »Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen«1111. Die Skulptur des Dornausziehers verfügt, so lässt sich hieraus schlussfolgern, über eine dauerhafte, nichtzufällige natürliche Anmut, da sie sich ihrer Sichtbarkeit nicht bewusst werden kann. Kein Bewusstsein richtet in ihrer natürlichen Grazie Unordnung an. In der Plastik ist die Natur vervollkommnet. Diese Vervollkommnung der Natur in der Kunst, die in Kleists kurzer Anekdote anklingt, kennzeichnet nicht nur Goethes Kunstauffassung. In den Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst von Friedrich Hildebrand von Einsiedel, die wie gesagt wahrscheinlich aus seiner Zusammenarbeit mit Goethe am Weimarer Liebhabertheater hervorgegangen sind, sieht Einsiedel im Schauspieler einen bildenden Künstler »im eigentlichen Sinne ; jedoch bedient er sich keiner fremden ausser ihm liegenden Mittel zu seinen Darstellungen, sondern er selbst ist zugleich der Künstler und das Produkt der Kunst.«1112 Der Schauspieler gehöre in die Klasse der bildenden Künstler, so Einsiedel, da er das 1107 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 168. 1108 Vgl. hierzu Liebsch, Dimitri (2001) : Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800. Hamburg : Meiner. 1109 Kleist, Heinrich von (1994) : Über das Marionettentheater [1810]. In : Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke. 7. Auflage. Hrsg. von Helmut Koopmann. München : Artemis und Winkler. S. 945– 951. S. 949. 1110 Ebd. 1111 Ebd. 1112 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 16. – Goethe besaß ein Exemplar von Einsiedels Schrift in seiner Bibliothek (Ruppert 1958 : 374).
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dramatische Textmaterial durch seine Darstellungen in ein »abgesondertes Kunstwerk«1113 verwandle. Seine Aufgabe bestehe in der theatralischen Verwandlung der Bilder des Dichters in »Statuen«1114, in der »Veredelung der Natur«1115, die Einsiedel als »Bedingnis der Kunst«1116 versteht. Obgleich sich darüber, wie sehr Goethe an der Entstehung dieses im Jahr 1797 erschienenen Manuskripts beteiligt war, nur Mutmaßungen anstellen lassen, ist der Theaterhistoriker Heinz Kindermann der Ansicht, dass Einsiedel, der auch später noch Übersetzungen und Bearbeitungen von Stücken für das Hoftheater anfertigte, hier »die Regieprinzipien des frühen Spielleiters und Darstellers Goethe«1117 festgehalten habe. Einsiedels Unterscheidung von Nachahmung, Manier und Stil erinnern zumindest an Goethes vergleichbare Überlegungen zur Einfachen Nachahmung der Natur, Manier, Styl, die er während seiner Italienreise entwarf und im Februar 1789 im Teutschen Merkur veröffentlichte.1118 Der Stil, darin sind sich Goethe und Einsiedel einig, zeichne sich dadurch aus, dass ein Künstler »durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst, […] die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen genau und immer genauer kennen lernt […] und die verschiedenen charakteristischen Formen neben einander zu stellen und nachzuahmen weiß«1119. Einsiedel, der die Kategorie des Stils auf die Schauspielkunst übertragt, schreibt, dass der Schauspieler »sich mannigfaltige Modelle und Normen, aus der Beobachtung vieler Individuen abstrahirt haben [muss], aus welchen er dasjenige Model zur Norm wählt, welches der Persönlichkeit seiner Rolle, in Ansehung ihrer Klassificazion, und ihrer Lage am nächsten kommt.«1120 Der Schauspieler müsse daher, so Einsiedel, »von den Eigenthümlichkeiten der menschlichen Natur einen deutlichen vollständigen umfassenden Begriff haben«1121, den Einsiedel als die »Grundlage der Menschheit«1122 bezeichnet. Der Schauspieler solle weder das Subjektiv-Individuelle, seine eigenen rein subjektiven Eingebungen oder sich selbst darstellen, noch solle er das bloß Objektiv-Individuelle, die vielzähligen, zufälligen Erscheinungen der empirischen Natur nachahmen. Goethe und Einsiedel verlangen, dass der Schauspieler in seinem Bühnenspiel vom Individuellen abstrahiere und seiner Darstellung eine Allgemeinheit verleihe. »Die durch Kunstsinn abstrahirten, und zu 1113 Ebd. S. 20. 1114 Ebd. 1115 Ebd. S. 40. 1116 Ebd. 1117 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 163. 1118 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a.M.: Klassik Verlag. S. 225–229. 1119 Ebd. S. 227. 1120 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 38. 1121 Ebd. S. 41. 1122 Ebd.
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einem abgemessenen Kunstwerk angewendeten allgemeinen Formen«, so Einsiedel, »legen der Darstellung des Schauspielers dasjenige bey, was man die Veredelung der Natur zu nennen pflegt«1123. Zur Veranschaulichung eines solchen stilisierten oder ästhetisierten Bühnenspiels, in dem die Natur nicht nachgeahmt, sondern künstlerisch veredelt werde, lud Goethe den Schauspieler August Wilhelm Iffland zu einem Gastspiel im Frühjahr 1796 nach Weimar ein. »Es wird bald ein Meister unter uns stehen«, kündigte Goethe den Mitgliedern des Hoftheaters Ifflands Gastspiel an, »den ich hauptsächlich berufen habe, um Euch durch ihn zu beweisen, wie gut Kunst und Natur sich vereinen lassen.«1124 Karl August Böttiger, der im Journal des Luxus und der Moden die vierzehn Auftritte Ifflands dokumentierte und später in einem Buch zusammentrug, teilte Goethes Ansicht, dass die Herausforderung für die Schauspieler darin bestehe, das Generische an einer Rolle darzustellen und durch »klug angebrachte Eigenheiten«1125 scheinbar doch ein »bestimmtes Individuum«1126 zu spielen. Hier schafft also der Schauspieler sich selbst ein aus vielen einzeln bemerkten Zügen und Ähnlichkeiten kunstreich zusammen gesetztes und veredeltes Bild, mit Einem Worte, ein Ideal. Wer diess vermaß, ist schöpferisches Genie, ist selbsterzeugender Dichter. Ganz anders ist es mit dem bloßen, auch noch so fleissigen Brodkünstler, der nichts als Nachahmer ist. Statt selbst zu erfinden und zusammen zu setzen, wendet er sein ganzes Studium auf die Nachbildung eines einzigen Originals, das er mit größter Treue wieder zu geben sucht.1127
Böttiger, der Iffland als »Geberdenmahler«1128 bezeichnet, äußert sich begeistert von Ifflands malerischer Gestik und Mimik : Aber stets unvergeßlich wird mir sein Spiel durch die mahlerische Zusammenordnung, den Reichtum und den Ausdruck seines Geberdenspiels bleiben. […] Welche Fülle, Sicherheit und Festigkeit der Umrisse ! Und doch auch wieder welche Weichheit und Zartheit, welche rundliche, glatte Formen, in fest gehaltenem, Zuversicht und Wohlbehagen mittheilendem Muskelspiel.1129
1123 Ebd. S. 40. 1124 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 96. 1125 Böttiger, Karl August (1796) : Entwicklung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath 1796. Leipzig : G. J. Göschen. S. 64. 1126 Ebd. 1127 Ebd. 1128 Ebd. S. 275. 1129 Ebd. 272–274.
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Ifflands stummes Mienenspiel faszinierte Böttiger so sehr, dass er empfahl, es angehenden Schauspielern durch ein ihnen auferlegtes Schweigen zu Beginn ihrer Ausbildung beizubringen : Man hat schon mehrmals den Vorschlag gethan, dass, wenn wirklich ein Schauspieler-Philanthropin, wie es einmal im Gothaischen Theaterjournal vorgeschlagen wurde, möglich wäre, in ihm jenes berühmte Stillschweigen einiger philosophischen Schulen auf eine gewisse Zeit durchaus Statt finden [sic !], und der Lehrling erst mit der Miene, dann mit Händen und Füssen sprechen lernen müsse, ehe es ihm erlaubt werde, den Mund zu öffnen.1130
Ifflands Auftritt in der Rolle des Pygmalion aus Rousseaus gleichnamigem Melodrama während seines zweiten Gastspiels in Weimar im Jahr 1798 hielt Anton Graff in einem Gemälde fest.1131 Es zeigt Iffland in Tunika und Toga gehüllt, im Kontrapost stehend und den linken Arm und die Finger der linken Hand wie in Michelangelos Deckenfresko Die Erschaffung Adams auf eine antike Statue am linken Bildrand weisend. Das Gemälde, das die Transformation eines unbelebten Kunstwerks zur lebendigen Natur im Pygmalion-Mythos zum Thema hat, ist zugleich ein Ausweis für Ifflands Perfektion des idealistischen Darstellungsstils, in dem die Natur zur Kunst veredelt wird. Neben Iffland, dessen Gastspiele dazu beitragen sollten, das »Ensemble nach Goethe’s Princip immermehr auszubilden«1132, erwies sich auch der französische Schauspieler François-Joseph Talma als Vorbild für die Ausbildung von Schauspielern in Weimar, von dessen schauspielerischen Darbietungen Wilhelm von Humboldt in Briefen aus Paris berichtete. In diesen Briefen Ueber die gegenwärtige französische tragische Bühne, die Goethe in den Propyläen abdrucken ließ, arbeitet Humboldt einige Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Bühne heraus, um anschließend eine mögliche Synthese von beiden Theatertraditionen anzudeuten. Auffällig sei, so Humboldt, dass auf deutschen Bühnen »nicht genug für das Auge, nicht genug in ästhetischer und noch weniger in sinnlicher Rücksicht«1133 geschehe. Humboldt fordert daher, die bildenden Künste in die Schauspielkunst zu integrieren und ihr eine »eigene Erziehung«1134 zu widmen. Der 1130 Ebd. S. 204. – Hegel erinnert in seiner Rede zum Schuljahrabschluß vom 14. September 1810 daran, dass die »Schüler des Pythagoras […] ihre vier ersten Lehrjahre hindurch schweigen [mussten], d.h. keine eigenen Einfälle und Gedanken haben oder zutage bringen« (Hegel 1996 : 332). 1131 Iffland soll angeblich kein Geld gehabt haben, um sein Porträt bei Graff bezahlen zu können. Die Ehre, ihn porträtiert zu haben, solle ihm als Bezahlung genügen. Graff nahm es mit Humor und meinte, er würde einen Kupferstich von Iffland in der Rolle des Pygmalion anfertigen, nun aber, »wie er wirklich ist«, denn Graff habe ihn »im Gemälde sehr veredelt« (Berckenhagen 1967 : 216). 1132 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 98. 1133 Humboldt, Wilhelm von (1800) : Ueber die gegenwärtige französische tragische Bühne. Aus Briefen. In : Propyläen. Eine periodische Schrift, Bd. 3. S. 66–109. 1134 Ebd. S. 96.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert Abb. 17 Anton Graff (1800) : Iffland als Pygmalion. Öl auf Leinwand, 240 × 160 cm. Berlin : Schloß Charlottenburg.
Schauspieler solle »zugleich als redender und als bildender Künstler«1135 wirken und dürfe »das Dichterische und das Mahlerische seiner Kunst nicht trennen.«1136 Das Malerische, das Humboldt in den Rang des eigentlich Ästhetischen, der »künstlerische[n] Harmonie und Schönheit«1137 rückt, zeichne in besonderer Weise Talmas Bühnenspiel aus : In der mahlerischen Schönheit der Stellungen und Bewegungen kann er nicht leicht von jemand übertroffen worden seyn […]. Auf dem Theater ist jede seiner Bewegungen schön und harmonisch, sein Anstand durchaus edel und gratios. Er mag sitzen, stehen, niederknien, so wird es der Mahler immer werth finden diese Stellung zu studiren. Wenn man bey andern Schauspielern wohl hie und da einzeln ein schönes Gemählde, wie man es hier nennt, bemerkt, so zeigt sein Spiel eine ununterbrochene Folge derselben, einen harmonischen Rhythmus aller Bewegungen, wodurch denn das Ganze wieder zur Natur zurückkehrt, aus der diese Art zu spielen, einzeln genommen, schlechterdings heraustritt.1138 1135 Ebd. 1136 Ebd. S. 97. 1137 Ebd. S. 67. 1138 Ebd. S. 68 f.
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»Seinen eigentlichen Schauspielerunterricht«, schreibt Humboldt über Talma, »hat er in der école Dramatique, die es hier ehemals vor der Revolution gab, erhalten, und sein besonderer Lehrer ist Dugazon gewesen, ein guter komischer Schauspieler, der auch sonst viel Theaterkenntniß besitzen soll.«1139 Mit dieser Bemerkung deutet Humboldt auf die Geschichte des Pariser Konservatoriums hin. In den letzten Jahren des Ancien régime, im Jahr 1784, wurde in Paris die Ecole royale de chant – die später auch unter dem Namen Conservatoire de musique einen großen Bekanntheitsgrad erlangte – nach dem Vorbild der Konservatorien in Neapel und Venedig gegründet und von dem Komponisten FrançoisJoseph Gossec geleitet. Zwei Jahre später, 1786, wurde beschlossen, eine Schauspielschule anzuschließen, an der die Schauspieler Jean-Henry Gourgaud Dugazon, François-René Molé und Abraham Joseph Bénard, der Fleury genannt wurde, Unterricht gaben. Als am 20. Juni 1786 schließlich der Unterricht an der Ecole Royale dramatique begann, hatten sich fünf Studenten eingeschrieben, am Ende des Jahres waren es bereits 23 männliche und 25 weibliche Studierende, unter denen sich auch Talma befand. Vom 13. Juli 1786 bis zum 31. Mai 1788 besuchte er hier den Unterricht. Während das Conservatoire de musique weiterbestand, wurde der Betrieb der Ecole Royle dramatique nach der französischen Revolution eingestellt.1140 Die Ausbildung von Schauspielern griff auch Einsiedel in seinen Grundlinien auf. Als günstige Voraussetzung für einen angehenden Schauspieler nennt er hier einen »regelmäßigen Körperbau«1141, ein Sprachorgan, das gleichermaßen Kräftiges wie Inniges ausdrücken könne, sowie eine »Gesichtsbildung«1142, welche »die sprechenden Züge zu einem freyen leicht beweglichen Mienenspiele«1143 biete. Ferner bedürfe es eines verlässlichen Gedächtnisses und nicht zuletzt einer lebhaften »Fantasie«1144, eines leisen »Gefühl[s]«1145, das zusammen mit der treffenden »Urtheilskraft«1146 den »sichern Takt des Geschmacks«1147 bilde. Einsiedel ist aber auch der Ansicht, dass man selbst dann,
1139 Ebd. S. 71. 1140 Hemmings, Frederic William John (1993) : The Theatre Industry in Nineteenth Century France. Cambridge : Cambridge University Press. S. 172–182. 1141 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 81. – Goethe schickte Genast nach Nürnberg, um den Schauspieler Ferdinand Eßlair für die Weimarer Bühne zu gewinnen. Genast schreibt Goethe, dass Eßlair ein hervorragender Schauspieler sei. Allerdings, räumte Genast ein, sei er sechs Fuß groß. Goethe antwortete ihm darauf : »Sehen Sie sich anders um ; ich kann keinen Liebhaber brauchen, dessen Geliebte ihm nur bis an den Nabel reicht« (Genast 1862 : 96). 1142 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 81. 1143 Ebd. 1144 Ebd. 1145 Ebd. 1146 Ebd. 1147 Ebd.
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wenn man nicht über diese Talente verfüge, durch »eine sorgsame Ausbildung«1148 körperlicher und geistiger Anlagen Schauspieler werden könne. »Die wollen wir bald durch Fleiß, Übung und Nachdenken zu starken Seiten ma chen«1149, erklärt der Theaterdirektor Serlo in Goethes Wilhelm Meister, als dieser ihn nach den mittelmäßigen Talenten der Truppe fragte. Es ist unter euch allen, die ihr denn doch nur Naturalisten und Pfuscher seid, keiner, der nicht mehr oder weniger Hoffnung von sich gäbe ; denn so viel ich alle beurteilen kann, so ist kein einziger Stock darunter, und Stöcke allein sind die Unverbesserlichen, sie mögen nun aus Eigendünkel, Dummheit oder Hypochondrie ungelenk und unbiegsam sein.1150
Der Stock, der hier für den Verstockten und Unbildsamen steht, deutet in umgekehrter Weise auf die Voraussetzungen hin, die Serlo und vermutlich auch Goethe von angehenden Schauspielern verlangen. Die Ausbildung der »körperlichen Anlagen«1151 der Schauspieler bestand für Einsiedel im Üben der »Tanzkunst«1152, da sie dem Körper »Geschmeidigkeit, Gewandtheit und Grazie«1153 verleihe. Ferner müsse sich der angehende Schauspieler in der »Pantomime«, der »Tanzkunst im höheren Sinne«1154, üben, »welche die Regungen des Gemüths durch Bewegungen, Geberden, Stellungen und fysiognomische Formen«1155 schildere. Und schließlich müsse er sich dem »Studium des Gesanges«1156 widmen. Hierdurch solle die Stimme nach dem ihr angemessenen Umfang und Vermögen »zu Höhe und Tiefe, zu Stärke und Schwäche«1157 ausgebildet und deren unterschiedlicher Gebrauch erprobt werden. Zur »Ausbildung der geistigen Anlagen«1158 gehören laut Einsiedel erstens vorbereitende Kenntnisse in der Grammatik der »Muttersprache«1159, um sie ohne Dialekt sprechen zu können. Zweitens erachtet er eine »Belesenheit in der Geschichte und Mythologie«1160 für hilfreich, da dem Schauspieler dann seine zu spielenden Rollen verständlicher werden. Drittens seien auch psychologische Studien der »Fysiognomik«1161 wichtig, um dem Aus1148 Ebd. S. 82. 1149 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 640. 1150 Ebd. 1151 [Einsiedel, Friedrich Hildebrand] (1797) : Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. S. 82. 1152 Ebd. 1153 Ebd. S. 82 f. 1154 Ebd. S. 83. 1155 Ebd. 1156 Ebd. 1157 Ebd. 1158 Ebd. 1159 Ebd. 1160 Ebd. S. 84. 1161 Ebd.
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druck der Leidenschaften eine angemessene »Gradazion«1162 zu verleihen. Und schließlich ist Einsiedel der Ansicht, dass ein angehender Schauspieler viertens die Werke der bildenden Kunst – oder Abbildungen von ihnen – studieren müsse, weil die Schauspielkunst mit der bildenden Kunst »verwandet«1163 sei und weil sie ihm »zur schicklichen wohlgefälligen Anordnung theatralischer Gruppen«1164 leiten könne. Dieses Studium könne ergänzt werden durch die aufmerksame Betrachtung von Kupferstichen, die Schauspieler in bedeutenden Szenen zeigen. Auch Goethe war der Ansicht, dass ein Schauspieler zusätzlich bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre gehen müsse. So ist ihm, um einen griechischen Helden darzustellen, durchaus nötig, daß er die auf uns gekommenen Bildwerke wohl studiert und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe. Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht getan. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht bloß zum Verständnis seiner Rolle zu Gute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Haltung einen höheren Anstrich geben wird.1165
Seitdem Goethe das Weimarer Hoftheater leitete, war er damit beschäftigt, mit den Schauspielern einen einheitlichen, nicht-realistischen, malerischen Darstellungsstil zu erarbeiten. Den Anlass, dass Goethe diese Arbeit als »Theaterpädagogik«1166 bezeichnete und explizit von seiner »Theaterschule«1167 sprach, gab der Sohn der Schauspielerin Friederike Unzelmann. Im September des Jahres 1801 gab sie ein Gastspiel in Weimar und bat wenig später darum, ihren Sohn bei Goethe am Weimarer Hoftheater in die Lehre geben zu dürfen. »Aus Achtung für Mad. Unzelmann, aus Neigung zu derselben, als einer allerliebsten Künstlerin«, notiert Goethe,
1162 Ebd. 1163 Ebd. 1164 Ebd. 1165 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 594. 1166 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Friederike Unzelmann [Mo., 14.03.1803]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. Karl Eibl. II. Abt.: Briefe Tagebücher und Gespräche, Bd. 5 : Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805, Teil II : Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. 1167 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Zelter [Mo., 10.10.1803]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. Karl Eibl. II. Abt.: Briefe Tagebücher und Gespräche, Bd. 5 : Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805, Teil II : Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. S. 398 f.
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nahm ich ihren zwölfjährigen Sohn auf gut Glück nach Weimar. Zufällig prüft’ ich ihn auf eine ganz eigene Weise. Er mochte sich eingerichtet haben mir mancherley vorzutragen ; allein ich gab ihm ein zur Hand liegendes orientalisches Mährchenbuch, woraus er auf der Stelle ein heiteres Geschichtchen las, mit so viel natürlichem Humor, Charakteristik im Ausdruck beym Personen- und Situationswechsel, daß ich nun weiter keinen Zweifel hegte.1168
An Karls Mutter schrieb Goethe am 10. November 1802, dass ihr Sohn glücklich in Weimar angekommen sei. An Professor Johann Friedrich Kästner, bei dem Goethe den Jungen einquartierte, ließ er monatlich 24 Reichstaler auszahlen. Kästner war Lehrer am Herzoglichen Gymnasium und erteilte ferner an der freien Zeichenschule Unterricht in Malerei, Kupferstecher- und Bildhauerkunst sowie »in den Antiquitäten«1169. Von den 24 Reichstalern, die Kästner erhielt, »gehen ab 19 rthlr 8 gr für Kost, Logis pp und die überbleibenden 4 rthlr 16 gr sind zu Musik- und andern Stunden bestimmt.«1170 Einige Monate später, am 14. März 1803, beruhigte Goethe Karls Mutter, der offensichtlich Nachrichten über die »Unvorsichtigkeit«1171 ihres Sohnes zu Ohren gekommen waren. »Solche Kinder, in fremde Verhältnisse versetzt«, schreibt Goethe nach Berlin, »kommen mir vor wie Vögel, die man in einem Zimmer fliegen läßt ; sie fahren gegen alle Scheiben, und es ist schon Glück genug, wenn sie sich nicht die Köpfe einstoßen, ehe sie begreifen lernen, daß nicht alles Durchsichtige durchdringlich ist.«1172 Dann fährt er fort und erklärt ihr, dass er das Pädagogische überhaupt und besonders die Theaterpädagogik gut genug [kenne], um zu wissen, daß eigentlich hauptsächlich Alles darauf ankommt, daß der Mensch einsehen 1168 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. S. 98. 1169 [Anonym] (1812) : Herzoglich S. Weimar- und Eisenachischer Hof- und Adreß-Calender, auf das Schalt-Jahr 1812. Jena : J. C. G. Göpferdt. S. 197. 1170 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Friederike Unzelmann [Mi., 10.11.1802]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. Karl Eibl. II. Abt.: Briefe Tagebücher und Gespräche, Bd. 5 : Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805, Teil II : Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. S. 299. – Am 28. Juli 1803 erkundigt sich Karls Mutter noch einmal, an wen sie das Geld schicken solle : »Ich bin nun wegen meines Sohnes so tief in Ihrer Schuld das ich Sie recht herzlich bitten muß mir doch ja bald zu schreiben an wen ich denn Endlich hier das Geld bezahlen soll oder ob ich es Ihnen oder dem Herrn Professor Kästner zuschicken soll. Ich habe von meinem Sohn erfahren das er durch Ihre Güthe 6 rh. Gage wöchentlich erhalten hatt, nun möchte ich aber auch von Ihnen erfahren, ob er sich Ihrer Güthe auch würdig macht, und ob ich hoffen kann das Sie sich ferner seiner annehmen werden, wenn ich hierüber von Ihnen erfreuliche Nachricht erhalte so will ich mich überaus glücklich schätzen, und im Namen meines Sohnes der noch zu jung ist um sein Glück zu fühlen, Ihnen ewig dankbar sein« (Zit. nach Geiger, Ludwig (1905) : Schauspielerbriefe [Frau Unzelmann an Goethe. (28. Juli 1803)]. In : Goethe-Jahrbuch, Bd. 26. S. 51–92. S. 71 f.). 1171 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Friederike Unzelmann [Mo. 14. 03. 1803]. S. 333. 1172 Ebd.
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lerne, was ihm fehlt, wodurch er alsdann gewissermaßen schon erlangt, weil zu der Einsicht des Rechten und Nützlichen sich das Wollen sehr geschwind gesellt. […] [W]ie oben gesagt, die Hauptsache [ist], daß nach und nach die Aufmerksamkeit eines Jeden auf sich selbst erregt werde, eine Operation, die in der Masse viel leichter ist als im Einzelnen. […] Wenn Ihr Karl erst einmal unseren ganzen Theaterkurs durchlaufen hat, […] einsehen lernt, daß man, um dauernden Beifall zu gewinnen, etwas über sich selbst vermögen muß, so wird vielleicht geschwind entstehen, was wir uns wünschen1173.
An Carl Friedrich Zelter schrieb Goethe am 10. Oktober 1803 : »Meine Theaterschule, wozu Unzelmann mir den ersten Anlaß gab, ist schon auf zwölf Personen angewachsen.«1174 Denn im gleichen Jahr waren auch Pius Alexander Wolff und Karl Franz d’Akácz, der sich Karl Franz Grüner nannte, nach Weimar gekommen, um sich zu Schauspielern ausbilden zu lassen. In einem späteren Brief an Zelter aus dem Jahr 1816 erinnert sich Goethe, wie Grüner und Wolff nach Weimar kamen : »1803, im August kamen zwey junge Leute, Grüner und Wolff hierher, die Gesellschaft war in Lauchstädt, ich hatte Zeit und Humor, und wollte einen Versuch machen, diese beyden, eh jene zurückkamen auf einen gewissen Punct zu bringen.«1175 An anderer Stelle schreibt er : Es meldeten sich, mit entschiedener Neigung für die Bühne, zwei junge Männer, die sich Wolff und Grüner nannten, von Augsburg kommend, jener bisher zum Handelsstande, dieser zum Militair zu rechnen. Nach einiger Prüfung fand ich bald, daß beide dem Theater zur besondern Zierde gereichen würden und daß, bei unserer schon wohlbestellten Bühne, ein paar frische Subjekte von diesem Wert sich schnell heranbilden würden.1176
Bei der Auswahl und Prüfung von Neuzugängen zum Ensemble verfuhr Goethe unterschiedlich. Schauspieler, denen ein Ruf voraus ging, ließ er vorspielen, um zu sehen, ob ihre Spielweise zum Rest des Ensembles passe. »War es aber ein junger Mensch, der zuvor noch keine Bühne betreten«, wie es bei Grüner und Wolff der Fall gewesen war, so sah ich zunächst auf seine Persönlichkeit, ob ihm etwas für sich Einnehmendes, Anziehendes, innewohne, und vor allen Dingen, ob er sich in der Gewalt habe. Denn ein Schauspieler, der keine Selbstbeherrschung besitzt und sich einem Fremden gegenüber nicht so zeigen kann, wie er es für sich am günstigsten hält, hat überhaupt wenig Talent. Sein ganzes 1173 Ebd. S. 333 f. 1174 Goethe, Johann Wolfgang (1999) : Goethe an Zelter [Mo., 10.10.1803]. S. 399. 1175 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Goethe an Zelter [Fr., 3.5.1816]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. Karl Eibl. II. Abt.: Briefe Tagebücher und Gespräche, Bd. 7 : Goethes Napoleonische Zeit. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis zum 6. Juni 1816, Teil II : Von 1812 bis zu Christianes Tod. Hrsg. von Rose Unterberger. Frankfurt : Deutscher Klassiker Verlag. S. 587–590. S. 587. 1176 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. S. 112.
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Metier verlangt ja ein fortwährendes Verleugnen seiner selbst und ein fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden Maske !1177
Anschließend prüfte Goethe Kraft und Umfang des stimmlichen Ausdrucks des Bewerbers, indem er ihm verschiedene Texte zum Vorlesen vorlegte. Goethe ließ ihn erst »etwas Erhabenes«1178, dann »etwas Leidenschaftliches, Wildes«1179 lesen, gab ihm Texte, »worin der Schmerz eines verwundeten Herzens, das Leiden einer großen Seele«1180 ausgedrückt wurde, und ging schließlich zu »etwas klar Verständigem, Geistreichen, Ironischen, Witzigen«1181 über. »Genügte er mir nun in allen diesen mannigfaltigen Richtungen, so hatte ich gegründete Hoffnung, aus ihm einen sehr bedeutenden Schauspieler zu machen.«1182 Goethe drang seine Schüler dann, sich gegebenenfalls ihres Dialektes zu entledigen und empfahl ihnen hierfür, den Umgang mit den Mitgliedern der Bühne zu pflegen, die von solchen »Provinzialismen«1183 frei waren. Ferner ließ er sie einige Zeit beim »Tanz- und Fechtmeister«1184 ausbilden. Pius Alexander Wolf, der die Schreibweise seines Nachnamens in Weimar zu Wolff änderte, stammte aus einer Augsburger Patrizierfamilie und wurde zunächst von einem Privatlehrer unterrichtet, besuchte dann das Jesuiten-Kolleg Sankt Salvator in seiner Heimatstadt. Seine Eltern hatten ihn zunächst für eine geistliche, dann für eine kaufmännische Laufbahn vorgesehen.1185 Genast, den Goethe ersuchte, »sich dieses jungen Mannes thätig anzunehmen«, beschreibt ihn »als einen wissenschaftlich gebildeten, liebenswürdigen Menschen, der für unsere Kunst glühte«1186. Über Wolff sagte Goethe später, dass er sein erfolgreichster Schüler gewesen sei. Viele Schauspieler hätten von ihm gelernt, »aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur Wolff meinen Schüler nennen.«1187 Wolff und Grüner gelang die Aufnahmeprüfung und Goethe beschloss, sie in das Ensemble aufzunehmen und auszubilden. Weil er gerade »Zeit« hatte, begann ich mit ihnen gründliche Didaskalien, indem ich auch mir die Kunst aus ihren einfachsten Elementen entwickelte und an den Fortschritten beider Lehrlinge mich nach und nach emporstudierte, so daß ich selbst klärer über ein Geschäft ward, dem ich mich bisher
1177 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 555. 1178 Ebd. 1179 Ebd. 1180 Ebd. 1181 Ebd. 1182 Ebd. 1183 Ebd. S. 555 f. 1184 Ebd. S. 556. 1185 Vgl. Martersteig, Max (1879) : Pius Alexander Wolff. Ein biographischer Beitrag zur Theater- und Literaturgeschichte. Leipzig : L. Fernau. S. 9–27. 1186 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 145. 1187 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 289 f.
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instinktmäßig hingegeben hatte. Die Grammatik, die ich mir ausbildete, verfolgte ich nachher mit mehreren jungen Schauspielern, einiges davon ist schriftlich übrig geblieben.1188
Diese gründlichen Didaskalien hielt Wolff in »Unterrichtsprotokoll[en]«1189 fest : »Ich dictirte die ersten Elemente«, erinnert sich Goethe in einem Brief an Zelter, »auf welche noch Niemand hingedrungen ist.« Wolff und Grüner »ergriffen sie sorgfältig und Wolff ist davon nie gewankt noch gewichen, deswegen er auch zeitlebens die schönste Sicherheit behalten wird.«1190 Goethe übergab außerdem am 2. Mai 1824 seine eigenen Notizen an Peter Eckermann, der sich entschloss, diese theaterästhetischen und -pädagogischen Maximen zu einem »Theater-Katechismus«1191 zusammenzufassen : Goethe hatte mir heute früh ein Konvolut Papiere in Bezug auf das Theater zugesendet ; besonders fand ich darin zerstreute einzelne Bemerkungen, die Regeln und Studien enthaltend, die er mit Wolff und Grüner durchgemacht, um sie zu tüchtigen Schauspielern zu bilden. Ich fand diese Einzelheiten von Bedeutung und für junge Schauspieler in hohem Grade lehrreich, weshalb ich mir vornahm, sie zusammen zu stellen und daraus eine Art von Theater-Katechismus zu bilden.1192
Dieser Theater-Katechismus, der mit Regeln für Schauspieler überschrieben und auf das Jahr 1803 datiert wurde, war verbindlich für alle »Mitglieder der Weimarischen Dramatischen Akademie« 1193. Er stellte anders als Engels Ideen zu einer Mimik oder Einsiedels Grundlinien keine systematische Arbeit über die Schauspielkunst dar, sondern umfasste vielmehr »technische Grundregeln«1194. Teilweise wurden sie sogar schon im fünften Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren vorweggenommen – von dem Schiller glaubte, Goethe habe es »für den Schauspieler«1195 geschrieben.
1188 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. S. 112. 1189 Busch-Salmen, Gabriele (2008) : Theaterpraxis in Weimar. In : Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 1 : Musik und Tanz in den Bühnenwerken. Hrsg. von Gabriele Busch-Salmen. Stuttgart : Metzler. S. 1–53. S. 45. Vgl. hierzu auch Böhme, Hans-Grog (1950) : Die Weilburger Goethe-Funde. Neues aus Theater und Schauspielkunst. Blätter aus dem Nachlaß Pius Alexander Wolffs. Emsdetten : Lechte. 1190 Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Goethe an Zelter [Fr., 3.5.1816]. S. 587. 1191 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 116. 1192 Ebd. 1193 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 857. – Birgit Wiens weist darauf hin, dass zwar Wolffs Mitschriften sowie Eckermanns Zusammenfassung der Regeln für Schauspieler erhalten geblieben sind, von Corona Schröter, die mit der Ausbildung der weiblichen Ensemblemitglieder betraut war, aber keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen (Wiens 2000 : 146 f.). 1194 Wiens, Birgit (2000) : ›Grammatik‹ der Schauspielkunst. S. 147. 1195 [Goethe, Johann Wolfgang] (1990) : Schiller [an Goethe. Jena, den 15. Jun. 95]. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl
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So heißt es im Wilhelm Meister, dass es wichtig sei, »daß man bei der Probe Stellung und Aktion, wie man sie bei der Aufführung zu zeigen gedenke, immerfort mit der Rede verbinden und alles zusammen durch Gewohnheit mechanisch vereinigen müsse.«1196 Eine solche verbindliche Probenpraxis, bei der sich Bühnenabläufe wie beim Üben eines Musikinstruments einschleifen sollen, war unter professionellen Schauspielern eher unüblich. »Dilettanten wissen sich nichts anziehenders als die Komödienprobe, Schauspieler von Metier hassen sie.«1197 Umso auffälliger ist es, dass Goethe diese Praxis in Wilhelm Meisters Lehrjahren anmahnen lässt und sie später als Vorsteher der Weimarer Bühne zur Verbindlichkeit erklärt : In den »Proben sollte man sich nichts erlauben, was nicht im Stück vorkommen darf«1198, und alle Vorschriften sollten so verinnerlicht werden, »daß sie zur Gewohnheit werden ; das Steife muß verschwinden und die Regel nur die geheime Grundlinie des lebendigen Handelns werden.«1199 Zu diesen Vorschriften gehörten auch die Verbote, in Stiefeln zu probieren oder die Hände während der Probe in Mänteln oder Rockfalten zu verstecken. Der jüngere Schauspieler, rät Goethe, »halte sich auf dem Theater ein Paar Pantoffeln, in denen er probiert ; er wird sehr bald die guten Folgen davon bemerken«1200. Neben solchen Marginalien zur Probenpraxis enthalten die Dokumente von Eckermann und Wolff vor allem Hinweise, Anweisungen und Übungen zur richtigen Aussprache, zur Rezitation und Deklamation sowie zum rhythmischen Vortrag auf der Bühne. Sie umfassen Anmerkungen zur Stellung und Bewegung des Körpers sowie zum Verhalten auf und jenseits der Bühne. Da die Mitglieder des Weimarer Theaters aus »allen Enden Deutschlands«1201 zusammentraten, wie es in Goethes Prolog zu Ifflands Die Jäger heißt, bestand unter ihnen nicht nur eine Ungleichheit im Bühnenspiel, sondern auch in den dialektalen Färbungen ihrer Aussprache. »Ich habe in meiner langen Praxis«, sagte der gebürtige Frankfurter diesbezüglich zu Eckermann, Anfänger aus allen Gegenden Deutschlands kennen gelernt. Die Aussprache der Norddeutschen ließ im Ganzen wenig zu wünschen übrig. Sie ist rein und kann in mancher Hinsicht als musterhaft gelten. Dagegen habe ich mit geborenen Schwaben, Östreichern und Sachsen of[t] meine Not gehabt. Auch Eingeborene unserer lieben Stadt Weimar haben mir viel zu schaffen gemacht. Bei diesen entstehen die lächerlichsten Mißgriffe daraus, daß sie in den hiesigen Schulen nicht angehalten werden, das B. vom P. und das D. vom T. durch eine
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Richter, Bd. 8,1 : Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805. Text. Hrsg. von Manfred Beetz. München : Carl Hanser. S. 85–87. S. 86. Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 679 f. Goethe, Johann Wolfgang & Schiller, Friedrich (1998) : Über der Dilettantismus. S. 774. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 857. Ebd. S. 860. Ebd. S. 857. Goethe, Johann Wolfgang (1993) : Prolog. Gesprochen den 7. Mai 1791. S. 875.
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markierte Aussprache stark zu unterscheiden. […] Aus einem solchen Munde klingt denn Pein wie Bein, Paß wie Baß und Teckel wie Deckel.1202
Das Notwendigste sei daher »für den sich bildenden Schauspieler, daß er sich von allen Fehlern des Dialekts befreie und eine vollständige reine Aussprache zu erlangen suche.«1203 Schiller war in dieser sprecherzieherischen Hinsicht keine große Hilfe. Er »recitirte und spielte zuweilen in den Proben den Schauspielern einzelne Stellen vor. Sein Vortrag wäre sehr schön gewesen«, schreibt Genast, wenn nicht sein schwäbischer Dialekt die Wirkung hier und da etwas geschwächt hätte […]. Er war in der Karlsschule erzogen, wo bei den damaligen dramatischen Uebungen der Schüler die Unnatur der französischen Tragödien als Norm galt, und diese trat zuweilen bei seiner Rhetorik, wenn auch nicht störend, hervor. Besonders liebte er den Schluß einer Rede mit gewaltigem Pathos ins Publikum zu schleudern, und das an und für sich schon Grelle wünschte er öfters noch greller hervorgehoben.1204
Ein großes Hindernis für die Schauspieler war die Deklamation von Versen. Zu Übungszwecken ließ Goethe daher Voltaires Mahomet aufführen : Den 30. Januar [1800] ward Mahomet aufgeführt zu großem Vortheil für die Bildung unserer Schauspieler. Sie mußten sich aus ihrem Naturalisiren in eine gewisse Beschränktheit zurückziehen, deren Manierirtes aber sich gar leicht in ein Natürliches verwandeln ließ. Wir gewannen eine Vorübung in jedem Sinne zu den schwierigeren reicheren Stücken, welche bald darauf erscheinen.1205
Genast berichtet, dass insbesondere die älteren Schauspieler, die eine natürliche Schauspielkunst gewöhnt waren, Probleme bei der Rezitation von Schillers jambischen Versen hatten. Sie dehnten die langen Silben so, »daß man glaubte, eine Sägemühle zu hören, und trotz einer Menge Leseproben, welche Goethe hielt, hoben sie immer noch den Vers mit schwerfälliger Absichtlichkeit hervor.«1206 Einen ersten Eindruck von diesen Leseproben, die Genast erwähnt und die zu den wichtigsten Ausbildungskontexten am Weimarer Theater zählten, vermittelt eine Passage im Wilhelm Meister. Hier schildert der Erzähler, wie sich der Theaterdirektor Serlo um die Ausbildung seiner Theatertruppe bemühte :
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Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 534. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 861. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 112 f. Goethe, Johann Wolfgang (1994) : Tag- und Jahres-Hefte. S. 68. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 89.
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So oft sich Schauspieler bei ihm gesellig versammelten, hatte er die Gewohnheit lesen zu lassen, und manchmal selbst mitzulesen. Er nahm Stücke vor, die noch gegeben werden sollten, die lange nicht gegeben waren, und zwar meistens nur teilweise. So ließ er auch, nach einer ersten Aufführung, Stellen, bei denen er etwas zu erinnern hatte, wiederholen, vermehrte dadurch die Einsicht der Schauspieler, und verstärkte ihre Sicherheit, den rechten Punkt zu treffen. Und wie ein geringer aber richtiger Verstand mehr als ein verworrnes und ungeläutertes Genie zur Zufriedenheit anderer wirken kann ; so erhub er mittelmäßige Talente, durch die deutliche Einsicht, die er ihnen unmerklich verschaffte, zu einer bewunderungswürdigen Fähigkeit. Nicht weniger trug dazu bei, daß er auch Gedichte lesen ließ, und in ihnen das Gefühl jenes Reizes erhielt, den ein wohlvorgetragner Rhythmus in unsrer Seele erregt, anstatt daß man bei andern Gesellschaften schon anfing, nur diejenige Prosa vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel gewachsen war.1207
In seinen Gesprächen mit Eckermann stellte Goethe seine eigene theaterpädagogische Arbeit in einer ganz ähnlichen Weise dar : Durch die guten Stücke aber hob ich die Schauspieler. Denn das Studium des Vortrefflichen und die fortwährende Ausübung des Vortrefflichen mußte notwendig aus einem Menschen, den die Natur nicht im Stich gelassen, etwas machen. Auch war ich mit den Schauspielern in beständiger persönlicher Berührung. Ich leitete die Leseproben und machte Jedem seine Rolle deutlich ; ich war bei den Hauptproben gegenwärtig und besprach mit ihnen, wie etwas besser zu tun ; ich fehlte nicht bei den Vorstellungen und bemerkte am andern Tag Alles, was mir nicht recht erschien. Dadurch brachte ich sie in ihrer Kunst weiter.1208
Bei den Leseproben zu Goethes Bearbeitung von Shakespeares Henry IV., berichtet Genast, traf der Schauspieler Karl Friedrich Krüger, der den Falstaff spielen sollte, nicht den richtigen Ton, sodass »Goethe selbst einige Scenen mit so sprudelndem Humor und so überaus treffender Charakteristik vor[las], daß wir alle vor Lachen kaum zu lesen im Stande waren. Krüger«, schreibt Genast weiter, »folgte Goethe’s Anleitung in Ton und Geberde, ohne ihn sklavisch nachzuahmen, und wurde ein trefflicher Falstaff.«1209 Noch anschaulicher ist die Schilderung, die Eduard Genast von den Leseproben zu Johann Diederich Gries’ Bearbeitung von Calderons Trauerspiel Zenobia gibt, das am 30. Januar 1815 in Weimar aufgeführt werden sollte. Da Eduard Genast, Anton Genasts Sohn, eine kleine Rolle im Stück zugewiesen wurde, durfte er an den Leseproben teilnehmen. Bei großen Werken, schreibt er, fanden diese Proben stets bei Goethe zuhause statt. In der Mitte seines Empfangszimmers stand ein langer, grünbehangener Tisch, an dessen Kopf Goethe Platz nahm. Ihm gegenüber, am Ende der Tafel, saß der Regisseur. Rechts 1207 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 638 f. 1208 Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 545. 1209 Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 91 f.
