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German Pages 318 Year 2015
Anne Ebert, Maria Lidola, Karoline Bahrs, Karoline Noack (Hg.) Differenz und Herrschaft in den Amerikas
2008-12-04 14-27-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0260196299549408|(S.
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Anne Ebert, Maria Lidola, Karoline Bahrs, Karoline Noack (Hg.) Differenz und Herrschaft in den Amerikas. Repräsentationen des Anderen in Geschichte und Gegenwart
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Anne Ebert, Maria Lidola Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1063-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort 9
Zur Einführung: Abgrenzungen, Eingrenzungen und Möglichkeiten ANNE EBERT UND MARIA LIDOLA 11
Symboltheorie aus ethnologischer Sicht: Eine einführende Skizze JEANNE BERRENBERG 25
KATEGORIEN, IDENTITÄTEN UND POSITIONIERUNGEN Wie Mestizen zu Mestizen wurden: Zur Geschichte einer sozialen Kategorie VERENA STOLCKE 37
Idealisierte Darstellung oder Abbild: Hierarchien in den Casta-Gemälden Neu-Spaniens des 18. Jahrhunderts ANNE EBERT 69
Black, White, or Faerie Folk? Louisianas Kreolen zwischen Erinnerung und Vergessen NINA MÖLLERS 81
Soziale Distinktion in der US-amerikanischen Musikgeschichte: Die Entstehung der Barbershop Harmony FRÉDÉRIC DÖHL 93
Immaterielles Weltkulturerbe: Symbolische Repräsentationen (in) der Dominikanischen Republik KAROLINE BAHRS 103
Ästhetik eines Widerstandes: Szenarien des Candomblé im mythopoetischen Archiv des ›schwarzen‹ Theaters in Brasilien DANIA SCHÜÜRMANN 115
WISSEN, RÄUME UND HERRSCHAFTSVERHÄLTNISSE Afrika durch gute Absichten ELÍSIO MACAMO 129
Als ›Brasilianerin‹ in Berlin: Eine Auseinandersetzung mit symbolischen Verortungen MARIA LIDOLA 145
Mediale Neuverortungen von nationalen Symbolen in den Amerikas GUNDO RIAL Y COSTAS 159
»Die wahren Helden unseres modernen Lebens« Gesellschaftliche Position und Identität lateinamerikanischer Intellektueller MENJA HOLTZ 171
Raum und Repräsentation: Die Siedlung Ciudadela Sucre XIMENA TABARES 181
Körper der Begegnung: Gesundheit, Tod und Heilung im frühneuzeitlichen Cartagena de Indias PABLO F. GOMEZ 189
Performative Therapie in einem Candomblé- und Umbanda-Tempel MARKUS WIENCKE 199
WIRKLICHKEITEN IN BILDERN UND TEXTEN Konstruktion von Welt in den Kulturen der »Frühen Zwischenzeit« an der Küste Perus JÜRGEN GOLTE 207
Der »Schlafende Gigant« ist erwacht: Aneignungen kultureller Repräsentationen am Beispiel der Bennett-Stele ANDREA BLUMTRITT 229
Die symbolische Repräsentation von Ordnung: Inszenierungen und Vermittlungsleistung von Institutionen in Yucatán im Zeitalter der Revolutionen ULRIKE BOCK 243
Übersetzung in kolonialzeitlichen Katechesediskursen in Peru ANTONIA SCHNEIDER 253
Der Einsatz diskursiver Traditionen in der »Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno« (1615) MARET KELLER 265
Kontroverse Geschichtsbilder: Mario Vargas Llosas Strategie fiktionaler Erinnerungspolitik KORA BAUMBACH 271
Indigenistische Aspekte im Werk Raúl Anguianos: Die Reise nach Bonampak MIRIAM OESTERREICH 283
Formen der Selbstinszenierung: Nahui Olin, eine mexikanische Künstlerin der 1920er Jahre ANNA BESSLER 295
Visuelle Umsetzung geistiger Welten INGA SCHARF DA SILVA IM GESPRÄCH MIT ALEXANDER BRUST 305
AUTORINNEN UND AUTOREN 311
VORWORT Die Einheit der moderne(n) und der koloniale(n) Welt(en) seit der ›Entdeckung‹ Amerikas und die mannigfaltigen, oft unsichtbaren Verkettungen von Geschichte und Gegenwart darzustellen, ist Anliegen dieses Buches. Eine solche Perspektive auf die Amerikas nimmt die miteinander verbundene, relationale, zwischen Nord und Süd geteilte »Geschichte als entanglement« (Conrad/Randeria) in den Blick und sucht dabei auch die Grenzen zwischen den Disziplinen, die selbst ein Produkt eurozentrischer Narrativen darstellen, zu überwinden. Ausgehend von der kolonialen Geschichte – von dort aus geht der Blick zurück in vorkoloniale Zeiten sowie hinaus in die Gegenwart – werden die Prozesse des Konstruierens, Festschreibens und Reproduzierens vielfältiger Formen von Differenz, die auf das Engste an vielschichtige Herrschaftsbeziehungen gebunden sind, in ihren dynamischen, auf Identitäten bezogenen Unterscheidungen wie Kultur, ›Rasse‹, Ethnizität, Geschlecht, Sexualität und Klasse bedeutsam. Die Beiträge in diesem Buch sprechen von den beständigen Produktionen von Ähnlichkeit und Differenz, die in den vielfältigen und mehrdeutigen symbolischen Repräsentationen des jeweils Anderen in einer langen historischen Dauer sichtbar werden. Differenz und Herrschaft in den Amerikas – der Titel verortet die Debatte in den Kontext von Kolonialität. Das heißt, dass die Amerikas, der Norden und der Süden, erst in der als Narrative der Moderne konstruierten Geschichte der europäischen Expansionen und Herrschaft geteilt wurden. Das Konzept der Kolonialität setzt dieser Narrative die gegenseitigen Abhängigkeiten Europas, Amerikas, Afrikas und Asiens entgegen, es holt den kolonialen ›Anderen‹ in die moderne Geschichte hinein und betont die Verflechtungen, das Aufeinanderbezogensein und die gegenseitige Durchdringung historischer und gegenwärtiger, lokaler und globaler Strukturen. Kolonialität ist nicht Vergangenheit. Kolonialität setzt sich nach den Unabhängigkeitsbewegungen der Amerikas fort und wird bis in unsere Gegenwart hinein permanent produziert und reproduziert. Die hier präsentierten Beiträge sind hervorgegangen aus einer von Studierende des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin initiierten Tagung »Ideen – Darstellungen – Wirklichkeiten: Symbolische
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DIFFERENZ UND HERRSCHAFT IN DEN AMERIKAS
Repräsentationen in den Amerikas« (Berlin, 23.-27.04.2008). Sie bot eine viel-stimmige Konversation zwischen Studierenden, Nachwuchswissenschaftler/innen und Hochschullehrer/innen der Disziplinen Altamerikanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Ethnologie, Musik-, Kultur- und Literaturwissenschaften. Das gemeinsame Nachdenken darüber, in welchen Prozessen in den Amerikas Vorstellungen und Bilder ausgehandelt worden sind, die beanspruchen, vergangene, gegenwärtige oder zukünftige gesellschaftliche Wirklichkeiten darzustellen, brachten die vielfach neuen und disziplinenübergreifenden Forschungsansätze der Projekte von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern in einen fruchtbaren Dialog mit international renommierten Referent/innen, Kommentator/innen, Workshopreferent/innen und Gästen. Die Finanzierung der Tagung und der Publikation verdanken wir der Fritz Thyssen Stiftung sowie dem Außenamt der Freien Universität Berlin. Wir danken den Kolleg/innen des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin, Manuela Fischer vom Ethnologischen Museum Berlin und Falk Blask vom Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin dafür, dass sie unser Anliegen, eine die Institutionen übergreifende Tagung durchzuführen, mitgetragen haben. Für ihre Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung sind wir Marie Isabel Alvéstegui Müller, Mayarí Hengstermann und Milo Hengstermann, Nicole Sagener sowie Peter Ebert zu Dank verpflichtet. Die Manuskripte wurden aufmerksam gelesen und mit wertvollen Kommentaren versehen von Nele Güntheroth, Jan David Hauck, Gundo Rial y Costas und Stefanie Seifert. Darüber hinaus danken wir all unseren Freunden und Familien, die mit ihrem unermüdlichen Interesse an unserer Arbeit dieses Projekt erst möglich gemacht haben. Dem transcript Verlag sind wir für die gute Begleitung bei der Realisierung des Buches dankbar.
Die Herausgeberinnen Berlin, November 2008
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Z U R E I N F Ü H R U N G : A BG R E N Z U N G E N , EINGRENZUNGEN UND MÖGLICHKEITEN ANNE EBERT UND MARIA LIDOLA Wie erlangen Ideen soziale und kulturelle Bedeutung? Über welche Darstellungsformen werden sie kommuniziert? Wie werden – vermittelt durch Ideen und Darstellungen – Wirklichkeiten geschaffen? Die Suche nach Antworten auf diese zunächst recht allgemeinen Fragen kann Perspektiven für das Verstehen eröffnen, wie soziale Ordnungen sich herausbilden, indem diese räumlich und zeitlich verortet werden. Eine solche Herangehensweise ermöglicht eine sensibilisierte Wahrnehmung für die Durchdringung sozialer Ordnungen durch bestehende Herrschaftsbeziehungen und Differenzkonstruktionen, gerade auch aus ihrem historischen Entstehungsprozess heraus. Dies soll am Beispiel der Amerikas in der vorliegenden Publikation aufgezeigt werden. Die Amerikas sind zum Einen geprägt von einer sehr bewegten vorkolonialen Zeit, einer sehr vielschichtigen und strukturell unterschiedlich verlaufenden, durch verschiedene europäische Vorherrschaften gekennzeichneten kolonialen Zeit und deren Nachwirkungen über die Unabhängigkeitsdeklarationen hinaus. Zum Anderen werden sie durch gegenwärtige machtpolitische Einflüsse, Wechselwirkungen und Verschiebungen geformt. Dieser Raum ist gekennzeichnet durch die geschichtliche und gegenwärtige soziale, kulturelle, politische und ökonomische Verwobenheit der einzelnen machtpolitischen Regionen nicht nur innerhalb seiner territorialen Abgrenzungen (vgl. hierfür u.a. Birle 2006; Braig et al. 2005), sondern auch jenseits derselben. Im Folgenden steht vor allem der durch die iberische Kolonisierung beeinflusste Raum im Vordergrund. Die Verwendung des Begriffs der Amerikas ist jedoch nicht unstrittig. Die vielfältigen historischen Prozesse, in denen dieser Raum gedacht wurde – von der Erfindung Amerikas in der Renaissance (O’Gorman, 1958), über das Konzept der Latinité und der damit verbundenen Trennung in Latein- und Anglo-Amerika im Zuge der französischen Aufklärung bis hin zur gegenwärtigen Infragestellung dieser Trennung v.a. durch migratorische Bewegungen – zeigen, dass es sich hierbei um einen Begriff mit vielfältigen Bedeutungszuschreibungen handelt. In diesen
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ANNE EBERT UND MARIA LIDOLA
Prozessen diente dieser Raum als Projektionsfläche für Vorstellungen der europäischen ›Moderne‹1, die sich über Kolonialität konstituiert(e) (vgl. hierfür u.a. Mignolo 2005; Quijano/Wallerstein 1992). Kolonialität, ein Begriff, der sich keineswegs mit Kolonialismus deckt, beinhaltet dabei die gegenseitigen Abhängigkeiten Europas, Amerikas, Afrikas und Asiens und die gegenseitige Durchdringung lokaler und globaler Strukturen. Sie hat unterschiedliche Ausprägungen, was sich auch in verschiedenen postkolonialen Situationen innerhalb der ›Amerikas‹ zeigt, weshalb diese Bezeichnung so schwer einzugrenzen ist (vgl. u.a. Walter Mignolos Kritik an der Konzeption von Jorge Klor de Alva in Mignolo 1995: 97f).2 Es sind jedoch nicht nur die Kontinuitäten, sondern vor allem auch die Diskontinuitäten, welche die oben genannten Verflechtungen charakterisieren und uns die Verwendung der Bezeichnung ›Amerikas‹ sinnvoll erscheinen lässt. Ausgehend von einem Raumverständnis, das sich durch Offenheit und Heterogenität auszeichnet (vgl. Escobar 2001, Massey 1994), stellt sich die oben angerissene Suche vor dem Hintergrund gegenwärtiger epistemologischer Ansätze verändert dar und regt neue Interpretationen an. Gerade durch poststrukturalistische, postmoderne sowie hermeneutische Ansätze und insbesondere durch die Postcolonial und die Gender Studies, verbunden mit den unterschiedlichen Turns innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften – wie dem cultural, dem spatial und dem linguistic turn3 –, wurden über längere Zeiträume gefestigte Paradigmen in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Wirklichkeitszugängen in Frage gestellt (vgl. für eine Einführung Bachmann-Medick 1
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Die ›Moderne‹ ist gemäß Mignolo die Narrative bzw. die europäische Konstruktion der Geschichte, die mit den europäischen Expansionen beginnt. Sie ist somit nicht nur die schlichte Ausbreitung des sich entwickelnden europäischen Kapitalismus und dem ihm zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnissen (vgl. Mignolo 2005). So wendet sich Mignolo in seiner Kritik gegen Klor de Alvas zum Einen gegen dessen Aufteilung der Amerikas in Anglo- und Spanisch-Amerika. Dahinter würden sowohl die britischen und französischen Kolonien verschwinden, als auch die unterschiedliche Durchdringung von Kolonialherrschaft und den sich daraus ergebenden (post-) kolonialen Situationen. Zum Anderen kritisiert Walter Mignolo die Zuschreibung einer geglückten Ausdehnung der europäischen ›Moderne‹ für den Norden sowie das daran gemessene Defizit des Südens. Beide seien vielmehr als Konsequenz der europäischen Herrschaft zu verstehen (ebd.). Hier sei insbesondere auf die Bedeutung des linguistic turns verwiesen. Diesem liegt die Auffassung zugrunde, das keine objektive Wirklichkeit existiert, sondern diese subjektiv durch Sprache konstruiert und gefiltert wird (vgl. hierfür u.a. Bachmann-Medick, 2006: 33f). 12
ZUR EINFÜHRUNG
2006). Wenngleich hier nicht tiefer gehende theoretische Betrachtungen (und Begriffsdefinitionen) formuliert werden, sollen doch Positionierungen angeboten werden, die ein Weiterdenken anregen können. Insbesondere möchten wir die Bedeutung der die Postcolonial Studies prägenden Arbeiten von Edward Said und Frantz Fanon hervorheben. Diese Autoren forderten, wie auch Mignolo (2005), ein Aufbrechen eurozentristischer Sichtweisen auf die (koloniale) Vergangenheit ein und machten verständlich, auf welche Weise Differenz auch in der Gegenwart permanent konstruiert wird.4 Sie stellten tradierte dominante Wissensproduktionen in Frage und forderten so ein Über- und Neu-Denken von westlich geprägten Forschungsansätzen und Wissensnormativen ein. Damit trugen sie wesentlich zum Aufweichen dichotomer Wirklichkeitskonzeptionen in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen bei. Ebenso stellten die Gender Studies dichotomisierte soziale und kulturelle geschlechterkonstruierende Normative für die Herausbildung sozialer Ordnungen in Frage (vgl. u.a. die Beiträge in Lamas 1996). Die Einschreibung dieser Normative in Ideen, Darstellungen und Wirklichkeiten wird dabei besonders von Judith Butler bis hin in den sexualisierten Körper nachvollzogen (Butler 1993). Verknüpft und erweitert wurden diese Perspektiven von Gayatri Chakravorty Spivak, die zudem die Frage der Subalternität in die Diskussion einbrachte (1994 [1988]). Die Untersuchungen der Postcolonial bzw. Subaltern Studies basieren auf den Erfahrungen aus den Nationalstaaten, die sich im 20. Jahrhundert insbesondere von den englischen und französischen Kolonialmächten losgelöst haben. Seitdem ist immer wieder die Diskussion geführt worden, inwiefern diese Erkenntnisse auf andere kolonial geprägte Regionen wie die Amerikas übertragbar seien (vgl. Mignolo 1995, 2000; Toro/Toro 1999). Schon innerhalb einzelner (geo-politischer bzw. geokultureller, vgl. Mignolo 1995: 99f, 1994) Regionen der Amerikas präsentieren sich koloniale wie auch im zeitlichen Verlauf verstandene postkoloniale Situationen und Erfahrungen als sehr unterschiedlich (vgl. u.a. Klor de Alva 1995 [1992]; Toro/Toro 1999). Die Frage kann dahingehend zugespitzt werden, was unter Postkolonialität verstanden werden kann? Wir wollen dafür die stark territorial 4
Während Edward Said in »Orientalism« (1978) die Konstruktion des Orients als ›konstitutives Außen‹ für Europa beschreibt, deckt Frantz Fanon in »Peau Noire, Masques Blancs« (1952) die Konstruktion des ›schwarzen Mannes‹ als ›Anderes‹ für die Konstitution des ›Selbst‹ des ›weißen Mannes‹ auf, indem dieser als Projektionsfläche für koloniale Phantasien und negativierter Eigenschaften dient. Bei beiden Autoren steht die aktive Herstellung von ›Anders-Sein‹ mittels symbolischer Grenzziehung im Vordergrund. 13
ANNE EBERT UND MARIA LIDOLA
geführte Diskussion verlassen.5 Vielmehr wird hier Postkolonialität interrelational verstanden, d.h. Herrschaftsbeziehungen und Differenzkonstruktionen werden innerhalb bestimmter sozialer Ordnungen ins Blickfeld gerückt. In Anlehnung an Spivaks Konzept der Subalternität, die hier nicht gleichgesetzt ist mit Postkolonialität, greifen wir uns an dieser Stelle jedoch ihre Logik heraus, mit der sie die innerhalb einer sozialen Ordnung eingebetteten Beziehungsgefüge von Dominanz und Unterwerfung betrachtet. Insofern ist es hier der relationale Aspekt ihres Konzeptes, der uns als Instrument dienen soll, um Postkolonialität nicht nur als externes Machtgefüge zwischen (ehemaligen) Kolonialherren und Kolonisierten denken zu können, sondern auch als eine interne Konstellation (vgl. Spivak 1994 [1988]: 90ff).6 Wie in vielen Beiträgen der Publikation gezeigt wird, eröffnen sich über diese abgeleitete Konzeption auch Möglichkeiten, um Widerstand bzw. subversive Praktiken und Strategien gegenüber dominanten Diskursen und sozialen Ordnungen deutlich zu machen. Es können also Handlungsmöglichkeiten betrachtet werden, ohne dass notwendigerweise eine Essentialisierung von Positionen stattfindet. Ebenso wie wir uns von einer territorialen Verortung von Postkolonialität lösen wollen, soll dies auch für die zeitliche Dimension gelten. Anstatt ›Post‹ im Sinne von ›Danach‹ zu gebrauchen, sei zum Einen auf das Verständnis von Ella Shohat verwiesen, die dieses »as following, going beyond and commenting upon a certain intellectual movement – third worldist anti-colonial critique – rather than beyond a certain point in history – colonialism« (Shohat 1992: 108) beschreibt. Zum Anderen wird der Gedanke Klor de Alvas hinzugezogen, der das lineare historische Zeitverständnis der europäischen Moderne ablehnt: Dies führe – zusammen mit der Ablehnung essentialisierter Identitäten – zu einer Vielfalt von oftmals entgegengesetzten und häufig parallel verlaufenden Narrativen, innerhalb derer Postkolonialität weniger ein ›Nach‹ der kolonialen Erfahrungen bedeutet. Klor de Alva schlägt vielmehr vor, diese von vorhergehenden kolonialen Bedingungen zu lösen und sie als »a form of contestatory/oppositional consciousness, emerging 5
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Vgl. hierfür z.B. die Diskussion über die Unterscheidung von Cornel West in unterschiedlich gefestigte Siedlungskolonien vor und nach 1945 (Mignolo 1995: 95) oder die Unterscheidung von Jürgen Osterhammel in Stützpunkt-, Siedlungs- und Beherrschungskolonie (Castro Varela/Dhawan, 2005: 12f). Der eigentliche Aspekt ihres Konzept der Subalternität, der hier nicht im Vordergrund steht, geht desweiteren innerhalb dieser Ordnungen von ›sprachlosen Subjekten‹ in ihrer Isoliertheit aus, d.h. ›sprachlos‹ in dem Sinne, dass ihre Stimmen vom hegemonialen Diskurs nicht ›gehört‹ werden. 14
ZUR EINFÜHRUNG
from either preexisting imperial, colonial, or ongoing subaltern conditions, which fosters processes aimed at revising the norms and practices of antecedent or still vital forms of domination« zu denken (Klor de Alva, 1995 [1992]: 245). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Diskussion um Postkolonialität für die Amerikas nicht in ihrer zeitlichen Ausprägung geführt werden kann und soll, wenn wir zudem in Betracht ziehen, dass die Mehrheit der heutigen Staaten der Amerikas seit mehr oder weniger 200 Jahren von ihren ehemaligen Kolonialmächten unabhängig sind. Dies hatte jedoch für einzelne gesellschaftliche Gruppen nicht zwangsläufig den Bruch mit der kolonialen Situation innerhalb einer sozialen Ordnung zur Folge, wie auch Machtverhältnisse zwischen einzelnen sozialen Ordnungen nicht notwendigerweise aufgebrochen wurden bzw. sich verändert oder verschoben haben können (ebd.). Unter diesen Gesichtspunkten müssen die Amerikas also in ihrer Heterogenität nicht nur ausgehend von der kolonialen, sondern vor allem der postkolonialen Situationen und der jeweiligen zeitlichen Verläufe betrachtet und verstanden werden (vgl. Mignolo 1995: 93-98). Nichtsdestotrotz ermöglicht ein Verständnis von Postkolonialität als theoretische und epistemologische Herangehensweise einen veränderten Blickwinkel auf die Auswahl der (Forschungs-) Inhalte, die angewandte Methodik und für die Reflektion über die eigene Positionierung innerhalb der westlichen Wissensproduktion sowie der damit verbundenen Konnotationen und auch erkenntnistheoretischen Einschränkungen. Bei den folgenden Betrachtungen geht es weniger um eine Verortung innerhalb postkolonialer Diskurse oder Situationen (vgl. Unterscheidung nach Mignolo 1995: 98f), sondern vielmehr darum, die durch den angesprochenen Blickwinkel gewonnene Sensibilisierung und Fragestellung für unsere weiteren Betrachtungen zu nutzen. Über das Infragestellen der und die kritische Auseinandersetzung mit den machtpolitischen Grundlagen gegenwärtiger sozialer Ordnungen wird auch ein Rückblick auf die Herausbildung, den geschichtlichen Verlauf sowie auf Veränderungen kolonialer Situationen und deren Bedeutung für die Akteur/innen ermöglicht.
R e p r ä se n t a ti o n e n , H e r r sc h af t u n d D i f f e r e n z in den Amerikas Soziale Ordnungen, hier verstanden als Formen gesellschaftlicher Organisation, die durch herrschaftsgeleitete Ideen und Diskurse gekennzeichnet sind, materialisieren sich für Akteur/innen in erfahrbaren Wirklich-
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keiten. Ihre Ausgestaltung finden sie auf unterschiedlichen räumlichen, historischen und politischen Ebenen, und sie bedienen sich diverser Abgrenzungen. Nach den vorhergehenden Ausführungen lassen sie sich nicht als feste, sondern durch Herrschaftsbeziehungen dynamisch gestaltete Strukturen begreifen, auf die kollektive wie auch individuelle Akteur/innen aktiv einwirken. Diese Strukturen legen einen Handlungsrahmen fest, über den Bedeutungen zugeschrieben und Kategorien durchgesetzt werden. Zugleich eröffnen sich darin auch Möglichkeiten zur Subversion des dominanten Diskurses und zur strategischen Nutzung der zugeschriebenen Kategorien und Identitäten. Dies kann wiederum die Struktur und die damit verbundenen sozialen Ordnungen und Zuschreibungen beeinflussen und verändern. In den benannten Kontexten wird gerade über die oben beschriebene Herangehensweise postkolonialer Theorie deutlich, wie Kategorien beständig geschaffen werden und dabei Differenz nicht nur konstruieren und festschreiben, sondern auch reproduzieren und für Herrschaftsansprüche legitimieren. Es steht jedoch nicht der Anspruch auf Anerkennung von Identitäten im Blickfeld der Untersuchung, vielmehr wird die Betrachtung von Repräsentation in den Vordergrund gerückt (vgl. Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003: 8). Unterschiedliche Repräsentationssysteme – politische, religiöse, wirtschaftliche, philosophische, architektonische, künstlerische und ästhetische – werden performativ und innerhalb kultureller Bedeutungsund Kommunikationssysteme (vgl. Hall 1997: 50) hergestellt, vermittelt und praktiziert. Über das Offenlegen der Funktionsweise dieser Repräsentationssysteme werden soziale Ordnungen aufgebrochen und dekonstruiert, wodurch Mechanismen der Konstruktion von Differenz und Herrschaft aufgedeckt werden. Für das Verständnis von Repräsentationen wird hier auf Spivaks Ansatz zurückgegriffen, der Formen des Vertretens, eines politisch konnotierten Sprechens für, oder aber das Darstellen, eines ästhetisch konnotierten Sprechens von versteht (vgl. Spivak 1994 [1988]: 70ff).7 Beide Formen von Repräsentation setzen so die Konstruktion eines einheitlichen Subjekts als das ›Andere‹ voraus, was für die Konstitution eines einheitlichen ›eigenen‹ Subjekts Bedingung ist.8 Obgleich in der gegen7 8
Sie leitet die doppelte Bedeutung von Repräsentation aus dem deutschen Original von Karl Marx’ »18. Brumaire des Louis Bonaparte« (1852) her. Vgl. hierfür die Hegelsche subjekttheoretische Betrachtung, die von Spivak und Said in einen geographischen, politischen und historischen Kontext gebettet wird, also als ›konstitutives Außen‹ für die Produktion des imperialen Projektes Europas dient (Spivak 1994 [1988] und Said 1978; vgl. auch Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003: 9). 16
ZUR EINFÜHRUNG
wärtigen Diskussion der Begriff der Differenz, der sich bezüglich der Intersektionalitäten von Kategorisierungen offener gestaltet, gegenüber dem des Anderen bevorzugt wird (vgl. hierfür insbesondere Brah 1996; Appadurai 1996), verbleiben wir bei der Verwendung beider, da sich Differenz nach wie vor materialisiert, dabei permanent den ›Anderen‹ herstellt und diese so in Wirklichkeiten erfahrbar macht (vgl. Hall 2004: 108-166; Butler 1993). In dargelegten Kontext ist Differenz nicht nur im Sinne der Konstruktion des ›Anderen‹ für die Konstituierung des ›Selbst‹ zu betrachten, sondern auch die damit implizierte Herstellung von Ähnlichkeit bzw. Einheit des ›Anderen‹ (vgl. Hall 2004: 37, 1980: 328), die z.B. auch kollektive Identifikationen ermöglicht. Differenz kann so von (nicht-) dominanten Gruppen als strategisches Mittel zur Aufwertung der eigenen (kollektiven) Positionierung innerhalb sozialer Ordnungen eingesetzt werden (vgl. García Canclini 2004). Für die Darstellung von Differenz wird auf symbolische Repräsentationen rekurriert, die sich dabei eines Repertoires bereits etablierter Symbole bedient bzw. diese (neu) konstruiert, wie auch angeeignete oder aufgezwungene hinzukommen können. Unter Symbolen verstehen wir kulturelle Elemente, die aus einer bloßen Faktizität herausgelöst sind und vielstimmige, mehrdeutige und vielwertige Inhalte in sich tragen. Die Bedeutungen von Symbolen werden durch ihren Gebrauch, ihre Kommunikation bzw. im Dialog konstruiert (vgl. Womack 2005: 3; Geertz 1973). Sie sind somit indefinite Ausdrucksformen von multipler Bedeutung, die einen Interpretationsspielraum eröffnen und zugleich einem diskursiven Gebrauch unterliegen, der wiederum von bestimmten Machtkonstellationen abhängig ist.9 Formen symbolischer Repräsentationen, die als kulturelle Praktiken realisiert werden, konstituieren somit Räume, in denen Identitäten und Identifikationen in den Beziehungen zwischen Akteur/innen geschaffen, transformiert und verhandelt werden. Innerhalb dieser Prozesse werden gleichzeitig Erfahrungen hergestellt. In den Amerikas manifestieren sich diese Erfahrungen und (kollektive) Erinnerungen über symbolische Repräsentationen sowohl des ›Anderen‹ aber auch des ›Eigenen‹ in lokalen, nationalen und gleichzeitig globalisierten Räumen. Die Quellen für die entsprechenden Erfahrungen liegen sowohl in der vorkolonialen Zeit (Amerikas, Afrikas und eben auch Europas), in der Kolonialzeit, den Zeiten der frühen Republiken als auch in der unmittelbaren Vergangenheit. Sie wurden und werden so als gegenwärtige Erfahrungen in ihrem jeweiligen Zeithorizont reaktualisiert und in die alltäglichen Praktiken von Akteur/innen übersetzt. 9
Mit dem Symbolbegriff aus ethnologischer Perspektive beschäftigt sich Jeanne Berrenberg in diesem Band, S. 25-34. 17
ANNE EBERT UND MARIA LIDOLA
In der vorliegenden Publikation werden über ausgewählte Beispiele symbolische Repräsentationen in unterschiedlichen Ordnungen in den Amerikas betrachtet. Unser Anliegen ist es, anhand diverser Forschungsgegenstände, die zudem durch eine zeitliche, räumliche und disziplinäre Pluralität gekennzeichnet sind, die Möglichkeit eines Dialogs auszutesten. Gleichzeitig soll die Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit der auf (Latein-) Amerika bezogenen Forschung vorwiegend im deutschsprachigen Raum vor allem junger Nachwuchswissenschaftler/innen beleuchtet werden. Der vorliegende Band ist in drei Abschnitte unterteilt, denen die Betrachtung zum Symbolbegriff aus ethnologischer Perspektive von Jeanne Berrenberg vorangestellt ist. Die Beiträge des ersten Kapitels beschäftigen sich mit der Konstruktion von Identitäten und ihren jeweiligen historischen, politischen und geographischen Entstehungszusammenhängen. Das zweite Kapitel umfasst die Beiträge, die sich der Wissensproduktion bzw. -zirkulation und deren Einbettung in Herrschaftsbeziehungen widmen. Im dritten Kapitel stehen symbolische Repräsentationen von sozialer Ordnung in materialisierten Formen im Mittelpunkt.
K a te g o r i e n , I d e n ti tä t e n u n d P o s i t i o n i e r u n g e n Die Beiträge des ersten Kapitels setzen sich mit der historischen und gegenwärtigen Konstruktion von sozialen Kategorien auseinander, die Identifikationen ermöglichen bzw. vor- und/oder zuschreiben, die Identitäten festschreiben oder beeinflussen. Die Autorinnen und Autoren zeigen, wie über die strategische Nutzung von Differenzzuschreibung mittels symbolischer Repräsentationen sowohl auf dominanter als auch auf nicht-dominanter Ebene herrschaftsgeleitete Positionen eingenommen und/oder in Frage gestellt werden können. Verena Stolcke setzt sich mit der Konstruktion der sozialen Kategorie der Mestizen auseinander. Mit ihrer historischen Analyse der frühen hispanischen Kolonialzeit verdeutlicht sie anhand dieses Beispiels, wie gesellschaftlich etablierte Ideen und Normen aus einem bestimmten sozialen Kontext in einen anderen übertragen werden. In diesem Prozess erfahren sie durch neue Differenzfestlegung Veränderungen und schaffen und gestalten so andere soziale Kategorien. Anhand der Visualisierungen konstruierter sozialer Kategorien nimmt Anne Ebert die oben angeführte Diskussion auf. In den sogenannten Casta-Gemälden der späten hispanischen Kolonialzeit Mexikos zeigt
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ZUR EINFÜHRUNG
sie die bis ins 18. Jahrhundert andauernde Relevanz der Idee von kolonialer sozialer Ordnung und ihre Dynamik. Am Beispiel strategisch geführter Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik der Kreolen in Louisiana um 1900 weist Nina Möllers in ihrem Beitrag auf die Ambivalenz bei der Beanspruchung von Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie bzw. deren Ausschluss hin. Exklusionsprozesse finden sich auch in der Institutionalisierung von kulturellen Ausdrucksformen. So beschäftigt sich Frédéric Döhl mit der ›Erfindung‹ einer zeitgenössischen musikalischen Tradition. Am Beispiel des US-amerikanischen Barbershops umreißt er das Spannungsfeld der damit verbundenen Identitätszuschreibungen ihrer Träger zwischen Hautfarben sowie Geschlechtern. Öffentliche Festschreibung ist ebenfalls Thema bei Karoline Bahrs. Sie betrachtet jedoch, wie über Motivation und Vergabe von immateriellen Weltkulturerbetiteln die UNESCO Identitäten fixiert werden können. Ihr Fokus liegt hierbei auf dem performativen Umgang der Protagonisten zweier Folkloretraditionen mit diesem erlangten Status in der Dominikanischen Republik. Auch Dania Schüürmann widmet sich performativen Formen. Sie thematisiert die Herstellung von afro-brasilianischer Identität, derer sich das ›schwarze‹ Theater Brasiliens Mitte des 20. Jahrhundert mit dem Ziel des Widerstands gegen ein ausschließendes nationales Identitätskonzept bedient.
W i s s e n , R äu m e u n d H e r r s c h a f t s v e r h äl t n i s se Symbolische Repräsentationen finden in verschiedenen Formen der Identifikation ihren Ausdruck: Sie werden auch von hierarchisch organisierten und miteinander konkurrierenden Wissensproduktionen und -formen bestimmt; sie sind also in Machtverhältnisse eingebettet und werden strategisch für die Legitimierung von dominanten Positionierungen genutzt. Wenn wir zudem davon ausgehen, dass Wissen kulturell und sozial hergestellt und weitergegeben wird (vgl. u.a. Geertz 1983), dann ist dieses für die (Re-) Produktion von Differenz (mit-) verantwortlich. Die Durchsetzung von dominanten Wissenszugängen und -inhalten hat die Normativierung dieses Wissens zum Ziel und stabilisiert gleichzeitig Herrschaftsverhältnisse. Wissen durchdringt jedoch nicht alle Bedeutungsebenen in sozialen Ordnungen einheitlich und bietet so zumindest die Möglichkeit, sich dem dominanten Diskurs zu widersetzen bzw. diesen aufzubrechen (vgl. Comaroff 1985).
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Die Einbettung von Wissen sowie deren Bewertung innerhalb bestimmter Herrschaftsbeziehungen wird von Elísio Macamo am Beispiel ›Guter Absichten‹ aufgezeigt. Über eine vergleichende Betrachtung mit Fokus auf die Konstruktion Afrikas diskutiert er die Einschränkungen für Durchsetzung eigener Wissensformen als auch Möglichkeiten, die diese für kontrahegemoniale Zwecke bereithalten. Dominante Zuschreibungen, die den ›Anderen‹ nicht nur herstellen, sondern in das eigene Wissen einordnen und verorten sollen, zeigt Maria Lidola am Beispiel in Berlin lebender brasilianischer Frauen. Die besondere Aufmerksamkeit ihrer Betrachtung liegt nicht nur auf Prozessen der Fremdpositionierung, sondern auch auf denen eigener symbolischer Grenzziehungen, wobei die Bedeutung von Körper und Körperlichkeit innerhalb unterschiedlicher sozialer Ordnungen herausgearbeitet wird. Die Betonung variierender Bedeutungszuschreibungen von Symbolen in unterschiedlichen Räumen und Kontexten ist das Thema von Gundo Rial y Costas. Er beleuchtet, wie vier nationale Symbole in einer rezenten brasilianischen Telenovela-Dramaturgie durch Transmigration jeweils andere Aneignungen erfahren. Nicht die Zirkulation von Symbolen, sondern die von Diskursen wird im folgenden Beitrag untersucht. So greift Menja Holtz die Diskurse lateinamerikanischer Intellektueller auf, die in den 1970er und 80er Jahren in die BRD emigrierten und zeigt ihre Bedeutung für die Positionierung mexikanischer und chilenischer Intellektueller in der BRD und im globalen Kontext. Ximena Tabares geht es in ihrem Beitrag um die Verflechtung von Raum und Repräsentation. Am Beispiel einer kolumbianischen Flüchtlingssiedlung stellt sie die Komplexität von Strategien in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, mit denen Raumgestaltung und -aneignung zur Aufwertung der eigenen Lebensqualität genutzt und dabei dominante Raumzuschreibungen durchbrochen werden. Pablo F. Gomez beschäftigt sich mit der strategischen Nutzung unterschiedlicher Wissenskategorien. In einem historischen Beispiel untersucht er Heilmethoden im kolonialzeitlichen Cartagena im heutigen Kolumbien, die sich aus verschieden Wissenstraditionen nähren und zeigt die Möglichkeiten der sozialen und kulturellen Aufwertung von Heilern afrikanischer Herkunft auf. Die Betrachtung des Zusammenhangs von Repräsentation und Krankheit in unterschiedlichen Wissenssystemen und daraus resultierenden Heilungsmethoden setzt sich im anschließenden Beitrag von Markus Wiencke fort. An einem aktuellen Beispiel einer therapeutischen Sitzung erläutert er die soziale Konstruktion von Krankheit in der afrobrasilianischen Religion Candomblé.
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ZUR EINFÜHRUNG
W i r k l i c h k e i te n i n B i l d e r n u n d T e x t e n Im dritten Teil werden symbolische Repräsentationen in Bezug auf ihre Konstituierung bzw. Aneignung innerhalb sozialer Ordnungen sowie ihrer Festigung im Vordergrund stehen. Sie fanden und finden Ausdruck und Verbreitung in bildlichen und schriftlichen Medien sowie in öffentlichen Zeremonien. Jürgen Golte geht auf die narrativen Bilddarstellungen der vorkolumbischen Mochekultur ein. Er zeigt, wie ausschließlich anhand visueller Zeugnisse damalige Vorstellungen von Welt und die damit verbundene soziale Ordnung für uns zugänglich und interpretierbar gemacht werden können. Die Bedeutung vorkolonialer Zeugnisse endet nicht mit der spanischen Eroberung; sie sind vielmehr bis in die heutige Zeit für die kollektiven und nationalen Identitätskonstruktionen relevant und werden von unterschiedlichen Akteursgruppen beansprucht bzw. abgelehnt. Andrea Blumtritt erläutert am Beispiel eines in den 1930er Jahren entdeckten vorkolumbischen Monolithen, wie unterschiedlich dieser im 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit wechselnden Konzepten von Nation in Bolivien wahrgenommen wurde. Deutlich werden hierbei Inklusionsund Exklusionsprozesse und deren Vermittlung durch repräsentative Akte. Öffentliche Zeremonien, die sich verändernde herrschaftliche Ordnungen kommunizieren, sind auch Fokus der Untersuchung von Ulrike Bock. Sie konzentriert sich hierbei auf die Art und Weise der Etablierung der in einer neuen Verfassung verankerten politischen Ordnung in weiten Teilen der Bevölkerung Mexikos während der turbulenten Unabhängigkeitsphase. Eine andere Form der Durchsetzung herrschaftlicher Ordnungsvorstellungen findet sich im Beitrag von Antonia Schneider: Am Beispiel der Missionierung der indigenen Bevölkerung im frühkolonialzeitlichen Peru untersucht sie, wie in Übersetzungen christliche Glaubensinhalte kulturell ausgehandelt und zugänglich gemacht wurden. Maret Keller wiederum betrachtet in ihrem Beitrag das schriftliche Werk eines indigenen Chronisten. Sie deckt auf, wie dieser indigene Erfahrungen für europäische Verständnisstrukturen des 17. Jahrhunderts kodierte. Geschichte ist jedoch nicht nur Gegenstand der Arbeit von Chronisten. Wie diese von einem zeitgenössischen peruanischen Autor für fiktive Literatur genutzt und interpretiert wird, um eine bestimmte Sichtweise auf die Gegenwart zu etablieren und damit eine Wirklichkeitsvorstellung zu entwerfen, beleuchtet Kora Baumbach anhand eines seiner Romane.
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Die Konstruktion von Vergangenheits- bzw. Gegenwartsbildern ist auch Thema von Miriam Oesterreich. Sie untersucht dies am Beispiel der malerischen Umsetzung des mexikanischen Indigenismus im frühen 20. Jahrhundert, der, wie sie offenlegt, mit dem damaligen nationalen Herrschaftsdiskurs einherging. Anna Bessler greift in ihrem Beitrag die Konstruktion von Identität auf, wobei ihr Schwerpunkt auf der individuellen Ebene liegt: Anhand einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts tätigen mexikanischen Künstlerin zeigt sie, wie diese kollektive Zuschreibungen aktiv aufbricht und für sich aneignet. Den Abschluss der vorliegenden Publikation bildet ein Gespräch zwischen der Künstlerin und Ethnologin Inga Scharf da Silva und dem Kurator des Museums der Weltkulturen Basel Alexander Brust über die Verknüpfung von ethnologischer Erkenntnisproduktion und mit künstlerischem Schaffen. Mit der Publikation möchten die Herausgeberinnen zum Nach-, Überund Weiterdenken dieser Verflechtungen von Ideen, Darstellungen und Wirklichkeiten in den Amerikas und ihren symbolischen Repräsentationsformen anregen.
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SYMBOLTHEORIE AUS ETHNOLOGISCHER SICHT: EINE EINFÜHRENDE SKIZZE JEANNE BERRENBERG Der Titel der diesem Band zugrundeliegenden Tagung »Ideen – Darstellungen – Wirklichkeiten: Symbolische Repräsentationen in den Amerikas« – natürlich gewählt, um Heterogenität zu subsumieren und dennoch möglichst klar zu erfassen – ist nichtsdestotrotz eine deutliche Aussage über die große Spannweite der möglichen Bereiche der sozialen Phänomene und Forschungsgebiete, die alle unter dem Titel »Symbol« firmieren können. Konzentriere ich mich in der Darstellung der Ansätze allein auf die Ethnologie, so ist das Feld der Symboltheorie immer noch bei weitem zu komplex, als dass es in einem kurzen Text erfasst werden könnte. Das Folgende erhebt deshalb weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf angemessene Detailliertheit.1 Es beabsichtigt, grundlegende Ansätze der Symboltheorie und bedeutende Forschungsrichtungen kurz vorzustellen und eine Skizze zur ersten Orientierung zu liefern. Über die Auswahl ließe sich, wie immer, trefflich streiten und die Darstellung ist, so hoffe ich, frei von Jargon. Beginnen wir am Anfang mit der Etymologie, so wird das griechische Substantiv ›Symbolon‹, wörtlich »das Zusammengeworfene«, mit »Sinnbild« oder »Erkennungszeichen« übersetzt (vgl. Wilpert 1989: 908). David Schneider, ein Vertreter der sogenannten Symbolischen Anthropologie, definierte den Begriff schlicht folgendermaßen: Ein Symbol sei etwas, das für etwas anderes stehe (Schneider 1968). Zusammengenommen lässt das eine erste Arbeitsdefinition zu: Ein Symbol kann ganz allgemein ein Stellvertreter sein oder, etwas präziser, SinnBild für etwas, das komplex, polysem, widersprüchlich und in ökonomischer und konkreter Weise (zumeist) nur in symbolischer Form dargestellt werden kann. Die Klärung der Differenz zum Zeichen präzisiert die Sache weiter. Der Klingelton an der Haustür ist ein Zeichen dafür, dass da jemand vor der Tür steht und Kommunikation oder Einlass begehrt – 1
Zur ökonomischen und zeitlichen Orientierung gebe ich entgegen üblichen Gepflogenheiten das ursprüngliche Erscheinungsjahr hinter Autorennamen an. Nur bei Zitaten setze ich das Datum des mir vorliegenden Textes. 25
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um die Mittagszeit kann es auch »Klingelmännchen« bedeuten, zumindest wenn eine Grundschule in der Nähe ist. Rauch und ein beunruhigender Geruch im Arbeitszimmer sind ein Zeichen dafür, dass ich das Essen habe anbrennen lassen. Das heißt, ein Zeichen kündet von etwas, das in direktem Bezug zu ihm steht (Langer 1942). Ein Symbol tut das nicht. Es steht für etwas Diffuseres, Vielschichtigeres als ein angebranntes Mittagessen; es steht für Konzepte, die jedoch häufig nicht bewusst sind oder gar in expliziter Form benannt bzw. definiert werden könnten. In der Phase der Konstituierung der Ethnologie als akademischer Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, den wissenschaftlichen Paradigmen der Zeit entsprechend, die verbreitete Grundannahme in etwa wie folgt: »Wir« denken logisch-rational, »die Primitiven« dagegen denken symbolisch (Lévy-Bruhl 1922). Insbesondere in den von der Wissenschaft als Religion und Ritual bezeichneten sozialen Kontexten wurden Symbole verortet (Durkheim 1912). Eine weitere Besonderheit der Methodologie war außerdem die dekontextualisierte Untersuchung von Symbolen, deren Sinn im direkten und unkontrollierten Vergleich zu ergründen gesucht wurde (z.B. Frazer 1890). Ansätze, die dieser schlichten, oben angerissenen Dichotomie ebenso wie der Dekontextualisierung folgten, wurden durch die Arbeit von Ethnolog/innen in Frage gestellt, die sich ab etwa der gleichen Zeit zu Wort meldeten. Schon Boas, Begründer der US-amerikanischen Kulturanthropologie, sagte Ende des 19. Jahrhunderts, dass Klassifikation – eines Artefakts, einer Gepflogenheit, eines Phänomens – kein logisches, sondern ein historisches Problem sei (Boas 1887), d.h. Bedeutungszuschreibung ist historisch und soziokulturell spezifisch. Und Durkheim, der ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts Bedeutung als sozial bedingt beschrieb (Durkheim 1895; 1912), untersuchte gemeinsam mit Mauss die Frage von grundlegenden Klassifikationen der Wirklichkeit, die sie einerseits als sozial spezifisch und andererseits als grundlegend für alle weiteren Zuordnungen der Phänomene der Wirklichkeit durch die Mitglieder einer Gesellschaft verstanden. Diese grundlegenden Kategorien beschrieben sie als leitend für eine selektive Wirklichkeitswahrnehmung, die bedingt sei durch Sozialisation (Durkheim/Mauss 1903). Mauss hat in seiner Arbeit »Die Gabe« über Gabentausch und Reziprozität dann Beispiele aus unterschiedlichsten Gesellschaften herangezogen, nicht nur aus »indigenen« (Mauss 1950; vgl. Allen 2000). Und Hertz, ein Schüler Durkheims, untersuchte die symbolische Differenz von rechter und linker Hand und bezog auf diese Grundlagen die weltweit gegebenen dualen Symbolsysteme (Hertz 1907; vgl. Needham 1973; 1979). Evans-Pritchard, beeinflusst von der sogenannten Durkheim-Schule und in kritischer Auseinan-
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dersetzung mit den Schriften Lévy-Bruhls, vertrat seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Ethnologie, deren Essenz ich in einem seiner Aufsätze fand: »[…] denn sie [die Indigenen] denken sehr logisch, sie gehen nur von anderen Prämissen aus […]« (Evans-Pritchard 1985 [1965]: 125). Diese Prämissen sind ableitbar von jenen oben genannten grundlegenden Kategorien der Klassifikation, die, erstens, in allen Gesellschaften, aber in unterschiedlicher Form, existieren und die, zweitens, den Hintergrund abgeben für die kulturell spezifischen Bedeutungen, nicht nur von Symbolen. Leach schrieb im Jahre 1954, dass aller Alltag immer eine symbolische Dimension habe, erst diese mache ihn spezifisch, nicht die funktionale Dimension des Handelns (Leach 1970 [1954]: 10ff). Und Mary Douglas, Schülerin Evans-Pritchards, kann mit seiner Arbeit in Verbindung gesetzt werden, unter umgekehrten Vorzeichen: Er zeigte die Konsistenz und Folgerichtigkeit des Denkens von »Wilden« (Evans-Pritchard 1937; 1956; 1962; 1965), sie zeigte detailliert die symbolischen Dimensionen des Denkens und Handelns in vormals als »logisch-rational« bezeichneten Gesellschaften (Douglas 1966; 1970). Von ihrer Arbeit inspiriert ist ein rezenter Text von Appadurai, in dem er der Frage nach Konflikten zwischen Majoritäten und Minderheiten nachgeht, auf der symbolischen Ebene ihrer Konstruktion und Bedeutung, was spezifische Phänomene von Gewalt, bis zum Genozid, erzeugt. Er fasst diesen Einfluss Douglas’ in dem Satz zusammen: »Dirt is matter out of place« (Appadurai 2006: 44). D.h. wie ich ein Phänomen verstehe, hat damit zu tun, ob es sich am klassifikatorisch ›richtigen‹ Ort befindet gemäß meinen Ordnungskriterien der Wirklichkeit. Kurz: Ein- und dieselbe Substanz ist einmal, bei der Gartenarbeit, selbstverständliches Element und ›Erdreich‹ genannt; wenn ich sie an den Gartenschuhen ins Wohnzimmer trage und die Füße auf den Tisch lege, wird sie zu ›Schmutz‹. Eben diese Denkfigur der Klassifikation wendet Appadurai auf die Frage der Konstruktion von ›Minderheiten‹ an, womit er sich in Grundlagenforschung jenseits der Feststellung des Faktischen begibt. Was hat all das mit Symbolen zu tun? Die oben angerissenen Erkenntnisse sind unverzichtbare Grundlagen ethnologischer Symboltheorie: • In allen Gesellschaften wird symbolisch gedacht. • Alle sozialen Phänomene und Handlungen haben eine symbolische Dimension. • Kontext bestimmt die Bedeutung. Die Phänomene müssen unter ihren eigenen Bedingungen begriffen werden, um ihren sozialen Sinn zu erfassen.
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Kurz: Der »Standpunkt des Eingeborenen« muss erfasst werden, und Anthropos ist immer ein »Eingeborener«, d.h. soziokulturell spezifisch und »[…] in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt […]« (Geertz 1994 [1973]: 9). Und diese – und damit beginnt meine Behandlung der sogenannten Symbolischen Anthropologie –, seien nicht individueller, privater Natur, sondern sozial – und das heißt, Symbole sind öffentlich (ebd.: 16, 21). Diese Feststellung kann direkt mit Durkheim verknüpft werden, der deutlich gemacht hat, dass die Weise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, ordnen und beurteilen, immer zuerst ein soziales, kein individuelles Phänomen ist. Über das empirische Vorhandensein von Symbolen im sozialen Raum, so Geertz, sei ethnologischer Zugang zu Tiefendimensionen der Bedeutung sozialer Phänomene, Handlungen und Prozesse möglich (Geertz 1983; 1994 [1973]). Das wiederum heißt nicht, dass alle Bewohner einer Lebenswelt einem Symbol identische Interpretation angedeihen ließen: Es kommt auch beim Vertrauten auf den Standpunkt an, auf die eigene Position im sozialen Feld (Bourdieu 1972; 1979), die Situation, die Beziehungen zu Anderen (siehe unten). Ebensowenig heißt es, dass wir es mit homogenen kulturellen Entitäten zu tun hätten, voneinander gesondert und womöglich noch ahistorisch unwandelbar (siehe unten). Solche Vorstellungen, im common-sense deutlich gegeben, sind unhaltbar. Jede ›Kultur‹ ist mehr oder weniger hybrid und historisch, in einem ständigen Veränderungsprozess begriffen. Mit Victor Turner, ebenfalls Vertreter der Symbolischen Anthropologie, kommen wir zu einigen Details. Die symbolische Dimension ist für Turner das zentrale Movens sozialer Beziehungen, nicht z.B. materielle Interessen. Er versteht Symbole nicht nur als Elemente, die etwas anderes repräsentieren, sondern sie tun es durch Assoziation, sie sind quasi ausgestattet mit evokativer Kraft, und sie sind höchst ökonomische Verdichtung von Disparatem. Nicht nur kleinste Einheit von Ritualen, sondern zentral für soziale Prozesse aller Art, sind sie dynamisch, sinnlichkonkret, handlungsgenerierend und mit zwei Polen versehen. Den einen nennt er den ideologischen, hier seien die soziale und moralische Ordnung der Welt und die zentralen Werte der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Den anderen nennt er den sinnlichen, der emotional stimulierend wirke und sensuelle Zusammenhänge häufig »wörtlich« repräsentiere. Rituale ermöglichten die Übertragung der Qualitäten des einen auf den anderen Pol: Sinnliche Energie werde domestiziert, das sozial Erwünschte werde zum Begehrten. Turner hat seine symbolanalytischen Ansätze an Ritualen erprobt, die er bei der Feldarbeit in Afrika beobachtete (Turner 1967; 1969; 1974), doch ein genauer Blick auf hiesige Ri-
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tuale, seien es staatstragende Veranstaltungen oder feierliche Einweihungen oder auch manche derer, die seit einer Weile als ›Event‹ bezeichnet werden, macht deutlich, dass diese Ansätze recht weit tragen können. Wissenschaftliche Interpretationen von Symbolen müssen laut Turner die äußere Form, indigene Interpretationen und den Kontext einbeziehen und die unterschiedlichen Perspektiven von Indigenen in ihrer Bedingtheit im Rahmen des gesamten Handlungsfeldes verorten. Zentral ist, für wen ein Symbol welche Bedeutung hat, denn es gibt nicht ›die indigene Interpretation‹, sowenig wie es die letztgültige ethnologische Deutung gibt. Ein wichtiger Aspekt des Symbols ist, neben den grundlegenden Klassifikationen der Wirklichkeit, das Element des kulturellen Gedächtnisses, also Geschichte – sozial erinnert und sozial konstruiert, in Form von Narrativen, Überlieferungen, Festen, Gedächtnisorten, Werten, Haltungen, Gepflogenheiten und natürlich Ritualen. »Ein Ich wächst von außen nach innen. Es baut sich im Einzelnen auf kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der er gehört, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe« (Assmann 2002 [1992]: 130). Diese Aussage lässt sich wieder mit durkheimianischen Grundlagen verknüpfen. Und Jan Assmann bestimmt mit Halbwachs, einem Schüler Durkheims, der sich mit der sozialen Konstitution von Gedächtnis beschäftigt und auf dessen Werk Assmann aufbaut, dass es »[…] keine soziale Idee [gibt], die nicht zugleich die Erinnerung der Gesellschaft wäre« (Halbwachs 1985 [1925], zit. nach Assmann 2002 [1992]: 42; vgl. Halbwachs 1950). Damit ist die Diachronie in die synchronischen Bedeutungsstrukturen eingeführt. Symbole als öffentliche, sozial geteilte sind also ohne die Dimension der sozial konstruierten Vergangenheit nicht möglich. Doch wie sind die indigenen Interpretationsdifferenzen vor diesem Hintergrund zu verstehen? Nehmen wir vom Diskurs Ausgeschlossene, Querdenker oder Kritiker. Querdenker können nur quer denken in Bezug auf etwas, das als ›konventionell‹ verstanden wird, und Kritiker oder Neuerer beziehen sich auf das Bestehende. Ihr Ausgangspunkt kann nichts anderes sein als die gegebene Ordnung der Dinge, und ihre Logik der kritischen Distanz wird notgedrungen von den vertrauten Konzepten abhängen. Sonst könnten sie nicht verstanden werden. Zumeist basteln sie sich Analogien, Inversionen, Transformationen des Bekannten, und auf diese Weise ist das geteilte Ordnungssystem, und sind damit Elemente der Vergangenheit, und sei es auch als Negativ, in der Gegenwart präsent. Gesellschaften im Großen oder – eingegrenzter – Lebenswelten, können als Interpretationskontexte verstanden werden, die klassifikatorische
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Grundmuster und Elemente von Erinnerung gemeinsam haben. Sie sind weitaus heterogener, vielschichtiger, widersprüchlicher, historischer und wandelbarer als ›Kulturen‹ im kulturalistischen Verständnis, aber dennoch verfügen sie über historisch gewachsene und übermittelte Muster von Bedeutungen, verkörpert in symbolischen Formen, durch welche die Leute kommunizieren. Zentral ist hierbei die notwendige und wieder sozial geteilte Sinnzuschreibung. Und dabei kann alles zum Symbol taugen, nicht das Medium ist entscheidend (Assmann 2002 [1992]). Begriffe wie Analogie, Inversion, Transformation leiten über zur strukturalistischen Theorie in der Ethnologie, die für Symbolanalyse von großer Bedeutung ist, aber analytisch auf eine Weise vorgeht, die kurz erläutert werden muss. Sie schließt an die Arbeiten der »Durkheim-Schule« an, insbesondere an Mauss. Nach strukturalistischem Verständnis (LéviStrauss 1978 [1958] und 1999 [1973]) ist Gesellschaft ein Netzwerk der Kommunikation von Botschaften, Gütern, Diensten und Frauen – wobei die letzten drei natürlich auch symbolische Botschaften sind. Inspiriert von der strukturalen Linguistik, werden die Bedeutungen von Einzelelementen, z.B. einem Symbol, nicht isoliert verstanden; zentral ist ihre Position in der Gesamtanordnung der Beziehungen der Elemente zueinander. Diese Gesamtanordnung wird nicht syntagmatisch gelesen, sondern paradigmatisch. Ein Beispiel: Ein erfolgreicher türkischer Film von 1996, »Eskiya« (Regie: Yavuz Turgul), erzählt die folgende Geschichte: Ein Mann wird nach langen Jahren aus der Haft entlassen. Früher war er in den kurdischen Bergen dem Räuber- und Rebellenhandwerk nachgegangen. Sein Dorf ist von einem Stausee überflutet, alle Leute sind fort. Seine Verlobte hat vor vielen Jahren seinen Freund geheiratet und ist mit diesem nach Istanbul gegangen, was ihm eine Alte, die einzig am Ort geblieben ist, erzählt. Er macht sich auf die Suche nach der Verlobten, lernt einen urbanen Kleinkriminellen kennen, der ihm in Istanbul hilft, sich zurechtzufinden, findet seine frühere Verlobte und deren Mann, seinen Freund, der ihn seinerzeit an die staatlichen Ordnungskräfte verraten hatte, weil er die Frau für sich haben wollte. Der Protagonist hilft dem Kleinkriminellen gegen einen Gangsterboss, den dieser, aus Liebe zu einer Frau und wegen deren Geldbedarfs, übervorteilt hatte. Der Kleinkriminelle wird von Handlangern des Gangsterbosses getötet, der Protagonist übt Rache, was letztlich dazu führt, dass er, siegreich, schließlich von der Polizei erschossen wird. Soweit die Geschichte, syntagmatisch gelesen. Paradigmatisch gelesen hat der Film eine ganze Reihe von in binärer Opposition gesetzten bedeutungsvollen Elementen, die zusammen genommen den symbolischen Gehalt, die implizite Botschaft, transportieren. Die männlichen Figuren sind entlang von Oppositionen
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Land:Stadt, Ehre:Ehrlosigkeit, keusche Liebe:besessene Liebe, Tatkraft:Lähmung gesetzt, während die weiblichen Figuren analog dazu entlang der Opposition Unbestechlichkeit:Bestechlichkeit angeordnet sind. Der Protagonist selbst erfährt eine Inversion seiner symbolischen Bedeutung: Auf dem Land ist er respektgebietend, in der Stadt wird das zuerst lächerlich, ›hinterwäldlerisch‹, nur um sich gegen Ende wieder in sein Gegenteil umzukehren. Paradigmatisch gelesen wird der Film insgesamt zu einer Rehabilitation Kurdistans und zu einer subtilen Kritik an gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten im urbanen Raum in der Türkei. Erst die Gesamtheit dieser Lesart lässt die symbolische Dimension der einzelnen Figuren und Ereignisse und damit des ganzen Films zutage treten. Ohne die paradigmatische, strukturalistische Lesart bliebe die Analyse in der Oberflächensemantik der Geschichte und in der isolierten Betrachtung einzelner Elemente stecken. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Ebenen unwichtig wären. Die dargestellten Möglichkeiten, Symbole zu verstehen, ergänzen einander und bieten unterschiedliche analytische Perspektiven. Und zuletzt sei noch hingewiesen auf Metapherntheorien, die symbolische Konfigurationen zu entschlüsseln suchen, indem sie ihre Bauformen und ihren sozialen Sinn analog zur sprachlichen Metaphernbildung analysieren, was insbesondere für schwer zugängliche Symbole als auch für das Verstehen von Ideologien ein fruchtbarer Ansatz ist (Fernandez 1991; Geertz 1975 [1973]). Und wie können wir Symbole in transregionalen Kontexten, in der Globalisierung verstehen? Ein Zitat von Salman Rushdie: »We who have grown up on a diet of honour and shame can still grasp what must seem unthinkable to peoples living in the aftermath of the death of God and of tragedy […]« (Rushdie 2000 [1983]: 117f). Er bringt zum Ausdruck, dass alle global Reisenden kulturelles Handgepäck bei sich führen, Elemente der eigenen soziokulturellen Bedingtheit. Leute, Diskurse, Waren, Finanzströme und Ideen »reisen« (Appadurai 1996). Und sie werden am neuen Ort uminterpretiert. Reise ich irgendwo hin, wird mir am Gastort eine dem dortigen Interpretationssystem gemäße Deutung zuteil. Ideen, Waren, Diskursen geht es ebenso, sie werden ›einverleibt‹ und haben nach der Ankunft einen anderen Symbolgehalt als am Herkunftsort. Und sie wirken auf den neuen Kontext und verändern dort ihrerseits die Interpretation der Wirklichkeit. Nehmen wir nun diese Ströme von mobilen, deterritorialisierten Phänomenen analytisch in den Blick, so müssen wir die Interpretationsgepflogenheiten, die Klassifikationssysteme hinzuziehen, die den jeweiligen Kontexten zueigen sind. Und damit verschränkt sich rezente Theorie mit ›klassischen‹ Ansätzen, und das Erkenntnisinteresse hat sich, nicht erst
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durch letztgenannte Phänomene, aber doch durch sie verstärkt, auch auf die vormals nicht zum Gegenstand der Ethnologie gerechneten ›westlichen‹ Gesellschaften gerichtet. Symbole durchdringen jeden Alltag. Sogar den akademischen.
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SYMBOLTHEORIE AUS ETHNOLOGISCHER SICHT
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K ATEGORIEN , I DENTITÄTEN UND P OSITIONIERUNGEN
WIE MESTIZEN ZU MESTIZEN WURDEN: Z U R G E S C H I C H T E E I N E R S O Z I A L EN K A T E G O R I E 1 VERENA STOLCKE »Die Kinder von Spaniern und von Indias, oder von Indios und Spanierinnen, werden von uns Mestizen genannt, das heißt, dass wir aus beiden Nationen gemischt sind. So wurde es von den ersten Spaniern beschlossen, die Kinder mit Indias hatten; und weil uns die Bezeichnung von unseren Vätern auferlegt wurde und wegen seiner Bedeutung nenne ich mich so voller Inbrunst, und ich ehre mich mit dieser. Dies tue gleichwohl es in den Indias [Hispanoamerika; Anmerkung der Übersetzerinnen] als Herabwürdigung angesehen wird, wenn sie zu jemanden sagen ›Sie sind ein Mestize‹ oder ›er ist ein Mestize‹« (Garcilaso de la Vega 1990 [1609]: 424-425).