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neben Goethe saß die Schauspielerin Amalie Wolff-Malcomi, die Ehefrau von Pius Alexander Wolff, links von ihm Karl Ludwig Oels, die Übrigen nahmen dahinter Platz. Auf dem Tisch lagen vier Exemplare des Trauerspiels, wovon eines Goethe, ein zweites Anton Genast und die beiden andern Wolff und Oels nahmen. Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn und Oels fing an zu lesen ; auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar ; ein gleiches tat dann die Wolff. So gingen die Bücher von Hand zu Hand. […] Bei der zweiten Leseprobe wurden die Rollen collationirt und bei der dritten im Charakter gelesen. Es wurde den Schauspielern Zeit genug zum Memoriren ihrer Rollen gewährt ; darum verlangte aber auch Goethe, daß jeder bei der ersten Theaterprobe seiner Aufgabe mächtig sei ; er konnte sehr heftig werden, wenn einer sich eine Nachlässigkeit darin zu Schulden kommen ließ.1210
Bei den Theaterproben kümmerte sich Goethe auch um das »Gehen und Stehen der Schauspieler«1211 auf der Bühne. Als störend empfand er es zum Beispiel, wenn mehrere Personen auf der Bühne dicht beieinanderstanden und dadurch »leere Räume im Bild«1212 entstanden. Dann bestimmte er genau die Stellungen der Schauspieler und gab durch Schritte die Entfernung der Personen zueinander an, um ein »plastisches Bild«1213 auf der Bühne entstehen zu lassen. In der Ausgabe vom April 1815 des Journals für Literatur, Kunst, Luxus und Mode feierte Friedrich Wilhelm Riemer den plastischen Schein des Schlusstableaus in der Aufführung von Goethes überarbeitetem Melodrama Proserpina : Ganz im Sinne […] des antiken Basreliefs gruppirt und frappant beleuchtet, erschienen Dämonen und Idole der Unterwelt, gedrängt um Pluto’s einsamen Thron, in stummer Huldigung ihrer neuen Königin gewärtig. […] Anmuthiger konnte das wesenlose Reich der Unterwelt uns wohl nicht vor Augen gebracht werden, als durch diesen plastischen Schein ; anmuthiger nicht der Uebergang des bewegten Lebens in die starre Ruhe jener Idole, als daß es in den Hintergrund zu ihnen zurücktritt, und idem es unter ihnen zu erstarren scheint, sie selbst noch einmal mit warmer Lebensgluth überathmet und zu einer magischen Erscheinung verbindet.1214 1210 Ebd. S. 229 f. 1211 Ebd. S. 87. 1212 Ebd. 1213 Ebd. – Der von Goethe angestrebte Tableaucharakter der Bühne, in dem der Schauspieler die Staffage bilde, sei formal vergleichbar, so die Kunsthistorikerin Birgit Joos, mit der Praxis der tableaux vivants, der sogenannten lebenden Bildern. Während aber in den tableaux vivants ein unbelebtes Kunstwerk, ein Gemälde oder eine Skulpturengruppe durch die körperliche Nachahmungspraxis ›belebt‹ werden sollte, wurde durch »mimoplastische« Gebärden auf der Bühne eine »Erstarrung« des Spiels herbeigeführt (Joos 1999 : 53 f ). 1214 [Riemer, Friedrich Wilhelm] (1815) : Theater. Aufführung des Trauerspiels Zenobia, nach Cal-
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In der Tragödie »sind die Schritte der spielenden Personen auf das genaueste abzumessen, und wo möglich von dem Theater-Meister mit dicker Kreide zu marquiren.«1215 So heißt es zumindest in den »Geheime[n] Statuten, oder Theater-Gesetze[n] und Regeln des löblichen Idealisten-Ordens«1216 aus den Händen eines Archivars namens »Persiflage«1217. Sie erschienen im Handbuch für Aesthetiker und junge Schauspieler, das unter dem Titel Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reife anonym veröffentlicht wurde. Der Autor dieses bissigen Pamphlets, das sich gegen die Weimarer Schule und »Göthens PflanzSchüler«1218 richtete, war Karl Wilhelm Reinhold, der eigentlich Zacharias Lehmann hieß und mit seiner Frau Caroline von 1806 bis 1807 am Weimarer Hoftheater als Schauspieler beschäftigt war und nach Streitigkeiten entlassen wurde. Reinhold, der sich als Verfechter einer natürlichen Schauspielkunst, als Anhänger der »Realisten«1219 ausgibt – und für diese Darstellungsweise ebenfalls Iffland zum Hauptvertreter erklärt –, kritisiert die »Marionetten-Manier«1220 der Weimarer Schule, »welche aus Menschen Maschinen bildet«1221. Und der Schauspieler Ferdinand Eßlair soll Eduard Genast 1816 gefragt haben, ob Goethe immer noch Schach mit seinen Schauspielern auf der Bühne spiele. Genast zögerte und Eßlair setzte nach : »Nun, ich meine, ob sie noch immer da stehen müssen, wo er sie hinstellt ? Mich sollte er nicht matt machen ! Als König würde ich mich vor seinen Bauern in Sicherheit zu bringen wissen !«1222 Obwohl Reinholds Vergleich der Weimarer Schule mit den Regeln und Vorschriften »der altfranzösischen Schule«1223 übertrieben ist, erinnert das nicht-realistische und sich an der bildenden Kunst der Antike orientierte Bühnenspiel der Weimarer Schule an Franz Langs Abhandlung über die Schauspielkunst. Der Jesuit hatte sein rohes »Fundament«1224 einer Schauspielkunst auf der Grundlage seiner eigenen theaterpraktischen Erfahrungen, der rhetorischen Grundlagenwerken seiner französischen Ordenskollegen Joseph de Jou-
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deron und des Melodrama Proserpina, neu motivirt von Göthe. In : Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 30. Jg. Heft 4 [April]. S. 221–232. S. 229 f. [Reinhold, Karl Wilhelm] (1808) : Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. Ein Handbuch für Aesthetiker und junge Schauspieler. Weimar und Leipzig : [ohne Verlag]. S. 20. – Vgl. Borchmeyer, Dieter (1992) : Saat von Göthe gesäet … Die ›Regeln für Schauspieler‹ – Ein theatergeschichtliches Gerücht. In : Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hrsg. von Wolfgang F. Bender. Stuttgart : Franz Steiner. S. 261–287. [Reinhold, Karl Wilhelm] (1808) : Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. S. 19. Ebd. S. 48. Ebd. S. XIII. Ebd. S. 18. Ebd. S. 57. Ebd. S. 58. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 268. [Reinhold, Karl Wilhelm] (1808) : Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. S. 49. Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 161. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 10. – Vgl. hierzu auch Teil I, Kap. 1. 1 Körpertechniken und Selbsttechniken – Franz Lang und die »schickliche Biegsamkeit« des Körpers.
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vancy und Nicolas Caussin sowie im Anschluss an die Darstellungstraditionen der bildenden Künste und der Malerei verfasst. Obgleich Goethe die Praxis des Jesuitentheaters in seinem mit Schiller verfassten Schema über den Dilettantismus abwertet,1225 lobt er sie zu Beginn seines Italienreiseberichts. Über die Aufführungen der Regensburger Jesuiten schreibt er, dass sie »nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe« spielten und »recht schön, fast zu prächtig gekleidet« waren. Auch diese öffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue überzeugt. Sie verschmähten nichts was irgend wirken konnte, und wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln. […] Wie diese große geistliche Gesellschaft, Orgelbauer, Bildschnitzer und Vergulder unter sich hat, so sind gewiß auch einige die sich des Theaters mit Kenntnis und Neigung annehmen, so bemächtigen sich die einsichtigsten Männer hier der weltlichen Sinnlichkeit durch ein anständiges Theater.1226
Obzwar Goethe den Text von Lang höchstwahrscheinlich nicht kannte,1227 sind die Ähnlichkeiten zwischen Langs und Goethes Regeln für Schauspieler dennoch frappierend. Lang wies die Schauspieler an, auf der Bühne im Kontrapost stehend stets einen Teil des Gesichts dem Publikum zugewandt zu haben : Wenn die Schauspieler nämlich so miteinander reden, als sei kein Zuhörer da, und ihre Gesichter und Worte völlig gegeneinander richten, dann wird die Hälfte der Zuschauer des Anblicks jenes Schauspielers beraubt, […] was der Schicklichkeit und dem natürlichen Anstand, vor allem aber der Achtung vor den Zuhörern selbst, widerspricht.1228
Das Gesicht und die Augen sollen den Zuschauern zugewandt sein, fordert Lang, denn »ihretwegen erfolgt nämlich die ganze Aufführung«1229. In den Paragraphen 37, 38 und 1225 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang & Schiller, Friedrich (1998) : Über der Dilettantismus. S. 775. 1226 Goethe, Wolfgang (1993) : Italienische Reise. Teil 1. In : Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a., I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 15,1 : Italienische Reise, Teil 1. Hrsg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 13. 1227 Langs Abhandlung über die Schauspielkunst ist nicht in Goethes Bibliothekskatalog verzeichnet. Gleichwohl besaß er ein Exemplar von François Hédelin d’Aubignacs La Pratique du théatre (Ruppert 1958 : 373). 1228 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 193. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 44 : »Si enim Actores ita inter se loquantur, quasi nemo adsit, qui auscultet, atque adeò ad se invicem vultus convertant & verba, tunc dimidia pars spectantium privatur Actoris aspectu quem vel à latere solùm, vel penitùs à tergo conspiciunt, quod decoro repugnat, & naturali decentiae, ac imprimis ipsorum Auditorum dignitati.« 1229 Lang, Franz (1975) : Abhandlung über die Schauspielkunst. S. 190. Vgl. auch Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica. S. 40 : »Vultus, & in eo oculi obvertuntur ad Spectatores ; propter hos enim tota fit exhibitio«.
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39 der Regeln für Schauspieler, in denen Goethe die Grundsätze zur Stellung und Bewegung des Körpers auf der Bühne zusammenfasst, heißt es, dass immer drei Viertel des Gesichtes gegen die Zuschauer gerichtet sein müssen, man nie im Profil spielen solle und der Schauspieler sich stets bewusst sein müsse, dass er »um des Publikums willen da ist«1230. Dieses permanente Bewusstsein um die eigene Sichtbarkeit des Schauspielers für ein Publikum habe, so Goethe, nicht nur für die Bühne zu gelten. »Der Schauspieler soll auch im gemeinen Leben bedenken«, heißt es in den Regeln, »daß er öffentlich zur Kunstschau stehen werde.«1231 Schon Wilhelm Meister dachte, dass auch »das häusliche Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater die äußerste Spitze sei.«1232 Goethe fordert den Schauspieler auf, er solle sich bemühen, »seinem Körper, seinem Betragen, ja allen seinen übrigen Handlungen im gewöhnlichen Leben eine solche Wendung zu geben, daß er dadurch gleichsam wie in einer beständigen Übung erhalten werde.«1233 Hinter diesem »Panoptismus«1234, wie Foucault sagen würde, verbirgt sich Goethes Bestreben, die Schauspieler zu Künstlern auszubilden und ihr gesellschaftliches Ansehen zu verbessern. Die Regeln und Disziplinarmaßnahmen, die auf und jenseits der Bühne Geltung beanspruchen, die die körperliche, sprachliche und gesellschaftliche Bildung betreffen, zielen darauf, dass der Schauspieler sich »als einen Gebildeten«1235 zeige. Goethe bemühte sich, diesen Ausweis öffentlich zu bekräftigen : Aber ich suchte auch den ganzen Stand in der äußern Achtung zu heben, indem ich die Besten und Hoffnungsvollsten in meine Kreise zog und dadurch der Welt zeigte, daß sie eines geselligen Verkehrs mit mir wert achtete. Hierdurch geschah aber, daß auch die übrige höhere weimarische Gesellschaft hinter mir nicht zurückblieb und daß Schauspieler und Schauspielerinnen in die besten Zirkel bald einen ehrenvollen Zutritt gewannen. Durch Alles mußte für sie eine große innere wie äußere Kultur hervorgehen.1236
Bei der Gestaltung der Theaterzettel bestand Goethe darauf, die Anredeformen vor den Namen der Schauspieler wegzulassen. Der »Name des Künstlers sei genügend ; Herren und Madames gäb es sehr viele in der Welt, aber Künstler sehr wenig.«1237
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Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 871. Ebd. S. 879. Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 411. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 880. Foucault, Michel (1994) : Überwachen und Strafen. S. 251. Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Regeln für Schauspieler. S. 872. Eckermann, Johann Peter (1999) : Gespräche mit Goethe. S. 545. Genast, Eduard (1862) : Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, Bd. 1. S. 104.
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2.6 Theaterschulen in Regensburg, Karlsruhe, Stuttgart und Braunschweig im frühen 19. Jahrhundert 2.6.1 »Der ungebildete, ungelehrte Schauspieler ist ein Charlatan«1238 – Joseph Koller, Friedrich August Burgmüller und die Theaterschule zu Regensburg (1805–1809)
»Wie lange werden wir noch eine Schule für Schauspieler vermissen ?«1239, fragt sich Joseph Koller in seinen Aphorismen für Schauspieler. Es sei nicht genug, schreibt er, dass die Schauspielkunst durch bloße Uebung mechanisch erlernt werde, oder vielmehr, es ist schlechterdings unmöglich, es dadurch allein zur vollendeten Kunst zu bringen. Sie muss, wie andere Künste und Wissenschaften durch Grundlegungen und Grundsätze dem Lehrling zugleich theoretisch beygebracht werden.1240
Diejenigen, die sich als Schauspieler bezeichnen wollen, müssen sich, so Koller, »um die Mittel bekümmern, wodurch sie ihre Bemühungen erleichtern, und ihre Kunst zur Vollkommenheit bringen können«1241. Koller studierte in Freiburg im Breisgau Philosophie, Geschichte und klassische Philologie und wurde Hofmeister bei den Söhnen des Kammergerichtsassessors Egid Joseph Carl von Fahnenberg in Wetzlar. Als Fahnenberg im Jahr 1795 zum österreichischen Gesandten am Immerwährenden Reichstag berufen wurde, folgte Koller ihm nach Regensburg.1242 In dieser Zeit veröffentlichte Koller Theaterstücke wie Obrist von Steinau1243, Konvenienz und Pflicht1244 und Der Kammerhusar1245 sowie einen Entwurf zur Geschichte und Literatur der Aesthetik1246. Zusätzlich zu seinen Aphorismen für Schauspieler, die 1920
1238 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. In : Taschenbuch für Schauspieler und Schauspielfreunde auf das Jahr 1817, 2. Jg. S. 81–98. S. 86. 1239 Koller, J[oseph] (1804) : Aphorismen für Schauspieler und Freunde der dramatischen Kunst. Regensburg : Montag und Weiss. S. 84. 1240 Ebd. S. 80. 1241 Ebd. S. 77 f. 1242 Vgl. Pigge, Helmut (1998) : Theater in Regensburg. Vom fürstlichen Hoftheater zu den Städtischen Bühnen. Regensburg : Mittelbayerische Druck- und Verlagsgesellschaft. S. 50. 1243 Vgl. [Koller, Joseph] (1795) : Obrist von Steinau. Ein häusliches Lustspiel in drei Aufzügen. Basel : Johann Jakob Flick. 1244 Vgl. Koller, J[oseph] (1796) : Konvenienz und Pflicht. Ein dramatisches Gemälde. Regensburg : Montag- und Weißischen Buchhandlung. 1245 Vgl. [Koller, Joseph] (1797) : Der Kammerhusar, ein Schauspiel in einem Aufzuge. Regensburg : Montag- und Weißischen Buchhandlung. 1246 Vgl. Koller, J[oseph] (1799) : Entwurf zur Geschichte und Literatur der Aesthetik, von Baumgarten bis auf die neueste Zeit. Regensburg : Montag- und Weißischen Buchhandlung.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
neu aufgelegt wurden,1247 erschienen im Jahr 1804 weitere Dramatische Beiträge1248 von Koller. Für seine Beantwortung der Preisfrage der 1814 wieder eingerichteten Académie de Bordeaux, wie das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beitragen könne, erhielt er eine »goldene Medaille von 300 Franken«1249 als Auszeichnung. Der österreichische Journalist und Schriftsteller Wilhelm Hebenstreit veröffentlichte Kollers Abhandlung 1816 im ersten Jahrgang seiner Wiener-Moden-Zeitung und Zeitschrift für Kunst schöne Literatur und Theater. Im Jahr 1843 druckte Hebenstreit den Text unter dem Titel Apologie des Theaters1250 erneut ab und verfasste zusätzlich eine Erläuterung, Prüfung und Berichtigung der Preisschrift.1251 »Diejenigen, welche von der Schaubühne verlangen, dass sie eine Schule der Sitten, eine Bildungsanstalt überhaupt seyn soll«, schreibt Koller bereits 1804 in seinen Aphorismen, meinen es zwar herzlich gut, gehen aber offenbar in ihren Forderungen zu weit. […] Das wahre Schöne kann schlechterdings keine andere Wirkung hervorbringen, als Veredelung. In dem reinen Schönen liegt das Samenkorn der Sittlichkeit schon eingewickelt ; die theatralische Kunst darf sie nicht bezwecken ; sie streue nur den Saamen des Schönen aus und sey der Frucht der Sittlichkeit im voraus mit Zuversicht gewärtig.1252
Wie Kant und Schiller verteidigt auch Koller die Autonomie des (Theater-)Ästhetischen gegenüber einer moralisierenden Verzweckung. Gleichwohl ist Koller der Ansicht, dass es eine Verwandtschaft des Schönen mit dem Sittlichguten gebe und folgt damit ebenfalls der idealistischen Ästhetik Kants und Schillers.1253
1247 Vgl. Koller, J[oseph] (1920) : Aphorismen für Schauspieler und Freunde der dramatischen Kunst. Hrsg. von Ewald Silvester. München : Hanfstaengl. 1248 Vgl. Koller, J[oseph] (1804) : Dramatische Beiträge. Osnabrück : Heinrich Blothe. – Hierin enthalten sind die Dramen Das Debut, Die wechselseitige Ueberraschung, Der Spuck, Liebe ist die beste Lehrmeisterinn, Der Zauberstein und Der Almanach. 1249 Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? In : Wiener-Moden-Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater, 1. Jg. Heft 58 [19.10.1816]. S. 545–550. S. 545. Vgl. hierzu auch Koller, Joseph, Professor in Regensburg, Verleihung der Ehrenmedaille der Akademie der Wissenschaften von Bordeaux. BayHStA, Ges. Paris 10582. 1250 Vgl. Hebenstreit, Wilhelm (1843) : Das Schauspielwesen. Dargestellt auf dem Standpunkt der Kunst, der Gesetzgebung und des Bürgerthums. Wien : Fr. Beck’s Universitäts-Buchhandlung. S. 201–232. 1251 Vgl ebd. S. 233–284. 1252 Koller, J[oseph] (1804) : Aphorismen für Schauspieler und Freunde der dramatischen Kunst. S. 6. 1253 Vgl. hierzu auch Teil I, Kap. 3 : Die Anstalt der »höhern Sinnlichkeit« – Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung.
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Koller, der, wie Hebenstreit zutreffend feststellt, sich bei etlichen Autoren und schauspieltheoretischen Texten, insbesondere Schillers Schaubühnenrede, bedient hatte,1254 erklärt, dass neben der Bühne, den Dramentexten, ihren Autoren und dem Publikum – die wie die Teile einer »Maschine«1255 ineinander greifen – auch die Schauspieler dafür verantwortlich seien, dass das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beitragen könne. Ein Schauspieler müsse in sich physische und geistige Eigenschaften vereinigen, so Koller, die ihn zur Ausübung seiner Kunst befähigen. Die körperlichen Eigenschaften seien ein gutgebauter Körper, ein ausdrucksfähiges Gesicht, Gesundheit und ein reines Sprachorgan. Die geistigen Eigenschaften seien Dichtungskraft, ein gutes Gedächtnis, ein reiner moralischer Sinn sowie eine glückliche Stimmung des Gemüts.1256 Für die Verbesserung des Geschmacks und der Sitten des Publikums sei es aber nicht hinreichend, »wenn er [der Schauspieler] nicht zugleich ein rechtlicher Mensch und Bürger«1257 sei. »Es ist keinem Zweifel unterworfen«, so Koller, »daß die Worte des Rechtschaffenen, der es ist, oder wenigstens dafür gehalten wird, einen größern, bessern Eindruck machen, als die Worte des Verdächtigen.«1258 Hierfür müsse ein Schauspieler »von Jugend auf angeleitet werden.«1259 Eine Theaterschule könne den Schauspieler »in moralischer und artistischer Hinsicht zu Kredit und Ehre bringen.«1260 Im März 1804 wurde in Regensburg der Bau des neuen Theater- und Gesellschaftshauses fertiggestellt. Karl Theodor von Dalberg, der Kurerzkanzler des neugeschaffenen Fürstentums Regensburg, setzte eine Theaterkommission ein, dessen Vorsitz Karl Christian Ernst Graf von Bentzel-Sternau übernahm. Die Kommission sollte den Schauspieldirektor »unterstützen, beraten, aber auch beaufsichtigen«1261. Als neuen Theaterdirektor berief man den ehemaligen Mainzer Hofsänger Ignaz Walter. Auf Empfehlung des Grafen von Bentzel-Sternau erhielt Friedrich August Burgmüller die Stelle des Musikdirektors. Das Theater wurde am 7. September 1804 mit dem Prolog Die Weihe des Tempels und dem Lustspiel Der Puls1262 von Joseph Marius von Babo eröffnet. In derselben Woche 1254 Vgl. Hebenstreit, Wilhelm (1843) : Das Schauspielwesen. S. 233. 1255 Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? S. 547. 1256 Vgl. Koller, J[oseph] (1804) : Aphorismen für Schauspieler. S. 78 f. Vgl. auch Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? (Fortsetzung) In : Wiener-Moden-Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater, 1. Jg. Heft 59 [23.10.1816]. S. 553–558. S. 556. 1257 Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? (Fortsetzung). S. 555. 1258 Ebd. 1259 Ebd. S. 566. 1260 Ebd. S. 558. 1261 Pigge, Helmut (1998) : Theater in Regensburg. Vom fürstlichen Hoftheater zu den Städtischen Bühnen. S. 46. 1262 Vgl. Babo, [Joseph Marius von] (1804) : Neue Schauspiele. Der Puls. Genua und Rache. Berlin : Johann Friedrich Unger.
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wurden außerdem die Lustspiele Der Bayard1263 und Wirrwarr1264 von Kotzebue sowie Salieris Oper Palmira aufgeführt.1265 Die anfängliche Unzufriedenheit des Publikums mit der neuen Bühne wurde darauf zurückgeführt, dass das Schauspielerensemble »neugeworden, sonach nicht eingespielt«1266 war. Überdies erschien dem Regensburger Publikum der Dialekt vieler Schauspieler ungewohnt, da die meisten von ihnen »Nordländer«1267 waren. Und nicht zuletzt blieben Zuschauer dem Theater fern, da es durch die zu kleinen Öfen im Zuschauerraum nicht ausreichend geheizt werden konnte. Erste Reformmaßnahmen waren die von Bentzel-Sternau erlassenen Theatergesetze, die, so Koller, für »Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Aufmunterung der Schauspieler, vor allem aber eine geschmackvollere Auswahl von Stücken«1268 sorgten. Der neuberufene Musikdirektor Burgmüller machte Bentzel-Sternau ferner den Vorschlag, eine Theaterschule in Regensburg einzurichten. »Eine dramatische Schule, meinte er, müßte für die Erhaltung der Regensburger Bühne von den besten Folgen seyn.«1269 Bei einer »musikalischen Abendgesellschaft«1270 lobte er Kollers Sachverstand. Koller wurde daraufhin am 8. Oktober 1805 zu einer Audienz bei Dalberg eingeladen, um einen Entwurf zu einer dramatischen Schule vorzustellen.1271 Dalberg hatte in einem Aufsatz über Kunstschulen in Schillers Zeitschrift Die Horen 1795 selbst noch geschrieben, dass »zu den meisten Kunstwerken […] des Schauspielers […] wenige schöpferische Geister, und viele geschickte, geübte Künstler erfordert« werden, die »am besten in guten Kunstschulen gebildet«1272 werden sollen. Bei seiner Audienz legte Koller Dalberg zwei Theaterschulentwürfe vor. Im ersten Entwurf stellte er die Notwendigkeit, die Bedingungen und den Nutzen einer schauspielerischen Ausbildung dar. Koller argumentierte, dass »die Säure, die Ungenießbarkeit, das Zufällige«1273 auf der Theaterbühne dadurch bedingt sei, dass die Schauspielkunst »nicht, wie andre Künste, von Jugend auf gelehrt, sondern vom Staate nur dem Zufall überlassen«1274 werde und daher »Menschen ohne Beruf, ohne Talent, ohne 1263 Vgl. Kotzebue, August von (1802) : Der Bayard. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Wien : Wallishausser. 1264 Vgl. Kotzebue, August von (1803) : Wirrwarr, oder der Muthwillige. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Augsburg : Christoph Friedrich Bürglen. 1265 Vgl. Pigge, Helmut (1998) : Theater in Regensburg. Vom fürstlichen Hoftheater zu den Städtischen Bühnen. S. 48. 1266 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 82. 1267 Ebd. 1268 Ebd. S. 84. 1269 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 84 f. 1270 Ebd. S. 85. 1271 Ob Burgmüller und Koller sich persönlich kannten oder Burgmüller lediglich Kollers dramatische Arbeiten oder seine Aphorismen für Schauspieler kannte, lässt sich nicht eindeutig belegen. 1272 [Dalberg, Karl Theodor] (1795) : Kunstschulen. In : Die Horen, 2. Jg. 5. Stück. S. 122–134. S. 133. 1273 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 85. 1274 Ebd.
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Ausbildung«1275 zur Bühne drängten. Die fehlende Ausbildung der Schauspieler führe zur geringen Wirksamkeit der Bühne, der geringen Achtung des Schauspielerstandes und den unzuverlässigen Einnahmen an der Theaterkasse. »Der ungebildete, ungelehrte Schauspieler ist ein Charlatan ; nur der erzogene, gebildete sollte befugt seyn, vor dem Publikum aufzutreten, weil nur er zweckmäßig wirken kann.«1276 Zu den notwendigen Bedingungen für eine entsprechende Schule zur Ausbildung von Schauspielern gehören laut Koller die Auswahl tauglicher Zöglinge, taugliches Lehrpersonal, eine zureichende Besoldung der Lehrer, notwendige Hilfsmittel sowie angemessene Räumlichkeiten. Die Tauglichkeit der Schüler bestünde zum einen in einem untadelhaften Wuchs ihres Körpers, der Reinheit ihrer Stimme sowie körperlicher Gesundheit. Zum anderen müssen sie Kunsttalent, Sittlichkeit und notwendiges Vorwissen mitbringen. »Taugliche Lehrer sind die, welche 1) den zu lehrenden Gegenstand, 2) die Mitheilungsgabe in ihrer Gewalt haben, und 3) rechtliche Männer sind.«1277 Ihre Besoldung sollte so umfassend sein, dass sie ohne Nahrungssorgen leben könnten. Notwendige Hilfsmittel für den Unterricht seien ein Flügel, Musikalien, Bücher, Notenpapier sowie weitere Schreibutensilien. Angemessen seien die Räumlichkeiten, wenn »die Zöglinge 1) ungestört, 2) im Winter gegen die Kälte geschützt und 3) in der Dunkelstunde bei Beleuchtung, 4) in einem anständigen, für Gesang und Deklamation zweckmäßigen, mit den nöthigen Geräthen versehenen Zimmer Unterricht erhalten können.«1278 Die Zöglinge sollen zudem dazu verpflichtet werden, Statisten-, Choristen- und andere kleine Rollen im ersten Jahr unentgeltlich zum Dank für den erhaltenen Unterricht zu übernehmen.1279 Koller räumte allerdings ein, dass eine solche Schule keine großen Künstler hervorbringen könne,1280 sie sorge aber dafür, dass künftig »keine Menschen auf den Brettern erscheinen, welche im bürgerlichen Leben Schiffbruch gelitten haben, oder welche das Theater als eine Freystätte der Gesetz- und Sittenlosigkeit betrachten.«1281 Der Zweck dieser Schule bestünde in der »Bildung geschickter Künstler und Künstlerinnen für Darstellung dramatischer Kunstwerke mit und ohne Gesang.«1282 Diesem »kurzen Abrisse«1283 fügte Koller einen »größern«1284 Entwurf bei. Diesen zweiten Theaterschulentwurf, in welchem zur »Erlernung der Sprachen, der Tanzkunst, Zeichenkunst, Fechtkunst, der Putzmacherei für Schauspielerinnen, und mehrere andere 1275 Ebd. S. 86. 1276 Ebd. 1277 Ebd. S. 87. 1278 Ebd. S. 88. 1279 Vgl. ebd. 1280 Vgl. ebd. S. 86. 1281 Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? (Fortsetzung). S. 558. 1282 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 86 f. 1283 Ebd. S. 88. 1284 Ebd.
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Kenntnisse als Geschichte, Dichtkunst, Mythologie«1285 geraten wurde, nahm Koller höchstwahrscheinlich später in seinen Aufsatz über die Verbesserung des Geschmacks und der Sitten auf. Denn hier erklärt Koller, dass eine Theaterschule »unter öffentlicher Autorität«1286 das »zweckmäßigste Mittel«1287 sei, um Schauspieler mit der Würde und Pflicht ihres Standes vertraut zu machen. Koller entfaltet hier eine »systematische Übersicht der Theatrik […], woraus die Gegenstände, welche gelehrt und geübt werden sollen, zu ersehen sind.«1288 Zunächst nimmt Koller eine Bestimmung der Schauspielkunst als plastische, mimische und tonische Kunst vor, um hieraus die notwendigen Lehren für angehende Schauspieler abzuleiten. Die Schauspielkunst sei »plastisch, weil der Schauspieler seinen eigenen Körper als schönes Kunstwerk im Raume ausstellen soll.«1289 Sie sei »mimisch, weil Handlungen durch Geberden ausgedrückt werden«1290, und »tonisch, weil sie Gedanken und Empfindungen durch Töne oder Worte ausdrückt.«1291 Um seinen Körper »als plastisches und mimisches Kunstwerk auszustellen, sich wahr und schön zu geberden, muß der Schauspieler sich«1292 in verschiedenen Körpertechniken üben. Koller zählt hierzu die gemeine und höhere Tanzkunst, die Fecht-, Reit- und Zeichenkunst, militärische Exerzitien, die Kosmetik (Schmink- und Putzkunst) sowie die Technik der Künste und des Handwerks.1293 »Um richtig, schön, und mit Wirkung zu sprechen«1294 – um das Tonische der Schauspielkunst zu erlernen –, müsse der Schauspieler verstehen, was und wovon er spricht, welche Worte er gebraucht und über welche Sachen er sich äußert. Der Schauspieler bedürfe hierfür umfassender Sprach- und Sachkenntnisse. Er müsse seine Muttersprache beherrschen sowie »fremde Sprachen, je mehr, desto besser«1295. Zu den notwendigen Realkenntnissen eines Schauspielers zählt Koller Anthropologie, Geographie, Dramentheorie, Literatur- und allgemeine Geschichte sowie Altertumskunde und Mythologie. Außerdem müsse er sich mit der »Theatristik«1296 befassen, den politisch-ökonomischen Aspekten der Theatrik. Diese umfasse die »verschiedenen Modifikationen der vaterländischen Bühnen, nach ihrer innern Verfassung und ihren äußerlichen Verhältnissen.«1297 Um Sprechhindernisse zu überwinden und die Kunst des schönen Vortrags zu meistern, 1285 Ebd. 1286 Koller, Joseph (1816) : Wie kann das Theater zur Verbesserung des Geschmacks und der Sitten beytragen ? (Fortsetzung). S. 556. 1287 Ebd. 1288 Ebd. 1289 Ebd. 1290 Ebd. 1291 Ebd. 1292 Ebd. 1293 Vgl. ebd. S. 557. 1294 Ebd. 1295 Ebd. 1296 Ebd. 1297 Ebd. S. 558.
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müsse der Schauspieler ferner in der Deklamationskunst und der Musik unterricht werden. Durch »Umgang und Lektüre«1298 sowie durch ein theoretisches Studium der Leidenschaften solle er die »Mittel zur Gefühls-Erregung«1299 verstehen lernen. Man sehe, resümiert Koller, »daß der mit diesen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgerüstete Künstler jeden Staatsbürger mit Ehren an die Seite treten und von ihm nicht nur Duldung, sondern Achtung verlangen dürfe.«1300 Dalberg wählte dennoch den ersten Plan, da, »wie er sich ausdrückte, zur Ausführung des zweiten seine Einkünfte nicht hinreichten, und überhaupt seine Fürsorge auf nothwendigere Anstalten gerichtet seyn müßte.«1301 Am 14. Oktober 1805 wurde die Theaterschule eröffnet.1302 Dalberg forderte eine ausführliche Darstellung der Lehrgegenstände und Unterrichtsmethoden, die Koller am 28. Oktober 1805 vorlegte. Ferner sollte Koller der Theater-Kommission alle drei Monate Bericht über »Fortgang und Verwendung der Schüler«1303 erstatten. Der unentgeldliche Unterricht zog so viele Schüler an, dass bald nur solche aufgenommen werden durften, deren Eltern oder Vormünder schriftlich erklärten, ihre Kinder den Beruf eines Schauspielers ergreifen zu lassen. Unter den insgesamt 44 Zöglingen fanden sich, so Helmut Pigge, »außer den Kindern der in Regensburg engagierten Schauspieler Söhne und Töchter von Thurn- und Taxisschen Bedienten, von Tagelöhnern, weniger von Handwerkern und in zwei Fällen Beamten.«1304 Koller lehrte Deklamation, Burgmüller erteilte Gesangsunterricht. Jeder erhielt ein Jahresgehalt von 400 Gulden aus der Privatkasse des Fürsten. Zusätzlich wurde der Tanzmeister Johann Kaspar Müller engagiert, um den Schülern beizubringen, was beim Stehen, Gehen, Auftreten, Abtreten, bei Komplimentiren, Stühlegeben, Sitzen und Liegen, Abnehmen, Tragen und Aufsetzen des Hutes, beim Überreichen, Abnehmen und Aufheben vom Boden, beim Knieen, Umarmen und Küssen, beim Degentragen und Herausziehen desselben, beim Mantelwurfe und dem Gebrauch des Shawls, bei der stummen Behandlung musikalischer Instrumente, beim Fächer- und Schürzen-Spiele der Soubretten, bei den Stellungen zum Fechten, Pistolenschießen, Ritterkampfe, bei Ohnmachten, beim Schlafen, Träumen, Erwachen, Sterben auf der Bühne, bei Gruppierungen und Tableaux etc. der Anständigkeit, Wahrheit und Schönheit gemäß sey.1305
1298 Ebd. 1299 Ebd. 1300 Ebd. 1301 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 88. 1302 Vgl. ebd. S. 97. Vgl. hierzu auch Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 152– 159. 1303 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 93. 1304 Pigge, Helmut (1998) : Theater in Regensburg. Vom fürstlichen Hoftheater zu den Städtischen Bühnen. S. 50. 1305 [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 91 f.
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Der Theaterschule wurde ein Raum im neuen Gesellschaftshaus zur Verfügung gestellt. Da der Raum aber nicht beheizt wurde, eine schlechte Akustik aufwies und über kein Klavier verfügte, unterrichteten Burgmüller und Koller bald in ihren Privatwohnungen. Nur Müller nutzte die Räumlichkeiten und bezahlte die Heizkosten aus eigener Tasche. Die Theaterschule war nur lose mit dem Hoftheater verbunden. Am 4. August 1806 traten erstmals Schüler der Theaterschule auf der Bühne des Hoftheaters auf und brachten das Lustspiel Die Wallfahrt nach Compostell von Johann Georg Jacobi zur Aufführung. Koller lobte insbesondere seine Schüler Friedrich August Augusti und Adelheid Spitzeder für ihre Darstellung des Wirts und seiner Tochter Clärchen. Kollers Vorschlag vom 12. Mai 1807, ausgezeichneten Schülern eine jährliche Verköstigung oder Prämie in Aussicht zu stellen sowie die Theaterschule enger mit dem Hoftheater zu verknüpfen, lehnte Dalberg in einem Schreiben vom 16. Juni 1807 ab. Der Wechsel des Vorsitzenden der Theaterkommission Graf Bentzel-Sternau in den Großherzoglich-Badischen Staatsdienst war laut Koller »für die Bühne und für das Institut der Schule von sichtbarem Nachtheil.«1306 Als Burgmüller im Jahr 1807 Regensburg verließ, gab der Theaterdirektor Walter in unregelmäßigen Abständen Gesangsunterricht. »Koller, der nicht mehr wußte, ob er sich unter Oberaufsicht des Fürsten, der Theater-Kommission oder der Theater-Direktion befinde, fuhr fort, unausgesetzten Unterricht zu geben.«1307 In einem Schreiben beschwerte er sich jedoch bei der Theater-Kommission : Die Bühne hat einen Direktor der nicht dirigirt, die Gesellschaft hat Gesetze im Drucke, aber nicht in der Ausübung sind ; die so nothwendigen Proben werden vernachläßigt, alle Anstalten bis auf die letzten Augenblicke verspart, manche Rolle erst kurz vor dem Auftritte auf die Scene ausgetheilt ; für das Repertoir wird nicht frühe genug vorgearbeitet. Die Folge davon, wie die Erfahrung zeigt, ist – der größtehtheils nachläßige Gang der Stücke, Einschläferung der Schauspieler und des Publikums, und der Theaterschüler kann gar nicht erwachen.1308
Als im April des Jahres 1809 die Schlacht bei Regensburg wütete, setzte Koller seine Vorlesungen noch bis zur Belagerung der Stadt fort. Aus der Korrespondenz, die Koller mit dem Fürsten und der Theater-Kommission im Anschluss führte, folgerte er, »daß die Theaterschule als geschlossen betrachtet werde.«1309 Am 1. Mai 1809 nahm er daher Abschied von seinen Schülern, von denen etliche, so Koller, erfolgreiche Schauspieler wurden : Friedrich August Augusti und August Friedrich Herrmann Augusti fanden eine Anstellung am Nationaltheater in München, Herr Stengel, Herr Steck und Frau Thierbächer (geborene Baumgarten) sind Mitglieder der Regensburger Bühne geworden, Johanna 1306 1307 1308 1309
Ebd. S. 94. Ebd. S. 95. Ebd. S. 96. Ebd. S. 97.
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Demmer ging nach Wien und Adelheid Spitzeder feierte Bühnenerfolge auf verschiedenen deutschen Bühnen.1310 2.6.2 »Eine Mitleid erregende Eigenthümlichkeit unserer Bühne ist noch die sogenannte Elevenanstalt.«1311 – Peter Mittells Theaterschule am Hoftheater in Karlsruhe (1810–1824)
Der Großherzog Karl Ludwig Friedrich von Baden beschwerte sich 1814 über den Zustand der Theaterschule in Karlsruhe : Eine Mitleid erregende Eigentümlichkeit unserer Bühne ist noch die sogenannte Elevenanstalt. Nie und nimmer kann dabei etwas Gutes herauskommen, denn es ist schlimmer als garnichts ; ohne allen Beruf für die Bühne, ohne die unentbehrlichsten Vorkenntnisse, ein klägliches Produkt unbeholfener Nachbeterei, leben sie sich und jeder Rolle zum Verderben, Minerven zum Trotz.1312
Als Karl Ludwig Friedrichs Großvater im Jahr 1806 zum ersten Großherzog von Baden ernannt wurde, veranlasste dieser den Bau eines neuen repräsentativen Komödienhauses in Karlsruhe, das im Jahr 1808 von der Schauspielergesellschaft des ehemaligen Mannheimer Schauspielers Wilhelm Vogel eröffnet wurde. Angesichts der »Unzufriedenheit mit der Theaterleitung Vogels«1313 übernahm aber bald der Hof die Theaterdirektion. Am 1. November 1810 wurde die Theaterintendanz dem Kommandeur der Leibgrenadiere Oberst Karl von Stockhorn-Starein übertragen. Als Teil der Hofadministration war die Stelle eines Hoftheaterintendanten für höfische Karrieristen eine attraktive Position. Als Laien, so Daniel, waren Intendanten aber gegenüber professionellen Künstlern im Hintertreffen, denn ihnen fehlte in der Regel die künstlerische Expertise.1314 Die künstlerische Leitung des badischen Hoftheaters übernahmen daher der Musikdirektor und Komponist Johann Brandl, der Chordirektor Friedrich Jeckel, der zuvor in Vogels Truppe Intrigantenund Tyrannenrollen gespielt hatte, sowie der Schauspieler und Regisseur Peter Mittell.1315 Mittell war zuvor Mitglied der Schauspielergesellschaft von Friedrich Wilhelm Bossan gewesen, der das Hoftheater in Dessau geleitet hatte. Als es im Jahr 1810 aus finanziellen Gründen geschlossen werden musste, nahmen Mittell und seine Frau Dorothea Wilhel-
1310 Vgl. [Koller, Joseph] (1817) : Geschichte der Theaterschule zu Regensburg. S. 97 f. 1311 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. S. 53. 1312 Ebd. 1313 Haass, Günther (1982) : Theater am großherzoglichen Hof in Karlsruhe 1806–1846. In : Karlsruher Theatergeschichte. Vom Hoftheater zum Staatstheater. Hrsg. vom Badischen Staatstheater und Generallandesarchiv Karlsruhe. Karlsruhe : G. Braun. S. 28–43. S. 30. 1314 Vgl. Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 198. 1315 Vgl. Haass, Günther (1982) : Theater am großherzoglichen Hof in Karlsruhe 1806–1846. S. 31.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
mine, Bossans Stieftochter, das Engagement in Karlsruhe an.1316 Mittell, dessen Aufgabe als Regisseur darin bestand, die Probenarbeiten zu beaufsichtigen und für Ordnung unter den Schauspielern zu sorgen, entwarf am 21. November 1810 eine Skizze der Gesetze und Anordnungen für das Großherzogliche Hoftheater zu Carlsruhe.1317 Außerdem erarbeitete er einen undatierten Entwurf für die Gründung einer Bildungsanstalt für dramatische Künstler, der, nachdem der Plan von der Theaterintendanz genehmigt wurde, die Grundlage für die Statuten der Bildungs Anstalt des Grossherzl. Hoftheaters Karlsruhe bildete.1318 Die Statuten sahen vor, »sechs Knaben und zehn Mädchen als Zöglinge«1319 aufzunehmen, um sie als Nachwuchs für das Großherzogliche Hoftheater, den Chor und die Oper auszubilden. Die Mädchen sollten zwischen elf und zwölf Jahren alt sein, die Jungen könnten angesichts der mit dem Stimmbruch einsetzenden Veränderungen der Stimme schon mit zehn Jahren in die Schule eintreten. Über ihren Verbleib solle endgültig entschieden werden, wenn sie das vierzehnte Lebensjahr erreicht hätten. Aufgenommen werden sollen nur solche Kinder, die sich durch »ihre körperliche Bildung, sowie durch ihre geistigen Vorzüge«1320 auszeichnen und eine allgemeine Prüfung bestehen. »Vollkommene Gesundheit«1321 der Schüler sei hierbei ein wesentliches Auswahlkriterium. Überdies müssten ihre Eltern eine schriftliche Bewilligung ausstellen, in der sie versichern, die Kinder »volle 3 Jahre in der Anstalt zu lassen, alle Verbindlichkeiten, welche im Plan der Anstalt liegen einzugehen und auch festzuhalten.«1322 Die Kinder der Hofschauspieler dürften die Schule ebenfalls besuchen, erhielten aber keine Gratifikationen. Zusätzlich aufgenommene Schüler erhielten ebenfalls keine Auszahlungen, dürfen das Theater aber kostenlos besuchen. Theodor Konrad Hartleben schreibt in seinem Statistischen Gemälde der Residenzstadt Karlsruhe, dass die Schüler an der Theaterschule »unentgeldlichen Unterricht in den ersten Elementen der Dramaturgie, der französischen und italienischen Sprache, dem Fechten, Tanzen, und der Musik«1323 erhielten. Drei bis vier Stunden in der Woche sollen die Schüler laut Mittells Entwurf und der Statuten im Tanz, Gesang, Klavier- oder Geigenspiel, in der deutschen, französischen und italienischen Sprache, in reiner Aussprache sowie im richtigen Deklamieren unterrichtet werden. Außerdem unterrichtete der Maler 1316 Vgl. Engagement des Regisseurs August Peter Mettell und dessen Gattin der Schauspielerin Dorothea Wilhelmine Mittell, geb. Bosan. GLAK, 57 Nr. 253. 1317 Vgl. Haass, Günther (1982) : Theater am großherzoglichen Hof in Karlsruhe 1806–1846. S. 31. 1318 Vgl. Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 5 : Statuten der Bildungs Anstalt des Großherzl. Hoftheaters Karlsruhe]. S. 111–122. 1319 Zit. nach ebd. S. 113. 1320 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 4 : Karlsruher Bildungsanstalt für dramatische Künstler 1810–1814]. S. 104–110. S. 106. 1321 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 5 : Statuten der Bildungs Anstalt des Großherzl. Hoftheaters Karlsruhe]. S. 113. 1322 Ebd. S. 114. 1323 Hartleben, Theodor Konrad (1815) : Statistisches Gemälde der Residenzstadt Karlsruhe und ihrer Umgabung. Karlsruhe : Gottlieb Braun. S. 242.
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und Journalist Johann Karl Nehrlich seit Juni 1821 die angehenden Schauspieler in Geschichte und Geographie. Aus einem Vertrag mit der Schauspielerin Therese Melle, der in den Akten des Großherzoglichen Hoftheaters zu finden ist, geht hervor, dass sie nicht als Hofschauspielerin engagiert wurde, sondern für 100 Gulden sechs Schülerinnen Schauspielunterricht erteilen sollte.1324 Die Abfolge des Unterrichts solle so gestaltet sein, »daß nicht zwey Kraft erschöpfende Stunden unmittelbar auf einander folgen.«1325 Laut den Regeln für die Zöglinge des Grossherzogl. Hoftheaters finden die gewöhnlichen Tanzstunden für die Mädchen morgens von sechs bis acht Uhr statt, für die Jungen nachmittags um drei Uhr. Gesangsunterricht erhalten die Mädchen um zwei Uhr, die Jungen montags, mittwochs und freitags um sieben Uhr morgens sowie mittwochs und samstags um zwei Uhr.1326 Fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn sollen sie sich am Theater einfinden. Außerhalb der Unterrichtszeiten haben sich die Zöglinge »weder am noch im Theater sehen zu lassen.«1327 Obwohl die Schüler nicht zugleich im Chor und im Ballett eingesetzt werden sollten, wurde von ihnen gefordert, sich im Notfall als Statisten bereit zu halten. Wenn die Schüler am Theater beschäftigt seien, »so haben sie sich ruhig und still an den Ort zu verfügen den ihnen der Lehrer anweisst, und sich dort artig und sittsam zu betragen, wie es gesitteten Kindern geziemt.«1328 Über die Beteiligung der Theaterschüler am Hofballett urteilte die Karlsruher Schauspielerin und Sopranistin Katharina Gervais, dass es abscheulich sei, sechs oder sieben Paar Kinder zu sehen, die ohne Sinn und Verstand untereinander hüpfen und ohne eine einzige passende Figur zu bilden, ohne ordentliche Tanzschritte und mit der schlechtesten und ungraziösesten körperlichen Haltung beinahe wie Straßenjungens untereinander zappeln zu sehen.1329
Nach der alle drei Monate stattfindenden Prüfung »über allen Unterricht«1330 solle den in zwei Klassen unterteilten Schülern eine Belohnung ausgezahlt werden. Sie setze sich aus einem pauschalen und einem leistungsbezogenen Betrag – »nach Maßgabe des Fleißes«1331 – zusammen. Die besseren Schüler der ersten Klasse hätten Anspruch auf eine höhere Belohnung als die der zweiten Klasse. Außerdem sollten regelmäßig kleine Stücke 1324 Vgl. Chor- und Tanzschule. GLAK, 47 Nr. 866. 1325 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 5 : Statuten der Bildungs Anstalt des Großherzl. Hoftheaters Karlsruhe]. S. 114. 1326 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 6 : Regeln für die Zöglinge des Grossherzogl. Hoftheaters]. S. 124–127. S. 125. 1327 Ebd. S. 125. 1328 Ebd. S. 126. 1329 Zit. nach Daniel, Daniel (1995) : Hoftheater. S. 302. 1330 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 5 : Statuten der Bildungs Anstalt des Großherzl. Hoftheaters Karlsruhe]. S. 117. 1331 Ebd. S. 116.
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von den Schülern vor der Intendanz und Kunstverständigen aufgeführt werden. Schüler, die nach der ersten Prüfung für ungeschickt erachtet werden, sollen mit einer Abfindung aus der Schule entlassen werden. In der Karlsruher Zeitung wird am 23. März 1823 berichtet, dass am Freitag, den 21. März in Gegenwart des Theaterkomitees und mehrerer anderer Honoratioren im neuen Theaterkonzertsaal »eine erfreuliche Prüfung der Hoftheaterzöglinge vorgenommen worden«1332 sei : Zuerst wurden von dem Lehrer der Geographie und Geschichte, Hrn. Nehrlich, Fragen aus beiden Wissenschaften vorgelegt, worauf die Zöglinge genügend antworteten. Hr. Eberhard, als Klavierlehrer, nahm die verschiedenen Tonarten durch, und es wurden dann Klavierstücke exekutirt, bei denen man einen guten Vortrag und eine sichere Takthaltung bemerken konnte. Der Gesanglehrer, Hr. Berger, ließ nun die eingelernten Gesänge, theils Soloparthien, theils mehrstimmige Gesangstücke vortragen. Es waren manche treffliche und schon zu einiger feinern Ausbildung gelangte Stimmen hörbar. Ueberhaupt hat dieser Lehrer entschiedenes Verdienst um das Institut, besonders auch was die sittliche Bildung betrifft.1333
Für die zukünftigen Prüfungen wünschte sich der anonyme Verfasser – vermutlich Nehrlich selbst –, dass sie »öffentlich auf der Bühne, wie es das vorigemal geschah,«1334 stattfänden. Die Statuten sahen ferner vor, dass den Theaterschülern, sobald sie alt genug seien und »die gehörige Bildung«1335 genossen hätten, ihnen die Möglichkeit gewährt werden solle, »in einer nicht unbedeutenden Rolle aufzutreten«1336. Die Rolle müsse aber vor einem Ausschuss des Hoftheaters zuvor vorgetragen werden, der dann entscheide, »ob der Eleve sich vor dem Publikum zeigen dürfe oder nicht.«1337 Die Intendanz übernehme jedoch keine Verantwortung dafür, dass die Schüler nach Abschluss ihrer Ausbildung am Hoftheater übernommen werden. Den Schülern der Theaterschule, die laut Daniel aus den minderbemittelten Schichten der Karlsruher Bevölkerung stammten, fehlte es an einer elementaren Grundbildung. Die Theateranstalt diente daher nicht zuletzt als Elementarschule, an der, so Gervais, zwar manche »Knaben und Mädchen […] lesen und schreiben [lernen], einige Bocksprünge
1332 [Anonym] (1823) : Karlsruher Theater [Eingesandt]. In : Karlsruher Zeitung, Nr. 82 [Sonntag, den 23. März]. S. 393. Vgl. auch Lehrer für deutsche Sprache und Mythologie Carl Nehrlich. GLAK, 47 Nr. 863. 1333 [Anonym] (1823) : Karlsruher Theater [Eingesandt]. S. 393. 1334 Ebd. 1335 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 5 : Statuten der Bildungs Anstalt des Großherzl. Hoftheaters Karlsruhe]. S. 118. 1336 Ebd. 1337 Ebd.
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machen, und wie sie es nennen, singen, Clavier und Violin spielen«1338, aus der aber, so der Großherzog selbst, nie und nimmer »etwas Gutes«1339 herauskommen könne. Nehrlich, der seit 1821 als Geschichts- und Geographielehrer am Institut tätig war, wurde daraufhin von der Theaterintendanz aufgefordert, einen umfassenderen Unterrichtsplan zu entwerfen. In seiner Stellungnahme vom 6. August 1821 schreibt er, dass »diese auch im Keime schon höchst erfreuliche Anstalt noch […] ihr ferneres Gedeihen zu finden habe«1340. Er regte insbesondere an, den Lehrplan erheblich zu erweitern und den Unterricht zu verwissenschaftlichen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der Anstalt um eine »Kunstschule«1341, eine »Schule für die Schauspielkunst«1342 handle, müsse »die frühere Erziehung eine allgemein menschliche seyn.«1343 Obwohl die Schule das erklärte Ziel hatte, schauspielerischen und künstlerischen Nachwuchs für das Theater heranzuziehen, war Nehrlich der Ansicht, dass der Unterricht nicht Teil einer einseitigen Berufsausbildung sein solle, sondern die »allseitigste Bildung«1344 zum Ziel haben müsse : Keine Wissenschaft und Kunst soll ihm unbekannt seyn, sondern mit allen gleich vertraut sollen sich in dem Spiegel seiner Seele die Strahlen alles Wissens reflectiren. Ohne ein gelehrter Vielwisser zu seyn oder eine lebendige Encyclopädie der Wissenschaften, soll er als ein Genius über jedem Felde des Wissens geschwebt und seinen Blick in das Weite geöffnet haben.1345
Das Spektrum einer vielseitigen Bildung müsse so breit sein, dass die Schüler selbst mit obskuren Disziplinen wie der »Astrologie, Necromantie und Chiromantie« 1346 nicht verschont bleiben würden. Nehrlich unterrichtete bereits Geschichte und Geographie, forderte aber auch Physik, Chemie, empirische Psychologie, Metrik sowie Musik, Tanz, Malerei und Ästhetik von einem Lehrer unterrichten zu lassen, der »mit der gehörigen Kenntniss aller Wissenschaften den Geist aller wie mit einem Zauberschlage darzustellen«1347 wisse. Zwei Stunden solle dieser Unterricht täglich einnehmen. Der Zweck dieses Unterrichts bestünde nicht zuletzt auch darin, dass der angehende Schauspieler eine »wissenschaftliche Einsicht in seine Kunst«1348 erhalte und sein Bühnenspiel geistvoll gestalte. Denn es sei 1338 Zit. nach Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 310. 1339 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. S. 53. 1340 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert [Anlage 7 : Karl Nehrlich, 6. August 1821, Karlsruhe]. S. 130–142. S. 130. 1341 Ebd. S. 131. 1342 Ebd. 1343 Ebd. 1344 Ebd. S. 132. 1345 Ebd. 1346 Ebd. 1347 Ebd. S. 133. 1348 Ebd. S. 138.
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»allein der Geist, der den Menschen erhebt und ihn in seiner wahren Würde zeigt. Diese Erhebung des Menschen sollte besonders von der Bühne ausgehen und das Volk an seine unauflöslichen Zauberbande fesseln.«1349 Von Joseph von Auffenberg, der im Jahr 1823 die Intendanz des Hoftheaters übernommen hatte, sind in den Akten mehrere Instruktionsschreiben an verschiedene Lehrkräfte der Theaterschule erhalten.1350 Dass Auffenberg ein anhaltendes Interesse an der Ausbildung von Schauspielern hatte, bezeugt sein Plan zur Gründung des deutschen Theaters in Pultawa. Hier schreibt er : Damit der Speicher [des Theatergebäudes] nicht unbenutzt bleibt, will ich eine Theaterschule dort errichten, nach ganz neuen ästhetischen Grundsätzen. Ich will selbst den Kindern, wenn ich einige Augenblicke Zeit habe, Vorlesungen halten, und alle Schauspieler sollen abwechseln in diesem verdienstlichen Amte. Da aber die Buben in diesem Alter gewöhnlich in den Töpeljahren sind, und nur zum Fliegen, Theaterkehren oder zu Thieren verwendet werden können, will ich nur Mädchen aufnehmen, und Pultawa kann mir sicher seine Töchter anvertrauen. Ich will sie encyklopädisch bilden, und mein Unterricht soll nicht nur Declamation, Mimik und den gewöhnlichen Schlendrian, nein ! er soll Chemie, die für’s schöne Geschlecht verständlich gemachte Physik, mit besonderm Bezug auf Electricität, Naturgeschichte, mit Einschließung der Conchylien, die populäre Astronomie, und im letzten Cursus, ehe sie unten [auf der Theaterbühne] mitmachen, die leicht begreifliche Anatomie umfassen. Wenn mir eine Magistratsperson ein Klavier dazu leihen wird, soll mich’s sehr freuen, denn ich will den allerersten Gesangsunterricht damit verbinden, und der erste und einzige Baß wird gern ein wenig hinaufkommen, um zu helfen.1351
Hartleb bezeichnete es als großen Gewinn, »die Mitglieder eines Standes, den nicht selten unwürdige Subjekte beflecken, durch frühzeitige Bildung zu der Würde empor zu heben, auf welche ächte Künstler gerechten Anspruch haben.«1352 Es lasse sich daher behaupten, schreibt vermutlich Nehrlich in der Karlsruher Zeitung vom 23. März 1823, dass das Institut am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe »bis jetzt noch einen glücklichen Erfolg erwiesen habe, und daß ihm langes Bestehen zu wünschen sey.«1353 Welche Erfolge die Theaterschule aber letztlich verzeichnet, lässt sich nur schwer nachverfolgen, ein langes
1349 Ebd. 1350 Vgl. Chor- und Tanzschule. GLAK, 47 Nr. 866. 1351 Auffenberg, Joseph von (1844) : Denkschrift des Holofernus Spontenknabel, die Gründung eines stehenden deutschen Theaters in der Heldenstadt Pultawa betreffend. In : Sämmtliche Werke von Joseph Freiherr v. Auffenberg in zwanzig Bänden, Bd. 17. Siegen und Wiesbaden : Verlag der Friedrich’schen Verlagsbuchhandlung. S. 341–396. S. 358. 1352 Hartleben, Theodor Konrad (1815) : Statistisches Gemälde der Residenzstadt Karlsruhe und ihrer Umgabung. S. 242 f. 1353 Zit. nach Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. S. 53.
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Fortbestehen war ihr indes nicht vergönnt. Assmann vermutet, dass mit dem Tod Peter Mittells im Jahr 1824 auch die Theaterschule ihr Ende fand.1354 2.6.3 Unterricht »nach Pestalozzischen Grundsäzen«1355 – Johann Baptist Krebs und das Musikinstitut am Waisenhaus in Stuttgart (1811–1818)
Als Schiller im Jahr 1782 zusammen mit seinem Schulfreund nach Mannheim floh, waren es »akademische Zöglinge«1356 der Carlsschule, die vor den »Großfürstlichen Rußischen Herrschafften«1357 die Opern »La Didone abandonata, Le feste della Teßaglia und Le Delicie campestri, ò Ippolito e Aricia mit lautem Beifall«1358 aufführten und für die nötige Ablenkung sorgten. Mit dem Ende der Carlsschule stand nun die Frage im Raum, ob und wie künstlerischer Nachwuchs für die bestehenden Bühnen eingeholt werden könne. Im Jahr 1811 wurde in den Waisenhäusern in Stuttgart und Ludwigsburg ein Institut eingerichtet, in dem Musiker, Tänzer und Schauspieler ausgebildet werden sollten. Ob Herzog Friedrich II., der von 1806 bis 1816 der erste König von Württemberg war, hiermit an die Ausbildungstradition der Carlsschule anknüpfen wollte, lässt sich laut Georg Sowa nicht eindeutig klären.1359 Der Theaterhistoriker Rudolf Krauß schreibt, dass bereits zwischen 1805 und 1809 über die Einrichtung eines solchen Instituts beraten wurde. Der Hofsänger Johann Baptist Krebs, dem »erlaubt wurde einen Versuch im Unterricht der Musik nach Pestalozzischen Grundsäzen, mit einigen Kindern des Waiseninstituts zu machen«1360, bat in einem Schreiben vom 4. Januar 1809 darum, »einen zweiten Kursus mit etlichen zwanzig Kindern grösthentheils Knaben zwischen 8 u[nd] 11 Jahren alt anfangen zu dürfen.«1361
1354 Vgl. ebd. S. 59. – Das Institut hatte zwar nach 1826, so Daniel, noch Bestand, da aber lediglich der Tanz- und Gesangsunterricht fortgesetzt wurde, diente es als »Hoftheater-Tanzschule« in erster Linie der Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses für den Chor und das Ballett (Daniel 1995 : 310 f.). 1355 Unterrichtskurse am Waisenhaus in Musik durch den Hofsänger Krebs nach Pestalozzischen Grundsätzen und Plan zur Einrichtung eines Singinstituts zum Gebrauch für das Hoftheater. StAL, F 420 I Bü 724. 1356 Hartmann, Johann Georg August von (2000) : Kurze fragmentarische Geschichte des wirtembergischen Hof-Theaters. S. 91. 1357 Ebd. 1358 Ebd. S. 91 f. 1359 Vgl. hierzu Sowa, Georg (1973) : Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland (1800– 1843). Pläne, Realisierung und zeitgenössische Kritik. Mit Darstellung der Bedingungen und Beurteilung der Auswirkungen. Regensburg : Gustav Bosse Verlag. S. 147–150. S. 147. 1360 Unterrichtskurse am Waisenhaus in Musik durch den Hofsänger Krebs nach Pestalozzischen Grundsätzen und Plan zur Einrichtung eines Singinstituts zum Gebrauch für das Hoftheater. StAL, F 420 I Bü 724. 1361 Ebd.
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Es wurden Bedenken geäußert, so Krauß, »Waisenkinder für solche Zwecke zu verwenden.«1362 Das Konsistorium willigte jedoch ein, so Krauß, und versicherte für einen »wissenschaftlichen Unterricht«1363 der Kinder zu sorgen. In der Ordnung der Waisenhäuser vom 1. Juli 1811 heißt es, dass Kinder nicht wie bisher »bloss für Handwerker und häusliche Dienste erzogen werden, sondern eine solche Bildung und Bestimmung erhalten, welche ihren Fähigkeiten, Neigungen und Lebensbeschaffenheit angemessen ist.«1364 Außerdem sah die Ordnung vor, dass Kinder, die besondere Talente zu »höheren Berufsarten«1365 aufweisen, einen entsprechenden Unterricht erhalten sollen. Allen staatlich beschäftigten Künstlern, Musikern und Baumeistern solle es daher zur Pflicht gemacht werden, »die für ihren Unterricht sich eignende Waisen in ihre öffentliche Lehrstunden unentgeldlich aufzunehmen«1366. Am 21. Dezember 1811 erfolgte der Erlass zur Errichtung dieses »musikalischen Lehrinstituts im Stuttgardter Waisenhause«1367, in dem nun »Unterricht für 60 Waise beiderlei Geschlechts in der Musik, Akustik, Aesthetik, im musik[alischen] Komponieren, im Italienischen, Französischen u[nd] Rein-Deutschen«1368 stattfinden sollte. Es wurde zudem Klavier-, Geigen-, Tanz- und Gesangsunterricht erteilt. Der Tanzunterricht war für alle Schüler verbindlich.1369 In den Akten lässt sich eine Tabelle mit der Überschrift »Musikinstitutszöglinge 1812–1816«1370 finden, die insgesamt 78 Namen zusammen mit Geburtsdatum, Herkunftsort und dem Beruf des Vaters verzeichnet. Die meisten Zöglinge wurden laut dieser Liste zwischen 1797 und 1801 geboren, waren also zwischen zehn und vierzehn Jahren alt, als das Institut gegründet wurde. Diese Musikinstitutszöglinge erhielten neben ihrem kostenfreien Unterricht eine bessere Verpflegung als die anderen Kinder des Waisenhauses. Neben den als tauglich befundenen Kindern der beiden Waisenhäuser wurden auch Kinder aus bürgerlichen Kreisen in das Ausbildungsinstitut aufgenommen. Den Eltern wurde, so Krauß, die Wahl gelassen, ihre Kinder »entweder ganz in das Waisenhaus zu geben oder zu Hause zu behalten und nur den Unterricht 1362 Krauß, Rudolf (1908) : Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. S. 134. 1363 Ebd. 1364 [Anonym] (1839) : Ordnung für die beiden Waisenhäuser zu Stuttgart und Ludwigsburg vom 1. Juli 1811. In : Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Hrsg. von August Luwig Reyscher, Bd. 11, 1. Abt.: Sammlung der Gesetze für die Volksschulen. Tübingen : Ludwig Friedrich Fues. S. 260–277. S. 262. 1365 Ebd. S. 276. 1366 Ebd. 1367 [Anonym] (1839) : Erlaß des Ministeriums des Innern, betr. die Errichtung eines musikalischen Lehrinstituts im Stuttgardter Waisenhause vom 21. Dezember 1811. In : Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Hrsg. von August Luwig Reyscher, Bd. 11, 1. Abt.: Sammlung der Gesetze für die Volksschulen. Tübingen : Ludwig Friedrich Fues. S. 280. 1368 Ebd. 1369 Vgl. Sowa, Georg (1973) : Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland. S. 148. 1370 Errichtung und Organisation des Musikinstituts. StAL, F 420 I Bü 212.
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am Musikinstitut nehmen zu lassen.«1371 Unter diesen Schülern befanden sich auch die Töchter der Hofschauspielerin Fossetta. Im Gegenzug mussten sich die Zöglinge aber wie an der Carlsschule dazu verpflichten, nach dem Abschluss ihrer vierjährigen, kostenfreien Ausbildung »mindestens acht Jahre lang in württembergischen Dienst«1372 zu bleiben.1373 Dem Königlichen General-Oberintendanten und Generalleutnant Graf von Dillen wurde die Oberaufsicht über das Institut übertragen. Ihm unterstand ein Komitee, das aus dem Kapellmeister Franz Danzi, dem Instrumentaldirektor Carl Joseph von Hampeln und dem Hofsänger Johann Baptist Krebs bestand. Sie wurden beauftragt, Unterrichtspläne zu entwerfen, Berufungen von Lehrkräften vorzuschlagen und Prüfungen vorzunehmen. Bei schwerwiegenden Vergehen der Schüler haben die Aufseher dem Komitee Bericht zu erstatten. Neben Diebstahl, der nach den Straf-Gesetzen für die Zöglinge des Königlichen Musickinstituts direkt zur Entlassung des Schülers führte, wurde Desertion – also unerlaubtes Wegbleiben vom Institut – besonders geahndet : Jeder Anschlag zur Disertion zieht auf Monate Hausarrest in Sträflingskleidung mit der Aufschrift : Undackbarer nach sich. […] Jeder zurückgebrachte Deserteur hat nach Maßgabe der gravirenden Umstände empfindliche Strafen und selbst Ausstossen aus dem Institut zu erwarten. Seine Strafe wird jedesmal vom Comité bestimmt, und wird in Arrest mit beschimpfender Kleidung, in körperlicher Züchtigung und im öfendlichen Ausstellen zur Beschämung seines Undank zu bestrafen.1374
Unterricht wurde von vierzehn bis sechzehn Musiklehrern am Institut erteilt. Ferner gab Krebs Gesangsunterricht und übernahm die Aufsicht über den Klavierunterricht, von Hampel leitete die Geigenklassen und Danzi war Lehrer für Komposition und Leiter der Bläserklasse. Der Hofsänger Johann Nepomuk Schelble erteilte den Kindern Elementarunterricht »nach Pestalozzischen und eigenen Grundsätzen.«1375 Der Hofschauspieler Blumauer und die Hofschauspielerin Leibnitz erteilten Unterricht in der Deklamationskunst. Als der Schauspieler Ferdinand Eßlair, der bereits unter dem Theaterunternehmer Christian Karl Gottfried Haselmaier in Stuttgart am Theater beschäftigt gewesen und inzwischen zu einem der bekanntesten Schauspielern seiner Zeit avanciert war, im Jahr 1815 an das Stuttgarter Hoftheater zurückkehrte, betraute man ihn damit, am Institut des Waisenhauses Unterricht in der Deklamations- und Schauspielkunst zu erteilen. Für seinen Unterricht stellte er, so Willy Meyer, folgende Richtlinien auf : 1371 Krauß, Rudolf (1908) : Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. S. 134. 1372 Ebd. 1373 Vgl. hierzu auch Bechler, Anna (1922) : Die Theaterschule im Stuttgarter Waisenhaus. In : Stuttgarter Neues Tagblatt, Nr. 395. S. 27–28. – Vgl. auch StAL, F 420 I Bü 214. 1374 Disziplinar- und Strafgesetze für die Zöglinge des Musikinstituts. StAL, F 420 I Bü 213. 1375 Sowa, Georg (1973) : Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland. S. 149.
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1. Beschränkung auf Darstellung oder völliges Einstudieren von Schauspielen. Heranziehung der nur vorzüglich Talentierten. Aussprache nach dem besten Dialekt, richtige Deklamation, philosophisches Studium der Physiognomik, damit den Affekten und Leidenschaften ein richtiges Gepräge und ihrem Gange nach die gehörige Gradation gegeben werden kann. 2. Für den Elementarunterricht ein anderer Lehrer. 3. Alleinige Direktion dieser Angelegenheit.1376
Prüfungskonzerte und Theateraufführungen der Schüler wurden zuweilen vom König besucht. Seit 1813 wurden Schüler des Instituts bei größeren Opern im Chor eingesetzt, seit Anfang des Jahres 1816 spielten Musikschüler im Orchester mit.1377 Die Umstände, die dazu führten, dass dieses Institut im Frühjahr 1818 plötzlich und unerwartet aufgelöst wurde, seien, so Georg Sowa, aus dem vorhandenen Aktenmaterial nicht ersichtlich.1378 Zwölf männliche und sieben weibliche Mitglieder wurden beim Hoftheater übernommen. Hierunter der Hofschauspieler Christian Friedrich Braun und die Hofschauspielerin Friedericke Schiedinger. Neunzehn junge Männer und sechs Mädchen wurden ohne Anstellung entlassen.1379 2.6.4 Die »Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit einer Kunstlehre für Schauspieler«1380 – August Klingemanns »Kunstschule für Schauspieler«1381 in Braunschweig (1816)
Ein »Lieblingsbild Ifflands«1382 war laut August Klingemann das Gemälde des holländischen Künstlers Jan Steen, das im 18. und 19. Jahrhundert noch unter dem Titel »Eheverschreibung«1383 bekannt war. Der Braunschweiger Künstler Carl Schröder fertigte 1376 Meyer, Willy (1927) : Ferdinand Esslair. Emmendingen : Druck- und Verlagsgesellschaft vormals Dölter [Dissertation]. S. 40. 1377 Vgl. Krauß, Rudolf (1908) : Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. S. 134 f. 1378 Sowa, Georg (1973) : Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland. S. 150. 1379 Vgl. Krauß, Rudolf (1908) : Das Stuttgarter Hoftheater von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. S. 135. Vgl. auch Auflösung des Musikinstituts, Übernahme von Zöglingen beim Hoftheater und Orchester, Entlassung der nicht angestellten Zöglinge und ihre Unterbringung (mit Verzeichnissen). StAL, F 420 I Bü 214. 1380 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler [1816]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 92–100. S. 94. 1381 Kopp, Heinrich (1901) : Die Bühnenleitung Aug[ust] Klingemanns in Braunschweig. Mit einem Anhang : Die Repertoire des Braunschweiger Nationaltheaters. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Hamburg und Leipzig : Leopold Voß. S. 18. 1382 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 97. 1383 Ebd. – Vgl. auch Pape, Ludwig (1844) : Verzeichniss der Gemälde-Sammlung des Herzoglichen Museums zu Braunschweig. 2., vermehrte Auflage. Braunschweig : Gebrüder Meyer. S. 152. Vgl auch
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von dem Bild um das Jahr 1798 eine Radierung an.1384 Iffland und seine Zeitgenossen sahen auf dem Bild, wie eine Besprechung von Schröders Kupferstich zeigt, einen jungen »bon vivant«, der »durch eine reiche Heurath sich neues Vermögen verschaffen« will. Er ist in seiner Bewerbung nicht unglücklich gewesen ; denn wir sehen ihn hier in einem reichen Hause, wie der marmorne Fußboden, die Säulen, die sammtnen Stühle von Bildhauerarbeit, die reichgewirkte türkische Tischdecke und selbst das große Stückfass […] beweisen. Es ist ein junges treuherziges Mädchen, welches ihm das Geld zubringt und das der schlaue junge Mann, auch selbst durch seine hübsche Figur, bald gewinnen konnte, wenn er nur die Einwilligung der Eltern sich erst verschafft hatte. Dies ist ihm nicht fehlgeschlagen ; denn wir sehen hier schon den Ehekontrakt schliessen.1385
Heute ist das Bild unter dem Titel Die Hochzeit des Tobias bekannt. Es zeigt die in den Apokryphen überlieferte Hochzeit zwischen Sara und Tobias (Tobias 7,16) in einem für das 17. Jahrhundert zeitgenössischen Ambiente eines Bürgerhauses. Klingemann erklärt, dass sich das Gemälde nach seiner »Rückwanderung aus dem Museum zu Paris wieder in Braunschweig befindet.«1386 Wie viele andere Kunstschätze war es während der napoleonischen Besatzung nach Paris geschafft worden. Steens Hochzeit des Tobias nahm hier einen prominenten Platz ein, denn es zierte Napoleons Arbeitszimmer im Schloss Saint Cloud bei Paris.1387 Nachdem Napoleon im Jahr 1815 endgültig kapitulierte, wurde die Forderung laut, die erbeuteten Kunstsachen an ihre ursprünglichen Aufbewahrungsorte zurückzugeben. Johann Ferdinand Friedrich Emperius, der seit September 1806 Direktor des herzoglichen Kunst- und Naturalienkabinetts, des heutigen Herzog Anton Ulrich-Museums, war, gehörte zusammen mit dem Galerieinspektor Anton Weitsch zu einer Kommission, die mit der Reklamation der Kunst- und Bücherschätze beauftragt wurde.1388
Klingemann, August (1821) : Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuch, Bd. 2. Braunschweig : G. C. E. Meyer. S. 465. 1384 Vgl. hierzu Schröder, Carl (um 1798) : Die Eheverschreibung. Radierung, Platte : 500 × 632 mm, Blatt : 558 × 740 mm. Herzog Anton Ulrich-Museum. URL : http://kk.haum-bs.de/ ?id=c-schroeder-v1-5426 (Stand : 09.05.2016). 1385 [Anonym] (1798) : Neuer Kupferstich. Die Eheverschreibung, nach einem orig. Gemählde der herzogl. Braunschweigischen Gallerie von Jan Stehen, gestochen von C. Schröder. In : Miscellaneen artistischen Inhalts für Künstler und Kunstliebhaber. Fortsetzung des Neuen Museums für Künstler und Kunstliebhaber, achtes Stück. S. 356–359. S. 356. 1386 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 97. 1387 Vgl. Höltge, Kathrin (2004) : Das Herzogliche Museum von 1806–1887. In : Das Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig und seine Sammlung : 1578 – 1754 – 2004. Hrsg. von Jochen Luckhardt. München : Hirmer. S. 201–253. S. 207. 1388 Vgl. ebd. S. 210–212.
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Abb. 18 Steen, Jan [auch : Johann] (1667/1668) : Eheverschreibung [Hochzeit des Tobias]. Leinwand, 131 × 172 cm. Braunschweig : Herzog Anton Ulrich-Museum.
Die beim Braunschweiger Theater beschäftigten Schauspieler können sich glücklich schätzen, schreibt Klingemann im Jahr 1816, daß sie das an ausgezeichneten Gemälden und trefflichen Kupferwerken reiche herzogliche Museum, unter der Anleitung des eben so gelehrten als geschmackvollen Direktors desselben, Herrn Hofraths Emperius, der uns im vergangenen Jahre die entwandten Kunstschätze aus Paris zurückführte, benutzen können.1389
Der gewöhnliche Schauspieler habe mit Malerei zwar nur dann etwas zu tun, so Klingemann, wenn er »sich das Gesicht male«1390. Das »Studium der Malerei«1391 verspreche aber für Schauspieler wichtige Einsichten. Bei der Betrachtung von historischen Gemälden – wie Lucas Cranachs Darstellung des »Churfürsten Johann Friedrich von Sachsen
1389 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 92. 1390 Ebd. S. 96. 1391 Ebd.
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mit seinem ganzen Hofstaate, nebst dem alten kraftvollen Luther«1392, die auch im herzoglichen Museum zu sehen sei –, erhalten die Schauspieler »eine vollständige Uebersicht, um sich nach dem pittoreskesten Geschmacke dieser Zeit zu kostümiren«1393. Das Studium der Malerei sei eine Übung in der Kunst, »ungewohnte Gewänder anzulegen, sie zu drappiren und die Farben richtig zu wählen«1394. Zum anderen könne das Studium der Malerei den Schauspieler wie in Ifflands Fall »zu ungewöhnlichen Leistungen begeistern.«1395 Steens Hochzeit des Tobias soll »in Rücksicht des Charakterstudiums«1396 ein Lieblingsbild Ifflands gewesen sein. Iffland »hatte es sich […] vorgenommen, mehrere der darauf abgebildeten Figuren bei seinen Darstellungen auf der Bühne zu verwirklichen.«1397 Er verweilte bei seinen Besuchen des Museums »gern lange« vor dem Bild, »um den Ausdruck in mimischer Hinsicht für seine Darstellungen aufzufassen.«1398 Historische Gemälde der flämischen oder altdeutschen Schule seien, so Klingemann, treue Darstellungen »ritterlicher Kraft und gesunden häuslichen Lebens, die zur künstlerischen Nachbildung auffordern !«1399 Ernst August Friedrich Klingemann, der Iffland vermutlich bei einem seiner Gastspiel in Braunschweig kennengelernt hatte,1400 besuchte ab 1795 das Collegium Carolinum in Braunschweig, pflegte Kontakt zu Joachim Heinrich Campe und publizierte mehrere Bühnentexte wie Die Maske1401, Selbstgefühl1402 oder Die Asseburg1403. Ab 1798 studierte er Rechtswissenschaft in Jena, wo er Ludwig Tieck und Clemens Brentano kennenlernte und Vorlesungen bei Fichte, Schelling und August Wilhelm Schlegel besuchte. Sein Drama Die Maske wurde sogar am 16. Juli 1800 am dortigen Liebhabertheater aufgeführt. Nachdem Klingemann 1801 nach Braunschweig zurückgekehrt war, seither etliche Dramen1404 ver1392 Ebd. 1393 Ebd. 1394 Ebd. S. 97. 1395 Ebd. 1396 Ebd. 1397 Ebd. 1398 Klingemann, August (1821) : Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuch, Bd. 2. S. 465. 1399 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 97. 1400 Vgl. Glaser, Adolf (1861) : Geschichte des Theaters zu Braunschweig. Eine Kunstgeschichtliche Skizze. Braunschweig : Verlag von H. Neuhoff. S. 78. 1401 Vgl. Klingemann, August (1797) : Die Maske. Trauerspiel in vier Aufzügen. Braunschweig : Carl August Schröder. 1402 Vgl. Klingemann, August (1800) : Selbstgefühl. Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen. Braunschweig : Carl August Schröder. 1403 Vgl. Klingemann, August (1797) : Die Asseburg. Historisch-romantisches Gemählde aus dem dreizehnten Jahrhunderte [Erstes Buch]. Braunschweig : Carl August Schröder. Vgl. auch Klingemann, August (1797) : Die Asseburg. Historisch-romantisches Gemählde. Dramatisirt, Anderer Theil. Braunschweig : Carl August Schröder. 1404 Vgl. Klingemann, August (1808) : Theater, Bd. 1 : Heinrich der Löwe. Martin Luther. Stuttgart und Tübingen : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. Vgl. auch Klingemann, August (1812) : Theater, Bd. 2 : Leise-
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öffentlicht und sich zu unterschiedlichen theaterästhetischen Themen geäußert hatte,1405 bemühte er sich im Jahr 1810 vergeblich um eine Anstellung als Dramaturg am Hamburger Theater unter Friedrich Ludwig Schröder. Am 3. Mai des gleichen Jahres heiratete er die Schauspielerin Elise Anschütz, die Mitglied der Walther’schen Truppe war, die regelmäßig in Braunschweig auftrat. »Walthers ungeordnete Lebensart«, so Klingemann, »und eine gewisse Hypergenialität, welche ihn, ohne alle Consequenz, von einem Extreme zum andern führte, bereitete bald seinem unweisen Haushalte den Untergang, und er starb zu gleicher Zeit, als die Bühne geschlossen werden musste.«1406 Ab 1813 übernahm Klingemann zusammen mit Walthers Witwe die Leitung der Theatertruppe, aus der im Jahr 1818 schließlich das Braunschweiger Nationaltheater unter Klingemanns Direktion hervorging. Der Schauspieler Ludwig Costenoble, der seit 1818 am Wiener Burgtheater engagiert war, notiert am 16. September 1819 nach einer gemeinsamen Reise mit Klingemann in seinem Tagebuch : Überhaupt verstehe ich mich mit dem guten Doktor [Klingemann] täglich mehr. Seine Weise ist so einfach, daß ich gar nicht, wie bei [Joseph] Schreyvogel, vor der Gelehrsamkeit und Superiorität zu erschrecken brauche.1407
Im Jahr 1816 gründete Klingemann »ein Institut, dem er den Namen ›Kunstschule für Schauspieler‹ beilegte. Diese Organisation bezweckte nicht etwa die Ausbildung junger Leute zu Bühnenkünstlern, sondern lediglich die Weiterbildung der bei der Braunschweiger Bühne angestellten Künstler.«1408 Denn Klingemann war der Ansicht, dass auf dem Gebiet der Schauspielkunst in Zukunft nur Höheres zu erwarten sei, wenn »neben jeder bedeutenden Bühne Kunstschulen für Schauspieler errichtet werden«1409. Dass Schauspieler »in der Regel […] ohne vorhergegangene höhere Kunstbildung (ja oft ohne alle Bildung überhaupt)«1410 sich der Schauspielkunst widmen, schlage sich oft darin nieder, so Klingemann, dass sie die »verschiedenen Prinzipien des Tragischen und Komischen«1411 nicht witz’ Todtenopfer. Cromwell. Die Entdeckung der neuen Welt. Columbus. Stuttgart und Tübingen : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. Vgl. auch Klingemann, August (1820) : Theater, Bd. 3 : Alfonso der Große. Das Vehmgericht. Oedipus und Iokasta. Stuttgart und Tübingen : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. 1405 Vgl. hierzu Klingemann, August (2012) : Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 7–84. 1406 Klingemann, August (1821) : Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuch, Bd. 2. S. 489. 1407 Costenoble, Carl Ludwig (1889) : Aus dem Burgtheater. Tagebuchblätter des Hofschauspielers und Regisseurs Carl Ludwig Costenoble [2 Bde], Bd. 1. Wien : Konegen. S. 56. 1408 Kopp, Heinrich (1901) : Die Bühnenleitung Aug[ust] Klingemanns in Braunschweig. S. 18. 1409 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler (Anhang zu den Vorträgen über Sculptur) [1817]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 110–119. S. 111. 1410 Ebd. S. 110. 1411 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 94.
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kennen, ihnen der »absolute Gegensatz der ältern und neuern Kunst«1412 unbekannt sei und sie oft weder fähig sind, »Verse zu skandiren«1413 noch »als moderne Höflinge [zu] conversiren«1414. Stelle man auf den »bedeutendsten deutschen Bühnen Prüfungen über diese Gegenstände an, um sich zu überzeugen, wie viele in dieser Rücksicht berufen«, erkenne man, so Klingemann, »wie wenige aber auserwählt«1415 seien. Schauspieler sprächen »metrische Rollen […] halb in Prosa, halb in Vers«1416, andere ließen sich Schillers Tragödien gleich »wie gewöhnliche Prosa ausschreiben […], um sie über den bürgerlichen Leisten der Umgangssprache schlagen zu können.«1417 Es sei seltsam, so Klingemann, daß unter allen Künstlern der Schauspieler in der Regel der unbekannteste mit der Kunst im Allgemeinen ist, ja daß es ihm ganz unnöthig scheint, sich näher mit derselben vertraut zu machen ; da er doch gerade derjenige vor allen andern ist, der keiner Kunst überhaupt entbehren kann.1418
Das Resultat dieses Mangels an »Kunstbildung«1419 und »Kunstsinn«1420, der selten mit dem »Darstellungstalent«1421 eines Schauspielers zusammenfalle, sah Klingemann in einer Aufführung von Schillers Maria Stuart, in der, wie er schreibt, »antike Helden und bürgerliche Hofräthe, biedere altdeutsche Ritter und trippelnde französische Petit-Maitres«1422 nebeneinander auftraten und einen »lächerliche[n] Kontrast«1423 auf der Bühne erzeugten. Auf den deutschen Bühnen werde, so Klingemann, »alles durcheinander gespielt«1424, Hamlet und Adällino1425 wechselten »nur die Kleider mit einander«1426, 1412 Ebd. 1413 Ebd. 1414 Ebd. 1415 Ebd. 1416 Ebd. 1417 Ebd. S. 95. 1418 Ebd. S. 94. 1419 Ebd. 1420 Klingemann, August (2012) : Briefe über Menschendarstellung [1800]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 7–18. S. 13. 1421 Ebd. 1422 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 93. 1423 Ebd. 1424 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen [1822]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 142–154. S. 146. 1425 Vgl. hierzu Zschokke, Heinrich (1796) : Abällino der grosse Bandit. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Zweite, vom Verfasser, für die Bühne abgeänderte Auflage. Leipzig und Frankfurt a. d. O.: Christian Ludwig Friedrich Apitz. 1426 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 146.