Einleitung Wie Julio Cortazár bemerkte, können Wörter – wie Menschen und Pferde – ermüden und krank werden. Indem sie gewaltsam wiederholt und oftmals falsch eingesetzt werden, erschöpfen sie sich. Wir beginnen sie als abgenutzte Geldstücke zu empfinden und uns ihrer zu bedienen, wie der Taschentücher in der Hosentasche, anstatt sie – wie ursprünglich als Pfeile der Kommunikation oder Vögel der Gedanken und der Sensibilität –
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Ich danke für die kritische Durchsicht von Berta Ares Queija. Der Beitrag »Los Mestizes no nacen sino que se hacen« (In: Verena Stolcke/Alexandre Coello de la Rosa (Hg.) (2007): Identidades Ambivalentes en América Latina (Siglos XVI-XXI) Barcelona: Bellaterra, S. 14-51) wurde für den vorliegenden Band von Anne Ebert und Maria Lidola übersetzt und gekürzt. 37
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dem Mund oder der Schrift entsprungen sind.2 Etwas Ähnliches ist dem Wort Mestizaje (›Vermischung‹) widerfahren. In der aktuellen Ausgabe des spanischen Wörterbuchs (Real Academia Española 2001) bezeichnet Mestizaje die Kreuzung zwischen »verschiedenen Rassen«, die Mestizen erzeugt, aber auch die »Mischung zwischen verschiedenen Kulturen, die den Ausgangspunkt für eine neue Kultur bilden«. Diese Definition setzt die Existenz von ›rassischen‹ oder kulturellen Differenzen voraus, die in der Mestizaje ausgelöscht werden sollen. Geschichte ist bedeutsam, insofern sie uns erlaubt, ein Vergangenheitsbewusstsein zu entwickeln, um die Gegenwart besser verstehen zu können. Gerade in der aktuellen Polemik über die angeblich zerstörerischen Auswirkungen der internationalen Migration auf die nationale Identität und die soziale Kohäsion in den Aufnahmestaaten ist der Begriff der Mestizaje allgegenwärtig (Stolcke 1995). Dabei bleibt jedoch unklar, ob der Begriff in seiner wörtlichen, analogen oder metaphorischen Bedeutung gebraucht wird. Die Umstände, die ihn hervorgebracht haben, scheinen aus dem Bewusstsein geraten zu sein. Jedoch ist es seine Etymologie, das tiefliegendste und entscheidendste Element im Gebrauch und der Geschichte eines Wortes, in der sich die Entstehungsumstände sammeln: Die Etymologie ist das Gedächtnis des Wortes; es bewahrt seine Bedeutungen. In diesem Essay werde ich die historischen Gegebenheiten analysieren, die zu der Entwicklung der mestizischen Gesellschaft im hispanischen Amerika in der Kolonialzeit geführt haben. Migration und ›Mischung‹ zwischen Völkern und Kulturen sind Teil der menschlichen Geschichte, während soziale Identitäten immer hergestellt und somit historisch sind (Amselle 1990; Gruzinski 1999). Wie ich darlegen werde, sind weder die Mestizo-Kategorie noch jeglicher Begriff der soziokulturellen Klassifikation das Ergebnis von moralischen, kulturellen oder ›rassischen‹ Differenzen als solche. Vielmehr ist diese Kategorie in den politisch und ideologisch geprägten Prinzipien des spätmittelalterlichen Spaniens verwurzelt, sowohl hinsichtlich der Struktur und den Werten der Familie, die in der Metropole vorherrschten, wie der Produktionsweise, denen die amerikanischen Indigenen unterworfen wurden. Historiker und Anthropologen haben jahrzehntelang über die politische Struktur und die ideologischen Prinzipien der hispano-amerikanischen kolonialen Gesellschaft debattiert, ebenso über Voraussetzung dieser ›neuen‹, im Zuge der Eroberung entstandenen Menschen sowie über den Prozess ihrer wirtschaftlichen und sozialen Positionie2
Julio Cortázar, Kommentar während einer Konferenz im Kulturzentrum Madrid (Centro Cultural de Madrid, März 1981) zum fünften Jahrestag des Militärputsches in Argentinien (Cortázar 2001: 1). 38
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rung und die Reproduktion der sozialen Hierarchie in der Neuen Welt.3 Spezialisten polemisierten darüber, wie sich das Zusammenspiel von ›Rasse‹, sozialer Stellung und Arbeitsteilung in der kolonialen Gesellschaft verändert hat.4 In den letzten Jahren haben zudem die berühmten Casta-Gemälde aus Neu-Spanien des 18. Jahrhunderts, dem heutigen Mexiko, der Forschung über die Sociedad de Castas (Casta-Gesellschaft) neue Impulse gegeben. So wurden neue Fragestellungen über die komplexe Terminologie der sozialen Klassifizierung aufgeworfen, die die Gesellschaft hierarchisch strukturierten.5 In diesem Beitrag werde ich mich auf die Konstruktion der Kategorie der Mestizen6 konzentrieren. Diese soll als strategischer Zugang dienen, um die soziale Formierung der Neuen Welt zu analysieren. Gesellschaften konstituieren sich historisch. Kontinuitäten und Transformationen von Gesellschaften im zeitlichen Verlauf beinhalten gleichermaßen Mechanismen der politischen und sozialen Reproduktion, die beständig durch Werte geprägt sind, die an die Geschlechterbeziehungen angelehnt sind. Die Eroberung verlief nicht in einem ideologischen Vakuum. Eroberer und Kolonisatoren brachten ihre eigenen soziokulturellen Traditionen und moralischen Überzeugungen mit. Diese Ideale und Normen gaben der entstehenden kolonialen Ordnung ihre Form, wenngleich diese durch die zahlreichen Herausforderungen und Bedrohungen in der Neuen Welt gestört wurden. Um zu verstehen, auf welche Weise sich die hispanisch-amerikanische Kolonialgesellschaft herausgebildet hat, ist es unabdingbar zu analysieren, wie die soziale Hierarchie und die Prinzipien der sozialen Identifikation mit Werten und morali3
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Von den Wissenschaftler/innen, die sich früh mit dieser Frage beschäftigten, seien Aguirre Beltrán (1946), Mörner (1967) und Stolcke (MartínezAlier) (1974) hervorgehoben. Pioniere der historisch-anthropologischen Forschung zur sozialen und kulturellen Konstruktion der Mestizo-Kategorie in der kolonialen Gesellschaft sind Bernand/Gruzinski (1999). In den letzten beiden Jahrzehnten führte die Historikerin Berta Ares Queija der Schule für hispanisch-amerikanische Studien (Escuela de Estudios HispanoAmericanos, CSIC) in Sevilla genaue Studien über Ursprung und Umstände, die die Mestizen im Peru des 16. Jahrhunderts umgaben, durch (vgl. Ares Queja 2004; 1997; 1999; 2000 und 2005). Vgl. Chance/Taylor (1977); McCaa/Schwartz/Grubessich (1978); Seed (1982). Vgl. Cope (1994); Schwartz/Salomon (1999); Lewis (2003); Carrera (2003); Silverblatt (2004); Martínez (2004); Katzew (2004); Deans-Smith (2005). Im Folgenden betrachte ich hauptsächlich die männliche Perspektive, da es kaum Forschungen über die Erfahrungen und Beiträge der Mestizinnen für die koloniale Geschichte gibt. 39
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schen Kategorien in Hinblick auf Ehe, Familienformen, Sexualität und Geschlechterbeziehungen auf dynamische Weise verwoben sind und sich beeinflussen. Hierfür ist es unabdingbar, die zeitgenössische Doktrin der Reinheit des Blutes (›limpieza de sangre‹) zu beachten, weil sie für die Gestaltung der spätmittelalterlichen spanischen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung war. Sie besagt, dass die sozio-politische Position von der Abstammung bestimmt war.
Eine Neue Welt Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit war nach Meinung des schottischen Philosophen und Wirtschaftler Adam Smith (1723-1790) die europäischen Expansion nach Nordafrika und in die Neue Welt, die von Spanien und Portugal ausgingen (Smith 1776). Ihre Imperien überlebten bis in das 19. Jahrhundert, als die Einflussbereiche ihrer Nachfolger – die britische und die französische Kolonialmacht – gerade erst ihre endgültige Gestalt erlangten. Bis 1815 stellten Spanien und Portugal nicht nur die europäische Überseeexpansion in den Schatten, sondern zeigten der Alten Welt, wie man weiträumige Territorien in der Neuen Welt erobert und kolonisiert und sich an deren natürlichen und menschlichen Ressourcen bereichert. Die spanischen Besitztümer in Mexiko und Peru wurden als die ersten ›gemischten‹ Kolonien angesehen, in der eine Minderheit spanischer Kolonisatoren eine völlig neue soziale Ordnung geschaffen hat. Die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung und die Einführung einer zunehmenden Zahl aus Afrika importierter schwarzer Sklaven haben ›neue Typen‹ von Menschen hervorgebracht. Das vorrangige Ziel der kolonialen Unternehmung war ohne Zweifel die Bereicherung des Staates. Die Kirche spielte sowohl bei der Gestaltung der spanischen und portugiesischen Kolonialpolitik als auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Europäern und Indigenen sowie afrikanischen Sklaven eine ebenso wichtige Rolle wie die Krone. Mestizaje bezieht sich vor allem auf das biologische Geschlecht und die Sexualität, da beide beständig mit sozio-politischen Bedeutungen ausgestattet sind. Im spätmittelalterlichen Spanien – Religion war nicht von Politik zu trennen – schrieb die theologisch-moralische Doktrin der Reinheit des Blutes Identitäten und soziale Hierarchien im Politischen, Moralischen und Religiösen vor. Die Reinheit des Blutes bezog sich auf die »Eigenschaft, nicht von Mauren, Juden, Ketzern oder jedweder von der Inquisition überführten Person abzustammen« (Lira Montt 1995: 33f). Aufgrund ihrer genealogischen Bedeutung etablierte diese eine enge Verbindung zwischen Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit der
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Frauen sowie Ehre und sozialen Privilegien ihrer Familien. In der kolonialen Gesellschaft spielte dieser theologisch-moralische Kodex eine konstituierende Rolle: Über die Kategorie Geschlecht wurden die Machtbeziehungen zwischen den europäischen Eroberern und der indigenen Bevölkerung7, und darüber die Reproduktion der kolonialen Gesellschaftsordnung auf entscheidende Weise geprägt. Insofern bedeuteten die ›neuen‹ Menschen, die in Folge der sexuellen Beziehungen der Eroberer mit indigenen Frauen in der Neuen Welt geboren wurden, auch neue und unvorhergesehene konzeptionelle und politische Dilemmata in Bezug auf die metropolitanen Prinzipien der Reinheit des Blutes.
V o m We r d e n d e r M e s t i ze n Im Jahre 1523 wurden die eroberten amerikanischen Gebiete juristisch dem Königreich von Kastilien zugeordnet. Ihre Bewohner, die ›Indios‹, wurden zu Untertanen der spanischen Krone. Gesetzlich und religiös wurden sie als Gentiles8 betrachtet, da ihnen die Heilige Schrift unbekannt war. Ihre almas pequeñas (›Kleinen Seelen‹) ›verdienten‹ den Schutz der Krone; aber die Verantwortung, ihnen den wahren Glauben zu vermitteln, war das Alleinrecht der Kirche (Pagden 1982). Da die Indigenen als Gentiles galten, wurden sie als »reinen Blutes […] ohne Mischung oder Infizierung durch irgendeine gottverlassene Sekte« angesehen. Aus diesem Grund konnten die Kaziken und indigenen Oberhäupter Rechte erwerben, die es ihnen ermöglichten, die sozialen Privilegien, Würden und Ehren des spanischen Adels zu genießen (Konetzke 1962: 67). Tatsächlich führte die Eroberung jedoch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Mit einigen nachgewiesenen Ausnahmen zwangen königliche Funktionäre, kirchliche Autoritäten und Kolonisatoren die Indigenen, in der Landwirtschaft, der Minenwirtschaft und in privaten Diensten zu arbeiten. Das geringe Entgelt, das sie dort verdienten, wurde ihnen in Form von Tributleistungen wieder abgenommen. Die sozio-ökonomische und politische Organisation der Indigenen wurde dadurch erheblich unterminiert. Die militärischen Eroberungen – die Indigenen kämpften oft 7
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Vgl. Stolcke (Martínez-Alier) 1974; Socolow 1978; Arrom 1985; Silverblatt 1987; Seed 1988; Lavrin 1989; Stoler 1995; Dueñas Vargas 1997; Johnson/Lipsett-Rivera 1998; Twinam 1999; Ramírez 2000. Die Gentiles unterschieden sich im theologischen Diskurs als ›unverschuldet Ungläubige‹ bzw. Heiden von den ›Falschgläubigen‹, den Juden und Mauren. Daher unterstanden sie dem besonderen Schutz der Krone und dem Christianisierungsauftrag der Kirche [Anm. d. Übers.]. 41
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auf beiden Seiten –, die Bürgerkriege zwischen den Eroberern, die Zwangsumsiedlungen, die Ansteckung mit europäischen Infektionskrankheiten, Hunger und Durst führten zu einem beispiellosen demographischen Kollaps der einheimischen Bevölkerung (Sánchez Albornoz 1984). Ebenso war der sexuelle Missbrauch von indigenen Frauen eine übliche Praxis.9 In seiner Nueva Corónica y Buen Gobierno (1615) liefert uns der andine Chronist Felipe Guamán Poma de Ayala (1538?-1620?), dessen Mutter dem Inkaadel10 angehörte, eine der vernichtendsten Kritiken der Eroberung. In seinem an den spanischen König Phillip III.11 gerichteten Manuskript beschreibt er die immense Brutalität der Spanier gegenüber den Indigenen, sowie die Zerstörungen und gewaltigen wirtschaftlichen Missstände, die sie anrichteten. Die fast 400 Bilder, die die Chronik illustrieren, zeigen in erschütternden Szenen die unzähligen Missbräuche der indigenen Gemeinden durch die Kolonisatoren, die königlichen Funktionäre und den Klerus (Guamán Poma de Ayala 1980 [1615]: xiii; Cabos Fontana 2000; Adorno/Boserup 2003). Während sich das frühmittelalterliche Spanien als ›christliche Republik‹ definierte, die gleichzeitig als Kirche und als Imperium funktionierte, passte die Neue Welt nicht so leicht in dieses Modell. Um die amerikanischen Besitztümer in das spanische Imperium einzugliedern und den Missbrauch der Kolonisatoren einzudämmen, setzten sich der Franziskanerorden und die kolonialen Autoritäten für die Etablierung zweier getrennter ›Nationen‹, sogenannter Republiken, in der Neuen Welt ein. Die Teilung der kolonialen Gesellschaft in eine Republik der Spanier und eine Republik der Indios impliziert die gesetzliche Gleichstellung beider ›Nationen‹, aber in Bezug auf Moralität und ›soziale Vollkommenheit‹ wurden durchaus Unterschiede gemacht. Nur den Pfarrern und den Justizbeamten mit ihren Verwaltern und Dienern war der Eintritt in die Dörfer der Indigenen erlaubt. Dieses duale Modell erwies sich jedoch als utopisch. Am Ende des 16. Jahrhunderts hatten sich Indigene und Spanier sozial, sexuell und wirtschaftlich ›gemischt‹ (Coello de la Rosa 2005: 67; Maravall 1949; Menegus Bornemann 1991). Die zahlreichen 9
Dies dokumentiert Ares Queija (2004) und auch die Strategien, die die spanischen Männer anwendeten, um der lokalen Elite zugehörende indigene Frauen sexuell anzuziehen und so für ihren zukünftigen mestizischem Nachwuchs zu nutzen (vgl. auch Gil 1997: 15). 10 Guamán Poma wuchs zwischen Spaniern auf und wurde als ›Indio ladino‹ (spanisch sprechender Indio) katechisiert (Adorno 1988: 4-5). 11 Der dem Manuskript beiliegende Brief ist auf das Jahr 1587 datiert, weswegen zunächst Phillip II. als Adressat erscheint, das Manuskript wurde jedoch erst ca. 1615 zur Regierungszeit von Phillip III. fertiggestellt (vgl. hierfür Guamán Poma de Ayala 1980 [1615]: 4-7) [Anm. der Übers.]. 42
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königlichen Dekrete bis ins 18. Jahrhundert, die Spaniern, Mestizen, Schwarzen und Mulatten verboten, in den Dörfern der Indigenen zu leben, wurden kaum befolgt. Die hohe Zahl der ›Gemischten‹ in den Dörfern zeigt, dass die Spanier ständig soziale und sexuelle Beziehungen zu indigenen Frauen unterhielten (Konetzke 1953: 491-2, 513, 554, 572, 566; 1962: 53, 74, 238f, 285). Um jedoch die Evangelisierung zu fördern und die Bevölkerungszahlen zu erhöhen, drängte die Krone die Kirchenvertreter bald nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt dazu, Eheschließungen zwischen Spaniern und Indigenen trotz vorhergehender Verbote abzuhalten (vgl. ebd.: 61-2, 62-3).12 Indigene Frauen gehörten bald zu den Haushalten der Eroberer und der ersten Kolonisten. Doch trotz der Ermahnungen der Kirche heirateten die Spanier diese indigenen Frauen nicht, außer wenn sie von den indigenen Eliten abstammten.13 Generell wurde der Großteil der ›Gemischten‹ außerhalb der Ehe geboren. Für den Fall, dass sie durch ihre spanischen Väter anerkannt wurden, trennte man sie von ihren Müttern, damit sie eine christliche Erziehung erhielten.14 Fast alle wurden jedoch von ihren Vätern verlassen. So ersuchten die Audienz15 und die königliche Kanzlei von Neu-Spanien im Jahre 1533 die Krone um eine Form des Schutzes für die steigende Zahl der Nachkommen von Spaniern und indigenen Frauen, die bei den Indigenen lebten (ebd.: 147, 427). Außerdem sind zahlreiche Fälle dokumentiert, wie die der Eroberer Hernán Cortés, Francisco Pizarro, Diego de Almagro und Hernando de Soto, die mit indigenen Frauen zusammenlebten, während sie selbst Junggesellen blieben oder sich mit einer in sozialer Hinsicht geeignet erscheinenden spanischen Frau verheirateten (Miró Quesada 1965: 12-13; Ares Queija 2004: 17; González Hernández 2002: 190-214; Konetzke 1953: 187, 193). So war es für Spanier nicht ungewöhnlich, mehr als eine Familie zu haben – eine in Spanien und die andere in der Kolonie (Parma Cook/Cook 1991). Die Historikerin Berta Ares Quejia, die Urkunden des Ersten Taufbuches von Limas einziger Pfarrgemeinde in der Mitte des 16. Jahrhun12 Für eine detailliertere Betrachtung vgl. auch Stolcke (2007). 13 Einige der wenigen anfänglichen ›gemischten Ehen‹ im Peru des 16. Jahrhunderts beschreibt Ares Queija (2004: 16-19). 14 Ein faszinierendes Beispiel ist der Fall von Doña Francisca Pizarro (Rostworowski 1989). 15 In den spanischen Kolonien erfüllten die Königlichen Audienzen (Reales Audiencias) neben der Rechtsprechung und -pflege auch die Funktion, die Herrschaft des Königs sowie seiner Gesetze gegenüber den Vizekönigen und Gouverneuren durchzusetzen [Anm. d. Übers.]. 43
VERENA STOLCKE
derts untersuchte, um die Schwierigkeiten der Bestimmung der genauen Zahl und des Verwandtschaftsgrads der Nachkommen der ›Gemischten‹ im Peru des 16. Jahrhunderts aufzuzeigen16, kam zu folgendem Ergebnis: Während die Zahl der Mulatten (Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern und umgekehrt) augenscheinlich unbedeutend war gegenüber den Zambaigos (Kinder von schwarzen Vätern und indigenen Müttern und umgekehrt), stellte die Nachkommenschaft der Spanier mit indigenen Frauen fast die Hälfte der Menschen ›gemischter‹ Herkunft dar. Der Begriff Mestize für Letztere wird erst ab etwa 1550 verstärkt gebraucht (Ares Queija 2000: 80f). Taufbücher als Quellen leisten wertvolle Beiträge für die sozialen Klassifikationen des hispanisch-kolonialen Amerikas; wir verfügen jedoch kaum über kirchliche Gemeinderegister für die frühe Kolonialzeit. Im Jahre 1565 bestimmte das Zweite Kirchliche Konzil in NeuSpanien eine Trennung der Heirats-, Tauf- und Geburtsregister für Spanier, Indigene und Castas.17 Die geforderte übereinstimmende und strikte Führung der Gemeindebücher scheinen aber regional stark variiert zu haben. Trotz oben genannter Festlegung wurden bis Mitte des 17. Jahrhunderts zumeist nur zwei getrennte Bücher geführt. Erneut wurde im Jahre 1770 von den Gemeindepfarrern verlangt, dass sie drei getrennte Bücher führten (Alvar 1987: 48; Deans-Smith 2005: 12). Die weiterhin stark variierenden Praktiken lassen vermuten, dass die kolonialen Identitäten und Unterscheidungen sich graduell entwickelten und von den regionalen sozio-demographischen Umständen abhängig waren (Alvar 1987).18 Die Nachkommenschaft von Spaniern und Indigenen wurde nicht von Anfang an als eine neue sozio-legale Kategorie aufgefasst. Der Begriff ›Mestizin‹ taucht in der hispanisch-amerikanischen kolonialen Welt zum ersten Mal 1539 in einem Eintrag des Taufbuchs von Lima auf, und zwar für die Tochter eines Indigenen, der als Mitayo (Zwangsdienstarbeiter) bei Don Pedro de Villa Real, dem Kammerherrn des Eroberers Francisco Pizarro, diente.19 In seiner Historia General y Natural de las Indias beschreibt der Chronist Gonzalo Fernández Oviedo y Valdés die amerikanischen Mestizen als »Kinder von Christen und Indios« (Fernández de 16 Vgl. Ares Queija (2005: 125-6; 2000: 78-80). 17 Gemäß Garzón Balbuena wurde dieses Gesuch im Jahre 1614 auch auf die anderen Kolonien ausgeweitet (Garzón Balbuena 2006: 2-3). Ares Queija meint im Gegensatz dazu, dass diese Norm im Vizekönigreich Peru bereits während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Kraft getreten war und ihre Verletzung bestraft wurde (persönliche Kommunikation). 18 Detaillierte Beispiele hierzu finden sich in Stolcke (2007). 19 Harth-Terré meint, dass Don Pedro de Villa Real nicht eine Tochter, sondern einen Sohn hatte, vgl. Harth-Terré (1965). 44
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Oviedo 1851-1855 [1535-47], I: 105).20 Der Begriff taucht erst im Jahre 1545 in drei Einzelfällen wieder auf (Ares Queija 2000: 82f). Die spanischen Kolonisten und Beamten gebrauchten jedoch die Formel »Kind eines Spaniers geboren von einer India« (Konetzke 1953: 147, 168).21 Aber als ihre Zahl und soziale Präsenz Mitte des 16. Jahrhunderts zunahm und anfing, den zivilen und geistlichen Autoritäten Sorge zu bereiten (Ares Queija 1997: 42-43; 2000: 82), verbreitete sich der generische Terminus Mestize (abgeleitet aus dem lateinischen mixticius oder ›Gemischter‹) und wurde zu einer juristisch-sozialen Kategorie der administrativen Klassifikation, welche Spanier und Indigene in politisch-legale Begriffen unterteilte. Im Gegensatz zu der Vielzahl der lokalen und regionalen Bezeichnungen, die in umgangssprachlicher Form auf die ›Gemischten‹ angewandt wurde, wurde Mestize als offizielle Bezeichnung innerhalb der Erfassung der Tributpflicht, der Rekrutierung von Arbeitskräften und des Zugangs zu öffentlichen oder kirchlichen Ämtern verwendet. Auch in anderen zeitgenössischen Tauf- und Heiratsregistern begann man diesen Begriff zu benutzen (Alvar 1987). Von nun an bestätigte die performative Macht dieser neuen Kategorie sozio-politischer Identifikation nicht nur die Distanz, sondern auch die Ungleichheit zwischen den Erzeugern der Mestizen im symbolischen Kampf um politische Positionen und soziale Rechte. Der indigene Part, zumeist die Mutter, wurde als sozial minderwertig angesehen, es sei denn, sie hatte einen adligen Ursprung. Anders ausgedrückt, institutionalisierte sich nun die abgrenzende Bezeichnung für die ›gemischte‹ Abstammung, die sich von der Begründung einer ›gemischten‹ Herkunft insofern unterschied, als dass sie als eine sozio-politische Kategorie Mutter und Vater sozial zu differenzieren begann und nicht umgekehrt. Gewöhnlich wird die demographische Zunahme der Mestizen auf die geringe Zahl europäischer Frauen zurückgeführt, die in die Neue Welt gelangten. Das Ungleichgewicht in der Geschlechterrate der Eroberer und Kolonisten aus der Alten Welt erklärt jedoch nicht, warum die Spanier sich so selten mit den indigenen Müttern ihrer Kinder verheirateten. Nach der Auffassung von Verwandtschaft und Abstammung in der spa20 Dieser Eintrag stellt zugleich die erste Erwähnung dieses Begriffs für das hispanische Amerika dar (Real Academia Española 2006). Im Corpus der Real Academia Española de la Lengua tauchte der Begriff mestizo zum ersten Mal bereits im Jahre 1487 in einem Dokument über die Widerlegung eines ketzerischen Pamphlets auf. Der nächste Eintrag von 1513 nimmt Bezug auf die Kreuzung eines Hundes. 21 Nach Harth-Terré (1965: 135) wurde die indigene Frau, mit der ein Spanier Nachwuchs hatte, generell als »seine India« in den Taufregistern von Lima eingeschrieben. 45
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nischen Gesellschaft jener Zeit wurde eine Person als gleichwertiger Nachkomme beider Erzeuger angesehen. So wurden die amerikanischen Mestizen aufgrund ihrer indigenen Mütter einerseits als Nachkommen der ursprünglichen Einwohner der Neuen Welt betrachtet. Andererseits wurden sie wegen ihrer spanischen Erzeuger auch als Nachkommen derjenigen wahrgenommen, die in das Land eingefallen waren und es sich mit Gewalt angeeignet hatten. Aufgrund der Regel der beidseitigen Abstammung war die legitime Eheschließung zwischen sozial Gleichen gleichsam eine conditio sine qua non, um die Hierarchie der sozialen Ehre und der juristischen Rechte in der kolonialen Gesellschaft aufrecht zu erhalten und zu verewigen. Da nur wenige Spanier eine Heirat mit einer indigenen Frau eingingen, wurden die Mestizen in ihrer Mehrzahl gezwungenermaßen uneheliche und illegitime Kinder. Wegen all dieser sozio-geschlechtlichen und moralischen Gründe erhielten die Mestizen eine außergewöhnlich ambivalente sozio-politische Identität, die sich langfristig in den mit Spannung und Misstrauen aufgeladenen Beziehungen zu der spanischen und kreolischen Elite äußerte.22
V o m M e s t i ze n - D a se i n Die Indigenen, die den demographischen Kollaps überlebten, sowie die anwachsende Gruppe der Mestizen im hispanischen Amerika wurden sehr bald gegenüber den Spaniern und Kreolen (in Amerika geborene Nachkommen von Spaniern) sozial diskriminiert und wirtschaftlich benachteiligt. Die formale Anerkennung der Indigenen als Vasallen und Untertanen der Krone schützte sie weder vor der Enteignung ihrer Ländereien und Lebensgrundlagen, noch vor der Geringschätzung der Spanier. Nach 1520 hatte es bereits keine königlichen Dekrete mehr gegeben, die die Ehe zwischen Kolonisten und indigenen Frauen förderten. Im Jahre 1538 ersuchte der erste Vizekönig von Neu-Spanien, Don Antonio de Mendoza, Graf von Tendilla (1535-50), den König um die Verabschiedung eines Dekretes, welches die spanischen Kolonisten, die ›an-
22 Die verwendeten Begriffe, die jene bezeichneten, die aus den sexuellen Beziehungen zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten geboren wurden, stellen wichtige regionale, politische und kulturelle Differenzen heraus. Für eine Analyse der ambivalenten Identität der Mestizen in Peru gegen Ende des 16. Jahrhunderts vgl. Ares Queija (1997). Siehe auch Coello de la Rosa (2006: 56-67). 46
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vertraute‹ Indigene (Indios Encomendados23) hatten, verpflichten sollte, sich mit Frauen aus Spanien zu vermählen. Der Monarch folgte den Empfehlungen des Vizekönigs und versprach darüberhinaus denjenigen vererbbare Encomiendas, die diesem Dekret folgten (Konetzke 1953: 187, 193). Gleichzeitig förderte die Kirche weiterhin die Mestizaje, indem sie die christliche Ehe zwischen Indigenen und Spaniern im Interesse deren Seelenheils propagierte. Wenn Francisco Pizarro, Eroberer und erster Gouverneur von Peru (1532-41), sich gegen die Mestizaje aussprach, befand er sich (wie auch später sein Amtsnachfolger Don Cristóbal Vaca de Castro, 1541-44), in Übereinstimmung mit der innerhalb der Elite vorherrschenden Meinung. In einem Bericht, der während der Bürgerkriege und kurz vor der Ermordung Pizarros durch die Anhänger von Diego de Almagro geschrieben wurde, weist der Eroberer den Monarchen auf die große Zahl von Spaniern hin, die ihre »wollüstigen Wünsche« (»deseos lascivos«) mit den in ihren Haushalten lebenden indigenen Frauen befriedigten. Dies geschähe trotz der strengen Normen, die es untersagten, mit »Frauen von zweifelhafter Moral« – Schwangere oder Frauen, die sich kurz nach der Entbindung befanden – unter einem Dach zu leben, es sei denn, sie wären Dienerinnen (ebd.: 209). Francisco Pizarro war sicherlich weniger über die Tugend seiner Landsmänner besorgt, als über die politischen Risiken, die die mestizische Nachkommenschaft mit sich brachte, insbesondere in der Inka-Hauptstadt Cuzco.24 Die erste Generation der Eroberer und königlichen Autoritäten scheute keine Mühen in der Anerkennung ihrer mestizischen Nachkom-
23 Die Encomienda ist eine erste Institutionalisierung der Eroberung. Mit der Verleihung einer Encomienda trat die Krone einen Teil ihres Anspruches auf Tribut und Arbeitsleistungen der Indigenen an den Encomendero ab. Diese hatten als Gegenleistung für die Christianisierung der Indios Encomendados zu sorgen [Anm. d. Übers.]. Zu den Begriffen Encomienda und Repartimiento vgl. außerdem Fußnote 31. 24 Francisco Pizarro hatte mit der Tochter des Inka Atahualpa, Quispe Isa, getauft auf den christlichen Namen Inés, eine Tochter, Francisca (1534), und einen Sohn, Gonzalo (1535). Ihren Vater, der letzte Inkaherrscher Atahualpa, hatte Pizarro gefangen genommen und im August 1533 hinrichten lassen. Die Mutter der beiden Kinder hatte er nicht geheiratet; vielmehr wurden die Kinder von der Mutter getrennt und durch ihren Vater erzogen. Wie anderen Mestizen, die vom indigenen Adel abstammten, verordnete ihm der König, Peru zu verlassen und in Spanien zu leben: Dadurch sollte ein Fortbestehen der Inka-Dynastie verhindert und so künftige Rebellionen vermieden werden (Rostworowski 1989; vgl. auch González Hernández 2002). 47
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men. Einige wenige heirateten sogar die indigenen Mütter ihrer Kinder.25 Auch gründeten die Spanier im Jahre 1548 in Mexiko-Stadt eine Schule für Mestizen, die unter dem Namen Colegio von San Juan de Letrán bekannt wurde. Die in Cuzco gegründeten Klöster boten den Mestizinnen, insbesondere den Töchtern der ersten Eroberer, Ausbildungs- und soziale Aufstiegsmöglichkeiten (Burns 1999). Einige Mestizen empfingen sogar die Priesterweihe, wie zum Beispiel das Findelkind aus Cuzco, Francisco de Ávila (1573-1647), der sich zu einem unerbittlichen Bekämpfer des »Götzenglaubens« entwickelte (Bernand/Gruzinski 1999: 316-319). Ungeachtet dessen stellte dies eher die Ausnahme als die Regel dar und führte im Weiteren zu spürbaren sozialen Ungleichheiten auch zwischen den Mestizen selbst, was langfristig ihre ambivalente soziale Position verstärkte. Mitte des 16. Jahrhunderts verschlechterte sich ihre generelle Stellung in dem Maße, wie die Bürokratisierung der kolonialen Ordnung zunahm. Die Mestizen wurden verdächtigt, »schlechte Angewohnheiten« und »niedere Absichten« zu haben (Konetzke 1953: 436f). Dies waren politisch-moralische Zuschreibungen, die das Misstrauen offenbarte, das sie begleitete. In ihren Berichten betonen die Kolonialbeamten unablässig, dass die Mestizen und Mestizinnen in großer moralischer Zerrüttung unter den Indigenen leben. So zum Beispiel zeigt dies der Bericht, den Don Francisco de Toledo (1568-1581), der fünfte Vizekönig von Peru, auf Geheiß von König Phillip II. im Jahre 1568 für den Indienrat anfertigte. Darin sind auch die Lösungsvorschläge des Vizekönigs zu den Problemen enthalten, die dadurch herbeigeführt wurden, dass »die Mestizen durch den Einfluss ihrer indigenen Mütter sich wie Indios kleideten, um unauffällig zwischen ihren Verwandten mütterlicherseits unterzutauchen, nachdem sie ein Verbrechen verübt haben« (ebd.: 436). Als die Krone ihren Verwaltungsapparat etabliert hatte, begrenzten zahlreiche königliche Dekrete den sozio-ökonomischen Aufstieg der Mestizen.26 Sie wurden zunehmend mit anderen sozialen Kategorien assoziiert, die als minderwertig galten, wie etwa den Mulatten und Zambaigos. Das bedeutete, dass sie die gleichen sozialen Einschränkungen erfuhren. In der Folge wurde es für Mestizen immer schwieriger, zu Priestersemina-
25 Für eine Analyse der Strategien, die die spanischen Eltern anwendeten, um ihren Besitz und ihre Encomiendas an ihre mestizischen Kinder in Peru im 16. Jahrhundert zu übertragen, vgl. Ares Queija (2005). 26 Der gewaltige Corpus von Gesetzen, die von der Krone verabschiedet wurden, spiegelt eine Idealvorstellung wider. Die zahlreichen Berichte der kolonialen Autoritäten und die Antworten der Krone in Form von Edikten und Dekreten veranschaulichen dagegen die vielen Unstimmigkeiten, denen Verwaltung und Politik ausgesetzt waren. 48
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ren zugelassen zu werden und/oder die Priesterweihe zu erlangen.27 Ebenso wurde Indigenen und Mulatten verboten, Waffen zu tragen, administrative oder kirchliche Ämter innezuhaben und Encomiendas zu besitzen.28
M e s t i ze n : Ä h n l i c h k e i t o d e r B e d r o h u n g Die Kolonialbeamten und die lokalen Eliten, insbesondere die Kreolen, die oftmals verdächtigt wurden, indigener oder mestizischer Herkunft zu sein, hatten Gründe, den Mestizen zu misstrauen (Solórzano y Pereyra 1972 [1647]: 442-444). Die Mestizen waren der greifbare Beweis dafür, dass die Grenzen der Republik der Spanier und der Republik der Indios weit davon entfernt waren, undurchlässig zu sein. Auch aufgrund der ›gemischten‹ Herkunft erschien ihre Treue zur Krone und deren Repräsentanten äußerst fraglich. In Zeiten politischer Instabilität wurde die ambivalente Identität der Mestizen besonders kritisch. Dies zeigt sich deutlich in den Streitigkeiten über die Vererbbarkeit der Encomiendas, in denen sich Eroberer in Wahrnehmung kolonialer Eigenständigkeit und die spanische Krone gegenüberstanden. Sie drehten sich um die Möglichkeiten, den Mestizen das Recht einzuräumen, Encomiendas von ihren spanischen Vorfahren zu erben. Außerdem fühlten sich die kolonialen Autoritäten permanent von indigenen Rebellionen bedroht; dies stellte die politische Loyalität der Mestizen auf die Probe. Das Vizekönigreich Peru wurde durch die internen Kriege zwischen den Eroberern um die politische Macht und den langwierigen Widerstand der Inkas während und nach der Eroberung zerrissen (Coello de la Rosa 2006; Clemence 1936).29 Im Gegensatz dazu
27 Ares Queija hat die Klagen der ersten Generation von Mestizen des Vizekönigreichs Peru in Reaktion auf ein königliches Dekret von 1578 untersucht, welches den Bischöfen und Erzbischöfen verbot, diese für das Priesteramt zuzulassen. Der Prozess dauerte ein ganzes Jahrzehnt. Auffallend ist, wie Mestizen die Tugenden ihrer hispanisch-indigenen Abstammung und ihre eigenen Verdienste als ideale Prediger des Evangeliums betonen (Ares Queija 1997: 48-59). 28 Zu einigen der verabschiedeten königlichen Dekrete mit dieser Wirkung, siehe Konetzke (1953: 256, 436, 479, 490, 491). 29 Der Widerstand der Indigenen wurde von den Kolonialbeamten als Bedrohung empfunden und war eine fundamentale Quelle für die politische Instabilität. Diese Phase dauerte im Vizekönigreich Peru bis zu der dramatischen Rebellion von Tupac Amaru II. (1780-1783) an. Die Revolten und Aufstände, die im Vizekönigreich Neu-Spanien in der zweiten Hälfte des 49
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erlebte das Vizekönigreich Neu-Spanien im Verlauf des 16. Jahrhunderts eine Phase der relativen Stabilität und Konsolidierung (Wachtel 1971; Bernand/Gruzinski 1999: 140; Canny/Padgen 1987; Gutiérrez 1990).30 Allerdings forderten Mitte des Jahrhunderts die lokalen Eliten beider Vizekönigreiche den Zugang zu den natürlichen und humanen Ressourcen ein, was ohne Zweifel auch die Bewertung und die soziale Position der Mestizen in der Kolonie betraf. Die militärisch-politische Eroberung kommt immer einer wirtschaftlichen Eroberung gleich. Bei der Eroberung Hispanoamerikas stand nicht nur das Territorium per se auf dem Spiel, sondern die Arbeitskraft der Indigenen. Auf den Antillen zeichnete die Krone die einzelnen Eroberer aus, indem sie ihnen das Recht auf die Nutzung indigener Arbeitskräfte in der Form von Repartimientos auf dem Land und für die Minen der Encomenderos gewährte.31 Die Encomenderos ihrerseits hatten für das materielle Wohl und das Seelenheil dieser Indigenen zu sorgen. Bis in die 1540er Jahren hatten Encomenderos kein Recht, irgendeinen Tribut an Produkten oder Geld von den Indigenen zu verlangen. Diese arbeiteten dagegen praktisch ohne Lohn. Ihre Sterblichkeitsrate war außergewöhnlich hoch (Lockhart 1999 [1969]; Crosby 1972; Cook 1981). Die Vererbbarkeit der Encomiendas wurde zu einem heiklen Thema im Machtkampf zwischen den kreolischen Eliten und der Krone, weil sie die Grundlage der Tributabgaben und der Arbeit der Indigenen bildete
17. Jahrhunderts unter Martín Cortés, dem zweiten Marquis des Tals von Oaxaca und seinen Brüdern Alonso und Gil González de Ávila, stattfanden, erreichten hingegen nie die Intensität des Widerstands der sogenannten Neo-Inkas, noch die Tragweite der von Tupac Catari (1781) und Tupac Amaru II. angeführten Aufstände (Flores Galindo 1987; Burga 1988; Thomson 2003; Serulnikow 2003). Für detaillierte Informationen bzgl. der hier angesprochenen Revolten vgl. Stolcke (2007). 30 Es gibt jedoch einige Ausnahmen, wie die mutmaßliche Verschwörung der Encomenderos in den 1560er Jahren, sowie eine Rebellion der unzufriedenen Kreolen von 1624 gegen den Vizekönig Diego de Carrillo de Mendoza y Pimentel, Marquis von Gálvez und Graf von Priego (1621-1624), bei der der Palast des Vizekönigs angezündet wurde. 31 Gemäß Lockhart hatte der Repartimiento, die Zuteilung von Land, seinen Ursprung in den Aufteilungen, die Kolumbus auf der Insel La Española vorgenommen hatte und die von dort aus auf den Kontinent ausgeweitet wurde. In ihrem gesetzlichen Format war die Konzession von indigener Arbeitskraft in Peru und in Neu-Spanien dem Repartimiento der Antillen näher als der offiziellen Encomienda. Der Begriff Repartimiento hielt sich in der Umgangs- und Amtssprache, um ein geographisches Areal dieser Konzession zu bezeichnen (Lockhart 1999 [1969]: 5). 50
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und damit die koloniale Logik selbst auf dem Spiel stand.32 Um die Indigenen vor der Ausbeutung durch die Encomenderos zu schützen, die indigene Arbeitskraft zu sichern und die zukünftige königliche Souveränität über die kolonialen Gebiete zu garantieren, verabschiedete im Jahre 1542 die Krone die Neuen Gesetze (Leyes Nuevas), wonach das Recht auf die Encomienda mit dem Tod des Besitzers endete. Die Indigenen sollten in diesem Moment unter königlichen Schutz gestellt werden. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die Eroberer und ihre Nachfolger protestierten gewaltsam gegen die Neuen Gesetze und forderten, dass die Encomiendas erbliches Eigentum blieben. Besonders die möglichen mestizischen Erben besaßen ein politisches und wirtschaftliches Interesse an der gesetzlichen Festschreibung der Vererbbarkeit. Alarmiert durch die Dimension der Proteste wurde die ursprünglich vorgesehene Realisierung dieser Gesetze durch Kaiser Karl V. zurückgestellt (Konetzke 1953: 216-226). Ein königlicher Erlass vom 27. Februar 1549 verbot Mulatten, Mestizen und ›Unehelichen‹, über indigene Arbeitskraft zu verfügen (ebd.: 256). In den 1560er Jahren hatten sich die Encomenderos in eine Art koloniale Aristokratie verwandelt. Gerüchte über eine bevorstehende Revolte gegen Vertreter der Krone verbreiteten sich im ganzen Vizekönigreich Peru. In Neu-Spanien fand die reale oder angenommene Verschwörung gegen die spanische Herrschaft (bisweilen als die Rebellion der Encomenderos von 1566 bezeichnet) praktisch zeitgleich statt. Die Unehelichkeit vieler Mestizen wurde ein ernst zu nehmendes Hindernis, um Titel und Besitztümer der spanischen Eltern zu erben. Im Jahre 1556 konsultierte der Indienrat den König, um erneut die Neuen Gesetze zu reformieren und schlug vor, dass die natürlichen Kinder von noch unverheirateten Eroberern Encomiendas erben könnten (ebd.: 346f). Dieser umstrittene Vorschlag richtete sich explizit an die Mestizen, nicht aber »an die Kinder von schwarzen Frauen, weil man diesen grotesken Verbindungen vorbeugen musste, da nicht zu erwarten war, dass die Spanier sich mit den schwarzen Frauen verheiraten würden, mit denen sie Nachkommen hatten« (ebd.: 347). Dennoch waren die kolonialen Autoritäten nicht bereit, so großzügig auf die Vorschläge zu reagieren – sie begründeten dies mit der Gefahr, dass sich die Mestizen gegen die koloniale Regierung auflehnen und diese stürzen könnten. Als Lösung wurde erachtet, den Spaniern zu verbieten, sich mit indigenen Frauen, Sklaven oder Ausländerinnen zu verheiraten – unter Androhung des Verlustes ihrer Encomiendas wie auch der Gewährung des Rechts, die Encomiendas 32 Nach der Verkündung der Leyes de Burgos (Gesetze von Burgos) im Jahre 1512 versuchte die Krone den Repartimiento von Indigenen zu regulieren, jedoch ohne großen Erfolg (Konetzke 1953: 38-57). 51
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an den Erstgeborenen zu vererben.33 Nichtsdestotrotz mischte sich die Krone bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in die kirchliche Doktrin der Freiheit der Ehepartnerwahl nicht ein. Die politisch-juristische Kontroverse, ob Encomiendas an die unehelichen, also illegitimen Kinder von Spaniern übergehen konnten, wenn es keinen legitimen Erben oder eine Witwe gab, setzte sich bis Anfang des 17. Jahrhunderts fort (ebd.: 559566; Canny/Pagden 1987: 53).34
R e i n h e i t de s B lu t e s : I d e o l o g i sc he V o r l ä u f e r d e r k o l o n i a l e n s o z i a l e n K l a ss i f i k a ti o n Es ist deutlich geworden, dass die Mestizen keine homogene soziale Kategorie waren. Ihre instabile Position und soziale Identität ergab sich aus den Kontakten, die sie zwangsläufig mit anderen sozialen Gruppen der kolonialen sozialen Hierarchie hatten. Das moralische Stigma ihrer Unehelichkeit wurde oftmals durch die Vermutung bestärkt, dass sie aufgrund der Mischung mit afrikanischen Sklaven oder deren mulattischen Nachkommen zusätzlich ›kontaminiert‹ waren. So hatte sich bis zum 18. Jahrhundert die Meinung verhärtet, dass »Mulatten, Pardos, Zambos und andere Castas von Geburt an verkommen waren und schlechte Angewohnheiten hatten, da die Mehrheit von ihnen unrein, ehebrecherisch und unehelich waren« (Konetzke 1962: 823-824; Solórzano y Pereyra 1972 [1647]: 443). Der Grund lag darin, dass die soziale Hierarchie nicht nur eine politisch-soziale Angelegenheit war, sondern gleichfalls von einer Ideologie der moralischen Ungleichheit inspiriert gestärkt wurde.
33 Dies geht aus einem umfangreichen Bericht des Vizekönigs von Peru, Don Diego López de Zúñiga y Velasco, Graf von Nieva (1561-64), an den König hervor (»Carta Información a S.M., del Conde de Nieva, Virrey del Perú, y Comisarios del Perú, acerca de la conveniencia de perpetuar las encomiendas o repartimientos de indios, Los Reyes, 4 de mayo de 1562«, in Levillier 1921: 395-471, insbesondere S. 422-423. Ich danke Ares Queija dafür, dass sie mich auf dieses wichtige Dokument aufmerksam gemacht hat, welches sie in 2005: 121 und 129-130 und 1997: 44, Fußnote 16 erwähnt). 34 Erst am Ende seiner Regierung hatte es der Vizekönig Toledo in Peru geschafft, die Macht der Encomenderos zu brechen. (Wikipedia 2006). In Neu-Spanien wurde dies mit der öffentlichen Hinrichtung der Brüder Ávila nach deren Verurteilung im Jahre 1566 und der Exilierung Cortés nach Spanien erreicht (vgl. hierfür Stolcke 2007). 52
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Die afrikanischen Sklaven hatten in der Herausbildung der komplexen politisch-juristischen und wirtschaftlichen Hierarchien des hispanischen Amerikas einen vergleichbaren Einfluss wie die indigene Bevölkerung und ihre Nachkommen.35 Das ›schwarze Blut‹ wurde als ›unrein‹ angesehen, da es mit der Sklaverei assoziiert wurde. Ein schwarzer oder mulattischer Körper stellte das sichtbare Zeichen seiner »barbarischen« Abstammung dar (Lowe 2005: 7). Wie ich bereits zuvor gezeigt habe, legitimierte die spanische Krone die Eroberung damit, den christlichen Glauben in den neuen Gebieten einführen zu wollen. Die afrikanischen Sklaven wurden so für die Evangelisierung als tauglich angesehen, wie andere Menschen auch. Der Sklavenbesitzer war sogar verpflichtet, sie zu zivilisieren, also zu christianisieren. Die Eroberung der Neuen Welt im Jahre 1492 fiel mit dem Fall von Granada und der Zwangskonversion der Juden und Muslimen zum christlichen Glauben unter Androhung der Ausweisung aus Spanien zusammen. Die Doktrin der Reinheit des Blutes war ein legales und symbolisches System von einzigartiger Ausprägung im mittelalterlichen Europa, das Verbrechen gegen das Christentum verfolgte und damit gegen das Judentum und den Islam gerichtet war. Die spanische Inquisition – der Santo Oficio – hatte die Gerichtsbarkeit über die Wahrung der Reinheit des Blutes und war hauptverantwortlich für die Annahme, dass alle Konvertiten verdächtig wären. Die Frage nach der Konsolidierung der Statuten der Reinheit des Blutes und die Atmosphäre der Verfolgung und des Misstrauens auf Grund der genealogischen Nachforschungen durch den Santo Oficio auf der iberischen Halbinsel, hat die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen (Sicroff 1979).36 Aber wir wissen noch immer nicht, was der historische Ursprung der Reinheit des Blutes war, auch seine symbolische Bedeutung ist noch immer umstritten. Die sozialen Vorrechte und Würden wurden in kulturellen und religiösen Begriffen nicht nur nach dem kano35 Vgl. für detailliertere Informationen Stolcke (2007). Im Denken der damaligen Zeit gab es keine Individuen von niederer sozialer Kondition als Schwarze und Sklaven aus Guinea. Die portugiesischen Händler in Luanda bezeichneten die schwarzen Sklaven sogar als »roh, ohne Intelligenz noch Verstand« und »fast könnte man sagen, irrationales Wesen« (Zitiert in Boxer 1963: 29). Die Sklaven aus Nordafrika genossen im Gegensatz dazu die zweifelhafte Gunst, einer höheren, wenn auch meist herabgewürdigten, muslimischen Kultur anzugehören. 36 Während des 15. Jahrhunderts wurde damit begonnen, Nachweise – Probanzas – des ›Blutes‹ einzufordern, um zivile, geistliche oder militärische Ämter aufnehmen zu können. Ebenso konnte die Inquisition Eheschließungen annullieren, wenn die Herkunft der Familien zweifelhaft war. 53
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nischen Recht strukturiert, sondern auch im Einklang mit dem ›Willen Gottes‹. So verstanden, symbolisiert die Reinheit des Blutes den wahren und unerschütterlichen Glauben an Gott. Die Gegenüberstellung von Reinheit und Unreinheit tolerierte keinerlei Abweichung in Glaubensangelegenheiten und war vor allem ein Problem moralischen Charakters: Das Blut galt in einem metaphorischen Sinn als Mittel der Übertragung von Lastern wie auch der moralischen und religiösen Tugenden von Generation zu Generation (Zúñiga 1999: 425-452). Nichtsdestotrotz ist es bedeutend, dass im Einvernehmen mit den christlichen Geboten die Bekehrung von Ungläubigen zum wahren Glauben diese von jenem Makel erlösen konnte. Über die Taufe konnten Juden und Mauren sich in Gentiles oder Neugetaufte verwandeln, die die Gesetze Gottes bis dahin verkannt hatten (Alfonso Diaz de Montalvo [1405-1499], zitiert in Sicroff 1979: 158). Wie ich bereits betont habe, war dies das gleiche Argument, das später in der Neuen Welt angewandt wurde, um die Reinheit des Blutes der Indigenen zu erklären. Mit den zunehmenden Debatten um die Reinheit des Blutes im spanischen Mutterland und den Disputen zwischen Inquisitoren und spanischen Eliten über die Anwendung der entsprechenden Statuten wurde auch die Frage gestellt, ob die Konvertiten sich tatsächlich bekehrt hatten, oder ob sie im Geheimen ihren alten Glauben weiterpflegten. Im 17. Jahrhundert wurden die desaströsen politischen Folgen, die die genealogischen Nachforschungen für die religiöse und nationale Einheit des spanischen Imperiums hatten, für die Mehrheit der zeitgenössischen Intellektuellen offensichtlich. Die Gegner der Statuten warnten vor den wirtschaftlichen und demographischen Ausmaßen durch die Flucht von Nicht-Konvertierten und Konvertiten von der iberischen Halbinsel. Sie argumentierten, dass die Statuten gegen das kanonische und zivile Gesetz gerichtet seien, ebenso wie gegen die biblische Tradition, da den Konvertiten die Möglichkeit verwehrt blieb, sich über die Taufe zu erlösen. Es gab widerstreitende Meinungen darüber, ob die Reinheit des Blutes eine Angelegenheit religiöser Art war, oder ob sie sich im Gegensatz dazu auf einen persönlichen, d.h. angeborenen Wesenszug bezog. Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten blieb in Spanien die Angst obsessiv, den Ehrenkodex zu verletzen, vor allem im Hinblick auf Eheschließung und legitime Geburt (ebd.: 259-342). Das Ideal der Reinheit des Blutes verlangte eine besondere Kontrolle der weiblichen Sexualität, die dazu führte, dass die männlichen Familienmitglieder besonders um die Wahrung der Jungfräulichkeit vor der Ehe und die spätere Enthaltsamkeit besorgt waren. Allein Frauen wurden für die Infiltration von ›unreinem‹ Blut in ein Familiengeschlecht verantwortliche gemacht, und ebenso wurde jede
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außerehelich geborene Person sofort verdächtigt, ›unreinen‹ Blutes zu sein (Tucci Carneiro 1988: 99).
D i e R e i n h e i t de s B lu t e s i n d e r N e u e n We l t Die Eroberer, die kolonialen Autoritäten und der Klerus übertrugen diese sozialen Ideale und eine nicht abreißende religiös-moralische Sorge über deren Bestand in die Neue Welt. Im Jahre 1569 hatte König Phillip II. die Einrichtung der Heiligen Inquisition in Peru (1570) und in Neu-Spanien (1571) angeordnet. In der kolonialen Gesellschaft hatte die Doktrin von der Reinheit des Blutes eine einschneidende Rolle für die soziojuristischen Organisation. So diente nun diese Doktrin dazu, nicht nur die ›Alten Christen‹ und Indigenen von denjenigen zu unterscheiden, die als Juden oder ›geheime Juden‹ verdächtigt wurden, sondern auch schwarzen Sklaven und ihren Nachkommen. Nur die ›Alten Christen‹ durften sich in Hispanoamerika ansiedeln. Allen anderen wurde verboten, in die Neue Welt auszuwandern. Weder »Mauren, noch Juden, noch Gentiles, noch ›zum Wahren Glauben Zurückgekehrte‹ oder ›Neue Christen‹ – es sei denn, sie waren Schwarze oder Sklaven, die als Freie geboren wurden« – wurde erlaubt, sich nach Amerika einzuschiffen (zitiert in Friedemann 1993). Dieses Verbot wurde bald auf deren Nachkommen ausgeweitet und galt bis weit in das 18. Jahrhundert hinein.37 In diesem Abschnitt werde ich nun die umstrittene symbolische Bedeutung des alles durchdringenden Prinzips der sozialen Klassifikation der Reinheit des Blutes untersuchen. Wenn soziale Identitäten immer in sozio-politischen Kontexten konstruiert werden, ist es unerlässlich, die Kriterien der Identifikation und Unterscheidung zu ergründen, die in einem bestimmten historischen Moment in Erscheinung treten. Um die Bedeutung der Doktrin der Reinheit des Blutes einzugrenzen, ist es notwendig, über die soziale Position der Mestizen hinauszugehen, da sie nur eine der Kategorien des komplexen Netzwerkes der kolonialen Gesellschaft darstellte. Die wissenschaftlichen Deutungen der Doktrin der Reinheit des Blutes im spanischen Amerika sind polemisch. Einerseits haben Historiker angenommen, dass sich seit der Eroberung ›Rasse‹ und Klasse in dem immer komplexeren sozialen Gewebe der Kolonien selbst erklären (vgl. 37 So verbot der König in einem Dekret von 1513, dass »kein Kind oder Enkel einer von der Inquisition verbrannten Person, noch ein Kind eines zum Wahren Glauben Zurückgekehrten oder Kind bzw. Enkel eines Juden oder Mauren« in die Kolonien einreisen durfte (Konetzke 1953: 59). 55
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Fußnoten 3, 4, 5). Andererseits haben einige Intellektuelle nun die ideologische Bedeutung erkannt, die die Doktrin der Reinheit des Blutes für die Festigung der kolonialen sozialen Hierarchie hatte, wie auch ihren Bedeutungswandel im 18. Jahrhundert, als die koloniale Gesellschaft immer vielschichtiger wurde und andere soziale Gruppen neben den Spaniern nach sozialen Aufstiegschancen suchten.38 Die Interpretation von Ordnung in Welt und Gesellschaft ist untrennbar mit den historischen Wissenskontexten verbunden. Unumstritten war in jener Zeit, dass die Menschheit einen gemeinsamen Ursprung hatte. Die Grade der ›Zivilisiertheit‹ zwischen den Menschen wurde in religiösen Begriffen gemessen, die anstelle von ›rassischen‹ Kriterien auf christlich-moralischen Geboten basierten. Bis Ende des 17. Jahrhunderts organisierte die Doktrin der Reinheit des Blutes Männer und Frauen im hispanischen Amerika gemäß ihren religiösen und moralischen Eigenschaften und ihres Verhaltens. Wie ich zuvor gezeigt habe, deklarierte man die amerikanischen Indigenen als Gentiles ›reinen Blutes‹ in dem Moment, als sie zu Vasallen der Krone wurden. Das Blut der afrikanischen Sklaven galt im Gegensatz dazu als unauslöschlich ›verschmutzt‹ aufgrund ihres ›barbarischen‹ Ursprungs in Guinea (vgl. Fußnote 35). Der moderne Rassismus hat seinen Ursprung am Ende des 17. Jahrhunderts. Es ist also ein Anachronismus, die Doktrin der Reinheit des Blutes – das heißt ›Geburt‹, ›Blut‹, Abstammung, Lineage und/oder Nachkommenschaft – in den Begriffen der modernen aus Europa stammenden Kategorie ›Rasse‹ zu interpretieren, die erst seit dem 18. Jahrhundert in der Neuen Welt angewendet wird.39 Die Ende des 17. Jahrhunderts aufkommende europäische Naturphilosophie, die nach den Naturgesetzen des menschlichen Daseins suchte, trennte sich von der früheren theologisch-moralischen Ontologie. Die Sorge der Naturalisten galt den menschlichen Wesen als physische Kreaturen und Mitglieder organisierter Gesellschaften. Das Interesse verlagerte sich weg von der menschlichen Einheit und hin zu den kulturellen und physischen Differenzen. 38 Twinam untersuchte die Idee der Reinheit des Blutes in ihren Studien zu den Legitimationsgesuchen, die im 18. Jahrhundert an die spanische Krone gerichtet wurden. Wenn sie sich jedoch auf die Definition der Doktrin der Reinheit des Blutes bezieht, geht Twinam davon aus, dass es sich um eine ›rassische‹ Klassifikation handelt (1999: 47, vgl. auch Poole 1999). Kuznesof schlägt vor, dass die spanische Idee des Blutes als anfänglicher Vermittler des religiösen Glaubens und später als Markierung eines sozialen Zustands in Verbindung zu der mittelalterlichen physiologischen Theorie steht (1995: 160). 39 Vgl. Schwartz/Salomon 1999; Zúñiga 1999. Ich selbst habe diesen Fehler begangen (Stolcke 1993), vgl. auch Schwartz (1995). 56
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Die Menschheit wurde in zwei, drei oder auch mehr mögliche ›Kategorien‹ eingeteilt – mit anderen Worten: in ›Rassen‹ im modernen Sinn (Hodgen 1964:148). Diese neuen Theorien über die ›rassischen‹ und kulturellen Unterschiede fielen in der Neuen Welt, die zu jener Zeit von einer breitgefächerten Varietät von Menschen bewohnt wurde, auf fruchtbaren Nährboden. Am Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich die hispanischen amerikanischen Kolonien in ungewöhnlich vielschichtige Gesellschaften mit durchlässigen sozialen Grenzen verwandelt. In der Auseinandersetzung um Anerkennung und soziale Position erwies sich die hierarchische soziale Ordnung nicht als geschlossen und undurchdringlich. Intersektionen zwischen den Kategorien Geburt, sozio-ökonomischer Klasse, sozialem Rang und ›Blut‹ gestalteten sich dynamisch, ein buntes Mosaik phänotypischer Abstufungen entwickelte sich. Die starke religiöse und moralische Überwachung durch die Inquisition trug mit Sicherheit bei den kolonialen Eliten zur Sorge über die Bewahrung der Reinheit des Blutes bei. Im hispanischen Amerika gab es verschiedene Motive, sich einer genealogischen Überprüfung zu unterziehen: einerseits um den Kindern das Recht zu garantieren, die Encomienda der Väter zu erben; andererseits um Zugang zu öffentlichen und religiösen Ämtern zu erhalten oder um bestimmte Optionen der Eheschließung zu realisieren (Troconis de Veracoechea 1974). Gleichzeitig begann der mittelalterliche spanische Begriff Casta – Lineage oder Abstammung – in den königlichen Edikten und Dekreten während des 17. Jahrhunderts aufzutauchen.40 Die Historiker, die über Neu-Spanien arbeiten, haben die koloniale Gesellschaft als eine ›Gesellschaft der Castas‹ (sociedad de castas) beschrieben und deuten damit an, dass sich dieser Begriff in der Neuen Welt auf die Zunahme der ›gemischten‹ Bevölkerung bezog (Schwartz/Salomón 1999: 444). Bis heute ist jedoch unklar, wann und warum sich seine Bedeutung, die bezugnehmend auf die sozio-kulturelle Mischung auch die Lineage implizierte, änderte (Cope 1994: 24; Seed
40 In der Sammlung kolonialer Dokumente von Konetzke erscheint der Begriff casta zum ersten Mal 1692 in einem Königlichen Dekret, das an Gaspar de Sandoval Silva y Mendoza, Vizekönig von Neu-Spanien (16881696) gerichtet war. Mit diesem sollte den Indigenen der Wert des Landes anerkannt werden, das die Spanier und andere Castas in der Nähe ihrer Dörfer ausbeuteten (Konetzke 1962: 25). In der Pfarrei von Santa Veracruz, Neu-Spanien, wurde im Jahre 1646 ein Pfarrregister für die Eheschließungen der Castas eingerichtet, welches Love mit »Eheschließungen von Personen gemischten Blutes« übersetzt (Love 1971: 80). 57
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1996: 7-11).41 Die Vorstellung, die zum Gebrauch des generischen Ausdrucks andere Castas führte, um ›gemischte‹ Personen zu benennen, könnte auch umgekehrt gewesen sein. Anstatt die ›gemischte‹ Abstammung anzuzeigen, könnte der Begriff Casta idealerweise dazu gedient haben, um die ›Gemischten‹ als eigene soziale Kategorie hervorzuheben. In einer Zeit, in der ›neue Kategorien von Menschen‹ sich multiplizierten und ihre sozio-ökonomischen Ambitionen zunahmen, gewinnen Eheschließungen, legitime Geburt und soziale Exklusion in den spanischen und kreolischen Eliten an Aufmerksamkeit. Das Wort Casta könnte sich hierbei verbreitet haben, um die Grenzen der kolonialen sozialen Kategorien undurchlässig zu machen. Die Begriffe, die auf die ›neuen Kategorien von Menschen‹ angewandt wurden, entsprachen so dem Versuch, Ordnung in der kolonialen Gesellschaft zu schaffen. Trotzdem stellte die steigende Zahl von ›gemischten‹ Individuen eine konstante Bedrohung dar, da die Unehelichkeit ihre Herkunft gefährlich zweifelhaft machte. Im Jahre 1768 befahl König Karl III. der Audienz von Lima, all jenen den Zugang zu einer juristischen Laufbahn zu verbieten, die weder Legitimität noch ihre Reinheit des Blutes beweisen konnten. Dies geschah im Hinblick auf »den bösen Schaden, hervorgerufen für die Republik und die gute Regierung durch die Vielzahl von Juristen unklarer Geburt und schlechter Erziehung, die in diesem Reich zahlreich sind und um den Schaden zu begrenzen, welcher so verderblich für die Öffentlichkeit wie schamhaft für all jene ist, die nicht durch den schändlichen Makel niederer Geburt der Zambos, Mulatten und anderen Castas markiert sind, mit denen Männer mittlerer Kondition sich schämen, Beziehungen einzugehen« (Konetzke 1962: 340-341).