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hier conversirt einer in der Toga ; dort declamirt ein zweiter en escarpins [in hochhackigen Schuhen] ; da tritt ein antiker Marinelli [aus Lessings Emilia Galotti] herein ; dort ein alter Nordenrecke mit französischem porte-bras ; Hamlet der Däne à quatre épingles [vornehm gekleidet] ; Don Carlos als preußischer Fähnrich ausgreifend ; Posa als gothischer Raufbold, Tell als antiker Heros u. s. w.; dazu in einem und demselben Stücke das conversiren, declamiren, skandiren, toben, winseln und lispeln – eine wahre olla potrida [verfaulter Eintopf ] aus den entgegengesetztesten Bestandtheilen bereitet.1427
Einen Grund für diese Uneinheitlichkeit sieht Klingemann in der »Universalität«1428 des deutschen Nationalcharakters, in der »Fähigkeit sich alle verschiedenen Style und Grundformen anzueignen.«1429 Was die Poesie betrifft, habe man »den alten Norden und den romantischen Süden zu uns herübergezogen, die ächte Antike aus Griechenland und Rom entführt, das Mittelalter und die gothische Periode zurückgerufen und selbst den eigentlichen Codex aller Universalität, den Shakespear, unter uns nationalisirt.«1430 Eine verschärfende Bedingung für die uneinheitliche Darstellungsweise der Schauspieler bestand überdies in dem dramaturgischen und theaterästhetischen Positionsstreit, den Goethe und Schiller mit ihren Xenien1431 vom Zaun gebrochen hatten und der sich zu einer »ästhetische[n] Prügeley«1432 über das Theater im Allgemeinen auswuchs, an der sich auch Klingemann beteiligte. In seinen Briefen Ueber Schillers Tragödie : Die Jungfrau von Orleans1433 verteidigte Klingemann die Dramen Schillers gegen Garlieb Helwig Merkels Kritik, dass Schillers Sprache zu rhetorisch, zu dichterisch sei, die Personen nicht zu einander sprächen, sondern sich gegenseitig poetische Reden hielten und lediglich die Leidenschaften beschreiben würden, die sie auszudrücken hätten.1434 Merkel, der zusammen mit Kotzebue die Zeitschrift Der Freymüthige herausgab, die ein »Werbeblatt für die
1427 Ebd. S. 147 f. 1428 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 147. 1429 Ebd. 1430 Ebd. 1431 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 3 : Die Anstalt der »höhern Sinnlichkeit« – Schauspielkunst als schöne Kunst und das Theater als Anstalt ästhetischer Bildung. 1432 Cerberus, Angelus [Pseudonym] (1803) : Die ästhetische Prügeley oder der Freymüthige im Faustkampf mit den Eleganten. Zweyaktige Posse in gewogenen Versen. Neu-Athen. – Vgl. hierzu auch Schmitz, Rainer (1992) : »Poetenblut düng’ unsern platten Grund«. Der deutsche Dichterkrieg 1799–1804. In : Die ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung. Hrsg. von Rainer Schmitz. Göttingen : Wallstein. S. 247–315. 1433 Vgl. Klingemann, August (2012) : Ueber Schillers Tragödie : Die Jungfrau von Orleans [1802]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 19–51. 1434 Vgl. Merkel, G[arlieb] (1801) : Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur, Bd. 3 : Vom Mai – August 1801. Berlin : Karl Quien. S. 556.
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Rühr- und Familienstücke«1435 war, vertrat die Auffassung, dass das Bühnengeschehen stets dem Gebot der Natürlichkeit unterworfen sein und der Kritik des gesunden Menschenverstandes standhalten müsse. »Ein verschollener Kunstrichter und rüstiger Verfechter der Täuschung und des Natürlichkeitssystems in der Kunst«, schreibt Klingemann, »sagte damals dreist dem ganzen deutschen Publikum : daß ihn Schillers Maria Stuart nie täuschen werde, weil sie, gegen alle gewöhnliche Art, in Versen, ja sogar in Reimen sich explicire.«1436 Kotzebues und Ifflands Rühr- und Familienstücke bewertet Klingemann hingegen als Dramen, die sich einer kleinbürgerlichen und in sich widersprüchlichen Moral verschrieben hätten und eine naturalistische Vernünftelei betreiben würden. Klingemann verteidigt dagegen das Magische und Wunderbare in der Dramatik. Überhaupt hält Klingemann die moralpädagogische Verzweckung des Theaters für historisch überholt : »Das Theater ist keine Sittenschule.«1437 Den Zweck des Theaters sieht Klingemann vielmehr in der reinen »Freude«1438 und dem »Vergnügen«1439 der Zuschauer. Er schloß sich damit wie Koller1440 einer von Kant und Schiller ausgehenden idealistischen Theaterästhetik an. Die beiden schauspielerischen Darstellungsweisen, die mit diesen konträren Theatervorstellungen – das Theater als Anstalt moralischer oder ästhetischer Erziehung – korrespondierten, bezeichnete Klingemann in einer schematisierten Gegenüberstellung zum einen als »ideale«1441, »poetische«1442, »declamierende«1443, kurz als »Göthesche«1444 Schule,
1435 Conter, Claude D. (2007) : August Klingemanns Theaterreform. Zur Bedeutung Schillers und der Frühromantik für die Neubegründung des Unterhaltungsdramas um 1800. In : Das Unterhaltungsstück um 1800. Literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne. Zur Geschichte des Theaters als Reflexionsmedium von Gesellschaft, Politik und Ästhetik. Hrsg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Hannover : Wehrhahn. S. 230–267. S. 236. 1436 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 95. 1437 Klingemann, August (2012) : Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirektion bei der Auswahl der aufzuführenden Stücke leiten ? [1802]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 52–70. S. 53. 1438 Ebd. S. 55. 1439 Ebd. S. 57. 1440 Vgl. hierzu Kap. 2. 6. 1 : »Der ungebildete, ungelehrte Schauspieler ist ein Charlatan« – Joseph Koller, Friedrich August Burgmüller und die Theaterschule zu Regensburg (1805–1809). 1441 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 92. 1442 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 148. 1443 Ebd. 1444 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 93.
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die Gegenposition nannte er die »reale«1445, »prosaische«1446, »conversirende«1447, kurz die »Eckhoff-Iffland’sche«1448 Schule.1449 Wie Karl Wilhelm Reinhold, der sich nach seinem Abschied von der Weimarer Bühne in dem anonymen Pamphlet Saat von Göthe gesäet gegen die »Marionetten-Manier«1450 der Weimarer Schule wandte, sah auch Klingemann in Iffland einen Anhänger der »Realisten«1451, deren »redende Schauspielkunst […] auf Artikulation und einiger Accentuation«1452 beruhe und für die Darstellung des Individuellen und Charakteristischen geeignet sei. Weniger begabte Schauspieler verfielen bei diesem Darstellungsstil in die »flachsten Kopieen des gewöhnlichen Lebens«1453. Klingemann war der Auffassung, durch eine vielseitige und abwechslungsreiche Spielplangestaltung die »Ausbildung des Geschmacks zu befördern«1454, denn nichts stehe 1445 Ebd. 1446 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 148. 1447 Ebd. 1448 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 93. 1449 Auch der Schriftsteller Albert Emil Brachvogel konstatiert in seinen 1863 veröffentlichten Theatralischen Studien, dass es derzeit zwei Schulen der Schauspielkunst gebe : »Diese beiden Richtungen, Spielweisen, oder Arten des mimischen Styls hat man sich gewöhnt, die alte und die neue Schule zu benennen. Verfasser dieses möchte sie lieber als ›natürliche‹ und ›gekünstelte‹ Schule bezeichnen« (Brachvogel 1863 : 40). Laut Brachvogel unterscheiden sich die beiden Darstellungsstile dadurch, wie sie dramatische Charaktere dem Publikum präsentieren : Die »sogenannte alte, oder natürliche Kunstrichtung der Schauspieler« konzentriere sich darauf, bei der Darstellung von Charakteren das herauszuarbeiten, was der dramatische Charakter mit den Zuschauern gemein habe (Brachvogel 1863 : 40). Die »sogenannte neue Kunstschule, auch die realistische fälschlich genannt«, zeige insbesondere das, was die Charaktere einzigartig mache, was sie vom Zuschauer absondere. Da Brachvogel aber die Identifikation des Publikums mit den Bühnenfiguren als eine wesentliche Bedingung für eine wirkungsvolle Theateraufführung erachtet, favorisiert er die alte Schauspielpraxis, »welche leider nur noch wenige Repräsentanten und noch weniger junge Nacheiferer« habe (Brachvogel 1863 : 40). Die neue Schule würdige das Publikum »zum Janhagel [Pöbel] einer Reiterbude herab, statt ihm durch Erregung aller menschlichen Affecte eine sittliche Reinigung zu bereiten, die wohltätig in’s bürgerliche Leben dringt und es verschönt« (Brachvogel 1863 : 54). 1450 [Reinhold, Karl Wilhelm] (1808) : Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. Ein Handbuch für Aesthetiker und junge Schauspieler. S. 57. – Vgl. hierzu auch Kap. 2. 5 »Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben« – Goethes Theaterschule am Weimarer Hoftheater. 1451 [Reinhold, Karl Wilhelm] (1808) : Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. Ein Handbuch für Aesthetiker und junge Schauspieler. S. 18. – Klingemann notiert, dass Iffland »keine Verse vortragen« konnte. »Der Name Vers war Iffland schon an sich ein Greuel, und so hörte ich denn auch jetzt noch in einem und demselben Stücke Verse sprechen und Verse radebrechen« (Klingemann 1819 : 385). 1452 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 95. 1453 Ebd. S. 93. 1454 Klingemann, August (2012) : Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirektion bei der Auswahl der aufzuführenden Stücke leiten ? S. 66.
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der »Verbildung«1455 mehr im Weg als die »Manchfaltigkeit«1456. Auch der Schauspieler werde durch einen einseitigen Spielplan »in seiner Ausbildung gänzlich gehindert […] ; ein solcher z. B., der beständig in Iflandschen Familiengemälden auftreten muß, wird unfähig seyn, der Darstellung einer Schillerschen oder Shakespearschen Tragödie Genüge zu leisten«1457, die eine ideale Darstellungsweise verlangen. Als Vertreter einer solchen idealen Darstellungsweise, die »mehr schöne Rede – als eigentlich – Schauspielkunst«1458 sei, sich weniger zur Darstellung der »gewöhnliche[n] Wirklichkeit«1459 eigne und in einen »falschen Pathos«1460 kippen könne, erachtete Klingemann die Schauspielerin Henriette »Hendel-Schütz«1461 sowie den Schauspieler »Patrik-Peale«1462. Peale, der mit wahrem Namen Gustav Anton Freiherr von Seckendorff hieß, gab »mehrere Gastabende«1463 in Braunschweig, wurde 1814 als Professor für Philosophie und Ästhetik ans Collegium Carolinum1464 gerufen und veröffentlichte zwei Jahre später seine Vorlesungen über Deklamation und Mimik1465. Auch Peale war der Auffassung, dass »der besondern Bildung des Schauspielers […] Theaterschulen gewidmet seyn«1466 sollten. Friedrich Pockels, ein Braunschweiger Hofrat, schreibt über Peale, dass dieser »hochgebildete Künstler […] mit reiner Auffassungsgabe den Sinn der bildlichen Antike
1455 Ebd. 1456 Ebd. 1457 Klingemann, August (2012) : Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirektion bei der Auswahl der aufzuführenden Stücke leiten ? S. 66. 1458 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 149. 1459 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 93. 1460 Ebd. 1461 Ebd. S. 97. 1462 Ebd. – Seckendorff war im Jahr 1796 nach Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania der Vereinigten Staaten gereist, um dort Schauspielern Privatunterricht in »Musik und Declamation« zu erteilen (Brümmer 1891 : 517). In der Allgemeinen Deutschen Biographie aus dem Jahr 1891 heißt es, dass er unter »dem Einfluß einer krankhaften Ueberreizung« im Jahr 1821 abermals in die Vereinigten Staaten auswanderte und dort in Alexandria im Bundestaat Louisiana »im Sommer 1823 arm und elend gestorben« sei (Brümmer 1891 : 518). 1463 Müller, Theodor (1973) : Lehrkräfte am Collegium Carolinum zu Braunschweig zwischen 1814 und 1862. Braunschweig : Braunschweiger Hochschulbund. S. 30. 1464 Vgl. hierzu auch Tütken, Johannes (2005) : Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831), Teil 2 : Biographische Materialien zu den Privatdozenten des Sommersemesters 1812. Göttingen : Universitätsverlag. S. 906–915. Vgl. hierzu auch Müller, Theodor (1973) : Lehrkräfte am Collegium Carolinum zu Braunschweig zwischen 1814 und 1862. S. 29–31. 1465 Vgl. Seckendorff, G[ustav] Freyherr von (1816) : Vorlesungen über Deklamation und Mimik, [2 Bde.]. Braunschweig : Friedrich Vieweg. 1466 Seckendorff, G[ustav] Freyherr von (1816) : Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd. 2. Braunschweig : Friedrich Vieweg. S. 381.
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studiert«1467 habe. Über seine »mimischen Darstellungen«1468 am 31. August 1811 in Braunschweig schreibt Pockels aber, dass sie nicht bei allen Zuschauern Beifall fanden. In pantomimischen Standbildern stellten Peale, seine Frau und zwei ihrer Kinder verschiedene mythologische, historische und religiöse Motive sowie dramatische Charaktere vor. Sie zeigten Jupiter und Juno, den Kindermörder, die trauernde Niobe, das allegorische Gemälde Die Nacht, welche den kindlichen Morgen trägt, Macbeth, »Belifaires«1469 Heimkunft und Tod sowie Das Gebet des Erlösers am Ölberg. Ferner stellten sie verschiedene Gemütszustände dar : »Zerstreutheit, Dummheit, Blödsinn, Irrsinn, Wahnsinn, Mißgunst, Neid, Habsucht, Geitz, Neugierde, Plauderhaftigkeit, Schadenfreude aus Dummheit, aus Bosheit, Witzelei, Adelstolz, Kaufmannsstolz, Gelehrtenstolz, Bauernstolz.«1470 Nicht alle pantomimischen Ausdrücke waren, so Pockels, ohne Erläuterungen verständlich gewesen – ein Problem, auf das Engel schon in seinen Ideen zu einer Mimik hingewiesen hatte.1471 Die Darbietungen entsprachen jedoch Klingemanns Forderungen an einen idealen Darstellungsstil, bei dem sich der Schauspieler als »wandelnde Plastik«1472 über die Bühne bewege und Bühnenstücke wie »successive Gemälde«1473 betrachtet werden können. »In dieser Art der Darstellungen sind auch schon die Zuschauer schwerer zu befriedigen«1474, bemerkt Pockels. Theils weil sie den Ideen- und Geschichtsgang der Pantomime nicht sogleich fassen können, und ihre Phantasie dabei umherschweift ; Theils auch darum, weil sie dem Mimischen freigebig genug ihre eigenen Ideen unterschieben, die mit denen des Künstlers vielleicht gar keinen Zusammenhang haben, – und mancher es wol eben so gut zu machen glaubt.1475
Am zweiten Abend stellte Peale neben Statuen und Pantomimen – wie Oedipus und Iokaste, Paulus Erleuchtung, Abrahams Opfer und Joseph und Madonna auf der Reise – auch Deklamationen vor. Er rezitierte den Kerker-Monolog aus Goethes Egmont, Goethes Ge1467 Pockels, C[arl] F[riedrich] (1811) : Ueber die mimischen Darstellungen des Herrn Patrik Peale in Braunschweig. Den 31sten August 1811. In : Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, Jg. 9. Nr. 181 [10.09.1811]. S. 723–724. S. 723. 1468 Ebd. 1469 Ebd. S. 724. 1470 Ebd. 1471 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 2. 3. 2 : Die »Präcision des Ausdrucks« – Das Lehren und Lernen einer natürlichen Schauspielkunst als Reflexion des Umgangs in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik. 1472 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler (Anhang zu den Vorträgen über Sculptur). S. 118. 1473 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 98. 1474 Pockels, C[arl] F[riedrich] (1811) : Ueber die mimischen Darstellungen des Herrn Patrik Peale in Braunschweig. S. 723. 1475 Ebd.
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Theaterschulen und Ausbildungskonzepte der Schauspieler im 18. und frühen 19. Jahrhundert
dicht Hochzeitslied und Johann Heinrich Voß’ Gedicht Der Flausrock – allerdings ohne die »Härten des sächsischen Dialekts«1476 gänzlich ablegen zu können. Der von Klingemann angestrebte vielseitige Spielplan, der neben Rühr- und Familienstücken »des gebildeten Theils [des Publikums] wegen«1477 auch Tragödien Schillers und Shakespeares beinhalten sollte, erfordert von den Schauspielern beide Darstellungsweisen – Ifflands und Peales, die reale sowie die ideale – zu beherrschen. Denn ein »jedes selbstständige dramatische Gedicht verlangt sein Recht«, so Klingemann, »und es will ganz in dem Geiste, wie es vom Dichter empfangen und aufgefaßt ist, wiedergegeben werden.«1478 Jedes Drama solle also von den Schauspielern werktreu aufgeführt werden : Hier haben wir eine Göthesche Iphigenie, ganz im gehaltensten antiken Style ; dort einen Götz von Berlichingen, durchweg fester gothischer Kern ; hier die schauerliche nordische Romantik in Oehlenschlägers noch nicht genug bei uns geschätzten, ächt nationalen Dramen ; dort das Blühende und Glühende der südlichen Romantik in Calderon und andern ; hier Schillers verschiedene Dramen, von denen jedes einen in sich geschlossenen Mikrokosmus abgiebt : – Franzosen und Engländer, Idealismus und Realismus, galante Chevallerie und überirdische Verklärung in der Jungfrau ; ächter, treuer Schweizercharacter, urkräftiger Bergvolk, im Tell ; durchgeführte Spanische Grandezza in Don Carlos ; politisch-kalter Protestantismus und begeisterte Religion der Künste in Maria Stuart ; großartige Portaits des dreißigjährigen Krieges und stille Treue bis zum Tode in Wallenstein u.s.w. – Weiterhin gar Shakesspear mit seiner poetischen Weltgeschichte und jenen gigantischen Gebilden, welche wie eigene Schöpfungen, auch in sich selbst ihre Regeln und Gesetze enthalten : – alles dieses, und so manches Eigenthümliche, wodurch das Nationale und Klimatische auf den Styl der Dichtung und Darstellung einwirkt – – welch ein unermeßlich, reiches Feld für die Kunst des Schauspielers und wie wenig bei uns, besonders im Zusammenhange und seiner cohärirenden Totalität, gewürdigt, erkannt und kultivirt.1479
Dieses unermesslich reiche »Feld für die Kunst des Schauspielers«1480 – die Antike, die Gotik, die nordische und südliche Romantik, Schillers historische und bürgerliche Dramen, Shakespeares Dramen sowie das »Eigenthümliche, wodurch das Nationale und Klimatische auf den Styl der Dichtung und Darstellung einwirkt«1481 – bildet das er1476 Vgl. [Pockels, Carl Friedrich] (1811) : Ueber die mimischen Darstellungen des Herrn Patrik Peale in Braunschweig (Schluß). In : Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, 9. Jg. Nr. 191 [24. 09. 1811]. S. 763–764. S. 763. 1477 Klingemann, August (2012) : Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirektion bei der Auswahl der aufzuführenden Stücke leiten ? S. 67. 1478 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 149. 1479 Ebd. S. 150. 1480 Ebd. 1481 Ebd.
Theaterschulen und Theaterschulkonzepte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
forderliche Curriculum für die Ausbildung eines Schauspielers. Denn dieses kunst- und literaturgeschichtliche Studium helfe dem Schauspieler bei der »Ausbildung der verschiedenen Style in seinen theatralischen Darstellungen«1482. Nicht mehr das Studium der Natur, wie es noch Diderot, Löwen oder Engel für die Praxis einer natürlichen Schauspielkunst gefordert haben, sieht Klingemann als Ausbildungsgrundlage an. Er rückt vielmehr das kunstgeschichtliche Studium und die Auseinandersetzung mit den schönen Künsten in den Mittelpunkt der Schauspielerausbildung, damit Schauspieler bei ihrer Darbietung den dramatischen Werken und dem »Geist«1483, der ihnen zugrunde liege, gerecht werden können. Hierin liege die »Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit einer Kunstlehre für Schauspieler«1484. »Studiere die unsterblichen Werke der Kunst – sei aber zugleich selbst Schöpfer !«1485, ruft Klingemann dem angehenden Schauspieler entgegen und meldet in der Zeitung für die elegante Welt in der Ausgabe vom 21. Juni 1816 : Von Seiten der Direktion übrigens ist alles gethan, um hier in Braunschweig eine Kunstschule für Schauspieler vorzubereiten, und Unterzeichneter [Klingemann] widmet gern einen Theil seiner Zeit zu Vorträgen über die verschiedenen Künste selbst, indeß das herzogliche Museum den Mitgliedern der Bühne geöffnet ist und Herr Hofrath Emperius, so wie Herr Inspektor Weitsch sehr gütig sich der Belehrung derselben, in Hinsicht der darin befindlichen Kunstschätze, unterziehen. Im Fechten unterrichtet der bei dem Collegio Carolino angestellte Lehrer der Gymnastik, Herr Prössel, auch hat sich ein zweckmäßiger Lehrer für die theatralische Tanzkunst gefunden.1486
Klingemanns Kunstschule für Schauspieler bot also einerseits Unterweisungen in Fecht- und Tanzkunst, »populär[e] und faßlich[e]«1487 Vorlesungen zur »nothwendige[n] Kunstlehre«1488 sowie Führungen durch die herzogliche Kunstsammlung, andererseits wurde von den Schauspielern die Einhaltung der Gesetzlichen Verordnungen für das Nationaltheater in Braunschweig sowie ein strenges Selbst- und Rollenstudium verlangt.
1482 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 151. 1483 Ebd. S. 149. 1484 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 94. 1485 Klingemann, August (2012) : Briefe über Menschendarstellung [1800]. In : August Klingemann. Theaterschriften. Mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina. Hannover : Wehrhahn Verlag. S. 7–18. 1486 Klingemann, August (1816) : Korrespondenz und Notizen. Aus Braunschweig. In : Zeitung für die elegante Welt, 16. Jg. Heft 120. Sp. 958–960. Sp. 960. 1487 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 92. 1488 Ebd.
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Da das herzogliche Museum neben der Kunstsammlung auch über eine umfangreiche naturkundliche Sammlung mit Tierskeletten, ausgestopften Vögeln, Mineralien und anatomischen Nasspräparaten verfügte, wurde es bereits seit 1754 von den Mitgliedern des Collegium Carolinums als Lehrsammlung und Lernort genutzt.1489 Traditionell übertrug man daher die Direktion des Museums einem Professor des Collegiums. Direktor Emperius, dem 1806 die Direktion übertragen wurde, hatte in Göttingen Theologie und Philologie studiert und war nach einem mehrjährigen Englandaufenthalt seit 1788 Professor für klassische Philologie und englische Sprache am Collegium. Sein Mitarbeiter Anton Weitsch war Maler und zuständig für die Restauration und Instandhaltung der Sammlungsstücke.1490 Den Angehörigen der Bühne wurde das Museum zu Studienzwecken zugänglich gemacht und sie erhielten von Emperius und Weitsch sachkundige Führungen durch die Kunstsammlung. Denn die Malerei sei wie gesagt laut Klingemann ein Studienfeld, das für Schauspieler nützliches Geschichtswissen bereithalte und zugleich als Inspirationsquelle dienen könne. Die Bauernszenen des flämischen Malers David Tennier seien für den Komiker »ein reiches Feld für kräftige Darstellungen behaglicher Natur, und [William] Hogarth ist unerschöpflich für den Schauspieler, der originelle Karikatur zu liefern sich vorgesetzt hat.«1491 Wem es gelinge, das Bühnengeschehen mit »dem Auge des Malers zu betrachten«1492, könne von der Malerei gleichsam die Kunst der Komposition, der Anordnung von Körpern im Bühnenraum und Personengruppen auf der Bühne, lernen. Da die Handlung vieler dramatischer Werke »auf altem klassischen Boden vorgeht ; so ist es nothwendig, daß der Schauspieler auch in allem Wesentlichen auf demselben heimisch[…]«1493 werde. Das »Studium der Skulptur«1494 und das »Studium der Antike«1495 seien unerlässlich, um »echt antike Darstellungen auf der Bühne«1496 aufführen zu können. Nur die Auseinandersetzung mit antiken Skulpturen könne dem Schauspieler »eine Reihe von Attitüden und Stellungen nach echt antiker Haltung vergegenwärtigen, die, wenn er sich gehörig in sie hineingeschaut, d.h. wenn er das Eigenthümliche in 1489 Büttner, Andreas (2004) : Die Sammlungen der Herzöge des Neuen Hauses Braunschweig bis zur Gründung des Herzoglichen Kunst- und Naturalienkabinetts. In : 250 Jahre Museum. Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen : Von der fürstlichen Sammlung zum Museum der Aufklärung. Ausstellung in der Burg Dankwarderode, 29. April bis 22. August 2004. Hrsg. von Alfred Walz. München : Hirmer Verlag. S. 31–46. S. 36. 1490 Vgl. Höltge, Kathrin (2004) : Das Herzogliche Museum von 1806–1887. S. 216 f. 1491 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 97. 1492 Ebd. S. 98. 1493 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler. S. 110. 1494 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 99. 1495 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler. S. 111. 1496 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 99.
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ihnen […] scharf und bestimmt aufgefaßt hat«1497, ihm die Kunst der Komposition, der Anordnung von Gliedern und Körpern auf der Bühne, lehren. Die Plastik der Griechen, so Klingemann, sei der »Vorhof zur idealen Schauspielkunst«1498. Um aber das »Einfache und Ruhige des klassischen Styles«1499 zu erfassen und nicht mit der »Manier«1500 und »Verkünstelung«1501 – wie in Gian Lorenzo Berninis Skulpturen – zu verwechseln, bedürfe es eines eingeweihten »Führer[s]«1502 durch den Antikensaal. Der »Gang dieses Studiums«1503 müsse die genaue Betrachtung der Gesichtszüge, der Hände und Gesten der Skulpturen sowie ihrer ganzen Gestalt umfassen. An »antiken Köpfen«1504 lasse sich, so Klingemann, die Ruhe und Bewegung in der Mimik, der Ausdruck von Affekten studieren. Sie lassen Fehler und üble »Angewohnheiten«1505 im eigenen Gesichtsausdruck erkennen : »Affektation und Koketterie, ja selbst das Bestreben nach Grazie und Anmuth manierirt […] die Gesichter unserer jungen Männer und Frauen oft auf das seltsamste«1506. Der Anblick des »Prototyps«1507 der menschlichen Gestalt, den Klingemann in den antiken Skulpturen zu erkennen glaubt, wirke wie ein Korrektiv auf den Betrachter. Das »Antlitz der Antike«1508 gleiche einem »Kunst- und Schönheitsspiegel zur Berichtigung und Verbesserung der Grundzüge unserer eigenen Physiognomie«1509. Gleichzeitig lasse sich von den antiken Gesichtszügen lernen, wie sich Affekte ohne hässliche Verzerrungen »und ohne alles Manierte«1510 im Gesicht abbilden lassen. Im Gesicht des vatikanischen Apollo sehe man Zorn, die Gesichter Laokoons und Niobes drückten tragischen Schmerz aus und die Miene der Venus de’ Medici sei Ausdruck holder Anmut. Das Wichtigste, worauf ein Schauspieler bei der Betrachtung von antiken Skulpturen zu achten habe, sei aber ihr Stand. Anders als beim »modernen Tanzmeister«1511, bei dem sich die Füße »unter Schmerz und Pein zu den sogenannten graziösen Positionen bequemen«1512 müssen, welche aber in der Tat »höchst albern und lächerlich
1497 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 99. 1498 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler. S. 112. 1499 Ebd. S. 111. 1500 Ebd. 1501 Ebd. 1502 Ebd. 1503 Ebd. S. 112. 1504 Ebd. 1505 Ebd. S. 113. 1506 Ebd. 1507 Ebd. S. 111. 1508 Ebd. S. 114. 1509 Ebd. 1510 Ebd. 1511 Ebd. S. 115. 1512 Ebd.
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erscheinen«1513, korrespondiere im Stand antiker Skulpturen das »Gesetz der Schönheit«1514 mit dem »Gesetz der Natur«1515. Mit Verweis auf Winckelmanns Beobachtungen, wie die Bewegungen der Hände und die Stellung der Finger bei antiken Skulpturen gestaltet sind, erklärt Klingemann, dass Schauspieler an ihrer einfachen Schönheit erkennen können, wie »überkünstlet und manierirt«1516, wie unedel und formlos ihr Zusammenkneifen der Finger wirke. Die Vorlesungen über die Bedeutung antiker Skulpturen und der schönen Künste für die Schauspielkunst, die Klingemann den Schauspielern hielt, erschienen 1817 in einer gedruckten Fassung in Helmstedt. In der Zeitung für die elegante Welt veröffentliche er vorab die Einleitung sowie einen Anhang zu seinen »Vorträgen über Sculptur«1517. Seine Vorlesungen sollten »populär und faßlich dem Künstler (der seiner fortwährenden praktischen Beschäftigung halber, nicht für Abstraktion gestimmt ist), die ihm nothwendige Kunstlehre«1518 vermitteln. Klingemann war aber der Auffassung, dass eine schulische Ausbildung von Schauspielern kein Garant dafür sei, Künstler hervorzubringen. Im Jahr 1826 schreibt er, dass der Weg zur höhern Schauspielkunst keineswegs durch die Schulen [führe], wie manche es glauben machen mögten ; denn in den Schulen gewinnt man nur was eben erlernt werden kann, und das ist nun gerade hier nicht das Höchste. Dazu sind unsere neuesten Schauspielerschulen auch immer Schulen der Einseitigkeit gewesen, […]. Jene höhere Ansicht eurer Kunst kann nur vom eigenen Genie ausgehen1519.
Bereits im Jahr 1800 verfasste er eine Reihe von Briefen über Menschendarstellung, deren Titel eindeutig Bezug auf Ifflands Briefe über die Schauspielkunst und seine Fragmente über Menschdarstellung nehmen. Klingemann schreibt hier, dass das »ästhetische Genie«1520 geboren werde. Am Anfang der Briefe, die Bruchstücke einer systematischen Übersicht über die Schauspielkunst sein sollen, fordert Klingemann daher den angehenden Schauspieler auf, sich zuerst selbst zu prüfen, ob er über einen reinen »Geistessinn für das 1513 Ebd. 1514 Ebd. 1515 Ebd. 1516 Ebd. S. 116. 1517 Klingemann, August (2012) : Bruchstück aus den Vorlesungen für Schauspieler. S. 110. 1518 Klingemann, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 92. – In einer Fußnote seiner Arbeit über Klingemanns Bühnenleitung schreibt Heinrich Kopp 1901 jedoch, dass das Buch »vergriffen« sei und er es »von keiner Seite her erlangen« konnte (Kopp 1901 : 18). Kopps Feststellung gilt leider noch heute, sodass allein Klingemanns vorab veröffentlichte Auszüge einen ungefähren Eindruck seiner Vorlesungen vermitteln. 1519 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 153. 1520 Klingemann, August (2012) : Briefe über Menschendarstellung. S. 10.
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Erhabene und Große, ein tiefes Gefühl für jedes Edle und Schöne, verbunden mit dem immerwährenden Drange es sich zu eigen zu machen«1521, verfüge. Nur dann, wenn dieser Bildungstrieb vorhanden sei, solle er seine Ausbildung durch ununterbrochene Übung fortsetzen, Werke der Kunst bewundernd und zweifelnd studieren und sich permanent zu künstlerischer Selbsttätigkeit auffordern. Der Ausbildungsprozess, den ein Schauspieler durchlaufe, sei stets ein Prozess der Selbstbildung. Denn Menschendarstellung, »die Handlung des Künstlers, wodurch er die individualisirten Phantasiebilder des Dichters in den Raum stellt, und sie durch Uebertragung in seine Person, zur sinnlichen Anschauung erhebt«1522, ist für Klingemann »ein Ringen des Künstlers mit sich selbst.«1523 Bisher habe man diesem Umstand, dass in der Schauspielkunst Kunstobjekt und Künstlersubjekt eine unhintergehbare Einheit bilden, zu wenig Beachtung geschenkt : Der Stoff, in den der Bildhauer arbeitet, ist der todte leblose Stein, der willig unter seinem Meisel, jede dem Künstler beliebige Form annimmt ; nicht so der Stoff des Menschendarstellers, dieser ist ein Thätiges, ein Handelndes und zwar als solches ein Individualisiertes – ist zugleich das Kunstwerk, und der Künstler.1524
Der Verwandlungsprozess, den ein Schauspieler auf der Bühne vollziehe – mit Freiheit sich selbst vergessen und ein fremdes Individuum in sich hinübertragen –, erfordere von ihm, den »Stoff zuvor genau kennen [zu] lernen, um ihm den Vortheil abzugewinnen, ihn sich selbst unterwerfen zu können, und mit Freiheit über sich zu herrschen.«1525 Klingemann ist der Ansicht, dass der Schauspieler zunächst ein Bild seines eigenen Charakters gewinnen müsse, um fremde Charaktere darstellen zu können. »Lerne dich selbst kennen !«, ist daher seine Aufforderung an die angehenden Schauspieler. Gleichwohl ist Klingemann bewusst, dass streng genommen »die Erkenntniß unserer Selbst nicht möglich«1526 ist. Der Mensch ist sich selbst das größte Rätsel in der Natur ! […] – Er wagt es nicht über sich nachzudenken. Eine solche einsame Meditazion, wobei wir bloß das große Buch unserer selbst aufschlagen, könnte wahrlich von einem Nuzen sein, den wir nie auf eine andere Art in einem so hohen Grade für uns ziehen können ; – hier entwickelt sich das leise Getriebe unserer Empfindungen, die feinsten Federn zu unsern Handlungen, biethen sich nach und nach der Ansicht dar – freilich schwindet da manches stolze Selbstgefühl bei der Erkenntniß der Grundtriebe unseres Handelns, aber auf der andern Seite ziehen wir uns und andere den größesten Nuzen in psychologischer Hinsicht.1527 1521 Ebd. S. 9. 1522 Ebd. S. 12. 1523 Ebd. 1524 Ebd. S. 11. 1525 Ebd. S. 15. 1526 Ebd. S. 14. 1527 Ebd.
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Neben dieser Meditation fordert Klingemann ferner ein äußerliches »Reinigungsgeschäft«1528 vom Schauspieler. Von allen »bösen Angewohnheiten, Nachlässigkeiten und Unarten in Sprache, Ausrede, Miene, Haltung, Gang, Stellung und Bewegung« solle er sich befreien, »so daß seine Erscheinung eine durchaus reine und untadelhafte ist, welche jede Form leicht aufnehmen und sich ihr anschmiegen kann.«1529
1528 Klingemann, August (2012) : Ueber den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen. S. 151. 1529 Ebd.
Schluss Bildungstheater und Theaterbildung
Wer bin ich denn, wenn die Larven verschwinden sollten ?1 – Klingemann
1 Klingemann, August (1974) : Nachtwachen von Bonaventura [1804]. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jost Schillemeit. Frankfurt a.M.: Insel Verlag. S. 130.
1 Und »wir Künstler kleideten uns in einem Kuhstall um«1 – Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens im Zeitalter der Aufklärung
[Rechts] sitzt offenbar die Königinn des Himmels, Juno, mit der Krone auf dem Haupte und dem Buche vor sich. Sie studirt ihre Rolle, und um diese Zeit auch sonst noch zu nützen, streckt sie ihr unstrebliches Bein hin auf eine umgestülpte Schiebkarre, und läßt sich von der Göttin der Nacht im Sternengewand die ewigen Strümpfe flicken.2
In den Ausführlichen Beschreibungen der Hogarthischen Werke beschreibt Georg Christoph Lichtenberg das Bild Strolling Actresses Dressing in a Barn. Es zeigt eine Gruppe von Schauspielern, die sich für ihre letzte Aufführung in einem Stall umkleiden. Die Dokumente im unteren Bildrand deuten auf den Act against strolling actors von 1737 hin, der es verbot, außerhalb von London und Westminster Theateraufführungen zu veranstalten. Den »Mangel an Achtung«3, den die Schauspieler gegen diesen Erlass aufbringen, zeige sich, so Lichtenberg, an seiner Platzierung zwischen »Kaiserkrone«4 und einem »Pfännchen mit Kinderbrey«5. Auf dem Theaterzettel, der »auf dem Bette, gleich hinter dem Brat-Rost, neben den zerbrochenen Eyern, dem Nacht-Topfe und dem leeren Paar Hosen«6 liegt, wird angekündigt, dass »eine Gesellschaft von Schauspielern von den Londonschen Theatern (Elsasser Capwein) diesen Abend im Wirthshause aufführen werde : The devil to pay in Heaven, Des Teufels Lärm im Himmel.«7 Gemeint ist die von Charles Coffey und John Mottley verfasste Farce The devil to pay, or the metamorphos’d Wives,8 die auf Thomas Jevons Stück The Devil of a Wife, or a Comical Transforma-
1 Weilen, Alexander von (1912) : Carl Ludwig Costenoble’s Tagebücher von seiner Jugend bis zur Übersiedelung nach Wien (1818), Bd. 1. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte (= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 18). S. 56. 2 Lichtenberg, Georg Christoph (1794) : Ausführliche Erklärung der Hogathischen Kupferstiche, mit verkleinerten aber vollständigen Copien derselben von E. Riepenhausen, Erste Lieferung. Göttingen : Johann Chritian Dieterich. S. 13 f. 3 Ebd. S. 13. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. S. 8. 7 Ebd. S. 9 f. 8 Vgl. [Coffey, Charles & Mottley, John] (1731) : The Devil to Pay, or the Metamorphos’d Wives. An Opera. As it is perform’d at the Theatre-Royal in Dury-Lane, by His Majesty’s Servants. London : J. Watts.
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tion9 basiert und von Christian Felix Weiße unter dem Titel Die verwandelten Weiber, oder der Teufel ist los10 ins Deutsche übertragen wurde. Laut Theaterzettel werden in dem Stück folgende Figuren auftreten : »Jupiter, Juno, Diana, Flora, die Nacht, eine Sirene, Aurora, ein Adler, Cupido, zwey Teufel, ein Geist und Gefolge.«11 In der Mitte des Bildes steht Diana, die griechische Göttin der Jagd und Verfechterin der Jungfräulichkeit und Keuschheit. Ihr Anzug ist nichts was man Jagdhabit nennt. Von allen Insignien, womit das Alterthum sie bezeichnete, ist ihr nichts geblieben, als der halbe Mond. Selbst die moralischen scheinen verschwunden. Man geräth bey der Betrachtung dieser Figur wider Willen auf den Gedanken : Hogarth habe eine verkehrte Diana zeichnen wollen, so wie man eine verkehrte Welt hat.12
Die Repräsentanten des griechischen Götterhimmels werden hier vielmehr bei der Verrichtung profaner und alltäglicher Tätigkeiten gezeigt : Juno lässt sich von der Nacht die Strümpfe flicken, Diana entkleidet sich, Flora, die direkt vor ihr kniet, frisiert sich die Haare, Jupiter, direkt hinter ihr, schickt den beflügelten Cupido eine Leiter hinauf, um ihm seine über eine Gewitterwolke zum Trocknen aufgehängten Socken zu bringen. Die Göttin der Morgenröte wirkt wenig jugendlich – die »Röthe grauet nur noch in diesem Auroragesichtchen«13 –, Ganymed14, vor dem im linken Bildrand ein Adler hockt, der ein Baby füttert, klagt über Zahnschmerzen und eine Wassernymphe schenkt ihm Branntwein ein, um den Schmerz zu betäuben. Das Lachen, das sich unweigerlich bei dieser Gegenüberstellung des Profanen und Sakralen einstellt, beruht – so argumentiert zumindest Moses Mendelssohn – auf dem »Kontrast zwischen einer Vollkommenheit und Unvollkommenheit.«15 Es ist eben jener wunderliche Kontrast, der auch zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit im Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts zutage tritt.
9 Vgl. [Jevon, Thomas] (1695) : The Devil of a Wife, or a Comical Transformation. As it is acted by His Majesty’s Servants, at the Theatre in Dorset Garden. London : James Knapton. 10 Vgl. [Weiße, Christian Felix] (1772) : Die verwandelten Weiber, oder : Der Teufel ist los. Eine komische Oper in drey Aufzügen. Zweite Auflage. Leipzig : Dyckische Buchhandlung. 11 Lichtenberg, Georg Christoph (1794) : Ausführliche Erklärung der Hogathischen Kupferstiche. S. 10. 12 Ebd. S. 20 f. 13 Ebd. S. 41. 14 Da der Titel des Kupferstichs andeutet, dass es sich auf dem Bild um Schauspielerinnen (actresses) handelt, vermutet Lichtenberg, dass Ganymed – der in der griechischen Mythologie immerhin als der Schönste aller Sterblichen gilt – von einer Frau verkörpert werde (Lichtenberg 1794 : 43–48). 15 Mendelssohn, Moses (1784) : Rhapsodien oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In : Moses Mendelssohns philosophische Schriften, Bd. 2. Troppau : Joseph Georg Traßler. S. 3–88. S. 45.
Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens
Abb. 19 Hogarth, William (1738) : Strolling Actresses Dressing in a Barn.
Ein jeder Mangel der Uibereinstimmung zwischen Mittel und Absicht, Ursache und Würkung, zwischen der Charakter [sic !] eines Menschen, und seinem Betragen, zwischen den Gedanken und der Art, wie sie ausgedruckt werden ; überhaupt ein jeder Gegensatz des Großen, Ehrwürdigen, Prächtigen und Vielbedeutenden, neben dem Geringschätzigen, Verächtlichen und Kleinen, dessen Folgen uns in keine Verlegenheit setzen, ist lächerlich.16
Wilhelm Meister bewunderte die Schauspieler für ihre majestätischen Kleider, Rüstungen und Waffen, ihre stete Übung edlen Betragens, dessen Geist als Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten erschien, was die Welt an Verhältnissen, Gesinnungen und Leidenschaft hervorgebracht habe. Er dachte sich das »häusliche Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen«17. Wilhelm stutzte daher sehr, als er in das Zimmer der von ihm verehrten Schauspielerin Marianne trat : Die Trümmer eines augenblicklichen, leichten und falschen Putzes lagen wie das glänzende Kleid eines abgeschuppten Fisches zerstreut in wilder Unordnung durch einander. Die 16 Ebd. 17 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 411.
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Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher und Pomade waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt. Musik, Rollen und Schuhe, Wäsche und italienische Blumen, Etuis, Haarnadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bücher und Strohhüte, keines verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein gemeinschaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt.18
Solche Paradoxien und Ent-Täuschungen scheinen die Schauspielkunst und das deutschsprachige Theaterwesen im 18. Jahrhundert in systematischer wie institutioneller Hinsicht zu durchkreuzen. Wie kein anderer Text bringt Diderots Paradoxe sur Le Comédien wesentliche Widersprüche auf den Punkt. Seine Abhandlung erweist sich nicht nur als eine Untersuchung der künstlerischen Arbeit des Schauspielers, sondern in ihr erscheint der Schauspieler zugleich als Prototyp des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Diderot transformiert die Figur des Schauspielers in eine Projektionsfläche philosophischer Reflexionen über Kunst und Natur, über Künstlichkeit und Natürlichkeit, über Verstellung und Echtheit.
1.1 »Gibt es eine künstliche Empfindsamkeit ?«19 – Paradoxien der natürlichen Schauspielkunst Entschieden wandte sich Diderot gegen die Abgehobenheit der klassizistischen Kunst, die vom Absolutismus für die Repräsentation politischer Macht instrumentalisiert wurde, und rehabilitierte angesichts des Absolutheitsanspruchs der rationalistischen Philosophie die Sinnlichkeit und Empfindlichkeit des Menschen sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Theorie der schönen Künste. Dem rationalistischen Naturbegriff, der eine apriorische Ordnung voraussetzte, stellte er einen empirischen Naturbegriff entgegen, der die Natur als das sinnlich Wahrnehmbare bestimmte. Dieses veränderte Naturverständnis sowie das aufkeimende bürgerliche Selbstbewusstsein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führten überdies zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber der rhetorischen Deklamationspraxis und höfischen Verstellungskunst, die als Teile der aristokratischen Repräsentationskultur in Opposition zum bürgerlichen Ideal einer ungekünstelten, natürlichen Authentizität traten. Im Kontrast zu klassizistischen Theorien der schönen Künste stellten Diderot und andere Autoren die sinnliche Wirkung von Kunstwerken sowie die Reflexion ästhetischer Erfahrungen in den Vordergrund ihrer Theoriebildung. Die Aufgabe der schönen Künste sah Diderot in einer über die Sinne vermittelten moralischen Affizierung und ihrer begriffs- und urteilsbildenden Reflexion. Kunstwerke bewirkten diese Affizierung und Refle18 Ebd. 19 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 510. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 51 : « Est-ce qu’il y a une sensibilité artificielle ? »
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xion durch die Nachahmung der empirisch beobachtbaren Natur. Eine an der empirisch gegebenen Natur orientierte Schauspielkunst habe somit die Aufgabe, das durch die Leidenschaften motivierte Verhalten von Menschen nach bestimmten Grundsätzen nachzuahmen. Als »Menschendarsteller«20 müssten Schauspieler daher nicht zuletzt gekonnte »Menschenbeobachter«21 sein. Die Schauspieltheoretiker des 18. Jahrhunderts waren sich aber uneinig darüber, ob ein Schauspieler die Leidenschaften und Gefühle, die er nachahmen wolle, selbst empfinden müsse, um ihnen einen überzeugenden und wirkungsvollen Ausdruck auf der Bühne zu verleihen. Pierre Rémond de Sainte-Albine war der Ansicht, dass Schauspieler nur insofern Schau-Spieler seien, wenn sie ihr eigenes Seelenleben öffentlich zur Schau stellen würden. Nur durch diese Transparenz würden sie eine Ausstellung wahrer Leidenschaften leisten. Die Gestaltungsmaxime eines solchen Empfindungsschauspielers geht von der unausgesprochenen Prämisse aus, dass sich der natürliche Ausdruck von selbst einstellen werde, wenn der Schauspieler nur das empfinde, was der dramatische Text von ihm verlange. Sainte-Albine sah hierin die Genialität des Schauspielers, die sich weder lehren noch lernen lasse. Antonio Francesco Riccoboni stimmte Sainte-Albine zwar einerseits zu, dass auf der Theaterbühne die Illusion einer wahrscheinlichen und natürlichen Handlung erzeugt und die rhetorische Praxis des Deklamationstheaters überwunden werden müsse. Er war aber andererseits der Ansicht, dass der Schauspieler sich hierzu im Akt des Darstellens nicht von seinen eigenen Gefühlen leiten lassen dürfe. Die Schauspielkunst bestünde vielmehr auf genauer Beobachtung und körpertechnischer Präzision. Während SainteAlbine behauptet, ein genialer Schauspieler würde sich plötzlich und vollständig in die Rollenfiguren verwandeln, deutet Riccoboni an, dass sich der Schauspieler die gelungene Nachahmung sukzessiv erarbeite. Diderot bewertete letztlich den Empfindungsschauspieler, der seine eigenen Empfindungen in der schauspielerischen Gestaltung aufgehen lasse, als Dilettanten und sah im Reflexionsschauspieler den eigentlichen Virtuosen. Im Akt des Schauspiels höre er auf, er selbst zu sein. Unübersehbar ist bei der Begründung der natürlichen Schauspielkunst die paradox anmutende Argumentation, so Košenina, »daß die auf der Weltbühne öffentlich geschmähte Künstlichkeit auf dem Theater eingesetzt wird, um dort für das allgemein geforderte Ideal der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit mit artifiziellen Mitteln zu werben.«22 Paradox bleibt an der natürlichen Schauspielkunst, dass sie Natürlichkeit auf der Bühne körpertechnisch, also künstlich erzeugt. Wie in Johann Leonhard Rosts Schrift Von der Nutzbarkeit des Tantzens und William Hogarths Analysis of Beauty, die konkrete körpertechnische Übungen zu graziösen Bewe20 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen. S. 43. 21 Moritz, Karl Philipp (1999) : Vorschläge zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. S. 800. 22 Košenina, Alexander (1995) : Anthropologie und Schauspielkunst. S. 17.
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gungen enthalten, die keinen Anschein der Künstlichkeit oder Gestelltheit mehr erkennen lassen, soll die natürliche Schauspielkunst den Anschein der Authentizität auf der Bühne erzeugen. Auch Christian Weise, der Schuldirektor des Zittauer Gymnasiums, empfahl für die Ausbildung eines ungezwungenen Auftretens, das Castiglione schon als Merkmal des idealen Hofmanns auswies, unter Umständen einen Tanzmeister heranzuziehen. Denn diese Fähigkeit entziehe sich schlechterdings einer rein theoretischen Unterweisung. Sie werde lediglich im tätigen Vollzug erprobt, geübt und erfahren. Lessing, der die zentralen französischen Beiträge zur Schauspiel- und Dramentheorie übersetzte und dem deutschsprachigen Publikum zugänglich machte, griff bei der Grundlegung einer natürlichen Schauspielkunst auf rhetorische Traditionen zurück. Er versuchte hierdurch der beliebigen, unnatürlich wirkenden Bühnenpraxis sowie SainteAlbines nicht-didaktischer Schauspieltheorie ein lehrbares und lernbares Regelsystem der Schauspielkunst entgegenzuhalten, ohne dabei hinter das Ideal der Natürlichkeit zurückzufallen. Denn der Gebrauch natürlicher Zeichen sei laut Lessing ebenso lehrbar und lernbar wie der Gebrauch willkürlicher Zeichen, wie der Gebrauch einer Sprache. Ein natürlicher Ausdruck auf der Bühne ist das Produkt einer körpersprachlichen Rhetorik, die Lessing allerdings nie vollendete. Während Lessing sich noch an rhetorischen Begriffen orientierte, um eine natürliche Schauspielkunst zu begründen, die sich vom deklamatorischen Darstellungsstil der französischen Klassik und der Leipziger Schule sowie vom burlesken Treiben der Komödianten abgrenzen sollte, schloss Johann Jakob Engel zwar an Lessings Vorhaben an, überwand aber sein rhetorisch-sprachliches Primat und begründet die natürliche Schauspielkunst als Reflexion und Präzisierung des alltäglichen Umgangs. Engel zeigte, dass Körperausdrücke sich keineswegs eindeutig de- oder encodieren lassen. Daher konnte er den Schauspielern nicht wie in einem rhetorischen Regelwerk minutiös vorschreiben, wie sie ihre Arme und Beine auf der Bühne zu bewegen haben, um bestimmte Affekte darzustellen, sondern legte ihnen – wie Lichtenberg forderte – einen »Orbis pictus«23 vor, der reichlich Anlässe zur Reflexion des alltäglichen Umgangsverhaltens bot. Die Bildung der Schauspieler und die Grundlegung der Schauspielkunst beginnen für Engel nicht bei der Rhetorik, sondern müssen den Umweg über die Anthropologie, die Psychologie und die empirische Naturbeobachtung nehmen. Die theoretischen Reflexionen über eine natürliche Schauspielkunst umfassen nicht nur, so Fischer-Lichte, explizite oder implizite Körpertheorien,24 die die Grundlage für wirkungsästhetische oder pädagogische Annahmen bilden – wie Schauspieler geschult sein müssen, um bestimmte Effekte auf der Bühne und beim Publikum zu erzielen –, sondern bündeln stets auch zeitgenössische (Körper-)Diskurse. Denn anders als in den ande23 Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Vorschlag zu einem Orbis Pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler. S. 308. 24 Vgl. Fischer-Lichte (2000) : Entgrenzungen des Körpers. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika (1999) : Der Körper als Zeichen und als Erfahrung.
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ren Künsten bilden Kunstobjekt und künstlerisches Subjekt in der Schauspielkunst eine unhintergehbare körperliche Einheit. Dieses besondere Verhältnis des Schauspielers zu sich selbst, zu seiner Rolle und seinem Körper bietet die Möglichkeit, Schauspieltheorien unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten zu lesen. Sie spiegeln nicht nur vorherrschende Subjektmodelle wider und implizieren Vorstellungen über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers, sondern thematisieren das, was Helmuth Plessner in der Mitte des 20. Jahrhunderts als die exzentrische Positionalität des Menschen bezeichnete : »Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst präsentiert.«25 In diesem Sinne lässt sich Diderots Paradoxe sur Le Comédien als eine Auseinandersetzung mit Rousseaus kultur- und zivilisationskritischer Gesellschaftsanalyse lesen. Diderots Auffassung vom Theater steht nicht nur im Widerspruch zu Rousseaus These, dass das Theater keine (moral-)pädagogische Wirkung besäße. Diderot bietet überdies einen Gegenentwurf zu Rousseaus identitätstheoretischer Konstruktion des Selbstseins an. Das Außer-sich-Sein des Schauspielers, seine Nicht-Identität birgt für Rousseau die Gefahr, dass der Schauspieler sich selbst und seine Bewunderer davon überzeugen könne, die eigene Existenz außerhalb des Theaters als bloßes Rollenspiel zu begreifen, sein Selbstsein zugunsten eines gesellschaftlichen Rollenverhaltens aufzugeben. Diderot, der Rousseaus Vorwurf der Charakterlosigkeit der Schauspieler aufgreift und als autoplastisches Potential umdeutet und aufwertet, bestimmt das Subjekt der (schauspielerischen) Nachahmung jedoch, so Rebentisch, als »subjektloses Subjekt, ein Subjekt nämlich, dessen Subjektivität sich erst in der und durch die Nachahmung bildet.«26 Die bestimmungsoffene Natur des Menschen ermöglicht ihm also nicht nur im Umgang mit sich, mit anderen und der Welt, Fähigkeiten auszubilden, sondern macht es geradezu erforderlich, auf diese Weise seine Unbestimmtheit in eine Bestimmtheit zu überführen, um so überhaupt erst zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was er ist und was er will. Anders als bei Rousseau steht hier nicht das Ideal einer verloren geglaubten Identität im Raum, sondern Diderot hebt vielmehr die Erfahrung der Selbstdifferenz hervor. Hierdurch werde gewiss keine einheitliche Vorstellung von Identität gewonnen, sondern vielmehr eine fortschreitende Bewegung in Gang gesetzt, in der immer wieder aufs Neue infrage gestellt, affirmiert oder neuformuliert wird, was als personale Identität noch Geltung beanspruchen könne. Das Ich enthüllt sich nicht in weltabgewandter Introspektion, sondern zeigt sich konstellativ in der Interaktion mit sich, anderen und der Umwelt. Ohne diese Erfahrung der Differenz, die ein konstitutives Moment menschlicher Freiheit ist, kann Selbstbestimmung gar nicht gelingen. Selbstsein gelingt nur in der permanenten Selbstentfremdung. Auf paradoxe Weise erweist sich Rousseau selbst, der als Denker eines möglichen widerspruchsfreien Seins von eigenen Ansichten abrückte und in Opposition zu Zeitgenossen trat, als ein anschauliches Beispiel einer literarisch in Szene gesetzten Selbstentfremdung. 25 Plessner, Helmuth (1982) : Zur Anthropologie des Schauspielers. S. 416. 26 Rebentisch, Juliane (2012) : Die Kunst der Freiheit. S. 278.
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Denn in seinem Antwortschreiben, das er auf sein vermeintliches Erleuchtungserlebnis im Park von Vincennes hin verfasste, stellte er die Selbstgewissheiten und Erscheinungsformen der Aufklärung und ihrer Vertreter radikal infrage und machte diese kulturkritische Haltung zur ›neuen‹ Grundlage seines philosophischen Denkens und seine literarischen Gedankenexperimente dienten ihm nicht zuletzt dazu, alternative Identitäten zu erkunden. So wie er im Émile sein Alter Ego Jean-Jacques als einen hypothetischen Erzieher konzipierte, der trotz autobiographischer Züge eine Kunstfigur blieb, erwies sich letztlich auch das erzählende Ich in seinen Confessions als eine literarische Inszenierung. »Sagt man nicht bisweilen auch in der Gesellschaft«, schreibt Diderot, »ein Mensch sei ein großer Schauspieler ? Darunter versteht man nicht, daß er empfinde, sondern im Gegenteil, daß er hervorragend simuliere, obgleich er nichts empfinde.«27 Der Schauspieler sei, so Käuser, »die theoretische Inkarnation, in der im 18. Jahrhundert besonders die Fragen von Individualität und Person einerseits und hiervon geschieden die Frage der Rolle und der Maske andererseits erörtert werden«28. Denn mit der Transformation der repräsentativen Öffentlichkeit und durch die zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der geburtsständisch geordneten Gesellschaft steht das Individuum im 18. Jahrhundert vor dem Problem, disparaten Anforderungen gerecht werden zu müssen, die sich nicht mehr als Ausdruck einer sinnstiftenden Gesamtordnung begreifen lassen. Hiermit korrespondierte ein Transzendenzschwund, durch den die barocke Metapher des Welttheaters eine grundlegende Wendung erfuhr. Während in der barocken Vorstellung das diesseitige Leben ein bloßes Schauspiel darstellte und das eigentliche Leben in ein Jenseits verwiesen wurde, verliert die Welttheatermetapher im Übergang zum 18. Jahrhundert ihre Trost spendende und sozial-affirmative Funktion.29 Stattdessen findet die Rollenmetapher Eingang in die Beschreibung des gesellschaftlich-diesseitigen Nebeneinanders unvereinbarer Anforderungen und Erwartungen, der Integration ihrer wechselnden Bewältigungsstrategien und der hiermit verbundenen Herausforderung personaler Identität, die Goethe paradigmatisch für das 18. Jahrhundert in seinem Theater- und Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre thematisierte. Das Rollenspiel des Theaters bildet in Wilhelm Meisters Lehrjahren ein Durchgangsstadium in Wilhelms Bildungsgeschichte, die wie in Rousseaus Erziehungsroman Émile durch eine im Hintergrund waltende pädagogische Instanz von Anfang an begleitet wird. Während Emiles Umwelt durch seinen Erzieher sorgsam und aufwendig inszeniert wird, begegnet Wilhelm auf seiner Reise nicht zufällig den Abgesandten der geheimen Turmgesellschaft. Wie im Émile nehmen ihre Akteure aber nie direkten Einfluss auf ihn, sondern 27 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 538. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 101 : « Ne dit-on pas dans le monde qu’un homme est un grand comédien ? On n’entend pas par là qu’il sent, mais au contraire qu’il excelle simuler, bien qu’il ne sente rien ». 28 Käuser, Andreas (1999) : Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie. S. 39. 29 Vgl. Konersmann, Ralf (1986/1987) : Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher. S. 134– 137.
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leiten ihn vielmehr indirekt durch Gespräche und Hinweise und offenbaren sich ihm erst gegen Ende des Romans. Wilhelms Bildungsgeschichte ist nicht die Entfaltung einer angelegten inneren Natur, sondern vielmehr das Produkt einer fortlaufenden Interaktion. Das anfängliche Streben nach Individualität, das sich in Wilhelms Theaterleidenschaft ausdrückt, müsse, um nicht bloße Schwärmerei zu bleiben, in eine gesellschaftliche Praxis münden. Wie auch Rousseau dem Émile eine politisch-spekulative Schrift, den Contrat social, zur Seite stellte, um die Zerrissenheit des modernen Menschen in einer politischen Utopie aufzuheben, so lässt sich auch die Turmgesellschaft als die Verwirklichung einer gesellschaftspolitischen Utopie verstehen, in die Wilhelm am Ende eintritt. Die politischen Ambitionen der Turmgesellschaft, die in den sozialreformerischen Ideen Lotharios am deutlichsten zutage treten, werden zwar einerseits durch die ironische Darstellung des Erzählers als irreal ausgewiesen, erweisen sich aber andererseits in ihrer fortschrittsoptimistischen Hoffnung auf eine politische Versöhnung von Bürgertum und Adel als eine Kontrastfolie zu den realgeschichtlichen Ereignissen im nachrevolutionären Frankreich. »Ich kann mich nur über den Menschen freuen«, heißt es im Wilhelm Meister, der weiß, was ihm und andern nütze ist, und seine Willkür zu beschränken arbeitet. Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen, nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.30
Wilhelms Streben und Irren, das ihn im Roman zum Theater hinführt und auch wieder Abstand von ihm nehmen lässt, ist nicht nur Ausdruck der prinzipiellen Fragilität möglicher praktischer Selbstverhältnisse, sondern impliziert zugleich die sich immer wieder stellende Möglichkeit ihrer Reflexion, Reevaluation und Korrektur. Dass diese Perfektibilität der menschlichen Natur auch Geltung für die soziale Praxis beansprucht, deutet sich zumindest in den reformerischen Absichten der Turmgesellschaft an.
1.2 Eine »sonderbare Anstalt«31 – Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens Dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede vom Theater als einer moralpädagogischen Anstalt zu einem Gemeinplatz wurde, zeugt vom Erfolg einer diskursiven Kampagne und verdeutlicht, wie sehr sie die allgemeine Wahrnehmung des Theaters geprägt hat, obwohl das Theater den moralpädagogischen Ansprüchen realiter nicht immer gerecht werden konnte oder wollte. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Kritik am Theater der Wanderbühnen und der theaterfeindlichen Grundstimmung im ersten Drittel des 30 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 424. 31 Goethe, Johann Wolfgang (1998) : Deutsches Theater. S. 600.
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18. Jahrhunderts versuchten Theaterreformer die Literarizität, das rhetorische Bildungsideal sowie die moralpädagogische Zwecksetzung des Schultheaters auch für die Schaubühne zu reklamieren, um das Theater als nützliche Einrichtung des öffentlichen Lebens zu legitimieren. Hierdurch wurde dem deutschsprachigen Theater im Zuge seiner Institutionalisierung ein pädagogischer Auftrag eingeschrieben. Die Genealogie dieser pädagogischen Anstalt zu rekonstruieren bedeutet – paraphrasiert man Foucaults einleitende Worte zu Der Wille zum Wissen –, das Werden eines Wissens zu verfolgen, das an seinen Wurzeln gefasst werden soll : in den institutionellen Bestimmungen, den pädagogischen Maßnahmen, den künstlerischen Praktiken, in den dramatischen und theatertheoretischen Texten, in den Wirkungen, die es auf die Individuen ausgeübt hat, sobald man sie davon überzeugte, dass die Schauspielkunst eine erbauliche, aber ebenso gefährliche Kraft sei.32 Dieses Verfahren entdeckt hinter der institutionellen Struktur des Theaters machtvolle diskursive und nicht-diskursive Praktiken, die das Theater als Institution erst in Erscheinung treten lassen. Dieses System der Macht, aus dem die Institution des Theaters hervorgegangen ist, lässt sich mit Foucault als Theaterdispositiv bezeichnen. Es erzeugt das gesellschaftlich relevante Wissen davon, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als Theater gilt, sowie die mit diesem Wissen verbundenen Praktiken der Rezeption, Produktion und Legitimation.33 Zugleich sind hiermit immer auch Ausgrenzungsprozesse verbunden gewesen, die Personen, Praktiken oder Artefakten ihre Zugehörigkeit zum Theater verwehrten. Etwas martialisch schreibt Reinhart Meyer, dass mit dem Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaters im 18. Jahrhundert verschiedene Theaterformen »Ausrottungskampagnen«34 zum Opfer fielen. Volkstheater, Marionettenspiele, Stegreifbühnen und das Schultheater wurden, so Meyer, in langwierigen Verfahren beseitigt. Die Operationen innerhalb eines Dispositivs bilden aber kein homologes, intentionales Handeln, denn es lässt sich schlechterdings kein einheitliches, historisches Subjekt ausmachen, das alle Strategien am Reißbrett plant und umsetzt – wie beispielsweise das Bürgertum –, was nicht ausschließt, das einzelne gesellschaftliche Akteure innerhalb des Dispositivs interessengeleitet handeln. Als Dispositiv wird vielmehr das Netz beschrieben, das sich zwischen den verschiedenen, zum Teil disparaten Strategien und Operationen aufspannt. Deshalb offenbaren sich im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens inhärente Widersprüche.
32 Vgl. Foucault, Michel (1983) : Sexualität und Wahrheit, Bd. 1 : Der Wille zum Wissen. S. 7. 33 Vgl. Zumhof, Tim (2015) : Das Dispositiv der Kunst. S. 239–241. 34 Meyer, Reinhart (1987) : Limitierte Aufklärung. S. 142.
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1.2.1 »Aus solchem Pöbel sollen Lehrer des Volks werden !«35 – Moralisierung durch moralisch zweifelhafte Akteure
Die Tragödie »soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen erweitern«, denn der »mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter«, schreibt Lessing an Nicolai im November des Jahres 1756. Auch die Komödie, fährt er fort, ohne mit Superlativen zu sparen, »soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fähigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlerzogenste und gesittetste Mensch werden.«36 Im Zuge der Rehabilitation der Sinnlichkeit, der sich ausbreitenden Skepsis gegenüber dem rhetorischen Bildungsideal und der Rezeption der englischen Moralphilosophie waren Autoren wie Gellert, Schlegel und Lessing der Ansicht, dass das Theater, wenn es moralisierend wirken wolle, nicht belehren dürfe, indem es moralische Lehrsätze bloß rhetorisch und dramaturgisch illustriere. Es könne bloß dann moralisierend wirken, wenn es das Gemüt der Zuschauer errege, sie sinnlich so affiziere, dass sie mitleiden und ihre moralischen Gefühle angesprochen werden. Lessing hoffte, so der Germanist Hans-Jürgen Schings, »mit der Sensibilisierung des Zuschauers seine Moralität […] herzustellen.«37 Paradox bleibt hierbei jedoch, dass mit dieser Moralisierung der Zuschauer eine Personengruppe beauftragt wurde, die gemeinhin als zwielichtig und moralisch fragwürdig galt. Denn im 18. Jahrhundert waren die meisten Schauspieler in Deutschland in Wandertruppen organisiert, die von Prinzipalen geführt wurden und untereinander um Aufführungsprivilegien konkurrierten. Der Grund für das Umherreisen der Wandertruppen bestand aber nicht allein in der befristeten Aufführungserlaubnis, sondern auch im Umfang ihres Stückerepertoires. Es ließ oft nicht zu, längere Zeit an einem Ort zu spielen, ohne dass die Truppe Gefahr lief, das Publikum durch zu häufige Wiederholungen von Stücken zu langweilen. Das Reisen der Schauspielergesellschaften stellte aber nicht nur einen Versuch dar, das finanzielle Auskommen sicherzustellen, es war in gewisser Weise auch ein Grund für ihre gesellschaftliche Randstellung. Denn die vagabundierende Lebensform der Komödianten schürte fremdenfeindliche Vorurteile. Im Theater-Kalender auf das Jahr 1782 heißt es in einem anonymen Beitrag, dass Schauspieler entweder Studenten seien, die »auf der Universität nichts gelernt«38 hätten, oder Schneider und Friseure, die ihren Meistern davongelaufen seien. »Ihre Verdienste kann man nur nach der Anzahl Bouteillen, oder Gläser, die sie täglich leeren, beurtheilen. Aus 35 [Anonym] (1782) : Vorschläge zur Verbesserung des Theaters. S. 59. 36 Lessing, Gotthold Ephraim (2003) : [An Friedrich Nicolai, im Nov. 1756]. S. 671. 37 Schings, Hans-Jürgen (1980) : Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München : Beck. S. 43 f. 38 [Anonym] (1782) : Vorschläge zur Verbesserung des Theaters. S. 59.
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solchem Pöbel sollen Lehrer des Volks werden ! Solche Leute spielen Weise, Tugendhafte, Männer vom Stande, Fürsten und Könige !«39 Von diesen Schauspielern sei nur eine »einförmige Unterhaltung für das Publikum«40 zu erwarten und die Gegner der Bühne behaupteten zu Recht, so Johann Heinrich Friedrich Müller, dass solche Schauspieler »nicht nur die Sitten nicht verbessern, sondern : die Verderbtheit derselben noch vermehren.«41 Damit das Theater seinen Zweck als Schule der Sitten erfüllen könne, bedürfe es einer moralischen Erziehung der Schauspieler. »So lange also die Lehrer der Sitten nicht selbst in ihrer häuslichen Verfassung Muster derselben sind, so lange ist auch die Hoffnung einer glücklichen Wirkung ihrer Bemühungen vergebens.«42 Nur »frühe Bildung des Schauspielers«43 sei allein der Weg, so Müller, »der zur reinen und wahren Verbesserung der Sitten«44 führe. Die Radierung Verbesserung der Sitten von Daniel Nikolaus Chodowiecki aus dem Jahr 1786 karikiert gleichwohl solche moralpädagogischen Wirkungsannahmen. Das Bild zeigt einen Bänkelsänger, der zusammen mit einem einbeinigen Fiedler auf einer Bühne steht, die auf einem Marktplatz aufgebaut ist und vor der sich zahlreiche Zuschauer versammelt haben. »Als Bänkelsänger bezeichnete man eine Gruppe von Schaustellern«, erklärt der Volkskundler Leander Petzoldt, »die auf Jahrmärkten, Messen, aber auch unabhängig von solchen Gelegenheiten, in Wort und Bild Ereignisse darstellen und mit Musikbegleitung vortragen, um das Publikum zum Kauf von Druckerzeugnissen anzuregen.«45 Sie waren Nachrichtenkolporteure, die als Zeitungssinger – wie die Komödianten – zum fahrenden Volk gehörten und deren Darbietungen meistens von Verbrechen und politischen Ereignissen handelten. Zur Untermalung setzten sie – wie in der Radierung zu sehen ist – auch Illustrationen auf Wandtafeln oder Wachstüchern ein. Chodowieckis Bild ist eigentlich eine Parodie auf das Vorhaben des Berliner Kunsthändlers Merino (oder Morino), der beabsichtigte, merkwürdige Vorfälle aus Berlin in einer moralischen Wochenschrift bekannt zu machen, an der auch Chodowiecki mitwirken sollte.46 Da es aber zu dieser Zusammenarbeit nicht kam, wie Chodowiecki in einem 39 Ebd. 40 Müller, [Johann Heinrich Friedrich] (1797) : Gedanken über die Gründung eines k. k. Philantropins für Schauspieler, Sänger und Tänzer. S. 10v. 41 Ebd. S. 7v. 42 Ebd. S. 7. 43 Ebd. S. 7v. 44 Ebd. S. 8. 45 Vgl. Petzold, Leander (1974) : Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson. Stuttgart : Metzler. S. 1. 46 Die Kunsthändler Morino und Kompanie gaben im Jahr 1787 folgende Ankündigung in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste : »Eine Gesellschaft von Liebhabern hat sich entschlossen, ein periodisches Werk von Kupferstichen herauszugeben, wovon in jeder Woche ein Stück erscheinen soll, und welche hauptsächlich die merkwürdigsten Scenen von Berlin vorstellen werden. […] Die Künstler, die hieran arbeiten werden, gehören zu den geschicktesten, und sie werden bestreben, ihre Arbeiten so schön und so vollkommen zu liefern, als die festgesetzte Zeit es ihnen
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Abb. 20 Chodowiecki, Daniel Nikolaus (1786) : Verbesserung der Sitten. Radierung, 21 × 33,6 cm.
Brief an die Gräfin Christiane von Solms-Laubach vermerkt,47 karikierte er das Vorhaben. Die dreizehn Bilder, die in Chodowieckis Karikatur auf der Wandtafel des Bänkelsängers zu sehen sind, stellen vermutlich jene merkwürdigen Szenen dar, die Merino illustriert haben wollte : »Weihnachten, Neujahr, Ball, Schlittenfahrt, Hochzeit, Uneinigkeit, Ehescheidung, Concert, Schauspiel, Diebstahl, Mordbrenner, Picknick und Krankheit.«48 In bestechender Weise parodiert Chodowieckis Bild durch seine Komposition aber auch die pädagogisch motivierten Versuche einer Kultivierung moralischer Gefühle durch das Theater. Denn während im Vordergrund des Bildes der Bänkelsänger offensichtlich das Publikum durch sein Agieren in seinen Bann schlägt – die Frau in der Bildmitte reißt vor Ergriffenheit die Arme in die Höhe und die rechts hockende Brezelverkäuferin bemerkt nicht, wie ein Hund ihre Waren stiehlt –, lässt sich im Hintergrund des Bildes ein allgemeiner Verfall der Gesellschaft beobachten : Ein Verzweifelter erschießt sich im Wertherfieber mit einem Silhouettenbild seiner Geliebten in der Hand. Wie die waghalsigen Franzosen Pilâstre du Rozier und Romain, die am 15. Juni 1785 bei dem Versuch verunglückten, den Ärmelkanal mit einem Heißluftballon zu überqueren, stürzt erlauben wird.« – [Anonym] (1787) : Vermischte Nachrichten. Deutschland. In : Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 33, 1. Stück. S. 129–136. S. 130 f. 47 Vgl. Chodowiecki, Daniel (1927) : [Brief vom 9. Januar 1787]. In : Briefe von Daniel Chodowiecki an die Gräfin Christiane von Solms-Laubach. Hrsg. von Charlotte Steinbrucker. Straßburg : J. H. Ed. Heitz (= Studien zur Deutschen Kunstgeschichte, Heft 250). S. 109–114. S. 110. 48 Wormsbächer, Elisabeth (1988) : Daniel Nikolaus Chodowiecki. Erklärungen und Erläuterungen zu seinen Radierungen. Ein Ergänzungsband zum Werkverzeichnis der Druckgraphik. Hrsg. von Jens-Heiner Bauer. Hannover : Kunstbuchverlag. S. 129.
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ein Mann im linken Bildrand vom Himmel zu Boden. Ferner ist ein Selbstmörder zu sehen, der sich an seinem Haus erhängt hat, eine Frau, die auf dem Rücken eines Manns reitend einen Pantoffel schwingt, sowie sich duellierende, radschlagende und auf Stelzen laufende Männer. Eine Szenerie der übersteigerten Empfindsamkeit und des Wahnsinns zeichnet Chodowiecki hier und konterkariert sie mit dem Titel Verbesserung der Sitten. Der Zierrahmen, in dem Affen dem Geschehen eine lange Nase drehen, unterstreicht nur noch einmal die bissige Ironie. In gewisser Weise karikiert Chodowieckis hiermit wie gesagt auch die von Lessing noch geforderte Kultivierung moralischer Gefühle durch sinnliche Anschauungen. Das Theater bewirke hier keine moralische Läuterung, sondern eine krankhaft übersteigerte, bis in den Wahnsinn treibende Empfindsamkeit. Joachim Heinrich Campe, der sich ja bereits skeptisch gegenüber dem Kindertheater zeigte,49 fragte sich daher, ob es pädagogisch geboten sei, Moralerziehung als eine Sensibilisierung zu betreiben. Solle man versuchen, fragte er, Kinder mitleidig zu machen ?50 Wie in seinem Aufsatz zum Kindertheater behandelt er diese Frage in einem dialogischen Streitgespräch, bei dem Person A der Ansicht ist, dass moralische Erziehung darin bestehe, den Verstand aufzuklären und in den daraus entspringenden Pflichten zu üben, Person B hingegen ist der Auffassung, dass moralische Erziehung darauf abzielen solle, den Menschen einfühlsam zu machen. Unter den pädagogischen Regeln, die Campe am Ende aus dem Streitgespräch ableitet, findet sich unter anderem die Aufforderung, das müßige Mitleiden, das durch »empfindsame Romane oder Trauerspiele«51 ausgelöst werde, möglichst zu vermeiden. Entgegen dem tätigen Mitleid, das zu Handlungen veranlasst, versetzte das müßige Mitleid den Mitleidenden in eine schwärmerische Stimmung. »Entscheidet selbst«, schreibt Campe daher, ob es angemessen sei, Kinder und Schüler oft ins Schauspielhaus zu führen, um Trauerspielen bei zu wohnen, welche gleichfalls auf nichts anders abzielen, als mächtige Schmerzgefühle bei ihnen zu erregen, die sie in ihrer Brust verschließen müssen, ohne sie auf irgend eine Weise in Kraftäußerungen und Thathandlungen übergehen zu lassen !52
Da Campe ein begeisterter Kant-Leser war,53 ist es nicht verwunderlich, dass er trotz aller Vermittlungsarbeit dennoch Kants Kritik teilt. Denn vor dem Hintergrund der kritischen Schriften Kants erscheint die Funktionsbestimmung des Theaters als moralische Anstalt 49 Vgl. Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man Kinder Komödien spielen lassen ? S. 206–219. 50 Vgl. Campe, Joachim Heinrich (1788) : Soll man die Kinder mitleidig zu machen suchen ? In : Braunschweigisches Journal philosophischen und pädagogischen Inhalts, Zweites Stück. S. 150–190. 51 Ebd. S. 174. 52 Ebd. 53 Campe beabsichtigte laut eines Briefes, den er am 17. September 1787 an Kant schrieb, Kants Kritik der reinen Vernunft in ein »etwas faßlicheres und populaireres Gewand zu hüllen« (Campe 1996 : 498).
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aus zweierlei Hinsicht problematisch : Erstens lasse sich Moralität nicht allein auf dem sinnlichen Gefühl einer Lust oder Unlust am Zustand des Vergnügens oder Leidens anderer gründen. Zweitens müsse sich die Schauspielkunst – wenn sie sich im Sinne Kants als schöne Kunst verstehen will – von jeglicher Verzweckung freisagen. Gleichwohl ist Kant in seiner Kritik der Urteilskraft der Ansicht geblieben, dass die schönen Künste durchaus Anteil an der Moralisierung des Menschen haben können, nämlich dann, wenn sich in ihnen die »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«54 zum Ausdruck bringe. 1.2.2 »Seit wie lang ist es Mode, daß Schauspieler den Dichter schulmeistern ?«55 – Autonomie und Heteronomie der »Schauspielkünstler«56
Goethe und Schiller versuchten die Schauspielkunst von ihrer angenehm-unterhaltenden und moralisch-praktischen Indienstnahme zu befreien. Ihnen ging es darum, eine Schauspielkunst unter der Ägide des Dramas zu begründen, die sich im Sinne Kants als schöne Kunst bezeichnen lasse. Nicht die Kultivierung der Affekte, die Lessing noch mit der Tragödie verbunden sehen wollte, oder die moralische Besserung werden als Zwecke der Bühne ausgegeben, sondern das Theater der Weimarer Schule zielte auf ein ästhetisches Vergnügen, auf die Kultivierung und Sensibilisierung der Wahrnehmung und Einbildungskraft. Unter Goethe und Schiller avancierte das Weimarer Hoftheater so zu einer Anstalt der ästhetischen Erziehung und Bildung für die Schauspieler und das Publikum. Hiermit wurde zugleich ein Deutungsmuster geschaffen, das es erlaubte, so Bollenbeck, die Theater spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu »ästhetischen Kirchen«57 zu stilisieren und als Bildungsmacht erscheinen zu lassen. Noch Thomas Mann schrieb im Jahr 1908, dass den Deutschen »Ehrfurcht vor dem Theater eingeboren«58 sei. Was dem übrigen Europa eine gesellige Zerstreuung ist, ist uns zum mindesten ein Bildungsfaktor. Noch neulich hat der deutsche Kaiser gegen eine französische Schauspielerin geäußert : Wie die Universität die Fortsetzung des Gymnasiums sei, so sei uns die Fortsetzung der Universität das Theater.59
54 Kant, Immanuel (2009) : Kritik der Urteilskraft. [§ 59]. S. 712. – Vgl. hierzu auch Recki, Birgit (1992) : Das Gute am Schönen. 55 Schiller, Friedrich (2002) : An Wolfgang Heribert von Dalberg [19. Januar 1785]. In : Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf-Peter Janz u.a., Bd. 11 : Briefe I. 1772–1795. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. S. 129–130. S. 129. 56 Wötzel, Johann Carl (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule. S. 8. 57 Bollenbeck, Georg (1996) : Bildung und Kultur. S. 214. 58 Mann, Thomas (1990) : Versuch über das Theater [1908]. In : Thomas Mann. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10 : Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a.M.: Fischer. S. 23–62. S. 49. 59 Ebd.
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Mit der Abgrenzung der Schauspielkunst vom Handwerk, von der Rhetorik und von anderen Künsten sowie ihrer theoretischen Legitimation als schöne Kunst vollzog sich zugleich eine Abgrenzung des Schauspielers vom Dilettanten und vom gewöhnlichen Komödianten. Der Schauspieler wurde zum Künstler autorisiert. »Man heißt jetzt die Schauspieler Künstler und zollt ihnen die ganze Ehre eines künstlerischen Berufs« 60, schrieb zumindest Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik. Insbesondere dann, wenn Schauspieler als Hofschauspieler engagiert wurden, zogen sie hieraus ein künstlerisches Selbstbewusstsein. Mit ihrer befristeten Indienstnahme war zugleich eine soziale und monetäre Absicherung verbunden gewesen, die das Wandertruppendasein ihnen nicht bot. Gleichwohl galten an vielen Hoftheatern eigene Theatergesetze, die den alltäglichen Proben- und Bühnenablauf regelten und von den Schauspielern ein anständiges und sittliches Benehmen auf und jenseits der Bühne verlangten. Diese Theatergesetze, deren Missachtung empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen konnte, seien zuweilen, so Iffland, pedantisch, kleinlich und mit dem Künstlergefühl nicht vereinbar gewesen. »Sie scheinen mehr für Handwerksbursche [sic !], als für Künstler entworfen«61 und klangen, »als wenn ein Vater mit ganz kleinen zu instruierenden Kindern(n) redete.«62 Auch wenn fähige Schauspieler auf den Hoftheaterbühnen geschätzt, gelobt und beklatscht wurden, blieb der Stand des Schauspielers aber dennoch bis ins 19. Jahrhundert hinein mit einer sozialen Deklassierung verbunden. Hegels Diagnose, dass das Schauspielerdasein der »heutigen Gesinnung nach weder ein moralischer noch ein gesellschaftlicher Makel«63 sei, ist daher eher zu bezweifeln. In Anlehnung an Kants bekannte Formel aus seinen Vorlesungen Über Pädagogik lässt sich behaupten, dass die Freiheit der Schauspielkunst durch Zwang kultiviert wurde. Die Autonomie, die Goethe und Schiller mit Blick auf Kants Autonomisierung des Ästhetischen für die Schauspielkunst in Anspruch nehmen wollten, äußerte sich als Heteronomie für die Schauspieler. Für sie galt es, sich dieser Zielsetzung, einer Begründung der Schauspielkunst als schöne Kunst, zu unterwerfen und sie zu ihrer eigenen Agenda zu machen. Wenn Goethe erklärt, dass das Theater und die Schauspielkunst seit jeher durch Religion, Polizei und einen gereinigten Geschmack unterdrückt worden seien, dann vergisst er freilich, dass die Schauspielkunst auch durch die Literarisierung gebändigt werden sollte. Die Verschriftlichung von Theaterstücken und das Memorieren dramatischer Texte diente auch der Unterdrückung des Stegreifspiels. Der Schauspieler musste seitdem seine Kunstfertigkeit den Vorgaben des dramatischen Textes unterordnen. »Der Schauspieler soll gleichsam das Instrument sein«, schreibt Hegel, »auf welchem der Autor spielt, ein 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) : Werke in 20 Bänden, Bd. 15 : Vorlesungen über Ästhetik III. S. 515. 61 Iffland, August Wilhelm (1798) : A. W. Ifflands dramatische Werke, Bd. 1 : Über meine theatralische Laufbahn. S. 211 f. 62 Zit. nach Daniel, Ute (1995) : Hoftheater. S. 300. 63 Ebd.
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Schwamm, der alle Farben aufnimmt und unverändert wiedergibt.«64 Der Weg vom rein dramatischen Theater zu einem theatralen, »entfesselte[n] Theater«65 ermöglichten erst die avantgardistischen Theaterexperimente am Anfang des 20. Jahrhunderts. 1.2.3 »Regenten müssen uns zu Hülfe kommen, und das Ausführen helfen«66 – Bürgerliches Theater unter höfischer Ägide
Ein kulturpolitischer Ausdruck der sich konstituierenden bürgerlichen Öffentlichkeit war die bis ins 19. Jahrhundert wiederholte Forderung nach einem deutschen Nationaltheater, mit dem zum einen auf interkultureller Ebene eine Distanzierung zum französischen klassischen Theater geleistet werden sollte, zum anderen sollte das Nationaltheater auf intrakultureller Ebene die ständisch motivierte Spaltung von Hof- und Volkstheater durch eine einheitsstiftende bürgerliche Theaterkultur überwinden. Obwohl die Theaterbegeisterung im Verlauf des 18. Jahrhunderts beinah alle Gesellschaftsschichten ergriff und diese Theatromanie auch mit der Gründung von Gesellschaftstheatern und Liebhaberbühnen einherging, blieben die von bürgerlichen Entrepreneurs initiierten privatwirtschaftlichen Theatergründungen eher erfolglos. Theaterreformer sahen daher die Höfe in der Pflicht, ein stehendes Theaterwesen aufzubauen : »Regenten müssen uns zu Hülfe kommen, und das Ausführen helfen. Denn«, schreibt Ernst Christoph Dreßler, so lange unsere Schauspieler-Gesellschaften noch an mehr als einem Orte ihr bischen Unterhalt suchen müssen, und immer in der traurigen Ungewissheit sind, ob sie sich für die Zukunft was erübrigen werden, so wird nichts vollkommnes herauskommen. […] Regenten also müssen die Beschützer und Unterstützer unserer Deutschen Musen und Schauspieler werden, so wie sie es seit langer Zeit den ausländischen waren ; und ein stehendes Deutsches Theater aufzurichten suchen. Gotha und Manheim hat den Anfang gemacht. Ich wünsche, daß bald mehrere nachfolgen mögen.67
Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts an den deutschen Hoftheaterbühnen in der Regel italienische und französische Schauspielertruppen für Festivitäten engagiert wurden und die Regenten noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts bloß geladenen Gästen Zutritt zu ihren repräsentativen Theatergebäuden gewährten, führten nicht allein die Forderungen der Theaterreformer dazu, dass die Hoftheater einem zahlenden Publikum zugänglich gemacht wurden. Überzeugend war hierbei vermutlich auch die Argumentation der Kameralisten, dass die Untertanen lieber im überwachten Theater ihre Vergnü64 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986) : Werke in 20 Bänden, Bd. 15 : Vorlesungen über Ästhetik III. S. 513. 65 Tairow, Alexander (1964) : Das entfesselte Theater [1923]. Köln : Kiepenheuer und Witsch. S. 43. 66 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das Ernsthafte Singe-Schauspiel betreffend. S. 27. 67 Ebd.