41 Gemäß Carrera (2003) taucht der Begriff Casta kaum auf den 300 Tafeln der sogenannten Casta-Gemälde auf, die García Sáiz katalogisiert hat (1989: 48ff). Aber Carrera irrt, wenn sie das Taufregister für die Menschen »von gebrochener Farbe« als »Buch der Castas« übersetzt (2003: 1 und 154, Fußnote 2 des 1. Kapitels). Nach Silverblatt ergab im 17. Jahrhundert die Kombination der Vorstellungen von Casta und Generation (Vorfahre oder Lineage und Erzeugung bzw. Fortpflanzung) den Ausgangspunkt für die soziale Klassifizierung einer Person in der kolonialen Gesellschaft. In der kolonialen Gerichtsbarkeit wurde hingegen Casta und Generation eher auf die Indigenen, Schwarzen und Spanier als auf die ›gemischte‹ Bevölkerung angewandt. Ein Mestize zu sein hatte ebenso viel mit Legitimität wie mit der Lineage oder dem Familienstammbaum zu tun (2004: 120-121); Lewis (2003). Eine der ersten Studien zu den Casta-Gemälden ist die von Moreno Navarro (1973). 58
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Trotz dieses nun offen ›rassischen‹ Diskurses des 18. Jahrhunderts dauerte im hispanischen Amerika die weniger greifbare Sprache der Reinheit des Blutes an. Durch so viel ›Mischung‹ konnten die ›rassischen‹ Marker (Phänotyp) kaum ein glaubwürdiges Indiz für die Abstammung und die soziale Identität einer Person werden (Stolcke [Martínez-Alier] 1974). Ein Beispiel für die zunehmende Beunruhigung, die die ›rassische‹ Ambiguität in der kolonialen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts auslöste, waren die Expósitos (ausgesetzte Kinder). In Spanien genossen sie den Vorteil des Zweifels und wurden in den Augen der Krone als legitime Nachkommen ehrenhafter Herkunft angesehen. Dieses Privileg sollte jedoch, wie ein Magistrat des Indienrates 1772 andeutet, nicht für alle ausgesetzten Kinder in Amerika gelten, »wegen der großen Vielfalt von Castas, die aus der Einführung von Schwarzen und der ›Mischung‹ dieser mit den Naturales42 des Landes hervorgegangen ist«. Da die Mehrzahl der ausgesetzten Kinder in Amerika aus Klassen und Castas niederen Standes stammten, beantragte der Magistrat, den lokalen Pfarrern zu befehlen, »dass diesen Ausgesetzten weder die Absolution erteilt, noch die Priesterweihe gewährt werden kann, da ihr Äußeres und wohl bekannte Anzeichen darauf hindeuten, dass sie Mulatten oder andere Castas sind, die gleichermaßen ungebührlich für die geistliche Hierarchie sind […]«. Der König willigte ein und verbot, dass Ausgesetzte außer in sehr speziellen Umständen die Priesterweihe in den Kolonien empfangen konnten (Konetzke 1962: 392-393).43 Beide symbolischen Vorgänge der sozialen Klassifikation – die moralisch-religiöse Interpretation der anfänglichen Ideologie der Reinheit des Blutes und die spätere, moderne ›rassische‹ Auslegung – stimmen darin überein, dass die sozio-politische Identität mit Geburt und Abstammung definiert wurde, sie also auf einer genealogischen Übertragung basierte. Dieses soziale Identifikationssystem hatte in der kolonialen Gesellschaft Folgen für die Heiratsnormen, die Kontrolle der Sexualität der Frauen und die Geschlechterbeziehungen: Denn wenn die soziale Position anstatt von individuellen Verdiensten auf der ›Geburt‹, d.h. dem 42 Naturales ist ein Terminus der theologischen und rechtlichen Diskurse, der zunächst die im Naturstadium lebenden Menschen bezeichnete (›hombre natural‹). Später wurden mit diesem Begriff allgemein die ›Einheimischen‹ Amerikas sowie anderer Regionen bezeichnet [Anm. der Übers.]. 43 Über die Politik in Bezug auf die Ausgesetzten in der kolonialen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, vgl. Twinam (1999: 284). Im Jahre 1794 gab die Krone der Mehrheit der Ausgesetzten den Status der legitimen Geburt (ebd.: 19). Im Kuba des 19. Jahrhunderts wurden die Ausgesetzten im Kirchenbuch als »Weiße« eingeschrieben (Stolcke [Martínez-Alier] 1974). 59
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›Blut‹ (Nachkommenschaft), in einer hierarchischen Gesellschaft basierte, leiteten sich die Ehre der Familie und ihre Privilegien, die sich beständig in gesellschaftlicher Konkurrenz befanden, von der Sexualität der Frauen und der endogamen Heirat nach Klasse/›Rasse‹ ab. Unter diesen politischen und ideologischen Umständen konnten nur die Frauen eine legitime und sozial angemessene Geburt absichern. Wie ein alter Spruch besagt: Mater sempre certa est. Im Jahre 1572 erhalten wir von Dr. Tembra, einem Kolonialbeamten Neu-Spaniens, eine vielsagende Illustration der dynamischen Intersektion von sozialer Hierarchie, sexueller weiblicher Tugend, familiärer Ehre, Geschlechterbeziehungen und der Ordnung der Republik: eine authentische Arithmetik der sozialen Klassifikation. Dem Autor zufolge konnte eine ungleiche Eheschließung ohne die Einwilligung der Eltern unter folgenden Umständen stattfinden: »Aber wenn das unter dem Versprechen einer Eheschließung vergewaltigte Mädchen von einem so niederen Stand sei, dass mit seiner Heirat dem Familiengeschlecht [des Mannes; Anm. Über.] größerer Schaden angerichtet wird, soll sie ertragen vergewaltigt worden zu sein; wie wenn ein Herzog, ein Graf, ein Marquis, ein Ritter von herausragendem Adel eine Mulata, eine China, eine Coyota [Bezeichnungen für Castas, Anm. d. Übers.] vergewaltigen würde […] In diesem Fall sollte er sich nicht mit ihr verheiraten […] weil es in einem größeren Schaden für ihn und sein ganzes Familiengeschlecht resultieren würde, als wenn nur das Mädchen erleidet, verloren zu sein, und in jedem Fall sollten wir den geringsten Schaden wählen […] denn da jener ein Schaden einer Privatperson ist, der nur bei ihr bleibt, ohne der Republik zu schaden. Denn es wäre sonst eine so schwerwiegende Schädigung, dass eine ganze Familie erniedrigt würde, eine öffentliche Person entehrt, sein adliges Familiengeschlecht geschändet oder mit einem Makel versehen und eine Sache zerstören würde, die Glanz und Ruhm der Republik ist. Wenn jedoch das vergewaltigte Mädchen nur von wenig niederem Rang und von nicht sehr beträchtlicher Ungleichheit sei, der Art, dass seine Unterlegenheit nicht die Unehre eine Familie hervorruft, wenn dann der Besagte sie nicht materiell ausstatten möchte oder sie ebenso die Kompensierung der Mitgift nicht annimmt, sollte er gerade genötigt werden, sich mit ihr zu verheiraten; weil in diesem Fall ihre Schädigung die Beleidung der Eltern des Besagten überwiegt, da letzterem keine beträchtliche Unehre noch schwerer Schaden auf eine Eheschließung folgt, aber für sie ja, wenn sie sich nicht verheiratet« (Zitiert in Stolcke [Martínez-Alier] 1974: 101).
Von den Bourbonischen Reformen sticht die Real Pragmática (Pragmática Sanción para Evitar Matrimonios el Abuso de Contraer Matrimonios Desiguales; dt.: Königliche Strafverordnung um die Heirat zwischen ›ungleichen‹ Ehepartnern zu verhindern) hervor, die im Jahre 1776 in Spanien verabschiedet wurde. Auf das hispanische Amerika 1778 aus60
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geweitet, versuchte die Strafverordnung, die soziale und ›rassische‹ Hierarchie zu schützen, indem sie den Eltern eine größere Kontrolle über die Heiratsmöglichkeiten ihrer Kinder gab. Obwohl das neue Gesetz dazu gedacht war, die Probleme der sozio-politischen Ordnung zu lösen, wie sie Dr. Tembra aufgeworfen hat, wurde dies niemals erreicht (ebd.). Genau gesagt, erließ König Karl III. die Strafverordnung, weil es immer mehr weiße Männer und Frauen gab, die bereit waren, die politischrassische Ordnung und ihre moralischen Werte auf die Probe zu stellen, indem sie sich gegen die Gepflogenheiten verheirateten. Nach der Logik der kolonialen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts waren »Mulatten, Schwarze, Coyoten und Personen der Castas und ähnlicher Rassen« von besagter Verordnung ausgeschlossen, da keiner von ihnen soziale Ehre besitzen würde, die vor einer ungleichen Ehe zu schützen wäre (Konetzke 1962: 476). Die Mestizen waren jedoch verpflichtet, sich die elterliche Erlaubnis einzuholen, um sich verheiraten zu können. Im Jahre 1781 fügte die Audienz von Neu-Spanien der Strafverordnung folgendes Edikt hinzu: »[D]ie Mestizen, Nachkommen von Spaniern und indigenen Frauen oder umgekehrt, ebenso wie die Kastizen verdienten es, von den restlichen Rassen unterschieden zu werden […] und sind ebenso den Anforderungen und Nachfragen unterworfen, die die königliche Verordnung vorschreibt« (ebd.: 477).44 Obwohl in der Praxis diskriminiert, wurden die Nachkommen von Indigenen und Spaniern von jenen unterschieden, die den Makel der Abstammung von afrikanischen Sklaven trugen.
Schlussfolgerung An diesem Punkt angekommen, möchte ich meine Hauptargumentationslinien nochmals aufgreifen. Wie ich in diesem Beitrag gezeigt habe, waren die Mestizen, ebenso wie jedwede andere soziale ›gemischte‹ Kategorie im spanischen Amerika, nicht das Ergebnis von bereits existierenden Differenzen zwischen den Eltern und Vorfahren. Erst als die Kinder indigener Mütter und spanischer Väter mit der speziellen Bezeichnung Mestizen benannt wurden, wurden die sozio-politischen Unterschiede und Ungleichheiten zwischen ihren Eltern ins Leben gerufen und begannen sich zu institutionalisieren. Entgegen der allgemeinen Auffassung wurden Mestizen, genauso wenig wie Mulatten und Zambaigos, als solche geboren, sondern konstruiert. Die Vorstellung von Mestizaje, die davon ausgeht, dass die sozio-politischen Unterschiede tatsächlich existier44 Für andere Fragestellungen bezüglich Neu-Spaniens und wie die Königliche Strafverordnung über die Eheschließung zu interpretieren sei, vgl. auch Konetzke (1962: 527, 529, 670, 759-771, 794-796). 61
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ten, war gegenüber sozio-kulturellen oder sozio-rassischen Diskriminierungen nicht blind, sondern bestärkte diese vielmehr. Um die historische Konstruktion von kolonialen Identitäten und Beziehungen zu verstehen, war es zugleich notwendig, das ideologische Prinzip der Reinheit des Blutes zu betrachten, welches die soziale Hierarchie begründete. Seit ihrem Beginn war die hispanisch-amerikanische koloniale Gesellschaft eine dynamische und instabile Welt als Folge andauernder Antagonismen und Konflikte zwischen der Krone und den religiösen Orden sowie zwischen Indigenen, Mestizen, Kreolen und Spaniern. So wurde die Doktrin der Reinheit des Blutes von einem moralisch-religiösen Konzept der sozialen Identität und Hierarchie in dem Maße zu einer modernen ›rassischen‹ Vorstellung von sozioökonomischer Ungleichheit, wie sich neue Modelle für die Interpretation der Ordnung der Gesellschaft und des Universum während des 18. Jahrhunderts entwickelten. Unter diesen Umständen und wiederum gegen die allgemeine Auffassung wurden die Frauen der spanischen und kreolischen Elite zu Schlüsselfiguren im Wettbewerb um soziales Prestige und Ehre, die unter der strengen Kontrolle der Männer und ihrer Familien zu stehen hatten. Frauen aus den niederen sozialen Schichten waren jedoch häufig Opfer sexueller Überlegenheit der Männer. Als die Kategorie der Mestizen konstruiert wurde, wurden nicht nur die sozio-politischen und geschlechtlichen Ungleichheiten offenkundig gemacht, sondern diese auch in rechtliche verwandelt.
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I D E A L I S I E R T E D A R S T E L L U N G O DE R A B B I L D : H I E R A R C H I E N I N D E N C A S T A -G E M Ä L D E N N E U -S P A N I E N S D E S 18. J A H R H U N D E R T S ANNE EBERT »Nr. 1 Von einem Spanier und einer India wird ein Mestize geboren.« »Nr. 13 Von einem Bleib’ in der Luft und einer Mulattin wird ein Weiß-Gefleckter geboren.«1
Schon diese zwei Inschriften einer Serie von Casta-Gemälden verdeutlichen das Kernproblem ihrer Interpretation: Während die erste Bildinschrift Begriffe enthält, die bekannt und in ihrer sozialen und historischen Bedeutung rekonstruierbar sind, erzeugen bei uns einige der Bezeichnungen der zweiten Inschrift keine klare Vorstellung. Jedoch sind es gerade diese Begriffe, die den Casta-Gemälden ihren Namen gaben. Die damit verbundene Ambivalenz – das Wiedererkennen von ›realen‹ Elementen und das Auftauchen von ›erdachten‹ – spiegelt sich auch in bisherigen Überlegungen zu den Casta-Gemälden wider. Ihre Interpretation verorten sie im Spannungsfeld einer abgebildeten zeitgenössischen Realität und der intendierten idealisierten Darstellung kolonialer Hierarchien.2 Die Bildinschrift gehört neben der Abbildung eines Elternpaares mit dessen Nachwuchs zu den feststehenden Bildelementen einer CastaSerie. Begriffe wie Mestize oder Bleib’ in der Luft werden mit konkreten Visualisierungen versehen. Im Zusammenwirken von Bildinschrift und Bildinhalt werden so Bedeutungen festgeschrieben (Hall 2004 [1997]: 111). In dieser visuellen Praktik der Repräsentation wird jedoch nur ein Teil der Bedeutung offensichtlich – eine tiefere liegt in dem, was vorstellt, was impliziert, aber nicht gezeigt wird (ebd.: 150). Der Beitrag 1
2
Originalbildinschriften: »No. 1 De Español, ê India; nace Mestizo« und »No. 13 De Tente en el Aire, y Mulata; nace Albarasado« auf Gemälden der Serie von Andrés de Islas, 1774, Museo de América/Madrid. Die im Weiteren kursiv gesetzten Bezeichnungen folgen denen der Bildinschriften. Einen Überblick über Interpretationsansätze gibt Katzew (2004: 5-9). 69
ANNE EBERT
widmet sich der Frage nach möglichen Entstehungshintergründen und Vorstellungen, die in die Darstellungen dieser Gemälde hineinwirken.
C a s t a- G e m ä l d e Im Vizekönigreich Neu-Spanien, dem heutigen Mexiko, entstehen im Laufe des 18. Jahrhunderts, vor allem in den Jahren von 1770 und 1780, zahlreiche Gemäldeserien3 mit säkularen Bildinhalten, die sogenannten Casta-Gemälde. Einige wurden von den bekanntesten zeitgenössischen Malern geschaffen, die Mehrzahl ist unsigniert und nicht zuzuordnen. Heute sind über 100 Casta-Gemäldeserien bekannt, die zum Großteil in Spanien aufgefunden wurden (García Sáiz 1989: 47; Katzew 2004: 3). Abbildung 1: Andrés de Islas: Nr. 1 Von einem Spanier und einer India wird ein Mestize geboren, 1774, Öl auf Leinwand, 75 x 54 cm, Museo de América/Madrid.
3
Aus den anderen spanischen Vizekönigreichen ist bisher nur für Peru eine vergleichbare Gemäldeserie bekannt (vgl. Romero de Tejada 2004). 70
IDEALISIERTE DARSTELLUNG ODER ABBILD
Eine Casta-Serie besteht in der Regel aus 16 Einzelgemälden. Auf jedem der 16 Einzelgemälde sind Vater und Mutter dargestellt, die durch die Bezeichnungen in der Bildinschrift unterschieden werden. Ihr ›gemischtes‹ Kind wiederum wird anders benannt. Dabei weisen die Serien eine Systematik auf: Die ersten drei Gemälde zeigen den Prozess der ›Vermischung‹ (Mestizaje) von ›weißen‹ Spanier/innen und Indigenen hin zu Spanier/innen, d.h. ›Weißen‹: So ist im ersten Gemälde ein Mestize als Kind eines Spaniers und einer India zu sehen (vgl. Abb. 1). Im zweiten ist das Kind von Mestiz/in und Spanier/in ein/e Kastiz/in. Im dritten wird das Kind von Kastiz/in und Spanier/in wieder als Spanier/in bezeichnet. Auf den folgenden drei oder auch mehr Gemälden wird der Prozess der ›Vermischung‹ von Spanier/innen und Schwarzen gezeigt, die aber nicht zu Spaniern führt. Deren Kinder werden als Mulatten, Morisken und Albinos bezeichnet. Eine dritte Gemäldegruppe von dargestellten ›Vermischungen‹ zeigt die von Schwarzen und Indigenen sowie der Gemischten (vgl. Abb. 2). Vor allem in dieser Gruppe der Mestizaje werden die Bezeichnungen vielfältig, unbestimmt oder sogar unverständlich, so wie z.B. Weiß-Gefleckter oder Bleib’ in der Luft.4 Den Abschluss einer Serie bildet zumeist ein Paar Wilder Indigener mit ihrem Kind.5 Auf den Gemälden gibt es eine Übereinstimmung von verschiedenen häufig wiederkehrenden Merkmalen, mit denen die Personen ausgestattet sind, sowie den Bezeichnungen in den Bildinschriften. Neben den äußerlichen Merkmalen wie der Haut- und Haarfarbe werden dafür die Kleidungsstücke zu wichtigen Attributen. So wurde wiederholt während der Kolonialzeit versucht, den verschiedenen Bevölkerungsgruppen per Gesetz eine bestimmte charakteristische Kleidung vorzuschreiben (Katzew 2004: 41). Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, kann oder soll ein Spanier über Dreispitz, Perücke, Kniebundhosen und Gehrock sowie seine hellere Hautfarbe identifiziert werden. Entsprechendes gilt für die India mit ihrem Kopfschmuck, einem besonderen Kleidungsstück, dem Huipil, und ihrer dunkleren Hautfarbe.
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Als Weiß-Gefleckter (Albarazado) wird im Jahre 1726 zunächst eine Person oder Tier benannt, die an Albarazo, eine Art Lepra, erkrankt ist, die weiße, raue und schuppige Flecken auf der Haut verursacht. Ab dem Jahre 1770 wird im spanischen Wörterbuch mit diesem auch die Abnahme einer Farbe hin zu Weiß bezeichnet (Real Academia Española 2008). Bleib’ in der Luft (Tente en el Aire) verweist darauf, dass die bezeichnete Person weder ›weißer‹ noch ›dunkler‹ als ihre Eltern sei (Katzew 2004: 49). Für eine Interpretation des Bildes Wilder Indigener, das zumeist Abschluss einer Casta-Gemäldeserie ist, vgl. Katzew (2004: 136-146). 71
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Abbildung 2: Andrés de Islas: Nr. 13 Von einem Bleib’ in der Luft und einer Mulattin wird ein Weiß-Gefleckter geboren, 1774, Öl auf Leinwand, 75 x 54 cm, Museo de América/Madrid.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich die Darstellung. So werden nicht mehr alle Personen in prunkvoller Kleidung gezeigt wie auf den frühen Gemälden. Auch sind nun z.B. Tabakhändler, Straßenverkäufer, Schuster und Wasserträger zu sehen. Ihre Tätigkeiten sollen sie als Mitglieder bestimmter sozialer Bevölkerungsgruppen ausweisen. Zudem erlangen Innenräume, Straßen, Läden und Landschaften, in denen diese Familienszenen spielen, Bedeutung für die Zuordnung zu einer sozialen Schicht. Waren es zunächst die äußeren Merkmale über die Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe definiert wurde, liegt bei den späteren Serien der Schwerpunkt auf diesen sozio-ökonomischen Aspekten. So sind die Personen auf Abbildung 2 mit ihrer dunkleren Hautfarbe als Straßenhändler und in einfacher, armseliger Kleidung deutlich von denen auf der Abbildung 1 unterschieden. Weiterhin wird die Artenvielfalt der in Mexiko verbreiteten Tier- und Pflanzenwelt in die Gemälde integriert (vgl. Abb. 2) und man beginnt, die Casta-Serien durchzunummerieren.6 6
Die Casta-Serien sind durch einen hohen Grad an Ähnlichkeit der abgebildeten Szenen gekennzeichnet (García Sáiz 1989: 37). Am Anfang des 19. 72
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E n t s te h u n g s z u s a m m e n h ä n g e d e r C a s t a- G e m ä l d e Über Auftraggeber, Besitzer, Ausstellungsorte7 der Serien und ihre zeitgenössischen Betrachter ist wenig bekannt, ebenso über ihre ursprüngliche Lesart. Auch wegen der unklaren Entstehungszusammenhänge eröffnet sich heutigen Betrachtern ein weites Feld für Interpretationen. Eine von diesen liegt bereits in der heutigen Bezeichnung »CastaGemälde«. Damit wird eine direkte Referenz zum sogenannten CastaSystem bzw. Casta-Gesellschaft (Sociedad de Castas) hergestellt. Eine Betrachtung dieses Systems kann Einblicke in die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dynamiken geben, vor deren Hintergrund die Gemälde im 18. Jahrhundert entstanden. Die sich in Mexiko zunehmend herausbildende ›gemischte‹ Bevölkerung zeigte, dass die Trennung der kolonialen Gesellschaft in eine República de Indios und eine República de Españoles in der Praxis unrealistisch war. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wird diese z.B. in Edikten und Gesetzen folgendermaßen aufgelistet: »Mestizen, Mulatten, Zambos [Kinder von Schwarzen und Indigenen] und die anderen Castas«, wie Estenssoro Fuchs aufführt (2000: 76). Der Begriff »Casta« steht hier im Sinne von »usw.« für die nicht weiter differenzierten ›Gemischten‹. Oftmals wird (heute) die gesamte damalige ›gemischte‹ Bevölkerung unter dem Begriff Castas zusammengefasst (Valdés 1978: 4). Diese ›gemischte‹ Bevölkerung sollte mit speziellen Begriffen klassifiziert werden. Bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts sind folgende offizielle Bezeichnungen dokumentiert, die auf die Herkunft bzw. auf die Zuordnung der Eltern hindeuten: ›Mestize‹8, für das Kind von ›Spaniern‹ und ›Indigenen‹, ›Mulatte‹, für das Kind von ›Spanier‹ und ›Schwarzen‹, und ›Zambo‹, für das Kind von ›Indigenen‹ und ›Schwarzen‹. Im 17. Jahrhundert kommen die Bezeichnungen ›Kastizen‹, für einen ›hellhäuti-
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Jahrhunderts verschwinden die Bilder vermutlich im Zusammenhang mit dem Verbot der Casta-Bezeichnungen und einem veränderten Zeitgeschmack in den bildenden Künsten (Carrera 2003: 54). Für ausführliche Beschreibungen der Casta-Serien siehe Katzew (1996, 2004) und García Sáiz (1989, 1996). Die Casta-Gemälde waren z.B. im Naturgeschichtlichen Kabinett in Madrid, im Palast des Erzbischofs in Toledo und des Vizekönigs in Mexiko-Stadt sowie in Privathäusern zu sehen (Deans-Smith 2005: 189ff). Die Bezeichnungen der kolonialen Bevölkerung – wie sie u.a. im CastaSystem gebraucht wurden – werden im Folgenden in einfache Anführungsstriche gesetzt; die verwendeten geschlechtsindifferenten Bezeichnungen schließt dabei die männliche und die weibliche Bevölkerung ein. 73
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gen Mestizen‹, und ›Moriske‹, für einen ›hellhäutigen Mulatten‹, hinzu (Katzew 2004: 43f). Mittels des Casta-Systems als einem idealisierten sozialen Klassifikationssystem wurde versucht, die ›gemischten‹ Individuen nach der ihnen zugeschriebenen Herkunft in einer Hierarchie zu verorten – zwischen ›weißen Spaniern‹ in sozialen Spitzenpositionen sowie ›Indigenen‹ und ›Schwarzen‹ in untergeordneten Positionen (Chance/Taylor in Katzew, 2004: 43). Die Herleitung dieser sozialen Abstufung wurde mit einer unterschiedlichen Calidad (Status) erklärt, die mit verschiedenen sozialen Kategorien verbunden wurde. In die Vorstellung von Calidad einer Person fließen allgemeine Reputation, Tätigkeit, Reichtum, legitime Geburt, Ehre und Wohnort ein (McCaa in Katzew 2004: 45). Danach waren es die sozialen, kulturellen und ökonomischen Faktoren, wie auch Sprache und Kleidung, die die Einordnung in eine der Kategorien ermöglichten, und weniger die äußerlichen Merkmale wie Haut- und Haarfarbe (Seed 1982: 574).9 Keines dieser Kriterien allein konnte Calidad bestimmen. Zwar wurde zumeist versucht, bereits mit der Geburt über den Eintrag in unterschiedliche Kirchenbücher für ›Spanier‹, ›Indigene‹ oder ›Castas‹ das Neugeborene in eine Kategorie einzuschreiben. Jedoch konnte sich diese im Lauf des Lebens ändern, z.B. durch einen bestimmten ausgeübten Beruf, durch Heirat, oder auch nur durch die soziale Wahrnehmung in Folge eines Kleidungswechsels (Estenssoro Fuchs 2000: 96; Valdés 1978: 182f; Schwartz 1995: 193). Ebenso variieren die an den Gerichtshöfen verwendeten Kriterien der Klassifizierung, da es z.B. in der Gesetzgebung keine einheitliche und allgemein anerkannte Definition gab (Kusnesof 1995: 165f). Für die Mehrheit der Bevölkerung von Mexiko-Stadt scheint dieses System auf jeden Fall eine geringe Rolle gespielt zu haben (Cope 1994: 55ff). Die Calidad als ›Spanier‹ wurde u.a. über den Nachweis der ›Reinheit des Blutes‹ (limpieza de sangre)10, also über die Abstammung von 9
Der Begriff der ›Rasse‹ scheint sich zur Unterscheidung von Bevölkerungsgruppen aufzudrängen. Erst im späten 18. und 19. Jahrhundert wird er jedoch im Sinne ›objektiver‹, ›unveränderlicher‹ und mit der Geburt determinierter äußerlicher Merkmale sowie (Charakter-) Eigenschaften zur Hierarchisierung sozialer Kategorien herangezogen (vgl. hierfür z.B. Immanuel Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, 1798). In der Entstehungszeit der Casta-Gemälde erfolgten die Zuordnungen über Calidad, und gerade diese soziale Konstruktion von Zugehörigkeit ist es, die hier im Vordergrund stehen soll. Der Begriff der Rasse wird deshalb bewusst nicht verwendet. 10 ›Blut‹ wurde in der damaligen Zeit metaphorisch im Sinne eines ›Medium‹ für die Weitergabe von Eigenschaften zwischen Generationen verwendet 74
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›spanischen‹ Vorfahren bestätigt. Das im Jahre 1570 in Neu-Spanien eingerichtete Inquisitionstribunal erstellte diese Nachweise, die für den Zugang zu Privilegien und Posten in der kolonialen Verwaltung notwendig waren (Schwartz 1995: 194). Dafür wurden auch Zeugenaussagen herangezogen. Die Limpieza-Nachweise könnten u.a. deshalb bedeutsam geworden sein, weil es in den Amerikas bis zum Jahr 1700 keine Standesregister gab, in denen die Calidad als ›Spanier‹ festgehalten und somit formal durch die Krone anerkannt wurde (Frutta 2002: 224). Der spanische König konnte zudem den Status des ›reinen Blutes‹ über die sogenannten Lizenzen Gracias al Sacar anerkennen, wobei in den Anträgen deutlich wird, dass die Herkunft eben nur ein Kriterium für die damit assoziierte Calidad ist (vgl. hierzu Twinam 1999). Der Nachweis der Limpieza de Sangre war bedeutsam für die Mobilität in den oberen sozialen Schichten. Insbesondere war es für ›gemischte‹ Personen wie den ›Mestizen‹ erstrebenswert, diese Nachweise zu erhalten, um so in die Kategorie der ›Spanier‹/›Kreolen‹11 integriert zu werden. Dieser Nachweis erwies sich zugleich als idealer Filter für ›Neuzugänge‹ in diese Schicht (Frutta 2002: 228ff). Gerade für die ›Kreolen‹, die zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise selbst 20-40 % ›gemischter‹ Herkunft, d.h. Nachkommen von ›Indigenen‹ und/oder ›Schwarzen‹ waren (Kusnesof, 1995: 155), wurde der Nachweis der Calidad zum Abgrenzungsinstrument in der kolonialen Gesellschaft.
C a s t a- D i sk u r s Auch gegenüber der spanischen Krone wollten sich die ›Kreolen‹ anscheinend als ›unvermischt‹ darstellen, um damit der von Spanien ausgehenden Geringschätzung der ›Vermischung‹ in den Kolonien zu begegnen (Schwartz 1995: 194). Die Abgrenzung der ›Kreolen‹ von der ›gemischten‹ Bevölkerung Neu-Spaniens bildete womöglich einen Hintergrund für das Casta-System. In welchem Maße es überhaupt durchgesetzt wurde, ist heute umstritten (Cope 1994: 163). Die Verwendung von zwischen den Castas differenzierenden Bezeichnungen ist eine Form der Anwendung dieses Systems. Diese Bezeichnungen finden sich u.a. in den Bildinschriften der Gemäldeserien wieder. Genannt sind dort Mulatte, Mestize, Spanier und India (vgl. Abb. 1 und 2), deren jeweilige Darstellung der ihnen zugeschriebenen Calidad folgt. Andererseits ist auch die Visualisierung von Begriffen zu sehen, die keine Entsprechung in diesem (Kusnesof 1995: 160). Für die Übertragung der spanischen Doktrin ›Reinheit des Blutes‹ auf Hispanoamerika, vgl. Stolcke in diesem Band S. 37-68. 11 Als ›Kreolen‹ verstanden sich in Amerika geborene ›Spanier‹. 75
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›System‹ haben (vgl. Abb. 2). Es handelt sich um Begriffe, die auch in der zeitgenössischen Literatur auftauchen (Katzew 2004: 44). Bleib’ in der Luft oder Weiß-Gefleckter verweist dabei vermutlich auf eine unbestimmte ›gemischte‹ Herkunft. Diese Bezeichnungen erlangen jedoch erst im Zusammenhang mit der Darstellung als arme Straßenhändler Bedeutung: Personen, die als Straßenhändler tätig waren, scheinen generell als ›Gemischte‹ abgewertet sowie deutlich von der sozialen Kategorie der ›reinen‹ ›Kreolen‹ abgegrenzt worden zu sein (García Sáiz 2008). Obgleich der Bezug zu dem Casta-System über die Bezeichnungen für die ›gemischte‹ Bevölkerung hergestellt werden kann, ist damit noch nicht klar, mit welchem Ziel diese Gemälde, die den Prozess der Mestizaje abbilden, geschaffen worden sind. Diese Abgrenzungsbestrebungen können auch im Kontext zeitgenössischer politischer Veränderungen und ideengeschichtlicher Entwicklungen gesehen werden. Die schließlich in die Aufklärung mündenden Diskurse neuer Naturbetrachtungen und Gesellschaftsideen strebte nicht nur die Klassifizierung und Systematisierung der Natur an, sondern auch die Beschreibung sozialer Ordnungen. Dies hat auch für die Betrachtung der ›Vermischung‹ in den spanischen Kolonien Bedeutung. So fanden sich die ›Kreolen‹ am Anfang des 18. Jahrhunderts zunehmend einer ›wissenschaftlichen‹ Rhetorik ausgesetzt, die eine ›Minderwertigkeit‹ gegenüber den Europäern herleitete (DeansSmith 2005: 176). Das Sammeln, Bewerten und Einordnen wurde zu einem Faszinosum europäischer Kultur, naturgeschichtliche Sammlungen (oft in Form von Raritäten-Kabinetten) eroberten die Höfe. Die Spanische Krone schickte Aufforderungen an die Kolonien, ›interessante Objekte‹ für derartige Sammlungen bereitzustellen. Die Sammlungen boten Spanien wiederum die Möglichkeit zur Teilhabe an der »Kultur der Kuriositäten« im europäischen Kontext. Daher können sie durchaus auch im Sinne der Zurschaustellung von Macht verstanden werden (ebd.: 177 ff, 192). Diese Teilhabe war für das in Europa als ›rückständig‹, ›abergläubisch‹ und ›ungehobelt‹ angesehene Spanien wichtig, um eine Position innerhalb der sich etablierenden europäischen Wissenskultur zu erlangen (ebd.: 176). In diesen Sammlungen wurden auch einige der bekannten Casta-Serien ausgestellt (ebd.) und nachweislich in einem Fall explizit für diese angefertigt (Romero de Tejada 2004). Die Casta-Gemälde zeigen im Gegensatz zu zeitgenössischen Berichten ein betont positives Bild der Überseebesitztümer Spaniens.12 Die Bildinhalte der Casta-Gemälde präsentieren natürlichen Reichtum und 12 Die Casta-Gemälde hoben sich in ihrer Darstellung von zeitgenössischen Berichten ab, die die Castas als zu Faul- und Trunkenheit neigende Menschen beschreiben (Deans-Smith 2005: 173). 76
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Geschäftigkeit, wodurch die Kolonien als produktiver Besitz, welcher Spanien zu alter Machtfülle und Ehren zurückführt, vorgestellt werden konnten (Deans-Smith 2005: 175). Vor diesem Hintergrund kann man das offensichtliche taxonomische Interesse verstehen, welches auf die Betonung ›menschlicher Vielfalt‹ zielte (Katzew 2004: 203) Zugleich kamen die Abbildungen von typischen Naturprodukten wie auch der Vielfalt der Bevölkerung den Vorstellungen der Europäer vom ›Exotischen‹ entgegen. Die Darstellungen der Fülle und des Reichtums der Kolonien können wiederum aus Sicht der Kreolen als Ausdruck ihres Stolzes über das ›Eigene‹, also über das von ihnen in den Kolonien Geschaffene, gelten (Katzew 1996: 114).13 Die Präsentation von Ordnung und festen Hierarchien zeigt das von den Kreolen kommunizierte Idealbild ihrer Gesellschaft. Die von ihnen anscheinend angestrebte Abgrenzung zu den ›gemischten‹ Bevölkerungsgruppen ist auf den Gemälden deutlich herauslesbar (García Sáiz 2008; Katzew 2004: 63). Doch gerade diese Darstellung der ›Vermischung‹ forderte auch zeitgenössische Kritik heraus. Unter den wenigen dokumentierten Reaktionen sticht die des Theologen Andrés de Acre y Miranda hervor. Er schreibt im Jahre 1746 an Juan José Eguiara y Eguren, den Rektor der Universität von Mexiko, dass auf den Gemälden »die nützlichen, aber nicht die noblen Köpfe« gemalt sein würden und somit ein Bild nach Spanien geliefert würde, »das uns schadet, nicht das uns nützt; das uns schändet, nicht das uns adelt« (zitiert aus Castro Morales 1983: 680f).
Z w e i t e C o n q u i st a u n d s o z i a l e D y n a m i k e n Eine Herausforderung der Stellung der ›Kreolen‹ ergibt sich auch durch die seit 1763 durchgeführten Bourbonischen Reformen, die u.a. die Tributpflicht neu regelten. Die zuvor davon befreiten ›Kastizen‹ und ›Mestizen‹ mussten nun auch Tribute zahlen. Dafür wurden Zensusdaten aufgenommen; die Herkunft und die damit verbundene Kategorisierung rückten so in den Vordergrund. Das Hauptziel dieser Reformen lag in der Modernisierung Spaniens. Finanziert werden sollte diese über die Steigerung der Einnahmen aus den Kolonien. In diesem Zusammenhang wurden seit 1750 wieder vermehrt Spanier für Verwaltungsposten in die Kolonien entsandt. Das bedeutete einen direkten Angriff auf die Position und den Status der ›Kreolen‹, so dass nicht ohne Grund diese Reformen auch als zweite Conquista bezeichnet werden, die im Gegensatz zu der 13 Auf den Bildern wird nicht zwischen Spanier/innen und Kreol/innen differenziert, was die Annahme, die Gemälde wurden sowohl für ›spanisches‹ als auch ›kreolisches‹ Publikum geschaffen, bestärken würde (ebd.: 110). 77
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ersten nicht mehr vorrangig die ›indigene‹ Bevölkerung, sondern die ›Kreolen‹ betraf (König 2006: 108ff, 116ff). Gleichzeitig wurde durch eine zunehmende soziale und ökonomische Mobilität nicht nur die Wirtschaftsstruktur verändert, sondern auch die oftmals mit dieser verbundenen Calidad (Seed 1982: 602): Die Bevölkerung von Mexiko-Stadt wächst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts stark an (Carrera 2003: 41). Aufgrund von Missernten erfolgte eine massive Zuwanderung von ›Indigenen‹, die in den zuvor v.a. ›Spaniern‹ vorbehaltenen Wohnvierteln unterkamen (Seed 1982: 575f). Zudem nahmen Heiraten zwischen Angehörigen verschiedener Bevölkerungsgruppen zu, wie z.B. die Untersuchung der Gemeinde von El Sagrario in Mexiko-Stadt zeigt (Valdés 1978: 36-45). Spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts war eine strikte sozio-ökonomische Trennung zwischen Castas und ›Kreolen‹ illusorisch geworden (Seed 1982: 569). Auf den Casta-Gemälden der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird für die Darstellung der unterschiedlichen Castas noch auf äußere Merkmale wie Haut- und Haarfarbe zurückgegriffen, auf den späteren Gemälden werden diese über die Calidad differenziert (Carrera 2003: 102). Beides ist jedoch zur jeweiligen Entstehungszeit von der sozialen Realität überholt.
Resümee Dass die Konstruktion eines ›Selbst‹ der ›Kreolen‹ nur durch Abgrenzung zu den ›Anderen‹ in der Kolonie erfolgen konnte, lässt sich begründet annehmen. Diese Differenz war kenntlich zu machen, um symbolisch den ›gemischten‹ Anderen ab- und auszugrenzen (Hall 2004 [1997]: 120). Dafür wurde auf Formen der Stereotypisierung zurückgegriffen, die Menschen auf einige wenige Zuschreibungen bzw. Eigenschaften wie Aussehen und Tätigkeiten reduzieren sollten, die als mit der Geburt festgeschrieben bzw. vorbestimmt angesehen wurden (ebd.: 143ff). Durch Wiederholung dieser Stereotype sollte der ›Andere‹ erkennbar werden und bleiben (Bhabha 1994: 66). Taxonomische Bezeichnungen, die auf den Gemälden visualisiert wurden, bündelten diese Differenz (Mirzoeff in Deans-Smith 2005: 184). Die Inschriften der Gemälde sind dabei von fundamentaler Bedeutung, fixieren sie doch diese Differenz, die visuell auf den Bildern hergestellt wurde. Die Beantwortung der Eingangsfrage, in wessen Interesse es gelegen haben könnte, diese Bilder zu schaffen bzw. diese zu fördern und zu verbreiten, gestaltet sich äußert komplex, und die aufgeführten verschiedenen zeit- und ideengeschichtlichen Entwicklungen spielen hier zusammen. Der Beitrag bildet in diesem Sinne nur eine Reflexion über den ge-
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schichtlichen Hintergrund, vor dem die Entstehung der Gemälde zu lesen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um einen Versuch der ›Kreolen‹ handelt, anhand von Zuschreibungen ihrer ›Reinheit‹ ihre privilegierte gesellschaftliche Position gegenüber der restlichen ›gemischten‹ Bevölkerung zu bekräftigen. Für dieses Ziel wurden Darstellungen in den Gemälden, die zwar Aspekte der damaligen sozialen Realität aufgreifen, funktionalisiert. Somit wird die Vorstellung einer idealisierten hierarchischen Gesellschaft geschaffen, in der jede Bevölkerungsgruppe eine bestimmte soziale und ökonomische Position innehat und die der ›Kreolen‹ bestärkt wird. Aus dieser Sicht erscheint es wohl selbstverständlich, dass von einem Bleib’ in der Luft und einer Mulattin ein Weiß-Gefleckter geboren wird.
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Abbildungen Abb. 1: Andrés de Islas: No. 1 De Español, ê India; nace Mestizo, 1774, Öl auf Leinwand, 75 x 54 cm, Museo de América/Madrid. Abb. 2: Andrés de Islas: No. 13 De Tente en el Aire, y Mulata; nace Albarasado, 1774, Öl auf Leinwand, 75 x 54 cm, Museo der América/Madrid.
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BLACK, WHITE, OR FAERIE FOLK? L O U I S I A N A S K R EO L E N Z W I S C H E N E R I N N E R U N G UND VERGESSEN NINA MÖLLERS »Supposedly, Creoles can be found in and around New Orleans. I have never met one and suspect they are a faerie folk, like leprechauns, rather than an indigenous race« (Richman 2006). Mit diesem Satz, veröffentlicht in der November-Ausgabe 2006 des Magazins GQ, löste der preisgekrönte US-Gastrokritiker Alan Richman einen Sturm der Entrüstung aus. Vor allem im Internet entlud sich die Wut der Louisianians auf den als ignorant und selbstgefällig wahrgenommenen »Yankee« (vgl. Anderson 2006; Appetites 2006). Die Mehrheit der Kommentator/innen sah seine Äußerungen nicht nur als unqualifizierten Journalismus an, sondern als rassistisch motivierten Angriff auf das ethnische Erbe vieler New Orleanians (vgl. Appetites 2006; Signatures to Creole Petition 2008). Aber hatte Richman eigentlich Recht? Niemand, der sich ernsthaft mit der Geschichte Louisianas1 beschäftigt, würde seine Aussage unterstützen. Doch wer genau die Kreolen sind, darüber wird bis heute gestritten. Auf die seit den 1990er Jahren verstärkt aufkommenden touristischen Werbekampagnen, die aus Sicht vieler Kreolen ihre Geschichte einem aufgeblähten ›Cajun-Label‹2 einverleiben, reagierten Aktivist/innen mit der Gründung des Un-Cajun Committee. Auch andere Organisationen widmen sich der Erhaltung der kreolischen Kultur in Louisiana. 1
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Ursprünglich französischer Besitz, trat Frankreich als Folge des French and Indian War 1763 das Louisiana-Gebiet an Spanien ab. Nach einer kurzen Rückkehr unter französische Herrschaft 1800, erwarben die USA im sogenannten ›Louisiana Purchase‹ von 1803 das Gebiet, das im Norden bis an die Grenze zu Kanada und im Westen bis in die heutigen Staaten Montana, Wyoming, Colorado und Oklahoma reichte. 1804 wurde der südliche Teil mit der an der Mississippi-Mündung liegenden Hafenstadt New Orleans abgespalten und 1812 als 18. Bundesstaat in die Union aufgenommen. Als Cajuns werden die Nachfahren der aus Nordostkanada stammenden Acadians bezeichnet, die im Zuge des Verlustes der französischen Kolonialgebiete in Nordamerika nach Louisiana flohen. Im Zuge ihrer Ansiedlung dort entwickelte sich die begriffliche Ableitung ›Cajuns‹. 81
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Das in Natchitoches ansässige Creole Heritage Center versucht sich an einer Neudefinition des Kreolenbegriffs und macht dabei deutlich, dass es in der Kreolität Louisianas eine ›dritte Identität‹ zwischen ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ sieht: »Creoles are not one thing or the other, and have lived their lives being misunderstood, misrepresented, and misinterpreted. In the past, under White government, Creoles were not allowed to be an equal part of society. Blacks, free and slaves, did not feel Creoles were part of their world either. Because of this rejection, Creoles had a strong bond with one another and had to create their own world and culture« (Creole Definition 2006).
Kreolische Identität wird hier im Sinne Stuart Halls als eine ›dritte‹ Identität gesehen, die nicht nur die Kreolisierung unterschiedlicher Kulturelemente meint, sondern auch eine ethnische Vermischung einschließt (Hall 2003: 28). Gegen die Auffassung, dass es sich bei den Kreolen um ›rassengemischte‹ Personen handelt, hat sich allerdings auf Seiten ›weißer‹ Kreolen in der Vergangenheit großer Widerstand geregt. Die Geschichte Louisianas ist nach Meinung des afrokreolischen Aktivisten Gilbert E. Martin ein kontinuierlicher Versuch der französischen, spanischen und zuletzt amerikanischen ›Kolonialmacht‹, das farbige Element in der kreolischen Identität ›auszulöschen‹: »The seeds of genocide were planted in Louisiana several generations ago, when a number of whites realized that most of Louisiana’s celebrated culture including its cuisine, is an emanation of the black continent – Africa. So their first genocidal attempt was to distort history and create a white monopoly on the word Creole« (Martin 1986: 1).
Äußerungen wie diese sind zwar in ihrem Wortlaut extrem, stehen aber in der Tradition eines seit über 200 Jahren mit wechselnder Intensität geführten Kampfes um die Deutungsmacht über den Identitätsmarker Creole, der seine Wurzeln in der Kolonialzeit Louisianas hat.
C r e o le i n d e r G e s c h i c h t e L o u i s i a n a s Wesentlicher Teil der kolonialen Welt waren – so die mythologisierenden Darstellungen in der historischen Reiseliteratur – laxere Moralvorstellungen der französischen und spanischen Siedler, die im 18. und 19. Jahrhundert dazu beitrugen, dass in Louisiana und speziell im städtischen Milieu von New Orleans eine ›gemischtrassige‹ Gruppe heran-
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LOUISIANAS KREOLEN ZWISCHEN ERINNERUNG UND VERGESSEN
wuchs, die sich zwischen der weißen ancienne population3 und der vorwiegend aus Afrika stammenden Sklavengesellschaft positionierte. Diese Konstellation und die aus ihr erwachsenen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene werden von der Touristikbranche heute gerne pauschal als ›kreolisch‹ bezeichnet. Weil es dem Tourismus dient und das Image der Stadt als ›Big Easy‹ und ›Orient‹ der USA nach außen trägt, wird alles mit dem Label Creole versehen: kreolische Früchte, kreolisches Essen, kreolische Leichtigkeit, kreolische Bevölkerung (vgl. Gotham 2007). In der kolonialen Welt Louisianas tauchte die Bezeichnung erstmals Ende des 18. Jahrhunderts auf (Sullivan 1983: 19-20). Bei dieser frühen Verwendung finden sich keine Hinweise darauf, dass die ›Rassenzugehörigkeit‹ der Bezeichneten eine Rolle spielte. Sie wurde vielmehr als Synonym für ›in Louisiana einheimisch‹ benutzt. Im 19. Jahrhundert wurden als Kreolen vornehmlich diejenigen Louisianians bezeichnet, die von den ursprünglichen Siedlerfamilien aus Frankreich und Spanien abstammten. Ähnlich wie in den europäischen Kolonien der Karibik, bezeichnete man lange Zeit sowohl weiße als auch farbige Louisianians als Kreolen. Es handelte sich zunächst um einen ›rassenübergreifenden‹ Begriff, der auf dem gemeinsamen kulturellen Erbe und der Herkunft basierte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dann als Erstes die Sklavenbevölkerung ausgeschlossen. Während man mit dem Adjektiv weiterhin recht freizügig umging, blieb der als Nomen gebrauchte Identitätsmarker fortan der weißen und farbigen kreolischen Gruppe vorbehalten. Mit der fortschreitenden ›Amerikanisierung‹ in Richtung einer bipolaren ›Rassenordnung‹ versuchte die weiße Bevölkerung dann, auch das Nomen Creole ›weiß zu waschen‹ und die Free People of Color oder Creoles of Color – wie sie sich als Reaktion darauf bald nannten – aus der kreolischen Identitätsgemeinschaft auszuschließen.
C r e o le s o f C o lo r – E r i n n e r t e I d e n t i t ä t Die Afrokreolen bildeten seit Ende des 18. Jahrhunderts die Mittelschicht zwischen der weißen Hegemonialgesellschaft, die sich aus ehemaligen französischen und spanischen Kolonialbeamten sowie zugewanderten weißen Plantagenbesitzern und Händlern zusammensetzte, und der steigenden Zahl an Sklav/innen. Ihre Wurzeln lagen in der plaçage, einer 3
Ancienne population bezeichnet die zur Zeit des Louisiana-Erwerbs im Gebiet ansässige Bevölkerung, die ursprünglich französischer und spanischer Herkunft war. Darüber hinaus zählen zu ihr diejenigen Familien, die aufgrund ihres kulturellen Erbes, ihrer sozialen Position und ihres katholischen Glaubens dieser Bevölkerung sehr ähnlich waren. 83
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institutionalisierten Form eheähnlicher Beziehungen zwischen weißen Männern und farbigen Frauen, die von der Gesellschaft und der Kirche weitestgehend toleriert wurden. Begünstigt wurde die Entwicklung der afrokreolischen Gruppe durch die Freilassungsgesetze der spanischen Kolonialmacht im 18. Jahrhundert und die Einwanderung von Farbigen aus St. Domingue zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ihre gesellschaftliche Mittelstellung basierte auf Rechten, die ihnen von den Kolonialmächten zugesprochen worden waren. Da ihnen im Besitzerwerb keinerlei Beschränkungen auferlegt wurden, sicherten sich viele von ihnen einen beachtlichen Wohlstand, den sie an ihre Nachfahren vererbten. Darüber hinaus stand ihnen das Recht zu, vor Gericht gegen Weiße auszusagen und selbst zu klagen. Als Mitglieder der katholischen Kirche konnten sie zudem alle heiligen Sakramente empfangen – mit der Einschränkung einer ›rassengemischten‹ Eheschließung –, ihren Beruf frei wählen und Waffen tragen. Die Creoles of Color konstruierten ihr Selbstverständnis in Reaktion auf die Fremdzuschreibungen anderer Gruppen, allen voran der weißen Dominanzkultur. Dabei bekämpften sie teilweise an sie heran getragene Identitätsentwürfe, entwarfen neue oder projizierten sie auf andere Gruppen wie die Sklavenbevölkerung. Sie oszillierten zwischen einer afrokreolischen Identität, die ihre Kraft aus ihrem französischen Erbe, ihrem Katholizismus, ihrem wirtschaftlichen Status und ihrer Verwandtschaft zur hegemonialen weißen Gruppe schöpfte, und einer afroamerikanischen Identität, die neben ihrer Zugehörigkeit zur amerikanischen Nation auch ihre Gemeinsamkeiten mit der übrigen, zumeist versklavten, farbigen Bevölkerung des Südens postulierte (vgl. Möllers 2008). Mit dem Ende des Bürgerkriegs und der Verleihung der Bürgerrechte4 an die ehemaligen Sklav/innen geriet diese prekäre gesellschaftliche und kulturelle Identität der Creoles of Color ins Wanken. Die weiße Hegemonialgesellschaft war bemüht, die Deutungsmacht über den Identitätsmarker Creole auszuüben. Die Afrokreolen verloren aus weißer Sicht den Anspruch, zur kreolischen Identitätsgemeinschaft zu gehören; sie galten nach der fortan postulierten one-drop-rule5 aufgrund ihrer ethnischen 4
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Der Bürgerkrieg endete nach vier Jahren mit der Kapitulation der konföderierten Südstaaten in Appomattox Court House in Virginia im April 1865. Der 13. Verfassungszusatz von 1865 schaffte die Sklaverei ab, der 14. Zusatz (1868) verlieh den ehemaligen Sklav/innen das Bürgerrecht und der 15. Zusatz (1870) garantierte ihnen das uneingeschränkte Wahlrecht. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA gebräuchliche Regel, die all diejenigen der ›schwarzen‹ Bevölkerung zuordnete, die ›einen Tropfen schwarzes Blut‹ hatten. Dies bedeutete, dass jegliche afrikanische Abstammung, egal wie weit zurückliegend, bestimmend war. 84
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Mischung genauso als ›Schwarze‹ wie die Freigelassenen. In dem Versuch, die dreischichtige kreolische Gesellschaftsstruktur in das bipolare amerikanische Rassenmuster zu zwängen, schrieben weiße Louisianians wie der Politiker und Historiker Charles Etienne Arthur Gayarré die kreolische Identitätsgeschichte um. Für ihn war gegen Ende des 19. Jahrhunderts klar, dass Creole schon immer ›weiß‹ bedeutet hatte: »Therefore to be a criollo was to possess a sort of title of honor – a title which could only be the birthright of the superior white race. This word, by an easy transition becoming creole, […] was adopted by the French for the same purpose – that is, to mean or signify a white human being created in their colonies of Africa and America – a native of European extraction, whose origin was known and whose superior Caucasian blood was never to be assimilated to the baser liquid that ran in the veins of the Indian and African native« (Gayarré 1885: 1-2; vgl. New Orleans Daily Picayune, 22. Dezember 1884).
Hatten die Afrokreolen in der Antebellumzeit wirtschaftliche Macht inne gehabt und im politischen Vakuum nach dem Bürgerkrieg wichtige politische Ämter ausgefüllt, so fanden sie sich seit der Restauration Ende der 1870er Jahre in einer Gesellschaft wieder, die sie allenfalls duldete, ihnen aber nicht mehr die Rechte zugestehen wollte, die sie über lange Zeit besessen hatten. Die Aberkennung der Zugehörigkeit zur kreolischen Identitätsgemeinschaft stellte nur den Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die bereits 1803 mit der Übernahme des Louisiana-Gebietes durch die USA begonnen hatte. Der weißen kreolischen Bevölkerung war es seitdem gelungen, sich einen Platz innerhalb der nun verstärkt angloamerikanisch geprägten Gesellschaft zu erkämpfen. Alte Animositäten zwischen Kreolen und Amerikanern waren im Zuge der Niederlage im Bürgerkrieg und der Notwendigkeit eines politischen Neuanfangs in den Hintergrund getreten. Die Creoles of Color allerdings wurden sukzessive aus der ›Meistererzählung‹ des weißen Louisiana herausgedrängt. Gayarré kreierte in seinen historischen Schriften eine kreolische Leitkultur, die sich der Vergangenheit selektiv bediente. Ausblendungen und Vergessen kennzeichnen sie ebenso wie willkürliche Umschreibungen. Während die eigene – weiß-kreolische – Vergangenheit mythologisiert wurde, reduzierte er den Beitrag des ›schwarzen‹ Louisiana zu einer Randbemerkung der Geschichte (Gayarré 1972). Diesem Prozess des Vergessens entgegenzuwirken, war das erklärte Ziel der von Rodolphe Lucien Desdunes im Jahre 1911 veröffentlichten Gruppenbiographie Nos Hommes et notre Histoire (Desdunes 1911). In zwölf Kapiteln wendet sich Desdunes verschiedenen Vertretern seiner Gemeinschaft zu und konstruiert anhand ihrer Biographien eine Geschichte der Creoles of Color, um ihren Platz innerhalb der Gesellschaft Louisia85
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nas zu verteidigen. Desdunes versucht – in den Worten von Birgit Neumann – die »Homogenisierungs- und Naturalisierungstendenzen des dominanten, kollektiv-semantischen Gedächtnisses durch das Zugehörbringen alternativer Erinnerungsversionen zu unterminieren« (Neumann 2003: 65-66). Gleichwohl ist aber auch Desdunes’ Version der Vergangenheit keine objektive. In seiner Fokussierung auf die afrokreolische Erinnerung vernachlässigt er die Erinnerungskultur der Sklavenbevölkerung, mit der seine Gemeinschaft verwandtschaftlich häufig genauso eng verbunden war wie mit der weißen Hegemonialgesellschaft. Darüber hinaus ist Desdunes’ Gedächtnis ›durchlässig‹, wenn er zum Beispiel den Sklavenbesitz der Creoles of Color fast gänzlich verschweigt (Desdunes 1911: 27). Aus Sicht Desdunes’ hatten die Creoles of Color seit der Besiedlung Louisianas einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung ihrer Heimat geleistet. Die gebetsmühlenartig vorgetragenen Verweise auf die Erfüllung militärischer und staatsbürgerlicher Pflichten sollten den gegenwärtigen Forderungen der Gruppe nach vollen Bürgerrechten mehr Schlagkraft verleihen. Desdunes bedient sich in seiner Geschichtsumschreibung ähnlicher Symbole und Stilmittel wie Charles Gayarré. Bei beiden Autoren werden Raum und Zeit miteinander verschmolzen zu einem ›Ursprungsmythos‹ der kreolischen Gesellschaft, der, je nach Sichtweise, die ›rassisch Anderen‹ ein- oder ausschließt. Im Gegensatz zu Gayarrés exklusiver Definition kreolischer Identität propagiert Desdunes in seiner Erinnerungsarbeit einen in weiten Teilen ›rassisch‹ inklusiven Kreolenbegriff. Dabei stützt er sich weniger auf biologistische Inhalte, als auf die Idee eines kulturalistisch definierten Kreolenstatus. Nur selten bedient er sich ›rassisch‹ qualifizierender Zuweisungen wie gens de couleur; im überwiegenden Teil seiner Schrift betont er die Einheit der Kreolen aufgrund des gemeinsamen kulturellen Erbes und nennt sie schlicht la population créole. Es wäre allerdings falsch, von dieser Tatsache abzuleiten, dass Desdunes keine Differenzen in seinem Kreolenbegriff macht. Vielmehr ist sein Differenzdenken ein anderes. Wo Gayarré eine biologistische, auf dem Gegensatz von ›weißer‹ und ›schwarzer Rasse‹ basierende Abgrenzung propagiert, offenbart auch Desdunes’ auf den ersten Blick liberales Kreolenbild eine Differenz. Denn indem er das französisch-kreolische Erbe als konstitutiv für die kollektive Identität der eigenen Gruppe sieht, schließt er den weitaus größeren Teil der farbigen Bevölkerung aus, die protestantisch-angloamerikanisch geprägt war. Am Beispiel von Armand Lanusse, den er als einen der wichtigsten Vertreter der eigenen Gruppe bezeichnet, betont er die Bedeutung nicht nur einer regionalen, sondern vielmehr einer partikularen Identität als Kreole. Indem er diese über alle
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anderen möglichen Identitätsentwürfe stellt, erteilt er einer integrierenden nationalen afroamerikanischen Identität eine Absage: »Lanusse war zuerst ein Louisianian, in etwa so wie ein Bürger Athens mehr ein Athener war als ein Grieche, oder wie der gefeierte Calhoun6 mehr ein Carolinian war als ein Amerikaner. Man könnte sagen, Lanusse prahlte nie damit, ein Amerikaner zu sein. Sein kreolischer Instinkt war bei ihm ausgeprägter als seine Verbundenheit mit dem Titel ›Louisianian‹« (Desdunes 1911: 28; Übersetzung Nina Möllers).
Dass eine solch enge Identitätskonstruktion sich letztlich nicht als tragfähig erweisen konnte für die gleichzeitig von Desdunes formulierten politischen und sozialen Ziele seiner Gruppe, hatte sich seit dem Ende des Bürgerkriegs immer wieder gezeigt. Das Problem von Desdunes’ Versuch, eine Erinnerungsgemeinschaft zu konstruieren, die als Basis für den gemeinsamen Kampf für Gleichberechtigung fungieren konnte, lag in der Unvereinbarkeit seines Differenzdenkens mit der von ihm propagierten Notwendigkeit einer homogenen farbigen Gemeinschaft. Indem er seine Gruppe immer wieder als population und race créole bezeichnete, versuchte er, dem Begriff der ›Rasse‹ den biologischen Unterbau zu entziehen und stattdessen eine Form von Gemeinschaft aufgrund kultureller und sozialer Ähnlichkeiten zu etablieren. Sein Versuch, die Kategorie kulturalistisch zu definieren, verschob allerdings nur die Linien der Differenz, löste sie aber nicht auf. Dies wird deutlich in einem Brief Desdunes’ an den Bürgerrechtler W.E.B. DuBois aus dem Jahre 1907. Darin nahm er Bezug auf dessen Aussage, dass den Farbigen des Südens die Bildung fehle, um an vorderster Front für die Gleichberechtigung zu kämpfen. Desdunes macht hier eine Differenz auf zwischen dem »Latin Negro« und dem »Anglo-Saxon Negro«, wobei Letzterem die Position des Zögerers, des Mitläufers und des Opportunisten zukommt: »The Latin Negro differs radically from the Anglo-Saxon in aspiration and in method. One hopes, the other doubts. Thus we often perceive that one makes every effort to acquire merits, the other to gain advantages. One aspires to equality, the other to identity. One will forget that he is a Negro in order to think that he is a man; the other will forget that he is a man in order to think, that he is a Negro« (Desdunes 1907: 13). 6
John Caldwell Calhoun (1782-1850) war ein einflussreicher Politiker aus South Carolina und Vizepräsident unter den Präsidenten John Quincy Adams und Andrew Jackson. In Reaktion auf dessen Zolltarifgesetz von 1828 formulierte Calhoun seine berühmte »South Carolina Exposition«, in der er sich für das Recht der Staaten aussprach, ein für verfassungswidrig erachtetes nationales Gesetz zu ignorieren. 87
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Desdunes scheiterte letztlich mit seinem Versuch, die ›Meistererzählung‹ Gayarrés umzuschreiben. Nur noch in der gruppenspezifischen Erinnerung konnte in den kommenden Jahren den Leistungen der Afrokreolen gehuldigt werden. Im Zeitalter der institutionalisierten Rassentrennung gelang es den Creoles of Color immer weniger, einen von der Hegemonialgesellschaft anerkannten Identitätsraum und ihre Zugehörigkeit zur kreolischen Gemeinschaft Louisianas zu behaupten.
»I am Creole – You’re crazy«7 K r e o l i t ät z w i sc h e n S e g e n u n d Fl u c h Wie sich heute zeigt, befand sich die kreolische Identität lange nur in einer Art Dornröschenschlaf. Spätestens seit den 1980er Jahren kann man in Louisiana von einer Renaissance der Kreolität sprechen. Wie viel Zündstoff allerdings im 21. Jahrhundert noch immer im Begriff Creole steckt, offenbart sich jedem Interessierten schnell. Als ich 2003 zu Beginn meiner Forschungen – mit der Materie noch unbekannt und angeregt durch mehrere Buchtitel – in einer Anfrage an das Historikernetzwerk H-Louisiana nach Literatur zu den ›Black Creoles‹ fragte, wurde ich mehrfach auf meine ›falsche‹ Terminologie aufmerksam gemacht. A. D. Powell, Aktivistin im ›Interracial Movement‹, schrieb mir: »Creoles are a multiracial ethnic group, just as Hispanics are. Hispanics are not called ›black,‹ even though nearly all of them have African ancestry. Creoles should be respected in the same way. Creoles, like Hispanics, vary in phenotype from European or ›white‹ to African or ›black‹, and every shade and phenotype in between. […] Calling them a ›black‹ group when so many of them are as ›white‹ as you are, is as racist as calling them ›non-Aryan‹« (Powell 2003).
Die ›multiethnischen‹ Kreolen Louisianas kämpfen an vorderster Front für die Abschaffung der one-drop-rule, die zumindest in den Köpfen der US-Amerikaner/innen noch immer dazu führt, dass Menschen mit teilweise farbigem Erbe als ›Schwarz‹ kategorisiert werden. Neuester Höhepunkt dieses Deutungskampfes ist die 2008 von einer Bürgerinitiative ins Leben gerufene »Creole Cultural and Ethnic Recognition, U.S. Census 2010 Resolution«. Darin fordern die Unterzeichner/innen den Kongress auf, das Auswahlmenü ethnischer Identität auf allen kommunalen, staatlichen und nationalen Formularen, vor allem aber im Zensus 2010, um die Kategorie Creole zu erweitern. Die Verfasser verweisen auf den multi-ethnokulturellen Hintergrund der Kreolen, der sich nicht auf die bisher 7
Gerald Conant, vgl. Signatures to Creole Petition (2008). 88
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angebotenen Kategorien reduzieren lässt. Kreolen sind ihrer Meinung nicht Other – diese Kategorie stand ethnisch gemischten Personen bislang zur Verfügung – sondern gehören als integraler Teil zum amerikanischen melting pot. Statt eines negativen Ausschlussverfahrens oder eines notdürftigen ›Zusammenflickens‹ wäre mit der Zensuskategorie Creole erstmals eine positive Identifikation als mixed-race möglich. Der Vorstoß der Kreolen stößt allerdings innerhalb der ethnischgemischten Bevölkerung der USA nicht ausschließlich auf Zustimmung. So wurde das Begehren der kreolischen Gemeinschaft im Internet zum Beispiel mit folgenden Worten kommentiert: »A ›Louisiana Creole‹ category is simply another ›Hispanic/Latino‹ category – what about the rest of us multiracials? The Louisiana Creoles are going to get their escape hatch, while the rest of us are left out to dry? […] In reality, Louisiana Creoles make up such a small insignificant part of the US population, and someone wants to give THEM a block to check off before they give ALL mulattoes one? This is stupid« (Miller 2008).
Dies allein auf interethnische Animositäten zurückzuführen, wäre allerdings zu einfach. Vielmehr geht es hier im Kern um die Verschränkung von ethnischer Identität und Klassenzugehörigkeit. Aufgrund ihrer beispiellosen wirtschaftlichen und sozialen Position im 19. Jahrhundert, war es den Creoles of Color lange gelungen, der Unterdrückung durch die weiße hegemoniale Gesellschaft standzuhalten. Im Zuge der verheerenden Überschwemmungen nach Hurrikan Katrina im Sommer 2005 wurde diese Problematik erneut deutlich. Medien und Öffentlichkeit prangerten den vermeintlichen Rassismus des weißen Establishments an, den sie hinter der schlecht organisierten Hilfeleistung für die tausenden vorwiegend farbigen Gestrandeten entdeckten (Duke/Wiltz 2005; Harris/Carbado 2006). Dabei wurde jedoch meistens außer Acht gelassen, dass es auch innerhalb der farbigen Bevölkerung Louisianas große soziale Unterschiede gibt, deren Wurzeln bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Dass sich das gesellschaftliche Gefüge weitaus komplexer darstellt als in einem einfachen Schwarz/Weiß-Arm/Reich-Muster repräsentiert, wurde besonders deutlich, als Russel L. Honoré zum Leiter der Military Special Task Force in New Orleans ernannt wurde. Der aus Louisiana stammende General, der sich selbst als African American Creole bezeichnet, wurde von verschiedenen ethnischen Gruppen als Leitfigur beansprucht. Wie sehr er das Problem von der sozioökonomischen Zersplitterung der farbigen Gesellschaft personifiziert, zeigt ein Zitat von Katherine Wing: »One of my friends thought that General Honoré was white, until I explained that he was a classic high-yellow black Creole, like my own ancestors. […] The 89
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Creoles still disproportionately account for the black elites of Louisiana. […] You did not see them wading through the floodwaters or stranded at the Superdome. They drove out. The race problem was not just black and white, but also within the historically color-conscious black community as well« (Wing 2006: 132).
In Zeiten viel gepriesener hybrider und kreolisierter Identitäten offenbart sich der Identitätsmarker Creole am praktischen Beispiel als höchst problematisch. In der Theorie verheißt eine kreolische Identität die endgültige Überwindung der ausgrenzenden, essentialistischen, bipolaren Identität des Entweder-oder, die von der one-drop-rule in den USA lange verlangt wurde. Die Kreolen Louisianas könnten somit Vorreiter der Emanzipation ethnisch gemischter Personen werden. Die politische Inanspruchnahme der eigenen Identität ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden. Identitätspolitiken basieren auf der Vorstellung einer kollektiven Identität, deren Existenz sowohl in der theoretischen Wissenschaft als auch in der praktischen Lebenswelt angezweifelt wird. Denn die Kehrseite der Medaille liegt offen für jeden sichtbar da. In ihrem Versuch, die bipolare ›Rassenkategorisierung‹ des amerikanischen Staates zu überwinden, spielen die Unterstützer der kreolischen Zensuskategorie denjenigen in die Hände, die eine Beliebigkeit der Identitäten und ihre Instrumentalisierung vorhersagen. Für Louisiana sehen Kritiker ein Identity-Hopping von African-American zu Creole voraus (vgl. Miller 2008). Die im Zuge des Wirbelsturms Katrina bewilligten finanziellen Mittel für die Bevölkerung Louisianas fänden nur dann ihre rechtmäßigen Empfänger, so die Logik der Resolution für eine kreolische Zensuskategorie, wenn es den Kreolen möglich sei, sich als eigenständige ethnische Gruppe zu identifizieren. Tatsächlich hält auf diesem Wege aber genau jener deutungsmächtige Kategorisierungszwang durch die Hintertür Einzug, gegen den sich die Kreolen schon so lange wehren. Denn wer bestimmt nun über die Zugehörigkeit zur kreolischen Identitätsgemeinschaft? Gibt es keine Einschränkungen, so wird die Kategorie letztlich sinnentleert. Werden allerdings bestimmte ethnokulturelle Charakteristika als zwingender Teil einer kreolischen Identität postuliert, so wird aus einem eigentlich ›rassenübergreifenden‹, inkludierenden kreolischen ein exklusiver Marker. Wie schnell dies geht, beweist die Politik des eingangs erwähnten Aktivisten Gilbert E. Martin. In seinem Versuch, Entschädigungen für den Landverlust der Kreolen im Zuge der aus seiner Sicht unrechtmäßig erfolgten amerikanischen Übernahme des LouisianaGebietes zu erwirken, vertritt er eine Definition des Kreolenbegriffs, die zwar das dualistische Rassenschema hinterfragt, letztlich aber den bereits vorhandenen Identitätsentwürfen nur einen weiteren hinzufügt, der sich 90
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in seiner Abgeschlossenheit ähnlich statisch zeigt wie die Identitätsmuster des 19. Jahrhunderts (Martin 1981). Wir sind, so scheint es, wieder am Anfang angekommen. Zurück bei der Frage: Wer sind eigentlich die Kreolen Louisianas? Vielleicht ist es ja so einfach wie von George Reinecke, Professor für Folklore Studies an der University of New Orleans, formuliert: »It means what a person who uses it[,] thinks it means and the person who receives it accepts that meaning« (Snyder 1989). Es wäre New Orleans zu wünschen, denn Advokaten von allzu starren Identitätspolitiken laufen Gefahr, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: dass ihre Stadt und ihre Kultur – mögen sie sie als kreolisch, afroamerikanisch oder feenhaft bezeichnen – fast 100 Jahre nach Desdunes’ Tod tatsächlich droht, unterzugehen.
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SOZIALE DISTINKTION IN DER US- A M E R I K A N I SC H E N M U S I K G E S C H I C H T E : D I E E N T S T E H U N G D E R B A R B E R SH O P H A R M O N Y FRÉDÉRIC DÖHL Musik erweist sich in vielerlei Hinsicht als ein Austragungsort für Prozesse sozialer Distinktion, ein Abgrenzungsinstrument neben vielen im Spiel mit den »feinen Unterschieden« (vgl. Bourdieu 1982). Auch demjenigen, der dem Bereich der Musik eher fernsteht, erschließt sich das etwa anhand des Image, das der Klassischen Musik nach wie vor nachhängt: Eine elitäre Veranstaltung für sogenannte gebildete Schichten, wo das dazugehörige – und bei genauem Hinsehen meist recht oberflächlich bleibende – Wissen sowie der Besuch entsprechender öffentlicher Veranstaltungen bis heute nicht ausschließlich künstlerischen Bedürfnissen dient, sondern Statussymbol ist. Gewiss, nicht alles und alle lassen sich in einen Topf werfen und jede Zuspitzung lässt Widerspruch im Einzelfall zu. Aber die engagierten Initiativen der jüngeren Vergangenheit seitens bedeutender Musikinstitutionen wie den Berliner Philharmonikern oder aus Reihen der Phonowirtschaft, mittels neuer Formate wie Tanzprojekten mit Jugendlichen und Amateuren (»Education-Programm«) oder Clubkonzepten (z.B. die »Yellow Lounge« der Deutschen Grammophon) die über Jahrzehnte und Jahrhunderte geformten Grenzen einzureißen, um neue Schichten von vor allem jungen Interessenten – und potentiellen Kunden – für diesen Gegenstand zu gewinnen, macht offenkundig, auf welch breiter Front dieser Zustand diagnostiziert ist.1 Zu fragen »Lieben Sie Brahms?«2 war schon immer mehr als ein Filmzitat und Ausdruck ästhetischer Vorlieben. Immer schwingt dabei die Positionsbestimmung »Ich kenne Brahms. Kennst Du ihn auch?« mit,
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Vgl. »Education-Programm« der Berliner Philharmoniker (2008). Es wurde 2002 von Simon Rattle initiiert. Zur Reihe »Yellow Lounge«, vgl. Universal Music (2008). Die Reihe besteht seit 2001. »Lieben Sie Brahms?« ist der deutsche Titel des französischen Romans »Aimez-vous Brahms?« von Françoise Sagan, welcher 1961 mit Ingrid Bergman, Yves Montand und Anthony Perkins verfilmt wurde und in Deutschland unter diesem Namen zu sehen war. 93
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verbunden mit den drohenden, unausgesprochen bleibenden sozialen Konsequenzen für den Fall, dass der Gegenüber sich als unwissend, gar als gleichgültig erweist. Die Frage jener »feinen Unterschiede« ist jedoch beileibe keine, die auf ein vermeintliches Gefälle zwischen E- und UMusik beschränkt wäre. Dieses Urteilsschema wird gleichermaßen innerhalb der Ränge Klassischer Musik wie von Hörern von Jazz, Pop oder Heavy Metal gebraucht, um Distanz innerhalb des eigenen Bereichs herzustellen. Wenn man bedenkt, mit welcher Grundsätzlichkeit und welchem Absolutheitsanspruch hier regelmäßig geurteilt wird (Geiger 2005), muss man sogar der Vermutung nachhängen, dass gerade das Feld der Musik sich in besonderer Weise als Ort sozialer Distinktion eignet, nicht zuletzt dank der Abstraktheit des Gegenstandes und der schwer objektivierbaren Maßstäbe für Qualität. Was für die Welt der Musik zu konstatieren ist, gilt für die sie begleitende Musikhistoriographie in gleicher Weise. Soziale Distinktion tritt hier in vielerlei Gewand in Erscheinung und nicht immer sind die gewählten Mittel und Methoden »fein«. Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, jede Variante von Überlegenheitsdenken ist ein treuer Begleiter der Musikgeschichte. Wenn wir uns nun jener musikalischen Historie der Vereinigten Staaten im Allgemeinen und dort der Entstehung der Barbershop Harmony im Speziellen zuwenden wollen, dann geschieht dies also nicht, um einen Sonderfall vorzuführen, sondern vielmehr wegen des exemplarischen Charakters, der jenem Gegenstand in dieser Hinsicht zukommt.
B a r b e r s ho p H a r m o n y : E i n S ti l v o k al e r M e h r s ti m m i g k e i t u n d s e i n s o z i o k u l t u r e l l e s S t e r e o t yp Barbershop Harmony ist eine Form vierstimmiger A-cappella-Musik, die heutzutage von gut 70.000 institutionell organisierten Sängern und Sängerinnen gepflegt wird. Die Szene ist relativ geschlossen, bei ausgesprochener Lebendigkeit auf ein System von Gesangswettbewerben hin konzentriert und hat ihr Zentrum in den Vereinigten Staaten, wo dieses Genre auch einst entstanden ist. Das, was verkürzt unter dem Label »Barbershop« praktiziert wird, unterliegt strengen Normen, die auf Initiativen innerhalb der zentralen Organisation dieser Subkultur, der 1938 gegründeten Barbershop Harmony Society, in den 1940er Jahren zurückgehen.3 3
Der Internetauftritt der Barbershop Harmony Society, die unter dem Namen »Society for the Preservation and Encouragement of Barber Shop Quartet Singing in America«, kurz SPEBSQSA, gegründet wurde, findet 94
ENTSTEHUNG DER BARBERSHOP HARMONY
Alle anderen musikalischen Konzepte und Praktiken, die seit den 1890er Jahren unter dem Terminus »barber shop« erfasst waren, sind hierneben Schritt für Schritt bis in die 1960er Jahre hinein versandet, so dass die Definition der Barbershop Harmony durch jene Organisation heute das wiedergibt, was einzig unter diesem Begriff im Bereich der Musik gepflegt wird (vgl. Abbott 1992; Henry 2000; Averill 2003; Döhl 2009). Alle musikalischen Elemente, die in diesem Stil zum Einsatz kommen, dienen dazu, das Klangideal des sogenannten Barbershop Sound zu realisieren: »The production of expanded sound [= Barbershop Sound] is the single most important aesthetic consideration in barbershop singing« (Averill 1999: 49). Diese ästhetische Maxime, die sich als primäres Kriterium für die Bewertung der musikalischen Qualität einer Darbietung in diesem Genre erweist und in vielerlei Hinsicht in ihrer Bedeutung für die Szene als soziokulturell überhöht, fast schon mystifiziert angesehen werden muss, gründet auf einem altbekannten akustischen Phänomen und ist wissenschaftlich präzise beschreibbar (vgl. Averill 1999).4 Dieses Phänomen ist nicht mit dem Barbershop Sound, für den es in der Sprache der Subkultur zahllose Synonyme gibt, deckungsgleich.5 Vielmehr nimmt das hier verfolgte Klangideal von jener Basis seinen Ausgang und wird durch zahlreiche weitere Regeln modifiziert und damit als eigenständiges Genre individualisiert, ist das Ausnutzen des Ausgangsphänomens doch mitnichten stilspezifisch, sondern seit Jahrhunderten weithin verbreitet in
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sich unter folgender Adresse: http://www.barbershop.org. Zu ihrer Geschichte siehe Hicks (1988), Henry (2000), Averill (2003) und Döhl (2009). Erklingen mehrere Stimmen in reiner, nicht temperierter Intonation (ungleich etwa zu einem Klavier), werden alle Töne so gesungen, dass sie für sich möglichst obertonreich erscheinen, ergeben weiter die Intervalle bestimmte Akkorde (insbesondere Durdreiklänge und Durdreiklänge plus kleiner Septime) und werden schließlich alle anderen Parameter wie z.B. die Aussprache des Textes, der für alle identisch sein muss, angeglichen und damit die Homogenität des Klangs schwächende Elemente vermieden, addiert das menschliche Ohr die Frequenzen gemeinsamer Obertöne der einzelnen Stimmen derart, dass es daraus zusätzliche Stimmen »errechnet«. Treffend wird in der Terminologie der Subkultur dieses Phänomen u.a. mit dem Begriff »The Fifth Voice« bezeichnet, was präzise beschreibt, was wahrnehmungsseitig passiert, bedenkt man, dass in der Barbershop Harmony stets vierstimmig gesungen wird. Es entsteht dabei die Wirkung eines besonders vollen, strahlenden Ensembleklangs. Gebräuchliche Synonyme sind z.B. »Ringing Chords«, »Lock«, »Ring«, »Bell Tones«, »The Fifth Voice« oder »Expanded Sound«. 95
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der Musik.6 Das »Contest and Judging Handbook« der Barbershop Harmony Society, in dem die Stilbestimmung für die jene Subkultur prägenden Gesangswettbewerbe vorgenommen wird, ist annähernd 200 Seiten stark (vgl. Barbershop Harmony Society 2008). Das illustriert trefflich, dass man im Fall der Barbershop Harmony also einen klar definierten und präzise abgrenzbaren musikalischen Gegenstand vor sich hat. Der Stil hat hierneben als soziokulturelles Stereotyp Eingang in die US-amerikanische Popular Culture gefunden, und zwar als das einer männlichen, weißen und originär US-amerikanischen Kultur von Amateursängern, die konservativen Idealen von kleinbürgerlichem Leben nachhängen und entsprechendes Liedgut pflegen. Optische Accessoires, fast schon Klischees, sind ergänzend hierzu Strohhüte, gestreifte Westen und dominante Oberlippenbärte als Hommage an die Mode der vorletzten Jahrhundertwende. In eben dieser Weise findet man den Stil regelmäßig in den US-amerikanischen Medien und anderen Künsten aufgegriffen, zumeist in ironisch gebrochener oder karikierender Form (vgl. Averill 2003; Döhl 2009).
T h e se n z u r E n ts t e h u n g d e r B a r b e r s h o p Harmony Sind musikalische Stilbestimmung und soziokulturelles Stereotyp bereits seit den 1940er Jahren gefestigt und spätestens mit Ablauf der 1950er Jahre allgemein durchgesetzt, so ist die Geschichte der Barbershop Harmony seit Jahrzehnten geprägt von einer bis heute nicht aufgelösten Auseinandersetzung mit der Frage nach der Entstehung dieses Genres. Kurz gesagt gehen sowohl die Vertreter der Subkultur als auch die sich diesem Gegenstand widmende wissenschaftliche Forschung bislang von folgendem Entwicklungsmodell aus, gleichgültig der durchaus erheblichen Differenzen im Detail: Barbershop Harmony als Musikform habe sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten entwickelt, sei zur Prominenz in der Unterhaltungsmusik der Jahre vor und um den Ers6
Einige weitere Stilelemente sind: Die Melodie wird grundsätzlich in der zweithöchsten Stimme geführt, Lead genannt, die vom Bass unterhalb und vom Tenor oberhalb harmonisiert wird. Der Akkord wird vom Baritone komplettiert, dessen Position zur Melodiestimme variabel ist. Barbershop Harmony wird stets a cappella, von vier Sängern und soweit als möglich homophon ausgeführt. Grundsätzlich sind Quartette nach Frauen und Männern getrennt. Weitere Regeln bestimmen die Frage des Anteils der zu verwendenden Akkorde, der Intervallverhältnisse, der Akkordtonverteilung je Stimme, des Raums für Abweichungen und Ausnahmen usw. 96
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ten Weltkrieg gelangt, erfuhr ein starkes Abnehmen des Interesses ab den 1920er Jahren, worauf ab Mitte des Folgejahrzehnts eine Renaissancebewegung reagiert habe, Revival genannt, die die Pflege jenes Stils wiederbelebte und mit einem institutionellen Rahmen versah, der bis in die Gegenwart das Zentrum dieser Subkultur bilde. Hiernach wäre die heutige Barbershop Harmony vom Selbstverständnis her als eine musikalische Form Historischer Aufführungspraxis anzusehen, die um 1940 initiiert wurde und ihren Gegenstand in der Ära um die vorletzte Jahrhundertwende findet (vgl. Hicks 1988; Henry 2000; Averill 2003; Döhl 2009). Der Terminus »barber shop chord« ist erstmals für das Jahr 1894 nachgewiesen (Abbott/Seroff 2002: 358). Ab 1898 kann er dann in vielfältigsten Kontexten belegt werden, wobei er in jener Ära jedoch anders als heutzutage für alle Besetzungen vokaler Musik vom Solo bis Oktett sowie für Instrumentalmusik Verwendung findet und ein akkordischklangliches Konzept meint, analog zur nahezu zeitgleich entstehenden Begrifflichkeit »to rag« bzw. »Ragtime« für eine spezifische rhythmische Vorstellung. Hieraus wird ersichtlich, dass die zuvor beschriebene Tradition vokaler Mehrstimmigkeit unter dem Label »barber shop« mit jener klar strukturierten ästhetischen Ausrichtung entgegen der bisherigen herrschenden Meinung in Forschung wie Szene wohl erst seit den 1940er Jahren existiert (vgl. Döhl 2009). Sie ist vorher auch in anderen Quellenbereichen nicht in dieser Gestalt nachweisbar. Jene ästhetische Zuspitzung stellt aber unbestritten Herz und Seele dieses Genres dar, so dass es für die Bestimmung des Zeitpunkts der Entstehung der Barbershop Harmony auf die Etablierung des Barbershop Sound als tonangebende Maxime jener musikalischen Praxis ankommt. An dieser Stelle existiert folglich eine historische Verwerfung in der Selbstwahrnehmung der diesen Stil Ausübenden. Versteht man sich selbst als Teil einer Historischen Aufführungspraxis, bedingt das, dass man meint, ein grundsätzlich authentisches musikalisches Produkt einer vergangenen Referenzzeit, in diesem Fall der Wende zum 20. Jahrhundert, zu pflegen. So sah man es in den 1940er Jahren, so gilt es dem Grunde nach bis heute. Bezüglich der historischen Perspektive musste folglich der musikalische Gegenstand der 1940er Jahre der Jahrhundertwendeära entsprechen, wollte man nicht Zweifel an dem gerade postulierten Authentizitätsanspruch aufkommen lassen – und damit an der Legitimität der eben erst definierten engen Regeln. Konfliktpotential und Gründe zum Zweifeln hätte es genug gegeben. So verboten die neuen Normen im Dienste der Förderung des Barbershop Sound z.B. die instrumentale Begleitung der Vokalquartette, obwohl diese seit den 1890er Jahren üblich war (vgl. Döhl 2009). Aufgrund der Vielfalt der in der Tat blühenden Quartettkultur der Jahrhundertwende konnte eine entspre-
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chende Übereinstimmung zwischen jener musikalischen Vergangenheit und dem Bild, das sich in den 1940er Jahren davon gemacht wurde, ohnehin nicht in der gewünschten Weise hergestellt werden: »Male quartets specializing in close harmony were quite popular at the turn of the twentieth century. Today we think of this style of singing as ›barbershop‹, but there were many variations at the time and almost every type of music was performed by quartets« (Brooks 2005: 452).
Daher wurde die Bezugssubkultur der Jahrhundertwende in der Rezeption faktisch jener eigenen Gegenwart angepasst. Ohne greifbare Belege zu besitzen und unter Verweis auf die Erinnerungen alter Mitglieder behauptete man einfach, dass das, was man nun singen würde, damals in genau dieser Weise existiert habe. Dieses Vorgehen hatte nun u.a. zur Folge, dass Afroamerikaner, Frauen oder die immense Chorbewegung deutscher Immigranten aus der Erörterung der Wurzeln dieser Musikform von vornherein ausgeschlossen wurden, da jene als weiß, männlich und US-amerikanisch definiert wurde (vgl. Döhl 2008). Und in eben dieser Weise hat Barbershop Harmony ja dann auch ab den 1950er Jahren als Stereotyp Eingang in die US-amerikanische Popular Culture gefunden. Dadurch, dass im Fall der Frage der Entstehung der Barbershop Harmony diese historische Verwerfung besteht, werden hier Mechanismen sozialer Distinktion auf besonders plastische Weise greifbar, die jedoch grundsätzlich allerorts in der Geschichte US-amerikanischer Populärmusik zu beobachten sind (vgl. Döhl 2009): • Der ewige Streit, ob ein Stil nun afro- oder euroamerikanische Wurzeln habe, ein oftmals irrational-emotional bleibender, jedenfalls weithin abseits musikalischer Fakten geführter Grundsatzdiskurs, der umso nachhaltiger das Rezeptionsverhalten von Generationen bestimmt hat und bestimmt (vgl. Gilroy 1993; Radano 2003). • Die Geringachtung der Rolle der Frauen durch die Musikhistoriographie. • Der Drang zur Etablierung von etwas eigenständig und authentisch ›Amerikanischen‹ und der Umgang mit kulturellen Beiträgen von Immigranten vor diesem Hintergrund. Was jene historische Verwerfung nun offensichtlich macht, ist die Erkenntnis, dass jenen Themen Akte sozialer Distinktion zugrunde liegen, keine musikalischen oder musikgeschichtlichen Motivationen oder gar Fakten.
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ENTSTEHUNG DER BARBERSHOP HARMONY
D i e F r a g e n a c h d e m e t h n i sc h e n U r sp r u n g d e r Barbershop Harmony Konzentrieren wir uns im Folgenden exemplarisch auf den erstgenannten Aspekt. Hierbei handelt es sich um ein weithin zu beobachtendes Phänomen der Geschichte US-amerikanischer Populärmusik. Man könnte diesen Beitrag ebenso anhand der Diskurse um Spiritual, Jazz oder Rock ’n’ Roll gestalten. Es wird dabei um die Zuerkennung kultureller Leistungen gerungen und diese jeweils für partielle, in diesem Fall ethnisch abzugrenzende Gesellschaftsschichten zu reklamieren gesucht. Schon in den 1920er Jahren stritten der führende afroamerikanische Emanzipationspolitiker James Weldon Johnson und der Musikwissenschaftler Sigmund Spaeth öffentlich darüber, ob der »barber shop chord«, nach der hier vertretenden Auffassung terminologisch wie musikalisch Vorläufer der heutigen Barbershop Harmony, euro- oder afroamerikanischen Ursprungs sei (Johnson/Johnson 1925: 35f; Spaeth 1926: X6). In den frühen 1940er Jahren löste dann der Ausschluss von Afroamerikanern von Veranstaltungen der Barbershop Harmony Society erneut eine solche Kontroverse aus. So stand z.B. das Spiritual »Swing Low, Sweet Chariot« auf einer Liste des darzubietenden Liedrepertoires, die anlässlich des ersten New Yorker Wettbewerbs mit »Barber Shop Ballads« im Jahr 1935 veröffentlicht wurde. 1941 begründete jedoch O. C. Cash, neben Rupert Hall Gründer der Barbershop Harmony Society, den Ausschluss von Afroamerikanern u.a. mit einem Repertoireargument: »Contestants must [...] sing barber shop harmony (not Negro spirituals)« (Henry 2000: 223). Seitens der von der Maßnahme unmittelbar betroffenen New Yorker Barbershopper hieß es hierauf scharfsinnig: »The distinction between barber shop harmony and Negro spirituals will be lost on most people interested in American ballads. [...] If the purists in your group have concluded that ›Way Down Upon The Swanee River‹ is a spiritual and not an American ballad, or barber shop harmony, you will, as indicated before, rule out a great many of our best songs« (Henry 2000: 226).
Was dieser Disput illustriert, ist die Erkenntnis, dass in jener Zeit vordergründig mit musikalischen Argumenten darüber gestritten wurde, wie sich die ›wirkliche‹ Barbershop Harmony stilistisch darstellt, indem man darauf zu verweisen suchte, was diese Musik einst gewesen sei und was nicht. Der Streit wurde damals neben dem hier angesprochenen Aspekt der Repertoirefrage in gleicher Weise noch über viele andere Punkte geführt, wie der Zulässigkeit von Instrumenten oder des Umfangs des Gebots der Homophonie (vgl. Döhl 2009). Im Kontext des vorliegenden Beitrags ist jedoch nicht zuvorderst relevant, dass dieses Unterfangen 99
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schon deshalb zum Scheitern verurteilt war, da Barbershop Harmony tatsächlich ein neues Produkt der 1940er Jahre war und vorher in gleicher Weise eben nicht existierte, eine entsprechende historische Legitimation der jeweiligen Argumente also gar nicht in der gewünschten Weise möglich gewesen wäre. Vielmehr wird an diesem Diskurs offenbar, wie scheinheilig vermeintlich objektive musikgeschichtliche Aspekte ins Feld geführt wurden, um eine soziale Reklamation bzw. eine entsprechende Ausgrenzung zu rechtfertigen, mithin einen evident außermusikalischen Akt zu flankieren, der sich hier zu Lasten der Afroamerikaner auswirkte. An anderer Stelle verriet besagter O. C. Cash dann auch die wahre Motivation, als er schrieb: »I hope this rule will not seriously embarrass you, as any other sort of arrangement would seriously embarrass us. Many of our members and chapters are in the South, where the race question is rather a touchy subject« (Henry 2000: 221). Vor dem Schleier von Musikgeschichte wurde also um soziale Distinktion gerungen. Die Folgen dieses Streites begleiten die Subkultur bis heute, obwohl sie sich bereits seit den 1960er Jahren mit viel Engagement von ihren rassistisch überschatteten Anfängen zu lösen sucht. Das wird etwa daran sichtbar, dass heute nur wenige Afroamerikaner diesen Stil innerhalb der Szene pflegen, obwohl in den 1930er Jahren noch zahllose Ensembles unter dem Label »barber shop« der Vokalquartettmusik nachgingen.7 Das Image dieser Musikform scheint durch den selbst heraufbeschworenen Prozess sozialer Distinktion dauerhaft geprägt zu sein, was ein treffliches Beispiel für die Nachhaltigkeit solcher Entwicklungen abgibt. Stereotypen sind hartnäckig und langlebig. Dieser ethnische Diskurs hat noch weitere Stationen durchschritten, nachdem die Barbershop Harmony Society 1941 Afroamerikaner offiziell ausgeschlossen hatte. Als die 1946 gegründete Schwesterorganisation für Frauen, Sweet Adelines International, obwohl sie gar keine schwarzen Mitglieder hatte, eine vergleichbare Bestimmung aufnehmen wollte, zerbrach der Frauenverband im Verlauf der Jahre 1957/58 und es gründete sich der ebenfalls bis heute existierende Ableger Harmony Incorporated. Weiter entwickelte sich in jüngerer Vergangenheit eine Art Historikerstreit. Es bildete sich bereits in den 1940er Jahren eine sogenannte »classical theory«, wonach der Stil der Barbershop Harmony von Weißen im kleinstädtischen Milieu des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Improvisationskultur in Friseurländen, an Straßenecken und in Hotellobbys entwickelt worden sein soll (Hicks 1988: 2f) – eine historische Fiktion, für die es kaum Belege, aber gewichtige musikalische wie quellenseitige 7
Auch wenn nochmals klargestellt sei, dass diese Praxis – wie bei den weißen Zeitgenossen – mit der wenig später geformten Barbershop Harmony stilistisch noch nicht identisch war (vgl. Döhl 2009). 100
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Gegenargumente gibt (vgl. Döhl 2009). Die Assoziation des Terminus mit realen Friseurläden taucht z.B. erst im nostalgischen Rückblick auf die Epoche der Jahrhundertwende in den 1920er Jahren auf. Gleichgültig solcher Argumente ist die »classical theory« Teil der geschilderten Ausformung der Barbershop Harmony als soziokulturelles Stereotyp und in Folge dessen ausgesprochen langlebig. In den 1990er Jahren flammte nun die Diskussion hierüber erneut auf. Studien wie »Play That Barber Shop Chord: A Case for the African-American Origin of Barbershop Harmony« von Lynn Abbott (1992) oder »The Origins of Barbershop Harmony: A Study of Barbershop’s Musical Link to Other AfricanAmerican Musics as Evidenced Through Recordings and Arrangements of Early Black and White Quartets« von James Earl Henry (2000) wurden verfasst und greifen das Thema schon im Titel auf. Aufgrund dieser Schriften geht nunmehr der Trend wieder dahin, die Entstehung der Barbershop Harmony als afroamerikanische Musikkultur der Jahrhundertwendeära zu verstehen. Die Geschichte der Barbershop Harmony dreht sich in dieser Frage also stetig im Kreis, wobei am auffälligsten ist, dass einerseits der Impuls, die Musikform und ihre Bestandteile ethnisch zuzuordnen, eine ungebrochene, ausgesprochen lange Tradition hat. Andererseits ist die Reklamation für Weiße wie Schwarze gleichermaßen jenseits der musikhistorischen Fakten, was den Distinktionscharakter und die Musikferne des Diskurses belegt: Wenn es keinen Beleg und zahlreiche gewichtige Argumente dagegen gibt, dass Barbershop Harmony schon um die vorletzte Jahrhundertwende existiert habe, dann liegt die Frage, ob sie damals euro- oder afroamerikanisch war, offenkundig neben der musikhistorischen Sache – und verrät so, dass hier einzig die soziale Motivation zur Reklamation einer kulturellen Leistung für nur eine gesellschaftliche Gruppe in Erscheinung tritt.
Literatur Abbott, Lynn (1992): »Play That Barber Shop Chord. A Case for the African-American Origin of Barbershop Harmony«. American Music 10 (3), S. 289-325. Abbott, Lynn/Seroff, Doug (2002): Out of Sight. The Rise of African American Popular Music, 1889-1895, Jackson: University Press of Mississippi. Averill, Gage (1999): »Bell Tones and Ringing Chords. Sense and Sensation in Barbershop Harmony«. The World of Music 41 (1), S. 3751. Averill, Gage (2003): Four Parts, No Waiting. A Social History of Ame-
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rican Barbershop Harmony, Oxford: Oxford University Press. Barbershop Harmony Society (2008): Contest and Judging Handbook, http://www.barbershop.org/web/groups/public/documents/graphics/ pub_cjhandbookver41apr2008.pdf, 19.08.2008. Berliner Philharmoniker (2008): Education-Programm, http://www. zukunft.bphil.de/de/eduhome/, 19.08.2008. Brooks, Tim (2005): Lost Sounds. Blacks and the Birth of the Recording Industry, 1890-1919, Urbana-Champaign: University of Illinois Press. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Döhl, Frédéric (2008): »Mythos Barbershop. Folgen einer Musikgeschichte als Wunschbild«. Archiv für Musikwissenschaft 65 (4) [im Druck]. Döhl, Frédéric (2009): ...that old Barbershop sound. Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag [Dissertation/Druck in Vorbereitung]. Geiger, Friedrich (2005): Verdikte über Musik, 1950-2000, Stuttgart: Metzler. Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and DoubleConsciousness, Cambridge: Harvard University Press. Hamm, Charles (1979): Yesterdays. Popular Song in America, New York: W. W. Norton. Henry, James Earl (2000): The Origins of Barbershop Harmony. A Study of Barbershop’s Musical Link to Other African-American Musics as Evidenced through Recordings and Arrangements of Early Black and White Quartets, Ann Arbor: UMI ProQuest Digital Dissertations. Hicks, Val (1988): Heritage of Harmony. Society for the Preservation and Encouragement of Barber Shop Quartet Singing in America, Friendship: New Past Press. Johnson, James Weldon/Johnson, J. Rosamond (1969 [1925]): The Books of American Negro Spirituals, New York: The Viking Press. Radano, Ronald (2003): Lying Up the Nation. Race and Black Music, Chicago: The University of Chicago Press. Snyder, Robert W. (1989): The Voice of the City. Vaudeville and Popular Culture in New York, Oxford: Oxford University Press. Spaeth, Sigmund (1926): »Borrowed or Banal«. New York Times, 22. November 1926, S. X6. Universal Music (2008): Yellow Lounge, http://www.yellowlounge.de, 19.08.2008. Wright, David (o. A.): Barbershop Harmony, http://www.acappella foundation.org/essay/wright.html, 02.05.2007.
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IMMATERIELLES WELTKULTURERBE: SYMBOLISCHE REPRÄSENTATIONEN (IN) DER DOMINIKANISCHEN REPUBLIK KAROLINE BAHRS Im Zeitraum von 2001 bis 2005 erhob die United Nations Educational Scientific and Cultural Organization (UNESCO) neben materiellen Formen – architektonische und landschaftliche Kultur- und Naturdenkmäler – auch immaterielle Kulturformen zum Weltkulturerbe, zu sogenannten Masterpieces. Die dem UNESCO-Programm1 ab 2003 zugrundeliegende Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage (ICH) etablierte Begriff und Gegenstand des immateriellen Kulturerbes im internationalen Völkerrecht. Soziale Praktiken, Rituale und festliche Events wurden darin zu Kulturformen von universellem Wert erklärt, mit der Absicht, kulturelle Diversität und menschliche Kreativität zu schützen, sowie das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft für den kulturellen Wert und die Notwendigkeit der Transmissionssicherung des Welterbes zu schärfen (vgl. UNESCO 2006: 4). In diesem Zusammenhang wurden in der Dominikanischen Republik die Cofradía del Espíritu Santo (Bruderschaft des Heiligen Geistes) 2001 und die cocolo2Tanzformen im Jahr 2005 zu Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity erhoben. Im Folgenden werden sowohl der Prozess der Ernennung als auch Repräsentationen des dominikanischen immateriellen Weltkulturerbes nachvollzogen.3 1
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Das Masterpiece-Programm wurde auf der UNESCO-Generalkonferenz 1997 erschaffen. Es wurden über 90 Formen aus 70 Ländern ausgezeichnet. 2001 wurden 19, 2003 wurden 28 und 2005 wurden 47 Bewerbungen angenommen (UNESCO 2006: 4f). Die Bezeichnung cocolo meint Einwanderer aus der anglophonen Karibik sowie deren Nachkommen. Der Artikel basiert auf Forschungsaufenthalten im Südosten der Dominikanischen Republik von November 2005 bis Mai 2006 und im März 2007. Die hier zur UNESCO gemachten Aussagen beziehen sich nur auf den Fall der Dominikanischen Republik. Mein besonderer Dank geht an Xiomara Pérez, Daniel Henderson, Juan Felipe Lenny Simon, Sixto Minier und Edis Sánchez. 103
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I m m a te r i e l l e s K u l tu r e r b e u n d R e p r ä se n t an t e n g r u p p e n Als Masterpieces wurden »1. Formen populärer oder traditioneller Expression und 2. Kulturräume, definiert als Orte, in denen populäre oder traditionelle kulturelle Aktivitäten konzentriert sind« anerkannt (Matsuura 2006: 2). Beiden Konzepten liegen Kulturformen zugrunde, sie unterscheiden sich jedoch in ihrer lokalen Verortung. Für »populäre oder traditionelle« Expression, »soziale oder performative« Praxis hat die UNESCO keine Definitionen angegeben. Die Terminologie, insbesondere die Verwendung des Begriffes ›traditionell‹, wird hier im Sinne der UNESCO gebraucht, wobei der Fokus der Organisation der Erhalt der so deklarierten Kulturformen ist. Das unter 2. genannte räumliche Konzept wirft zudem erhebliche Fragen nach geographischer Begrenzung der Verbreitung und Gültigkeit von Kulturformen auf. Von Einheitlichkeit des immateriellen dominikanischen Weltkulturerbes sowie dessen Repräsentationen kann nicht gesprochen werden. Die Mitglieder der Bruderschaft des Heiligen Geistes leben in verschiedenen Dörfern des Hauptstadtbezirkes Villa Mella im Südosten des Landes. Die Auszeichnung der UNESCO bezieht sich auf ihre »soziale Praxis«, womit Kulturformen der Bruderschaft des Heiligen Geistes und damit verbundene Aktivitäten innerhalb des Bezirkes gemeint sind. Der Bezugsrahmen dieser Auszeichnung ist räumlich. Die Mitglieder der Bruderschaft selbst gelten jedoch als Repräsentanten. Die Auszeichnung für die Tanzformen der cocolos entspricht dagegen der ersten Form eines immateriellen Weltkulturerbes. Das Tanzrepertoire wurde als »traditionelle Expression performativer Praxis« ausgezeichnet. Der Bezugsrahmen dieses Titels ist somit kein räumlicher. Das ursprünglich einem Masterpiece zugrundegelegte Kriterium der »Auszeichnung durch besonderen Wert« wurde in der ICH durch Repräsentativität, also »Relevanz für Identität und Kontinuität der Gruppen und Minderheiten«, ersetzt (UNESCO 2006: 4). Diese findet bei der UNESCO die folgenden zwei Interpretationen, die in ihrer räumlichen Verortung variieren und damit von multipler Geltungskraft auf lokalen und globalen Ebenen sind: Repräsentiert werde zum Einen »die universale Kreativität der Menschheit«, zum Anderen »kulturelles Erbe von Gemeinschaften – wenn angemessen – Staaten« (ebd.). Nationalpolitischen Interessen an Masterpieces wird von der UNESCO v.a. in schriftlicher Form begegnet.4 Der Mitgliedsstaat, hier der dominikanische Staat, ist 4
Es kommen einige beschränkende Auflagen hinzu, wie zum Beispiel, dass die offizielle Vertretung des Staates, die die Bewerbung einreicht, sie mit den Repräsentanten abstimmen sowie einen Aktionsplan zur Sicherung und 104
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jedoch lokaler Vermittler des UNESCO-Programms und war zentral an der Selektion der Kulturformen beteiligt und bestimmt(e) auch den Rahmen der Förderung.5 Dem Staat obliegt es, die nationale Repräsentation der Masterpieces zu gestalten; die UNESCO übernimmt diese auf internationalen Ebenen. In einem Katalog erklärt die Organisation, dass sich der »Kulturraum der Bruderschaft des Heiligen Geistes in den Bereichen Musik, Tanz und populären Festivitäten auszeichne« (UNESCO 2006: 28). Ihre Mitglieder seien in erster Linie Musiker. Sie spielten Trommeln – congos –, deren Ursprung dem Heiligen Geist zugeschrieben werde. Die Bruderschaft, die heute offen sei für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, wurde im 16. Jahrhundert von afrikanischen Sklaven und Menschen gemischter Herkunft gegründet und sei aus historischen Gründen ein wichtiger Teil der kulturellen Identität der Mitglieder und der ganzen Region. Ihr Fest des Heiligen Geistes zu Pfingsten zeige Gebete, Tänze und Gesänge zum Spiel der congos sowie eine Prozession, bei der eine Taube getragen werde, die den Heiligen Geist repräsentiere (ebd.). Der Kulturraum wird repräsentiert als Veranstaltungsrepertoire, seine kulturelle Distinktion wird über den Gebrauch von congo-Trommeln, anderen Symbolen sowie seiner Geschichte begründet. Die Entscheidung der UNESCO wird damit erklärt, dass das Fortbestehen der Bruderschaft durch Desinteresse gegenüber Kulturen afrikanischer und ›gemischter‹ Herkunft bedroht sei. Heutzutage würden das urbane Wachstum, Migration, Arbeitslosigkeit und die Standardisierung von Werten Vorurteile und Unverständnis gegenüber der Bruderschaft verstärken (ebd.). Die kolonialgeschichtlich geprägte und vage Bezeichnung ›gemischt‹ für die Herkunft der Mitglieder bezieht sich auf die tatsächliche Unkenntnis der Herkunft der Sklaven sowie weiterer Mitglieder und verschweigt implizit auch den Anteil haitianischer Bevölkerung. Die Aufteilung der Insel in Haiti und die Dominikanische Republik wurde seit der Unabhängigkeit 1844 durch die katholische dominikanische Elite in Abgrenzung zum frankophonen und als (stärker) afrikanisch konzipierten Haiti konsti-
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Verbreitung der Tradition beilege, der in Einverständnis mit den Repräsentanten – ihre Kommunikationsstrukturen befolgend – durchzuführen sei (UNESCO 2006: 7). Erst nach Ratifizierung der ICH ist finanzielle Hilfe für den Mitgliedsstaat vorgesehen, die an einen zu entrichtenden Jahresbeitrag gebunden ist. Erst dann beginnen Maßnahmen in Kooperation mit der UNESCO. Die Dominikanische Republik hat das Abkommen 2006 ratifiziert. Der bereits 2001 ausgezeichnete Kulturraum hat zuvor nur geringe Zuwendungen des Staates erhalten, z.B. Papiere für Auslandsreisen (Sixto Minier, 03.03.2006, persönliche Kommunikation). 105
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tuiert.6 Bis heute ist die dominikanische Gesellschaft durch eine konflikthafte Transformation infolge von haitianischer Zuwanderung bei gleichzeitiger Emigration gezeichnet. In Zuckerproduktion und Bauwesen baut man inoffiziell auf haitianische Arbeitskräfte, vollzieht jedoch offiziell eine abgrenzende Außenpolitik gegenüber dem Nachbarstaat. In Hinblick auf diese Situation bietet es sich an, die öffentlich inszenierte rituelle Erinnerung bei gleichzeitigem Ausschluss von Wahrnehmungen aktueller Phänomene, wie die wachsende Popularität haitianisch-dominikanischer Religionsformen, zu betrachten. So ist auch das Phänomen der cofradía, einer Assoziation gegenseitiger Unterstützung, durch Rassismus geprägt. Mit Zustimmung der katholischen Kirche bildeten Afrikaner diese in Spanien bereits im 14. Jahrhundert, als ihnen der Zugang zu weißen cofradías verwehrt wurde. Mit Beginn der Sklavenimporte etablierten sich erste cofradías in der Dominikanischen Republik (Hernández Soto7 2004: 31). Der auch in anderen Ländern verwendete Begriff congos bezog sich auf die ungefähre Herkunft bzw. den Ort der Verschiffung der Sklaven, sowie auf die Assoziationsform als Königsnationen (vgl. u.a. Hernández Soto/Sánchez 1997: 297); er bezeichnet heute zudem die Mitglieder der cofradía. Wieweit der Einfluss von Sklaven vom dominikanischen Teil der Insel reicht, ist unbekannt, man weiß jedoch, dass vom seit 1665 haitianischen Inselteil geflohene Sklaven um 1678 den Nachbarort San Lorenzo de los Minas gründeten, von wo aus Migration nach Villa Mella erfolgte (Hernández Soto 2004: 18). Der starke haitianische Einfluss auf die congo-Tradition ist z.B. an der Verwendung des haitianisch-kreolischen m’alé für das spanische me voy (ich gehe) in Liedtexten erkennbar.8 An diesen Einflussbeziehungen wird deutlich, dass der ausgezeichnete Kulturraum eine gemeinsame Kultur repräsentieren könnte. In der Dominikanischen Republik kritisieren jedoch Gegen-
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Verglichen mit den Nachbarstaaten Puerto Rico und Kuba war die Dominikanische Republik bis in die 1960er Jahre politisch isoliert, erlebte starke wirtschaftliche Schwankungen und blieb weitgehend von der USamerikanischen Kulturindustrie unbeachtet. Der dominikanische Diktator Rafael Leonidas Trujillo regierte (teils als Schattenkanzler) zwischen 1930 und 1961. Seine Herrschaft war durch Zensur, Überwachung, Ausreisesperren und Brutalität geprägt. Zur Geschichte vgl. u.a. Frank Moya Pons (1972, 1976) und Carlos Esteban Deive (1978, 1980, 1984, 1988). Carlos Hernández Soto ist Direktor des Museo del Hombre Dominicano, dem nationalen Völkerkundemuseum in Santo Domingo. Er spielte bei der Bewerbung beider Masterpieces und der offiziellen Titelverleihung eine zentrale Rolle. Der Ausdruck »Ich gehe« bezieht sich auf die Reise eines Toten ins Jenseits (Hernández Soto/Sánchez 1997: 311). 106
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stimmen die Proklamation der congos, da diese zu afrikanisch und zu haitianisch erschienen (ebd.). Diese konflikthaltigen Fakten um Entstehung und Entwicklung des Kulturraumes, sowie Ritualformen, die Manifestationen von Schutzpatronen einschließen, sind in der Erklärung der UNESCO nicht erwähnt. Ein Beispiel einer zum immateriellen Kulturerbe deklarierten performativen Praxis sind die im Jahr 2005 ausgezeichneten cocoloTanzformen. In der UNESCO-Erklärung zur Titelvergabe wird diese »traditionelle Expressionsform« wie folgt dargestellt: Diese Dramatraditionen seien von Nachkommen britisch-karibischer Sklaven entwickelt worden, die um 1850 in die Dominikanische Republik gekommen waren, um auf Zuckerfeldern zu arbeiten. Die in linguistischer und kultureller Hinsicht differierende Gemeinschaft habe ihre eigenen Kirchen aufgebaut sowie Wohltätigkeitsvereine und gegenseitige Hilfe. Ihre herausragenden kulturellen Expressionen seien jährlich stattfindende Tanztheateraufführungen. Ursprünglich pejorativ, würde der Begriff cocolo heute stolz benutzt. Verschiedene Gruppen würden üblicherweise zu Weihnachten, am St. Peterstag und zu Karneval auftreten. In ihren Performances wären Themen verschiedener Welten vereint: Musik- und Tanzgenres afrikanischen Ursprungs würden sich mit dramaturgischen Handlungen, Legenden und Figuren aus biblischer und mittelalterlicher europäischer Literatur mischen. Das Repertoire enthielte zudem Weihnachtssingen und Maskeraden. Heute gäbe es nur noch eine Gruppe, deren Repräsentanten jedoch hohen Alters seien. Die Fusion von afrikanischen und europäisch-protestantischen Kulturelementen, ihre Adaption innerhalb eines spanisch-katholischen Milieus sei ein besonderer Ausdruck von Kreativität und es drohe Gefahr des Verschwindens für Institutionen und Traditionen, da jüngere cocolos kein Englisch mehr sprächen und die community über verschiedene Regionen verstreut sei (UNESCO 2006: 29). Das Fehlen einer konkreten lokalen Verortung bei gleichzeitiger Betonung linguistischer und kultureller Differenz, sowie institutionellen und kreativen Leistungen ist hier auffällig.9 Die UNESCO betont mit der englischen Sprache v.a. die linguistische Identität, ignoriert jedoch, dass es bereits eine sprachliche Anpassung gegeben hat: Es ist bekannt, dass die cocolos ihre Texte seit den 1950er Jahren auf Spanisch darboten (vgl. Inoa 2005: 84f) und es ist somit anzunehmen, dass ihre Popularität darauf zurückgeht. In der Dominikanischen Republik werden cocolos im 9
Zu protestantischen Bildungsinstitutionen der cocolos siehe Mota Acosta (1977: 81-89). Auch hier hat jedoch bereits eine Anpassung an die katholische Religion stattgefunden (Juan F. Simon, 27.10.2008, persönliche Kommunikation). 107
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Viertel Miramar der Stadt San Pedro de Macoris verortet.10 Personalmangel in der lokalen Zuckerindustrie führte zu dominikanischen Immigrationskampagnen in der Karibikregion (Inoa 2005: 24f). Die soziale Integration der cocolos war von Regierung und Bevölkerung dabei nicht gewünscht, sie wurden jedoch geduldet. Einige dominikanische Autoren meinen, dass die zunächst abwertende Bezeichnung cocolo auch Haitianern gegolten habe, womit sich die soziale Ablehnung von Seiten eines Teils der dominikanischen Bevölkerung gegenüber beiden Masterpieces aus ähnlichen Motiven andeutet (vgl. Castro Aquiles 2008). Die cocolos blieben, protestierten gegen die Arbeitsbedingungen und waren Gründer der ersten dominikanischen Gewerkschaft (vgl. Inoa 2005:28). Während der (ersten) US-amerikanischen Besatzungsphase in der Dominikanischen Republik von 1916 bis 1924 führte ihre starke Unterstützung von Marcus Garveys Universal Negro Improvement Association11 zur Eröffnung einer Zweigstelle in Santo Domingo, wodurch es zu politischen Spannungen sowohl mit den Besatzern als auch der lokalen Regierung kam, so dass haitianische Arbeitskräfte ins Land geholt wurden.12 Obwohl die UNESCO die Notwendigkeit institutionellen Eingreifens zum Schutz betont, begann der Einzug der cocolos in die populäre dominikanische Kultur bereits in den 1950er Jahren.13 Seit den 1980er Jahren bestreiten sie als guloyas den Karneval in San Pedro de Macoris und Santo Domingo. Ihre vielfältigen performativen und humoristischen Traditionen – Straßentheater, Stelzenlauf, Pantomime – fanden in Zyklen statt und vermittelten soziale und religiöse Botschaften, wie z.B. den Triumph des ›Guten‹ über das ›Böse‹. Zumeist waren sie jedoch an be10 Über die Deklaration des Bezirkes als Erinnerungsstätte wird unter den Gesichtspunkten der Anerkennung der cocolo-Kultur im urbanen Raum und ökonomischer Vorteile für die Region seit den 1970er Jahren diskutiert (vgl. Mota Acosta 1977: 136). 11 Diese Organisation wurde von Marcus Garvey am 01.10.1914 in Jamaika gegründet und ab 1916 in den USA etabliert, von wo sie sich weiter ausbreitete. Zweck der Assoziation war die weltweite Interessensvertretung von Menschen afrikanischer Abstammung. 12 Dies war auch durch die kostengünstigere Anreise begründet. Einzig 1937 war haitianische Arbeitskraft aufgrund eines Massakers an der haitianischen Bevölkerung auf dominikanischem Territorium, das durch den Diktator Trujillo veranlasst wurde, nicht verfügbar, weshalb letztmalig cocolos angeworben wurden (Inoa 2005:28). 13 Ihre Weihnachtsspiele fanden damals erstmals außerhalb der peripheren Siedlungen statt. In der karibischen Inselnation Saint Kitts, woher die meisten cocolos stammten, bezieht sich die Christmas Season auf den Zeitraum vom Weihnachtsvorabend (24.12.) bis zur Nacht des Neujahrstages (01.01.) (vgl. Inoa 2005: 81). 108
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stimmte Personen gebunden und wurden nach deren Tod nicht mehr gepflegt. Das heutige Repertoire besteht v.a. aus Karnevalstänzen, darunter der Tanz der guloya, der auf der Sage von David und Goliath basiert. Beide Masterpieces bieten als Praktiken der Erinnerung an Ausgrenzung und Ausbeutung in Sklaverei und Zuckerindustrie einen möglichen An- stoß für neue Ideen und Fusionen religiöser und performativer Expressionen. Masterpieces werden jedoch in erster Linie zum Symbol dominikanischer Vielfalt, wobei historische Bindungen und Parallelen zu haitianischer Kultur herausfallen. Sie sind somit als Repräsentationen eines nationalpolitischen Identitätsgefühls in Abgrenzung zu Haiti deutbar.
Staatsakt und Inklusionsritual: D i e V e r l e i h u n g d e s z w e i te n d o m i n i k a n i s c h e n M a s te r p i e c e - T i t e l s Mit der Ernennung zum Weltkulturerbe werden lokale religiöse Kulturformen in einem nationalen und globalen Rahmen inszeniert. Durch öffentliche Aufführungen werden Formen immateriellen Kulturerbes zu lokalem, nationalem und globalem kulturellem Repertoire, und deren Inhalte transportieren Erinnerungen und Ideen. Gleichzeitig wirkt jedoch die öffentliche Inszenierung und Performance auf die ausgezeichnete Kulturform zurück. Zur Festigung der Popularität ergibt sich bei Masterpieces eine Art festes Repertoire, das v.a. von der populären Norm abweichende Formen, Religiosität und zyklische Abfolgen nicht vermitteln kann und daher säkularisiert und globalisiert wird. Ein Beispiel dafür, sowie auch für Entbindung von Lokalität und Einzigartigkeit, ist die öffentliche Verleihung des Masterpiece-Titels an die guloyas. Sie fand am 25. Dezember 2005 in der südöstlichen dominikanischen Stadt San Pedro de Macoris statt und bot Performances beider Masterpieces. Der Bürgermeister der Stadt hielt eine Rede, dann rief ein Ansager den ältesten Repräsentanten der Bruderschaft des Heiligen Geistes, Sixto Minier (gestorben im April 2008), auf die Bühne; als jüngste Angehörige der Tradition präsentierte er dessen Neffen und forderte das Publikum auf, seine Tätigkeit und den Titel der congos anzuerkennen. Es folgte eine Aufführung der congos mit Bühnennebel, die Beleuchtung wechselte dabei zwischen grün, lila und weiß. Die Performance war geprägt vom Klang der tiefen congo-Trommeln und Holzrasseln – maracas – und von zwischen Chorus und Sängers oder Sängerin wechselndem Gesang; die Neffen tanzten vor den Musikern, paarweise und in heller Kleidung, ohne
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Accessoires.14 Im Anschluss an die Rede des Kultursenators Rafael Lantigua, überreichte Museumsdirektor Carlos Hernández Soto dem ältesten Repräsentanten der guloyas, Daniel Henderson, unter Applaus eine Urkunde, wobei letzterer lächelte und schwieg. Guloya-Tänzer/innen begaben sich auf die Bühne für eine Darbietung ihrer Tanztradition. Die Musiker, drei Querflötenspieler und ein Trommler, trugen Hawaiihemden und schwarze Kappen, die Tänzer Seidenstoffe in leuchtenden Farben mit kleinen Spiegeln besetzt sowie meist Kopfbedeckungen aus Gestellen mit langen Federn und hatten bunt bemalte Holzäxte in der Hand. Sie tanzten in gemischten Gruppen Formationen zu einer – im Vergleich zur vorigen Darbietung schnelleren – Musik einer Blechtrommel, die von Melodien und hohem Klang von Flöten und Triangel-Begleitung geprägt war, jedoch keinen Gesang enthielt.15 Lichtshow und Rauch wurden wie bei den congos eingesetzt. Die Nachfolger, guloyitas – kleine guloyas – kamen hinzu. Alle guloyas verließen gemeinsam die Bühne und tanzten durch die Sitzreihen des Publikums. Dieses sang und tanzte während der Veranstaltung nicht, einige Zuschauer klatschen aber in Steigerungsmomenten der Titelübergabe und der Tänze. Im Anschluss wurde ein Buffet abgehalten, an dem jedoch die Tänzer/innen nicht teilnahmen. Ablauf und Form der Präsentation helfen, die Masterpieces vergleichend zu präsentieren. Gemeinsamkeiten werden durch klare Führungspersonen, die Konstitution aus je zwei Generationen und die Ausschmückung der Tänzer/innen gegenüber den Musikern unterstrichen. Da Kleidung und Accessoires während der Vorführung nicht wechseln, handelt es sich um zwei je in sich visuell und klanglich einheitliche Repertoires. Unterschiede bestehen nur in Musik- und Tanzstilen sowie Kostümen. Deutlich war, dass es sich beim Publikum nicht um Laufpublikum handelte, sondern v.a. um angereiste Forscher und Kulturpolitiker. Das Schweigen Hendersons während der Titelübergabe ist nicht eindeutig zu interpretieren. In Bezug auf das distanziert scheinende Verhältnis zwischen Aufführenden und Publikum war auffällig, dass zwischen den ein14 Neben anderen Accessoires wurde insbesondere die symbolische Repräsentation des Heiligen Geistes in Form einer Taube in der oben zitierten UNESCO-Beschreibung hervorgehoben. Am Weglassen von Accessoires, religiösen Genres sowie der Kreisform, die die cofradía-Musiker üblicherweise um die Tänzer herum bilden, lässt sich die Funktion der Performance ablesen. 15 Den Aspekt des fehlenden Gesanges der guloyas möchte ich nicht stark betonen, gebe jedoch zu bedenken, dass es sich um einen Event handelt, der kommunikative Verbindungen schaffen soll. Dabei herrscht Übereinstimmung mit ihrem populärsten Aufführungskontext, dem Karneval, in dessen Repertoire ebenfalls keine Texte enthalten sind. 110
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zelnen Tänzen geklatscht wurde, es sich eher um Entertainment als um einen religiösen Event handelte. Es wurde kein Bezug genommen auf die Weihnachtssaison, worin früher zahlreiche cocolo-Performances kombiniert wurden. Dennoch ist das Ritual von hohem symbolischen Prestige und inhaltlich komplex, da bereits ineinander geflossene und doch voneinander abgegrenzte Elemente – afrokaribische, katholische und protestantische – auf neuartige Weise kombiniert werden. Der Sänger der congos z.B. integrierte den Ort der Verleihung, die Stadt San Pedro de Macoris, in seinen Gesangstext – er improvisierte also innerhalb eines dem Heiligen Geist gewidmeten Textes. Hier wird auch der Aspekt der urbanen Verortung beider Masterpieces berührt, da er zudem die Hauptstadt Santo Domingo statt wie sonst Villa Mella als Ort der Bruderschaft besang.
W e l tk u l t u r e r b e a l s s ym b o l i sc he R e p r ä se n t a t i o n v o n I n t e r e s s e n g r u p p e n Selektionsprozess und öffentliche Inszenierung der Masterpieces lassen auf diverse Interessensgruppen und Aushandlungsprozesse schließen. Den Rahmen bildet der durch die UNESCO vorgegebene Fokus auf der ›Tradition‹, die gerettet, geschützt und archiviert werden soll. Die Frage danach, welche Auswirkungen UNESCO-Titel auf ausgezeichnete sowie auf Beziehungen zu nicht ausgezeichneten Kulturformen haben, kann hier nur angerissen werden. Für den dominikanischen Staat ist ein kosmopolitisches Auftreten, verstanden als Fähigkeit, zwischen verschiedenen Kulturen zu vermitteln und ästhetische Offenheit und Engagement gegenüber Elementen divergenter kultureller Erfahrungen zu zeigen, sehr attraktiv (vgl. Mau et al. 2008: 4). Auf der Homepage des dominikanischen Kultusministeriums werden die folgenden Ziele angeführt: »[…] Institutionelle Entwicklung erweitern und das nationale System für Kultur festigen, wobei die effektive und effiziente Rolle des Staates in der öffentlichen Kultur garantiert wird. […] Förderung von Werten wie Identität, Pluralismus und Diversität als Fundament einer kulturellen Staatsbürgerschaft [...]« (Secretaría de Estado de Cultura 2006, Übersetzung KB).
Neben dem Staat bildet das bei der Verleihung anwesende Publikum, das der Post-Trujillo-Generation16 angehört, eine Interessensgruppe. Hier
16 Auf die Ermordung Trujillos im Jahr 1961 folgte eine langjährige Phase des Umbruchs; Angehörige der Post-Trujillo-Generation studierten in den 111
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kann ein Prozess des nation buildung gesehen werden, der sich zum Einen von kolonialer, zum Anderen von Prägung durch die TrujilloDiktatur (1930-1961) zu lösen sucht. In Bezug auf Folklore herrschte unter Trujillo eine einseitige Betonung, Instrumentalisierung und Ideologisierung des merengue-Musikstils bei gleichzeitiger Verdrängung deutlicher afrikanisch-geprägter Stile. Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern und Karibikstaaten dominierten im 20. Jahrhundert zudem kubanische Einflüsse innerhalb der Medien, Literatur, Poesie und Musik. In den 1970er Jahren fanden erstmals afrikanisch-geprägte Kulturelemente öffentliche Anerkennung durch eine urbane Studentengeneration, genannt Convite (Einladung) (vgl. Inoa 2005: 71f).17 Die Post-TrujilloGeneration hat die Kultur des Landes seither kontinuierlich geprägt. Ein Beispiel ihres Engagements lieferte der verstorbene Folkloreforscher Fradique Lizardo, der die cocolos bei einem Staatsakt 1963 als »englische Folkloretradition« präsentierte (Inoa 2005: 69f). Die Akademiker der Post-Trujillo-Generation haben heute Funktionen als Pressesprecher und Manager für die Masterpiece-Repräsentanten inne und sind dabei an der Institutionalisierung der Kulturformen beteiligt. Auf der wirtschaftlichen Interessensebene dominiert die Tourismusindustrie, die auf Faktoren wie »Authentizität« und »Unterhaltung« zielt. Als Partnerland der Internationalen Tourismusbörse 2008 hat die Dominikanische Republik »Vielfalt« als Motto gewählt (Erb 2008).18 Staat und Akademiker kooperierten bei Bewerbungen um die Titel des Weltkulturerbes; diese wurden vom Museo del Hombre Dominicano in Santo Domingo initiiert. Beide Masterpieces erhielten zuerst musealen Raum, womit versucht wurde, sie im kulturellen Gedächtnis einzuschreiben. Die Inszenierung der Masterpieces von Seiten der UNESCO und des Staates sind identisch. Durch Performances sollen sie international bekannt werden; WelterbeExpositionen der UNESCO präsentieren auf in sich paradoxe Weise 1960er und 1970er Jahren und sind heute v.a. etablierte Geisteswissenschaftler, Kulturfunktionäre und Musiker. 17 Folkloristische (afro-) dominikanische Elemente wurden zeitgleich von Rumfirmen aufgegriffen, die mit Karnevalsbildern werben. Die guloyas repräsentieren seit den 1980er Jahren den Rum Macorix aus San Pedro de Macoris. 18 Mit kultureller Vielfalt kann der dominikanische Süden, wo beide Masterpieces und die seit 1990 zum materiellen Weltkulturerbe zählende Hauptstadt verortet sind, mit dem Pauschaltourismus im Norden konkurrieren. Die Masterpieces werden v.a. im Süden beworben, z.B. begrüßt der internationale Flughafen in Santo Domingo Reisende mit Fotos dieser. Auf Internetseiten und in Kulturzentren werden Touren zum Weltkulturerbe sowie Musikworkshops vor Ort angeboten. 112
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Permanenz, Berührbarkeit und authentische Erfahrbarkeit von Tradition.19 Die verschiedenen lokalen Ebenen symbolischer Repräsentation bieten den Interessensgruppen der global agierenden UNESCO, dem Nationalstaat, lokalen Akademikern und der Tourismusbranche optimale Bedingungen. Hintergründig kann jedoch angenommen werden, dass ihr Interesse an folkloristischen Darbietungen distanziert ist: »Museum exhibitions, folkloric performances, and folklife festivals are guided by poetics of detachment, in the sense not only of material fragments but also of a distanced attitude. The question is not whether or not an object is of visual interest, but rather how interest of any kind is created. All interest is vested« (Kirshenblatt-Gimblett 1991: 43).