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gungssucht befriedigen sollten, statt hierzu vermeintlich unmoralischere Wege zu finden. Stehende Theater mit einem festen Ensemble könnten ferner dafür sorgen, dass mögliche Einnahmen nicht außer Landes getragen würden. Vielleicht führten sie sogar als Attraktionen für Ausländer zu einem vermehrten Fremdenverkehr, durch den weiteres Geld in die Landeskassen gespült werden könne. Letztlich sorgte die angespannte Haushaltslage der Höfe nach dem Siebenjährigen Krieg dafür, dass die Regenten ihre Theater öffneten und kostengünstigere deutsche Theatertruppen engagierten. Iffland war sich durchaus bewusst, dass »Oekonomie der Kunst Nahrung giebt«68, beklagte sich aber beim Hoftheaterintendanten Dalberg, dass den Schauspielern zu oft gesagt werde : »Du bist eine Maschine, welche Geld einbringt !«69 Und obwohl ein Engagement am Hoftheater für die Schauspieler eine finanzielle Sicherheit bot, die ihnen im Verbund der Wandertruppe fehlte, war auch der Betrieb der Hoftheater von Diskontinuitäten und finanziellen Sorgen geprägt. Iffland schreibt : Die Grossen Deutschlands, haben viel für die gegenwärtige Unterhaltung des Schauspiels gethan. Da aber nur die Gewißheit des nöthigen Fonds und der Fortdauer, einem solchen Institut Zweckmäßigkeit, gegründeten Ruf und Eigenheit verschaffen kann : so ist die Frage : Was ist dafür gethan ? Nichts ! Denn wo ist die Bühne in Deutschland, davon man mit Gewißheit sagen könnte, sie werde auch dann bestehen, wann – – – – !70
Die Ausbildung und Professionalisierung von Tänzern, Sängern und Schauspielern erwuchs nicht zuletzt aus der Notwendigkeit zur Konsolidierung des höfischen Haushalts und dem anhaltenden Bedürfnis nach angenehmer Unterhaltung und festlicher Repräsentation absolutistischer Macht. Mit der Gründung von Theaterschulen erhofften sich die Hoftheater, die Kosten für Schauspieler weiter zu reduzieren, indem man die Schüler dazu verpflichtete, nach dem Ende ihrer Ausbildung für mehrere Jahre weiter am Hoftheater beschäftigt zu sein. Indem letztlich die Etablierung und Institutionalisierung eines deutschsprachigen Theaterwesens von der staatlichen Subventionierung durch die Höfe abhängig blieb, gerieten die Theaterreformer und -praktiker in die paradoxe Situation, eine bürgerliche Theaterkultur unter der Aufsicht und Willkür der jeweiligen Regenten betreiben zu müssen. Die Theaterreformer standen vor dem Problem, dass sie einerseits den Staat mit der Obhut und Aufsicht des Theaters betrauten, sich aber andererseits so dem Geschmack und Eigenwillen der Regenten auslieferten.
68 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 263. 69 Ebd. 70 Iffland, August Wilhelm (2009) : Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen. S. 37.
Paradoxien im Institutionalisierungsprozess des deutschsprachigen Theaterwesens
1.2.4 Über »den poetischen Wert eines Stücks hörte er sie niemals reden«71 – Unlehrbarkeit der Schauspielkunst und Unbelehrbarkeit der Schauspieler
»Geschäftig im Müßiggange schienen sie an ihren Beruf und Zweck am wenigsten zu denken, über den poetischen Wert eines Stücks hörte er sie niemals reden, und weder richtig noch unrichtig darüber urteilen«72. Nicht weniger erstaunt als über die Unordnung in Mariannes Zimmer war Wilhelm Meister über das mangelnde Interesse der Schauspieler an der Schauspielkunst. Sie schienen mehr am ökonomischen Erfolg eines Stücks interessiert zu sein als an dessen künstlerischem Wert : Was »wird das Stück machen ? Ist es ein Zugstück ? Wie lange wird es spielen ? Wie oft kann es wohl gegeben werden ?«73 Den Schauspielern wurde neben ihrer zweifelhaften moralischen Gesinnung vorgehalten, dass sie über unzureichende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügten, um ihre Kunst angemessen auszuüben, keine entsprechende Ausbildung durchlaufen hätten, empfindlich auf Kritik reagierten und sich etwaige Belehrungen verbaten. Schack Hermann Ewald war der Ansicht, dass die meisten Schauspieler keine »philosophischen Menschenbeobachter«74 seien und ihre Kunst durch diese »Unwissenheit«75 zum »Handwerk«76 herabsinke. Ihre Studien bestünden in der Regel im Auswendiglernen der Rollen. Die Gründe dafür, dass die Schauspielkunst in Deutschland nur wenig ausgebildet sei, lägen darin, glaubt Heinrich Zschocke, dass Schauspieler ohne theoretische Kenntnisse ihre Kunst ausüben : »Ihre Kunst besteht größtentheils in, durch manche Uebung empfangnen Mechanism, ohne Wissenschaft.«77 Johann Jakob Engel kritisierte solche Schauspieler, die sich nicht die Mühe machten, die körperlichen Expressionen psychischer Zustände zu studieren, sondern sich bloß in heftigen und gewaltsamen Bewegungen gefielen und es ablehnten, »sich durch Lektüre und Nachdenken und gewähltern Umgang für jedes Erfordernis ihrer Kunst mehr zu bilden«78. Er befürchtet gar, dass derjenige, der sie unterrichten wolle, sich eher ihren Unwillen als ihren Dank einhandle. »Von der Schauspielkunst als der letzten unter den Künsten sollte der Schauspieler selbst nun allerdings das meiste wissen«, schreibt August Klingemann, »indeß ist gerade er, der sie ausüben soll, in den meisten Fällen derjenige, der das wenigste von ihr weiß. Diese Behauptung klingt paradox«79. 71 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 412. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 [Ewald, Schack Hermann] (1777) : Ueber Empfindung, Leidenschaften, Charaktere und Sitten, ein philosophischer Versuch für Schauspieler. S. 197. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Zschocke, Heinrich (1791) : Aphorismen : über relative Schönheit ; Moral für Schauspieler, Akademie des Schauspiels. S. 59. 78 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 44. 79 Klingenberg, August (2012) : Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen Kunststudiums für den Schauspieler. S. 100.
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Gleichwohl meldeten sich in der Debatte um Theaterschulen auch Kritiker zu Wort, die grundsätzlich die Lehrbarkeit der Schauspielkunst bezweifelten. Johann Georg Sulzer, John Hill und Pierre Rémond de Sainte-Albine waren der Ansicht, dass der Schauspieler wie jeder andere Künstler zu seinem Beruf geboren sein müsse. Er könne daher, »wo die Natur nicht das Beste an ihm gethan hat, so wenig, als ein andrer durch Regeln gebildet werden.«80 Die genieästhetischen Vorbehalte gegen eine Ausbildung von Schauspielern bestanden darin, dass Regeln und Unterricht die Entfaltung des natürlichen Talents verzögern, in falsche Bahnen lenken oder gar verhindern könnten. Der Schauspieler Heinrich Anschütz bezweifelte nicht nur, dass die Schauspielkunst gelehrt werden könne, sondern unterstellte ihren Lehrern sogar, dass sie sich an ihren Schülern bloß bereichern wollen würden. Die »Schauspielkunst läßt sich nicht lehren«, schreibt er, sie läßt sich bei angeborenem Talent durch unermüdliche Beobachtung und Uebung nur erlernen. […] Jeder, der sich zum Lehrer oder Professor der Declamations- oder Schauspielkunst aufwirft, betrügt sich und Andere um die Zeit und wenn er sich bezahlen lässt, nimmt er dem Schüler nur das Geld ab. […] Die Eleven der sogenannten dramatischen Lehrer werden selten mehr als abgerichtete Dilettanten81.
80 Sulzer, Johann Georg (1774) : Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikel, Zweyter Theil : von K bis Z. S. 1028. 81 Anschütz, Heinrich (1866) : Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. S. 309.
2 »Sagt man nicht bisweilen auch in der Gesellschaft, ein Mensch sei ein großer Schauspieler ?«1 – Das »self-fashioning«2 der »Bürger-Schauspieler«3
Die Öffnung der Hoftheater sowie der rege publizistische Austausch über theaterbezogene Themen waren Anzeichen einer Transformation der »repräsentative[n] Öffentlichkeit«4. Diese Umformung zeichnete sich nicht nur durch einen strukturellen Wandel der öffentlichen Institutionen aus, sondern betraf auch die zwischenmenschlichen Kommunikations- und Interaktionsformen. Erkennbar wird dies unter anderem an den veröffentlichten Empfehlungen zum gesellschaftlichen Umgang. Während Verhaltenslehren wie von Gracián und Weise im Sinne politischer Klugheit zur simulation (Verstellung) und dissimulation (Verhüllung) rieten, erachteten Autoren wie Resewitz, Bahrdt und Knigge ihre Reflexionen über den Umgang mit Menschen vielmehr als Richtlinien für ein unverstelltes Auftreten und ein am Gemeinwohl orientiertes Verhalten in der bürgerlichen Gesellschaft. Die mit dem Ideal der Natürlichkeit verbundene Ablehnung affektierter Verhaltensweisen korrespondierte mit der für die schauspielerische Praxis geforderten Ausdrucksökonomie auf der Bühne und der Überwindung des Deklamationstheaters zugunsten eines illusionistischen Theaters. Diese Wendung zur Natürlichkeit lässt sich insbesondere in Lessings und Engels schauspieltheoretischen Schriften beobachten. Während Lessing noch ein statisch wirkendes System rhetorischer Begriffe vorlegte, um eine natürliche Schauspielkunst zu begründen, die sich aber vom deklamatorischen Darstellungsstil der französischen Klassik und der Leipziger Schule abgrenzen sollte, schloss Engel zwar an Lessings Vorhaben an, überwand aber sein rhetorisch-sprachliches Primat und begründete die natürliche Schauspielkunst als Reflexion und Präzisierung des alltäglichen Umgangs. So wie Stephen Greenblatt behauptet, dass sich die »manuals of court behavior«5 der frühen Neuzeit wie »handbooks for actors, practical guides for a society whose members were nearly always on stage«6, lesen lassen, so lässt sich umgekehrt behaupten, dass sich die Anleitungen zur natürlichen Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als explizite oder zumindest implizite Beiträge zur Artikulation ästhetischer Ver1 Diderot, Denis (1968) : Das Paradox über den Schauspieler. S. 538. Vgl. auch [Diderot, Denis] (1830) : Paradoxe sur Le Comédien. S. 101 : « Ne dit-on pas dans le monde qu’un homme est un grand comédien ? » 2 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. S. 1. 3 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 157. 4 Habermas, Jürgen (1990) : Strukturwandel der Öffentlichkeit. S. 60. 5 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. S. 162. 6 Ebd.
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haltensnormen des gesellschaftlichen Umgangs verstehen lassen. In diesem Sinne deutet auch Günther Heeg Riccobonis L’Art du théâtre als »eine versteckte Einführung in die Kunst des schönen gesellschaftlichen Umgangs«7 und sieht in William Hogarths Analysis of Beauty nicht nur ein Künstlertraktat, sondern überdies eine »Anleitung für eine Ästhetik der Lebenspraxis.«8 Das Theater und die Schauspielkunst lassen sich daher neben der Literatur und der Popularphilosophie als eine bürgerliche »Sozialisationsinstanz«9 betrachten, die dazu beitrug, die kulturellen Praktiken der Bürgerlichkeit mit zu formen und so Vorlagen für eine bürgerliche Selbstinszenierung und Selbstbehauptung zu liefern. Einen solchen Akt der bürgerlichen Selbstbehauptung schildert Rousseau in seinen Confessions. Am Tag, als seine Oper Le Devin du village aufgeführt werden sollte, erschien er wie gewöhnlich unrasiert und mit einer schlecht gekämmten Perücke. Diesen Mangel an Anstand hielt er für eine mutige Tat, da ihm bewusst war, dass er im Beisein des Königs, der Königin, der königlichen Familie und des ganzen Hofes gegen die Regeln des Anstandes verstieß. Man führte ihn zur Loge und ließ ihn weit vorne Platz nehmen, damit er als Urheber der Oper für das Publikum gut sichtbar war : Als ich mich dann nach dem Anzünden der Lichter in meinem Aufzuge plötzlich inmitten all dieser aufs äußerte geschmückten Leute sah, [bekundet er,] fing mir doch an, etwas unbehaglich zumute zu werden : ich fragte mich, ob ich denn an meinem Platze sei und sich mein Äußeres auch für ihn schickte ; nach einigen Augenblicken innerer Unruhe antwortete ich mir ja, und zwar mit einer Unerschrockenheit, die vielleicht mehr der Unmöglichkeit, etwas zu ändern, entsprang als der zwingenden Kraft meiner Gründe. Ich sagte mir, ich bin an meinem Platze, da ich ja hier mein Stück gespielt sehen will, da man mich dazu eingeladen hat, da ich es ja nur zu diesem Zweck geschrieben habe und schließlich niemand anderes denn ich ein größeres Recht dazu hat, sich der Frucht meiner Arbeit und meines Talentes zu erfreuen. Ich bin wie gewöhnlich gekleidet, weder besser noch schlechter ; wenn ich erst beginne, mich in irgendeiner Sache der allgemeinen Meinung unterzuordnen, so werde ich ihr gar bald wieder mit Haut und Haaren verfallen sein. Um immer ich selbst zu sein, darf ich nirgendwo, wo es auch immer sein möchte, mich schämen, dem Stand gemäß gekleidet zu sein, den ich mir erwählt : mein Äußeres ist schlicht und nachlässig, aber weder schmutzig noch unsauber, auch der Bart ist es an sich nicht, da die Natur ihn wachsen läßt und er je nach Zeit und Mode sogar für eine Zierde gegolten hat. Man wird mich lächerlich und rücksichtslos finden : wohlan, was tut’s.10 7 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 156. 8 Ebd. S. 140. 9 Heßelmann, Peter (2002) : Gereinigtes Theater ? S. 238. 10 Rousseau, Jean-Jacques (1985) : Bekenntnisse. S. 530. – Vgl. auch Rousseau, Jean-Jacques (2012) : Œuvres complètes, Tome I. S. 509 : « Quand on eut allumé, me voyant dans cet équipage, au milieu de gens tous excessivement parés, je commençai d’être mal à mon aise : je me demandai si j’étais à ma place, si j’y étais mis répondis, oui, avec une intrépidité qui venait peut-être plus de l’impossibilité de m’en dédire que de la force de mes raisons. Je me dis : Je suis á ma place, puisque je vois jouer ma
Das »self-fashioning« der »Bürger-Schauspieler«
Gleichwohl nicht auf, sondern vor der Bühne, wird sich Rousseau der eigenen Sichtbarkeit bewusst und spielt nach kritischer Reevaluation seines Auftretens die Rolle des unangepassten Exzentrikers. Stephen Greenblatt beschreibt solche Akte der Selbst-Inszenierung als »selffashioning«11. Gemeint ist damit die Bildung von »a distinctive personality, a characteristic adress to the world, a consistent mode of perceiving and behaving.«12 Dieser Prozess ist weder heilloser Subjektivismus noch Entfaltung einer angelegten inneren Natur. Self-Fashioning beschreibt vielmehr den Prozess der Selbstrepräsentation innerhalb eines kulturellen Systems, das ein loses, zuweilen widersprüchliches Konglomerat von Leitideen, Regeln und Praktiken sowie deren individueller Aneignung und kollektiver Praxis umfasst. Das kulturelle System der Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, das keineswegs wie religiöse oder ideologische Systeme institutionell und hierarchisch strukturiert ist, stellt nach Hettling eine Reaktion auf die Verunsicherungen dar, die durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse ausgelöst wurden.13 Die disparaten Anforderungen der arbeitsteiligen und sich ausdifferenzierenden Gesellschaft sowie die kulturelle Heterogenität im deutschen Reich erschwerten ihre widerspruchsfreie Integration und machten eine individuelle Aneignung und Ausgestaltung im Alltag geradezu erforderlich, die zusammen mit der Hochschätzung der Autodidaxie das bürgerliche Selbst- und Bildungsverständnis nachhaltig prägten. Die medienspezifische Eigenheit des Theaters, dass die Bühnenpraxis der Schauspieler und das Rezeptionsverhalten der Zuschauer wechselseitig aufeinander bezogen sind, lässt bereits erkennen, dass nicht nur die Schauspielkunst und das Theater Einfluss auf das Self-Fashioning des bürgerlichen Publikums hatten, sondern umgekehrt auch das kulturelle System der Bürgerlichkeit Geltung für das Selbstverständnis des Schauspielers erhalten sollte. Denn jede Darstellung des Menschen ist Konventionen unterworfen, so Roselt, »die sich im steten Bezug zu gesellschaftlichen und ästhetischen Debatten außerhalb des Theaters herausbilden, diese reflektiert übernehmen oder aber ausdrücklich mitgestalten.«14 pièce, que j’y suis invité, que je ne l’ai faite que pour cela, et qu’après tout personne n’a plus de droit que moi-même à jouir du fruit de mon travail et de mes talents. Je suis mis à mon ordinaire, ni mieux ni pis. Si je recommence à m’asservir à l’opinion dans quelque chose, m’y voilà bientôt asservi derechef en tout. Pour être toujours moi-même, je ne dois rougir en quelque lieu que ce soit d’être mis selon l’état que j’ai choisi : mon extérieur est simple et négligé, mais non crasseux ni malpropre ; la barbe ne l’est point en elle-même, puisque c’est la nature qui nous la donne, et que, selon les temps et les modes, elle est quelquefois un ornement. On me trouvera ridicule, impertinent ; eh ! que m’importe ! » 11 Greenblatt, Stephen (2005) : Renaissance Self-Fashioning. S. 1. – Moritz Baßler übersetzt Self-Fashioning mit »Selbst-Bildung« (Baßler 2001 : 35). Die Übersetzung macht den Begriff zwar für bildungstheoretische Überlegungen anschlussfähig, verschleiert aber die theatralische Konnotation der Kostümierung, die im Begriff angelegt ist. 12 Ebd. S. 2. 13 Vgl. Hettling, Manfred (2010) : Bürgerlichkeit als kulturelles System. S. 13. 14 Roselt, Jens (2005) : Seelen mit Methode. Einführung. S. 14.
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Nicht umsonst betonten die Schauspieltheoretiker immer wieder, dass »der Umgang mit der Welt, die Kenntniß der Sitten« die Schulen seien, »wo der Schauspieler geübet, und sogar bis auf den Gang geübet«15 werde. Letztlich erwies sich die Disziplinierung der Schauspieler, die Nötigung zur Pünktlichkeit, Reinlichkeit und Aufrichtigkeit als Ausdruck eines bürgerlichen Erziehungsprogramms. Noch bevor Autoren wie Resewitz, Campe, Salzmann oder Bahrdt bürgerliche Verhaltensrichtlinien zusammenstellen, realisierte Ekhof mit seiner Akademiegründung ein pädagogisches Programm, um Schauspielern ein bürgerliches Arbeitsethos zu vermitteln. Als eine bürgerliche Tätigkeit sollte die Schauspielkunst erachtet werden, da sich ihre Ein- und Ausübung – wie Goethe es 1825 formulierte – zwar im Medium des Spiels vollziehe, sie aber »nicht spielend«16 geschehe. »Das sicherste Mittel, ein edler Mann zu scheinen«, schreibt Iffland, »wäre also wohl, wenn man sich bemüht, es zu sein.«17 Das Self-Fashioning des Schauspielers als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft vollzog sich unter den Bedingungen einer ästhetisch-moralischen Erziehung, die nicht bloß eine schauspielerische Darstellungsweise oder ein auf das Bühnenspiel begrenztes Berufsethos vermittelte, sondern auch jenseits der Bühne im gesellschaftlichen Umgang Geltung beanspruchte. Eine Regel der Schauspielkunst sei daher, so Beck, »nichts auf der Bühne zu sagen oder abzuhandeln, was man in einer gesitteten Gesellschaft vorzunehmen sich scheuen würde«18. Günther Heeg ist der Ansicht, dass das Ergebnis der »wechselseitigen Mimikry von Bürger und Schauspieler« die »›bürgerliche Schauspielkunst‹ in der doppelten Bedeutung des Wortes«19 gewesen sei. Der »Bürger-Schauspieler«20 Ekhof brillierte als Bürger auf und jenseits der Bühne. Er feierte in Lessings Emilia Galotti als Emilias Vater Odoardo seine größten Erfolge und galt unter Zeitgenossen als »tugendhafter Mann.«21
15 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 41. 16 Goethe, Johann Wolfgang (1992) : [Jugend der Schauspieler]. S. 569. 17 Martersteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. S. 112. 18 Ebd. S. 110. 19 Heeg, Günther (2000) : Das Phantasma der natürlichen Gestalt. S. 176. 20 Ebd. S. 157. 21 [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1778) : Ekhof. [S. 117].
3 »Erziehungskunst, in diesem Fach ?«1 – Pläne und Gründungen von Theaterschulen im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland Klaus Mollenhauer konstatierte in seinen Korrekturen am Bildungsbegriff, dass die Ironie Diderots, die vom Körper-Unglück zeugenden Bilder Goyas, die scharfsinnigen Analysen des »unglücklichen« und des »zerrissenen« Bewußtseins Hegels, der Spott Nietzsches über diese Art von Bewusstseinsphilosophie, schließlich auch die Psychoanalyse Freuds und die philosophische Anthropologie Plessners […] offenbar nicht aus[reichten], um der deutschen Bildungstheorie einen leiborientierten Blickpunkt beizubringen.2
Ästhetische, leibliche und vermutlich auch religiöse Erfahrungen scheinen aufgrund ihrer schwierigen Rationalisierbarkeit »Sperrgut«3 für die moderne Pädagogik zu sein. Gleichwohl wies Mauss Anfang des 20. Jahrhunderts daraufhin, dass Körpertechniken – wie Schwimmen, Essen und Schlafen sowie Kraftakte und Kunstgriffe der Taschenspielerkunst, Leichtathletik oder Akrobatik – keineswegs bloß Entfaltungen oder Entwicklungen einer natürlichen Anlage, sondern kulturelle Insignien seien, die sich dem Körper durch Gewohnheit, Übung oder Training eingeschrieben haben.4 Die Tradierung all dieser Körpertechniken vollziehe sich mehr oder weniger mimetisch durch vor-, mit- und nachmachen. Erziehung, so Mauss, sei der Anreiz zur Nachahmung. Diese implizite oder explizite Tradierung von Körpertechniken einer Kultur ist immer schon historischen Wandlungsprozessen, produktiven und kritischen Auseinandersetzungen unterworfen gewesen, die meist dann eintraten, wenn gesellschaftlicher, kulturhistorischer oder technischer Wandel die Traditionen fragwürdig erscheinen ließ.5 Zuletzt machte der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seiner kulturhistorischen Studie darauf aufmerksam, dass auch handwerkliche Fertigkeiten tradiert werden. Hierbei unterscheidet Sennett das Können eines Schreiners nicht vom Können eines Dirigenten, denn ihrem Können liege gleichermaßen zugrunde, dass es auf hoch entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten basiere, die nicht einem angeborenen Talent, sondern dis-
1 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das ernste Singe-Schauspiel betreffend. S. 5. 2 Mollenhauer, Klaus (1987) : Korrekturen am Bildungsbegriff ? In : Zeitschrift für Pädagogik, 33. Jg. Heft 1. S. 1–20. S. 8. 3 Mollenhauer, Klaus (1990) : Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewissheit. In : Zeitschrift für Pädagogik, 36. Jg. Heft 4. S.481–494. S. 484. 4 Vgl. Mauss, Marcel (1978) : Soziologie und Anthropologie. S. 204. 5 Vgl. Brüggen, Friedhelm (2005) : Tradition. S. 1528–1532.
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ziplinierter Unterweisung und langwieriger Übung entspringen.6 Auch ein ausgeprägtes künstlerisches Talent könne, so Sennett, Übung und Unterweisung nicht ersetzen : Ein musikalisches Wunderkind wie Wolfgang Amadeus Mozart besaß tatsächlich die Fähigkeit, eine Vielzahl von Noten im Gedächtnis zu behalten, doch im Alter zwischen fünf und sieben Jahren lernte Mozart, sein großes angeborenes musikalisches Gedächtnis durch Improvisation am Cembalo zu trainieren. Er entwickelte Methoden, mit denen er scheinbar spontan musizieren konnte. Auch die Musik, die er später komponierte, erschien spontan, weil er die Noten direkt niederschrieb und dadurch nur noch vergleichsweise wenige Korrekturen vornahm. Doch wie aus Mozarts Briefen hervorgeht, ging er seine Kompositionen immer wieder im Geiste durch, bevor er sie niederschrieb.7
Der Künstler gleicht dem Handwerker insofern, als dass sein handwerkliches Können der Malerei, der Bildhauerei oder des Musizierens einem langwierigen Übungs- und Schulungsprozess entspringt, der in der Forschung aber größtenteils ungesehen blieb. Der amerikanische Soziologe David Sudnow, der sich in einer ethnographischen Studie mit der Improvisationsfähigkeit von Jazzpianisten befasste, monierte an der musiksoziologischen Forschung, dass man vieles über die Rahmenbedingungen der Musikproduktion erfahre, jedoch wenig darüber, wie sich die Arbeit des Musizierens selbst gestalte, also darüber, wie Musik gemacht werde.8 Das Üben, die Unterweisung und das eigentliche Praktizieren einer Kunst(-fertigkeit) blieben bisher Marginalien der Kunstgeschichte. Sloterdijk fordert daher, diesen verborgenen Techniken eine eigene Geschichtsschreibung zu widmen, eine Art zweite Kunstgeschichte.9 Für die bildende Kunst gibt es eine bis in die Renaissance zurückreichende Tradition von Kunstschulen und Kunstakademien. Dies gilt nicht in gleicher Weise für die Schauspielkunst. Sie litt vielmehr unter der seit Platon und Aristoteles anhaltenden und kontrovers geführten Debatte über den moralischen Stellenwert des Theaters, unterschied sich von anderen Künsten dahingehend, dass Kunstobjekt und künstlerisches Subjekt eine unteilbare körperliche Einheit bilden, die Schauspielkunst auf die leibliche Ko-Präsenz von Produzenten und Rezipienten angewiesen ist und sich erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts von der Rhetorik emanzipierte. Laut Assmann habe es in der deutschen Theatergeschichte drei Anläufe zur »höheren Ausbildung der Schauspieler« gegeben, die »immer auch ein Streben nach sozialer Hebung des ganzen Standes«10 war : »um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, vor 1850 und 6 Vgl. Sennett, Richard (2010) : Handwerk. 2. Auflage. Berlin : Berliner Taschenbuch Verlag. S. 32. 7 Ebd. S. 55 f. 8 Vgl. Alkemeyer, Thomas (2007) : Lernen und seine Körper. Habitusformungen und umformungen in Bildungspraktiken. S. 119. 9 Vgl. Sloterdijk, Peter (2009) : Du mußt dein Leben ändern. S. 571. 10 Assmann, Fritz (1921) : Deutschlands Theaterschulen im 18. und 19. Jahrhundert. S. 8.
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mit zähem Nachdruck seit 1900.«11 Vor dem 18. Jahrhundert gab es wahrscheinlich weder in Deutschland noch Frankreich oder England eine institutionalisierte Ausbildung von Schauspielern. Max Herrmann, ein Pionier der theaterhistorischen Forschung, konstatiert, dass das ganze Mittelalter eine berufsmäßige Schauspielkunst nicht kannte, »sondern nur Darstellung durch Dilettanten, die nicht Kunst ist und daher aus dem Ganzen des mittelalterlichen Spiels nicht herausgenommen werden«12 könne. Allenfalls lässt sich daher der Unterricht in Rhetorik sowie die Theaterpraxis an Schulen und Universitäten als eine institutionalisierte Ausbildung schauspielerischer Fähigkeiten erachten, auch wenn es nicht um die Ausbildung von Berufsschauspielern ging. Emil Riedel behauptet gar, dass aus »den Schulaufführungen […] sich, kurz gefaßt, das gesamte deutsche Theaterwesen entwickelt«13 habe. Es trifft zwar zu, dass, wie Riedel schreibt, die ersten deutschen Berufsschauspieler Studenten, ihre Prinzipale Schulmeister, ihre Stücke Schulkomödien waren und auch ihr Spiel demjenigen der Schultheater glich, aber Vorbilder des professionellen, gewerblichen Theaterwesens in Deutschland waren die englischen Komödiantentruppen gewesen. Das Spiel der englischen Komödianten, die bereits Ende des 16. Jahrhunderts über die Niederlande und Dänemark nach Deutschland gekommen waren, erfreute sich großer Beliebtheit beim Publikum. Insbesondere auf die akademische Jugend übten sie eine anhaltende Anziehungskraft aus. Vermehrt schloss sie sich den umherziehenden Truppen an oder gründete nach ihrem Vorbild eigene Schauspieltruppen. Auch wenn Riedels Behauptung daher zu bezweifeln ist, hebt sie gleichwohl die nicht zu unterschätzende kultur- und bildungspolitische Bedeutung des Schultheaters noch einmal hervor. Auch in Frankreich nahm insbesondere das Jesuitentheater, so Kindermann, eine wichtige »Schwellenfunktion«14 ein. In Deutschland waren Schultheater die ersten Theaterschulen. »Es ist das erstemal in Deutschland«, so Flemming, »daß man sich bemüht den Schauspieler zu erziehen.«15 Während in Frankreich bereits der Ruf nach einer institutionalisierten und staatlich subventionierten Ausbildung von Schauspielern in der Mitte des 18. Jahrhunderts laut wurde und in den letzten Jahren des Ancien régime eine entsprechende Schule gegründet wurde, setzte die Professionalisierung der Schauspieler in Deutschland mit der Gründung einer von Schauspielern selbst verwalteten Vereinigung ein. Die von Konrad Ekhof und den Mitgliedern der Schönemann’schen Gesellschaft gegründete Akademie bestand zwar 11 Ebd. 12 Herrmann, Max (1962) : Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit. Hrsg. und mit einem Nachruf versehen von Ruth Mövius. Berlin : Henschel Verlag. S. 14. – Herrmann rekonstruiert gleichwohl die Anfänge einer berufsmäßigen Schauspielkunst in der Antike, deren Traditionen aber verloren gingen. Schauspielschulen, so Bernd Seidensticker, gab es jedoch nicht. Die Ausbildung erfolgte in Schauspielertruppen (Greges oder catervae) oder bei berühmten Schauspielern (Seidensticker 2010 : 97). 13 Riedel, Emil (1885) : Schuldrama und Theater. S. 184. 14 Kindermann, Heinz (1961) : Theatergeschichte Europas, Bd. 4. S. 57. 15 Flemming, Willi (1923) : Geschichte des Jesuitentheaters in den Landen deutscher Zunge. S. 195.
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nur knapp dreizehn Monate und es wurden auch keine neuen Mitglieder aufgenommen oder ausgebildet, der Akademiegedanke sollte aber Schule machen. Das Thema der Professionalisierung und Ausbildung von Schauspielern fand im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Eingang in die Theaterzeitschriften und die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung zur Verbesserung des deutschsprachigen Theaterwesens wurde öffentlich diskutiert. Die meisten Theaterschulentwürfe kamen jedoch selten über ihren Entwurfs- oder Forderungscharakter hinaus. Gleichwohl wurden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Stuttgart, Mannheim, Wien, Weimar, Regensburg, Karlsruhe und Braunschweig Theaterschulen eingerichtet. Ihre zeitliche und räumliche Begrenztheit macht sie zu »Mikrogeschichten des Theaters«16. Schmitt unterscheidet bei diesen Theaterschulen und ihren Entwürfen vier »Orga nisationsformen«17 : erstens das »Theaterphilanthropin der Aufklärer«18, dessen Prämisse darin bestand, dass die moralisierende Wirkung des Theaters nur dann entfaltet werden könne, wenn die Schauspieler moralisch erzogen worden seien, zweitens die »Theaterpflanzschule der Hoftheater«19, die den Ritterakademien nachempfunden seien, drittens die »Theaterbildungsanstalten des 19. Jahrhunderts«20, die als staatliche Bildungseinrichtungen unabhängig vom Theaterbetrieb eingerichtet werden sollten, sowie viertens die »Theaterakademien«21, bei denen sich Schauspieler in selbstverwalteten Zusammenschlüssen über theoretische und praktische Anliegen der Schauspielkunst austauschten. Schmitt versäumt es allerdings, auf die beiden Bedeutungsdimension hinzuweisen, die mit dem Begriff ›Theaterschule‹ verbunden sind. Denn mit ›Schule‹ kann einerseits eine pädagogische Institution beschrieben werden, deren Lehr- und Lernsituationen durch unterrichtliche Vorgaben formalisiert sind. Andererseits lässt sich unter ›Schule‹ auch eine quasi-institutionelle, pädagogische Einrichtung verstehen, deren Lehr- und Lernsituationen nicht formalisiert sind, deren Wirkung aber bei den Schülern eine Zusammengehörigkeit erkennen läßt. Die Leipziger, Hamburger, Mannheimer oder Weimarer Schule sind insofern Theaterschulen, als sie einen bestimmten Darstellungsstil beschreiben, der von den Schauspielern im Kontext gemeinschaftlicher, informeller Lehr- und Lernprozesse erworben, ausgebildet und weiterentwickelt wurde. Hippolyt von Bothmer ist der Ansicht, dass durch die Auflösung von Wandertruppen und die Einrichtung von Hoftheatern diese quasi-institutionellen Lehr- und Lernsituationen verloren gegangen seien : Damals, als die einzelnen Schauspielerpricipale Deutschland durchzogen, waren die Verhältnisse in gewisser Hinsicht für die Ausbildung junger Talente günstiger als jetzt. Jeder dieser berühmten Bühnenvorstände bildete gleichsam eine eigene Schule, und die jüngern 16 Lazardzig, Jan & Tkaczyk, Viktoria & Warstat, Matthias (2012) : Theaterhistoriographie. S. 110. 17 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 125. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd.
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Mitglieder entwickelten sich unter der strengen Aufsicht und gewissenhaften Leitung ihrer Vorbilder. Was ist für den innern Zusammenhalt der Schauspielkunst, was ist für die Erziehung der Mitglieder geschehen, seitdem an die Stelle dieser in sich geschlossenen Verbindung die Hoftheater getreten sind ? Kein allgemeines Streben, ausgehend von der Gemeinschaftlichkeit einer geregelten Ausbildung, verbindet die einzelnen Darsteller und unterwirft sie den heilsamen Schranken ästhetischer Regeln.22
Dieser Kritik lässt sich entgegenhalten, dass an Hoftheatern wie in Weimar oder Mannheim durchaus darauf geachtet wurde, dem gemeinsamen Bühnenspiel einen einheitlichen Stil zu verleihen. Zudem übersieht Bothmer in seinem romantisierten Rückblick auf die Zeit der Wanderbühnen, dass ihre Ausbildungspraxis von angehenden Schauspielern keineswegs durch Beständigkeit oder Geschlossenheit geprägt war. Kinder von Schauspielern wurden teilweise bei Schauspielern anderer Truppen untergebracht oder nach Möglichkeit von Tanz- oder Gesangslehrern unterrichtet, die nicht Mitglied einer Schauspielergesellschaft waren. Bothmers Einwand deutet aber darauf hin, dass sich mit der Einrichtung von Hoftheatern und der Auflösung der Wanderbühnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rahmenbedingungen für die Erziehung und Bildung von Schauspielern wesentlich veränderten. Indem das deutschsprachige Berufstheater im 18. Jahrhundert als Bildungsanstalt in Erscheinung trat und hieraus größtenteils seine Legitimation als nützliche Einrichtung des öffentlichen Lebens abgeleitet wurde, versetzte man auch den verfemten Wanderschauspieler und Komödiant in den Stand eines ›Volkserziehers‹. Mit diesem Funktionswandel erwies sich die »Kulissen- und Landstraßenerziehung«23, die Schauspieler in der Gemeinschaft einer Wandertruppe erhalten konnte, nunmehr als unzureichend. Eine Erziehung von Schauspielern wurde in gewisser Weise also erst als notwendig erachtet, als das Theater selbst als pädagogische Einrichtung der Aufklärung in Erscheinung trat. Eine entsprechende Erziehung wurde notwendig, weil der ästhetisch-moralische Stellenwert der sich herausbildenden Schauspielkunst nicht zuletzt in Abhängigkeit zur Sittlichkeit und Bildsamkeit der Schauspieler bestimmt wurde. Der Diskurs über die Ausbildung von Schauspielern war somit ein integraler Bestandteil der Institutionalisierungsprozesse des deutschsprachigen Theaterwesens im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die Forderung nach einer institutionalisierten Ausbildung von Schauspielern sowie die Entwürfe zu entsprechenden Schulen und Akademien waren in der Regel Teil eines umfassenderen Forderungskatalogs nach Reformen wie beispielsweise der Abschaffung des Prinzipalwesens, der Einführung stehender Theater unter staatlicher Aufsicht und der Einführung eines Pensionswesens für Schauspieler. Die Differenziertheit der einzelnen Entwürfe ist sehr unterschiedlich, sodass nur selten alle didaktisch relevanten Fragen – 22 Bothmer, Hippolyt von (1861) : Deutsche Theaterschulen, deren Werth und Notwendigkeit. Braunschweig : Westermann. S. 4 f. 23 Devrient, Eduard (1967) : Geschichte der deutschen Schauspielkunst. S. 440.
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wer, was, wem, wo und auf welche Weise beibringen soll – beantwortet werden. Auch die Quellen zu den eingerichteten Theaterschulen lassen nicht immer eine Beantwortung all dieser Fragen zu. Bei der Frage, wer Schauspieler ausbilden könne, wurde diskutiert, ob Schauspieler, Gelehrte oder Dramaturgen angemessene Lehrer seien. Zwar wolle man musterhafte und praxiserfahrene Vorbilder für angehende Schauspieler einsetzen, befürchtete aber einerseits, dass ihre schauspielerische Expertise sie nicht zwangsläufig zu fähigen Lehrern mache, andererseits bleibe fraglich, ob sie dem Anspruch einer wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Schüler gerecht werden können. Carl Martin Plümicke schlug die Schauspielerin Johanna Christiane Starke als Ausbilderin für junge Schauspieler vor. In Mannheim bemühte man sich darum, Ekhof als Lehrer zu gewinnen, begnügte sich aber mit den weniger bekannten Schauspielern Lorenz und Marchand. In der Carlsschule erhielten die angehenden Schauspieler Unterricht vom ehemaligen französischen Schauspieler Uriot, am Musikinstitut im Stuttgarter Waisenhaus konnte der Schauspieler Eßlair dafür gewonnen werden, Unterricht im Deklamieren zu erteilen. In Wien leitete der Schauspieler Müller die Theaterschule, am Karlsruher Hoftheater war der Schauspieler Peter Mittell für die Ausbildung der Schauspieler verantwortlich. In der Regel wurden an den Schauspielschulen der Hoftheater weitere Aufseher und Lehrkräfte wie Gesangs- oder Tanzlehrer hinzugezogen. Dalberg, Koller und Klingemann, die sich in Mannheim, Regensburg und Braunschweig schauspielpädagogisch betätigten, waren zwar keine professionellen Schauspieler, aber jeder von ihnen hatte Stücke für die Bühne geschrieben und verfügte über entsprechende theatertheoretische und -historische Kenntnisse. Das erklärte Ziel der meisten Theaterschulentwürfe war eine Verwissenschaftlichung der Schauspielkunst sowie eine theoriegeleitete Ausbildung angehender Schauspieler. Der Handwerkscharakter der Schauspielkunst sowie ihre ungeregelte Praxis sollten hierdurch überwunden werden. Zu den wissenschaftlichen Lehr- und Lerninhalten zählten in der Regel verschiedene literatur-, kunst-, theater- und kulturhistorische Studien : Geschichte, insbesondere europäische Literatur- und Theatergeschichte in Verbindung mit Geographie, Volkskunde und Mythologie sowie das Studium verschiedener europäischer Sprachen wie Französisch, Italienisch, Englisch und Latein sollten auf dem Stundenplan stehen. Außerdem sollten psychologisch-anthropologische Studien im Bereich der Physiognomie, Anatomie und Psychologie betrieben werden. Die Notwendigkeit dieser Studien wurde damit begründet, dass eine an der empirisch gegebenen Natur orientierte Schauspielkunst die Aufgabe habe, das durch die Leidenschaften motivierte Verhalten von Menschen nach bestimmten Grundsätzen nachzuahmen. Eine solche natürliche Schauspielkunst könne nicht ohne das Studium der menschlichen Natur auskommen. Denn während in anatomischen Theatern der tote Körper des Menschen studiert wurde – so wie es Schiller während seines medizinischen Studiums an der Hohen Carlsschule in Stuttgart erlebte –, avancierte das bürgerliche Theater im
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18. Jahrhundert zu einem »Labor der Seele und der Emotionen«24, in dem die Wechselwirkungen von Körper, Geist und Leidenschaften lebendig ausgestellt wurden. Als empfehlenswerte Lektüre erachtete Rahbek hierfür die Werke von Henry Fielding und Samuel Richardson sowie Shakespeare, Lessing, Goethe – und vor allem : Rousseau.25 Kollers Lektüreempfehlungen für angehende Schauspieler umfassten beinah alle wesentlichen theatertheoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts. In den Theaterschulentwürfen wurde daher immer wieder gefordert, die entsprechende Literatur in Form einer Theaterbibliothek den Schülern zugänglich zu machen. Gleichwohl dürfte das Studium der Natur kein bloßes Buchstudium sein. »Durch das Lesen kann man zwar lernen, wie die Menschen nach ihren verschiedenen Charakteren denken«, schrieb Riccoboni, »allein die Art wie sie ihre Gedanken ausdrücken, kann man nur durch ihren Umgang lernen.«26 Insbesondere die Beobachtung von Menschen und der Umgang mit solchen, die sich im sozialen Miteinander nicht verstellen, sei aufschlussreich, um zu erfahren, wie Menschen ihre Gefühle ausdrücken. Aus diesem Grund wollte Engel den Schauspielern nicht wie in einem rhetorischen Regelwerk minutiös vorschreiben, wie sie ihre Arme und Beine auf der Bühne zu bewegen haben, um bestimmte Affekte darzustellen. Er liefert den Schauspielern kein abrufbares Zuordnungsschema zwischen Empfindungen und Ausdruck, sondern legt ihnen – wie Lichtenberg es gefordert hatte – einen »Orbis pictus«27 vor. Für dieses Studium der körperlichen Expression menschlicher Leidenschaften empfahl man auch die aufmerksame Betrachtung von aussagekräftigen Kupferstichen, die Schauspieler in bedeutenden Szenen, Kopien von Historiengemälden oder antike Skulpturen zeigen. William Cooke listete eine Reihe von Skulpturen auf, an denen die Schauspieler die Beredsamkeit des Leibes und den Ausdruck menschlicher Leidenschaften studieren könnten. Als der edle Anstand der Mannheimer Schule die Gebote der natürlichen Schauspielkunst überlagerte, die Idealisierung und Ästhetisierung der Natur in der Weimarer Schule bedeutender wurde als ihre lebensechte Nachahmung, rückten diese kunstgeschichtlichen Studien im Ausbildungsprogramm der Schauspieler stärker in den Vordergrund. Für die älteren Schauspieler bedeutete diese Neuausrichtung der schauspielerischen Praxis, so Kindermann, grundsätzlich umzulernen : Innerhalb zweier Schauspielergenerationen sollte ja damals zweimal umgelernt werden : zuerst aus dem Pathos- und Typenspiel der franzosenhörigen Neuberin zur Bewältigung 24 Ruppert, Rainer (1995) : Labor der Seele und der Emotionen. S. 57. 25 Vgl. Rahbek, Knud Lyne (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. S. 47. 26 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 916. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 61 : « On peut, en lisant, apprendre comment pensent les hommes suivant leurs différens caractères, mais ce n’est qu’en les voyant que l’on peut connoître la maniére dont ils expriment leurs pensées. » 27 Lichtenberg, Georg Christoph (1974) : Vorschlag zu einem Orbis Pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanschreiber und Schauspieler. S. 308.