Es bleibt zu fragen, warum das Kulturerbe der cocolos bisher keine Nachahmer gefunden hat, während im Anschluss an die Nomination der congos als Kulturraum Gruppen in Villa Mella Zulauf erhielten. Ebenso unbeantwortet bleibt, inwieweit offizielle Performances in Form und Inhalt Interessen der Repräsentanten folgen. Offizielle Auftritte stehen in visuellem und zeitlichem Kontrast zu lokalen Riten, zu denen Alltagskleidung und natürlich keine Light-Show und Rauch gehört. Persönlichkeiten, die sich für die Fortführung der Tradition verantwortlich zeigen, werden herausgestellt20 und als Ausbilder der nachkommenden Generation präsentiert. Sie erhalten jedoch für diese »Arbeit« nicht unbedingt Unterstützung. Innerhalb des Rituals der Verleihung scheinen die jeweils ältesten Repräsentanten den Schulungsauftrag anzunehmen, was sich in generationsübergreifenden Performances ausdrückt. Aushandlungsprozesse um Finanzierung, Archivierung oder sonstige Umgangsweisen mit ausgezeichneten Kulturformen, in denen Repräsentanten aktiv oder sogar federführend sind, finden nicht in der Öffentlichkeit statt, und von einer Inszenierung der eigenen Popularität durch die Repräsentanten kann nicht gesprochen werden. Einzig der kürzlich verstorbene Sixto Minier beklagte öffentlich mangelnde finanzielle Unterstützung und suchte gegen seine ehemalige Managerin Rechtsbeistand. Sie hatte mit Gegenständen der cofradía 2002 das bisher einzige lokale Museum der congos eröffnet; 2007 wurden die Gegenstände wieder an die cofradía übertragen. Die Abwesenheit der Repräsentanten im öffentlichen Diskurs ist bemerkenswert, was jedoch nicht heißt, dass nicht auf verdeckten Ebenen kreative Prozesse stattfinden. In ihren Performances werden Differenz und Homogenität produziert und dieses Wechselspiel wird umso komp19 Dies verdeutlicht der Titel »Living Heritage: Exploring the Intangible« einer UNESCO-Outdoor-Fotoausstellung in Paris, 2003. 20 Daniel Henderson wurde der Karneval in Santo Domingo 2006 gewidmet. 113
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lexer, da oft gemeinsame Auftritte beider Masterpieces oder der guloyas mit dem dominikanischen Sänger Juan Luis Guerra, der kürzlich von der UNESCO als »Sänger für den Weltfrieden« ausgezeichnet wurde, stattfinden. Die Repräsentanten haben dennoch in den Interessensdynamiken eine kleine Chance, soziale Kritik kreativ umzusetzen.
Literatur Castro, Aquiles (2008): »Prohibiciones y persecuciones de creencias y prácticas populares en República Dominicana. Alerta Guloyas y Gaga!«. http://cielonaranja.com/aquilescastrogaga.htm, 21.04.2008. Erb, Sebastian (2008): »ITB Berlin. Der Ballermann der Karibik ist passé«. Süddeutsche Zeitung, 05.03.2008. Hernández Soto, Carlos/Sánchez, Edis (1997): »Los Congos de Villa Mella, República Dominicana«. Latin American Music Review 18 (2), S. 297-316. Hernández Soto, Carlos (2004): ¡Kalunga eh! Los Congos de Villa Mella, Santo Domingo: Editorial Letra Gráfica. Inoa, Orlando (2005): Los Cocolos en la sociedad dominicana, Santo Domingo: Helvetas – Asociación suiza para la cooperación internacional. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (1991): »Objects of Ethnography«. In: Ivan Karp/Steven D. Lavine (Hg.), Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington/London: Smithonian Institution Press, S. 386-443. Matsuura, Koïchiro (2006): »Preface«. In: UNESCO, Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity. Proclamations 2001, 2003 and 2005, Paris: UNESCO, S. 2-3. Mau, Steffen/Mewes, Jan/Zimmermann, Ann (2008): »Cosmopolitan Attitudes through Transnational Social Practices?«. Global Networks. A Journal of Transnational Affairs 8 (1), S. 1-24. Mota Acosta, Julio César (1997): Los Cocolos en Santo Domingo, Santo Domingo: Edición La Gaviota. Secretaría de Estado de Cultura (2006): http://cultura.gov.do/quienes somos.htm, 22.04.2008. UNESCO (2006): Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity. Proclamations 2001, 2003 and 2005, Paris: UNESCO.
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ÄSTHETIK EINES WIDERSTANDES: SZENARIEN DES CANDOMBLÉ IM MYTHOPOETISCHEN ARCHIV DES ›SCHWARZEN‹ THEATERS IN BRASILIEN DANIA SCHÜÜRMANN Mit dem Wort ›Schwarz‹ beginnen die Definitionsprobleme; das ›schwarze‹ Theater1 oder teatro negro in Brasilien ist im vorliegenden Beitrag Fokus und Material der Frage nach einer möglichen Ästhetik des Widerstandes. Als Anfangspunkt ist das Teatro Experimental do Negro, oder TEN, mit seinem Gründer Abdias do Nascimento zu nennen. Für dieses ist der Candomblé2 zentral für die Formulierung einer ›schwarzen‹ Ästhetik und Identität. Das TEN wurde 1944, also zur Blütezeit der frankophonen Négritude3, ins Leben gerufen. In den politischen, sozialen und ästhetischen Facetten, die das TEN als Projekt ausmachten, war die didaktische Ausrichtung allen gemeinsam: »As an alternative education project, TEN used aesthetics in a didactic process of identity consciousness, not only for African descendants, but also for all Brazilians« (ebd.: 166). Die ›schwarze‹ Ästhetik, basierend auf Elementen des Candomblé, wandte sich als Widerstand gegen die Rassendiskriminierung und die Unsichtbarkeit afrobrasilianischer Kultur in Theater und Literatur.
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Die Bezeichnungen als ›schwarz‹ oder ›afrobrasilianisch‹ werden hier beide eingesetzt. Während der zweite Begriff stärkeren Nachdruck auf den Gedanken einer Herkunft legt, ist der Terminus ›schwarz‹ als ästhetische, transnationale Qualität zu begreifen. Die Bezeichnung Candomblé stammt von der Bantu-Bezeichnung kà-ndón-id-é ab, welche die Tätigkeit des Betens, Lobens und Anrufens beschreibt (Pessoa de Castro 2001: 196). Der Candomblé ist eine afrobrasilianische Religion, die vor allem von den Sklaven von der afrikanischen Westküste, den Yoruba, geprägt worden ist (vgl. Verger 1968). Die Ursprünge der Bezeichnung ›Négritude‹ gehen auf eine Bewegung schwarzer Studenten aus den französischen Kolonien zurück, die erstmals 1932 mit dem Konzept gegen die weiße Kolonialmacht und ihre Überlegenheitsattitüden protestierten. Zu den bekanntesten Vertretern gehören die beiden Dichter und Staatsmänner L.S. Senghor aus dem Senegal und Aimé Cesaire aus Martinique (vgl. Nünning 2004). 115
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Der Candomblé als Ort des kulturellen und religiösen Widerstandes ist als Reservoir zahlreicher mythischer Erzählungen und Strukturen im brasilianischen Kontext von herausragender Bedeutung (siehe Lody 2006 [1995]: 111ff). Bereits in den Stücken des TEN nehmen die orixás eine tragende Rolle ein; sie sind Symbolfiguren des ›schwarzen‹ Theaters. Orixá ist die allgemeine Bezeichnung für eine Gottheit des Pantheons der Yoruba im Candomblé (Pessoa de Castro 2001: 309). Der orixá der Weggabelungen und Ambiguität, Exú, verkörpert in den mythischen Erzählungen der Yoruba und in den Adaptionen für das Theater die Komplexität und Ambiguität einer afrobrasilianischen Identität. Als sogenannte Trickster-Figur hat Exú den Eintritt in eine allgemeinere Kategorie gefunden (vgl. Gates 1996): Der Anthropologe Paul Radin kennzeichnet den Trickster als eine unmoralische, aber im Grunde seines Wesens gutgewillte Figur (vgl. Radin 2002 [1956]). Als Betrüger und Betrogener ist Exú wie alle Trickster eine ambivalente Figur: »Eshu, whose character was neither good nor bad. He was compounded out of the elements of chance and accident, and his nature was unpredictability« (Asante/Abarry 1996: 45). Die Doppeldeutigkeit Exús wird physisch mit seinem Hinken verdeutlicht: »Esu is said to limp as he walks precisely because of his mediating function: his legs are of different lenghts because he keeps one anchored in the realm of the gods while the other rests in this, our human world« (Gates 1996: 162). Die negative Auswirkung seiner Ambivalenz ist die Unberechenbarkeit, Lüge und Verantwortungslosigkeit. Allerdings ist Exú auch der Übersetzer des Gestrigen ins Heutige; Exú ist Botschafter und Bewegung (vgl. Salles 2001: 58). Die Ambivalenz verkörpert dieser orixá auch als Herr über das Wort: einerseits Kommunikation, andererseits Trughaftigkeit. Als Sinnbild für eine verlorene ›schwarze‹ Sprache und Ausdrucksweise bestimmt Exú die Suche danach. Dies ist seit dem Anbeginn des ›schwarzen‹ Theaters in den 1940er Jahren bis in zeitgenössische Werke so geblieben. Die Frage stellt sich also nach der Poiesis, nach der Schaffung einer eigenen ›schwarzen‹ Ästhetik mit Hilfe der mythischen Figuren der orixás. Das im Folgenden zu betrachtende Theaterstück von Abdias do Nascimento ist ein Klassiker des TEN, und Protagonist ist Exú. Nach einer Betrachtung dieses wegweisenden Stückes soll ein Vergleich mit einem Werk des nigerianischen Autoren Wole Soyinka versucht werden zugunsten der Schaffung einer transnationalen, ›schwarzen‹ Ästhetik des Widerstandes, die sich an Symbolen und Ritualen der Yoruba orientiert.
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Der Passagenritus und die orixás Das Stück »Sortilégio (Mistério Negro)« (1961 [1951] und 1993 [1977]4) von Abdias do Nascimento versucht sich im rite de passage. Ein Passagenritus ist ein Ritus, der Übergänge im Leben eines Individuums begleitet. Ein solcher Ritus wird stets von drei spezifischen Phasen gekennzeichnet: eine Phase der Trennung und Ablösung, eine Übergangsphase der Grenzwertigkeit oder Liminalität, und schließlich die Phase der Aggregation, der erneuten Integration (siehe Turner 2002 [1969]). In dem hier betrachteten Theaterstück wird dieser von Emmanuel5, einem der afro-brasilianischen Kultur entfremdeter Schwarzer, durchlaufen, der mit Hilfe der orixás zu sich selbst findet. In der Hoffnung auf ein besseres Leben floh der Anwalt einst in die Ehe mit der weißen Frau Margarida, ebenso wie die schwarze Frau Efigênia6, die mit weißen Männern anbändelt und ihren Körper an sie verkauft. Emmanuel und Efigênia waren einst ein Liebespaar und trotz des eigenen, so ähnlichen Lebenswandels sind sie jeweils in Eifersucht entbrannt. Listige Intrigen spinnt Efigênia und sorgt dafür, dass Emmanuel, von der Untreue seiner schwangeren weißen Angetrauten überzeugt, diese ums Leben bringt. Die genauen Geschehnisse bleiben aufgrund widersprüchlicher Aussagen im Dunkeln. Nach der Tat flieht Emmanuel und gerät zufällig in ein terreiro, dem Ort der rituellen Zusammenkünfte des Candomblé (vgl. Pessoa de Castro 2001: 341). In der mysteriösen Atmosphäre der Opferstätte gerät Emmanuel ins Schwanken zwischen christlicher Bildung und dem Ruf der ›schwarzen‹ Gemeinschaft, die ihn zum Candomblé drängt: »Allmählich wird er jedoch von den schwarzen Göttern besessen, die über die fünf Sinneswahrnehmungen in ihn eindringen: der Geschmack des Cachaça, der Geruch des Räucherstäbchens, der Klang der Trommeln, die Ansicht des Orixá und der Hautkontakt mit dessen Kette um seinen Hals«7 (Boal 1966 [1956]: 152; Übersetzung Dania Schüürmann). 4
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Eine überarbeitete Version fertigte Abdias do Nascimento 1977 nach einem längeren Aufenthalt in Nigeria an. Die religiösen Elemente der Yoruba werden hier verstärkt und didaktisch inszeniert (vgl. Branch 1993; Larkin Nascimento 2007: 208ff; Nascimento 1993 [1977]; Afolabi 1998). Der Name Emmanuel bedeutet nach der Bibel »Gott mit uns«. Efigênia bezieht sich auf die griechische Namensvetterin, die von ihrem Vater Agamemnon als Opfer gebracht wurde, um den Trojanischen Krieg zu gewinnen. Auch die Efigênia des Abdias do Nascimento wird dem sozialen Aufstieg ihres ehemaligen Geliebten zum Opfer gebracht. »Aos poucos, entretanto, vai êle sendo possuído pelos deuses negros, que lhe entram pelos cinco sentidos: o gosto da cachaça, o cheiro do incenso, o som dos tambores, a visão do Orixá e o contato do colar no seu pescoço.« 117
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Die Schwelle der Liminalität ist erreicht. Emmanuel wird zum Ebenbild des ambivalenten Exú: »II Filha de santo8 (FDS): Ein Schwarzer, der Exú verleugnet... I FDS: die orixás vergisst... II FDS: Obatalá9 entehrt... III FDS (energisch): Verdient es zu sterben. Zu verschwinden. I FDS (langsam): Harte Worte. Vergeltungssucht sollte unsere Mission nicht bestimmen. III FDS (sadistisch, pervers): Exú zitterte vor Hass, schäumte vor Wut, als er befahl: ›Ich will ihn hier, am Boden zerstört, vor der großen Stunde‹. I FDS (diplomatisch): Er zitterte. Aber nicht vor Hass. Exú hat nur Liebe im Herzen. Exú tut nur das Gute. III FDS: Und das Böse. Er tut auch das Böse. Die Wut Exús wird über seinem Kopf zusammenbrechen. Hier, wenn... II FDS: ... es 12 Uhr schlägt, dann kommt Exú unter uns. III FDS (angsteinjagend): Es ist die Stunde Exús. Die große Stunde um Mitternacht. Stunde überwältigender Erfolge. I FDS: Ich habe Mitleid. III FDS (fährt fort ohne gehört zu haben): Da stehen einem die Haare zu Berge. Exú wird stehenbleiben, die Zeiten durcheinanderbringen: Vergangenheit und Gegenwart, was war und was geschehen mag. II FDS: Im Candomblé steigt Exú nicht (zu uns) herab. Aber hier ist er König. Er regiert«10 (Nascimento 1961 [1951]: 165f; Übersetzung Dania Schüürmann). 8
Filha-de-santo heißt wörtlich übersetzt »Tochter des Heiligen, des orixá« und bezeichnet eine initiierte Anhängerin des Candomblé (siehe Pessoa de Castro 2001: 249). 9 Obatalá oder auch Oxalá ist ein weiterer wichtiger orixá. Er wird häufig als der höchste orixá und als Vater der verschiedenen Gottheiten verehrt (siehe Pessoa de Castro 2001: 311). Damit ist er Symbol für den Candomblé als Religion im Allgemeinen. 10 »II Filha de santo (FDS): Prêto quando renega a Exu.../I FDS: ...esquece os orixás.../II FDS: ...desonra a Obatalá.../III FDS (vigorosa): Merece morrer. Desaparecer./I FDS (lenta): Palavras duras. Nossa missão não é de rancor./III FDS (sádica, perversa): Exu tremia de ódio, espumava de raiva, quando ordenou: ›Eu quero êle aqui, de rastros, antes da hora grande‹./I FDS (contemporizando): Tremia. Não de ódio. Exu só tem amor no coração. Exu só faz o bem./III FDS: E o mal. Faz também o mal. A cólera de Exu vai desabar sôbre a cabeça dêle. Aqui, quando.../II FDS: ...soar doze badaladas, Exu sai para a rua./III FDS (terrível): É a hora de Exu. A hora grande da meia-noite. Hora de sucessos espantosos./I FDS: Tenho pena./III FDS (continua sem ouvir): De arrepiar os cabelos. Exu vai parar, vai confundir o tempo: passado e presente, o que foi e o que estiver acontecendo./II FDS: No candomblé Exu não baixa. Mas aqui êle é rei. Êle reina.« 118
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Der Chor der ›schwarzen‹ filhas-de-santo deutet in der ausgedehnten Dialog-Struktur das Schicksal Emmanuels und seinen Passagenritus, bedingt durch den Einfluss des Exú, an. Schließlich entledigt der ›schwarze‹ Held sich seiner Kleidung, damit symbolisch gesehen seiner ›weißen‹, christlichen Bildung, und gibt sich den Trommeln des Candomblé hin. Durchbohrt von der Lanze Exús bringt er das letzte Opfer und stirbt. Die Symbole des Candomblé sind maßgeblich; die afrobrasilianische Religion wird hier als zentraler Teil einer ›schwarzen‹ Identität angeführt. Das Stück ist wie ein Ritual angelegt, an dessen Ende die Auflösung, die Katharsis des Helden steht, der sich mit seiner ›schwarzen‹ Herkunft identifiziert und stirbt. Flashbacks und Geistererscheinungen Margaridas, Efigênias und einiger orixás durchbrechen die lineare Zeit der Inszenierung; diese Einbrüche der übernatürlichen Welt sind auf einem Teil der Bühne lokalisiert. Der Opfertod des Emmanuel ist als Eintritt in die Welt der orixás verstanden worden (vgl. Afolabi 1998), oder zumindest referiert des Helden Tod an das Prinzip des Opfers ebó11, das die kosmische Energie und Harmonie im Candomblé wiederherzustellen befähigt ist: »The supreme act that closes the play – Emmanuel’s death – symbolically recalls a foundational principle of that culture: the principle of ebó, offering« (Larkin Nascimento 2007: 216). So beginnt das Stück mit dem ebó eines schwarzen Hahnes und endet mit dem des Emmanuel. Die Entwicklung, die der Protagonist Emmanuel während des Stückes durchmacht, wird von Elisa Larkin Nascimento, der Ehefrau Abdias do Nascimento, als eine typische Katharsis des rituellen afrikanischen Dramas gesehen und zugleich mit der Situation aller Schwarzen in Brasilien symbolisch gleichgesetzt: »Brazilian blacks arrive at the reencounter with African form, carrying a heavy baggage of oppression accumulated in their experience of Western society. The denouncement, elaboration, and resolution of the problems of this oppression constitute the object of the path-breaking hero’s challenge« (ebd.: 211).
Die Bezeichnung als Mysterium im Titel deute bereits auf eine religiöse Dimension, auf das rituelle afrikanische Theater, so Larkin Nascimento; auch »Sortilégio« vom Lateinischen sortis und legere, also vom Lesen des Glücks, von der Vorhersage und der Magie deutet Ähnliches an. Damit wäre die rite de passage von Emmanuel, die Ablösung von der 11 Das ebó bezeichnet eine Opfergabe an Exú und an die anderen orixás, die gewöhnlich an einer Kreuzung oder Schwelle niedergelegt wird und meist anschließende Rituale einläutet. Als Prinzip ist das ebó in der gesamten Struktur des Candomblé maßgeblich, da es den Gedanken der reziproken Verantwortlichkeit widerspiegelt (vgl. Pessoa de Castro 2001: 224). 119
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christlichen Bildung, als Entfremdung empfunden, die liminale Phase des Abwerfens seiner Kleidung, der Entblößung, und die Aggregation über das Opfer, tatsächlich als ritualintensives Drama umgesetzt. Die mythische, zyklische Zeit ist ein Merkmal der ritualintensiven Funktion. Da mit zahlreichen Flashbacks und Zeitsprüngen gearbeitet wird, ist die Zeitdimension tatsächlich eine besondere. Die Verwirrung der Zeiten wird mit Exú, dem Anstifter des ganzen Passagenritus, assoziiert: »In the ritual of Emmanuel’s transformation, Exú confounds time and submits the hero to a series of flashbacks. Emmanuel sees and relives scenes and dialogues from his life that reveal the conflicts of racist society« (Larkin Nascimento 2007: 213). Der Auftritt verschiedener orixás, begleitet von den ihnen charakteristischen Gesängen oder pontos12, strukturiert das Stück, wie jedes Ritual im Candomblé. Exú macht gemäß den rituellen Traditionen den Anfang. Iemanjá, die orixá des Meeres und der Mütterlichkeit oder Weiblichkeit, begleitet mit ihren Gesängen und Anhängerinnen jegliche Erscheinung Margaridas als schöne und verführerische Frau (ebd.: 172). Die steigende Entschlossenheit und Kampfesbereitschaft des Emmanuel deutet sich mit den Gesängen des aufbrausenden und gewalttätigen orixás des Blitzes, Xangôs, an (Nascimento 1961 [1951]: 182). Schließlich findet Emmanuel die Lanze Exús. Omolu, der Bote des Todes und der Krankheit, taucht auf und nimmt den Opfertod Emmanuels gewissermaßen voraus (ebd.: 190). Ogun, der Kriegergott, treibt den Konflikt zwischen Emmanuel und Efigênia in die Höhe (ebd.: 190). Als Letzter dominiert Exu persönlich das tragische Ende; seine Trommeln erklingen und der Held stößt hervor: »Jetzt habe ich mich befreit. Für immer. Ich bin ein Schwarzer frei von Güte. Frei von Angst. Frei von Almosen, von Eurem Mitleid«13 (ebd.: 193, Übersetzung Dania Schüürmann). So schlussfolgert Elisa Larkin Nascimento: »Not only do the cultural values of African religion structure the play itself – it is ritual, an ebó – but they also are the moving force in Emmanuel’s transformation from a personality harnessed in the trappings of whiteness to a free man in control of his destiny. Moreover, his transformation, based on these cultural values, is a catalyst for the collective redemption of his people« (Larkin Nascimento 2007: 216).
Die Autorin sieht die ›schwarze‹ Gemeinschaft symbolisiert im individuellen Helden. Die Gemeinschaft wird im Schicksal des Einzelnen an12 Ein ponto ist ein ritueller Gesang, der die orixás herbeirufen soll (siehe Pessoa de Castro 2001: 317). 13 »Agora me libertei. Para sempre. Sou um negro liberto da bondade. Liberto do mêdo. Liberto da caridade, da compaixão de vocês.« 120
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gerufen. Das Stück kann als ritualintensiv, das heißt als rituelle Strukturen des Candomblé aufgreifend, gekennzeichnet werden.
R i tu al m e t ap he r n u n d o r i k i Im Vergleich mit Wole Soyinkas »A Dance of the Forests« (1963), ein Stück aus einem politisch und kulturell verschiedenen Kontext, aber zugleich ebenfalls den Mythemen der Yoruba verschrieben, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten einer möglichen ›schwarzen‹ Ästhetik anhand des Einbezugs der orixás deutlich. Ebenso soll der Vergleich eine transnationale Verflechtung des ›schwarzen‹ Theaters aufzeigen, das sich in Brasilien seit Anbeginn von der frankophonen Négritude, von USamerikanischen Einflüssen und von einem Blick nach Afrika hat inspirieren lassen. Dies wird zum Beispiel darin deutlich, dass sich Abdias do Nascimento in Nigeria aufhielt und sich beeinflusst zeigte von dem Werk und der Person Wole Soyinkas (Semog 2006: 180f). Ein wesentlicher Unterschied in der Adaption von Mythologie und Ritualstrukturen der Yoruba in dem Werk von Wole Soyinka ist sein unkonventioneller Umgang mit den Überlieferungen: So sind seine orixás eigene Kreationen, Synthesen diverser Gottheiten (vgl. Wright 1993: 16f). Ogun und Eshuoro sind als orixás konzipiert und als Gegensatzpaar konstruiert: Eshuoro ist eine eigene Synthese des Autors aus dem unberechenbaren Exú und dem asozialen Orô14; Ogun dagegen ist der weise, den Menschen wohlgesonnene Kriegergott. In ihren monologhaften Aussprachen orientieren sich die Figuren an den oriki. In der kürzesten Definition ist ein oriki ein »narrative praise poem« (Gates 1996: 162). Karin Barber ist genauer: »Oriki are a genre of Yoruba oral poetry that can be described as attributions or appellations: collections of epithets, pithy or elaborated, which are addressed to a subject« (Barber 1991: 1). Das Genre ist gewissermaßen eine Montage oder Collage von Attributen, die das beschriebene Objekt charakterisieren. Dabei sind Stilmittel wie die Paranomasie, die Alliteration und das Anagram von Bedeutung für den Klangcharakter. Eine hyperbolische, exzessive Bildersprache ist ein weiteres stilistisches Merkmal. Außerdem sind parallele Satzstrukturen oder Parataxen grundlegend für die strukturellen Eigenschaften eines oriki (vgl. Risério 1992). Eshuoro führt sich selbst also folgendermaßen ein:
14 Der orixá Orô ist ein verborgen und zurückgezogen im Wald lebendes, kontaktscheues Wesen, welches vor allem für seine angsteinjagende Stimme bekannt ist (vgl. Prandi 2001: 186ff). Das Merkmal der Stimme verbindet ihn mit Exú und eine Synthese bietet sich an. 121
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»Demoke, son and son to carvers, who taught you/How you impale me, abuse me! Scratching my shame/To the dwellers of hell, where/The womb-snake shudders and the world is set on fire./Demoke, did you know? Mine is the tallest tree that grows/On land. Mine is the head that cows/The messengers of heaven. Did you not know?/[...] My voice is thin, my voice is shrill, my voice/ Is no child’s lullaby to human ears« (Soyinka 1963: 48f).
Die Drohungen, die Assoziation mit der Hölle und dem Feuer, die Identifikation mit der Rolle des Botschafters, und schließlich die schrille Stimme sind allesamt Merkmale des orixá Exú (vgl. Fußnote 14). Die zyklische Zeitauffassung des Rituals hat Soyinka sich vollkommen zu eigen gemacht. Die orixás und Fabelwesen schwören eine solche Zeit herauf; in einer ritualhaften Begegnung kommen Menschen und Gottheiten zu Wort und verdeutlichen die ewige Wiederholung der Dinge als Metapher für die gesellschaftlichen Probleme Nigerias nach der politischen Unabhängigkeit im Jahr 1960. Die Vorfahren treffen auf die heute Lebenden und die Zukünftigen. Nur die orixás überblicken die Zeiten und die Wiederholungen derselben menschlichen Fehler. Im Ritual der Zusammenkunft der verschiedenen Generationen soll ein Wandel bewegt werden, eine Bewußtwerdung der Zyklen. In den Worten des Forest Head, dem weisen Vorsteher der Waldgeister: »The fooleries of beings whom I have fashioned closer to me weary and distress me. Yet I must persist, knowing that nothing is ever altered. My secret is my eternal burden – to pierce the encrustations of soul-deadening habit, and bare the mirror of original nakedness – knowing full well, it is all futility. Yet I must do this alone, and no more, since to intervene is to be guilty of contradiction, and yet to remain altogether unfelt is to make my long-rumoured ineffectuality complete« (ebd.: 82).
Das augenscheinliche Dilemma zwischen Engagement und den unveränderten Zyklen der Geschichte bringen politische Ritualmetaphern wie von Soyinka mit sich: So ist die nigerianische Unabhängigkeit der Anlass zu »A Dance of the Forests« (Dugga 2002: 75). Die Zeit der Vorfahren, die gegenwärtige Zeit und die Übergangszeiten sind über und mit dem Ritual verbunden. Sie ist ein wesentliches Kriterium, auch in diesem Stück: »Its characters move fluidly in time and sometimes out of it, into the timeless realm of mythology and the suspended, deferred time of the ritual hiatus« (ebd.: 83). Das Nicht-Verhaftetbleiben in der Vergangenheit und Verhindern einer Idealisierung sind für Soyinka dabei Gegengewichte zum Mythos. Hier sehen wir Unterschiede zu Abdias do Nascimento. Auch in seinem Stück ist eine besondere, mythische Zeitdimension anzutreffen, allerdings bleibt das Verfahren auf die dramaturgische 122
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Umsetzung fokussiert, um den Raum der orixás darzustellen, und beschreibt keine Weltanschauung. Im ersten Akt des Stückes von Soyinka begegnen wir den menschlichen Protagonisten der Jetzt-Zeit. Der Bildhauer Demoke hat als Schützling des orixá Ogun ein Totem für das Ritual der Versammlung aller Stämme geschnitzt. Die Menschenmassen, die zum Ritual herbeiströmen, stoßen ihn jedoch ab, und er trifft mit Gleichgesinnten an einer vom Festrummel abgelegenen Stelle aufeinander. Demoke ist nervös und angespannt. Während der Arbeiten an dem Totem ist sein Assistent, Schützling des rivalisierenden orixá Eshuoro, ums Leben gekommen. Demoke hat seinen Tod verursacht. Plötzlich erscheint ein seltsames Paar aus dem Totenreich auf der Suche nach der großen Versammlung. Die Nervosität der Anwesenden nimmt zu. Demoke glaubt, aus Rache heimgesucht zu werden. In der zunehmend eskalierenden Stimmung führt der ominöse Obaneji, der sich ebenfalls an dem vom Festrummel entlegenen Platz eingefunden hat, die Gemeinschaft tiefer in den Wald, angeblich auf der Flucht vor den Menschenmassen. Schließlich gibt Obaneji sich als Vorsteher und Gebieter der Waldgeister zu erkennen. Die Versammlung der Götter, Vorfahren und Menschen beginnt. Der zweite Akt setzt ein. Die binäre Aufteilung der Welt in eine menschliche und eine übermenschliche Wirklichkeit ist hier wenig rigoros, da jedwede Dimension sich durchwebt mit der Anwesenheit andersgearteter Existenzen zeigt. Auch ist die menschliche Perspektive nicht länger die privilegierte; die verschiedenen Lebenswelten bestehen gleichberechtigt. In ihrer ritualhaften Zusammenkunft erleben wir einen Rückblick auf die vergangene Epoche eines afrikanischen Königtums. Alle uns bekannten Akteure treten auf, jedoch in anderen Funktionen und Rollen. Schließlich endet der Rückblick und die Urteilssprechung beginnt. Es sollen aber nicht die Menschen gerichtet werden, sondern die Vorfahren. Die Ersteren sind Zuhörer, welche die Vergangenheit beurteilen, um von ihr zu lernen; die nigerianische Unabhängigkeit dient dem Zwecke der kritischen Anschauung der vorkolonialen Vergangenheit. Die Vorfahrin der Zusammenkunft ist schwanger und bringt als Tote das Neugeborene zur Welt: Das half-child befindet sich zwischen den Zeiten und symbolisiert die noch nicht entschiedene, aber durch Fehler der Vergangenheit vorgezeichnete Zukunft der Nation. Schließlich wird es fortgeschickt mit der toten Mutter. So entscheiden sich die Menschen für den Bruch mit der Vergangenheit und ihren Auswüchsen. Geschichte als konstituierend für Gegenwart und Zukunft ist das zentrale Motiv; die Zyklen der Zeit sind im Kreis und mit der sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange wiederholt symbolisch angedeutet (Soyinka 1963: 73). Die Zahl 3 oder 300 wird in Aufzählungen ange-
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wandt, um die Dreifaltigkeit der Zeit als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft anzudeuten.15 Nicht erklärt werden die reichhaltigen symbolischen Zuweisungen; sie stehen für sich selbst. Diese und weitere Unterschiede sind zu Abdias do Nascimentos Stück »Sortilégio« festzuhalten. Erstens geht Wole Soyinka freier mit den Überlieferungen der Yoruba um. Da werden orixás in Synthesen zusammengefügt und der Ablauf von Ritualen variiert. Dagegen hält sich der brasilianische Schriftsteller strikt an die überlieferten Charakteristiken der Gottheiten und strukturiert sein Stück gemäß ihrem Auftreten. Zweitens stehen die zahlreichen Symbole und Motive aus der Welt der Yoruba bei Wole Soyinka in einem textuellen Raum der Selbstverständlichkeit; sie werden nicht näher ausgeführt. Dagegen ist besonders die zweite, spätere Version des Textes von Abdias do Nascimento durchsetzt von didaktischen Bemühungen. Drittens orientiert sich Soyinka stärker an der Formensprache der oriki und damit an einem literarischen Stil der Yoruba. Viertens exploriert er eine dezidiert mythische, als zyklisch verstandene Zeit, die Gemeinschaft erschafft. Der Opfertod des Emmanuel von Abdias do Nascimento verweist zwar auf einen mythischen Raum, der jedoch lediglich angedeutet ist. An letzter Stelle ist der ambivalente Raum zu nennen, der in der Zone der verwischten Grenzen zwischen der menschlichen und der übermenschlichen Dimension bei Soyinka entsteht. Bei seinem brasilianischen Kollegen treten zwar Tote und orixás in Erscheinung und greifen somit in die menschliche Realität ein, jedoch bleiben sie als Erscheinungen konzeptualisiert und damit beurteilt von der Warte der menschlichen Realität von Zeit und Raum. Das menschliche Individuum Emmanuel, wenn auch konzipiert als Vertreter einer Gemeinschaft der ›Schwarzen‹, 15 Die (An-)Zahl 3 hat im Denken der Yoruba eine besondere Bedeutung: »Drei an der Zahl sind die grundlegenden Farben, welche die essentiellen Attribute zusammenfassen, die dem Weiß, dem Rot und dem Schwarz zugedacht sind, unerlässlich für die Existenz des Lebens; drei an der Zahl sind die Prinzipien der Expansion und Fortpflanzung: das Maskuline, das Feminine und das Fortgepflanzte selbst; drei an der Zahl sind die Tage, welche den kompletten Kreis des jährlichen Opfers darstellen; dreimal werden die Anrufungen und Handlungen in der rituellen Praxis wiederholt« (Três são as cores básicas, resumindo os atributos essenciais conferidos ao branco, ao vermelho e ao preto, indispensáveis para que a existência seja; três são os princípios de expansão e de procriação: o masculino, o feminino e o procriado; três são os dias que constituem o ciclo completo do sacrifício anual; três vezes são repetidas as invocações e as ações na prática ritual) (Santos 2007 [1975]: 68; Übersetzung Dania Schüürmann). Gemäß Juana Elbein dos Santos: »Im ganzen System ist die Zahl Drei mit Bewegung assoziiert« (Em todo o sistema, o número três está associado a movimento) (ebd.: 49; Übersetzung Dania Schüürmann). 124
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so ist er letztendlich doch ein sehr spezifischer Repräsentant einer afrobrasilianischen Mittelschicht, die dem Candomblé und den afrikanischen Wurzeln entfremdet ist. Bei Soyinka sind dagegen die Menschen als Gemeinschaft gegenüber den Vorfahren und Göttern die Protagonisten. In ihrer unterschiedlichen Ausarbeitung sind beide Stücke ritualintensiv und bedienen sich unterschiedlicher Referenzen an den religiösen Horizont der Yoruba; beide, Demoke und Emmanuel durchlaufen einen rite de passage. Die Referenz an die kosmologische und kulturelle Vielfalt des afrobrasilianischen Erbes und des Erbes der Yoruba ist ein wichtiger Bestandteil einer möglichen ›schwarzen‹ Ästhetik des Widerstandes gegen die Unsichtbarkeit ›schwarzer‹ Kultur in Literatur und Theater. Dabei ist das brasilianische ›schwarze‹ Theater didaktischer und rigider in seinen Auslegungen eines Repertoire des Candomblé entgegen einem freieren und tiefer symbolisch durchdrungenem Theater eines Wole Soyinka. Dies mag sowohl die Bedeutung transnationaler Referenzen und kultureller Austauschbeziehungen verdeutlichen, die für die afrobrasilianische Bevölkerung eine Möglichkeit der Wiederentdeckung afrikanischer Kultur, durch die Versklavung und Kolonialzeit teils verloren gegangen, bereit halten als auch auf die Konstruktion eigener Ästhetiken der Diaspora verweisen.
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W ISSEN , R ÄUME UND H ERRSCHAFTSVERHÄLTNISSE
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DURCH GUTE
ABSICHTEN
ELÍSIO MACAMO Einleitung Was sind gute Absichten? Wann verdient ein Handeln in der Gesellschaft die Bezeichnung ›gute Absicht‹? Was entscheidet darüber, ob eine Absicht gut oder böse ist? Sind es unsere Beweggründe für das, was wir tun? Sind es die Ziele, die wir uns vor Augen halten? Oder entscheidet über die Qualität der Absichten das Urteil, das Andere, womöglich auch Empfänger oder Opfer der Absichten, darüber fällen? Man kann die Frage anders stellen, nämlich so: Wann meinen es Menschen gut mit uns? Jemand, zum Beispiel, der mir aus Sorge um meine Sicherheit in BerlinMarzahn rät, Deutschland zu verlassen, meint er es gut mit mir? Und wenn er auch noch bereit wäre, eine Unterschriftenaktion zu starten, würde er so handeln, dass wir mit gutem Gewissen sagen könnten, dass er es gut mit mir meint? Das sind schwierige Fragen. Die Schwierigkeit hat aber zum großen Teil mit der ausgesprochen großen Herausforderung zu tun, über eine Geschichte zu sprechen, die so blutig, demütigend, entwürdigend, aber auch hoffnungsvoll, befreiend und richtungsweisend war, wie die Weltgeschichte es in den letzten 500 Jahren war. Wir sind fast Geisel der eigenen Geschichte geworden. Es ist so viel Schreckliches in der Beziehung zwischen Afrika und Europa passiert, dass es fast unmöglich geworden ist, überhaupt darüber zu sprechen. Jeder Versuch zu sprechen wird im Keim erstickt, weil Begriffsklärung geleistet werden muss und zwar eine Begriffsklärung, die nicht nur darlegt, wie Begriffe zu verstehen sind, sondern sie von unschönen Annahmen, Abwertungen und groben Unterstellungen säubert. Die Sklaverei, die Kolonialherrschaft und die dazugehörige Demütigung der Afrikaner über Jahrhunderte hinweg lassen es einem Afrikaner schwer fallen, über die ›Zivilisierungsmission‹ zu sprechen, ohne dabei die Frage zu stellen, wie die gleichen Menschen, die so etwas propagierten, im Namen einer natürlichen Überlegenheit Europas ganze Völker und Kulturen missachten konnten. Warum war der Geist der Zivilisation nicht stark genug, um den päpstlichen Bullen entgegenwirken zu können, die auf höchst christlicher Ebene die Bestäti129
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gung dafür lieferten, dass Indianer und Afrikaner keine Menschen waren und deswegen versklavt werden konnten? Warum war dieser Geist nicht stark genug, um den von namhaften Denkern wie Kant und Hegel getätigten abfälligen Bemerkungen über Afrikaner entgegenzuwirken? Wo war der Geist des Humanismus, als das mit dem Sklavenhandel verbundene ökonomische Interesse mit den Zielen der Zivilisierung legitimiert wurde? Also, so oder so sind wir Geisel der Geschichte, denn genauso, wie wir mit Recht vorwurfsvoll unseren Finger erheben können, können wir auch behaupten, dass der humanistische Geist zu den Bedingungen unserer Freiheit zählte. Gerade weil eben diese Ideen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellten, gedacht wurden, konnten wir Hoffnung schöpfen. Gerade weil der Humanismus Menschlichkeit definierte, konnten wir uns darauf beziehen, um eine Behandlung zu beanspruchen, die sowohl unsere Menschlichkeit achtete, als auch ins Gewissen derjenigen sprach, die unsere Menschlichkeit verletzten. Es ist viel Blut geflossen, aber es sind neue Ideen entstanden, neue Sichtweisen auf die Welt, neue Menschentypen und Hautfarben, die die Welt nicht nur bunter, sondern aus ihr eine viel angenehmere intellektuelle Herausforderung gemacht haben. In dieser Geschichte, die so blutig war, aber gleichzeitig vielen Menschen Hoffnung geschenkt hat, haben gute Absichten eine große Rolle gespielt. Viele Kollegen von mir1 empfinden ein großes Unbehagen, wenn jemand ihnen den Vorschlag macht, diese Geschichte aus der Perspektive von guten Absichten zu betrachten. Die Geschichte Afrikas aus der Perspektive zu betrachten, wie sich der Kontinent als Ergebnis von guten Absichten herausgebildet hat, lohnt sich allemal. Dabei soll einfach das Experiment gewagt werden, die Welt von der anderen Seite zu betrachten, d.h. von der Seite, die sagt, »wir meinten es gut mit ihnen«. Die Frage ist also nicht, in welcher seelischen Verfassung jemand sein muss, um so etwas überhaupt zu sagen, sondern welche soziologischen Bedingungen erfüllt werden müssen, damit jemand behaupten kann, dass die letzten 500 Jahren von guten Absichten geprägt waren, die leider misslungen sind. Absichten stiften zunächst Sprachlosigkeit, weil sie einen gemeinsamen normativen Rahmen benötigen, um es Menschen möglich zu machen, über gut und böse zu entscheiden. Ohne diesen normativen Rahmen können Absichten weder gut noch böse sein. Die hier zu vertretende These lautet dementsprechend, dass diese grundlegende Schwierigkeit der Beurteilung von Absichten am Anfang allen Übels stand. Sie löste Phänomene aus, die wir grob mit den Begrifflichkeiten der dieser Publikation vorangegangenen Tagung ›Ideen, Darstellungen und Wirklichkei1
Gemeint sind afrikanische Intellektuelle. 130
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ten‹ umschreiben können, die für unser Dasein und Selbstverständnis von grundlegender Bedeutung waren. Die These besteht aus Überlegungen, die noch zu vertiefen sind, aber die erste Hinweise geben, wie die Probleme gedacht werden müssen, die im Zusammenhang mit Afrikas Wahrnehmung und Stellenwert in der Welt stehen. Ich möchte auf jeden Fall Andeutungen machen, wie die Geschichte betrachtet werden kann, die uns möglich gemacht hat, aber die wir auch durch unser Tun und unsere Reaktionen auf sie möglich machen. Gute Absichten gehören zu den Dingen, die wir mit gutem Gewissen ›reflexiv‹ nennen können.
Die Soziologie der guten Absichten In seinem Theaterstück mit dem Titel Death and the King’s Horseman (1993) beschreibt der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka eine für uns interessante Situation. Das Ganze spielt sich in der Kolonialzeit ab, und da Soyinka selbst nicht will, dass wir die Geschichte als einen Zusammenprall von Kulturen beschreiben, ist es wirklich schwer zu sagen, worum es geht. Da ist ein Kolonialbeamter aus England, der district officer, der mit einer ihm völlig unverständlichen Situation konfrontiert ist, nämlich der Situation, dass ein afrikanischer König gestorben ist und nun Begleitung auf seiner Reise in die andere Welt braucht. Gesellschaft soll ihn sein Horseman leisten, der entsprechend dem Brauchtum rituellen Selbstmord begehen muss. Hier hat der Kolonialbeamte seinen großen Auftritt, denn er findet dies barbarisch und nicht in Ordnung. Also nimmt er den Horseman in Gewahrsam und ignoriert unbeeindruckt die poetisch schönen Klagen der Frau des Horseman, die den Ehemann bei der Erfüllung seiner Pflicht unterstützt. Engländer sind, Joseph Conrad’s Kurtz in Heart of Darkness (2002) zum Trotz, dafür bekannt, nie mit Barbarei Kompromisse geschlossen zu haben. Also, der Horseman darf seine Pflicht nicht erfüllen. Die Sache verkompliziert sich schließlich noch dahingehend, dass der Horseman einen Sohn hat, und dieser Sohn studiert Medizin in London; er ist von dem Kolonialbeamten dorthin geschickt worden. Der Sohn erfährt vom Tod des Königs und weiß, was dies für seinen Vater bedeutet und wie einst Hänschen klein eilt er deswegen geschwind nach Hause. Dort angekommen wird er in Kenntnis darüber gesetzt, dass sein Vater im Gefängnis sitzt. Nun muss er handeln. Er begeht Selbstmord, damit die Geschichte weitergehen kann und nicht von Engländern, die komische Vorstellungen vom richtigen Handeln haben, aufgehalten wird. Das ist auch der Grund, weshalb Soyinka nicht wollte, dass die Geschichte als ein Aufeinanderprallen von Kulturen verstanden wird. Ihm ging es darum, die Souveränität der afrikanischen Welt zu de-
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monstrieren, die unbeeindruckt von den Gebärden von besserwisserischen Kolonialbeamten ihren Lauf nehmen und sich in Bezug auf eigene Wertvorstellungen entfalten konnte. Der Kolonialbeamte war fassungslos. Seine Fassungslosigkeit wurde noch größer als er mit ansehen musste, wie sich der Horseman mit den Fesseln, die ihn an einem Selbstmord hindern sollten, umbrachte, als er vom Opfer seines Sohnes erfuhr. Auch hier zeigt Soyinka ein Stück von der Souveränität der Yoruba-Welt, indem das vorläufig letzte Wort in der ganzen Geschichte von der Gottheit Ogun – der Gottheit des Metalls – gesprochen wird. Der Kolonialbeamte ist, wie gesagt, einfach fassungslos. Aber warum? Er hat alles getan, um das Schlimmste zu verhindern; dass er nicht erfolgreich gewesen ist, liegt nicht an ihm, sondern an der Hartnäckigkeit der Yoruba-Welt. Er hat entsprechend seiner Vorstellung von Falschem und Richtigem gehandelt. Er hat sich zwar wenig Gedanken darüber gemacht, ob seine normativen Vorstellungen überall gelten, aber unter dem Strich ist alles bestens, was er getan hat. Eigentlich müsste er diese Frage im Grunde nicht einmal stellen, denn seine normativen Vorstellungen sind nicht nur deshalb richtig, weil sie richtig sind, sondern weil sie, zumindest in seiner Auffassung, die Vorstellungen sind, die ein normaler Mensch haben muss, um überhaupt als normal gelten zu können. Natürlich kann die Frage aufgeworfen werden, warum ein normaler Mensch gerade solche normativen Vorstellungen haben sollte, aber spätestens da kann jedem, der solche Fragen aufwirft, mit gutem Recht Zynismus und Undankbarkeit unterstellt werden. Aber daran sind wir schon gewöhnt. Die Yoruba und ihre Welt wurden zu einer kleinen Fußnote in dieser Geschichte degradiert, einer Fußnote, die die Überlegenheit des Anderen noch stärker zum Vorschein brachte. Indem wir diese Geschichte lesen oder hören und darauf mit einem Kopfschütteln reagieren, weil wir nicht verstehen können, warum sich um Gottes Willen jemand umbringt, der in London Medizin studiert, und zwar aufgrund von irgendwelchen merkwürdigen Vorstellungen über Richtiges und Falsches, signalisieren wir, dass wir prinzipiell davon ausgehen, dass die Welt der Yoruba zumindest erklärungsbedürftig ist. Das hatte Wittgenstein im Sinne als er sagte, dass der Versuch etwas zu verstehen, dieses etwas verfremde. Und bis hierher wollte ich kommen, um mit guten Absichten von vorne anfangen zu können. Gute Absichten setzen einiges voraus, um überhaupt als solche gelten zu können. Wir haben zwar alle klare Vorstellungen davon, was gut und böse ist, aber diese Vorstellungen sind nicht universell gültig, obwohl viele von uns davon ausgehen – nur weil wir daran gewöhnt sind, die Welt mit den Augen einer herrschenden Kultur zu betrachten. Diese An-
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sicht bedeutet natürlich nicht, dass wir zwangsläufig die Welt relativistisch betrachten sollen. Ich glaube, dass es durchaus ausreichend ist einfach zu behaupten, dass wir in einer Welt leben, in der normative Vorstellungen einem Test unterzogen werden, dessen Fragen aus der Logik einer ganz bestimmten Kultur gestellt werden. Das Schöne daran jedoch, ist, dass die Kultur, die eine solch dominante Position inne hat, längst die Deutungshoheit verloren hat, auch wenn einige immer noch denken, die Situation wäre anders. Der Verlust dieser Deutungshoheit ist eng mit den soziologischen Bedingungen der guten Absichten verknüpft. Darauf möchte ich hier kurz eingehen.
F o l g e n r e i c h e E n tw ü r f e Absichten können gut oder böse sein, aber die Entscheidung darüber wird innerhalb eines klaren normativen Rahmens getroffen. Wir können über eine Absicht nur als gut oder böse befinden, wenn wir über die gleichen Kriterien zu ihrer Beurteilung verfügen. Das sehen wir am klarsten in Soyinkas Beispiel, wo im Grunde eine Situation der Sprachlosigkeit entsteht. Die Kommunikation droht zusammenzubrechen. Der Kolonialbeamte findet es nicht in Ordnung, dass der Horseman etwas tut, was der Horseman, seine Frau und sein Sohn in Ordnung finden. Jeder von ihnen hat einen normativen Bezug, der ihm Anhaltspunkte für die Beurteilung der Situation gibt. Damit haben wir eigentlich eine sehr schöne Beschreibung der kolonialen Situation gewonnen, denn über die Tatsache der Unterdrückung, Demütigung und der Unfreiheit hinaus haben wir es hier mit einer Kommunikation zu tun, die nicht stattfinden kann, weil die Voraussetzungen dafür erst geschaffen werden müssen. Die guten Absichten liefern die Anhaltspunkte für die Schaffung dieser Voraussetzungen. Das ist das Soziologische daran. Wie überwindet man die Sprachlosigkeit? Man überwindet sie, indem man ganz im Sinne von Richard Rorty (1989) Vokabulare schafft und durchsetzt, die nichts anderes tun, als eben schleichend normative Vorstellungen einzuführen, die dann dazu dienen, Absichten einheitlich zu definieren und zu beurteilen. Man schafft die Bedingungen für Solidarität. Gute Absichten haben sich im Laufe der Geschichte großer Erzählungen bedient, um den Rahmen für die Einführung dieser Vokabulare und konsensfähige Urteilsmaßstäbe zu schaffen. Diese wiederum haben sich allgemeinen Topoi bedient, um den Rahmen für die Plausibilität der Aussagen abzustecken. Ein Beispiel einer solchen großen Erzählung (vgl. Lyotard 1979) war die Missionierung, der wir natürlich viele anderen Motive und Absichten unterstellen können. Ich möchte zu bedenken
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geben, dass die Bedeutung der Missionierung sich in dem Rahmen niederschlägt, den sie für die gemeinsame Beurteilung von guten Absichten geschaffen hat. Nicht christlich zu sein bedeutete, keinen Gott zu haben, was Chinua Achebe, ein zeitgenössischer nigerianischer Schriftsteller, zu der Aussage veranlasste, dass er sich keinen Igbo – seine eigene ethnische Gruppe in Nigeria – vorstellen kann, der über 3000 km reisen würde, um anderen Völkern zu sagen, dass ihre Religion falsch sei. Die mit guten Absichten ausgestatteten Europäer haben es getan. Sie gingen davon aus, dass jemand, der keinen Gott hat, verdammt sei, obwohl die Möglichkeit wohl bestünde, ihn zu retten. Alles was sie fortan taten, durchaus auch mit Gewalt, wurde durch die Absicht gerechtfertigt, dass alles zu seiner Rettung diente. Also, alles im/mit? besten Willen. Was ich damit sagen will, ist, dass gute Absichten selbst die Beschreibung von Anderen auf eine bestimmte Art und Weise erzwangen, und zwar eine Beschreibung, die sich nicht um Objektivität bemühen musste, sondern um die Anfertigung eines Bildes, das die Rechtfertigung für die Formulierung von guten Absichten liefern konnte. Hier haben wir also Darstellungen. Daraus folgten Wirklichkeiten, d.h. die schlimmen Taten der Europäer in Afrika. Sie waren nicht deswegen schlimm, weil die Europäer voller bösen Absichten waren – also, uns zu unterdrücken beispielsweise – sondern gerade umgekehrt: Die guten Absichten führten dazu, dass sie schlimme Taten begingen, weil sie auf ein Bild von uns reagierten, das ihre guten Absichten entworfen hatten und das es notwendig machte, dass sie so mit uns umgingen. Sie haben uns gedemütigt, getötet, in die Sklaverei verkauft, usw., weil sie uns liebten. Für die vielen Millionen, die auf der Reise nach Amerika umkamen, für diejenigen, die es bis dorthin schafften und von ihren Herren misshandelt wurden, für die vielen Afrikaner, die heute noch mit dem Erbe der Kolonialherrschaft kämpfen müssen und dabei ständig mit anhören müssen, wie einige klugen Menschen immer wieder behaupten, dass die koloniale Zeit soweit zurück liege, dass sie keine Relevanz mehr für die Erklärung der afrikanischen Probleme besitze, ist es gewiss kein Trost zu wissen, dass uns die Europäer geliebt haben. Damit relativiere ich zu einem gewissen Maße Mudimbes (1988) berechtigte Vermutung, dass alles mit dem Machtwillen der Europäer zu tun hatte, der sich diskursiv durch die Erfindung Afrikas durchsetzte, und behaupte, dass es, statt diese Tatsache anzuklagen, viel interessanter wäre, sich Gedanken darüber zu machen, inwieweit die Überwindung der Sprachlosigkeit dazu geführt hat, Geschichte möglich zu machen, und zwar eine Geschichte, die die Deutungshoheit über die Vereinbarkeit von lokalen normativen Vorstellungen mit universellen normativen Vorstel-
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lungen aufbrach. Wenn wir die Sache bei der Feststellung der europäischen List belassen, so wie Mudimbe (1988), Mbembe (1992) und in gewisser Weise auch Appiah (1992) es tun, dann verspielen wir uns die Chance, sowohl die kontingente Natur der Geschichte anzuerkennen, als auch den für die Herausbildung von guten Absichten hervorgebrachten Rahmen zu nutzen, um Menschen mit guten Absichten zur Rechenschaft zu ziehen. Merkwürdigerweise spielt das Aufgreifen dieser Chance eine zentrale Rolle in der Bedingung der Möglichkeit Afrikas. Zurückgekehrte Sklaven aus Amerika, für die Liberia und Sierra Leone im 19. Jahrhundert gegründet wurden, kamen mit der festen christlichen Überzeugung zurück, dass die Sklaverei eine Tat der Vorsehung war. Sie wählte einige Afrikaner aus, die Bekanntschaft mit dem Christentum machen konnten, damit sie später ihr Volk in die Freiheit führen würden. So sprachen damals Alexander Crummell und Edward Blyden. Sie waren dem noch heute agierenden Ku Klux Klan in diesem Sinne um hundert Jahre voraus. Sie standen im Dialog mit der eigenen Geschichte. Der Dialog mit der Geschichte fängt im Grunde bei der Suche nach Afrika an. Aufgenommen wurde diese Suche von ehemaligen Sklaven, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Afrika zurückkehrten, für eben diese Liberia und Sierra Leone gegründet wurde. Sie stellten sich Afrika zum ersten Mal als eine sui generis-Kategorie (Irele 1975) vor. Was sie damit auslösten, darf als Geschichte des Humanismus in Afrika betrachtet werden. Der Humanismus entstand aus der Erfahrung des Sklavenhandels, der Kolonialherrschaft, des Rassismus und des Kampfes um Würde. Die zurückgekehrten Sklaven entwickelten dabei ein Verständnis von Afrika, das geprägt von der eigenen Erfahrung der Sklaverei war, und nahmen dieses zum Anlass, um eine Idee von Afrika zu entwerfen, die den Rahmen für den Humanismus in Afrika darstellt. Um dieses Verständnis sowie die daraus folgende Idee von Afrika richtig darzulegen, müssen wir uns einen Streit, der die wesentlichen Momente des Humanismus in Afrika beschreibt, näher ansehen. Es handelt sich um den Streit um die afrikanische Philosophie (siehe hierzu Macamo 1999), vielmehr jedoch um die unter afrikanischen Intellektuellen geführte Debatte über die Frage, ob es eine afrikanische Philosophie gibt. Auf der einen Seite behaupteten einige zeitgenössische Intellektuelle, wie der ruandische Geschichts- und Sprachwissenschaftler Alexis Kagame (1976) sowie der ugandische Religionswissenschaftler John Mbiti (1982), dass es eine afrikanische Philosophie insofern gab, als es eine spezifisch afrikanische Weltanschauung gab. Sie knüpften dabei an die bereits erwähnten Werke europäischer Kenner Afrikas wie des belgischen Missionars Placide Tempels und der deutschen Ethnologen Jahn-
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heinz Jahn und Leo Frobenius an, die für sich in Anspruch nahmen, die wahre Seele Afrikas entdeckt zu haben. Diese Seele, die Tempels als die ›Lebenskraft‹ definierte, wurde von der Négritude-Bewegung prägnant zusammengefasst als das Prinzip, wonach die Vernunft griechisch und die Emotion schwarz seien. Auf der anderen Seite standen zeitgenössische Philosophen wie der Ghanaer Kwasi Wiredu, der Nigerianer Peter Bodunrin und der Beniner Paulin Hountondji, die darauf bestanden, dass Philosophie mehr als die Summe von Brauchtümern und Volkskunde sei. Sie wollten den Begriff ›Philosophie‹ als Bezeichnung für eine universelle Tätigkeit verstehen, die darin bestand, nach bestimmten fachlich anerkannten Regeln und Prinzipien zu argumentieren. Kwasi Wiredu, beispielsweise, legte sich mit dem Ethnologen Robin Horton an, der 1960 behauptet hatte, dass die afrikanische traditionelle Religion die Funktion der westlichen Wissenschaft unter den Afrikanern inne habe und dementsprechend mit ihr gleichgesetzt werden könne (Horton 1960). In einem polemischen Aufsatz hielt Wiredu (1980) mit dem Argument dagegen, dass afrikanisches traditionelles Denken traditionelles Denken war und nur mit westlichem traditionellem Denken verglichen werden könne. Ähnlich argumentierte Paulin Hountondji, der die Vorstellung einer afrikanischen Philosophie mit der Begründung zurückwies, dass sie Afrika eine Einheit unterstelle, die es nicht aufwies. Er sprach vom »l’unanimism« (Hountondji 1983). Die Bedeutung dieses Streits um die afrikanische Philosophie liegt darin, dass er nicht nur von der Frage handelt, ob es tatsächlich eine afrikanische Philosophie gibt oder nicht, sondern von der nach dem Kontext für den Entwurf einer Idee von Afrika, welche uns wiederum Einblicke in den Humanismus in Afrika gewähren kann. Im Streit machten sich die beteiligten Intellektuellen Gedanken über die Bedeutung von Afrika. Dabei handelte es sich um die dritte Phase einer längeren Geschichte der Herausbildung von Afrika als Schicksals- und Wertegemeinschaft (siehe hierzu Macamo 1999). Die beiden ersten Phasen waren sowohl religiös als auch politisch geprägt. Diese Geschichte war deshalb religiös geprägt, weil die zurückgekehrten Sklaven religiöse Metaphern verwendeten, um über das eigene Schicksal zu sprechen. Sie sahen sich selbst als ›Auserwählte‹, die von der Vorsehung bestimmt worden waren, Afrika zu retten. In einer Rede in Liberia im Jahre 1952 fasste Kwame Nkrumah diese Überzeugung mit den Worten zusammen: »Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorsehung die Schwarzen während ihrer Schwierigkeiten im Exil in den USA und der Karibik geschützt hatte; dass es die gleiche Vorsehung war, die Mose und die Israeliten in Ägypten vor Jahrhunderten behütete. ›Ein noch größerer Exodus kommt auf Afrika 136
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zu‹, habe ich festgestellt, ›und dieser Exodus wird hier dann von statten gehen, wenn es ein vereinigtes, freies und unabhängiges Westafrika gibt […]‹ ›Afrika den Afrikanern‹ habe ich gerufen […]« (Zitat nach Appiah 1992: 30; Übersetzung EM).
Obgleich man bezüglich des Sklavenhandels einräumte, dass es sich dabei um etwas Unmenschliches handelte, fasste man diesen nicht unbedingt als Verdammung auf. Vielmehr ließ Gott es zu, dass Frauen und Männer in die Sklaverei verkauft wurden, damit sie Bekanntschaft mit dem Christentum machen konnten und so eine neue Lebensweise lernen würden. Sie waren dazu bestimmt, ihre Mitmenschen in Afrika aus der Finsternis ihrer Weltanschauung in das christliche Licht zu führen. In den Schriften dieser zurückgekehrten Sklaven findet man viele biblische Metaphern. Der Sklavenhandel war eben der Exodus, und die Rückkehr nach Afrika war die Rückkehr ins gelobte Land. Die Sklaven waren die ›Auserwählten‹, die ihre Mitmenschen heilen würden. Später bediente sich der französische Lebensphilosoph Jean-Paul Sartre ähnlicher Metaphern, obgleich in marxistischem Gewand, als er zu bedenken gab, dass die Geschichte den schwarzen Mann auserwählt hätte, um die Menschheit zu befreien. Mit anderen Worten nahmen die Schwarzen in Sartres Geschichtsauffassung die gleiche Rolle ein, die die Arbeiterklasse im Marxismus inne hatte. Die zurückgekehrten Sklaven gingen in ihren biblischen Metaphern so weit, dass sie sogar behaupteten, dass die damals in weiten Teilen Afrikas übliche Nacktheit ein Zeichen für die ursprüngliche Unschuld der Afrikaner darstellte. Weil eben die Suche nach Afrika darauf abzielte, einen Kontinent, sein Volk und die ganze Menschheit zu heilen und zu retten, war sie ein Selbstdialog. Es war ein Dialog mit einem Afrika, das es politisch noch nicht gab, das aber noch zu konstituieren war. Alexander Crummell, ein zurückgekehrter Sklave, der Pfarrer geworden war, schrieb: »Afrika ist das Opfer seiner heterogenen Götzendienste. Afrika verrottet unter der Anhäufung von sittlichem und sozialem Elend. Dunkelheit bedeckt das Land und übergroße Dunkelheit die Menschen. Überall herrschen große soziale Übel vor. Vertrauen und Sicherheit werden zerstört, Unmoral ist überall im Übermaß anzutreffen. Der Moloch regiert und herrscht auf dem ganzen Kontinent und zermartert in Form von Fetischen, Menschenopfern und Teufelsanbetung Männer, Frauen und Kinder« (Zitat nach Appiah 1992: 35; Übersetzung EM).
Er zog den Schluss, dass die Menschen in Afrika »[…] have not the Gospel. They are living without God. The Cross has never met their gaze […]« (ebd.). Diejenigen, die von Gott beauftragt worden waren, die afri137
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kanischen Mitmenschen zu führen, sollten dafür sorgen, dass aus dieser Vielfalt eine Einheit wachsen würde, die sich als Gemeinschaft behaupten könnte. Interessanterweise griffen die Vertreter dieser Denkrichtung dabei auf den Begriff der Rasse zurück und versuchten mit dessen Hilfe der Gemeinschaft eine Essenz zu verleihen. Blyden, ein großartige Intellektueller, der nach Sierra Leone zurückkam, schrieb: »Es ist das Gefühl der Rasse – das Verlangen nach einer eigenen Entwicklung, der Art der Menschheit, der wir angehören. Italiener und Deutsche sehnten sich lange Zeit nach einer solchen Entwicklung. Die slawischen Stämme suchen gerade danach. Nun aber trägt nichts mehr dazu bei, diese Gefühle zu schwächen und dieses Verlangen zu unterdrücken, als die Vorstellung, dass die Leute mit denen wir verbunden sind, und deren Leben wir zu verbessern suchen, niemals eine Vergangenheit hatten oder nur eine unrühmliche Vergangenheit – eine Vorgeschichte – ›ohne Bedeutung und Hoffnung‹, die man am besten ignorieren und vergessen sollte« (Blyden 1971: 212; Übersetzung EM).
Als ›Auserwählte‹ sollten sie die Vermittler zwischen den europäischen Kolonialherren und den schwarzen, gottlosen Afrikanern darstellen. So erklärt sich Blydens leidenschaftlicher Appell an befreite Sklaven in Amerika, zurück nach Afrika zu kommen, um das Land in Anspruch zu nehmen, das ihnen rechtmäßig gehörte. Unmittelbar vor der Berliner Konferenz von 1884-85, auf der sich europäische Kolonialmächte Afrika aufteilten, hofften die zurückgekehrten Sklaven noch, dass sich die Europäer dafür entscheiden würden, ihnen die Entwicklung Afrikas anzuvertrauen. Sie glaubten noch daran, dass sich Europäer in Afrika aufhielten, um Fortschritt und Wohlstand zu schaffen. Der Ausgang der Konferenz, der darin bestand, dass sich die europäischen Mächte Afrikas Reichtums bedienten, sorgte dafür, dass die Suche nach Afrika nicht mehr ausschließlich religiös betrieben wurde, sondern auch politisch. Auf diese Art und Weise ist Afrika gedacht worden als eine Gemeinschaft, die dadurch gekennzeichnet war, dass sie Menschen zusammenbrachte, die ein ähnliches Schicksal und somit auch ähnliche Werte teilten. Dies mündete in die bereits erwähnte politische Prägung der Suche nach Afrika. Hier stand der Kampf um Selbstbestimmung im Vordergrund. Eingeleitet wurde die politische Phase durch Kwame Nkrumah, den späteren Präsidenten des ersten unabhängigen schwarzen Staates Afrikas, nämlich Ghana, der die Afrikaner mit dem Aufruf »seek ye first your political kingdom, all else will follow« aufforderte, politische Selbstbestimmung zu beanspruchen. Zu dieser Zeit, also zwischen 1920 und 1960, wimmelte es von Ideologien in Afrika. Man sprach beispielsweise von »Ujamaa« (Nyerere 1968), »consciencism« (Nkrumah 1974), »afrikanischem Sozia138
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lismus« (vgl. Friedland/Rosberg 1967; auch Babu 1981) und sogar vom Humanismus (Kaunda 1976). »Ujamaa« war die Vorstellung eines ursprünglichen afrikanischen Kommunismus, den es zurückzugewinnen galt. Ähnliche Vorstellungen prägten den Begriff des »afrikanischen Sozialismus«, der auch davon ausging, dass die ur-afrikanische Lebensform gemeinschaftlich gewesen sei und durch die koloniale Herrschaft verloren gegangen war. Nkrumahs »Consciencism« war mehr als nur die Vorstellung einer ursprünglichen Gemeinschaft; sie nahm Bezug auf die Geschichte und ermahnte die Afrikaner dazu, sich ihrer Lage bewusst zu werden, um ihre lange entbehrte Würde zurückzugewinnen. Der Humanismus von Kaunda war eine Mischung aus Christentum und Selbstbestimmung und zielte auf diese Art und Weise darauf ab, ein afrikanisches Dasein zu rechtfertigen, das sich auf ein schlichtes Verständnis von Menschlichkeit bezog. Der Rest ist im Wesentlichen Geschichte. Erst mit Ghana 1957 und dann in den 1960er Jahren mit Nigeria, Kenia, usw. erlangten die afrikanischen Länder ihre politische Unabhängigkeit und erfüllten sich somit nicht nur einen Traum, sondern schlossen auch einen geschichtlichen Prozess ab, der aus der Suche nach Afrika bestand. Mit der Selbstbestimmung wurden sie fündig und stellten dabei fest, dass Afrika als eine Schicksals- und Wertegemeinschaft zu sehen war. Die Bedeutung dieses Dialogs besteht darin, dass er auf menschlicher Würde basiert, die zugleich die Verortung Afrikas innerhalb einer aus der Sicht der Afrikaner feindseligen Weltgeschichte verankerte. Die Erklärung Afrikas zu einer Schicksals- und Wertegemeinschaft entsprach dem Werdegang des Kontinents und seiner Völker, war aber auch ein Ausdruck struktureller Bedingungen, die sich seit dem 15. Jahrhundert in Afrika niederschlugen. Diese strukturellen Bedingungen haben im Wesentlichen damit zu tun, dass die Erfahrung der Kolonialisierung sowie der Einbeziehung Afrikas in die Weltwirtschaft diesen Kontinent zu einem modernen Konstrukt gemacht haben. Afrika ist als Schicksals- und Wertegemeinschaft aus dem bewussten Dialog zwischen Menschen (Afrikanern) und ihrer Geschichte hervorgegangen. Dabei jedoch ging es um eine Reaktion auf strukturelle Verhältnisse, die sich besser umschreiben lassen in Bezug auf den Begriff der Moderne. Der schwedische Politikwissenschaftler Bjorn Wittrock (2000) schlug indes eine Definition von Moderne vor, die sich dazu eignet, diese strukturellen Bedingungen zu beschreiben. Er gab zu bedenken, dass die Moderne eine Reihe von Versprechungen darstelle, die eingelöst werden könnten oder auch nicht. Nicht die Einlösung dieser Versprechungen definiere die Moderne, sondern die Entstehung solcher Versprechungen sowie der Möglichkeit ihrer Einlösung. Die Kolonialherrschaft führte bestimmte Versprechungen in afrikanische Ge-
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sellschaften ein, die von Afrikanern mit dem Ziel, diese einzulösen, aufgegriffen wurden. Die Moderne wurde somit zu einem reflexiven Moment, denn sie eröffnete den Afrikanern neue Möglichkeiten, für die sie auch Einlösungsrahmen zur Verfügung stellte. Die christlichen Metaphern über Vorsehung, Exodus, gelobtes Land und Heilung entsprachen der großen Erzählung, auf die die guten Absichten angewiesen waren, um die Sprachlosigkeit zu überwinden. Sie bildeten aber auch einen Rahmen, um den Dialog über gut und böse weiter voranzutreiben. Viele zurückgekehrte Sklaven bereuten es später, geglaubt zu haben, dass das Christentum tatsächlich ihre Rettung darstellte. Blyden beispielsweise konnte es nicht fassen, dass Christen anderen Menschen solche Dinge angetan hatten, wie sie die Sklaven in Amerika erfahren hatten. Die Vorliebe der African Americans von heute für den Islam kann auf Blyden und Gleichgesinnte zurückgeführt werden, die sich dem Islam schon damals zuwandten, weil sie glaubten, in ihm die Übereinstimmung zwischen normativen Vorstellungen und Handlungen zu finden, die sie im Handeln der damaligen Europäer nicht sehen konnten. Sie gingen sogar so weit, selbst das Erlernen einer europäischen Sprache zu missbilligen, weil diese Sprachen Träger der Demütigung der Afrikaner seien. Aber sie taten dies, nachdem sie sich den normativen Rahmen angeeignet hatten, innerhalb welchen sie Urteile über Absichten fällen konnten. Das Schicksal dieser zurückgekehrten Sklaven sagt viel über Darstellungen, Ideen und Wirklichkeiten aus. Ich habe hier versucht, darzulegen, wie aus guten Absichten Darstellungen der Anderen entstehen können, die Wirklichkeiten schaffen, die wiederum den Ausgangspunkt von folgenreichen Ideen bilden. Unter Darstellung verstehe ich tatsächlich eine Repräsentation von Wirklichkeit, die notwendig geworden ist, um Vorstellungen und Entwürfen empirischen Gehalt zu verleihen bzw. Menschen handlungsfähig zu machen. Das Bedürfnis Gutes zu tun, führte dazu, dass die Wirklichkeit der Afrikaner auf eine Art und Weise dargestellt wurde, die das aktive Eingreifen der Europäer ermöglichen konnte. Dieses Phänomen entspricht Foucaults Begriff gouvernamentalité, d.h. den Machttechnologien, die eingesetzt werden, um aus Menschen einen Gegenstand eines externen Eingriffs zu machen. Die Kolonialgeschichte ist so gesehen die Geschichte der Umwandlung der Kolonialvölker in Artefakte der Macht Anderer, ganz im Sinne von Mudimbes Erläuterungen über die Erfindung Afrikas und entsprechend Walter Mignolos (2005) Klage gegen die Erfindung von Lateinamerika. Sie ist aber auch ein Markt der Möglichkeiten, die von vielen Kolonialvölkern aufgegriffen worden sind, um neue Geschichten möglich zu machen. Die von den guten Absichten notwendig gemachten Repräsentationen schu-
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fen Wirklichkeiten, d.h. neue empirische Realitäten im Sinne von neuen sozialen Beziehungen, neuen Handlungsräumen und Bedingungen. Darauf reagierten Menschen, in dem sie sich anpassten oder Widerstand leisteten und dadurch die Bestimmung der Geschichte und ihren Verlauf aus den Händen der Menschen mit guten Absichten rissen. Sie entwickelten Ideen, d.h. sie stellten sich die Welt anders vor und versuchten davon ausgehend Repräsentationen zu bilden, die sie handlungsfähig machen könnten. Die Geschichte des Nationalismus in Afrika, die eigentlich nicht die Geschichte des Nationalismus ist, sondern die der Suche nach menschlicher Würde, lässt sich schwer nachvollziehen ohne Bezug auf diese Triade von Repräsentation, Ideen und Wirklichkeiten und, insbesondere, ohne eine Auseinandersetzung mit den guten Absichten der Europäer. Nationalismus und Selbstbestimmung waren die Ideen, die aus der Wirklichkeit der Kolonialherrschaft – verstanden natürlich als die Umsetzung von guten Absichten – hervorgegangen sind, um die guten Absichten innerhalb der inzwischen angeeigneten normativen Vorstellungen zu hinterfragen. Insofern stimmt es nicht so ganz, dass Afrika von Europäern erfunden worden ist. In meinem Buch mit dem Titel »Was ist Afrika?« habe ich darauf hingewiesen, dass Afrika genauso eine Erfindung der Europäer ist wie eine der Afrikaner, wenn nicht sogar eher eine der Afrikaner. Ausgehend von ihrer Erfahrung haben die Afrikaner eine Repräsentation von Afrika als Schicksals- und Wertegemeinschaft entworfen, die sie handlungsfähig machte. Sie konnten im Hinblick auf diese Repräsentation neue Wirklichkeiten schaffen, die Wirklichkeiten der Kämpfe um menschliche Würde, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Fortschritt. Sie bedienten sich Ideen wie Nationalismus, Selbstbestimmung und Freiheit, um die eigene Geschichte schreiben zu können.
Schluss Ich muss diese Gelegenheit nutzen, um eine Anmerkung zu machen, die hier angebracht scheint. Ich verfolge und beteilige mich an der regen Diskussion in Lateinamerika über »la colonialidad del saber/poder« (siehe hierzu Mignolo 2000, 2003). Ich finde vieles, was in diesem Kontext gesagt wird, sehr einleuchtend. Ich finde die Leute, die das alles sagen, sehr sympathisch und ich profitiere viel von Gesprächen mit ihnen. Ich habe Stunden in Gesprächen mit Walter Mignolo, Ramón Grossfoguel und Enrique Dussel verbracht, sie haben mich mit den Werken von Aníbal Quijano und Nelson Maldonaldo-Torres vertraut gemacht. Manchmal ertappe ich mich dabei, Begrifflichkeiten wie ›border thin-
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king‹ (el pensamiento fronterizo) und tiefsinnige Gedanken wie die von den Zapatistas über Befehlshaber, die befehlen, indem sie gehorchen, vor mich hin zu murmeln. Aber sie übertreiben. Dass die Welt nach der Kolonialzeit immer eine postkoloniale Welt bleiben wird, ist doch klar. Dass unsere Optionen durch diese Erfahrung, aber vor allem von den strukturellen Bedingungen der kolonialen Erfahrung eingeschränkt worden sind, ist auch klar. Dass die koloniale Macht immanent ist und uns als Geisel genommen hat, ist mir weniger einleuchtend und sogar sehr problematisch. Wenn ich meine Bedenken diesbezüglich äußere, dann werden sie bezeichnenderweise als Beleg für die These betrachtet, dass unser Denken immer noch unter der kolonialen Herrschaft steht. Marx lässt hier mit seinem Begriff des falschen Bewusstseins grüßen, was immerhin noch besser ist als der Vorwurf, der vor einigen Jahren von einem zivilisierten englischen Politikwissenschaftler, Gavin Kitching (2000), gemacht worden ist, der in der Begründung seiner Entscheidung, keine African Studies2 mehr zu machen, in Bezug auf die von ihm selbst ausgemachte Neigung der Afrikaner, anderen die Schuld für die eigene Misere zuzuschreiben, sagte: »Imperialism fucked up the heads of so many people whom it touched – both colonialists and colonized […] and until that – ultimately depressing – legacy of its existence is finally killed, neither Africa nor African Studies will be able to make real progress«. Es gehört zur List der guten Absichten, unsere Reaktion auf sie immer in ein Paradoxon zu treiben. Wir können sie kritisieren, weil wir uns ihr eigenes Vokabular angeeignet haben, das uns möglicherweise in den Aussagen einschränkt, die wir machen können. Manche postkoloniale Diskurse behaupten dies zumindest und die »colonialidad del saber«Gruppe sagt einfach, dass alles daher kommt, dass wir kolonialisiert bleiben. Widerstand in diesem Kontext bedeutet dann, das Baby auszuschütten – d.h. die Geschichte und alle ihre Chancen – und das schmutzige Wasser zu behalten, worin wir uns dann in Befriedung unserer intellektuellen Eitelkeiten suhlen. Wir wenden uns gegen Objektivität und behaupten, sie wäre eine westliche Verschwörung gegen uns und, was noch schlimmer ist, wir lassen es zu, dass der Westen Urheberrechte über logisches Denken, Wissenschaft und Menschenrechte beansprucht und begeben uns auf die Suche nach verlorenen Erkenntnistheorien, die auf eine sehr perverse Weise die Darstellungen der guten Absichten bestätigen. Kwame Anthony Appiah (1992) brachte es auf den Punkt, als er sagte, dass der Kaiser uns befohlen hat, uns zu bekleiden anstatt nackt herumzulaufen, und unser Widerstand besteht darin, darauf zu bestehen, dass wir uns mit einheimischen Stoffen bekleiden.
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Im Sinne der Afrikaforschung. 142
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In unseren Tagen stellt über Entwicklungspolitik zu reden eine besondere und zeitgemäße Form der guten Absichten dar. Wir sehen bei der Entwicklungspolitik die gleichen Mechanismen am Werke, die die Geschichte bestimmt haben, die wir gemeinsam seit vielen Jahrhunderten schreiben. Auch hier gilt es, Darstellungen zu schaffen, die Handlungsrahmen für Absichten hervorrufen, die Wirklichkeiten erzeugen, die die Grundlage für neue Ideen bilden (vgl. Macamo 2005b; 2007). Das Paradoxon ist auch hier präsent, denn die Entwicklungspolitik ruft Sprachlosigkeit hervor. Wenn wir sie kritisieren, werden wir prompt mit der Frage konfrontiert, ob man Menschen verhungern lassen sollte und wenn wir nicht kritisieren, tragen wir dazu bei, dass unmögliche Darstellungen von unseren Lebenswelten gemacht werden, die Wirklichkeiten schaffen, die wir so nicht wollen können, und Ideen zustande kommen, die aus uns eine Zielgruppe der guten Absichten von Anderen macht.
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A L S ›B R A S I L I A N E R I N ‹
IN
EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT VERORTUNGEN
BERLIN: S Y M B O L I S C H EN
MARIA LIDOLA Was heißt es, in Berlin ›brasilianisch‹ zu sein? Und was impliziert es, als ›Brasilianerin‹ in Berlin zu leben? Die 35-jährige Luciana, die seit 13 Jahren in Berlin lebt, begann ihre Antwort auf diese Fragen mit folgender Bemerkung: »Es bedeutet sich jeden Tag mit Klischees auseinanderzusetzen, die in dir gesehen werden, und die du annehmen, oder gegen die du kämpfen musst« (Interview vom 25.05.2008). Die Frage nach der Bedeutung von Körper und Körperlichkeit bei Identifikationsprozessen und Positionierungen in unterschiedlichen sozialen Ordnungen und Kontexten wird hier aufgrund der Erfahrungen einiger Frauen brasilianischer Staatsangehörigkeit gestellt1, die seit mehreren Jahren in Berlin leben und sich auch als Teil der brasilianischen Gemeinschaft, der Comunidade2, sehen. Diese Frauen kommen aus unterschiedlichen Regionen Brasiliens, laut eigener Angaben aus finanziell benachteiligten Schichten, und bezeichnen sich entweder als »negra« (›Schwarze‹) oder »morena«. Die Fragestellung orientiert sich vordergründig an den Intersektionen von Geschlecht, Hautfarbe und Nationalität, und soll im Folgenden auf Formen von Verortung und Mobilität hin betrachtet werden, sowie die damit implizierten Auseinandersetzungen der Frauen mit dominanten Zuschreibungen und Positionierungen im Migrationsort Berlin und Formen neuer symbolischer Grenzziehungen. In diese Betrachtungen fließen auch Eindrücke der Verflechtung von in 1
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Das vorrangig auf Interviews beruhende empirische Material wurde über hermeneutische Betrachtungen ausgewertet. Die Interviews wurden zwischen März 2007 und Oktober 2008 auf Portugiesisch, bei einigen mit streckenweise deutschen Passagen, durchgeführt. Die hier verwendete Bezeichnung Comunidade ist zwar problematisch, da es sich nicht um eine Gemeinschaft im Sinne hoher sozialer Kohäsion handelt, sie sich im Gegenteil durch eine starke Fragmentierung auszeichnet. Jedoch verbindet die sich ihr zuordnenden Akteur/innen eine diasporische Identifikation mit ihrem Herkunftsland, die ein allen gemeinsames Gefühl des belonging (vgl. Massey 1994: 168ff) umfasst. 145
MARIA LIDOLA
den Körper eingeschriebenen Erinnerungen dominanter Diskurse des Herkunftsortes, die nicht nur als ›Handgepäck‹ der persönlichen Geschichte sondern auch als noch immer valente Kategorisierungen innerhalb der Comunidade aktuell sind, mit hinein. »Die erste Frage, die du von einem Deutschen gestellt bekommst, ist entweder: ›Wie ist dein Name‹ oder aber sie fragen gleich: ›Woher kommst du?‹. Die nächste Frage ist dann, wie lange du schon hier bist und wie lange du noch bleiben wirst. Und wenn du sagst, dass du demnächst eigentlich nicht vorhast ›zurück‹-zugehen, sind sie überrascht und fragen, was du denn hier machen würdest [...].«3 Diese Bemerkung von Adriana wurde so oder in ähnlicher Form von fast allen meiner Interviewpartnerinnen auf die Frage nach dem Knüpfen von Kontakten mit ›weißen‹ ›Deutschen‹ im Migrationsort Berlin geäußert. Die Betonung der Frage nach dem ›Woher kommst du‹ wurde von einigen dabei als Neugierde, von anderen beinahe schon diskriminierend gedeutet – von allen jedoch als eine Art Positioniert-Werden gewertet. Diese Frage (vgl. auch Kilomba 2008: 64-69) soll deshalb in den Vordergrund gerückt und auf zwei ihrer Konnotationen hin betrachtet werden. Sie deutet darauf, dass die Gesprächspartnerin als ›anders‹ wahrgenommen wurde, und dabei als nicht zur eigenen Verortung und dem gemeinsam besetzten Ort – Place im Sinne Arturo Escobar4 – dazugehörig: Ihr Körper, über den bzw. aufgrund dessen sie wahrgenommen wurde, ist anders als was für den Ort des Gesprächs als Norm definiert und beansprucht wird. Der Körper als nonverbales erstes Kontakt-, und somit Interaktionsmedium, und hier besonders die Kategorisierung der Hautfarbe als ›nicht-weiß‹, wird zum Marker für Anrufung und Positionierung des ›Anderen‹ (vgl. Hall 2004: 167-187) und somit zur Projektionsfläche und Affirmation der Vorstellungen vom ›Anderen‹, dessen Platz nicht hier ›sein kann‹. Die Erfahrung des Sichtbar-Seins weil nicht zur Norm gehörend, erwähnten alle Interviewpartnerinnen trotz – oder gerade – in Anbetracht der Diskussion um eine multikulturelle Gesellschaft, die in einigen Stadtvierteln Berlins aufgrund einer erhöhten öffentlichen Präsenz von Menschen ›mit Migrationshintergrund‹ und Vereinigungen, 3 4
Adriana im Interview vom 07.04.2007. Die hier verwendeten Zitate wurden von mir übersetzt. Einige der Namen wurden auf Wunsch geändert. Place wird nach Escobar verstanden als »the experience of a particular location with some measure of groundedness (however instable), sense of boundaries (however, permeable), and connection to everyday life, even if its identity is constructed, traversed by power, and never fixed« (Escobar 2001: 140). Place, im weiteren Verlauf mit der deutschen Übersetzung Ort wiedergegeben, ist dabei sozial und kulturell konstruiert (ebd.: 141). 146
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die sich über ihre nicht-dominanzgesellschaftliche Ausrichtung charakterisieren, ›sichtbar‹ geglaubt und damit als gegeben gesehen wurde.5 Dabei wurde Hautfarbe für diese Frauen nach ihrer Ankunft in Berlin zu einer Kategorie, die von einem anderen Diskurs dominiert wurde, als sie es aus dem Kontext ihres Herkunftsortes her kannten. Dort, in den Regionen São Paulo, Bahia, Minas Gerais und Rio de Janeiro, stellte die Bedeutung von Hautfarbe insbesondere für die sich als »morena« bezeichnenden Frauen eher weniger eine fixierte, objektivierte Konstante dar, sondern wurde bis zu einem gewissen Grad als intersubjektiv hergestellt beschrieben. Dabei wiesen alle auf einen alltäglichen Rassismus hin, der sich gemäß Sandra Lilian wie folgt äußert: »Du brauchst nicht reich oder hübsch zu sein – sondern weiß, denn nur so hast du mehr Chancen«, wobei »jeder Zentimeter ›mehr weiße‹ Haut zählt« (Interview vom 26.03.2007). Genau diese ›Zentimeter‹ sind aber auch manipulierbar bzw. unterschiedlich gewertet je nach den ›Zentimetern weißer Haut‹ der Personen, die einem in einem bestimmten Kontext umgeben. Diese Wertungen, so sagt Eliane, können bis in die Familie hinein gelten, wie etwa in ihrem Fall Geschwister mit hellerer Hautfarbe mehr Aufmerksamkeit von den Eltern erfahren hätten (Interview vom 26.04.2007), oder wie bei Sandra Lilian, für deren Eltern eine Heirat ihrer Tochter mit einem Partner dunklerer Hautfarbe ausgeschlossen war. Der hier nicht näher erläuterte Racismo à brasileira (Da Matta 1994: 38)6 eröffnete gerade den sich als ›morena‹ bezeichneten Frauen die Möglichkeit wie auch die Grenzen der alltäglichen Manipulation der ›Hautfarbe‹ hin zu ›mehr schwarz‹ (»mais negro«) oder ›mehr weiß‹ (»mais branco«) über bestimmte Körperherstellungsstrategien7, je nach Anforderungen der Situation und den umgebenen Menschen (vgl. hierzu Sansone 2003). Verschieden sind auch die symbolischen Bedeutungszuschreibungen dieser Kategorien in den einzelnen Regionen sowie die so-
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Vgl. die kritischen Analysen über die Debatte einer multikulturellen Gesellschaft in den Postcolonial und Cultural Studies (z.B. Hall 1994; 2004 und Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003 für den deutschen Kontext). Zur Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. u.a. die Arbeiten von Antonio Sérgio Alfredo Guimarães. Sandra Lilian gab an, dass die Hautfarbe bei der Arbeitsuche ein wichtiges Kriterium für Erfolg oder Misserfolg darstellen kann (allein der Hinweis auf »boa aparência« – angemessenes Äußeres – in Jobanzeigen wird synonym für ›weiße‹ Hautfarbe verstanden, vgl. Damasceno 1997), weshalb sie in diesen Situationen die Sonne mied. Die Wertung von ›mehr schwarzen‹ Eigenschaften zeigt sich auch am Beispiel des gekräuselten Haares – als »cabelo ruim«, ›schlechtes Haar‹, im Volksmund bezeichnet –, dass durch Glätten zu »cabelo bom«, ›gutes Haar‹, transformiert werden kann. 147
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zialen und kulturellen Zuschreibungen und die Bewertung der regionalen Herkunft in Intersektion mit der Hautfarbe innerhalb Brasiliens. Kategorien, so schreibt Mary Douglas (1966), sind kulturell und sozial konstruiert, und strukturieren und organisieren die uns bekannte soziale Welt durch symbolische Grenzziehungen und -definitionen. Sie unterliegen zugleich Herrschaftsbeziehungen und dienen dazu, Hierarchien zu konstruieren und/oder aufrechtzuerhalten (Mohanram 1999), sind also konstitutiv für eine bestimmte soziale Ordnung. Bewegungen (im Sinne von flows, Appadurai 1996: 33ff) – wie Migration – durchqueren jedoch Vorstellungen von sozialer Ordnung und bekannte symbolische Grenzziehungen: So hatten die im Herkunftsort der Frauen dominanten symbolischen Grenzziehungen in Berlin im Kontakt mit der Dominanzgesellschaft ihre Relevanz verloren. ›Weiß-Sein‹ war hier als Norm etabliert und Differenz zu dieser zunächst in die Kategorie ›Nicht-Weiß‹ verortet – eine Kategorie, die dem ›Anderen‹ zugeordnet wird, und die keine Manipulation dieser Zuschreibung erlaubt, somit also, anders als im Herkunftsort der Frauen, die Möglichkeit des Passing8 verwehrt. Kategorien, so erweitert Radikha Mohanram, ordnen also auch das Unbekannte in die bekannte Welt, wobei, in Bezug auf Frantz Fanon (1967 [1952]), sie ›das noch nicht Bekannte‹ einem bestimmten Ort zuweist – es also zu fixieren sucht, um es verstehbar/kontrollierbar zu machen und es in das einzuordnen, was bereits verstanden und somit beherrscht ist. Wenn nun, vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen, Ort, verstanden als Erfahrung von Lokalität und mit dem täglichen Leben verbunden, noch immer für die Zuschreibung und Anrufung sowie Konstruktion von Identitäten bedeutsam ist, und wenn – ohne in alte anthropologische Diskussionen um Lokalität und Kultur zurückzufallen – sich Identitäten Orten zuschreiben bzw. sich in diese einschreiben, wie sie zugleich Orte schaffen (Gupta/Ferguson 1992), dann muss ebenso nach den diese Orte durchziehenden Machtstrukturen gefragt werden und über welche Differenzkonstruktionen sich diese manifestieren, wobei jene wiederum die Konstruktion von Identitäten mitbestimmen. Die Konzeption von Körper spielt dabei eine entscheidende Rolle: Wenn wir von einer dialektischen Beziehung vom Körper als Subjekt der Wahrnehmung (›Leib‹ nach Merleau-Ponty 1966 [1945]) und aufgrund sich in ihm materialisierende Machtstrukturen (Butler 1997 [1993]) als Produkt einer bestimmten sozialen Ordnung (Foucault 1986) ausgehen, wird dieser zu einem kulturellen und historischen Phänomen (ebd.), der das Erkennen des Anderen als Subjekt gemäß seiner eigenen Formierung steuert (Bourdieu 2003 8
Passing nach Butler ist die »List des Als-Weiß-Passierens«, bei der die »Wandelbarkeit eine bestimmte Freiheit bedeutet, eine vom Weißsein gewährte Klassenmobilität« (1997 [1993]: 236). 148
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[1980]) und damit die Positionierung und Verortung des ›Anderen‹ mitbestimmt (Mohanram 1999). Die Diskussion um die Definitionsmacht von über den Körper in den Ort eingeschriebenen Identitäten impliziert dabei nicht nur, wer ›an seinem Ort‹ ist und wer nicht. Es kommt auch hinzu, wer sich bewegen darf und wer nicht. Dies ist der zweite Aspekt der Frage nach dem ›Woher kommst du‹, der nicht nur die (koloniale) Erinnerung impliziert, wo die aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung Angesprochene gemäß dieser ›sein sollte‹ (Fanon 1967 [1952]; Kilomba 2008), sondern der auch ihr Sich-Bewegen kritisiert. »Wir Frauen, die wir hier sind, haben eine Geschichte. Wir haben uns aus verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen lösen können.«9 Um die Aussage von Yoni einzuordnen, sollen zunächst Betrachtungen Radikha Mohanrams hinzugezogen werden. Sie setzt sich über eine Diskussion Alfred Crosbys »Ecological Imperialsm« damit auseinander, wie zum Einen ›weiße‹ Europäer sich insbesondere seit der Zeit der Kolonialisierungen geografisch relativ frei bewegten und sich im Zuge ihrer Eroberungen in den verschiedensten Teilen der Welt niederließen und so ihre körperliche Präsenz universalisierten (vgl. 1999: 11ff). Diese selbstverständliche Mobilität und damit Nicht-Ortsgebundenheit des ›weißen‹ Körpers hält bis heute an, wie z.B. ein Blick auf die Tourismusindustrie zeigt. Dem ›weißen‹ Körper wird, eben weil er sich als Norm in den von ihm dominierten Gebieten erhebt, so seine eigene Wichtigkeit für die Konstruktion von Identität genommen10, bzw. wird seine Präsenz entkörpert (ebd.: 19ff) – eine Konsequenz, die im Sinne des cartesianischen Dualismus Körper:Geist Letzterem entgegenkommt. Denn der sich mit den Zeiten entwickelnde und im Raum bewegende Geist sei dem ›Objekt‹ Körper überlegen, da jener aufgrund seiner Materialität eine Grenzposition in Bezug zur Natur einnehmen und über die Zeit unverändert wahrgenommen würde – eben lediglich als Träger kulturellen Ausdrucks und sozialer Ordnung diene und dem Ort zugeordnet wird (ebd.: 16ff; vgl. Descartes 1976 [1641]). Untersuchungen wie z.B. die von Norbert Elias (1939) oder später Mary Douglas (1970) bis hin zu Michel Foucault (1976) unterstrichen auch in sozialwissenschaftlichen Studien diese grundlegende cartesianische Wertung, wie z.B., dass verstärkte Körperkontrolle bis hin zum völligen Zurücknehmen des Körpers auf eine stärkere Differenzierung und Stratifizierung von Gesellschaft deute. Dieser cartesianischen Logik folgend wird mit der Anrufung des ›Anderen‹ über
9 Yoni im Interview vom 28.04.2007. 10 Vgl. die Arbeiten der kritischen Weißseinsforschung (Eggers et al. 2005). 149
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seinen Körper und nicht über seinen Geist dieser in eben die Position des Nicht-Bewegten, Fixierten, Unveränderlichen gebracht. In diese Betrachtungen hineingenommen werden muss zudem der Aspekt, dass es sich bei den ›sich bewegenden Europäern‹ vor allem um Männer handelte, während Frauen ›am Ort‹ zurückblieben. Auch dies entspricht dem dualistischen Modell, in dessen Logik die Frau vor allem ihrer Rolle als Mutter, also der Reproduktion der Gesellschaft (in biologischer und sozialer/kultureller Hinsicht), der Gefühlswelt, der Natur, dem Unveränderlichen, Ort und ›Tradition‹ zugeordnet wird.11 Verschieben wir also den Fokus der Betrachtungen von der Kategorie Hautfarbe auf die Kategorie Geschlecht, zeigt sich, dass Mobilität nicht nur ›weißen‹ Männern vorbehalten war12, sondern ab Ende des 19. Jahrhunderts und besonders im Zuge von legalisierter und illegalisierter Arbeitsmigration ›nicht-weißen‹ Männern erleichtert wurde.13 Der hier angeführten cartesianisch-geprägten Logik folgend wäre die Mobilität ›nicht-weißer‹ Männer insofern nicht problematisch, als es somit auch ihre Frauen sein müssten, die vor Ort – ›dort‹ – deren Gesellschaft, deren Nation reproduzierten, was bedeuten würde, dass diese Männer keine Gefahr des ›Hier‹-Bleibens darstellten.14 Am Beispiel der von mir interviewten Frauen wird diese Vorstellung für den gesellschaftlichen Kontext ihres Herkunftsortes bestätigt: Sie zeichneten für jenen ein Bild vom Frau-Sein, dass sich stark an dem besonders aus Portugal mitgebrachten christlichem Familienbild orientiert (vgl. Freyre 1963 [1933]). Yoni fasst es wie folgt zusammen: »[...] eine Frau hat ihre ganz bestimmte Rolle in unserer Gesellschaft: Eine Frau muss heiraten und Kinder bekommen« (Interview vom 28.04.2007), ist für das Zuhause,
11 Für Untersuchungen über die aktuelle Relevanz cartesianisch-geprägter Assoziationen von männlich und weiblich vgl. u.a. Pateman (1989). 12 An dieser Stelle soll nicht näher auf forcierte Formen wie Sklavenhandel und Fluchtbewegungen eingegangen werden. Auch soll nicht gewertet werden, ob der Schritt in die Migration in der heutigen Zeit ein für die/den Einzelne/n erstrebenswerter war/ist oder nicht, oder einen aktiven Schritt hin zur Erfüllung einer Vorstellung der Lebensverbesserung bedeutet/e. 13 Vgl. für die deutschen Einwanderungspolitik seit dem 19. Jahrhundert vor allem die Arbeiten von Klaus Bade, wie Bade (1983). 14 Dass sich diese Annahme als falsch erwiesen hat, zeigt für den deutschen Kontext u.a. das Beispiel türkischer Arbeitsmigranten, die sich entweder mit deutschen Frauen verheirateten – und blieben –, oder sobald sie die finanziellen Mittel erarbeitet hatten, Frauen aus ihrem Herkunftsort nach Deutschland holten – und blieben. Für diese Diskussion wäre auch eine Analyse der Visumsregelungen für Familien nicht-deutscher Staatsbürgerschaft (vor allem bis 2004) von Bedeutung. 150
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dem lar, zuständig mit den ihm implizierten Tätigkeiten und den mit diesen verbundenen ›traditionellen‹ Zuschreibungen (insbesondere die cuisine; vgl. hierfür auch DaMatta 1994). Fast alle meiner Interviewpartnerinnen bestätigten, dass diese Vorstellung entweder latent in ihren Familien selbst oder aber im beruflichen und freundschaftlichen Bereich vorzufinden war. Keine von ihnen gab allerdings an, von der Familie in ihren persönlichen Vorhaben gehindert worden zu sein. Jedoch fehlte bei einigen eine direkte Unterstützung bei der Umsetzung jener eigenen Ziele, die konträr zu dem dominanten Diskurs über Geschlechterrollen verliefen. Eines dieser Vorhaben war der Schritt in die Migration. Bei meinen Interviewpartnerinnen erfuhr ich auf direkten oder indirekten Wegen, dass ihre Migration aus der Verflechtung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren resultierte. So lässt sich feststellen, dass mit der demokratischen Öffnung Brasiliens in den 1980er Jahren und einer wirtschaftlichen Krise zu Anfang der 90er Jahre nicht nur Männer (besonders aus wirtschaftlich benachteiligten Schichten) aus finanziellen Gründen migrierten.15 Mit Beginn der demokratischen Öffnung erlangten zudem Frauenbewegungen16 einen verstärkten öffentlichen Diskurs und erhöhte Resonanz in der Bevölkerung (zumindest in den größeren Städten Rio de Janeiros, Minas Gerais, São Paulos und Bahias). Der Schritt in die Migration war für fast alle meiner Interviewpartnerinnen eine von mehreren möglichen Perspektiven für eine (erhoffte/ imaginierte) Verbesserung ihrer Lebensumstände. Die Konsequenzen einer immer stärker vernetzten Welt wirkte dabei unterstützend, wie zum Beispiel bezahlbare Flugpreise auch für finanziell benachteiligte Schichten, stärkere Verknüpfung durch neue Kommunikationsmedien mit anderen bereits Migrierten oder möglichen Arbeitskontakten, Tourismus und transnationale Unternehmen.17 In Berlin lässt sich, allgemein zumindest, die große Präsenz von Migrantinnen auch anhand von offiziellen Zahlen nachvollziehen, die allerdings nicht die illegalisierten Migrant/innen berücksichtigt: Von im Juli 2008 2499 offiziell registrierten Menschen brasilianischer Staatsbürgerschaft sind 1499, knapp 61 % weiblich (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2008). Es ist also ein scheinbares Paradoxon: Diejenigen, die über ihren Körper durch die Intersektionalität von 15 Dies zeigt die Mehrheit der Studien zur Migration in die USA, die als Ursache immer wieder auf diesen Aspekt verweisen, vgl. Martes et al. 1999. 16 Zu Frauen-/feministischen Bewegungen in Brasilien vgl. Alvarez (1994). 17 Einige Frauen haben ihre späteren Ehemänner in deren Urlaub oder bei deren Arbeitsaufenthalten in Brasilien kennengelernt und diese dann nach Deutschland begleitet. Andere sind wiederum selbst über Jobangebote transnationaler Unternehmen oder Vereinigungen (wie zum Beispiel Capoeira- oder Tanz-Gruppen) nach Berlin gelangt. 151
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Hautfarbe und Geschlecht markiert sind, einem ›anderen‹ Ort zugehören und ›Bleiben‹ verkörpern sollen, sind nun diejenigen, die sich im Raum bewegen, der mit Handlungsmöglichkeit und -macht konnotiert ist. »Nun, wenn ich auf eine Party gehe, stelle ich mich meist gleich zu Beginn selbst als aufgeweckte Brasilianerin vor. Weil die Mehrheit der Personen diese Klischees haben. So müssen die Leute mich nicht die ganze Zeit anschauen und rätseln, woher ich denn komme.«18 Die Betrachtungen sollen hier um die Kategorie der Nationalität bzw. Vorstellungen von kulturellen, sozialen und körperlichen Charakteristika von Nationalität, die dem ›Anderen‹ zugeschrieben werden, erweitert werden. In der ›deutschen‹ Dominanzgesellschaft existiert ein sehr stark konnotiertes und verbreitetes Bild von ›Brasilianern‹, das diese als in erstere Linie ›Nicht-Weiß‹ sowie Leute der Leichtlebigkeit, Lebensfreude und Exotik beschreibt und gerade, gemäß der Aussagen meiner Interviewpartnerinnen, bei ›Brasilianerinnen‹ eng an die Begriffe Karneval, Samba und Freizügigkeit gekoppelt ist. Körper und Körperlichkeit werden dabei zum Fokus der Zuschreibungen gemacht. Ohne die »roots« und »routes« (Clifford 1997: 36) dieses Bildes (im Sinne García Canclinis imaginario, vgl. 2007) historisch oder sozial nachvollziehen zu wollen, bleibt nur erwähnt, dass dieses u.a. über Show-, Werbe- und Tourismusindustrie gefördert wird, und dadurch vor allem ›nicht-weiße‹ Frauen als Symbol des ›Brasilianisch-Seins‹ konstruiert und genutzt werden.19 Über Reduzierung bzw. Übertreibung von der als Norm abweichend definierten Eigenschaften, die gleichzeitig im dominanten Diskurs und in den Vorstellungswelten der Dominanzgesellschaft ihre ständige Wiederholung finden, wird der ›Andere‹ stereotypisiert und damit fixiert – ist somit definiert und dadurch kontrollierbar gemacht (vgl. Bhabha 1994: 94; Hall 2004: 144f). Das hier angerissene Bild vom ›Brasilianisch-Sein‹ innerhalb des dominanten Diskurses ist als solches stereotypisiert, wird jedoch mit positiven Konnotationen aufgeladen und dadurch auch aufgewertet. So wird es seit längerem bereits von einer Reihe sogenannter ›ethnisierter‹ Ökonomien und Unternehmen (vgl. Valdez 2002), wie zum Beispiel Cocktailbars, Tanzschulen und Unterhaltungsagenturen, genutzt, 18 Sandra Lilian im Interview vom 26.03.2007. 19 Hierfür seien nur Beispiele genannt, wie der Fotoaufdruck zweier Frauen in Bikini auf der Flasche des Cocktailgetränks Batida-de-Coco, die Zeichnung einer halbnackten weiblichen Person auf dem Fanta-World-BrasilienEtikett oder Animationsgruppen wie im Freizeitbad Tropical Island, bei denen – ähnlich wie bei der Musiksendung »Die Größten Sommerhits aller Zeiten« auf Sat.1 (Ausstrahlung am 20.07.2008) – Frauen in Kostümen des Rio Karnevals mit Samba und guter Laune das Publikum animieren sollen. 152
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die zugleich das imaginario von ›Brasilianerinnen‹ im dominanten Diskurs unterstützen und fixieren. Dies eröffnete den von mir interviewten Frauen Vorteile wie auch Nachteile: Vorteile in dem Sinne, dass ihnen im Moment der Fremd-Positionierung und -Zuschreibung als ›Nicht-Weiß‹ und somit kategorisierte ›Andere‹ ein Aufmachen von Differenz zu anderen ›Nicht-Weißen‹ ermöglichte, indem sie ihre Nationalität unterstrichen, gemäß dem Motto: Ich bin zwar nicht weiß, jedoch Brasilianerin. Die positive Konnotation des ›Brasilianerin-Seins‹ innerhalb des dominanten ›deutschen‹ Diskurses über den ›Anderen‹ verhalf diesen Frauen zu einer vorteilhafteren Positionierung im Vergleich zu anderen ›Nicht-Weißen‹: Es erleichterte ihnen nicht nur das Knüpfen von freundschaftlichen Kontakten mit Personen der Dominanzgesellschaft, sondern eröffnete ihnen auch Möglichkeiten, Jobs in ›ethnisierten‹ Unternehmen zu finden, wie etwa als Tanzlehrerinnen in Sambaschulen, als Kellnerin in ›brasilianischen‹ Bars oder als Tänzerin in Showunternehmen, worüber sie nicht nur ihr Überleben in einer Gesellschaft sichern konnten, die sie ursprünglich als ›nicht an ihrem Ort‹ markierte, sondern ein Studium oder Weiterbildungen finanzieren oder eigene Unternehmen aufbauen. Die Vorstellung von einer ›Brasilianerin‹ und ihre sinnliche Konnotation – die Fetisch-Funktion dieses stereotypisierten Bildes wie es Bhabha nennt (Bhabha 1994: 104 ) – wird von einigen meiner Interviewpartnerinnen, die angaben, sich mit diesem Blick auseinandersetzen zu müssen, jedoch nicht (nur) in Bezug auf die Erfüllung männlichen Begehrens in visibler Form genutzt. Vielmehr zielen sie hierbei auch auf ›weiße‹ Frauen der Dominanzgesellschaft: So eröffneten beispielsweise in den letzten Jahren in einigen Stadtvierteln Berlins Haardepilationsstudios, die alle von brasilianischen Frauen geleitet sind und nicht nur mit Namen wie »Copacabana« und »Brazil Wax« Werbung machen, sondern auch mit der Vorstellung geschmeidiger, haarloser, nicht-weißer (!) Haut. Ein ähnliches Phänomen kann für Samba- oder andere ›brasilianische‹ Tanzstudios beobachtet werden. Es geht dabei nicht unbedingt nur darum, den weißen, ›deutschen‹ Frauen Samba beizubringen. Es geht auch darum zu zeigen, wie man den Körper sinnlich, eben ›auf brasilianische Art‹, bewegt – und dies nicht nur beim Tanzen, sondern indirekt auch beim Gehen und Gestikulieren. Lehrerinnen sind auch hier ›nicht-weiß‹. Über die strategische Nutzung einer anderen stereotypisierten Kategorie – ihrer Nationalität –, die Differenz zu anderen ›Anderen‹ aufmachte, war es diesen Frauen möglich, die dominante Kategorisierung als ›Nicht-Weiß‹ aufzubrechen. Der Verweis auf ›ihren Ort‹ bedeutete somit gleichzeitig die Akzeptanz dessen, das ›nicht hier‹ ist, jedoch bereits definiert und bekannt oder zumindest definierbar bzw. verstehbar für jene
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ist, die ›hier‹ die Deutungshoheit über die Norm beanspruchen. Genau diese Verortung, wie auch die strategische Essentialisierung (Spivak in Landry/MacLean 1996: 214) der Zuschreibungen, hat einigen meiner Interviewpartnerinnen so einen durch ihr Definiert-Sein möglichen Handlungsrahmen eröffnet, der ihnen bei einer nicht-kontrollierbaren Nicht-Verortung eventuell verwehrt geblieben wäre (zur Relevanz der Verortung des ›Anderen‹ vgl. Bhabha 1994: 101ff). Es zeigt sich, dass über die ›ethnisierten‹ Jobmöglichkeiten die Frauen nicht nur ihr (Über-) Leben finanzieren. Es hat vielmehr auch damit zu tun, mit der Ambivalenz umzugehen, stereotypisiert – markiert – zu sein, indem den NichtMarkierten gezeigt wird, was besonders daran ist, innerhalb des dominanten Diskurses als nicht der Norm entsprechend markiert zu sein. »Da gibt es diese Vorstellung, dass wir ›Morenas‹ leicht zu habende Mädchen [meninas fácies] sind. Das tut sehr weh. Und wenn du noch jung und hübsch bist, ist es oft keine große Hilfe, Brasilianerin zu sein. Es behindert dich in vielen Sachen [...].«20 Gleichzeitig bedeutet es auch mit einer Reihe von Nachteilen umgehen zu müssen. So erzählte mir Gildete, dass es immer erwartet wird, das fröhliche Mädchen zu sein, denn »eine ruhige und ernste brasilianische Frau geht nicht in den Kopf der Deutschen« (Interview vom 02.05.2007). Ebenso bedeutet es für viele mit jenem Blick konfrontiert zu sein, welcher den Körper der Frauen als Fetisch für erotische Fantasien benutzt. Dies macht es gerade für die Frauen schwer, die die stereotypisierten Vorstellungen von einer ›Brasilianerin‹ nicht erfüllen (wollen), gerade da dieses nicht nur durch Übertreibung einer angenommenen Sinnlichkeit aufgrund der Intersektion von Hautfarbe, Geschlecht und Nationalität funktioniert, sondern auch mit Fehlen oder Reduktion arbeitet: die NichtWahrnehmung bzw. das Nicht-Wahrnehmen-Wollen in Bezug auf Fähigkeiten und Qualitäten, die nicht direkt mit dem Körper in Verbindung gebracht werden. Genau durch dieses Ausblenden von Fähigkeiten werden die Frauen jedoch wieder auf ihren Körper reduziert. Um dieser Nicht-Wahrnehmung zu begegnen, haben einige meiner Interviewpartnerinnen versucht, wie Yoni z.B. erzählt, das Verhalten der ›Deutschen‹ zu beobachten, um dies, im Sinne der von Bhabha beschriebenen Mimikry (1994: 122f), zu kopieren – »weil du ›na terra dele[s]‹ [also an deren Ort] bist, und ich versuche hier teilzuhaben« (Interview vom 28.04.2007). Sandra Lilian macht dies noch deutlicher: »Um akzeptiert zu werden, musst du es nicht nur wie die Deutschen machen, du musst sogar besser sein als die Deutschen... Und bei Deutschen ist die Norm, perfekt zu sein« (Interview vom 26.03.2006). Hierbei wird der stereotypisierte Kör20 Luciana im Interview vom 05.05.2008. 154
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per oftmals zum Hindernis: Die gute Erfüllung von Leistungen wird von anderen abgewertet als nur aufgrund des – durch eine über stereotype Vorstellungen gefiltert wahrgenommenen – Körpers und Körperlichkeit erreicht. Mimikry scheint dabei teils sogar noch negativere Reaktionen hervorzurufen, denn sie beginnt symbolische Grenzziehungen zu verwischen, die eigentlich konstruiert wurden, um soziale und kulturelle Ordnung und ›den Ort des Anderen‹ aufrecht zu erhalten.21 »Wenn du hier ankommst, dann ist Brasilien zunächst ein Ganzes: Hauptsache man versteht was der Andere sagt. [...] Danach erst, wenn du versucht hattest, dich zu integrieren, beginnen wir eine Welt für uns selbst zu schaffen – um unsere eigene Kultur leben zu können [...]. Und da bist du gezwungen, dich mit anderen Brasilianern und ihrem Verhalten auseinanderzusetzen.«22 Die strategische Nutzung der Zuschreibungen und Positionierungen des Körpers und Körperlichkeit dieser Frauen werden jedoch nicht nur durch die Dominanzgesellschaft rezipiert, deren Vorstellungen über ›Brasilianisch-Sein‹ und ›Brasilianerinnen‹ sie wiederum beeinflusst. Sie werden ebenso von anderen Mitgliedern der Comunidade wahrgenommen und bewertet, die sich dabei an jenen Kategorien orientieren, die auch sie ›im Handgepäck‹ mit sich brachten, und die ihre eigene Körperformierung und -wahrnehmung beeinflusst haben – Erinnerungen, die auch ihren Körper durchziehen. Diese Kategorien des Herkunftsortes erfahren innerhalb der Comunidade eine erneute Wichtigkeit, da sie über Verhaltensstrategien der Frauen oftmals in ihrer Wertigkeit herausgefordert, also tradierte symbolischen Grenzziehungen im Migrationsort angefochten werden. Gleichzeitig werden die Frauen aber durch die Dominanzgesellschaft im Migrationsort genau jenem Herkunftsort zugeschrieben – und so als nicht dem eigenen Ort zugehörig ausgegrenzt. Aufgrund dieser Erfahrung suchten diese Frauen früher oder später nach Ankunft in Berlin jenen anderen kollektiven Identifikationsrahmen23 – die Comunidade –, 21 Eine andere Strategie, ohne darauf näher eingehen zu können, ist die Negation beider hier angesprochenen körperlicher Verhaltensstrategien (Mimikry und Erfüllung von Stereotypisierungen). Einige meiner Informantinnen betonten und wiederholten des Öfteren, dass sie es ablehnten, so zu agieren als wären sie ›deutsch‹ oder wie die ›Deutschen‹ es gern wollten. 22 Eliane im Interview vom 02.04.2007. 23 Kurz bleibt hier nur erwähnt, dass entlang von bestimmten Intersektionalitäten auch andere kollektive Identifikationsrahmen von Bedeutung wurden, in denen die Kategorisierungen ›weiß‹ und ›nicht-weiß‹ in den Hintergrund traten und ebenfalls Mitglieder der Dominanzgesellschaft umfassten, wie zum Beispiel entlang der Intersektionalität Frau und Homosexualität. 155
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der zugleich das Gefühl des belonging (Massey 1994), der Zugehörigkeit erfüllen sollte. Dies bedeutete für die Frauen zugleich, sich mit den hier angesprochenen tradierten symbolischen Grenzziehungen auseinandersetzen zu müssen, um auch innerhalb der Comunidade auf ihre Art ›Brasilianisch‹ zu sein, ohne jedoch den aus dem Herkunftsort tradierten Stereotypisierungen entsprechen zu müssen. Währenddessen wurden im Kontakt mit der Dominanzgesellschaft genau diese Kategorisierungen von einigen Frauen aufgegriffen: Sie begegneten stereotypisierten Zuschreibungen vom ›Brasilianisch-Sein‹ in Berlin, indem sie Differenzierungen aufmachten, die den Kategorisierungen entsprechen, die innerhalb der Comunidade in Rückbezug auf die Kategorisierungen im Herkunftsort von Wertigkeit sind. Dies geschieht zumeist mit dem Ziel, den Körper, hier Objekt der Positionierung durch den ›Anderen‹, in den Hintergrund zu drängen. Dies lässt sich kurz an einer Aussage Yonis verdeutlichen: »Nun, ich bin hier vielleicht eine Schwarze [›sou negra‹]. Jedoch komme ich aus São Paulo, und das sage ich immer dazu« (Interview vom 28.04.2007), was sie ihr zufolge im Vergleich zu anderen ›schwarzen‹ brasilianischen Frauen begünstigt. Über das Ausbalancieren von negativen und positiven Stereotypisierungen und Kategorien der unterschiedlichen dominanten Diskurse des ›hier‹ und ›dort‹ im Kontakt mit der Dominanzgesellschaft wird so versucht, eine bessere Positionierung und Anrufung von Seiten der Dominanzgesellschaft zu erlangen, was weitere Differenzierungen innerhalb derer, die bereits als ›nicht-weiß‹, ›nicht-weiße-Frau‹ und ›nicht-weißeBrasilianerin‹ markiert worden sind, eröffnet. Die den Körper durchziehenden Markierungen werden entweder strategisch betont und eingesetzt, um dessen Verortung durch den Anderen zu unterstützen, oder aus dem Blickfeld der Anrufung gedrängt, um das eigene ›Recht‹ auf Mobilität zu unterstreichen. Die Verflechtung all dieser Stereotypisierungen und Kategorisierungen sowohl derer innerhalb der Comunidade als auch derer der Dominanzgesellschaft resultiert in einer vielschichtigen Verkettung von aktiver und passiver Anrufung und Positionierung innerhalb transmigratorischer Räume, die nicht einfach mit der schlichten binären Opposition von ›hier‹ und ›dort‹ erklärt sind. In diesen Prozessen und Mechanismen der Eigen- und Fremdzuschreibung werden Körper und Körperlichkeit zu wichtigen strategischen Instrumenten für Positionierung und Identifikation innerhalb einer sozialen Ordnung, die bereits ein ganzes Repertoire von Vorstellungen vom, sowie Umgangsformen mit der/m als ›Anders‹ gekennzeichneten definiert hat. Es heißt aber auch, sich mit aus dem Herkunftsorts mitgebrachten Vorstellungen und Zuschreibungen, die ebenfalls über den Körper konstruiert wurden, auseinandersetzen zu
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müssen, die im Kontext von Transmigration und diasporischer Identifikation sowohl angefochten und herausgefordert, wie aber auch reproduziert und legitimiert werden, also weiterhin Bedeutung in sich tragen.
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MEDIALE NEUVERORTUNGEN VON NATIONALEN S Y M B O L E N I N D EN A M E R I K A S GUNDO RIAL Y COSTAS Die Konnektivität der Globalisierungsprozesse wird zunehmend komplexer (Tomlinson 1999: 2). Dies manifestiert sich durch schroffe (Un-) Gleichzeitigkeiten, intensiviert durch eine ausgefeilte Informationstechnologie. Die Produktion und Zirkulation von Bildern und Symbolen und deren Recycling sowohl im Internet als auch im Fernsehen und im Kino nehmen dabei ständig zu. Durch Rekontextualisierungen, Bedeutungsverschiebungen, Bedeutungsvermischungen und Neuverortungen kommt es zu größerer Polyphonie, Beschleunigung und Ambivalenz dieser Bilder und Symbole. Obwohl solche medialen Produktionen immer von Machtkonstellationen durchzogen bleiben und Bedeutungen daher tendenziell fixiert werden, führt diese Situation beim »audiovisuellen Lesen« zur Schwierigkeit eindeutiger Interpretationsmöglichkeiten (Vattimo 1992 [1989]: 4). Besonders ist dies der Fall bei Bildern und in ihnen transportierten Symbolen, die nicht nur sich, sondern die Welt bewegen, in großen Teilen des Globus ausgestrahlt und auf unterschiedliche Art und Weise rezipiert und verstanden werden. Paradebeispiel hierfür sind lateinamerikanische Telenovelas. Entstanden aus dem französischen Feuilleton-Roman und kubanischen und argentinischen Radionovelas, werden sie in mehr als hundert Ländern vor dem Bildschirm verfolgt und tragen so zu einer Globalisierung des Melodramas bei. Diese medialen Produktionen sind nicht nur erfolgreich in Ländern mit ähnlicher Geschichte oder kultureller Matrix (Vasallo Lopes 2004: 16), sondern auch in Regionen mit weniger (kulturellen) Gemeinsamkeiten, wie beispielsweise in mehreren arabischen Ländern, in Russland und in China (Rial y Costas 2006: 52). In der Telenovelaproduktion nimmt Brasilien eine Sonderstellung in Lateinamerika ein. Dies geht zurück auf eine besonders stark oral geprägte Geschichte1 und eine anspruchsvolle Telenovela-Dramaturgie, 1
Benedict Anderson schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage von »Imagined Communities« (1994), einer seiner Hauptfehler in der Ausgabe von 1983 wäre die Verallgemeinerung von Lateinamerika als eine Einheit gewesen. Einer der genannten Gründe ist, dass Portugal, im Unterschied zur 159
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dem so genannten drama social. Im Gegensatz zu den meist strikt nach einem melodramatischen Grundmuster strukturierten hispanoamerikanischen Telenovelas werden in brasilianischen viel eher reale politische und gesellschaftliche Debatten aufgegriffen, in den Handlungsstrang integriert, von einem großen Teil der Bevölkerung diskutiert und mitunter gar als Referenzmodell verstanden. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass Telenovelas in Brasilien zur Hauptsendezeit ausgestrahlt werden und die höchsten Einschaltquoten verzeichnen. Vor allem TelenovelaDramaturgen wie Manoel Carlos und Gloria Pérez2 tragen mit Einblendungen von realen Elementen, wie Ausschnitten aus Nachrichtensendungen oder Statements von realen Personen3, dazu bei, dass die nicht klar gezogene Grenze zwischen Fiktion und Realität zumindest scheinbar überwunden wird. Häufig entstehen so Bilder, die ins kollektive kulturelle Gedächtnis in Brasilien integriert werden. Es sollte jedoch nicht in Vergessenheit geraten, dass Telenovelas ein Produkt der Kulturindustrie sind und die bestehenden hegemonialen Gesellschaftsbeziehungen repräsentieren. Vor diesem Hintergrund werde ich in diesem Beitrag aufzeigen, wie vier Nationalsymbole (Virgen de Guadalupe für Mexiko, Nossa Senhora da Conceição Aparecida für Brasilien und Empire Statue Building und Statue of Liberty für die USA)4 in América (Gloria Pérez, 2005), einer über acht Monate im Jahre 2005 in Brasilien gedrehten und ausgestrahlten Telenovela, miteinander in Dialog gebracht werden, welche Bedeutungen in Bewegung geraten, und zu welchen Neuzuschreibungen und
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spanischen Krone, gegen den Auf-/Ausbau von Schulen und Universitäten in Brasilien war (Anderson 1994 [1983]): xiii, 51). Als Folge kam es zu einer späten Einführung von Druckerpressen, daher galt der besondere Fokus der oralen Kultur. Dies setzt sich bis in die Gegenwart fort durch die stark poetisch geprägte Populärmusik, der »mpb« (música popular brasileira) von Vinicius Moraes, Chico Buarque und Caetano Veloso. So hat Gloria Pérez das Merchandising Social eingeführt, eine Art von Aufklärungs-Kampagnen in den Telenovelas; z.B. gegen synthetische Drogen in »O Clone« (2001-2002) (vgl. Ruiz Schiavo 2002: 3). In der Telenovela »Páginas de Vida« (2006-2007) blendete der Autor Manoel Carlos in mehreren aufeinanderfolgenden Episoden am Ende der Sendung Stellungnahmen von Menschen mit Behinderung ein. Es wird davon ausgegangen, dass Symbole nicht pars pro toto für ein Land stehen und Knotenpunkte innerhalb bestehender hegemonialer Spannungsverhältnisse darstellen, aber auch von dynamischer Natur sind und ein Nebeneinander mit anderen besteht. Ein Eins-zu-Eins-Aufrechnen wäre daher verkürzend oder in diesem Falle sogar inkohärent, denn demnach würden zwei religiöse Symbole einem politischen und einem ökonomischem Wahrzeichen gegenüberstehen. 160
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diskursiven und audiovisuellen Neuverortungen das führt. Die Auswahl der genannten vier Symbole ergibt sich daraus, dass sie allesamt Leitmotiv-Charakter für und in América besitzen und als Allegorien fungieren. América ist eine thematisch innovative, transnationale Migrationssaga um die brasilianische Protagonistin Sol, die nach mehreren Deportationen schließlich illegal über die mexikanische Nordgrenze in die USA einreist, um dort ihren sonho americano (American Dream) zu realisieren. Dort lässt sie ihre große Liebe, den Rodeoreiter Tião, zurück und lebt in Miami mit anderen lateinamerikanischen Emigranten zusammen. Die Autorin der Telenovela, Gloria Pérez, verfolgt bei der Konstruktion ihres América eine narrative Strategie, die spezifische Zuschreibungen von Symbolen mit Charakteren und geographischen Räumen innerhalb des Plots vorsieht. Zum Einen ist dies die Verbindung eines brasilianischen Nationalsymbols, der Nossa Senhora da Conceição Aparecida, mit Sols Freund Tião und mit Brasilien. Zum Anderen ist dies ein mexikanisches Nationalsymbol, die Virgen de Guadalupe, sowohl in Verbindung mit den nordamerikanischen Nationalsymbolen Statue of Liberty und Empire State Building als auch mit Sol, Mexiko und den USA.
Z u r k u l tu r g e sc h i c h tl i c h e n B e d e u tu n g v o n n a t i o n a l e n S ym b o l e n Im Folgenden soll ein Überblick über die vier genannten Nationalsymbole und den ihnen zugeschriebenen kulturgeschichtlichen Bedeutungen gegeben werden. Anschließend wird dies als Folie dienen, auf der die Verwendungen und Konstellationen der Symbole in América gegenübergestellt werden, um so Übertragungs- und Verschiebungsprozesse zu erforschen. Virgen de Guadalupe Die Virgen de Guadalupe (Unsere Liebe Frau von Guadalupe) gilt als die Nationalheilige Mexikos schlechthin; Symbol für Kontinuität des Lebens und Kultur in Mexiko (Nebel 1995 [1992]: 26). Sagen- und mythenumwoben, wurde sie als nationale Identifikationsfigur konstruiert und instrumentalisiert (Bartra 1997 [1987]: 183). Sie verfügt über einen außerordentlichen Bekanntheitsgrad durch Prozessionen, einen Wallfahrtstag, einen Wallfahrtsort und Artefakte jeglicher Art, wobei deren Position als heilig und unantastbar gilt. Diese Ausnahmestellung machte sich etwa bemerkbar durch Ausschreitungen und Proteste nach der Inkorporation des Konterfeis von Marylin Monroe in die Figurenabbildung der Virgen de Guadalupe in einem Kunstwerk (García Canclini 2000 [1989]: 157).