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des Charakteristisch-Natürlichen bei Ekhof, des Charakteristisch-Wahrhaftigen bei Schröder. Und nun verlangte Goethe den schwierigen Schritt herüber zur Darstellung des Wesensmäßigen, d. h. zum darstellerischen Aufspüren der ›Urformen‹ hinter der Fassade des Individuell-Einmaligen.28
Auch in der Kunstgeschichte wurde seit Giorgio Vasari die Forderung, der Künstler solle die Natur einerseits lebensnah nachahmen, andererseits aber auch idealisieren, immer wieder unterschiedlich ausgelegt und gewichtet.29 Erste physiognomische Studien versuchten bereits seit Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts die Zusammenhänge zwischen den Leidenschaften des Menschen und ihrem gestischen und mimischen Ausdruck zu rekonstruieren. Der französische Hofmaler Charles Le Brun hatte versucht diese Erkenntnisse in seinen Vorlesung Sur l’expression génerale et paticulière, die er an der Académie royale de peinture et de sculpture in Paris vermutlich zwischen 1667 und 1669 hielt, für die Praxis der Malerei fruchtbar zu machen.30 Kunstschüler sollten neben dem Studium der Natur aber auch ein Studium der antiken Kunstwerke betreiben, das der Maler Joseph Wrigth of Derby in seinem Gemälde An Academy by Lamplight einfing und das William Pether in einem Kupferstich kopierte. Das Bild zeigt sechs jugendliche, zum Teil noch kindlich wirkende Kunstschüler, die in einem gewölbten Saal um die bekannte Skulptur der Nymphe mit der Muschel versammelt sind. Obgleich einigen Mannheimer Schauspielern Sulzers Theorie der schönen Künste, Heinrich August Ottokars Theater-Journal für Deutschland und Rahbeks Briefe eines alten Schauspielers an seinen Sohn durchaus bekannt waren und Ekhof mit den Mitgliedern seiner Akademie theatertheoretische Texte diskutierte, bleibt es jedoch fraglich, ob dieses vorgesehene, immense Studienprogramm in der Ausbildung der Schauspieler tatsächlich Berücksichtigung fand. Neben wissenschaftlichen Lehr- und Lerninhalten sahen die Lehrplanentwürfe auch körper- und sprechtechnische Übungen vor. Denn mit »Überlegung spielen zu können«31 (jouer par réflexion) bedeutete für Riccoboni eben auch, die »natürlichen Geschicklichkeiten«32 (dispositions naturelles), die ein angehender Schauspieler mitbringe, durch bestimmte Regeln der Kunst zu vervollkommnen. Die körper- und sprechtechnischen Übungen umfassten in der Regel verschiedene Formen des Deklamierens, des dialektfreien und rhythmischen Sprechens. Die Tanzkunst sollte in der Ausbildung einen zentralen Platz einnehmen, da man der Ansicht war, dass durch sie unangemessene Gewohnheiten überwunden werden und dem Körper eine anmutige Gestalt verliehen 28 Kindermann, Heinz (1962) : Theatergeschichte Europas, Bd. 5. S. 168. 29 Vgl. Rügler, Axel (2005) : Zur Idee der Kunstakademie. S. 24. 30 Vgl. Zelle, Carsten (1989) : Physiognomie des Schreckens im achtzehnten Jahrhundert. S. 94. 31 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 888. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 2. 32 Lessing, Gotthold Ephraim (1989) : Die Schauspielkunst. S. 892. Vgl. auch Riccoboni, François (1750) : L’Art du Théâtre. S. 11.
Pläne und Gründungen von Theaterschulen Abb. 21 Pether, William (1772) : An Academy by Lamplight [after Joseph Wright of Derby]. Kupferstich, 58,1 × 45,4 cm. New York : The Metropolitan Museum of Art.
werden könne. Ferner wurde das Fechten und Exerzieren zu diesen körpertechnischen Übungen gezählt. Der Fechtunterricht unterschied sich, so Schmitt, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht von den Fechtstunden, wie sie auch Studenten erhielten. Es ging hierbei nie um die Vermittlung bühnenspezifischer Fertigkeiten. »Fechten und Tanzen dienten vielmehr – wie auch das Exerzieren – als Vorschule zur Disziplinierung des Körpers und es verwundert deshalb auch nicht, wenn in einigen Entwürfen die Forderung nach gymnastischem Unterricht hinzukam.«33 Einige wenige Entwürfe und Satzungen von Theaterschulen sahen vor, dass die Schauspieler so ausgebildet werden sollten, dass sie auch einer anderen Tätigkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nachgehen könnten, falls sie keine Beschäftigung an einem Theater fänden oder sie die Schule vorzeitig wegen mangelndem Talent verlassen müssten. Gleichwohl wurde immer wieder betont, dass angehende Schauspieler vor ihrer Ausbildung nicht nur eine gewöhnliche Schullaufbahn durchlaufen haben sollten, sondern darüber hinaus auch bestimmte Talente und Voraussetzungen mitbringen müssten, um erfolgreich Schauspieler werden zu können. Hier wurden sowohl psychische als auch physische Anlagen aufgezählt wie ein ausreichendes Erinnerungsvermögen, eine lebhafte 33 Schmitt, Peter (1990) : Schauspieler und Theaterbetrieb. S. 158.
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Phantasie, eine ansehnliche äußere Gestalt sowie eine bildsame und gesunde Stimme. Wie die Eignung der aufzunehmenden Schüler letztlich geprüft wurde, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Goethe jedenfalls ließ angehende Schauspieler am Weimarer Hoftheater verschiedene Texte vorlesen, um über ihr Talent zu urteilen. Während in Ekhofs Schauspielerakademie, im Mannheimer Theaterausschuss und in Klingemanns Kunstschule bereits praktizierende Schauspieler sich fortbildeten, sahen die Theaterschulentwürfe vor, die Erziehung und Bildung von Schauspielern möglichst früh beginnen zu lassen : Die »[f]rühe Bildung des Schauspielers« sei, so Friedel, der alleinige Weg, »der zur wahren Verbesserung der Sitten von dieser Seite«34 führe. Laut Müllers Bericht bestand Lorenz’ Theaterschule in Mannheim aus acht Mädchen und vier Jungen, die zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt waren und bereits im Hofballett tätig gewesen waren. An Müllers Institut in Wien sollten mindesten 30, aber nicht mehr als 60 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Sie sollten zwischen zehn und zwölf Jahren alt sein, die üblichen Kinderkrankheiten bereits überstanden haben und keine Sprachfehler oder körperliche Beeinträchtigungen aufweisen. Koller unterrichtete in Regensburg 44 Schüler. Am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe sollten sechs Knaben und zehn Mädchen als Zöglinge aufgenommen werden. Die Mädchen sollten zwischen elf und zwölf Jahren alt sein, die Jungen könnten angesichts der mit dem Stimmbruch einsetzenden Veränderungen der Stimme schon mit zehn Jahren in die Schule eintreten. Neben den als tauglich befundenen Kindern der beiden Waisenhäuser in Stuttgart wurden auch Kinder aus bürgerlichen Kreisen in das Musikinstitut aufgenommen. Nur sehr vereinzelt erfährt man aus den Theaterschulentwürfen oder den Quellen der eingerichteten Theaterschulen etwas darüber, wie der Unterricht gestaltet werden sollte oder wie der schulische Alltag aussah. Großer Wert wurde jedenfalls auf die sinnerschließende Lektüre der dramatischen Texte gelegt. Die Rollen sollten nicht nur auswendig gelernt, sondern schrittweise erschlossen werden. Diese »Hermeneutik«35, nach bestimmten Grundsätzen den richtigen Sinn und Ton der Rede zu fassen, erfordere es, sich mit der »Lehre der Leidenschaften«36 zu befassen – aber ohne sich in »philosophischen Spitzfündigkeiten«37 zu verlieren, sondern mit einem Bezug auf »praktische Erfahrungen«38. Lesedidaktische Anregungen zu einer solchen Hermeneutik lassen sich bei Dreßler und Löwen finden : Der Sänger muß lesen, schreiben, die Vocalen, die doppelten und die einfachen Mitlauter gut aussprechen können. Wenn ich Lesen von ihm verlange, so verstehe ich nicht das Lesen, 34 Friedel, Johann (1781) : Philanthropin für Schauspieler. S. 21. 35 Friedel, Johann (1781) : Beschluß des Philanthropins für Schauspieler. S. 16. 36 Ebd. S 17. 37 Ebd. 38 Ebd.
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wie Kinder anfangen zu buchstabiren, und lesen lernen, und können ; durch Lesen, verstehe ich hier, den Sinn der Worte, den ganzen Verstand der Rede, verstehen, fühlen, empfinden ; um den Vortrag, jeder Leidenschaft gemäß, natürlich werden zu lassen39.
An der Art und Weise, wie ein Schauspieler seinen Text vorlese, so Dreßler, könne man erkennen, ob er ihn verstanden habe : »Man lasse den Sänger, wenn er Acteur seyn will, nur lesen, seine Rolle declamiren, so wird man gleich wissen, ob er Einsicht, Stärke oder Schwäche habe.«40 Dem Schauspieler müssen, so Löwen, die Haupt- und Nebenumstände der Handlung bewusst sein und er müsse wissen, wie »die Menschen in diesen oder jenen Umständen zu handeln pflegen«41, um sich das Geschehen vor Augen führen zu können. Um zu vermeiden, dass auf der Bühne bloß Auswendiggelerntes herdeklamiert werde, rät Löwen dazu, dramatische Texte durch ein inhaltsbezogenes, lautes und betontes Vorlesen zu erschließen. Wichtig sei hierbei, auf die korrekte Akzentsetzung zu achten, Verse nicht zu »scandiren«42 und zu »Klapperwerk«43 werden zu lassen, sondern wie Prosa vorzutragen, »Macht-Wörter«44 zu identifizieren und entsprechend zu betonen. Den idealen Ausbildungsgang eines Schauspielers unterteilt Johann Carl Wötzel in drei Phasen : in die vorbereitende, die fortbildende und die völlig ausbildende Phase, die jeweils ungefähr ein Jahr in Anspruch nehmen sollen. Theaterkandidaten mit den entsprechenden Voraussetzungen und Vorkenntnissen durchlaufen in der vorbereitenden Phase ihrer Ausbildung mindestens ein Jahr lang eine Reihe von Sprech-, Vorlese- und Deklamationsübungen sowie kleinere Rollenproben. Schrittweise bauen die verschiedenen Übungen aufeinander auf und sollen die Anfänger von einfachen Vorleseübungen zu kleineren szenischen Übungen führen. Nachdem die Theaterkandidaten verschiedene Rollen studiert und schriftlich interpretiert haben, nachdem sie fleißige Besucher des Theaters geworden seien, solle ihnen in der zweiten Ausbildungsphase die Gelegenheit gegeben werden, auf einer kleinen Bühne erstmals öffentlich aufzutreten. Ekhofs Akademiegedanken aufgreifend sieht Wötzel für die letzte Ausbildungsphase eine wöchentlich stattfindende Versammlung vor, in der sich die angehenden Schauspieler über Theaterstücke, Schauspieltheorien und Aufführungserfahrungen austauschen sollen. Wie am Mannheimer Nationaltheater sollen sie auch die Schauspielkunst betreffende Fragen diskutieren und schriftlich beantworten. Carl Heusser riet dazu, am »Haupt-Hoftheater jedes Staates eine dramatische Schulanstalt« einzurichten, »welche einzig und allein befugt seyn sollte, junge Leute nach gewissen zu bestimmenden Gesetzen aufzunehmen, bilden zu lassen, und aus ihrer Mitte
39 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das Ernsthafte Singe-Schauspiel betreffend. S. 91. 40 Ebd. 41 Löwen, Johann Friedrich (1755) : Kurzgefaste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes. S. 15. 42 Ebd. S. 20. 43 Ebd. S. 22. 44 Ebd.
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die Provinzial-Bühnen des Reichs zu besetzen.«45 Von der Einrichtung solcher Schulen an bestehenden Hoftheatern erhoffte man sich, die Qualität des Bühnenspiels zu verbessern, dem Schauspielerstand zu mehr Anerkennung zu verhelfen und das Verhalten der Schauspieler auf und jenseits der Bühnen zu disziplinieren. Ferner sollte den Kindern von Schauspielern eine geregelte Schulbildung zuteilwerden. Die Gründung von Theaterschulen diente aber auch dazu, die Personalkosten für Schauspieler zu reduzieren, indem die Schüler dazu verpflichtet wurden, nach dem Ende ihrer Ausbildung weiter am Hoftheater tätig zu sein. An Hoftheatern, wo solche Schulen nicht eingerichtet würden, bestünde die Alternative, so Andreas Joseph von Guttenberg, »ein weises theatralisches Gesetzbuch«46 abzufassen, das verbindliche Regeln für Schauspieler beinhalte. Solche Theatergesetze, die Probenabläufe regelten, Richtlinien für das Bühnenspiel enthielten, den Schauspielern auf und jenseits der Bühne ein sittliches und anständiges Verhalten vorschreiben und bei Zuwiderhandeln mit Bußgeldern und anderen Strafen drohten, waren an verschiedenen Theatern wie in Neuwied, Wien, Hamburg, Riga, Mannheim, Prag und Mainz eine gängige Praxis. Über ihre administrative Funktion hinaus fungierten sie im Sinne einer sozialen und ästhetischen Disziplinierung aber auch als patriarchalisches Erziehungsmittel.
45 Heusser, Carl N. (1816) : Grundlinien zur Bildung und Beurtheilung Dramatischer Künstler. S. 14. 46 Guttenberg, A[ndreas] J[oseph] von (1800) : Fortsetzung des im ersten Heft angefangenen Fragments [Betrachtung, über den vormaligen und gegenwärtigen Zustand des kurfürstl. Hoftheaters zu München]. S. 61.
4 Ein Resümee : Erziehung – Theater – Aufklärung
Das pädagogische Jahrhundert, ein Säkulum der Theaterreform
»Erziehungskunst, in diesem Fach ?«, fragte Ernst Christoph Dreßler in seinen 1777 erschienenen Ratschlägen zur Ausbildung von Schauspielern und Opernsängern. Und er fügte erklärend hinzu : »Zu unseren Zeiten ist ja alles von der Erziehungskunst belebt ; allenthalben spricht und schreibt man davon.«1 Es ist also nicht verwunderlich, dass im pädagogischen Jahrhundert die Antwort auf die Frage, wie das Theater zu verbessern sei, in der Erziehung der Schauspieler gesehen wurde. Überhaupt schrieb sich dem Theater im Verlauf seiner Institutionalisierung im 18. Jahrhundert ein pädagogischer Auftrag ein, dem es zwar selten gerecht wurde, der es im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber als Bildungsmacht erscheinen ließ. Die Überlegungen, Entwürfe und Gründungen von Theaterschulen im 18. und frühen 19. Jahrhundert stellen somit wegweisende Vorboten der dann sehr rege geführten Debatte über die Institutionalisierung der Ausbildung von Schauspielern im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts dar.2 Sie bezeugen zudem, dass nicht erst seit Marx’ dritter These über Feuerbach erklärt wurde, wieso auch Erzieher erzogen werden müssen – insbesondere dann, wenn von ihnen gesellschaftsrelevante Veränderungen ausgehen sollen.3
1 Dreßler, Ernst Christoph (1777) : Theater-Schule für die Deutschen, das ernste Singe-Schauspiel betreffend. S. 5. 2 Vgl. hierzu [Anonym] (1832) : Ein Wörtchen über theatralische Pflanzschulen. In : Allgemeine deutsche Bürger- und Bauern-Zeitung. Ein Organ zur Verhandlung allgemein interessanter Volks-Angelegenheiten, 2. Jg. Heft 18 [2. Mai 1832]. S. 232. Vgl. auch Devrient, Eduard (1846) : Über Theaterschulen. In : Dramatische und dramaturgische Schriften, Bd. 4 : Briefe aus Paris. Ueber Theaterschule. 2. Auflage. Leipzig : J. J. Weber. S. 319–376. Vgl. auch Lewald, August (1846) : Entwurf zu einer praktischen Schauspielerschule. Wien : J. B. Wallishauser. Vgl. auch Rötscher, Heinrich Theodor (1848) : Plan zur Errichtung einer Theaterschule für darstellende Künstler in hohem Auftrage ausgearbeitet. In : Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur, Bd. 2. Berlin und Frankfurt : Trowitzsch. S. 1–28. Vgl auch Gutzkow, Karl (1850) : Über Theaterschule. Ein Gespräch. In : Vor- und Nach-Märzliches. Leipzig : F. A. Brockhaus. S. 49–85. Vgl. auch Bothmer, Hippolyt von (1861) : Deutsche Theaterschulen, deren Werth und Nothwendigkeit. Braunschweig : George Westermann. Vgl. auch Ludwig, F. (1867) : Der Schauspielerverein und die Theaterschulen. (Aus : Neue Allgemeine Zeitschrift für Teater und Musik. Nr. 7 und 9). Leipzig : Verlag von Paul Rhode. Vgl. auch Arnold, Yourij von (1867) : Ueber Schulen für dramatische und musikalische Kunst. (Aus : Neue Allgemeine Zeitschrift für Teater und Musik. Nr. 10 ff.). Leipzig : Verlag von Paul Rhode. Vgl. auch Berndal, Carl Gustav (1876) : Ansichten über die Errichtung einer dramatischen Hochschule. Berlin : Behr. Vgl. auch Gyurkovics, Georg von (1876) : Die Schauspielschule des Wiener Conservatoriums 1874–1876. Wien : Beck. 3 Vgl. Marx, Karl (1983) : Thesen über Feuerbach. In : Karl Marx. Friedrich Engels. Werke, Bd. 3. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin : Dietz. S. 5–7.
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Bildungstheater und Theaterbildung
Versäumnisse der pädagogischen Historiographie
Gleichwohl ist die Ausbildung von Schauspielern bisher nur ein vernachlässigter Aspekt in der Geschichtsschreibung des europäischen Theaters und eine überraschende Leerstelle in der bildungshistorischen Forschung gewesen. Der Grund hierfür liegt vermutlich nicht allein darin, dass das Thema im Grenzbereich der Disziplinen Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Erziehungswissenschaft angesiedelt ist, sondern die Schauspieler selbst – bis auf wenige Ausnahmen – gesellschaftliche Außenseiter waren. Die bildungshistorische und erziehungswissenschaftliche Forschung hat hiervon kaum Notiz genommen, da sie durch eine selbstauferlegte Fokussierung auf den Untersuchungsbereich der Schule die pädagogische Bedeutsamkeit und Geschichte anderer Bildungseinrichtungen aus den Augen verloren hat. Die bildungsgeschichtlichen Anekdoten der Schauspieler sind somit nicht nur Mikrogeschichten des Theaters, sondern zugleich auch pädagogische »counterhistories«4, die die gewohnte pädagogische Geschichtsschreibung irritieren und herausfordern : Counterhistory opposes itself not only to dominant narratives, but also to prevailing modes of historical thought and methods of research ; hence, when successful, it ceases to be »counter«. […] Counterhistory and history, in this view, are moments in a continuous conflictual process rather than substantial opposing activities with independently distinguishing characteristics.5
Klaus Mollenhauer riet dazu, »in der erziehungswissenschaftlichen Arbeit Umwege zu gehen, die überlieferten Problemstellungen nicht mehr direkt anzusprechen, sondern – wie im Billardspiel – gleichsam ›über die Bande‹«6 anzuspielen. Er erhoffte sich von der »Verknüpfung des pädagogischen Interesses mit den Materialien unserer Kultur«7 eine Ausweitung der pädagogischen Forschung. Dass die Institutionalisierung des Schul- und Theaterwesens im 18. Jahrhundert parallel verlief und der Prototyp des modernen Bildungsromans – Wilhelm Meisters Lehrjahre – auch ein bedeutender Theaterroman war, lässt bereits auf struktur- und diskursgeschichtliche Überschneidungen schließen. Überdeutlich wird diese wechselseitige Bezugnahme an einer Wendung von Johann Gotthelf Lindner, der als Rektor der Domschule zu Riga auch kurzzeitig Mentor und Vorgesetzter von Johann Gottfried Herder war. Er schrieb in der Vorrede zu seiner Sammlung von Schultheaterstücken : Wenn »die Bühne eine Schule des Geschmackes sowohl als der Sitten, und ein Spiegel des Lebens sey, welchen Namen
4 Gallagher, Catherine & Greenblatt, Stephen (2001) : Practicing New Historicism. S. 52. 5 Ebd. 6 Mollenhauer, Klaus (1986) : Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion. S. 9 [Herv. d. Verf.]. 7 Ebd. S. 11 [Herv. d. Verf.].
Ein Resümee : Erziehung – Theater – Aufklärung
ihr schon die Alten nachdrücklich gaben ; so muß die Schule eine Bühne des Witzes, der Tugenden und des Wohlstandes seyn.«8 Präsentation – Repräsentation – Mimesis
Die Rekonstruktion der besonderen historischen Konstellation von Erziehungskunst und Schauspielkunst im 18. Jahrhundert legt einen gemeinsamen historisch-systematischen Bezugspunkt frei, der in der wechselseitigen Beziehung von mimetischem Lernen und repräsentativem Lehren liegt. Die Repräsentation der Welt und ihr mimetisches Anverwandeln zeichnet sowohl pädagogisches als auch schauspielerisches Handeln aus. Eine pädagogische Interaktion lässt sich demnach als ein aufeinander bezogenes Vor-, Nach- und Mitmachen beschreiben. Indem Erwachsene mit Kindern auf eine bestimmte Art und Weise umgehen und zusammenleben, präsentieren sie ihnen zugleich eine spezifische Form des Umgangs und des Zusammenlebens. Kinder wachsen über diesen Umgang in die Umgangsformen der Erwachsenen hinein. Sie werden ihnen nicht beigebracht, Kinder sind keine passiven Rezipienten, sondern sie sind selbsttätig daran beteiligt, sich diese Umgangsformen zu erschließen. Dieses mimetische Lernen ist ein sinnliches, körperbasiertes Lernen, in dem Bilder, Schemata, Bewegungen praktischen Handelns erlernt werden und das sich weitgehend unbewusst vollzieht und gerade dadurch nachhaltige Wirkungen erzeugt, die in allen Bereichen der Kulturentwicklung eine wichtige Rolle spielen.9
Dort wo diese Präsentation explizit geschieht, wo Inhalte ausgewählt und geordnet werden, spricht Mollenhauer von »Repräsentation«10. In diesem Prozess der Repräsentation der Welt erfährt das Repräsentierte eine pädagogische Transformation. Inhalte der Welt werden für die Lehr- und Lernsituationen ausgewählt, konzentriert, sequenziert, kurz : sie werden pädagogisch inszeniert. Gottfried Hausmann hatte in seiner Arbeit über die Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts bereits darauf hingewiesen, dass die Planung des Unterrichts nach didaktischen Prinzipien vergleichbar mit der dramaturgischen Ordnung eines Theaterstücks sei.11 Gleichwohl fehlt der Dramaturgie wie der Didaktik ein operatives Schema. Zwischen einem dramatischen Text und seiner Aufführung besteht ebenso wie zwischen einem Unterrichtsentwurf und dem Unterrichtsgeschehen eine unüberwindbare Differenz. Denn in beiden Fällen erwächst das ephemere Ereignis nicht eigentlich aus einem Text, sondern aus der konkreten, leiblich ko-präsenten Interaktion zwischen den Akteuren. 8 Lindner, Johann Gotthelf (1762) : Beitrag zu Schulhandlungen. S. [I f.] [Herv. d. Verf.]. 9 Wulf, Christoph (2004) : Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek : Rowohlt. S. 159. 10 Mollenhauer, Klaus (1985) : Vergessene Zusammenhänge. S. 52. 11 Vgl. hierzu auch Hausmann, Gottfried (1959) : Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. S. 100–147.
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Bildungstheater und Theaterbildung
Performative Pädagogik
So wie sich ein Schauspieler zur Verkörperung einer dramatischen Rolle verschiedener Körpertechniken bedienen und hierdurch unterschiedliche Wirkungen erzeugen kann, so scheint auch das pädagogische Handeln auf verschiedenen körpertechnischen Darstellungsweisen zu beruhen. Auf diese Theatralität und Leiblichkeit pädagogischen Handelns hatte Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik aufmerksam gemacht : Ein malendes Gestenspiel, bei denen sichtbare Gegenstände vollständig oder unvollständig nachgeahmt werden, lasse sich beobachten, wenn beispielsweise ein Erzieher seinen Schüler »über eine unanständige Stellung, über eine unschickliche Handlung beschämen will«12 und ihm die Handlung hierzu »mit ein wenig Karrikatur«13 vorführt. Das malende Gebärdenspiel zeige sich auch dann, so Engel, wenn eine Französin »ihr gnädiges Fräulein zu einer Grazie in Minen und Bewegungen bilden will ; so zeigt sie ihr das nachahmungswürdige Muster dieser Grazie an sich selbst«14. Die pädagogische Forschung, die sich diesen Phänomenen der Leiblichkeit und Theatralität pädagogischen Handelns widmet, bezeichnen Christoph Wulf und Jörg Zirfas neuerdings als performative Pädagogik.15 Allerdings erinnerte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Bertolt Brecht an diese doch häufig ignorierte Dimension der Erziehung : »Es wird oft vergessen«, schreibt Brecht, »auf wie theatralische Art die Erziehung des Menschen vor sich geht.«16
12 Engel, Johann Jacob (1785) : Ideen zu einer Mimik, Erster Theil. S. 82. 13 Ebd. 14 Ebd. S. 83. 15 Vgl. Wulf, Christoph & Zirfas, Jörg (2007) : Performative Pädagogik und performative Bildungstheorie. Ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung. In : Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven. Weinheim und Basel : Beltz. S. 7–40. 16 Brecht, Bertolt (1993) : Lohnt es sich vom Amateurtheater zu sprechen ?. In : Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bde. Hrsg. von Werner Hecht, Bd. 22, 1 : Schriften Teil 1. 1933–1942. Hrsg. von Inge Gellert und Werner Hecht. Berlin und Frankfurt : Aufbau-Verlag. S. 590–593. S. 593.
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Literatur
Martensteig, Max (1890) : Die Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim : J. Bensheimer. Matthisson, Friedrich (1782) : Die glückliche Familie. Ein Schauspiel. Dessau : [Philanthropische Buchhandlung]. Ders. (1832) : Selbstbiographie. In : Friedrich v. Matthisson’s literarischer Nachlaß nebst einer Auswahl von Briefen seiner Freunde. Ein Supplement zu allen Ausgaben seiner Schriften, Bd. 1. Berlin : August Mylius. S. 247–323. Mendelssohn, Moses (1784) : Rhapsodien oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In : Moses Mendelssohns philosophische Schriften, Bd. 2. Troppau : Joseph Georg Traßler. S. 3–88. [Mercier, Louis-Sébastien] (1773) : Du Théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique. Amsterdam : E. van Harrevelt. Ders. (1776) : Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [von Heinrich Leopold Wagner]. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig : Schwickertsche Verlag. Merkel, G[arlieb] (1801) : Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur, Bd. 3 : Vom Mai – August 1801. Berlin : Karl Quien. S. 556. [Mertens, Hieronymus Andreas] (1773) : Was ist von den auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? Eine Abhandlung. In : Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Deutschland, Zweites Stück. Nördlingen : Karl Gottlob Becken. S. 235–256. Ders. (1775) Was ist von denen auf Schulen sonst gewöhnlichen Schauspielen zu halten ? Eine Abhandlung, womit auf oberherrliche Verordnung Eines hochlöblichen Scholarchats Augsp. Bek. Allhier die bevorstehende Frühlingsexamina für die künftige Woche vom 6 bis 11 Merz angezeigt werden. Augsburg. Miller, Johann Martin (1786) : Geschichte Gottfried Walthers, eines Tischlers, und des Städtleins Erlenburg. Ein Buch für Handwerker und Leute aus dem Mittelstand, Erster Theil. Ulm : Johann Konrad Wohler. Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de (1769) : Les jeux de la petite Thalie, ou nouveaux petits drames dialogues sur des proverbs, propres à former les mœurs des enfants & des jeunes personnes, depuis l’âge de cinq ans jusquʼà vingt. Paris : Bailly. Ders. (1770) : Spiele der kleinen Thalia. Oder : Neue kleine dramatische Stücke über Sprichwörter, zur Bildung der Sitten der Kinder und jungen Leute von fünf bis zwanzig Jahren. Berlin : Christian Friedrich Himburg. Morris, Irene (1974) : A Hapsburg Letter. In : The Modern Language Review, 69. Jg. Heft 1, S. 12–22. Moryson, Fynes (1967) : Itinerary. In : Shakespeare’s Europe : A Survey of the Conditions of Europe at the End of the 16th Century. Being Unpublished Chapters of Fynes Morison’s Itinerary (1617). 2. Auflage. Hrsg. und eingeleitet von Charles Hughes. New York : Benjamin Blom. [Mozart, Wolfgang Amadeus] (1962) : Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto E. Deutsch, Bd. 2 : 1777–1779. Kassel u.a.: Bärenreiter. Müller, Johann Heinrich Friedrich (1772) : Genaue Nachrichten von beyden Kaiserlich-königlichen Schaubühnen und andern öffentlichen Ergötzlichkeiten in Wien. Presburg, Frankfurt und Leipzig. Ders. (1775) : Präsentirt das Gewehr. Ein Lustspiel in zwei Aufzügen. Aufgeführt in den kaiserl. königl. privilegirten Theatern.Wien : Logenmeister. Ders. (1802) : J. H. F. Müllers Abschied von der k. k. Hof- und National-Schaubühne. Mit einer kurzen Biographie seines Lebens und einer gedrängten Geschichte des hiesigen Hoftheaters. Wien : Wallishausser.
Literatur
Müller, Friedrich (1877) : Gedanken über Errichtung eines deutschen National Teaters [1776]. In : Maler Müller. Im Anhang Mittheilungen aus Maler Müllers Nachlaß. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Berlin : Weidmann. S. 563–566. Ders. (1877) : Gedanken über Errichtung und Einrichtung einer Teater Schule [1776]. In : Maler Müller. Im Anhang Mittheilungen aus Maler Müllers Nachlaß. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Berlin : Weidmann. S. 566–568. Ders. (1987) : Maler Müller an Lenz. Mannheim [April 1776]. In : Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, Bd. 3. München : Hanser. S. 430–432. Müller, M. (1784) : Beyträge zur Lebensgeschichte des Schauspieldirektor Abbt’s. Frankfurt und Leipzig : [ohne Verlag]. [Mylius, Christlob] (1750) : Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey. In : Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Erstes Stück. S. 1–13. Neuber, Frederike Caroline (1736) : Die von der Weisheit wider die Unwissenheit beschützte Schauspielkunst. Lübeck : Christian Heinrich Willers. Neukäufler, Jakob (1930) : Aus dem Leben eines Wanderschauspielers. Jakob Neukäufler (1754–1835). Hrsg. von Konrad Schiffmann. Linz : Feichtingers Erben. [Nicolai, Friedrich] (1757) : Des Grafen von Shaftesbury Betrachtungen über ein historisches Gemälde von dem Urtheil des Herkules, welches nach einer Erzählung des Prodikus, im zweyten Buche von Xenophons Merkwürdigkeiten des Sokrates, entworfen worden. (Aus dem Engländischen übersetzt). In : Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 2. 1. Stück. S. 1–56. Ders. (1795) : Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahr 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Zehnter Band. Berlin und Stettin : [ohne Verlag]. Ders. (1807) : Ueber Eckhof. In : Almanach für Theater und Theaterfreunde, 1. Jg. S. 31–49. Ders. (1991) : Beiträge zu : Briefe, die neueste Litteratur betreffend. In : Friedrich Nicolai. Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar [Berliner Ausgabe]. Hrsg. von P. M. Mitchell, Hans-Gert Roloff und Erhard Weidl, Bd. 4 : Literaturkritische Schriften II. Bearbeitet von P. M. Mitchell. Berlin : Peter Lang. Noverre, Jean-Georges (1760) : Lettres sur la danse, et sur les ballets. Lyon : Aimé Delaroche. Ders. (1769) : Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette von Herrn Noverre. Aus dem Französischen übersetzt. Hamburg und Bremen : Johann Hinrich Cramer. Pascal, Blaise (1974) : Réflexions sur la géométrie en général [1658]. Text und deutsche Übersetzung. Beilage zu Jean-Pierre Schobinger Blaise Pascals Reflexionen. Basel und Stuttgart : Schwabe. S. 38–101. Ders. (1979) : Gedanken. Eine Auswahl [1669]. Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Ewald Wasmuth. Stuttgart : Reclam. Perrault, Charles (1964) : Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Faksimiledruck der vierbändigen Originalausgabe Paris 1688–1696. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München : Eidos. Pfaff, Christoph Heinrich (1854) : Lebenserinnerungen von Christoph Heinrich Pfaff. Mit Guilielmi Nitzschii Memoria Christophori Henrici Pfaffii, und mit Auszügen aus Briefen von C. F. Kielmeyer, Fried. Brun geb. Münter, dem Grafen Fr. Reventlow auf Emkendorf und Chr. H. Pfaff. Hrsg. von Henning Ratjen. Kiel : Schwers’sche Buchhandlung.
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Literatur
Pfeffel, Konrad (1771) : Dramatische Kinderspiele [Nachdruck der ersten Auflage von 1769]. Dillingen : Johann Leonhard Brönner. [Pillwein, Benedikt] (1834) : Erzählungen und Volkssagen aus den Tagen der Vorzeit von dem Erzherzogthume Oesterreich ob der Enns und dem Herzogthume Salzburg. Ein Unterhaltungsbuch für Jedermann. Linz : Joh[ann] Huemer. Plümicke, Carl Martin (1781) : Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin, nebst allgemeinen Bemerkungen über den Geschmack, hiesige Theaterschriftsteller und Behandlung der Kunst, in den verschiedenen Epochen. Berlin und Stettin : Friedrich Nicolai. Pockels, C[arl] F[riedrich] (1811) : Ueber die mimischen Darstellungen des Herrn Patrik Peale in Braunschweig. Den 31sten August 1811. In : Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, 9. Jg. Nr. 181 [10.09.1811]. S. 723–724. Ders. (1811) : Ueber die mimischen Darstellungen des Herrn Patrik Peale in Braunschweig (Schluß). In : Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, 9. Jg. Nr. 191 [24.09.1811]. S. 763–764. [Porée, Charles] (1734) : Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen, Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können ? Übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne, herausgegeben von Joh[ann] Friedrich Mayen, A. M. Leipzig : Bernhard Christoph Breitkopf. [Portia, Nicolaus von] (1899) : Promemoria des Musik-Intendanten Grafen Portia, 23. April 1777. In : Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und Nationaltheaters in Mannheim 1779–1839, Bd. 1 : Das Theater-Archiv. Hrsg. von Friedrich Walter. Mannheim : Hirzel. S. 41. Ders. (1899) : Promemoria des Musik-Intendanten Grafen Portia, 3. Mai 1777. In : Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und Nationaltheaters in Mannheim 1779–1839, Bd. 1 : Das Theater-Archiv. Hrsg. von Friedrich Walter. Mannheim : Hirzel. S. 41. [Rahbek, Knud Lyne] (1779) : Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. Aus dem Dänischen übersetzt. In : Theater-Journal für Deutschland, Zwölftes Stück. S. 41–53. Ders. (1780) : Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. In : Theater-Journal für Deutschland, Dreizehntes Stück. S. 3–19. Ders. (1780) : Zweyte Fortsetzung der Briefe eines Schauspielers an seinen Sohn. In : Theater-Journal für Deutschland, Vierzehntes Stück. S. 9–19. Ders. (1782) : Breve fra en gammel Skuespiller til hans søn. Kisbenhavn : Johan Rudolph Thiele. Ders. (1785) : Briefe eines alten Schauspielers, an seinen Sohn von Rahbek. Von dem Verfasser neu bearbeitet, und unter seinen Augen aus dem Dänischen übersetzt von Christian Heinrich Reichel. Kopenhagen und Leipzig : Christian Gottlob Probst. [Ramler, Karl Wilhelm] (1907) : Ramler an Gleim [Berlin den 25. Julii 1755]. In : Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, Bd. 2 : 1753–1759. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. Tübingen : H. Laupp Jr. S. 204–206. [Reichard, Heinrich August Ottokar] (1877) : H. A. O. Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie. Überarbeitet und hrsg. von Hermann Uhde. Stuttgart : J. G. Cotta’sche Buchhandlung. Reiser, Anton (1681) : theatromania, Oder Die Wercke der Finsterniß Jn denen öffentlichen Schau=Spielen von den alten Kirchen=Vätern verdammt/ Welches aus ihren Schrifften zu getreuer Warnung kürtzlich entworffen L. anton. Reiser/ von Augspurg/ der Zeit pastor in Hamburg. Ratzeburg/ gedruckt bey Niclas Nissen Jm 1681 Jahr. Rhenanus, Johannes (1889) : Anfang des speculum aistheticum von Johannes Rhenanus [1613]. [Aus der Casseler Handschrift. Manuscr. Theatralia 40 2. 64 eng beschriebene Blätter]. In : Deut-
Literatur
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Literatur
Philosophische Briefe. Ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. München : Hanser. S. 117– 141. Rötscher, Heinrich Theodor (1848) : Plan zur Errichtung einer Theaterschule für darstellende Künstler in hohem Auftrage ausgearbeitet. In : Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur, Bd. 2. Berlin und Frankfurt : Trowitzsch. S. 1–28. Sainte-Albine, Pierre Rémond de (1747) : Le Comédien. Ouvrage divisé en deux Parties. Paris : Desaint & Sailiant und Vincent Fils. Ders. (1772) : Der Schauspieler. Ein dogmatisches Werk für das Theater [Übersetzt von Friedrich Justin Bertuch]. Altenburg : Richter. [Salzmann, Christian Gotthilf ] (1780) : Denk, daß zu deinem Glück dir niemand fehlt, als du ! Ein Lustspiel. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Drittes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 1–34. Ders. (1782) : Die gute Stiefmutter. Ein Lustspiel. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Fünftes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 37–76. Ders. (1782) : Moralisches Elementarbuch, nebst einer Anleitung zum nützlichen Gebrauch desselben. Erster Theil. Leipzig : Siegfried Leberecht Crusius. Ders. (1786) : Die Habsucht. Ein Schauspiel in zwey Aufzügen. In : Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde, Siebendes Bändchen. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 41–96. Ders. (1916) : Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher [1806]. Für Schule und Haus bearbeitet von [Peter] Wimmers. Paderborn : Schöningh. [Sander, Christian Friedrich] (1780) : Der Jüngling. Ein Lustspiel in vier Aufzügen. In : Pädagogische Unterhandlungen. Drittes Jahr. Zweites Quartal. S. 152–226. Ders. (1781) : Der kleine Herzog. Ein Lustspil [sic !] in fünf Aufzügen. Dessau : Institutsbuchhandlung und in Commission bei Crusius in Leipzig. Ders. (1783) : Pusillana ein Schauspiel in vier Aufzügen. Dessau : in der philanthropischen Buchhandlung und in Commission bey G. L. Crusius in Leipzig. [Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of ] (1709) : The Moralist, a Philosophical Rhapsody. Being a Recital of Certain Conversations upon Natural and Moral Subjects. London : John Wyat. Ders. (1710) : Soliloquy ; or Advice to an Author. London. Ders. (1713) : A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules, According to Prodicus, lib. II Xen De mem. Soc. [London]. Ders. (1745) : Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen. Aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt [von Johann Joachim Spalding]. Berlin : Ambrosius Haude und Carl Spener. Ders. (1746) : Soliloquium von den wahren Eigenschaften eines Schriftstellers, und wie einer solches werden könne : Aus dem Englischen in die Hochdeutsche Sprache übersetzt [von Georg Venzky]. Magdeburg und Leipzig : Christoph Seidel und Georg Ernst Scheidhauer. Schick, Johann Friedrich (1781) : Dramaturgische Fragmente, Zweyter Band. Graz : Widmanstättenschen Schriften. Ders. (1782) : Dramaturgische Fragmente, Dritter Band. Graz : Widmanstättenschen Schriften. Schiller, Friedrich (1802) : Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der Churfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784). In : Kleinere prosaische Schriften. Aus mehrern Zeitschriften vom Verfasser selbst gesammelt und verbessert. 4. Theil. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. S. 3–27. Schink, Johann Friedrich & Löper, Christian (1781) : Kinderkomödien. Wien : Joseph Gerold.
Literatur
Schlegel, Johann Elias (1971) : Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen [1764]. In : Johann Elias Schlegel. Werke, Bd. 3. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegel [Faksimiledruck] Frankfurt a.M.: Athenäum. S. 251–258. Ders. (1971) : Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters [1764]. In : Johann Elias Schlegel. Werke, Bd. 3. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegel [Faksimiledruck] Frankfurt a.M.: Athenäum. S. 259–298. [Schletter, Salomo Friedrich] (1783) : Vollständiges Verzeichniß aller Schauspiele und musikalischen Akademien, welche sowohl auf dem k. k. National Hoftheater nächst der k. k. Burg als auch dem Theater nächst dem Kärntnerthor vom 1. Januar bis 31. December 1782 aufgeführt worden sind. In : Litteratur- und Theater-Zeitung für das Jahr 1783, Erster Theil. S. 140–142. Schmid, Christian Heinrich (1775) : Chronologie des deutschen Theaters. [Ohne Ort : ohne Verlag]. [Scholz, Ferdinand Wilhelm von] (1802) : Ueber August von Kotzebue, in den vorzüglichsten und interessantesten Verhältnissen als Mensch, Dichter und Geschäftsmann. Mit Rücksicht auf das merkwürdigste Lebensjahr, den litterarischen Verbindungen, Unternehmungen und Fehden desselben. Frankfurt a. M.: Behrenssche Buchhandlung. Schottelelius, Justus Georg (1980) : Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst [1669]. Hrsg. von Jörg Jochen Berns. Bern und München : Francke. Schulze, Johann Michael Friedrich (1779) : Die wahre Liebenswürdigkeit oder das Geburtstagsgeschenk. Ein Lustspiel für Kinder in drey Aufzügen. Berlin : August Mylius. Schulze-Kummerfeld, Karoline (1915) : Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld, [2 Bde.]. Hrsg. und erläutert von Emil Benezé. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. Dies. (1988) : Ein fahrendes Frauenzimmer. Die Lebenserinnerungen der Komödiantin Karoline Schulze-Kummerfeld 1745–1815. Hrsg. von Inge Buck. Berlin : Orlanda Frauenverlag. [Schummel, Johann Gottlieb] (1773) : Lustspiele ohne Heyrathen. Wittenberg und Zerbst : Samuel Gottfried Zimmermann. Ders. (1773) : Der Würzkrämer und sein Sohn. Eine Schulkomödie in einem Aufzuge. Wittenberg und Zerbst : Samuel Gottfried Zimmermann. Ders. (1776) : Kinderspiele und Gespräche, Erster Theil. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. Ders. (1776) : Fritzens Reise nach Dessau. Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius. Seckendorff, G[ustav] Freyherr von (1816) : Vorlesungen über Deklamation und Mimik, [2 Bde.]. Braunschweig : Friedrich Vieweg. Seidel, Carl August (1780) : Sammlung von Kinderschauspielen mit Gesängen. Göttingen : Johann Christian Dieterich. Shakespeare, William (1895) : A New Variorum Edition of Shakespeare. Edited by Horace Howard Furness, Vol. X : A Midsommer Nights Dreame. Philadelphia : J. B. Lippincott Company. Ders. (2002) : Ein Sommernachtstraum [1595]. In : William Shakespeare. Sämtliche Werke in einem Band. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. St. Gallen : Otus Verlag. Ders. (2010) : Hamlet [1603], Bd. 1 : Text. Englisch/Deutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Holger M. Klein. Stuttgart : Reclam. Stengel, Stephan von (1993) : Denkwürdigkeiten. Hrsg. von Günther Ebersold. Mannheim : Palatium Verlag. Stieglitz, Christian Ludwig (1797) : Enzyklopädie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe, Bd. 4 : N – Sche. Leipzig : Fritsch.