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In jüngster Zeit nahm deren Popularität weiter zu, etwa durch die Heiligsprechung des Übermittlers des Virgen-Mythos im 16. Jahrhundert, Juan Diego, durch Papst Johannes Paul II. im Jahr 2002. Weiter spielt Unsere Liebe Frau von Guadalupe eine wichtige Rolle im mexikanischen nationbuilding process, wie durch die Schriften des Nobelpreisträgers Octavio Paz ersichtlich wird (Paz 1998 [1949]). Darüber hinaus gilt die Virgen de Guadalupe als Schutzheilige der Migranten, eingeführt durch eine Papstbulle aus dem 18. Jahrhundert. Schließlich erfuhr die Nationalheilige durch die Chicanobewegung in den USA eine ikonenhafte Aneignung in den letzten Jahrzehnten, wie die Chicana Gloria Anzaldúa deutlich macht: »She is like my race – a synthesis of the old world and the new, of the religion and culture of the two races in our psyche, the conquerors and the conquered« (Anzaldúa 1997 [1987]: 52). In den letzten Jahren wird die Virgen de Guadalupe immer mehr zum Symbol für transnationale Wanderungen, aufgrund der verstärkten Migrationsbewegungen von Lateinamerikaner in die USA.5 Nossa Senhora da Conceição Aparecida Im Vergleich zur Virgen de Guadalupe verfügt Nossa Senhora da Conceição Aparecida (Unsere Liebe Frau von Aparecida) zwar über eine exponierte, jedoch über keine exklusive Stellung in Brasilien. Dies rührt zum Einen daher, dass sie keinen so engen Bezug zum nation-building hat wie ihr mexikanisches Pendant und allgemein mehr auf einer religiös-spirituellen Ebene wahrgenommen wird. Zum Anderen ist dies zurückzuführen auf einen größeren »Schutzheiligen-Pluralismus« in Brasilien. D.h., in Mexiko werden auch andere Heilige verehrt, nur gilt die Virgen de Guadalupe als kollektive Nationalheilige. In Brasilien ist dies jedoch regional unterschiedlich, so besitzen doch Nossa Senhora da Gloria und Nossa Senhora da Assunçao ebenso einen hohen Stellenwert. Trotzdem ist Nossa Senhora da Conceição Aparecida nach Dekret von Papst Pius XI. im Jahr 1929 zur Nationalheiligen ernannt worden (Ribeiro 1996), verfügt über einen ihr gleichnamigen Wallfahrtsort, Aparecida, und einen Wallfahrtstag. In einer erweiterten Bedeutung wird sie auch als Schutzheilige des Rodeo und der Rodeoreiter angesehen. Statue of Liberty Die Statue of Liberty (Freiheitsstatue) ist eines der bekanntesten nationalen Symbole auf globaler Ebene. Aufgrund ihrer geographischen Lage an der Ostküste der USA mit Blick auf die damals in den Häfen anlegenden Migrantenschiffe aus Europa und aufgrund der Sockelinschrift von 5
Vgl. die Debatte um lateinamerikanische Schutzheilige als Indikatoren für geographische Mobilität in »Travelling Virgins«, e-misférica 5.1/2008. 162
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Emma Lazarus, in der die Freiheitsstatue als Mutter der Immigranten charakterisiert wird (Lazarus 1889), gilt sie nicht nur als Wahrzeichen für New York und die USA. Gleichzeitig verkörpert sie auch die Grundidee des »American Dream«, dem Streben nach Glück und Freiheit. Die Schutzheilige der Immigranten ist ein Symbol, welches von der Kulturindustrie global angeeignet wurde und als Replik in hunderten verschiedener Städte auf der ganzen Welt zu sehen ist, selbst vor dem Shopping Center ›New York City‹ in Rio de Janeiro.6 Die symbolische Bedeutung der Statue in Bezug auf Migration wird besonders in Hinblick auf die Anschläge des 11. September 2001 ersichtlich: So wurde die Statue of Liberty für ein Jahr geschlossen und war der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Empire State Building Das Empire State Building ist aufgrund seiner ursprünglichen Funktion als Waren- und Bürohaus eng mit dem ökonomischen Aufstieg der USA verknüpft und wird auch dadurch symbolisiert, dass es mehrere Jahrzehnte lang das höchste Gebäude der Welt war, mit der wahrscheinlich höchsten Anzahl an Repliken aller Gebäude in den USA. Mitunter wird es gar mit dem Eiffelturm gleichgestellt (Kingwell 2006: 20, 122). Bekannt durch seine imposante Lichtanlage, kann es als leuchtendes Beispiel des nordamerikanischen Kapitalismus angesehen werden – und gleichzeitig als dessen tragisches Symbol, denn nach dem Einsturz des World Trade Centers 2001 ist das Empire State Building wieder das höchste Gebäude New Yorks (Kingwell 2006: 190).
S ym b o l e d e r M i g r a t i o n u n d d e s V e r b l e i b e n s und die Sonderstellung von Mexiko Die genannten Nationalsymbole tauchen in América in verschieden Formen auf, meist als materielle Objekte. Zum Einen sind das Heiligenbilder, Altäre, Kerzen, Wandbehänge, Banner, eine Schneekugel aber auch als tableau vivant (menschliche Statue). Zum Anderen geschieht dies durch diskursive Festschreibungen und Benennungen und den Gebrauch einer eigenen Semantik. Es kommt dabei zur Verflechtung von Symbolgebrauch und neuen Bedeutungen, welche im Folgenden erläutert werden sollen.
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Diese Information habe ich der Professorin für Geographie, Monica Arroyo, zu verdanken (Gespräch am 05.05.2007 in der Universidade de São Paulo in Brasilien). 163
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Empire State Building/Statue of Liberty + Sol + USA Die Protagonistin bekommt von der in die USA emigrierten Tante Rita ihrer besten Freundin Drica eine Schneekugel geschenkt, in der eine Miniatur des Empire State Building und der Statue of Liberty zu sehen ist. Dies wird begleitet von den Worten »Hier drinnen ist Amerika« und einer verführerischen Geschichte, nach der in den USA alle Menschen genug zu essen haben, alle positiv in die Zukunft schauen und glücklich sind. Gleichzeitig zeigt Dricas Tante Fotos von ihrem schicken Haus in den USA mit Swimmingpool und Sportwagen. Tante Rita ist teuer und elegant gekleidet, sie steht dabei in einem extremen Gegensatz zu der ärmlichen Favela, in der Sol mit ihrer Familie wohnt. Folglich ist Sols Vorstellung von den USA seit der frühen Kindheit geprägt durch das Empire State Building, die Statue of Liberty und eine ›amerikanische Erfolgsgeschichte‹.7 Die Schneekugel besitzt einen Leitmotivcharakter in der Telenovela. Im Vorspann wird ihrer erinnert durch die Optik der Bilder, sie werden wie durch eine Schneekugel hindurch gezeigt. Im Laufe der Handlung wird sie von Sol bei sich getragen, wird anderen Freunden und Migranten gezeigt und sogar fest umklammert gehalten, als sie beim Border-crossing aus ihrem Versteck in einem Auto herausgeholt wird. Sol trägt also ihren eigenen von einer Brasilianerin aus den USA gebrachten amerikanischen Traum in Form der Schneekugel wieder selbst zurück in die USA. Es sollte allerdings angefügt werden, dass mit dem Erreichen des US-amerikanischen Territoriums Sols Traum nicht erfüllt wird, sondern schweren Prüfungen unterzogen wird. Sie schlägt sich als Würstchenverkäuferin, Putzfrau und als Tänzerin durch, schließlich sogar als tableau vivant, als Statue of Liberty dabei im wahrsten Sinne des Wortes den American Dream verkörpernd. Dadurch spiegelt sie dessen symbolische Wirkung für lateinamerikanische Immigranten wider: Von außen sieht alles makellos aus, aber dahinter tobt ein harter Kampf um die eigene Existenz. Nossa Senhora da Conceição Aparecida + Tião + Brasilien Tião und seine Familie, die Higinos, werden als ärmlich und bodenständig dargestellt. Tião erfüllt dabei die Funktion, den vom Vater gezeichneten Plan vom eigenen Haus, in dem für die ganze Familie Platz ist, zu realisieren. Seine bereits in der frühen Kindheit beginnende Karriere als Rodeo-Reiter ist begleitet von Verehrungen Nossa Senhora da Conceição Aparecida. Dies gilt sowohl für Gebete, vor den Rodeos von ihm selbst 7
Auf narrativer Ebene durch das Erzählen vom Wohlstand, auf indirekter Bildebene durch die Fotos des Wohlstands und auf direkter Bildebene durch Tante Ritas aufwendige Frisur und teure Kleidung. 164
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oder von seiner Mutter gesprochen, oder vor einem Ritt durch das Einlegen eines Bildnisses der Schutzheiligen in seinen Cowboyhut. Tião wird als heimatverbunden in eine Tradition von Rodeoreitern gestellt. Vor Rodeowettbewerben wird er als Sohn und Enkel von Rodeosiegern angekündigt, dem es im Leben hauptsächlich darum geht den Traum vom eigenen Heim verwirklichen zu können, indem er seine in den Rodeowettbewerben gewonnen Prämien zusammenspart. Als Tião schließlich im Erwachsenenalter während eines Rodeos von einem Bullen abgeworfen wird und ins Koma fällt, erscheint ihm in einer Traumvorstellung Nossa Senhora da Conceição Aparecida, führt ihn aus dem Fegefeuer und dem Limbus zurück ins reale Leben, er wacht im Krankenhaus auf und blickt in die Augen seiner von ihm schwangeren Freundin Simone. Nossa Senhora stellt also das Bindeglied zwischen Leben und Tod dar und nimmt aktiv teil an der Verwirklichung von Tiãos Lebenstraum in Brasilien. Ein möglicher Erklärungsansatz in einer Gegenüberstellung der zwei Verkettungen (Empire State Building/Statue of Liberty + Sol + USA und Nossa Senhora da Conceição Aparecida + Tião + Brasilien) könnte als narrative Strategie der Autorin gewertet werden, die dadurch die Polarisierung zwischen den beiden Lebensentwürfen von Sol und Tião betont. So ist das zum Einen (E-) Migration und Bewegung im Falle von Sol, symbolisiert durch das Verlassen von Brasilien und dem Einreisen in die USA. Zum Anderen sind dies Statik und Verweilen, symbolisiert durch Tiãos Absicht den Traum von den eigenen vier Wänden in seinem Heimatdorf zu verwirklichen. Dies wird verdeutlicht durch das Versprechen von Tiãos jahrzehntelang verschollenem Vater gegenüber dessen anderem Sohn, Geninho, von einem Zimmer, das so groß ist, dass darin das ganze Haus der Familie hineinpasst. Die Polarisierung wird weiter betont durch ein mehrmaliges Überkreuzen von Sols und Tiãos Lebensentwürfen und den genannten Verkettungen. Auf direkte Weise geschieht dies durch einen der Haupthandlungsstränge. Darin sind Sol und Tião über lange Zeit der Telenovela ein sich trennendes und wiederfindendes Liebespaar. Zwar ist Tião fasziniert von Sol und reitet sogar ein Rodeo in den Vereinigten Staaten, lässt sich aber dennoch nicht überreden in die USA zu emigrieren und heiratet stattdessen die ortsansässige Veterinärmedizinerin Simone. Und auf indirekte Weise wird dies durch eine geschickte Schnitttechnik erreicht. Farblich abgehoben, lösen sich so Szenen von Tiãos bukolischem Landleben mit solchen von Sols buntem und pulsierendem Stadtleben in Miami ab. Darüber hinaus wird durch diese Verkettung Mexiko eine Sonderrolle in der Telenovela zugesprochen. Das Land wird von den Rändern aus dargestellt. Die mexikanische Nordgrenze steht pars pro toto für fast
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ganz Mexiko, denn es finden sich nur audiovisuelle Referenzen zu dieser Grenze und zum Flughafen in Mexiko City. Es besteht also immer eine Verbindung zu Transit und Übergang, indem Mexiko als Transitland oder Korridor (Braig/Baur 2005) dargestellt wird, wo es zu spannungsgeladenen Aushandlungen in diesen third spaces (Bhabha 1994: 14) kommt. Daher könnte die Trias Empire State Building/Statue of Liberty + Sol + USA um zwei weitere Elemente, der Virgen de Guadalupe und Mexiko, ergänzt werden. Dies würde dann die folgende Konstellation ergeben: Empire State Building/Statue of Liberty/Virgen de Guadalupe + Sol + Mexiko/USA. Denn um ihren American Dream zu realisieren, muss Sol die Wüste in Mexiko durchqueren und den Rio Bravo durchschwimmen. Dabei macht sie durch andere mexikanische Migranten an der Grenze mit der Virgen de Guadalupe Bekanntschaft8, bekommt ein Bildnis von ihr geschenkt, das daraufhin die Funktion erfüllt, welche die Schneekugel zuvor innehatte. Die besteht darin, ihren Traum von der Einreise in die USA zu verwirklichen. Es kommt sogar so weit, dass die Virgen de Guadalupe ihrer sprichwörtlichen Rolle als Schutzpatronin wirklich nachkommt. Sol wird nämlich vor einer Deportation nach Brasilien bewahrt, als ihr während eines Verhörs durch die Grenzpolizei ihr Virgen de Guadalupe-Bildnis aus der Tasche fällt und sie darauf, für eine Mexikanerin gehalten, nur wieder zurück über die Grenze nach Mexiko gebracht wird.
M e d i a l e N e u v e r o r tu n g e n Die Verbindungen der genannten Symbole durch den transnational angelegten Plot und den damit verbundenen Symbol- und Charakterzuschreibungen führen zu Konstellationen, die bis dato in brasilianischen Telenovelas unbekannt waren.9 Weiter erfolgen konkrete Neuverortungen auf anderen Ebenen. So wandert durch Sol das Bildnis der Virgen de Guadalupe in América von Mexiko in die USA bis nach Brasilien. Diese
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Die mexikanische Migrantin Mercedes macht sie mit der Virgen de Guadalupe und deren Schutzwirkung für Migranten vertraut (siehe América, Folge 5). Dies gilt auch für Nebencharaktere in América, besonders in Bezug auf die regionalen Verbindungen zwischen Brasilien, Mexiko und USA, und zwischen Brasilien und den USA. Wie etwa für den brasilianischen Cowboy Carrerinha, der die mexikanische Schönheit Conchita in den USA kennenlernt und in Brasilien heiratet, und für die brasilianische Rodeo-Promoterin Gil, die ihr Glück in den USA versucht. 166
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Schutzheilige ist dort fast gänzlich unbekannt10, wird aber dadurch, dass viele andere Charaktere sie in der Telenovela anbeten, in deren brasilianisches Heiligenrepertoire integriert. Das audiovisuelle Medium bietet ebenso eine Fülle von Symbolkomposita, welche die Polyphonie von América betonen. Durch ein häufig gleichzeitiges Auftauchen in einer Bildeinstellung können syntaktische Verbindungen zwischen Symbolen im Zentrum und im Hintergrund, wie etwa in der Wanddekoration, hergestellt werden, die verschiedene Lesarten und Dialoge ermöglichen. Dies lässt sich emblematisch anhand einer Szene an der Grenze (América, Folge 4) belegen, in der Sol mit anderen Migranten im Eingang einer Pension steht. Vor ihnen befindet sich ein Altar mit Marienbildnissen, Kerzen mit Marien-Konterfei und im Hintergrund Wandbehänge mit Marien-Motiven. Die Überblendung des einfallenden Lichts und Sols geneigter Kopf sorgen dafür, dass Sol selbst als Personifizierung der Virgen de Guadalupe angesehen werden kann. Die Trias Symbol + Telenovela-Charakter + regionale Zuschreibung könnte also durch eine metonymische Verschiebung auf eine Achse transportiert werden, auf der Sol, die brasilianische Migrantin, die Virgen de Guadalupe symbolisiert. In einer weiteren Verschiebung könnte diese als Migranten-Schutzpatronin alle Migranten symbolisieren. Dies würde folglich heißen, Sol allegorisch als Symbolfigur für die gesamte lateinamerikanische Migration in die USA zu verstehen. Gleichzeitig wird damit die Relevanz von Migration und Border-crossing ins Zentrum gerückt. Denn durch Beleuchtung und Kontrapunktierung mit den anderen Marienbildnissen wird der die Migration symbolisierenden Sol/Virgen de Guadalupe eine zentrale und exponierte Position zugesprochen. Es bestehen durchaus auch Neuverortungen und Symbolkonstellationen, welchen mit kulturgeschichtlich semiotischen Erklärungen nicht beizukommen ist und welche die Vielstimmigkeit der Bilder betonen. So könnte gefragt werden, wie Acacio, Tiãos Vater, in den Besitz einer Virgen de Guadalupe-Ikone kommt. Denn am Ende der Novela wird eine Virgen de Guadalupe-Ikone, in der Diamanten versteckt sind, an die Familie von Tião übergeben. Aus der Handlung wird ersichtlich, dass der Vater von Tião in den 1980er Jahren in Nordbrasilien in Rondonia in einer Diamantenmine gearbeitet und dort von einem mexikanischen Arbeitskollegen die Ikone geschenkt bekam. Ein anderer Arbeitskollege löste das dem im Sterben liegenden Acacio gegebene Versprechen ein und übergab sie schließlich, nach jahrelangem Suchen, Tiãos Familie.
10 Während und nach der Ausstrahlung von América wurde ein Modetrend in Brasilien ausgelöst von Kleidern und Ketten mit Virgen de GuadalupeAufdruck bzw. -Abbildungen. 167
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An diesem Punkt setzt wieder die postmoderne Unsicherheit in Bezug auf Symbole und Bilder, deren Zirkulation und Interpretationen ein, die Eingangs erwähnt wurde: Bedeutungen sind häufig fließend und elastisch. Denn laut der Erklärung durch den Plot der Telenovela erhielt Acacio die Ikone zu einer Zeit, in der es keine Immigration von Mexiko nach Brasilien gab und in der die Virgen de Guadalupe gänzlich unbekannt war.
Fazit Ausgehend von einer kulturgeschichtlichen Einordnung der vier Nationalsymbole Virgen de Guadalupe, Nossa Senhora da Conceição Aparecida, Empire State Building und Statue of Liberty, wurde eine Rekonstruktion von deren Gebrauch in der Telenovela América vorgenommen. Dabei wurde herausgefunden, dass die jeweiligen Symbole schematisch mit bestimmten Personen- und Länderzuschreibungen verbunden sind. Zum Einen sind das Virgen de Guadalupe, Empire State Building und die Statue of Liberty für Sol, Mexiko und die USA. Und zum Anderen sind das Nossa Senhora da Conceição Aparecida für Tião und für Brasilien. In einem weiteren Schritt wurde gezeigt, dass dies als narrative Strategie der Autorin Gloria Pérez gewertet werden kann, um eine Polarisierung zu erreichen. Zu diesem Zweck werden bestimmte Symbole, Charaktere und Länder mit Statik in Verbindung gebracht und andere mit Migration, oder auch teilweise miteinander verflochten. Dadurch werden die beiden Hauptlebensentwürfe in América betont. Zum Einen ist es das Verbleiben in Brasilien in Verbindung mit Hausbau. Zum Anderen ist dies die Emi-gration in die USA als Illusion eines besseren Lebens. Auf eine innova-tive Weise wird dabei Migration trotz ihrer Tücken als Lebensalternative dargestellt und bestehende Gender-Stereotypen auf den Kopf gestellt, da es Sol und nicht Tião ist, die sich mutig in die Fremde wagt. Mexiko nimmt in der Teledramaturgie eine Sonderstellung ein. Es wird als Transitland in den erweiterten Kontext der Umsetzung des sonho americano integriert. Resultat ist eine Neuverortung von bis dato in der audiovisuellen Landschaft Brasiliens unbekannten räumlichen (BrasilienMexiko-USA) und symbolischen (Virgen de Guadalupe mit Empire State Building und Statue of Liberty) Konstellationen. Die Polyphonie von América lässt durchaus Spielraum für weitere metaphorische und allegorische Zuschreibungen, wie beispielsweise Sol als Virgen de Guadalupe oder sinnbildlich für die gesamte lateinamerikanische Migration in die USA. Gleichzeitig lassen sich aber nicht alle Konstellationen nach einem
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semiotischen kulturgeschichtlichen Schema deuten und entziehen sich mit-unter diesbezüglichen Erklärungsansätzen.
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»D I E
WAHREN
HELDEN
UNSERES MODERNEN
LEBENS« - GESELLSCHAFTLICHE POSITION IDENTITÄT LATEINAMERIKANISCHER INTELLEKTUELLER
UND
MENJA HOLTZ Der aus der Dominikanischen Republik stammende Literaturkritiker Pedro Henríquez Ureña formulierte im Jahr 1925, noch ganz unter dem Einfluss der Mexikanischen Revolution stehend, folgende Worte: »Unser Amerika muß den Glauben an seine Bestimmung, an die Zukunft der Zivilisation bejahen. […] Und vor allem hoffen wir, daß Amerika weiterhin das hervorbringt, was vielleicht seine höchste Qualität ist: Die Meister, die wahren Helden unseres modernen Lebens, die unserem Geist Sprache verleihen und Schöpfer des geistigen Lebens sind. Sie sind Symbole unserer Zivilisation, die beide Richtungen [Technik und Geist, Anmerkung M.H.] zusammenfaßt und eint, um sie in Gleichgewicht und Harmonie zu erhalten« (Henríquez Ureña 1982 [1925]: 215, 218).
Ureña greift in diesen Worten einen großen Topos der lateinamerikanischen Geistesgeschichte auf: (Latein-) Amerika entspräche dem humanistischen Ideal der Ganzheitlichkeit, das der materialistischen Kultur Nordamerikas entgegengesetzt sei, und die Rettung der Menschheit vor dem Technikglauben könne eben nur durch das Voranstellen des Geistes als wichtigste gesellschaftsverändernde Kraft erfolgen. Dies wiederum sei die Aufgabe des amerikanischen Intellektuellen, oder »Erziehers« der Nation (Nelle 1996: 19). Von dem Modell sind seit Rodó1 verschiedene Ausführungen entworfen worden, und es kann als Erklärungsversuch für die langsame technische Entwicklung lateinamerikanischer Länder gesehen werden sowie als nationales Identifikationsangebot und Identitätsmerkmal.
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José Enrique Rodó, uruguayischer Essayist (1871-1917), Verfasser des international bekannten Büchleins »Ariel« (1900), in dem der genannte Topos aufgeworfen wird. 171
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Wie weit existiert das eben skizzierte Modell noch heute und wie weit trägt es zur nationalen, intellektuellen Identitätssuche in lateinamerikanischen Ländern bei? Diese komplexe und vielschichtige Frage erschöpfend klären zu wollen, wäre vermessen und auch gar nicht möglich. Auch kann ich mich der Problematik nicht entziehen, aus westlicher Perspektive über lateinamerikanische Intellektuelle zu schreiben (aber ich bemühe mich in diesem Bewusstsein über größtmögliche Objektivität beim Vertreten meines Standpunktes). Im Folgenden untersuche ich Positionen von Sozial- und Geisteswissenschaftler/innen in Mexiko und Chile, die in den 1970er und 80er Jahren in Deutschland promoviert haben – einer Zeit, in der marxistische oder ›linke‹ (noch) zu den hegemonialen Diskursen in diesen Ländern zählten. Die Bezeichnung Intellektuelle umfasst natürlich mehr als nur diese Berufsgruppe: »In einem umfassenden Sinne können die Intellektuellen […] als AkteurInnen der sozialen Entwicklung betrachtet werden, die gesellschaftliche Erfahrungen und Denkstrukturen in wissenschaftliches und kulturelles Wissen transformieren« (Zapata Galindo 2006: 12).
Die 1970er und 80er Jahre: Bruch im Selbstverständnis der Intellektuellen Lange Zeit hatten Intellektuelle in Lateinamerika für einen Aufbruch gestanden, der die Hoffnung auf eine tatsächliche Verbesserung der soziopolitischen Lage beinhaltete. Sie waren die Sinnproduzenten der Gesellschaft und trugen zum gesellschaftlichen Diskurs – und damit allerdings paradoxerweise zur Erhaltung der sozialen Hierarchie unter Exklusion eines großen Teils der Bevölkerung – bei (vgl. Zapata Galindo 2006: 121ff; Bernecker/Zoller 2007: 37; Hofmeister 2004). In den 1970er und 80er Jahren waren weite Teile Lateinamerikas von Diktaturen und Bürgerkriegen geprägt. Die Vertreter/innen sozialistischer Utopien sollten oder konnten nicht mehr als Vordenker gesellschaftlicher Transformationen fungieren. In Chile kam es z.B. 1973 zu einem Militärputsch, im Zuge dessen sozialistisch orientierte Personen bzw. solche, denen man dies unterstellte, inhaftiert und gefoltert wurden. Sozialwissenschaftler/innen agierten in den kommenden Jahrzehnten als Gegenelite aus dem oder im Ausland oder über private sozialwissenschaftliche Institute, die von der internationalen Chile-Solidaritätsbewegung gefördert wurden. In Mexiko erlangten im Zuge des Hegemonieverlustes der Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional) und einer Schuldenkrise im Laufe der 1980er Jahre neue, neolibe-
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ral-technokratisch geprägte Eliten, die in den USA oder in Kooperation mit US-amerikanischen Hochschulen ausgebildet worden waren, einflussreiche Positionen innerhalb des Staates (vgl. Bernecker/Zoller 2007: 37ff; Adler Lomnitz et al. 2007: 156ff). Der peruanische Dependenz-Theoretiker2 Aníbal Quijano beschreibt das zum Teil gewalttätige Zurückdrängen des marxistischen oder linken Diskurses und seiner Vertreter als Bruch: »Während der letzten 500 Jahre […] schien es immer einen leuchtenden Horizont zu geben, der viele Namen hatte: Fortschritt, Identität, Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus. Die Niederlagen waren immer nur konjunkturell. […] Ich glaube, mit der letzten Niederlage wurden nicht nur die politischen Regime zerschlagen, die Bewegungen, Organisationen, Diskurse; sondern zum ersten Mal versank der gesamte Horizont. Deshalb war es so leicht, dass ein einziges Denkmodell aufkommen und sich durchsetzen konnte, wie ein gemeinsamer Sinn für die ganze Welt« (Quijano 2002).
Denselben Prozess beschreibt z.B. Rogelio Hernández Rodríguez (2004) mit weniger Empathie. Für ihn war die marxistische Ausrichtung vieler (chilenischer) Intellektueller ein Grund für das Scheitern der Unidad Popular.3 Die Linke hätte sich zu wenig mit den eigentlichen Problemen des Landes und zu viel mit theoretischen Problemen des Marxismus befasst (Hernández Rodríguez 2004: 47f). Diese Debatte ist seit den 1970er Jahren unter chilenischen Intellektuellen polemisch und selbstkritisch geführt worden. Es treten darin zwei Dilemmata hervor: zum Einen das zwischen kritischem Denken und politischer Macht und zum Anderen das zwischen eigenem Denken und unkritischer Übernahme europäischer Denkmodelle. Ersteres beinhaltet die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion und damit auch die der gesellschaftlichen Position der Intellektuellen, die von ihnen für lange Zeit behauptet werden konnte. Dieser Prozess, der als Sinnkrise von Teilen der Intellektuellen – oder eben als Krise der gesellschaftlichen Position derselben – bezeichnet werden kann, ging mit dem (angeblichen) Scheitern sozialer Utopien und Alternativen zum Kapitalismus einher (vgl. Mansilla 2004; Hernández Rodríguez 2004). Er wurde auf unterschiedliche Weise in Lateinamerika und Deutschland behandelt, wie im Folgenden – auch unter Bezugnahme auf den Aspekt der Übernahme europäischer Denkmodelle – ausgeführt
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Die Dependencia-Schule geht davon aus, dass Entwicklung und Unterentwicklung Teil desselben Wirtschaftssystems sind und nicht Zeichen der Rückständigkeit oder eigenes Verschulden der Entwicklungsländer. Übersetzt: Volkseinheit. Sozialistisch orientiertes Regierungsbündnis in Chile unter Salvador Allende, 1970-73, durch Militärputsch gestürzt. 173
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wird. Eine Folge der politischen Situation in lateinamerikanischen Ländern war nämlich das Exil: So kamen zahlreiche intellektuelle Chilen/innen in die BRD, wo viele von ihnen an Universitäten arbeiteten oder studierten.
Konstruktion intellektueller Identität im Dialog Mit der Anwesenheit lateinamerikanischer Exilierter, Studierender und sonstiger Reisender oder Migrant/innen in Deutschland4 verstärkte sich der Geist des Aufbruchs und der Hoffnung auf bessere soziale Verhältnisse in Lateinamerika (v.a. in Ländern der sogenannten Dritten Welt), der von der studentischen Protestbewegung und anderen – nicht nur linken – Intellektuellen aufgegriffen wurde. Im Dialog zwischen Deutschen und Lateinamerikaner/innen bildeten sich gemeinsame Identifikationsrahmen und somit die Möglichkeit kollektiver Identitäten5, ohne dass Letztere ihre Herkunft oder das Bewusstsein über die Implikationen derselben zurückstellten. Die Aktivist/innen der studentischen und linken Protestbewegungen in Deutschland idealisierten Lateinamerika als freien Raum zur Projektion von gesellschaftlichen Utopien. Lateinamerikanische Exilierte und Studierende trugen dazu bei. Sie versorgten ihre deutschen Mitstreiter mit ›authentischen‹ Informationen über die Lage in lateinamerikanischen Ländern (vgl. z.B. Juchler 1996; Holtz 2004; Werz 2001: 43). So lebte der alte Topos vom südlichen Amerika als Wiege der gesellschaftlichen Veränderung in der Welt wieder auf und gewährleistete lateinamerikanischen Intellektuellen eine Identitätszuschreibung im Exil, die sich mit den Ansprüchen, Projektionen und Bedürfnissen ihrer deutschen Gastgeber deckte. Symbole, wie ›unterdrückte Völker‹, oder das Bild von Lateinamerika als ›revolutionärem Kontinent‹, dienten dabei u.a. zur Vereinfachung der Kommunikation und der Gruppenbildung. Dabei entsprachen diese Symbole nicht allen sich in Deutschland aufhaltenden Lateinamerikaner/innen und auch nicht den Symbolen, die innerhalb Lateinamerikas konstruiert wurden; sie konnten aber aufgrund der hierarchischen Kommunikationswege einen Rückeinfluss auf diese haben. Dies geschah auch im Rahmen der in der Epoche virulenten Diskurse zur ›Entwicklung‹ oder ›Modernisierung‹ und der Kooperation sogenannter Entwicklungsländer miteinander, um ihre Ansprüche am Welt4 5
Ich beziehe mich in diesem Artikel nicht auf die DDR. Der Plural hier deshalb, weil durchaus auch konservative oder liberale Gruppen zusammenarbeiteten, die natürlich auch Identität konstruierten. 174
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markt und am Weltgeschehen geltend zu machen. Bemerkbar machte sich das in verschiedenen Disziplinen z.B. durch die Einflüsse der filosofía americana, die Theologie der Befreiung oder die DependenciaSchule.6 Während für viele exilierte Lateinamerikaner/innen das Studium in Deutschland eine Art der Überbrückung und produktiven Nutzung ihres Exils darstellte, in dem sie ihre Fragen zur politischen Entwicklung in Lateinamerika weiter diskutieren und aus veränderter Perspektive sehen konnten, war für einige Nicht-Exilierte die ausländische Universität ein Denkort, der nicht von politischen Querelen durchdrungen war und an dem sie ihre theoretischen Grundlagen erweitern konnten.7 Sie kritisierten die Ideologisiertheit des wissenschaftlichen bzw. des intellektuellen Diskurses. Der venezolanische Essayist Carlos Rangel (1929-1988) bezeichnet diesen gewissermaßen als Werkstätte von Mythen, die in Lateinamerika aufgrund des mangelnden technischen Fortschritts blühen würden (vgl. Werz 1992: 330ff). Dabei liege das ökonomische Scheitern hauptsächlich an der eigenen Politik. Mitverantwortlich für die Erschaffung der Mythen seien aber auch westliche Intellektuelle, die Vertreter/innen aus der Dritten Welt ein Podium auf internationalen Konferenzen bieten würden. Dieses Nicht-Sehen-Wollen der Realität führe dann zu Paradoxien, wie z.B. den gleichzeitigen Mythen, dass Lateinamerika ein Opfer der spanischen Kolonialherrschaft sei, aber der romanische Charakter dem nordamerikanischen überlegen sei. Ähnlich argumentiert auch der Politikwissenschaftler Hugo Mansilla, obgleich er den Intellektuellen zugesteht, dass auch sie von den äußeren Umständen in ihrem Schaffen eingeschränkt seien und deshalb als grundlegende Kritik an ihrer Arbeit vor allem die unkritische Übernahme von europäischen und nordamerikanischen Denkmodellen und »Moden« gelten müsste. Diese habe dazu ge-
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Die Philosophie des Amerikanischen ist (auch zeitlich) nicht genau definiert, sie basiert auf der Annahme eines eigenständigen lateinamerikanischen Denkens (siehe Werz 1992: 222ff). Die Theologie der Befreiung entstand Mitte der 1960er Jahre in verschiedenen theologischen Zirkeln Lateinamerikas. Sie tritt für eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung ein. Die Dependencia-Schule kam gleichzeitig in Lateinamerika auf, in den 1970ern wurde sie auch in Deutschland rezipiert. So das Ergebnis von Interviews, die ich zwischen Januar und April 2008 mit Sozial- und Geisteswissenschaftler/innen in Mexiko und Chile geführt habe. Meine Informanten haben in Deutschland promoviert, es gelten für die einzelnen Personen aber nicht alle in diesem Artikel getroffenen Aussagen gleichermaßen. 175
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führt, dass keine eigene politische und intellektuelle Kultur entstanden sei (Mansilla 2004: 20).
Diversifizierung des Selbstverständnisses in d e r G l o b al i si e r u n g Mit dem Niedergang des Ostblocks wurde der ›Ideologie-Kampf‹ zwischen Ost und West offiziell für beendet erklärt. Dies hat unter anderem zur Folge, dass sich der ›Entwicklungs‹-Diskurs geändert hat, indem der ›Westen‹ nun die Deutungsmacht innehat und nach eigener offizieller Verlautbarung nicht mehr mit einem dominanten alternativen Modell konkurrieren muss (vgl. Sieber 2005: 60). Auf diese Situation wird von Seiten lateinamerikanischer Intellektueller verschieden reagiert. So hat auf der einen Seite die Kritik am Schaffen lateinamerikanischer Intellektueller zugenommen. Der bereits oben zitierte Hugo Mansilla unterstellt lateinamerikanischen Intellektuellen einen unverbesserlichen Opportunismus, den er (ziemlich zynisch) folgendermaßen beschreibt: »So wie der Marxismus und ihm verwandte Strömungen (beispielsweise die lateinamerikanische Dependenztheorie) der unantastbare Bezugsrahmen in vergangenen Jahrzehnten waren, so scheinen heute der Neoliberalismus und die postmodernistische Philosophie das verbindliche Paradigma zu sein; sich von diesem main stream zu distanzieren, wäre dumm, unproduktiv und unnötig« (Mansilla 2004: 21).
Für Mansilla hat sich nichts am Schema geändert, nur die Bilder oder Begriffe sind inzwischen andere. Eine zweite Reaktion kommt von der Gruppe der Systemtheoretiker (Sistémicos), die sich auf den Luhmannschen Ansatz stützen, der in den 1980er Jahren in Chile eingeführt wurde und in Mexiko seit den 1990ern rezipiert wird.8 Die Sistémicos gehören zu denjenigen Sozialwissenschaftlern, die die ihrer Ansicht nach starke Ideologisierung ihres Faches kritisieren, und die sie mit der ›reinen‹ Theorie kontrastieren, in welcher sie den geeigneten Ansatz sehen, die Realität Lateinamerikas zu erfassen. Das heiße aber nicht, dass die Theorie nicht kritisch angewendet werden könne. So gibt es auch unter den sich als ›rein wissenschaftlich‹, ›nichtnormativ‹ sehenden Sistemicos Vertreter, die eine alleinige nüchterne Betrachtung der Realität Lateinamerikas als unzureichend empfinden. 8
Auch diese und die folgenden Aussagen basieren auf den oben genannten Interviews. 176
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Drittens möchte ich noch die relativ neu aufgekommenen Kulturwissenschaften anführen, deren Vertreter/innen sich als Denker und gleichzeitig als »Bewohner« des von ihnen untersuchten kulturellen »extraterritorialen« Raumes verstehen, wie Alfonso de Toro es ausdrückt (1999: 45). Die (lateinamerikanisch-geprägten) Kulturwissenschaften formierten sich in den 1980er und 90er Jahren in Chile, im Zuge des oben beschriebenen Bruches, der sich in den Sozialwissenschaften in einer Diskursreform niederschlug. Zumindest aus Sicht einiger westlicher Postkolonialismustheoretiker ist die diskursive Strategie der chilenischen Kulturwissenschaftler/innen als postkolonial zu bezeichnen, was nicht von allen so Bezeichneten geteilt wird (vgl. auch Sieber 2005: 59ff). Sie verfolgen das Anliegen, der Vielfalt ihren Raum zu geben, also kulturelle und soziale Entwicklungen nicht durch eine binäre Brille zu betrachten, und sich der eigenen ›kulturellen Kolonisiertheit‹ bewusst zu sein. Dabei scheinen sie eine positiv konnotierte Fortführung des Imitierungs-Topos (der bedeutet, lateinamerikanische Intellektuelle würden nur europäische Modelle übernehmen; vgl. Nelle 1996: 13ff) darzustellen: Cornelia Sieber beschreibt das sehr schön als die »Fähigkeit der LateinamerikaDenker, mit dem Anderen als dem Anders-Denkenden dialogisch umzugehen« (2005: 127). Jedoch ist nach Ansicht de Toros ein Unterschied zwischen den postmodernistischen Denker/innen Lateinamerikas – wie er etwa Edmundo O’Gorman (1906-1995) und Angel Rama (1926-1983) bezeichnet – und den Theoretiker/innen aus der westlichen Welt festzustellen, deren Werke nicht nur deshalb als signifikant betrachtet würden, weil sie in den ›Modernisierungs-Zentren‹ verfasst seien, sondern weil sie im Gegensatz zu O’Gorman und Rama die Frage der Diskursivität explizit behandeln würden (vgl. 1999: 65). Das wiederum klingt wie der alte Begleiter des Imitierungs-Topos, nämlich der Vorwurf der mangelnden Selbstreflektion an lateinamerikanische Intellektuelle. Damit wären wir beim repetitiven Muster der Kritiken angelangt, die in denselben Forderungen enden, aber, so der Diskurs über den Diskurs, der sich ebenfalls zu wiederholen scheint, nicht in tatsächlichen Verbesserungen. Die Kritik kommt hierbei aus verschiedenen ideologischen oder politischen Richtungen, was auch dazu führt, dass derselbe Sachverhalt positiv oder negativ dargestellt wird. Doch ist meines Erachtens eine Vielfalt zu beobachten, die in lateinamerikanischen, genauso wie in anderen intellektuellen Kreisen, verschiedene Antworten aufzeigt – und sich z.B. in der gleichzeitigen Präsenz der Diskurse über Dependencia, Modernisierung, Postmoderne oder Alterität widerspiegelt. Der alte Topos spielt dabei keine dominante Rolle mehr. Aber trotz der ungleichen Verteilung von Partizipations- und Forschungsmöglichkeiten auf dem internationalen Markt zu Ungunsten Lateinamerikas wird die ei-
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gene intellektuelle Leistung mit denen von Europäer/innen oder Nordamerikaner/innen zu Recht als gleichwertig betrachtet. Letztlich sind die Bedingungen für jegliche intellektuelle Tätigkeit von globalen Faktoren mitbestimmt, die auch in Deutschland dazu führen, dass verschiedenste soziologische Theorien und methodische Ansätze verwendet werden, die aus den USA, Frankreich etc. kommen, nur dass in Bezug auf ›westliche‹ Intellektuelle weniger kritisch nach der Herkunft gefragt wird. Und es scheint immer noch das Bewusstsein zu existieren, dass die Tätigkeit von Intellektuellen einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung und sogar zur Verbesserung sozialer Umstände darstellt, wie z.B. aus dem anfänglich aufgeführten Zitat von Martha Zapata Galindo hervorgeht, und wie mir die Mehrheit meiner Informanten in Chile und Mexiko mitgeteilt hat. Auch werden die Globalisierung und der mit ihr einhergehende Neoliberalismus kritisch betrachtet.
Fazit Bilder und Symbole werden positiv oder negativ übersetzt oder verändert, so auch das Bild der Intellektuellen als Idealisten. Die Veränderung geschieht je nach Deutungsmacht und jeweiligem aktuellen Prozess im Diskurs, bzw. je nachdem welcher der Diskurse sich durchsetzt. Als grobe Linie kann eine Phase in den 1970er und 80er Jahren ausgemacht werden, in der marxistische und andere linke Diskurse hegemonial waren, und intellektuelle Identität über die Dritte Welt-Thematik mit ihrer Kapitalismus-Kritik, und im Wechselspiel zwischen lateinamerikanischen und deutschen oder europäischen Intellektuellen, konstruiert und verhandelt wurde. In den 1990er Jahren erfolgte nach einem vermutlich traumatischen Bruch (verbunden mit dem Verlust des alten Topos) eine Umlenkung des intellektuellen main stream in Richtung neoliberalen und globalistischen Gedankenguts. Doch so einfach kann sich der Neoliberalismus als hegemonialer Diskurs nicht durchsetzen: Bei genauerer Betrachtung ergibt sich nämlich eine größere Diversität, als in einzelnen Thesen gefasst werden kann. Das gilt umso mehr für die heutige globalisierte Welt, in der, im Widerspruch zur kulturellen Monopolisierung, Identität sichtlich über Diversität bzw. divers konstruiert wird. Auch der Wissenschaftsdiskurs hat sich diversifiziert, und genau das bietet die Möglichkeit, globale Probleme unter Einbeziehung außereuropäischer Standpunkte zu lösen. Allerdings wäre dazu eine Dezentralisierung der wissenschaftlichen Einflusszentren nötig, denn noch spielt es eine Rolle, woher eine Theorie stammt und von wem sie gefördert wird. Dann könnte darüber diskutiert werden, was die Erkenntnisse über den
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besagten Topos und die gesellschaftliche Position von Intellektuellen zur Bearbeitung aktueller Problemlagen beitragen können. Und aus meiner geisteswissenschaftlichen, aber auch idealistischen Perspektive möchte ich dies abschließend noch einmal bekräftigen: Kritik an den (lateinamerikanischen oder sonstigen) Vertreter/innen des alten Topos ist teilweise zu Recht geäußert worden und wird noch geäußert; auch aus feministischer Sicht könnte sicherlich viel gesagt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Anspruch, humanistische Ideale erfüllen zu wollen, ein falscher ist. Ein Gegenübertreten der ausschließlich technisch orientierten Entwicklung ist meines Erachtens unbedingt erforderlich. Und in dieser Hinsicht könnten – aus heutiger Sicht interpretiert und ohne ihre Rolle überzubewerten – Intellektuelle auf vielfältige Weise »Symbole unserer Zivilisation« (Henriquez Ureña 1925: 218) sein.
Literatur Adler Lomnitz, Larissa et al. (2007): »Globalización y nuevas élites en México«. In: Peter Birle et al. (Hg.), Elites en América Latina, Frankfurt a.M.: Vervuert, S. 143-168. Bernecker, Walther L./Zoller, Rüdiger (2007): »Transformaciones sociales y políticas a través de élites?« In: Peter Birle et al. (Hg.), Elites en América Latina, Frankfurt a.M.: Vervuert, S. 31-51. Hernández Rodríguez, Rogelio (2004): »Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie. Von der Nonkonformität als Beruf zur politischen Verantwortung«. In: Wilhelm Hofmeister/Hugo Mansilla (Hg.), Die Entzauberung des kritischen Geistes. Intellektuelle und Politik in Lateinamerika, Bielefeld: transcript Verlag, S. 39-68. Henríquez Ureña, Pedro (1982 [1925]): »Utopia América«. In: Angel Rama (Hg.), Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 215-223. Hofmeister, Wilhelm/Mansilla, Hugo (Hg.) (2004): Die Entzauberung des kritischen Geistes. Intellektuelle und Politik in Lateinamerika, Bielefeld: transcript Verlag. Holtz, Menja (2004): Aufnahme, Integration und Rückkehr von MigrantInnen. Das chilenische Exil in Hannover 1973-94, Stuttgart: ibidem. Juchler, Ingo (1996): Die Studentenbewegungen in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und -theorien aus der Dritten Welt, Berlin: Duncker & Humblot.
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Mansilla, Hugo (2004): »Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Kurze Einführung zu einer grundlegenden Ambivalenz«. In: Wilhelm Hofmeister/Ders. (Hg.), Die Entzauberung des kritischen Geistes. Intellektuelle und Politik in Lateinamerika, Bielefeld: transcript Verlag, S. 13-38. Nelle, Florian (1996): Atlantische Passagen. Paris am Schnittpunkt südamerikanischer Lebensläufe zwischen Unabhängigkeit und kubanischer Revolution, Berlin: Tranvía. Quijano, Aníbal (2002): »Un nuevo imaginario anticapitalista«. Interview von Ivonne Trías, Semanario Brecha, Montevideo, Februar 2002, http://www.globalizacion.org/entrevistas/QuijanoImaginario Capitalista.htm, 09.07.2008. Sieber, Cornelia (2005): Die Gegenwart im Plural. Postmoderne/ postkoloniale Strategien in neueren Lateinamerikadiskursen, Frankfurt a.M.: Vervuert. Toro, Alfonso de (1999): »La postcolonialidad en Latinoamérica en la era de la globalización. ¿Cambio de paradigma en el pensamiento teórico-cultural latinoamericano?«. In: Ders./Fernando de Toro (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica, Madrid: Iberoamericana/Frankfurt a.M.: Vervuert, S. 31-78. Werz, Nikolaus (1992): Das Neuere Politische und Sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika, Freiburg im Breisgau: ArnoldBergstraesser-Institut, Habil.-Schrift 1991. Werz, Nikolaus (2001): »Akademische Eliten. Zum Beispiel in Lateinamerika«. In: Hermann Weber (Hg.), Zwischen Macht und Dienst. Eliten in Gesellschaft und Kirche heute, Bonn: KAAD, S. 34-51. Zapata Galindo, Martha (2006): Der Preis der Macht. Intellektuelle und Demokratisierungsprozesse in Mexiko 1968-2000, Berlin: Tranvía.
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RAUM UND REPRÄSENTATION: DIE SIEDLUNG CIUDADELA SUCRE XIMENA TABARES Was haben Raum, Repräsentation und Identität miteinander zu tun? Das ist die Leitfrage dieses Artikels, und ich werde sie anhand einer Studie über eine informelle Siedlung auf besetztem Land – einer invasión – in Bogotá, Kolumbien, diskutieren. Meine Analyse basiert auf dem Konzept von Raum als dynamisches und komplexes Gebilde, das durch soziale Interaktionen entsteht (Low 2000; Escobar 2001). Statt Schauplätze der Kultur – im Sinne von Malinowskys Village-Perspektive in der Sozialanthropologie – sind Räume eine Art Performance; sie repräsentieren die sozialen Beziehungen und Praktiken, die sie bilden und transformieren.1 Die Entstehung von Räumen bedarf Differenzierungsprozesse; so werden Räume über unterschiedliche und in Spannung stehende Praktiken oder Machtbeziehungen gebildet. Zum Beispiel werden der Markt und der zentrale Platz in Costa Rica durch differenziertes Verhalten und Beziehungsmuster von ihren Akteur/innen gebildet (Richardson 1982), aber bestimmte Orte oder Bezirke werden in der Urbanhierarchie anhand der Segregation der Stadtbewohnern von Stadtplanern definiert (Wray 2003). Auf diese Weise, und wie Escobar meint, ist place making untrennbar von people making, d.h. Räume sind Teil und Ausdruck der Handlung und Legitimierung von Identitäten (Escobar 2001: 146). In der Ciudadela Sucre, einer invasión in Bogotá, sind solche Prozesse eher paradox und komplexer. Die Siedlung entsteht durch unterschiedliche Differenzierungsprozesse, die wiederum auf unterschiedlichen sozialen und politischen Ebenen stattfinden.2
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Für einen Überblick über die Transformationen des Raumbegriffes innerhalb des anthropologischen Diskurses und ihre Wirkungen auf die methodologischen Praktiken, siehe Gupta/Ferguson (1997). Für eine vergleichbare Studie über Raumentstehung und Landbesetzung in Mexiko-Stadt, siehe Gutmann (2000). 181
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C i u d a d e l a S u c r e : P r o d u z i e r t e r Ra u m Ciudadela Sucre liegt am Rand des Bezirkes Soacha und stellt eine der Wachstumszonen von Bogotá dar. Die Siedlung ist am Rand der ›legalen‹ Stadtplanung entstanden. Bei meinem Forschungsaufenthalt im Jahr 20013 war keine Dienstleistungsinfrastruktur vorhanden und die Siedlung stand im Ruf eines hochgefährlichen Ortes. Die Bewohner haben aber immer wieder versucht, die Legalisierung ihrer Siedlung und den Zugang zu Dienstleistungen bei der Bezirksverwaltung durchzusetzen. Sieben Jahre später zeigen sich in Ciudadela Sucre Erfolge in Richtung Legalisierung, die mit Hilfe transnationaler und nicht-institutioneller Akteure möglich waren. Diese Transformationen lassen sich als paralleler Verlauf von Prozessen der Produktion und der Konstruktion des Raumes analysieren.4 Setha Low definiert hergestellte Räume als die Materialisierung von hegemonialen Machtbeziehungen (Low 2000: 125). Diese Räume repräsentieren die Interessen von Staaten, Stadtplanern, technologischen und wirtschaftlichen Projekten, die die Macht haben, ihre eigene Interessen und Raumlogiken durchzusetzen (vgl. etwa das »System der Zentralen Orte« nach Walter Christaller, 1962). Räume werden mit Hilfe von Raumstrategien hergestellt (Certeau 1984). Eine davon ist die Methode des Teilens und Klassifizierens. Die Stadtplanung bestimmt, was, wie und wo gebaut wird. Dem Plan nicht Entsprechendes wird als unrechtmäßig dargestellt. So entstand Ciudadela Sucre auf einem Gebiet, welches durch die Stadtverwaltung als nicht bebaubar klassifiziert worden war. Als Gründe dafür wurden die Topographie und Bodenkomposition (Lehmboden), die zur Gefahr durch Erdrutsche und Lawinen werden könnten, angeführt, und es wurde ein Bauverbot erlassen. Zwar verfügen die Siedler über legale Landtitel und es wurde seitens der Stadtverwaltung nie versucht, das Bauverbot tatsächlich durchzusetzen, jedoch ist die ›Illegalität‹ der Bauten das Hauptargument der Stadtverwaltung, um Dienstleistungen und Zugang zu Wohnungsverbesserungsprogrammen zu verweigern. Angesiedelt am Rand der Stadtordnungen und der Legalität, charakterisiert der liminale Zustand von Ciudadela Sucre nicht nur die Infrastruktur, sondern auch ihre Bewohner/innen. Diese rekrutieren sich aus Flüchtlingen, Migranten aus allen Orten Kolumbiens, Pendlern und Zugezogenen aus anderen Stadtteilen Bogotás. In Gesprächen mit der kolumbianischen Behörde für Flüchtlingsangelegenheiten (›Red de solida3 4
Der Forschungsaufenthalt in Bogota fand im Rahmen meiner Promotionsarbeit statt (Tabares 2005). Vgl. Low 2000: Production vs. construction of space. 182
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ridad social‹) vertraten deren Mitarbeiter den Standpunkt, dass die Einwohner der Ciudadela lediglich temporären Status hätten und deren Häuser in der nächsten Regenzeit verschwinden könnten. Raum und Menschen werden auf diese Weise homogenisiert und unter das Stigma der Nicht-Beständigkeit gestellt.5 Die Klassifizierung der Ciudadela als ›gefährlicher‹ und ›illegaler‹ Ort wird durch die Anwendung anderer räumlicher Strategien unterstrichen: die Kontrolle über Territorium, Grenzen und Mobilität (Certeau 1984; Foucault 1967). Eine Militärbasis, lokalisiert zwischen San Mateo (angrenzendes Viertel) und Ciudadela Sucre, verkörpert die Grenze zwischen legalem und illegalem Raum. Zivile Polizei ist in der Ciudadela nicht präsent. Gemäß den Angaben der interviewten Flüchtlinge werden diese unter den Generalverdacht der Mitgliedschaft in illegalen bewaffneten Gruppen (Guerilla, Paramilitärs) gestellt, und die Militärs üben die Kontrolle über Land und Leute mittels Einschüchterung, Einschränkung der Mobilität und Bespitzelung aus. Die alltägliche Erfahrung von Gewalt und Ausschließung, sowie die Entwicklung bestimmter räumlicher Habitus (Bourdieu 1971) – wie etwa gewisse Wegstrecken zu vermeiden oder sich zu bestimmten Zeiten nicht auf die Straße zu begeben – ermöglichen die Reproduktion der Verknüpfung zwischen Raum und stigmatisierter Identität. Es ist die alltägliche Erfahrung des Raumes und seiner Symbolik, welche erlaubt, dass soziale Strukturen und dominante Raumideologien inkorporiert und naturalisiert werden.6
C i u d a d e l a S u c r e : K o n st r u i e r t e r Ra u m Konstruierte Räume sind subvertierte, angeeignete und neugedeutete Räume, die in alltäglicher Erfahrung durch Erinnerung, Austausch, Konflikt und Nutzung entstehen (Low 2000: 125). Aus dieser Perspektive ist der Raum weniger ein hegemoniales Produkt, stattdessen wird er zu phänomenologischer Erfahrung oder place (Escobar 2001: 154). Räume werden mithilfe räumlicher Taktiken (Certeau 1984) konstruiert. Dazu zählen Subversion von Raumlogiken sowie Manipulierung und Neudeutung von hergestellten Räumen. Der Besiedlungsprozess in Ciudadela Sucre spiegelt beide Strategien wider. Einerseits wird die 5 6
Für eine vergleichbare Studie über Stigmatisierung und Raumherstellung in Barcelona, siehe Wray (2003). In seiner Studie über das Berber House erklärt Bourdieu, wie die alltägliche Erfahrung des Raumes und der Symbolik zu Sozialisierung gesellschaftlicher Strukturen führt (Bourdieu 1971). 183
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Stadtplanungslogik subvertiert, indem die Bebauung lokalen Logiken folgt, die die Interessen und Bedürfnisse der Siedler berücksichtigen. Die Auswahl des Landstückes und der Wohnungsentwurf entsprechen alltäglichen Bedürfnissen und Praktiken: Mobilität (Nähe zu Gehwegen oder Anschlusspunkten), Flexibilität (multifunktionale Innenräume begünstigen Heimarbeit und Aufnahme zugezogener Bewohner), Versorgung (Möglichkeit der Landarbeit), Sozialisierung und Sicherheit (die Bauten sind sozial integriert – es gibt keine isolierten Häuser –, aber der private Raum wird geschützt; die Häuser werden mithilfe solidarischer Netzwerke gebaut). Andererseits spiegelt die Art und Weise, in der die Bebauung durchgeführt wird, eine Strategie zur Manipulierung des hergestellten ›illegalen‹ Raumes. Diese Manipulierung verfolgt nicht die Absicht, die Illegalität neu zu definieren und daraus einen alternativen Raum zu schaffen. Vielmehr wird aus der lokalen Raumlogik eine Annäherung an die Stadtplanungslogik und damit zur Legalität versucht. Die Wohnung wird etwa aus Backsteinen gebaut, damit sie die Baurichtlinien der Stadtverwaltung (Erdbebentauglichkeit) erfüllen. So rücken die Siedler in die Nähe der Legalisierung und sichern ihren Besitz bzw. ihre Bleibe. Als konstruierter Raum versucht Ciudadela Sucre, sich besser in der Urbanhierarchie zu positionieren: Statt Ausschließung und Stigmatisierung wird um Legalität und Integration in die Stadt gerungen. In diesem Fall verdeutlichen sich die Herstellung und Konstruktion von Räumen nicht als getrennte oder zeitlich geordnete Prozesse. Es handelt sich eher um simultane und kreuzend verlaufende Prozesse.
L e g i ti m i e r u n g sk a m p f Die Bewohner von Ciudadela Sucre haben unterschiedliche Ressourcen benutzt, um ihre Siedlung zu legitimieren. Zum Einen sind die legalen Landtitel seitens der Stadtverwaltung trotz unrechtmäßigen Erwerbs und Bebauung anerkannt. Deswegen werden die Siedler toleriert und nicht geräumt. Andererseits versuchen die Siedler Zugang zu Dienstleistungen auf alternativen Wegen zu dem über die Stadtverwaltung zu erlangen. Weil sich unter ihnen auch Flüchtlinge befinden, werden die Ansprüche auf Dienstleistungen nicht als soziale Rechte von der Stadtverwaltung abverlangt, sondern als Menschenrechte bzw. Flüchtlingsrechte mit Rückendeckung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf staatliche und transnationale Ebenen verlagert. Die Siedler berufen sich auf von Kolumbien unterzeichnete transnationale Flüchtlingsabkommen und ihre entsprechenden nationalen Gesetzesrahmen.
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Auf diese Weise erfüllen lokale und transnationale NGOs die von der Stadtverwaltung verweigerten sozialen Rechte. Es werden Schulen errichtet (z.B. die mit Unterstützung der Fundación Dividendo por Colombia, einer privaten, in Bogotá ansässigen Stiftung, gegründete Grundschule »Los Arrayanes«), Wohnungsverbesserungsprogramme durchgeführt (USAID), Bürgerhäuser gebaut (Internationales Komitee des Roten Kreuzes), Gesundheitszentren ausgestattet und ärztliche Versorgung angeboten (Ärzte ohne Grenzen), juristische Begleitung geleistet und Menschenrechtsverletzungen angeklagt (CODHES7). Die wachsende Aufmerksamkeit, die Ciudadela Sucre auf transnationalen Ebenen erzielt, sowie das zunehmende Wachstum der Bevölkerung vor Ort haben dazu geführt, dass im Jahr 2006 die Stadtverwaltung der Errichtung des Wassernetzes in Ciudadela Sucre zugestimmt hat. Parallel dazu haben die Siedler das Stromnetz ›illegal‹ von der Hauptstraße zu ihren Wohnungen erweitert. Außerdem wurde im Jahr 2008 ein Absichtsabkommen (›Acuerdo de Intenciones‹) zwischen den für das Amt des Bezirksbürgermeisters kandidierenden lokalen Politikern und der ACNUR8 in Soacha unterzeichnet, in welchem diese sich für den Fall ihrer Wahl verpflichten, die Flüchtlinge zu schützen und ihre Rechte zu gewährleisten (ACNUR 2008). Die Verhältnisse zwischen Raum, Repräsentation und Identität in Ciudadela Sucre materialisieren sich damit auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Erstens haben die Siedler Ciudadela Sucre nach eigener Logik als Ort – place im Sinne von Escobar – konstruiert (Escobar 2001: 152). Sie rücken aber in Richtung Legalisierung und verfolgen die Absicht, als Teil des hergestellten urbanen Raumes anerkannt zu werden. Dabei kämpfen sie gegen die von ›Illegalität‹ und ›Gefahr‹ geprägten Identitätsbilder, indem sie einen humanitären Diskurs in ihrer Selbstdarstellung betonen. Dieser Diskurs wird auch von NGOs übernommen, die wiederum die Lage und Interessen der Menschen in Ciudadela Sucre in staatlichem und transnationalem Kontext vertreten und eine bessere Positionierung der Siedler in lokalem und globalem Kontext ermöglichen. Herstellung und Konstruktion von Räumen und von Identitäten sind komplexe und sich kreuzende Prozesse, die widersprechende Verhältnisse zwischen Agency und Anpassung und zwischen Selbstdarstellung und Vertretung – im Sinne von Spivak – aufdecken (Spivak 1988). Die Teilnahme internationaler Akteure und die Anwendung von transnationalen Gesetzesrahmen innerhalb des Legitimierungsprozesses 7
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»Consultoría para los Derechos Humanos y el Desplazamiento« (Beratungsstelle für Menschenrechte und Vertreibung), eine der großen kolumbianischen Nichtregierungsorganisationen. UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge. 185
XIMENA TABARES
spiegelt andererseits eine im Sinne von Escobar glocal Dynamik wider (Escobar 2001: 156). Das Globale wird lokalisiert: Man beruft sich auf transnationale Abkommen, um lokale Ansprüche zu verwirklichen. Gleichzeitig wird das Lokale globalisiert: Transnationale Netzwerke und Institutionen legitimieren die Ansprüche lokaler Akteure und machen sie sichtbar. Sie übernehmen damit die Gewährleistung der auf lokalen Ebenen verweigerten sozialen Rechte. Der Fall Ciudadela Sucre zeigt, wie Räume als soziale und performative Gebilde unterschiedliche Skalen verknüpfen (global, lokal, staatlich), statt auf eine einzige Skala begrenzt zu sein. Aus diesem Grund bedarf es für die Analyse der Verhältnisse zwischen Raum, Repräsentation und Identität der Annahme einer Perspektive der intersectionality (McDowell et al. 2002), die das Zwischenspiel von sozialen Praktiken und Machtverhältnissen auf multiplen Ebenen berücksichtigt.