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Literatur
Streicher, Andreas (1836) : Schiller’s Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785. Stuttgart und Augsburg : Verlag bei J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Sturz, Helfrich Peter (1786) : Schriften von Helfrich Peter Sturz, Erste Sammlung. Neue verbesserte Auflage. Leipzig : Weidmanns Erben und Reich. Sulzer, Johann Georg (1774) : Theorie der schönen Künste, in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikel, Zweyter Theil : von K bis Z. Leipzig : M. G. Weidmanns Erben und Reich. Tertullian (2000) : Über die Spiele. In : Texte zur Theorie des Theaters. Hrsg. und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart : Reclam. S. 534–538. Thürmann, Ludwig Ferdinand (1839) : Friedrich Joseph Müller. Kaiserl. Königlicher Kammerdiener und Künstler der ergötzenden Physik. Biographische und Charakter-Skizze. Wien : Franz Wimmer. Vigée-Lebrun, Louise-Elisabeth (1835) : Souvenirs de Madame Louise-Élisabeth Vigée-LeBrun, de l’Académie royale de Paris, de Rouen, de Saint-Luc de Rome et d’Arcadie, de Parme et de Bologne, de Saint-Pétersbourg, de Berlin, de Genève et Avignon. Tome premier. Paris : H. Fournier. Dies. (1921) : Die Erinnerungen der Malerin Louise-Elisabeth Vigée-Lebrun, Bd. 1. Weimar : Alexander Duncker. Villaume, Peter (1780) : Nachricht von einer Erziehungsanstalt für Frauenzimmer von gesittetem Stande und vom Adel in Halberstadt. In : Pädagogische Unterhandlungen. Ein Lesebuch für die Jugend, 3. Jg. Heft 3. S. 354–410. W., L. (1811) : Schöne Künste [Rezension zu : Almanach für’s Theater 1812, Taschenbuch für das Jahr 1812, Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1812, Rheinisches Taschenbuch für das Jahr 1812]. In : Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 8. Jg. Bd. 4 : Oktober, November, December, Nr. 274 [30. November 1811]. S. 401–405. [Waser, Johann Heinrich] (1757) : Moralische Beobachtungen und Urtheile. Zürich : Orell. Weilen, Alexander von (1912) : Carl Ludwig Costenoble’s Tagebücher von seiner Jugend bis zur Übersiedelung nach Wien (1818), Bd. 1. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte (= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 18). [Weiße, Christian Felix] (1772) : Die verwandelten Weiber, oder : Der Teufel ist los. Eine komische Oper in drey Aufzügen. Zweite Auflage. Leipzig : Dyckische Buchhandlung. [Westenrieder, Lorenz von] (1779) : Von der Bildung eines fähigen Schauspielers. In : Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur, 1. Jg. Sechstes Stück. S. 543–551. Wieland, Christoph Martin (1983) : Wielands Briefwechsel. Hrsg. von Hans Werner Seifert, Bd. 5 : Briefe der Weimarer Zeit (21. September 1772 – 31. Dezember 1777). Berlin : Akademie-Verlag. Winckelmann, Johann Joachim (1756) : Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. 2., vermehrte Auflage. Dresden : Verlag der Waltherischen Handlung. Wolf, Ernst Wilhelm (1771) : Das Gärtner-Mädchen. Eine komische Oper in drey Aufzügen. Weimar : Karl Rudolf Hoffmann. Wötzel, J[ohann] C[arl] (1814) : Grundriß eines allgemeinen und faßlichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation nach Schocher’s Ideen, für Dichter, Vorleser, Declamatoren, Redner, Lehrer und Kunstschauspieler aller Art, für deren Zuhörer und Zuschauer zur richtigen Würdigung der Erstern. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. Ders. (1815) : Grundriß einer pragmatischen Geschichte der Declamation und der Musik, nach Schocher’s Ideen. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. Ders. (1815) : Kurzer Grundriß einer declamatorisch-charakteristischen Statistik und Physiognomik
Literatur
aller gebildeten Staaten und Völker ohne alles Politik- und Religionswidrige, nach Schocher’s Ideen. Wien : Felix Stöckholzer von Hirschfeld. Ders. (1816) : Schöne Vorlesekunst für alle gebildeten Personen beiderlei Geschlechts. Ein interessantes und nützliches Lesebuch auch für die oberen Classen in Akademien, Gymnasien, Seminaren, Realund Bürgerschulen. Zweite, ganz umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Ausgabe. Wien : [ohne Verlag]. Ders. (1817) : Grundriß eines allgemein interessanten und fasslichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation überhaupt und der Mimik insbesondere, mit Anwendung ihrer Gesetze auf Musik, Poesie, Oper, Pantomimie und Ballet. Wien : [ohne Verlag]. Ders. (1818) : Versuch einer völlig zweckmäßigen Theaterschule oder der einzig richtigen Kunst und Methode, vollkommener Kunstschauspieler, Opernsänger, Pantomime und Balletttänzer im höhern Grade und in kürzerer Zeit zu werden, als auf dem bisherigen Wege. Ein Praktischer Leitfaden für angehende Künstler, Künstlerinnen und Dichter, für Theaterunternehmer und Vorsteher, für Gönner und Freunde dieser schönen Kunst. Wien : Joachim Georg Ritter von Mösele. Zedler, Johann Heinrich (1732) : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 2 : An–Az. Halle und Leipzig : Johann Heinrich Zedler. Ders. (1742) : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 34 : Sao– Schla. Halle und Leipzig : Johann Heinrich Zedler. Zimmermann, Johann Georg (1904) : A Monsieur Iffland Docteur en Morale à Mannheim [26. Juni 1787]. In : A. W. Ifflands Briefe an seine Schwester Louise und andere Verwandte 1772–1814. Hrsg. von Ludwig Geiger. Berlin : Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte. S. 304–305. Zschoke, Heinrich (1791) : Aphorismen : über relative Schönheit ; Moral für Schauspieler, Akademie des Schauspiels. In : Theater-Kalender auf das Jahr 1791. S. 52–62. Ders. (1796) : Abällino der grosse Bandit. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Zweite, vom Verfasser, für die Bühne abgeänderte Auflage. Leipzig und Frankfurt a. d. O.: Christian Ludwig Friedrich Apitz.
2 Archivalien und Handschriften Bayrisches Hauptstaatsarchiv [BayHStA] Koller, Joseph, Professor in Regensburg, Verleihung der Ehrenmedaille der Akademie der Wissenschaften von Bordeaux BayHStA, Ges. Paris 10582 Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe [GLAK] Lehrer für deutsche Sprache und Mythologie Carl Nehrlich GLAK, 47 Nr. 863 URL : http://www.landesarchiv-bw.de/plink/ ?f=4-687534 Chor- und Tanzschule GLAK, 47 Nr. 866 URL : http://www.landesarchiv-bw.de/plink/ ?f=4-687537 Gründung einer Bildungsanstalt für dramatische Künstler GLAK, 47 Nr. 871 URL : http://www.landesarchiv-bw.de/plink/ ?f=4-687542
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Literatur
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3 Gesamtausgaben Denis Diderot. Ästhetische Schriften [2 Bde]. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Diderot, Denis (1967) : Ästhetische Schriften, Bd. 1. Berlin und Weimar : Aufbau-Verlag. Ders. (1967) : Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin und Weimar : Aufbau Verlag. Denis Diderot. Philosophische Schriften [2 Bde]. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Diderot, Denis (1967) : Philosophische Schriften, Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.
Literatur
Denis Diderot. Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot. Paris : Hermann. Diderot, Denis (1978) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome IV : Le nouveau Socrate. Idées II. Présentée par Yvon Belaval, Robert Niklaus, Jacques Chouillet et al. Paris : Hermann. Ders. (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome X : Le drame bourgeois. Fiction II. Présentée par Jacques Chouillet et Anne-Marie Chouillet Paris : Hermann. Ders. (1980) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XIII : Arts et lettres (1739–1766). Critique I. Présentée par Jean Varloot. Paris : Hermann. Ders. (1981) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome IX : L’interprétation de la nature (1753–1765). Idées III. Présentée par Jean Varloot et al. Paris : Hermann. Ders. (1984) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XIV : Salon de 1765. Essai sur la peinture. Beaux-Arts I. Présentée par Else Marie Bukdahl, Annette Lorenceau et Gita May. Paris : Hermann. Ders. (1987) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XVII : Le Rêve de d’Alembert. Idées IV. Présentée par Jean Varloot. Paris : Hermann. Ders. (1989) : Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Sous la direction de Herbert Dieckmann, Jean Fabre, Jacques Proust et Jean Varloot, Tome XII : Le Neveu de Rameau. Fiction IV. Présentée par Henri Coulet, Roland Desné, Jean Gérard et al. Paris : Hermann. Denis Diderot. Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par Jules Assézat. Paris : Garnier Frères. Diderot, Denis (1875) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par J. Assézat, Tome IX : Belles–Lettres VI. Poésies diverses. Sciences. Mathématique – Physiologie. Paris : Garnier Frères. Ders. (1876) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe siècle. Par J. Assézat, Tome XII : Beaux-Arts III. Arts du Dessin. Musique. Paris : Garnier Frères. Ders. (1876) : Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les édition originales comprenant ce qui a été publié a diverses époques et les manuscrits inédits conservés a la bibliothèque de l’ermitage. Notices, Notes, Table analytique. Ètude sur Diderot et le mouvement philosophique au XVIIIe
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Literatur
siècle. Par J. Assézat, Tome XIX : Correspondance II. Lettres a Mlle Volland – Lettres a l’Abbé le Monnier. Lettres a Mlle Jodin. Correspondance générale I. Paris : Garnier Frères. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA]. Goethe, Johann Wolfgang (1992) : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 9 : Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I, 9]. Ders. (1993) : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedrich Apel u. a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 15,1 : Italienische Reise, Teil 1. Hrsg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I, 15,1]. Ders. (1994) : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 16 : Campagne in Frankreich, Belagerung von Mainz, Reiseschriften. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I, 16]. Ders. (1998) : Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 18 : Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedrich Apel. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA I,18]. Ders. (1999) : Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u.a. II. Abt.: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Karl Eibl, Bd. 5 : Johann Wolfgang Goethe mit Schiller. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805. Teil 2 : Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805. Hrsg. von Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag [FA II, 5]. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter. München : Hanser [MA]. Goethe, Johann Wolfgang (1989) : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter. Bd. 6,2 : Weimarer Klassik 1798–1806. Hrsg. von Victor Lange u. a. München : Hanser [MA 6,2]. Ders. (1986) : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 19 : Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Heinz Schlaffer. München : Hanser [MA 19]. Ders. (1991) : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter, Bd. 20,1 : Johann Wolfgang Goethe. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hrsg. von Hans Ottenberg und Edith Zehm. München : Hanser [MA 20,1].
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Abbildungsnachweis Abb. 1 : [Unbekannter Künstler] (1727) : Figura III. In : Lang, Franciscus (1727) : Dissertatio De Actione Scenica Cum Figuris eandem explicantibus, Et Observationibus quibusdam De Arte Comica. Ingolstadii : Joan Andrea de la Haye. © Bayerische Staatsbibliothek. Abb. 2 : [Unbekannter Künstler] (1644) : [Hand gestures]. In : Bulwer, John (1644) : Chirologia, or, The Naturall Language of the Hand. Composed of the Speaking Motions, and Discoursing Gestures thereof. Whereunto is Added Chiromania : Or, the Art of Manuall Rhetoricke. London : Thomas Harper. © akg-images / WHA / World History Archive. Abb. 3 : [Unbekannter Künstler] (1693) : [Titelkupfer]. In : Weise, Christian (1693) : Freymüthiger und höfflicher Redner/ das ist/ ausführliche Gedancken von der Pronunciation und Action, Was ein getreuer Informator darbey rathen und helffen kan : Bey Gelegenheit Gewisser Schau-Spiele allen Liebhabern zur Nachrichtgründlich und deutlich entworffen. Leipzig : Johann Friedrich Gleditsch. © HAB Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/drucke/xb-2531/start.htm Abb 4 : Greuze, Jean-Baptiste (1765) : La jeune fille qui pleure son oiseau mort. Öl auf Leinwand, 53,3 × 46 cm. Edinburgh : National Galleries of Scotland [NG 435]. Bequest of Lady Murray of Henderland 1861. © National Galleries of Scotland. Abb. 5 : Greuze, Jean-Baptiste (1800) : L’oiseau mort. Öl auf Holz, 68 × 55cm. Paris : Musée du Louvre. © akg-images / André Held. Abb. 6 : Faesch, Jean-Louis Wernhard (1829) : « La bouche est de mon sort l’interprete funeste ? » In : Antoine Vincent Arnaults (1829) : Les Souvenirs et les regrets d’un vieil amateur dramatique, ou Lettres d’un oncle à son neveu sur l’ancien Théâtre français. Paris : Charles Froment. Abb. 7 : Greuze, Jean-Baptiste (1763) : Piété filiale / Le Paralytique. Öl auf Leinwand, 115 × 146 cm. St. Petersburg : The State Hermitage Museum [GE-1168]. © The State Hermitage Museum. Photo by Vladimir Terebenin. Abb. 8 : Zick, Januarius (1770) Rousseaus Erleuchtungserlebnis. Öl auf Kupfer, 47,4 × 38 cm. Schaffhausen : Museum zu Allerheiligen [A572]. © Museum zu Allerheiligen. Abb. 9 : Statua di Galata morente. Marmor, 93 × 1865 × 89 cm. Rom : Musei Capitolini. © Musei Capitolini. Abb. 10 : Chodowiecki, Daniel Nikolaus (1778) : Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, erste Folge [Der Unterricht. L’instruction]. In : Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1779. © akg-images. Abb. 11 : Hogarth, William (1753) : Analysis of Beauty, Plate II (Der Tanz). Kupferstich und Radierung , 42,5 × 53 cm. Frankfurt a.M.: Städelsches Kunstinstitut. © akg-images. Abb. 12 : Meil, Johann Wilhelm (1786) : »Möchte Rom von der Erde verschlungen werden !« In : Engel, Johann Jakob (1786) : Ideen zu einer Mimik, Zweyter Theil. Berlin : August Mylius. © Bayerische Staatsbibliothek. Abb. 13 : Füssli, Johann Heinrich (1778–1780) : Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der antiken Trümmer. Rötel, braun laviert, 42 × 35,2 cm. Zürich : Kunsthaus Zürich. © Kunsthaus Zürich. Abb. 14 : Koch, Joseph Anton (1791) : Karikatur auf die Kunstpraxis an der Hohen Carlsschule in Stuttgart, Kunstleben der jungen Maler. Bleistift, Feder in Scwatzgrau, aquarelliert, 35 × 50,1 cm. Stuttgart : Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung. © Staatsgalerie Stuttgart.
Abbildungsnachweis
Abb. 15 : Greuze, Jean-Baptiste (1780) : Le Cordonnier ivre. Öl auf Leinwand, 75,2 × 92,4 cm. Portland : Portland Art Museum [59.1]. © akg-images / De Agostini Lib. Abb. 16 : Mansfeld, J[ohann Ernst] (o. J.) : Johann Heinrich Friedrich Müller. Schauspieler auf der K. König. Deutschen Schaubühne in Wien. Österreichische Nationalbibliothek [PORT_00147418_01]. © ÖNB. Abb. 17 : Graff, Anton (1800) : Iffland als Pygmalion. Öl auf Leinwand, 240 × 160 cm. Berlin : Schloß Charlottenburg. © akg-images. Abb. 18 : Steen, Jan [auch : Johann] (1667/1668) : Eheverschreibung [Hochzeit des Tobias]. Leinwand, 131 × 172 cm. Braunschweig : Herzog Anton Ulrich-Museum [GG 313]. © Herzog Anton Ulrich-Museum. Abb. 19 : Hogarth, William (1738) : Strolling Actresses Dressing in a Barn. © Heritage-Images / London Metropolitan Archives / akg-images. Abb. 20 : Chodowiecki, Daniel Nikolaus (1786) : Verbesserung der Sitten. Radierung, 21 × 33,6 cm. © akg-images. Abb. 21 : Pether, William (1772) : An Academy by Lamplight [after Joseph Wright]. Kupferstich, 58,1 × 45, 4 cm. New York : The Metropolitan Museum of Art [53.600.566]. © akg-images.
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Register Personen
Abbt, Thomas 102, 103 Abt, Felicitas 276 – 278 Abt, Karl Friedrich 276 Ackermann, Konrad Ernst 203, 268, 269, 309, 310, 347 Addison, Joseph 100 André, Christian Carl 115 Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel 244, 260, 281 Anschütz, Heinrich 335, 506 Aristophanes 96, 307, 423 Aristoteles 12, 165, 212, 512 Arlet, Johann Kaspar 99 Ashley-Cooper, Anthony (3. Earl of Shaftesbury) 169, 248, 249 Ast, Georg Anton Friedrich 254 – 256 Aubignac, François Hédelin Abbé de 165, 167, 235, 448 Auffenberg, Joseph von 463 Augustinus 32, 35, 188, 192 Babo, Johann Lambert von 377, 452 Bahrdt, Carl Friedrich 207, 312, 352, 507, 510 Baron, Michel 301, 318 Basedow, Johann Bernhard 107, 113, 115 – 119, 126, 312, 314, 337 Batteux, Charles 168, 169 Batz, August Friedrich von 360, 364 Baumgarten, Nathanael 99 Beck, Heinrich 284, 381, 384, 386, 391, 395, 399 – 401, 510 Beck, Josepha 281, 285 Becker, Gottfried Wilhelm 400 Becker, Wilhelm Gottlieb 114 Beil, David 381, 383, 384, 386, 399, 400 Bellecour (Jean-Claude-Gilles Colson) 301 Bellomo, Joseph 245, 424 Benzler, Friedrich August 114 Bertram, Christian August von 297 Bielfeld, Jakob Friedrich von 342, 343
Bode, Johann Joachim Christoph 243 Boek, Johann Michael 381, 382, 391 Boileaus-Despréaux, Nicolas 165 Bossan, Friedrich Wilhelm 458, 459 Böttiger, Karl August 261, 293, 433, 434 Boucher, François 174 Brandes, Johann Christian 63, 64, 116, 218, 267, 268, 281 – 283, 287, 376 Brechter, Jakob 276 Brockmann, Franz Hieronymus 275 Browne, Robert 283, 284 Brumois, Pierre 94, 301 Bulwer, John 68 Burgmüller, Friedrich August 450, 452, 453, 456, 457 Campe, Joachim Heinrich 105, 108, 110, 114, 115, 118, 206, 287, 352, 470, 500, 510 Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 245, 281 Carl Eugen 356, 358 – 361, 363, 369, Castigliones, Baldassarre 78, 79 Caussin, Nicolas 67, 448 Chardin, Jean Siméon 171, 172, 175 Chodowiecki, Daniel 200, 201, 498 – 500 Christ, Joseph Anton 289 Christian Ludwig II. von Mecklenburg-Schwerin 338, 343 Cicero 67, 96, 219, 225, 280 Clairon (Claire Josèphe Léris) 152 – 156, 164, 181 – 183, 186, 193, 194, 303 – 305, 406 Clemens XIV. 51 Collier, Jeremy 300 Comenius, Johann Amos 96, 136, 230 Contzen, Adam 52 Cooke, William 295, 300, 517 Corneille, Pierre 165, 226, 301 Coste d’Arnobat, Charles Pierre 155 Costenoble, Ludwig 471 Cumberland, Richard 243
581
Personen Dalberg, Heribert von 142, 357, 379 – 392, 395, 401, 504, 516 Dalberg, Karl Theodor von 452, 453, 456, 457 D’Alembert (Jean-Baptiste le Rond) 182, 186, 187 Damm, Christian Tobias 99 Danzi, Franz 466 David, Jacques Louis 281 Deny, Wilhelm 427, 428 Derby, Joseph Wright of 518 Descartes, René 65, 66, 73, 77, 165 – 167, 169, 194 Destouches, Philippe Néricault 100 Devrient, Eduard 50, 238, 267, 283, 384, 390, 394, 412, 423, Diderot, Denis 11, 103, 119, 122, 127, 151, 152, 154, 158, 164, 165, 169 – 187, 193 – 199, 203, 224, 240, 263, 289, 290, 296, 311, 393, 394, 479, 490, 491, 493, 494, 511 Dillen, Carl Ludwig Emanuel von 466 Döbbelin, Carl Theophil 93, 149, 317 Dobler, Karl August 310 Dorat, Claude-Joseph 302, 309, 312, 348 Dorvigny, Louis-Archambault 242 Dreßler, Ernst Christoph 150, 220, 221, 297, 315, 503, 520 – 522 Dubos, Jean-Baptiste 169, 212 Dugazon (Jean-Henry Gourgaud) 302, 436 Dumesnil (Marie Françoise Marchand) 153 – 156, 160, 193 Eckermann, Peter 245, 322, 429, 442, 443, 445 Ehlers, Martin 106, 108, 196, 286, 287 Ehrmann, Johann 114 Einsiedel, Friedrich Hildebrandt 139, 244, 260, 293, 431 – 433, 436 – 438, 442 Ekhof, Konrad 19, 123, 136, 200, 202, 203, 211, 219, 224, 243, 273, 292, 295, 307, 308, 318, 334 – 355, 371, 374, 380 – 382, 388, 392, 395, 424, 431, 510, 513, 516, 518, 520, 521 Emperius, Johann Ferdinand Friedrich 468, 469, 479, 480 Engel, Johann Jakob 104, 204, 209, 211, 223 – 234, 262, 275, 292, 293, 326, 328, 406, 442, 477, 479, 492, 505, 508, 517, 526 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 114
Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg 336 Eschenburg, Johann Joachim 138, 421 Eßlair, Ferdinand 436, 447, 466, 516 Euripides 253, 307, 423 Ewald, Schack Hermann 293, 311, 505 Féraud, Jean-François 177 Feßler, Ignaz Aurelius 324 Feuerbach, Ludwig 18, 523 Fleury (Abraham Joseph Bénard) 302, 436 Fontenelle, Bernard le Bovier de 165, 166, 168 Franz II. 413 Friedel, Johann 144, 145, 275, 302, 309, 310, 312 – 314, 316 – 318, 412, 413, 520 Friedrich von Anhalt-Dessau 111 Friedrich Wilhelm I. 49 Friedrich Wilhelm II. 149 Friedrich Wilhelm Karl von Württemberg 464 Füssli, Johann Heinrich 257 Garrick, David 152, 154, 178, 179, 292, 300, 318 Gellert, Christian Fürchtegott 121, 122, 345, 348, 497 Genast, Anton 243, 253, 260, 261, 425, 427, 429, 436, 441, 444 – 446 Genast, Eduard 260, 445, 447 Gervais, Katharina 460, 461 Glatz, Jakob 115 Gleim, Johann Ludwig 123 Goethe, Johann Wolfgang 17, 43, 51, 61, 120, 139, 149, 198, 206, 207, 235 – 237, 240, 242 – 246, 250 – 254, 258 – 265, 270, 272, 280, 295, 322, 326, 329, 335, 341, 352, 364, 366, 369, 386, 393, 422 – 434, 437 – 449, 473, 477, 494, 501, 502, 510, 517, 518, 520 Goldhagen, Johann Eustachius 274 Goldoni, Carlo 263, 381 Gossec, François-Joseph 302, 436 Gottfried von Saint Victor 135 Gottsched, Johann Christoph 51, 90 – 94, 98 – 100, 103, 118, 121, 128, 166, 236, 246, 306, 307, 344, 345, 347 Gracián, Baltasar 77 – 81, 88, 507 Graffigny, Françoise 102 Grave, Heinrich David 281 Green, John 283
582
Register Gregorius, Immanuel Friedrich 94, 97 Greuze, Jean-Baptiste 108, 109, 172, 175, 394 Grimm, Melchior 158, 178 Großmann, Friedrich Wilhelm 124, 238 Grüner, Karl Franz (Franz von Akácz) 279, 440 – 442 Gryphius, Andreas 48 Guttenberg, Andreas Joseph von 321, 322, 522
Iffland, August Wilhelm 144, 145, 150, 237, 238, 243, 253, 261, 270, 272, 273, 280, 292, 293, 337, 350, 363, 367, 381, 383 – 387, 393, 394, 399, 401, 426, 429, 433, 434, 443, 447, 467, 468, 470, 474, 475, 478, 482, 502, 504, 510 Ignatius von Loyola 71 – 73 Ilgener, Peter Florenz 310 Iselin, Isaak 111
Hallmann, Johann Christian 48 Hamann, Johann Georg 103 Hampeln, Carl Joseph von 466 Happe, Franz Wilhelm von 282 Harsnett, Samuel 26 Hartmann, Johann Georg August von 358, 359, 363 – 365, 368, 369 Hauber, Christoph Emanuel 113 Hebenstreit, Wilhelm 451, 452 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 140, 150, 182, 254, 434, 502, 511 Heinitz, Johann Gottfried 99 Heinze, Wenzel Sigmund 138, 209, 273, 293, 298, 307 Hensel, Frederike Sophie 215, 273, 291 Herbart, Johann Friedrich 17, 27 Herder, Johann Gottfried 33, 103, 108, 423, 524 Herrmann, Leopold 114 Heusser, Carl Nikolaus 139, 140, 292, 326 – 328, 335, 521 Hill, Aaron 299 Hill, John 137, 158, 179, 322, 506 Hiller, Johann Adam 424 Hoditz, Albert Joseph von 277 Hoffmann, Gottfried 38 Hogarth, William 136, 204, 217, 218, 222, 480, 487, 488, 491, 508 Hohenheim, Franziska von 361, 362 Holtei, Karl von 267, 279 Home, Henry 314, 389 Hompesch, Franz Karl von 371, 372, 380 Horaz 157, 158, 165, 414 Houdar de la Motte, Antoine 168 Hugo von Saint Victor 135 Humboldt, Wilhelm von 181, 204, 255 – 259, 261, 434 – 436
Jagemann, Caroline 280, 284 Jagemann, Christian Joseph 281 Jagemann, Ferdinand 281 Joseph II. 356, 362, 369, 403, 407 Jouvancy, Joseph de 56, 67 Kant, Immanuel 17, 18, 138, 161, 165, 205, 239 – 242, 258, 264, 349, 428, 451, 474, 500 – 502 Karl Ludwig Friedrich von Baden 458 Kästner, Johann Friedrich 439 Katharina II. 180 Kelly, Frances Maria (Fanny) 301 Kirchhöfer, Johann Georg 384, 386 Kirms, Franz 253, 269, 426 Kleist, Friedrich Julius von 279 Kleist, Heinrich 431 Klingemann, August 467 – 485, 505, 516, 520, Knigge, Adolph 207, 208, 271, 507 Koch, Gottfried Heinrich 93, 209 Koch, Joseph Anton 365, 366, 388 Koller, Benedict Joseph 293, 450 – 457, 474, 516, 517, 520 König, Eva 124 Kotzebue, August von 237, 238, 242, 253, 262, 363, 453, 473, 474 Krebs, Johann Baptist 464, 466 Kropf, Franz Xaver 56 Krüger, Johann Christian 135 Krüger, Karl Friedrich 445 Künstlich, Jonas 410, 411 La Bruyère, Jean de 79, 168 La Chaussée, Pierre-Claude Nivelle de 103 Lamoignon de Malesherbes, Chrétien-Guillaume 187, 193
583
Personen Lang, Franz (Franciscus Lang) 52, 55 – 71, 73, 74, 77, 78, 81, 85, 232, 447, 448 Langhannß, Gottfried 99 La Rochefoucauld, François de 79 Laube, Heinrich 11 Lavater, Johann Casper 232 Le Brun, Charles 65, 66, 142, 518 Lecouvreur (Adrienne Couvreur) 301 Le Faucheur, Michel 98 Leibniz, Gottfried Wilhelm 342, 346 Le Kain (Cain, Henri Louis) 156, 301, 302 Lenz, Jakob Michael Reinhold von 373, 374, 378, 379 Lenz, Johann Reinhold von (Kühne) 279 Leopold III. Friedrich Franz (Anhalt-Dessau) 114 Leppert, Johann Martin 276 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 17, 41, 92, 94, 97, 99, 103, 108, 117, 121 – 124, 126, 128, 134, 137, 151, 158, 161, 162, 202 – 204, 209 – 219, 224 – 226, 229, 243, 252, 272, 290, 291, 293 – 295, 314, 328, 338, 346, 347, 366, 369, 371, 373, 384, 387, 392, 402, 403, 406, 410, 412, 421, 473, 492, 497, 500, 501, 507, 510, 517 Lichtenberg, Georg Christoph 144, 200, 201, 209, 230, 292, 487, 492, 517 Lindner, Johann Gotthelf 33, 100 – 104, 107, 524 Locatelli, Giovanni Battista 286 Locke, John 78 Lohenstein, Daniel Casper von 48 Lorenz, Gottlieb Friedrich 312, 369 – 372, 376 – 379, 516, 520 Löwen, Johann Friedrich 55, 102, 135, 145, 146, 203, 204, 209, 219 – 223, 225, 288, 289, 293, 306 – 309, 315, 343, 348, 479, 520, 521 Ludwig XIII. 236 Ludwig XIV. 167 Luther, Martin 47, 236, 470 Maas, Wilhelmine 426 Machiavelli, Niccolò 78, 89, 90 Maler Müller (Friedrich Müller) 372 – 376 Marchand, Theobald 369, 377 – 380, 516 Marmontel, Jean-François 193 Martini, Christian Lebrecht 340 Marx, Karl 18, 133, 523
Matteis, Paolo de 248 Matthisson, Friedrich von 112 May, Johann Friedrich 94, 301 Meil, Johann Wilhelm 230 Mendelssohn, Moses 122, 216, 488 Mercier, Louis-Sébastien 124, 363 Mertens, Hieronymus Andreas 104, 106, 107 Meyer, Wilhelm Christian Dietrich 142, 381, 383, 384, 386, 387, 392, 394, 396, 397 Meyfart, Matthäus 73 Miller, Johann Martin 276 Mittell, Peter 12, 458, 459, 464, 516 Moissy, Alexandre Guillaume Mouslier de 104, 117 Molé, François-René 302, 436 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 125, 128, 275, 301, 318, 345, 363 Molyneux, William 171, 172 Montaigne, Michel 32, 79, 280 Moritz, Karl Philipp 32, 141, 144, 236 – 238, 241, 244, 273, 280, Moritz von Hessen-Kassel 284 Mozart, Wolfgang Amadeus 151, 253, 512 Müller, Johann Heinrich Friedrich (Schröter) 11, 122, 274, 275, 277, 290, 316, 317, 335, 357, 369, 371, 372, 402 – 418, 420 – 422, 498, 516, 520 Mylius, Christlob 97, 134, 136, 346 Nehrlich, Johann Karl 460 – 462 Neuber, Frederike Caroline 92, 93, 98, 100, 121, 128, 135, 284, 430, 517 Neukäufler, Jakob 141, 278, 279, 287 – 289 Neumann, Christiane Louise Amalie 424, 425 Neumann, Johann Christian 424 Nicolai, Friedrich 122, 123, 147, 202, 292, 295, 356, 361, 368, 497 Nicolini, Philipp 209, 210, 286, 287, 408 Nießer, Johann Baptist 279, 287, 288 Noverre, Jean-Georges 294, 358, 364, 409, 410, 420 Opitz, Martin 48 Pascal, Blaise 79, 165 Paul I. (Pawel Petrowitsch) 357
584
Register Peale, Patrik (Seckendorff, Gustav Anton von) 476 – 478 Perrault, Charles 168 Petersen, Johann Wilhelm 355 Pfaff, Christoph Heinrich 363 Pfeffel, Konrad Gottlieb 104 Philadelphia, Jacob 410 Picart, Bernard 65 Piccinni, Niccolò 302 Pius VII. (Papst) 51 Platon 12, 47, 512 Plautus 96, 307, 423 Plümicke, Carl Martin 317 – 319, 323, 516 Pockels, Friedrich 476, 477 Porcia, Nicolaus von 377, 378 Porée, Charles 94, 95, 97, 301 Préville (Pierre-Louis Dubus) 301, 302, 312, 406 Quaglio, Domenico 370 Quintilian 67, 69 Rahbek, Knud Lyne 292 – 295, 318, 391, 517, 518 Ramler, Karl Wilhelm 123, 314 Rancine, Jean 363 Reichard, Heinrich August Ottokar 310 Reinhold, Karl Wilhelm (Zacharias Lehmann) 447, 475 Reiser, Anton 148, 236, Rennschüb, Johann Ludwig 384, 393 – 397 Resewitz, Friedrich Gabriel 206, 352, 507, 510 Rhenanus, Johannes (Johann Reinlandt) 299 Riccoboni, Antonio Francesco 122, 137, 158, 160 – 164, 173, 204, 221, 289, 290, 309, 347, 392, 491, 508, 517, 518 Riccoboni, Luigi 157, 161, 298, 306, 347 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Duc de 167, 235, 342 Richter, Adam Daniel 99, 100 Rochow, Friedrich Eberhard von 112 Rode, August 105, 111 – 113 Rollin, Charles 314 Rousseau, Jean-Jacques 35, 83, 110, 126, 151, 152, 171, 176, 180 – 182, 186 – 194, 199, 208, 209, 250, 251, 256, 286, 287, 295, 414, 434, 493 – 495, 508, 509, 517
Rust, Friedrich Wilhelm 114 Sackeville, Thomas 283 Sainte-Albines, Pierre Rémond 122, 137, 158, 185, 202, 215, 322, 492 Salzmann, Christian Gotthilf 115, 206, 352, 510 Sander, Christian Friedrich 112 Schelble, Johann Nepomuk 466 Schiller, Friedrich 17, 53, 95, 108, 120, 124, 125, 128, 139, 181, 215, 236 – 240, 242, 243, 246, 247, 251 – 253, 256, 259, 260, 262 – 264, 272, 335, 355 – 357, 359, 360, 362, 364 – 366, 379, 382, 386 – 388, 391, 398, 427, 428, 430, 442, 444, 448, 451 – 453, 464, 472 – 474, 476, 478, 501, 502, 516 Schimmelmann, Ernst Heinrich von 239 Schink, Johann Friedrich 112, 202, 407 Schlegel, August Wilhelm 253, 470 Schlegel, Johann Adolph 168 Schlegel, Johann Elias 121, 143, 146, 284, 497 Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Friedrich Christian 239 Schlotterbeck, Johann Friedrich 368 Schmid, Christian Heinrich 307, 339, 424 Schönaich, Christoph Otto von 103 Schönemann, Johann Friedrich 64, 93, 98, 135, 136, 270, 283, 287, 307, 336, 338 – 342, 355, 513 Schröder, Friedrich Ludwig 52, 53, 162, 237, 270, 309, 354, 371, 431, 471, 518 Schröter, Corona 243, 263, 424, 425, 442 Schubart, Christian Friedrich Daniel 362, 368 Schuch, Franz 267, 268, 274, 275, 290 Schulze, Christian 276 Schulze, Johann Michael Friedrich 111 Schulze-Kummerfeld, Karoline 269, 277, 285, 290, 291 Schummel, Johann Gottlieb 107, 111, 112 Schütze, Johann Friedrich 309, 337, 346 Schwan, Christian Friedrich 386 Seeger, Christoph Dionysius von 360, 361, 365, 366 Seidel, Carl August Gottlieb 112 Seyler, Abel 272, 380, 381, 383, 424 Shakespeare, William 25, 26, 28, 32, 87, 89, 123, 218, 243, 246, 250, 295, 445, 478, 517
585
Orte Simon, Johann Friedrich 113, 114 Simon Philipp von Leiningen 80 Spencer, John 283 Spitzeder, Adelheid 457, 458 Starke, Johanna Christiane 339, 516 Steen, Jan 467, 468, 470 Steinacker, Wilhelm Gabriel 114 Stengel, Stephan von 370, 372, 373 Sticotti, Antonio Fabio 158, 179, 293 Stief, Christian 99 Streicher, Andreas 357, 366, 368 Sturm, Johannes 96 Sturz, Helfrich Peter 152, 154 Sulzer, Johann Georg 137, 322, 326, 328, 391, 506, 518 Talma, François-Joseph 302, 434 – 436 Terenz 96, 243, 260, 261, 307, 423 Tertullian 57 Thomasius, Christian 79 Thomas von Aquin 135 Thouret, Nikolaus Friedrich 259 Tischbein, Johann Friedrich August 281 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 244 Toscani, Franziska 151, 383 Uhlich, Adam Gottfried 98 Unzelmann, Frederike 438 Unzelmann, Karl 438, 440 Uriot, Joseph 361 – 364, 367, 368, 516
Vasari, Giorgio 518 Velten, Johannes (Magister Velten) 50 Vestris, Gaetano 359 Vigée-Lebrun, Louise-Elisabeth 154 Villaume, Peter 105 Voellus, Jean 67 Vohs, Johann Heinrich 425, 427 Voltaire (François-Marie Arouet) 64, 156, 218, 301, 304, 344, 345, 363, 427, 444 Wahr, Karl 310 Weber, Carl Maria von 279 Weber, Franz Anton von 279 Weise, Christian 11, 38, 52, 75 – 77, 79 – 91, 100, 208, 492, 507 Weiße, Christian Felix 91, 107, 117, 406, 488 Weitsch, Anton 468, 479, 480 Werenfels, Samuel 94 – 98, 122 Westenrieder, Lorenz von 220, 293 Wieland, Christoph Martin 296, 421 Winckelmann, Johann Joachim 244, 482 Wolff, Christian 91, 94 Wolff, Pius Alexander 440 – 443, 446 Wolfram, Georg Friedrich 309, 310, 312 Wolke, Christian Heinrich 114 Wötzel, Johann Carl 328 – 330, 332 – 334, 521 Zedler, Heinrich 135 Zick, Januarius 187, 188 Zschokke, Heinrich 319, 320
Orte
Aachen 37 Annaberg 99 Augsburg 104, 279, 440, 441 Basel 94, 95, 98, 270 Berlin 15, 52, 99, 114, 123, 140, 147, 149, 204, 207, 223, 241, 248, 268 – 270, 282, 297, 317, 325, 342, 356, 396, 401, 403, 426, 439, 498 Bern 270 Braunschweig 105, 124, 270, 335, 450, 467 – 471, 476, 477, 479, 514, 516 Breslau 37, 49, 99, 268
Colmar 104 Dessau 101, 110 – 116, 148, 312, 314 Dijon 187, 193 Dresden 245, 286, 403 Erfurt 270, 281 Frankfurt a. d. O. 123, 270 Frankfurt a. M. 50, 270, 422, 280 Fresenburg 283
586
Register Genf 186, 190, 191 Gotha 15, 115, 150, 273, 278, 280, 298, 310, 311, 336, 337, 350, 380 – 382, 395, 434, 503 Graz 50, 424 Greifswald 40, 282 Güstrow 270
377 – 381, 384 – 388, 391, 398 – 402, 404, 413, 458, 464, 514 – 518, 520 – 522 München 35, 55, 151, 220, 270, 278, 279, 287, 379, 380, 457 Münster 37, 278 Neuwied 321, 522
Halberstadt 105, 274 Halle 274 Hamburg 15, 64, 126, 128, 135, 137, 145, 148, 162, 203, 210, 214, 215, 219, 236, 243, 269, 270, 273, 282, 293, 308, 309, 317, 321, 337, 339, 342, 346, 348, 380, 387, 392, 400, 403, 471, 514, 522 Hannover 124, 272, 273, 280 Heidelberg 140, 380 Heidesheim 115, 312 Hildburghausen 309, 310, 312 Innsbruck 278 Jena 239, 251, 276, 336, 470 Jülich-Berg 37 Karlsbad 244 Karlsruhe 11, 141, 284, 335, 450, 458 – 461, 463, 514, 516, 520 Kamenz 99 Kiel 106, 270 Konstanz 37 Landsberg am Lech 279 Lauchstädt 253, 270, 440 Leipzig 51, 80, 90, 92 – 94, 121, 210, 244, 270, 276, 293, 309, 328, 347, 400, 412, 424, 492, 507, 514 Lille 153 Lübeck 283 Ludwigsburg 360, 464 Lüneburg 338 Magdeburg 108, 122, 268, 274, 319 Mainz 15, 245, 289, 297, 314, 321, 322, 380, 425, 452, 522 Mannheim 15, 142, 147, 237, 270, 281, 284, 308, 312, 321, 334, 335, 355, 357, 369 – 372,
Oldenburg 106 Oldesloe 283 Paris 65, 95, 142, 152 – 154, 156, 161, 178, 182, 189, 281, 301, 302, 360, 434, 436, 468, 469, 518 Prag 286, 321, 522 Ravenstein 37 Riga 33, 100, 102, 103, 321, 522, 524 Regensburg 51, 335, 448, 450, 452, 453, 456, 457, 514, 516, 520 Rom 226, 263, 473 Rostock 270 Rouen 153 Rudolstadt 270 Saarbrücken 270 Sankt Petersburg 180 Schweidnitz 99 Schwerin 270, 308, 335, 336, 338 Stuttgart 125, 335, 355, 358, 360, 362, 366 – 368, 450, 464, 466, 514, 516, 520 Vaux-le-Vicomte 167 Versailles 167, 361 Vincennes 182, 187, 494 Weimar 15, 202, 243, 245, 248, 251, 254, 259, 270, 281, 373, 380, 423, 424, 433, 434, 438 – 441, 443, 445, 514, 515 Wien 11, 53, 124, 138, 141, 270, 301, 316, 317, 328, 335, 357, 369, 402, 404, 405, 409, 412, 417, 422, 458, 514, 516, 520, 522 Wismar 270 Zittau 38, 77, 80, 86, 89, 91, 99, 492 Zürich 270