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KÖRPER
IM
B EG E G N U N G : GESUNDHEIT, TOD UND HEILUNG 1 FRÜHNEUZEITLICHEN CARTAGENA DE INDIAS DER
PABLO F. GOMEZ Am 5. Februar 1610 berichteten Juan de Iturrieta Alcibia und Pedro Gil de Redonda, Schatzmeister und Buchhalter der Spanischen Krone in Cartagena de Indias, im heutigen Kolumbien, dem Indienrat in Sevilla/ Spanien, über die finanziellen Aufwendungen für die königliche Flotte. Einer der Einträge in ihrem Bericht erklärt, warum sie einen der Sklavenruderer auf dem Schiff ersetzen mussten. Die spanischen Beamten schrieben, dass Pedro Bran »an Lähmung erkrankt war und wahnsinnig wurde, weil er eine große Schlange umgebracht und gehäutet hatte. […] Durch das Töten und Häuten der besagten Schlange wurde er geisteskrank und gelähmt […] und tat auch andere Dinge wie ein Verrückter. […] Man glaubte, dass er im Wahnsinn seiner Krankheit entweder ertrunken oder von einer Klippe gefallen war« (AGI, Contaduría, 1388. Folios 385-395).2
Diese kleine Anekdote, eine Randbemerkung in den Unterlagen der Verwaltung der Spanischen Krone in Cartagena, erlaubt uns einen Blick auf die komplexen, sowohl individuellen als auch sozialen Prozesse, die es Spaniern und Afrikanern ermöglichten, sich innerhalb der gesellschaftlich turbulenten Sklavengebiete zu bewegen. Die Ausgangsthese dieses Beitrags ist, dass in den spanischen Kolonialstädten – insbeson1
2
Der Beitrag von Pablo F. Gomez, im Original »Bodies of Encounter: Health, Death and Salvation in Early-Modern Cartagena de Indias«, wurde von Karoline Bahrs übersetzt. Die Dokumente dieser Untersuchung befinden sich in den Magazinen des Archivo General de Indias (AGI), des Archivo Histórico Nacional in Madrid, Spanien (AHN) und des Archivo General de la Nación in Kolumbien, (AGNC). Ich habe auch eine Passage aus einer Veröffentlichung von Juan Mendez Nieto (ca. 1531- ca. 1617) verwendet. Das Originalmanuskript von Mendez Nietos Discursos Medicinales befindet sich in der Universitätsbibliothek von Salamanca; vgl. Juan Méndez Nieto (1989 [1607]). 189
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dere in den Sklaven-entrepôts wie Cartagena – Afrikaner, Europäer und ihre Nachkommen eine gemeinsame Konzeptionalisierung von der Beschaffenheit ihrer Körper und den Ursprüngen von Gesundheit und Krankheit entwickelten. Dies war ein Prozess, der, wie ich vorschlagen möchte, motiviert wurde durch ein gemeinsames Verständnis von Natur, Gesundheit und Krankheit, basierend auf magischen, religiösen und metaphysischen Konzepten, und der als einzigartig fließende und reichhaltige Möglichkeit zu kulturellem Austausch diente. Am Anfang des 17. Jahrhunderts war Cartagena de Indias der meistgenutzte Eintrittshafen für den Handel mit afrikanischen Sklaven in Südamerika. An der karibischen Küste von Neu-Granada (Nuevo Reino de Granada), dem heutigen Kolumbien, gelegen, hatte Cartagena 1607 ca. 20.000 Einwohner (Sandoval 1647: 376). Als Grenzstadt war Cartagena Durchgangsstation für Tausende von Sklaven, die in die Silber- und Goldminen der spanischen Kolonien in Südamerika geschickt wurden. Es war ebenso der Ort für die Verschiffung der dort zutage geförderten Erze in Richtung Europa. Cartagenas Position als Durchgangsort für die Reichtümer der spanischen Kolonien in Südamerika machte die Stadt besonders lebendig, farbenfroh und zu einem Ort von starker afrikanischer Prägung. Cartagena war und ist noch heute sehr ›schwarz‹, sehr afrikanisch. Zwischen 1580 und 1640 passierten ca. 170.000 afrikanische Sklaven die Stadt. Die Mehrzahl von ihnen, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dort ankamen, stammte aus der Kongo-Angola-Region. Unter anderen ethnischen Gruppen in dieser Region fanden sich die Mbundu, die Tshokwe und die BaKongo. Während der zweiten Jahrhunderthälfte gehörten die meisten Afrikaner den Yoruba an, sowie dem Einflussbereich dieser Kultur. Darunter fanden sich die Igbo aus Nigeria und GbeSprecher aus Togo, Ghana und Benin, sowie die Adja, Mina, Ewe und Fon aus dem Königreich Dahomey (vgl. Eltis 1999; Wheat 2007; Maya 2005; Castillo Mathieu 1982). Obwohl die brutalen Realitäten der Sklaverei die meisten menschlichen Interaktionen in spanischen Kolonialstädten wie Cartagena dominierten, fanden manche Begegnungen zwischen afrikanischen und europäischen Akteuren auf einer gleichberechtigten und weniger aggressiven Ebene statt. Bei all den Disparitäten in Lebensbedingungen, sozialer Hierarchie, kulturellen Bräuchen und religiösen Ideen, teilten Europäer und Afrikaner die Erfahrung von Schmerz und Krankheit.3 3
Gelbfieber, Malaria, Masern, Pocken, Filariose, Diarrhöe und viele weitere Krankheiten, neben der unmenschlich anstrengenden Arbeit auf den »galeras« (Galeeren) und den Baustellen in der Stadt, füllten den Ort mit kranken und dahinsiechenden Körpern. Zeitgenössische Dokumente aus dem 190
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Frühneuzeitliche scholastische Akademiker, wie Alonso de Sandoval, stellten Afrika und Afrikaner generell als »primitiv«, »diabolisch« und »verflucht« dar (Sandoval 1647: 26). Dieser schreibt außerdem über Monster und andere »fantastische Dinge«, die in Afrika angetroffen werden können (ebd.: 28-34). Auf gleiche Weise bezieht er sich auf den Kannibalismus der »Guineos« (ebd.: 67) oder spricht über deren »falsche Religion«, sowie deren »degenerierte natürliche« und »moralische« Eigenschaften (vgl. ebd.: 76-83). Die strafenden Reaktionen von Cartagenas Inquisitionstribunal auf die Ausübung afrikanischer Heilpraktiken und eine konstante Auseinandersetzung mit diesen Praktiken, die in zeitgenössischen Schriften von Priestern und zugelassenen Ärzten erkennbar ist, unterstreicht nur die deutliche Afrikanisierung der Stadt. Die spätere Charakterisierung afrikanischer Vorstellungen über Körper und Gesundheit als primitiv, proto-modern, oder im allgemeinen Sinne als ahistorisch und außerhalb der westlichen Vorstellungen über den menschlichen Körper, ist das Resultat einer teleologischen Konzeptionalisierung in der Entwicklung westlicher Wissenschaft und Medizin. Im Gegensatz dazu hatten europäische und afrikanische Konzepte von Körper und Krankheit während der frühen Neuzeit mehr gemeinsam, als dass sie sich voneinander unterschieden. Zu dieser Zeit stellten sich Europäer, ebenso wie Afrikaner, ihre Körper als Schauplätze (»scenarios«) vor, auf die nicht nur physische, sondern auch metaphysische Kräfte einen direkten und manchmal schädlichen Einfluss hatten. Europäer bezeichneten solche nicht-physischen Energien unter anderem als pneuma (Geist), Magie, Wunder, böser Blick, Hexerei oder Zauberei. Frühneuzeitliche Konzeptualisierungen von Gesundheit und Krankheit ließen viel Raum für die Intersektionen magischer, mystischer und religiöser Ideen, die sich mit Ursache und Behandlung von Krankheiten beschäftigten. Es ist demzufolge nicht überraschend, dass Europäer und Afrikaner in Cartagena auf eine Reihe von Gesundheitsritualen aus beiden Kulturen rekurrierten und sie adaptierten. Sie erkannten in diesen eine verständliche und vertraute Art der Annäherung an Körper und Krankheit. Vor diesem Hintergrund bildeten Afrikaner und ihre Nachkommen einen bedeutenden Anteil der Heiler in Cartagena. Kartagener jeglicher sozialer Herkunft wendeten sich neben den durch die spanische Krone offiziell zugelassenen Ärzten an verschiedene
AGNC und dem AGI enthalten zahlreiche Referenzen zu Seuchen aller Art, darunter Hinweise auf vómito negro (Gelbfieber), viruela (Pocken), tabardillo (Typhus), sarampion (Masern), camaras (Diarrhöe), und lepra (Lepra). All diese Epidemien grassierten in der Stadt zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. 191
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Arten von Heilern4 in einer Welt, in der durch Krankheiten die Anzahl der innerhalb der Stadtmauern lebenden Menschen beständig dezimiert wurde. So berichtet Juan Méndez Nieto beispielsweise von der Behandlung von Don Fray Francisco Çapatas, des Erzbischofs von NeuGranada: »[D]er zugelassene Arzt Francisco Diaz und viele weitere Ärzte, sowie viele weitere Mohanes [Hexenmeister] und Heilerinnen behandelten ihn während einer langen Zeit […] mit Feuer, Bädern […]. [Sie] ließen ihn [auch] einen ganzen Tag lang seinen Arm in einen frisch getöteten Stier stecken, bis [das Tier] abgekühlt war« (Méndez Nieto 1989 [1607]: 370-371).
Doch unabhängig davon, was man nun denken könnte, wurden die meisten Rinder in Cartagena zum Essen und nicht für Heilzwecke verwendet, ebenso wie zugelassene Ärzte nur einen minimalen Anteil der Kranken in der Stadt behandelten, bei denen es sich zumeist um Beamte der Krone oder reiche Kaufleute handelte.5 Der Rest der Bevölkerung wandte sich an andere Arten von Heilern, von denen viele ihre Methoden auf afrikanische Traditionen stützten. In frühneuzeitlichen afrikanischen Kulturen wurde ein Gleichgewicht mit der Welt der gut- und bösartigen Geistern als entscheidend für das Wohlergehen des Einzelnen angesehen. Wie auch in der damaligen westlichen Medizin basierten die meisten Behandlungsmethoden der afrikanischen Heiler auf Mischungen aus pflanzlichen, mineralischen und/oder tierischen Substanzen und ritualisierten Darbietungen und Artefakten. Bevor sie ihre Methoden anwandten, versetzten sich die afrikanischen Heiler gewöhnlich in Trance und traten in direkten Kontakt mit den Geistern, von denen sie Anleitungen für die notwendigen Behandlungsschritte erhielten. Die daraus resultierenden Heilverfahren beinhalteten Rituale und Opfer, Fasten, Saugen und den Gebrauch medizinischer Pflanzen.6 Die Anwendung dieser Behandlungsmethoden wird im Fall von Francisco Angola deutlich: In seinem Inquisitionsprozess von 1658 gestand Francisco, dass er Kräuter gekaut, bevor er sie auf Wunden gelegt habe. Darauf saugte
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Der portugiesische Arzt Juan Méndez Nieto beklagte sich zum Beispiel über seine Arztkollegen (vgl. Méndez Nieto 1989 [1607]: 155, 187, 200) und López de León über die Überhandnahme und Gefahren der Barbiere in Cartagena (López de León 1689: 27; siehe auch Lux Martelo 2006). Für eine weiterführende Diskussion über den sozialen Raum und die Charakteristiken medizinaler Praxis in der frühen Neuzeit; vgl. Blécourt/Usborne (2004); French (2003). Vgl. Sweet (2005); Thompson (1983); Sosadias (1981). 192
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Francisco die Wunden aus und zog Splitter, Steine, Haare und andere Dinge heraus. Bevor irgendjemand es bemerkte, versteckte er schnell das, was er gerade aus den Wunden entnommen hatte, in seinem Mund (AHN, Inquisición, RCF. Rollo 3. Libro 1023. Folios 349r-351r). Wie Francisco war der Großteil der Afrikaner und derer Nachkommen, die in Cartagena traditionelle Medizin anwendeten, Arará, Congo und Angola. Viele erklärten, ihr Handwerk in Afrika gelernt zu haben. Antonio Congo, ein freier schwarzer brujo7 (Hexer) beispielsweise erklärte, dass »[i]n seiner Heimat seine Mutter ihm Kräuter und Kuren beigebracht habe« (AHN, Inquisición, RCF. Rollo 3. Libro 1023. Folio 481r). Unter den Anschuldigungen, die ihm gegenüber während des Inquistionsprozesses vorgebracht wurden, lautete eine, dass er während einer Heilbehandlung Münzen in die Luft geworfen habe. Darauf antwortete Antonio, dass er so handelte »wie es in [seinem] Land üblich ist, mit der Absicht, es [die Behandlung] genauso zu tun wie die mohanes es [den Hexern] gelehrt hatten« (ebd.). Antonios Münzengebrauch war eine direkte Referenz zur Anrufung von Exú. Im Weissagungssystem Ifa von den Yoruba ist Exú einer der wichtigsten orishas, also eines der göttlichen Wesen, die als Vermittler zwischen Göttern und Menschen fungieren (Mbiti 1970; Verger 1985). Heiler wie Antonio und Francisco brachten viele afrikanische Traditionen mit. Dieses ›Gepäck‹ verkörperten sie durch rituelle Darbietungen und materialisierten es in den Objekten, die sie nachbildeten. Heiler, die als Bewahrer oraler und ritueller Traditionen betrachtet werden können, waren für die Reproduktion kultureller Strukturen der afrikanischen Gesellschaften essentiell, wie sie zugleich Bindeglied für die Vermittlung, Übersetzung und Anpassung an das neue Leben in den Amerikas waren (vgl. Sweet 2005: 122). So gesehen fungierten die afrikanischen Heiler in Cartagena während des 17. Jahrhunderts als einzigartig effektive Vermittler afrikanischer Kultur. Unter den zahlreichen erhaltenen Geschichten afrikanischer Heiler in Cartagenas Inquisitionsakten sticht die von Mateo Arará hervor. Der Sklave des Kapitäns Juan de Heredia wurde 1651 dem Inquisitionstribunal vorgeführt. Als Mateo angeklagt wurde, ein mohan zu sein, bezichtigte man ihn eine kleine Matte zu benutzen, die sich von selbst öffnete und schloss, wenn er ihr eine Frage stellte. Zusätzlich würde Mateo ein Horn benutzen, das er auf den Boden lege und das sich erhebe, wenn er 7
Es gibt im Englischen [wie im Deutschen, Anmerkung der Übersetzerin] kein geeignetes Wort für die vollständige Vermittlung der Bedeutung, die brujo im Spanischen oder in afrikanischen Sprachen hat. Brujos versammelten in sich die magischen Kräfte von Hexenmeistern, die Tricks eines Magiers sowie das Wissen eines Priesters und eines Kräuterexperten. 193
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es in dessen Sprache anspräche (AHN, Inquisición, RCF. Rollo 2. Libro 1021. Folios 304v-305r, 340v). Wie andere afrikanische Heiler sagte Mateo aus, dass ihm die heilenden Kräfte im Mutterleib gegeben worden seien. Er erklärte ebenso, dass sein Onkel Saa, der Heiler des Königshauses in seinem Land gewesen sei, ihn in der Heilkunst ausgebildet habe (AHN, Inquisición, RCF. Rollo 2. Libro 1023. Folios 341v-341r). Sklavenhändler nahmen Mateo in Afrika gefangen und verkauften ihn an portugiesische Händler, die ihn nach Cartagena brachten. In der Stadt angekommen, begann er die heimischen Pflanzen zu studieren und stellte die besagte Matte aus Palmblättern her. Wenn er nach seiner kleinen Matte gefragt wurde, antwortete Mateo, dass er »sich eine derartige Matte selbst erdacht habe. [Für deren Gebrauch] hatte er ein Huhn genommen, den Schnabel geöffnet und den Hals mit einem Messer durchgeschnitten, und mit dem herausspritzenden Blut habe er die kleine Matte gesprenkelt. Sobald sie nass und voller Tropfen war, legte er sie in ein Pulver bestehend aus allen Kräuterarten, die gegen Krankheit halfen« (ebd., Folio 340v).
Solch eine kleine Matte war Mateo zufolge nützlich, um die »guten und schlechten Kräuter für die Behandlung von Christen zu erkennen« (ebd., 340r). Mateo lernte, welche Kräuter eine wohltuende Wirkung hatten, indem er seine kleine Matte befragte. Wenn das Kraut gut war, öffnete sich die Matte, und wenn es unwirksam war, schloss sie sich und bewegte sich hin und her (ebd.). In Mateos Heiltechniken mischten sich konstant westliche und afrikanische Traditionen. Zum Beispiel bereitete Mateo ein Kraut, das er ariajua8 nannte, mit Wein zu, und sagte, dass dies besonders wirksam bei der Behandlung von »Trägheit und Unterleibsschmerzen« sei (ebd.). Mateo lernte diese letztgenannten Konzepte sicherlich erst in Cartagena kennen, insbesondere Trägheit, denn sie gehören zur traditionellen westlichen hippokratisch-galenisch geprägten Medizin. Mateo nutzte diese Form von Präparaten in einem Ritual, für das er ebenso die kleine Matte verwendete, um Hexen aufzuspüren. In einem dieser Fälle zog Mateo ein congolón – eine Schale – hervor, die mit dem Kraut ariajua gefüllt war, mischte dieses mit Wein und gab es den Sklaven einer Goldmine, die von einer mysteriösen Krankheit geplagt wurden. Er ging ringsherum und gab allen Sklaven in der Mine Wein und Kraut aus seiner Schale. Dann 8
Araujoa alba, eine weißblütige und -blättrige Pflanze aus der Familie der Asclepiadaceas, wächst in Südamerika an Oberflächen von Felsen und Bäumen und produziert einen süßen Geruch. Laut spanischem Wörterbuch (Real Academia de la Lengua Española 2001): »arauja sustantivo«. 194
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ging Mateo mit seiner kleinen Matte durch den Kreis, den die Sklaven gebildet hatten. Als die Matte sich vor einem Sklaven namens Ventura Anchico nach rechts drehte, konnte er ihn als der Hexer, der die Plage in der Mine verursacht hatte, identifizieren. Mateo wiederholte die Prozedur dreimal mit »großen Vertrauen in die Jungfrau Maria und in unseren Herren Jesus Christus« (ebd.: 340v).9 Zum Abschluss seiner Behandlung benutzte Mateo die Rinde eines Baumes, des orejón10, worin er ein Kreuz ritzte und dann die Rinde mit hydromiel vermischte – einer Flüssigkeit aus Honig und Wasser, einem weiteren therapeutischen Element aus der hippokratisch-galenischen Tradition. Nach den Inquisitionsakten kurierte dieses Getränk – neben einigen anderen Zaubertränken Mateos – die kranken Sklaven, indem es sie veranlasste, Knochen, Haare und Federn durch den Mund auszuspucken. Dies beschreibt eine weitere Praxis, die Teil des afrikanischen Heilungssystems ist. Mateos Heilrituale und Objekte sind eng mit den Traditionen verbunden, die bis heute in Westafrika beobachtet werden. Zum Beispiel wird Mateo Araras kleine Matte in heutigen sub-saharischen Gesellschaftstraditionen unter dem Namen ngombo ya cisalo oder cisese gebraucht (vgl. Bastin 1989). Jedoch enthalten die Akten von Mateos Inquisitionsprozess weitere Hinweise auf einen integrativen Prozess, der nicht nur auf afrikanische Heilungssysteme zurückgriff. Mateos Heilkünste, die bei weitem nicht als bloße Reproduktionen afrikanischer Rituale und Objekte verstanden werden dürfen, verbanden christlichreligiöse und westliche medizinische Konzepte mit dem therapeutischen Arsenal, das er in Afrika gelernt hatte. In der Geschichte dieses Sklaven finden wir darüber hinaus Beweise für einen komplexen Prozess der ReImagination, oder zumindest einer Re-Kategorisierung der Mysterien von Körper und Krankheit. Mateo erschuf nicht Afrika ein zweites Mal, sondern er imaginierte vielmehr in der Tat eine neue Welt. Die Geschichte von Juan de Alomera, eines Sklaven in Cartagena, weist viele Parallelen zu den Schilderungen Mateos auf. Juan, ebenfalls ein Heiler, erklärte 1697, dass er für die Diagnose von Krankheiten eine Pflanze mit dem Namen palo de fraile11 nutze. Deren Stängel diente Juan herauszufinden, ob die Krankheit durch Hexerei hervorgerufen wurde (AHN, Inquisición, Procesos de Fe. 11: 1622: Expediente 21. Folios 24v9
Originaltext: »mucha confianza en la Virgen María y nuestro señor Jesucristo«. 10 Der Baum heißt Enterolobium cyclocarpum. Er ist in Lateinamerika zum Beispiel auch als algarrobo francés, árbol de las orejas, carita und timbó bekannt. 11 Jatropha multifida. 195
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25r). Juan Alomera setzte auch die bejuco-Pflanze12 mit dem Namen capitana ein und mischte sie für Kuren mit dem Kraut carara.13 Interessanterweise schlossen Juans Techniken bei der Anwendung dieses Heilmittels die Einritzung von Kreuzen in die Hände und Füße der Patienten mit ein. Im Anschluss streute Juan das puderförmige Heilmittel auf die Wunden (ebd.). Es wird deutlich, dass sowohl Juan als auch Mateo Wissen, das sie aus Afrika mitgebracht hatten, mit neuen Kenntnissen darüber, wie regionale Kräuter mit therapeutischen Eigenschaften zu erkennen waren, kombinierten. Dieses neue Wissen haben sie höchstwahrscheinlich durch den Austausch mit Indigenen erhalten. Juan inkorporierte ebenso auch Praktiken mit engem Bezug zu religiösen Ritualen aus Europa, wie die Stigmatisierung, während er die Technik einer weiteren westlichen medizinischen Prozedur nutzte, den Aderlass. Afrikaner und von Afrikanern abstammende Heiler wie Francisco Angola, Antonio Congo, Mateo Arará und Juan de Alomera und viele weitere integrierten europäische Traditionen in ihre eigenen Heilpraktiken. Jedoch machten sie ebenso in jedem von ihnen durchgeführten Ritual und durch die Gegenstände, die sie benutzten, die Präsenz afrikanischer Traditionen in Neu-Granada deutlich. Afrikaner verwendeten die erwähnten Objekte und Rituale, um die Identität sozialer Gruppen und ihre eigene Zugehörigkeit zu solchen Verbänden auszudrücken. Unzweifelhaft hatten Heilpraktiken Einfluss auf den Aufbau afrikanischer und afrikanisch geprägter Netzwerke und daraus erwachsender Gruppenidentitäten. Jedoch konnten sie hierbei entweder als differenzierendes oder aber auch als identifizierendes Instrument gedient haben (vgl. Barth 2000). In diesem Kontext symbolisierten Heilgegenstände und Praktiken ein Gruppen- oder Gemeinschaftsgefühl (vgl. Yinger 1994). Allerdings erzählte, wie ich bereits andeutete, der instrumentelle Symbolismus, den die afrikanischen Elemente und Rituale im 17. Jahrhundert verkörperten, auch insbesondere von der Aneignung der Bedeutungen westlicher und indigener Kulturen. Als Fazit hält meine Forschung fest, dass solch eine Vision gemeinsamer Körperlichkeit die Grundlage für einen fruchtbaren Kulturtransfer zwischen Afrikanern, Europäern, Einheimischen und ihren Nachkommen bot. Die Wege dieser Prozesse verliefen sowohl offensichtlich als auch 12 Unter anderem bekannt als Vitis spp., Bignonia unguis-cati, Cissus sicyoides oder Serjania lucida. Siehe auch »bejuco sustantivo« im spanischen Wörterbuch (Real Academia de la Lengua Española 2001). 13 carapa (Granatum guyanensis). Ein Baum, der ursprünglich aus den Amerikas stammt und bekannt ist unter den Bezeichnungen anderoba, caoba, jandiroba und najesí. 196
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unbemerkt. Somit sind die zurückgelassenen Spuren nicht immer deutlich erkennbar, und oft sind sie durch den Anstrich scheinbarer Banalität getarnt. Manchmal finden sich solche Geschichten in den Tagebüchern von Ärzten. Sie erscheinen ebenso in den entsetzlichen Äußerungen der spanischen Inquisitionsakten. Meistens tauchen sie jedoch in den Geschichten gewöhnlicher Kartagener auf – in Geschichten die von jungen Stieren, kleinen Matten, Seuchen, Heiligen, Geistern, dem bösen Blick und natürlich von Schlangen handeln.
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PERFORMATIVE THERAPIE IN EINEM C A N D O M B L É - U N D U M B A N D A -T E M P E L MARKUS WIENCKE In diesem Aufsatz möchte ich Einblicke in den performativen Umgang mit Krankheit in einem Tempel in der nordostbrasilianischen Großstadt Recife geben. Die Besonderheit des Tempels liegt darin, dass hier die beiden synkretistischen Religionen Candomblé und Umbanda koexistieren.1 Allerdings werden beide Traditionen nicht miteinander vermischt. Der Tempel (terreiro)2 besteht seit etwa 35 Jahren. Mehrere hundert Personen suchen den Tempel wöchentlich auf. Behandlungen wie die vorgestellte sind kostenlos, die Klienten/innen geben Spenden. Candomblé entwicklete sich im Kontext des Kolonialismus und des Sklavenhandels. Nach Schätzungen wurden ab Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 über vier Millionen Sklaven/innen aus Afrika nach Brasilien gebracht. Sie konnten ihre afrikanische Religion nur im Geheimen ausüben, da bis 1889 die katholische die einzige offiziell zugelassene Religion war. Es wurden Massentaufen mit den Sklaven/innen durchgeführt, ohne sie jedoch zu katechisieren 1
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Ich beziehe mich auf Teile aus meinem Buch, die für diesen Artikel überarbeitet wurden (Wiencke 2007). Die Datenerhebung fand im Rahmen des theoretischen Samplings mit teilnehmender Beobachtung sowie ethnographischen und problemzentrierten Interviews statt (Spradley 1979, 1980; Witzel 1989). Im Rahmen der Grounded Theory wurde aus den Daten heraus eine Theorie entwickelt, die Konzeption und Umgang mit psychischer Krankheit in spiritistischen Zentren der Religionen Candomblé, Umbanda und Kardezismus erklärt (Glaser/Strauss 1998; Strauss/Corbin 1996). Insgesamt führte ich 18 Interviews mit 22 Personen zwischen 13 und 72 Jahren durch, 10 waren weiblich, 12 männlich. Sie kamen aus unterschiedlichen sozialen und finanziellen Verhältnissen, von Schülern über einen pensionierten Staatsanwalt bis hin zu einer Schuldirektorin. terreiro | brasilianisches Portugiesisch: Gelände, freier Platz. Sozioreligiöser Raum des Candomblé, in dem die afrobrasilianischen Gottheiten bzw. Geister kultiviert werden. Das terreiro ist auch die Anlaufstelle für Nichtinitiierte, die mit ihren Problemen kommen können (Scharf da Silva 2004: 234). Bisweilen wird der Begriff auch für die Umbanda-Häuser verwendet (Sjørslev 1999: 598). 199
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(Pantke 1997). Um 1830 gründeten drei aus der Sklaverei entlassene Frauen in Salvador den ersten Candomblé-Tempel Brasiliens. Die drei Frauen wurden mães-de-santo3 genannt. Die afrikanischen orixás4 wurden hier unter dem Deckmantel der katholischen Heiligen verehrt (Krippner 2000). Umbanda ist Anfang des 20. Jahrhunderts in Rio de Janeiro und São Paulo aus verschiedenen Formen des Candomblé entstanden, entwickelte sich jedoch durch einen synkretistischen Prozess mit den Elementen europäischer und indigener Glaubensrichtungen zu einer eigenständigen Religion. Neben dem Kardezismus5, der Heiligenverehrung und den Moralvorstellungen des Volkskatholizismus sind auch die Ideen und Zeichen der jüdischen Kabbala sowie orientalische Elemente in Form der Geister von ›Zigeunerinnen‹ (ciganas) in die Umbanda integriert worden (Scharf da Silva 2004; Krippner 2000).
P e r f o r m a ti v e T h e r a p i e Eine große Vielfalt an Beschwerden wird unter der sozialen Repräsentation der Besessenheit (obsessão) summiert. Entsprechend wird im Umgang mit den Klienten/innen auf die Geister rekurriert, die die kranke Person in Besitz genommen haben. In der Behandlung werden von den Medien entweder helfende Geister oder die Wesen inkorporiert, von denen die Hilfe suchenden Personen besessen sind. Im Zusammenspiel mit den Klienten/innen kommen die im Medium manifestierten Geister durch Fragen und Antworten zu einer Diagnose, die mit der lösungsorientierten Behandlung einhergeht. In der rituellen Inszenierung partizipieren die Angehörigen der Klienten/innen. Neben dem therapeutischen Ernst finden sich hier auch ludische Elemente, wenn die im Medium inkorporierten Geister lachen oder in farbenreichen Bildern den Hintergrund der Beschwerden schildern. Krankheit steht dabei in Zusammenhang mit der 3
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mãe-de-santo | brasilianisches Portugiesisch: Mutter des Heiligen. Weibliche Person, die in der religiösen Hierarchie des Candomblé und der Umbanda den höchsten Rang einnimmt. Ein terreiro kann auch von einem pai-de-santo (Vater des Heiligen) geleitet werden. Eine mãe-de-santo bzw. ein pai-de-santo initiiert die Anhänger/innen und kümmert sich um das spirituelle Leben der Angehörigen des terreiro (Scharf da Silva 2004: 233). orixá | yorùbá: orìsá, abgeleitet von ori: Kopf. Bezeichnung für eine Gottheit (Scharf da Silva 2004: 233). Kardezismus (brasilianisches Portugiesisch: Kardecismo) ist eine spiritistische Religion, die von Allan Kardec in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde (Wafer 1994: 199). 200
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(gestörten) Kommunikation mit der sozialen und spirituellen Umwelt. Im Rahmen der Behandlung bekommen die Klienten/innen eine religiöse Struktur geboten, mit der sie ihre Erfahrungen neu konstruieren können. Es wird performativ an der Verbesserung der Kommunikation gearbeitet. Ich möchte eine Behandlung vorstellen, die das Oberhaupt des Tempels, der pai-de-santo, selbst durchführte. Das Ritual kommt aus der Tradition der Umbanda, die hier ausschließlich für derartige Anliegen verwendet wird. Die Behandlung dauerte etwa 30 Minuten. Eine junge Frau von etwa 17 Jahren kam mit ihrer Mutter und zwei Schwestern wegen heftiger Kopfschmerzen, permanenter Menstruationsblutungen, starker Ängste und unruhigen Schlafs in das Behandlungszimmer des pai-de-santo. Nach der Klärung der Symptome trifft der paide-santo mit einem astrologischen Computerprogramm Aussagen über vorige Leben der Klientin, die ihr jetziges beeinflussen. Anschließend werden diese Daten ausgedruckt und der Klientin mitgegeben. Der pai-de-santo und die junge Frau setzen sich anschließend einander gegenüber im Schneidersitz auf den Fußboden. Neben dem pai-desanto sitzt eine Assistentin. Zunächst ist der pai-de-santo für eine halbe Minute ruhig, dann wird er zum Medium, was sich darin ausdrückt, dass seine Arme anfangen zu zittern. Nun ruft der durch ihn inkorporierte Exú6 »Tscha, tscha, tscha!« und nennt über das Medium seinen Namen. Die junge Frau ist u.a. von diesem Exú besessen. Der Exú und die folgenden inkorporierten Geister lachen durch das Medium immer wieder irre. Wenn die Bewegungen und Zuckungen zu stark werden, beruhigt die Assistentin die inkorporierten Wesen. Der Exú fragt die junge Frau, ob sie in einem schönen Haus lebe. Er fragt sie auch, wer der Mann sei, der sie begehre, den sie aber zurückgewiesen habe. Die Klientin wird aufgefordert, auf die Fragen ehrlich zu antworten, insbesondere da die inkorporierten Exús und Pomba Giras7 sich irren oder absichtlich verwirren könnten. Im Dialog aus Frage und Antwort wird der Schwager der Mutter identifiziert. Der Exú beschreibt durch den pai-de-santo die Ursachen der Erkrankung: Der zurückgewiesene Mann habe einen ›bösen‹ pai-de-santo beauftragt, die Klientin mit einem catimbó (Schwarze Magie) zu töten und ihrer Familie zu schaden. Dazu sei ein Slip der jungen Frau einem Frosch ins Maul gesteckt worden, der daran erstickt sei. Danach sei der tote Frosch einer auf einem Friedhof ausgegrabenen Lei6
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Exú | yorúbà: ésù. Trickster-Figur. Im Candomblé ist er ein orixá. In der Umbanda gibt es eine Gruppe von exús, die als Geister gesehen werden und auf menschliche Bitte Gutes wie Böses bewirken können (Scharf da Silva 2004: 158-163). Pomba Gira | kimbundu: pambuanjila: Kreuzweg. Geister weiblicher exús (Scharf da Silva 2004: 233). 201
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che in den Mund gelegt worden. Zudem sei Friedhofsand im Haus der Klientin verstreut worden. Die beiden Schwestern und die Mutter werden nun aufgefordert, sich neben die junge Frau zu setzen. Sie fassen einander an den Händen, die sie bis zum Ende der Behandlung nicht loslassen dürfen. Der Exú macht durch das Medium ausladende Armbewegungen und trennt so die Verbindungen zum catimbó. Dann fasst der Exú mit der rechten Hand des pai-de-santo die rechte Hand der jungen Frau. Mit ausladenden Gesten der Arme und Hände des pai-de-santo verschließt er nacheinander die Chakren8, wobei er die Hand der Klientin bei jeder einzelnen loslässt: Kopf, Augen, Kehle, Nacken, Herz, Leber, unterer Rücken, Basis der Wirbelsäule, Füße, Hände. Die junge Frau wird aufgefordert, sich jeweils auf diese Körperteile und damit assoziierte Personen oder Eigenschaften zu konzentrieren. Die folgenden inkorporierten Wesen wiederholen diese Trennung vom catimbó und die Verschließung des Körpers zum Schutz vor den Schaden bringenden Geistern (corpo fechado). Jedes Mal wenn die Wesen sich manifestieren, bewegen sich in ausdrucksvollen Gesten die Arme des pai-de-santo und sein Körper zittert stark. Anschließend wird der Name des inkorporierten Wesens genannt: Pomba Gira Maria Navalha (Pomba Gira »Maria Rasiermesser«), Exú Veludo (Exú »Samt«), Exú Sete Catacumbas (Exú »Sieben Katakomben«). Die Entitäten stellen Fragen an die Familienangehörigen und machen oft direkte, obszöne und unangenehme Bemerkungen. Die Assistentin schreibt ihre Namen und wichtigsten Aussagen auf. Der Exú Sete Catacumbas fordert die Familie auf, direkt nach der Behandlung zum Strand zu gehen, um eine Flasche Meerwasser mit nach Hause zu nehmen. Es folgen Pomba Gira Luciana, ein weiterer Exú und Pomba Gira Cigana (Pomba Gira »Zigeunerin«). Der Exú dos Ventos (Exú »der Winde«) beschreibt den Ort, an dem der Schwager der Mutter den catimbó verübt hat. Pomba Gira Tatá (Pomba Gira »Altes Väterchen«) schildert den Geschlechtsverkehr einer männlichen sexuellen Jungfrau mit einer lesbischen Frau. In dem Moment, in dem der Penis in sie eingeführt worden sei, hätten die am catimbó Beteiligten den Namen der Klientin gerufen. Pomba Gira Tatá verlangt, dass die Familie der Orixá Iemanja (Meeresgöttin) dankt, indem sie vier aus einem Bogen Papier gebastelte Drachen in den Ozean wirft. Das letzte inkorporierte Wesen Pomba Gira das Sete Encruzilhadas (Pomba Gira »der sieben Kreuzungen«) trennt 8
Nach der Lehre dieses pai-de-santo bildet der menschliche Körper ein spirituelles Energiesystem, das zehn hauptsächliche Energiezentren und viele kleinere Energiezentren enthält. Die zehn Haupt-Energiezentren werden in Anlehnung an die östliche Philosophie als Chakren bezeichnet und reflektieren die Präsenz der orixás sowie exús und pomba giras. Das Modell ist allerdings nicht repräsentativ für Candomblé und Umbanda. 202
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die Verbindungen zum catimbó und verschließt den Körper der Klientin. Die aufgetragenen Aufgaben müssten schnell erfüllt werden, da am Abend erneut ein catimbó gegen die junge Frau ausgeführt werden soll.
Schlussfolgerung Nach Wulf und Zirfas (2001: 339f) sind rituelle Inszenierungen mehrdeutig und sollten nicht nur funktionell interpretiert werden. Rituelle Inszenierungen hätten einen Selbstzweck und eine eigene ästhetische und aufführende Qualität. Ihre Ausdrucks- und Darstellungskomponente lasse sich nicht auf die Erfüllung von Intentionen und Funktionen reduzieren. Sie repräsentierten nicht nur Bedeutung (wie das Symbol), sondern sie generierten in ihrem Vollzug Bedeutung bei den Akteuren/innen sowie beim Publikum. Somit vollziehe performatives Handeln, was es bezeichnet. Die Klienten/innen bekommen über die performative Aufführung der Medien von den Geistern in eindrücklichen Bildern einen catimbó geschildert. Das kann zunächst große Angst machen. Doch sofort trennen die Geister durch das Medium die Verbindungen zur Schwarzen Magie. So bekommen die Klienten/innen in einer emotional empfänglichen Situation die Hoffnung wieder gesund zu werden. Dabei kann der Effekt durch Zeitknappheit verstärkt werden. In der beschriebenen Behandlung kamen die junge Frau und ihre Familie gerade noch rechtzeitig zum desobsessão-Ritual (Ritual zur Aufhebung der Besessenheit). Denn am selben Abend sollte erneut ein catimbó gegen sie ausgeführt werden.9 In den Interviews wurde die Bedeutung von Vertrauen für einen erfolgreichen Heilungsprozess hervorgehoben. Nur wenn die Klienten/innen Vertrauen in ihren Heilungsprozess besäßen, könnten sie gesund werden. Auch für die Medien ist es wichtig, dass sie auf ihre medialen und heilenden Fähigkeiten vertrauen. Die anderen anwesenden Personen setzen in einer erfolgreichen Behandlung ebenfalls Vertrauen in den Heilungsprozess. Die rituelle Inszenierung wirkt in großem Maße unterstützend auf die Bildung von Vertrauen. Umgekehrt kann eine nicht erfolgreiche Behandlung auf fehlendes Vertrauen zurückgeführt werden. Das schützt vor Zweifeln an den Heilungsmethoden. Im emischen Verständnis bedeutet Heilung, dass die schädigenden Geister die Betroffenen wieder verlassen. Wahrscheinlich müssen hierbei die Symptome nicht 9
Für Minz (1992: 73-76) ist catimbó eine Lösungsstrategie für nicht offen ausgetragene Konflikte. Schon der Schock und die Angst, Opfer von Schwarzer Magie geworden zu sein, könnten bei einer Person starke Krankheitsprozesse auslösen. 203
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vollständig verschwinden. Wichtiger scheint die individuelle Integrationsfähigkeit in die spirituelle und soziale Beziehungs-Ordnung zu sein (Wiencke 2007).
Literatur Glaser, Barney/Strauss, Anselm L. (1998): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern: Huber. Krippner, Stanley (2000): »Transcultural and Psychotherapeutic Aspects of a Candomblé Practice in Recife, Brazil«. In: Stanley Krippner/Holger Kalweit (Hg.), Jahrbuch für Transkulturelle Medizin 1998/1999, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 67-86. Minz, Lioba (1992): Krankheit als Niederlage und die Rückkehr zur Stärke. Candomblé als Heilungsprozess, Bonn: Holos. Pantke, Christiane (1997): Favelas, Festas und Candomblé. Zum interkulturellen Austausch zwischen Afro-Brasilianern und Touristen im Rahmen kultischer und profaner Festveranstaltungen in Salvador da Bahia. Unveröffentlichte Dissertation, Freie Universität Berlin. Scharf da Silva, Inga (2004): Umbanda. Eine Religion zwischen Candomblé und Kardecismo. Über Synkretismus im städtischen Alltag Brasiliens, Münster: LIT. Sjørslev, Inger (1999): Glaube und Besessenheit. Ein Bericht über die Candomblé-Religion in Brasilien, Gifkendorf: Merlin. Spradley, James P. (1979): The Ethnographic Interview, New York: Holt, Rinehart and Winston. Spradley, James P. (1980): Participant Observation, New York: Holt, Rinehart and Winston. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim: Beltz. Wafer, Jim (1994): The Taste of Blood. Spirit Possession in Brazilian Candomblé, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Wiencke, Markus (2007): Wahnsinn als Besessenheit. Der Umgang mit psychisch Kranken in spiritistischen Zentren in Brasilien, Frankfurt a.M./London: IKO. Witzel, Andreas (1989): »Das problemzentrierte Interview«. In: Gerd Jüttemann (Hg.), Qualitative Sozialforschung in der Psychologie, Weinheim: Beltz, S. 227-255. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (2001): »Das Soziale als Ritual. Perspektiven des Performativen«. In: Christoph Wulf et al. (Hg.), Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften, Opladen: Leske + Budrich, S. 339-347.
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W IRKLICHKEITEN IN B ILDERN UND T EXTEN
K O N S T R U K T I O N V O N W E L T I N D EN K U L T U R E N D E R »F R Ü H E N Z W I S C H E N Z E I T « A N D ER K Ü S T E P E R U S JÜRGEN GOLTE Etwa ab Mitte des vierten Jahrtausends vor Christus ereignete sich an der peruanischen Küste ein einschneidender Wandel der Nahrungsgewinnung. Bildeten bis dahin ausschließlich die reichen marinen Ressourcen, Jagd und Sammelwirtschaft – letztere namentlich in den Nebeloasen (Lomas) – die Lebensgrundlage der Küstenbewohner, so wurde nun in wenigen Jahrhunderten der großflächige Bewässerungsfeldbau in den Tälern der vom Westabhang der Anden herabkommenden und die Wüste querenden Flüsse zur vorherrschenden Grundlage der Nahrungsbeschaffung. Mit dem Übergang zur Bewässerungswirtschaft, der besonders früh an der nördlichen Zentralküste einsetzte, gingen grundlegende Veränderungen in der Gesellschaftsorganisation einher. Waren vorher die Gesellschaften relativ kleinräumig organisiert, und ihre innere Ordnung durch ausschließlich verwandtschaftliche Verpflichtungen und Abhängigkeiten bestimmt, so ergab sich mit dem Aufkommen des großflächigen Bewässerungsfeldbaus die Notwendigkeit einer zentralisierten Sozialorganisation. Diese verlangte nach einer gesellschaftlichen Schichtung. Zum Anderen mussten die Gesellschaften relativ großflächig organisiert werden. Diese Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft gingen mit einem Wandel im Weltverständnis der Menschen einher, das sich rasch ausbreitete und vielerorts zur Herausbildung von geschichteten Gesellschaften mit klar definierten Machtgruppen führte, die in der Lage waren, für die Errichtung und Unterhaltung von Bewässerungswerken und öffentlichen Bauten den Einsatz großer Zahlen von Arbeitskräften zu organisieren. Es ist also kein Zufall, dass die Bevölkerung parallel mit dem Wandel des Weltverständnisses mit der Anlage von Monumentalbauten begann, die von nun an im gesamten Andenraum, nicht nur an der Küste, das Aufkommen von Herrschaft begleiteten. Mehr als dreitausend Jahre nach jenem grundlegenden Wandel beginnt die sogenannte »Frühe Zwischenperiode« (100-700 n. Chr.). Man hat diesen Zeitabschnitt so bezeichnet, weil sowohl vorher, als auch nachher
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die materiellen Hinterlassenschaften der Gesellschaften sich in Stil und Variation weniger stark unterschieden als eben in der »Zwischenperiode«. Diese Veränderung im Stil der materiellen Hinterlassenschaften wurde lange Zeit als eine Folge der Entstehung und des Niedergangs von ›Staaten‹ in den »Horizontperioden« verstanden. Andere Erklärungen führten die Ausbreitung bestimmter religiöser Impulse, ausgehend vom Hochlandsort Chavín, als Ursache von Vereinheitlichungen bei den »Horizontstilen« an. Wahrscheinlich ist der Hintergrund des Umbruchs jedoch anders geartet. Bis in die letzten Jahrhunderte vor Christus wurde der Austausch in den Nord-Zentralanden von Menschenkarawanen bewerkstelligt, deren Ausgangspunkt die pazifische Küste war. In der Folge, also in der »Frühen Zwischenperiode«, verbreitete sich das bis dahin nur in den südlichen Zentralanden entwickelte Transportsystem mit Lamakarawanen in den gesamten zentralen Anden. Dieser Wechsel führte zu einer enormen Ausweitung der Transportkapazität und gleichzeitig ein Ende des ausschließlich von menschlichen Trägern durchgeführten Transportes. Der Wechsel im Transportsystem bedeutete für die Bewohner der Bewässerungsoasen an der pazifischen Küste nicht nur, dass sie von der Notwendigkeit befreit waren, die Rohstoffe für ihre komplexe handwerkliche Produktion aus weit entfernten Regionen auf dem Rücken herbeizuschaffen, sondern hatte dort auch eine beträchtliche Ausweitung der Verfügbarkeit aller Rohstoffe aus den Anden und aus dem östlich der Anden gelegenen Regenwald zur Folge. Schon die vorherige mehrtausendjährige Entwicklung der Gesellschaften in dem ariden Küstenstreifen hatte ein äußerst verfeinertes Handwerk hervorgebracht. Dieses konnte nun stärker aufblühen als je zuvor. Grundlage dafür waren nicht nur der entwickelte Fischfang im Pazifik einerseits, sondern auch die Bewässerungsfeldwirtschaft selbst, die für ein Mehrprodukt sorgte, welches die Herausbildung von spezialisierten Handwerkerfamilien ermöglichte, die vom Zwang zur Produktion von Grundnahrungsmitteln befreit waren. Diese konnten nun die vorher entwickelten handwerklichen Traditionen auf einer vielfach vergrößerten Rohstoffbasis fortführen und verfeinern. Aus diesem Grund wird die »Frühe Zwischenperiode« auch »Zeit der Meisterhandwerker« genannt. Die Meisterhandwerker konnten nun Keramik, Gegenstände aus Edelmetall, aus Muscheln und Schnecken, aus Halbedelsteinen, Knochen und Holz herstellen, die nicht nur hinsichtlich Produktionstechnik und -verfeinerung, sondern vor allem auch in ihrer Quantität die Produktion der vorhergehenden Jahrtausende übertrafen. Die heutigen Sammlungen von Gegenständen aus den Kulturen der »Frühen Zwischenperiode«, wie
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Moche und Nazca, lassen sich in Hunderttausenden zählen, während alle vorher hergestellten Gegenstände nicht ansatzweise eine derartige Zahl erreichen. In Zusammenhang mit der auch quantitativ beträchtlich vergrößerten Produktion kam es gleichermaßen zu einer vermehrten Ansiedlung von Handwerkern und Austauschspezialisten in Städten, und, so kann man annehmen, auch zu einer Erweiterung der Zahl derjenigen, die Zugang zu handwerklichen Erzeugnissen hatten. Unsere Möglichkeit, darüber nachzudenken, welche Kosmologien oder allgemein Denkzusammenhänge sich in den häufig skulptierten, bemalten oder anders gestalteten Erzeugnissen des Handwerks ausdrücken, wird durch zwei Umstände erleichtert. Zum Einen ist dies die (wahrscheinliche) Tatsache, dass die ikonographischen Ausdrucksformen einen immer ›expliziteren‹ Charakter annehmen mussten im gleichen Maße wie mit der Ausweitung der handwerklichen Produktion der Adressatenkreis sich vergrößerte. Zum Anderen ist die Zahl der uns heute in den Sammlungen und Museen nicht nur Perus zugänglichen Gegenstände ungleich größer als in früheren Jahrzehnten. Hierbei sei gleich bemerkt, dass die »Frühe Zwischenperiode« zwar eine massive Veränderung in der Situation des Handwerks mit sich brachte, dass sich aber weder die Hauptformen der Darstellung, noch auch das ihnen zugrunde liegende Denken gegenüber den vorhergehenden Jahrtausenden in höherem Maße verändert zu haben scheint. Insofern kann die »Frühe Zwischenperiode« vielleicht als eine Kulminationsphase des ihr vorangehenden Formativums verstanden werden. Häufig ist der Übergang zwischen den Spätformen formativzeitlicher Handwerkskunst kaum von den Anfängen der großen Stile der »Frühen Zwischenperiode« zu unterscheiden. Wahrscheinlich haben die in den Spätphasen des Archaikums sich konstituierenden neuen Denkformen Grundlagen in dem, was die frühen Jäger, Sammler und Fischer dachten. Wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, dass sich die archaischen, nicht-hierarchischen Gesellschaften in Begriffen von Verwandtschaft organisierten. Verwandtschaft war die Grundlage der Gruppenbildung, und, einschließlich der spezifischen Formen der darauf beruhenden gegenseitigen Verpflichtungen von Individuen, regelte sie auch das tägliche Leben innerhalb der Gruppen der Fischer, Jäger und Sammler. Das durch diese Organisation geprägte Denken einer bilinearen Verwandtschaft wird dann auch das Verständnis anderer die Menschen umgebender Phänomene geprägt haben. Dieser zunächst gewagt erscheinende Rückschluss auf das Denken der alten Küstenbewohner gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache,
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dass noch heute das angestammte Denken sowohl in den Anden als auch in Amazonien einen derartigen Charakter hat. Die Formen des neuen Weltverständnisses mussten mit Notwendigkeit an die überkommenen Formen anknüpfen. Grundlage war ein bilineares Verwandtschaftssystem, welches die Personen in der Gesellschaft aufgrund ihrer Verbindungen zu gedachten oder tatsächlichen Ursprungswesenheiten aufeinander bezog. Wahrscheinlich war die wichtige Erfindung, die dann die Hierarchisierung ermöglichte, die Annahme einer radikalen Verschiedenartigkeit der mythischen ursprünglichen Vorfahren. War einer der Vorfahren allmächtig, mit dem Himmel verbunden und verwandlungsfähig, so war der andere eher unbedeutend, mit dem Untergrund assoziiert und wenig verwandlungsfähig. Die Herausbildung der Nachkommenschaft zwischen diesen zwei grundsätzlich verschieden gedachten primordialen Wesen, beide androgyn, war sozusagen ein Pendant zur Schöpfungsgeschichte. Alles Bestehende erhielt seinen Ort durch die spezifischen Linien der Abstammung. Insofern bekamen auch die Dinge untereinander eine unabänderliche, durch ihre Stellung im Verwandtschaftssystem festgelegte Position. Für diejenigen, die dieses Weltverständnis verinnerlicht hatten, erhielten nicht nur alle an unterschiedlichen Orten auftauchenden Menschenwesen ihren je eigenen Platz in dem sich entwickelnden Verwandtschaftsgeflecht, sondern ergab sich auch, in Abhängigkeit vom Charakter der Verwandtschaft mit den ursprünglichen Wesenheiten, eine Hierarchie der Menschen untereinander. Dieses Denken war von so grundlegender Bedeutung, dass es noch zur Zeit der Ankunft der Europäer als Grundlage der Hierarchisierung im Inka-Staat verstanden wurde. Die Einführung des großflächigen Bewässerungsfeldbaus an der Küste hatte nicht nur die Errichtung monumentaler Ritualbauten und -zentren im Gefolge, sondern markiert auch den Beginn einer sich sehr rasch verbreiternden und ebenso schnell auch kanonisierenden Darstellungskunst, die sich in den von den verschiedenen Handwerkern hergestellten Gegenständen ausdrückte und Konventionen, Formen und Symbole schuf, die in den folgenden Jahrhunderten zwar ausgeweitet, vertieft und verfeinert wurden, ihren grundsätzlichen Charakter aber nicht veränderten. Die Kunst der »Frühen Zwischenperiode« ist insofern eine ausdifferenzierte Form der Darstellung der frühen Denkkategorien und Denksystematik. Das System basiert auf einem einfachen komplementären Gegensatz, nämlich dem von Mann und Frau. Mann und Frau werden zwar als gegensätzlich verstanden, sind aber gleichzeitig die Voraussetzung des Entstehens einer zukünftigen Welt. Die Gegensätze müssen sich miteinander verbinden (tinku), damit Zukunft (Nachkommen) entstehen können. Die Teile (Mann und Frau) werden erst ein Ganzes durch ihre Verbindung
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miteinander. Diese Verbindung muss regelhaft geschehen, die Nachkommenschaft muss in ihren Bezügen kompatibel sein. Ist sie es nicht, wird die durch Verwandtschaft geordnete Welt zum Chaos. Mit diesem Bild wird die Welt homolog in komplementären Gegensätzen verstanden: Oberwelt vs. Unterwelt, Tagwelt vs. Nachtwelt. Die Gegensatzpaare sind verschieden, sie sind aber Teile eines Ganzen, welches durch tinku hergestellt wird. Nicht zufällig bedeutet im Quechua qariwarmi (Mann-Frau) »Ganzheit«. Das tinku zwischen den Gegensätzen ist ein unbestimmbarer Bereich, gefährlich, aber eben auch die Voraussetzung für die Zukunft. Dieser grundsätzliche komplementäre Gegensatz dient der Ordnung der Phänomene. Tag und Nacht sind gegensätzlich und komplementär, ebenso wie Oberwelt und Unterwelt, Regenzeit und Trockenzeit, Tod und Leben, Osten und Westen, warm und kalt. Zwischen den jeweiligen Gegensätzen gibt es eine tinku-Zone. Diese, so ist die Vorstellung, muss regelhaft sein. Aufgabe der Menschen ist es, dafür zu sorgen, dass die komplementären Gegensätze regelhaft aufeinander stoßen und damit eine geordnete Zukunft ermöglichen. Insofern bekommt menschliche Tätigkeit einen rituellen Charakter, der die Bedingungen schafft, unter denen sich tinku vollziehen kann. Menschen sind Teil des Regelwerkes. Das würde bedeuten, dass bestimmte soziale Gruppen, durch ihre herausgehobene Verwandtschaft bedingt, besonders wichtige Aufgaben zur Durchführung von Riten und Opfern, die das geregelte Aufeinandertreffen der Gegensätze im Laufe des Jahres zu vollziehen hätten. Hier eröffnet sich ein weiterer Bereich zum Verständnis der Hierarchisierung. Ein Bauer mag durch die Aussaat in ein tinku mit den Wesenheiten der Unterwelt eintreten, ein Herrscher hingegen, kann dafür verantwortlich sein, dass es zu einem regelhaften tinku zwischen Gottheiten des Nacht- und des Taghimmels kommt. Das wiederum würde bedeuten, dass Hierarchisierung nicht nur ein aus der Abstammungsgeschichte abgeleitetes Abstraktum wäre, sondern auch eine Schichtung nach Wichtigkeit der Rituale, die die Aufgabe einer Verwandtschaftsgruppe wären, je nach Bedeutung der tinku, die sie zu betreuen hätten, entstünde. Da dabei wahrscheinlich Erd- und Himmelsgottheiten im Vordergrund standen, wäre es wiederum wahrscheinlich, dass die für deren Kontakt vorgesehenen Tage, nämlich die Solstitien (Sonnenwenden) und Äquinoktien (Tag-Nacht-Gleichen) herausragende Tage wären, an denen die höchsten Würdenträger Rituale zu vollziehen hatten. Hierbei zeigt sich, dass in der Tat eine Homologie zwischen Kalenderdaten, Himmelsrichtungen, Raumkategorien und der Aufgaben spezifischer Verwandtschaftsgruppen entstand, wie sie z.B. von Tom Zuidema (1989) für die Inka und von Annemarie Hocquenghem (1987) für die
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Moche (ausgehend von einer eher auf die Inka konzentrierten ethnohistorischen Forschungsarbeit) postuliert wurden. Die Struktur der Darstellungen ergab sich dabei daraus, dass die Kalenderbeobachtung vor allem auf der Beobachtung der Aufgangs- und Untergangspunkte der Sonne, auch einiger nächtlicher Gestirne in der Milchstraße, von einem zentral gedachten Beobachtungsort aus, eine Vierteilung des Raumes durch Solstitien und Äquinoktien nahelegte. Aus den Vorarbeiten der genannten Autoren und einer Analyse der Moche- und Nasca-Kulturen haben wir ein Modell abgeleitet, welches diese Überlappungen von Raum-, Zeit- und Sozialkategorien beinhaltet. Zwar hat dieses Modell klare Elemente einer zyklischen Zeitvorstellung, doch muss beachtet werden, dass durch den Verwandtschaftscharakter des zyklischen Systems, die Annahme von primordialen Wesenheiten, sowie die Notwendigkeit die Zukunft des Systems immer aufs neue durch Rituale zu gewährleisten, das Modell gleichzeitig linearen Charakter hätte. Aufgabe der geordneten Menschheit war es folglich, die lineare Fortsetzung der Welt durch geordnetes soziales Verhalten zu garantieren. Abbildung 1: Ein Modell der Weltauffassung der Menschen in der »Frühen Zwischenzeit« (Schema von Jürgen Golte).
Das hier gezeigte Modell enthält die Grundelemente der Kombination von Raum-, Zeit- und Gesellschaftsverständnis. Im Grunde müsste es 212
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vier-dimensional aufgebaut sein, um in etwa den Vorstellungen der Andenbevölkerung in der »Frühen Zwischenperiode« zu entsprechen, da die Trennung zwischen der ›oberen Welt‹ und der ›unteren Welt‹ natürlich flächig verstanden wurde und nicht als eine horizontale Trennlinie. Die Erdoberfläche als Ganze trennte im Grunde beide Bereiche und war also der Ort, an dem tinku zwischen den Grundkategorien der Welt stattfinden konnten. Abbildung 2: Das »Weltschema« des Joan de Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamaygua.
Quelle: Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamaygua (1993 [1613?]: 208). 213
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Im 16. Jahrhundert zeichnete Joan de Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamaygua ein Weltschema (Abb. 2), von dem er behauptete, dass es einem, das im Qoricancha, dem zentralen Tempel der Hauptstadt des Inka-Staates, gehangen habe, entspräche. Ähnlich wie das in der Abbildung 1 vorgestellte Modell arbeitet es mit einer Unterteilung zwischen Oberwelt und Unterwelt, zwischen männlicher Hälfte und weiblicher Hälfte, zwischen Osten und Westen. Im Gegensatz zu unserem Schema hat es jedoch eine Südausrichtung. Auch die Moche an der peruanischen Nordküste verfügten über ein »Weltschema«, welches sie in der einfachsten Form als Gabelhalsflasche (›Steigbügelgefäß‹) darstellten. Dieses Schema konnte in Bezug auf die Alternanz von Zeitabschnitten mit vier senkrechten Strichen auf dem Körper der Gabelhalsflasche in vier Quadranten unterteilt werden (Abb. 3). Der komplementäre Gegensatz zwischen Oberwelt und Unterwelt konnte aber auch durch eine etwa dem Äquator des Gefäßkörpers entsprechende Linie ausdrückt werden (Abb. 4). Abbildung 3: Eine Gabelhalsflasche der Moche mit ihrer Unterteilung in vier Quadranten (Museum Larco, Lima – ML007013, Zeichnung Jürgen Golte).
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Abbildung 4: Eine Gabelhalsflasche der Moche mit ihrer Unterteilung in zwei Hälften (Museum Larco, Lima – ML010719, Zeichnung Jürgen Golte).
Beide Modelle wurden in komplexen gemalten Zusammenhängen miteinander kombiniert. Abstrakt ergibt sich aus der Kombination das Schema der Abbildung 5. Abbildung 5: Kombination der vertikalen und der horizontalen Teilung der Oberfläche des Körpers einer Gabelhalsflasche (Zeichnung Jürgen Golte).
Der Gabelhals selbst ist nicht bedeutungslos, sondern symbolisiert in der Regel das Ergebnis der Verbindung der komplementären Gegensätze, also das tinku.
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Abbildung 6: Die Umzeichnung der Malerei auf einer Gabelhalsflasche (Museum f. Völkerkunde München, 30-29-8) im Erklärungszusammenhang von Christopher Donnan.
Quelle: Lavalle (1985: 68). 216
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Die Abbildung 6 zeigt die Umzeichnung eines Gefäßes aus der Sammlung des Museums für Völkerkunde in München, wie sie in einer Reihe von Veröffentlichungen von Christopher Donnan dargestellt ist. Mehrere seiner Aufsätze zur Moche-Ikonographie gehen ausführlich auf diese Umzeichnung ein, weil der Autor an ihr seinen spezifischen Ansatz bei der Erklärung der Moche-Vasenmalerei darstellt. Er bezeichnet die Darstellung in der Abbildung 6 als »Präsentationsthema«, weil seiner Auffassung nach der von ihm als zentral begriffenen Gottheit »A« ein Becher mit einer Flüssigkeit »präsentiert« wird. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Ansatz (z.B. Donnan 1978: 158ff) trägt er eine Reihe von Moche-Darstellungen zusammen, die jeweils die Übergabe eines Bechers an eine zentrale Wesenheit zeigen. Dabei ist die Identität der zentralen Wesenheit für die kategorische Einordnung nebensächlich. Sein weiteres Vorgehen besteht dann darin, dass er die einzelnen – von ihm mit Buchstaben versehenen – Gestalten mit ihren Attributen beschreibt. In der genannten Publikation (Donnan 1978) zeigt sich, dass der Autor die Variation der Akteure in den einzelnen unterschiedlichen Darstellungen als verschiedene Abbildungen des gleichen »kanonischen« Zusammenhangs deutet. In der Tat gibt es ein weiteres Gefäß im Museum Larco in Lima (MLO10847), welches offensichtlich den gleichen Zusammenhang meint und sich nur geringfügig von der Darstellung auf dem Münchner Gefäß unterscheidet. Bei anderen von Donnan benutzten Bildern hingegen handelt es sich offensichtlich um unterschiedliche Akteure. Die »Rekonstruktion« eines Wandbildes aus Pañamarca (Donnan 1978: 166/7) zeigt jedoch, dass der Autor in der Tat der Auffassung ist, in den unterschiedlichen Bildern Varianten des gleichen Themas vor sich zu haben. Wir können die weiteren Interpretationen Donnans hier vernachlässigen, da sie letztlich keinen erklärenden Charakter haben. Hingegen ist es im vorliegenden Zusammenhang notwendig, die grundsätzliche Problematik anzusprechen, die sich aus der Verwendung von Planumzeichnungen als Basis der Interpretation von Moche-Gefäßmalereien ergibt. Planumzeichnungen, wie diejenige der Abbildung 6, lösen die Darstellung aus ihrem Kontext auf einem dreidimensionalen Gefäßkörper. Dieses Vorgehen hat die Moche-Ikonographie seit ihrem Beginn in den Arbeiten Arthur Baesslers und Gerdt Kutschers bestimmt. Bilder, die sich auf einer dreidimensionalen Gefäßoberfläche befinden, wurden in eine zweidimensionale Darstellung ›übersetzt‹. Die Problematik einer derartigen Umsetzung eines von einem Moche-Künstler geschaffenen Bildes in eine von Europäern bevorzugte zweidimensionale Darstellung liegt darin, dass bei der Umsetzung in die Zweidimensionalität nicht nur Bildzu-
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sammenhänge aufgelöst, sondern sogar neue Zusammenhänge geschaffen werden. In der Regel gehen Europäer beim Betrachten einer zweidimensionalen Darstellung davon aus, dass die auf dem Bild auftauchenden Akteure und Gegenstände in einem »Zeitzusammenhang« komponiert sind. Eine derartige Betrachtung verstärkt sich natürlich bei der Betrachtung von Photographien, ist aber zweifelsohne auch schon bei Malereien und Zeichnungen intendiert. Zum Andern wird bei der Umsetzung eines Bildes von einem sphärischen Körper in die Zweidimensionalität ein Schnitt vollzogen, der die kontinuierliche Darstellung auf der Gefäßoberfläche mehr oder weniger willkürlich an einer Trennstelle beginnen und an einer anderen enden lässt. Vielleicht ist dieses Problem am einfachsten anhand der Darstellungen der Erdoberfläche zu verstehen. Übertragen wir die Darstellung auf einem Globus in eine zweidimensionale Darstellung, entstehen nicht nur Verzerrungen an den Polen, sondern eben auch Bedeutungszusammenhänge durch die Gruppierung der auf dem sphärischen Körper des Globus abgebildeten Zusammenhänge in einem vom Umzeichner intendierten Sinnzusammenhang. Die Bedeutung mag zum Beispiel durch den Vergleich einer europäischen mit einer japanischen Plan-Weltkarte verstanden werden. Europäische Atlanten setzen in der Regel das Atlantikbecken in das Zentrum der Darstellung, wohingegen japanische Atlanten in der Regel das Becken des Pazifiks zum Mittelpunkt der Darstellung machen. Zweifelsohne ist die Herstellung derartiger Zusammenhänge nicht bedeutungslos. Noch problematischer wird die Planumzeichnung dadurch, dass Gabelhalsflaschen ja eben nicht nur den sphärischen Gefäßkörper haben, sondern den Gabelhals und häufig auch einen Standsockel. Beide sind in die vom Moche-Künstler intendierte Sinnkonstruktion mit einbezogen. Die sich verselbständigenden Planumzeichnungen von MocheVasenmalereien, die häufig reproduziert wurden, ohne dass dem Betrachter die Möglichkeit gegeben wurde, deren Anordnung auf einem spezifischen Gefäßkörper zu verstehen, bildeten im Laufe des 20. Jahrhunderts die Grundlage der Versuche die Bedeutung der Moche Bildwerke zu verstehen. Die ethnozentrische Umsetzung eines auf einem sphärischen Körper konstruierten Bildes wurde nicht problematisiert und konnte dementsprechend auch nicht überwunden werden. Am Beispiel des Gefäßes, dessen Umzeichnung von Donnan zur Illustrierung seines Interpretationsansatzes benutzt wurde (vgl. Abb. 6), soll im Folgenden gezeigt werden, dass der Gefäßkörper ein integraler wichtiger Grundzusammenhang ist, der die Bildwerke erst verständlich werden lässt.
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Abbildung 7: Die der Planumzeichnung in Abb. 6 zugrundeliegende Gabelhalsflasche (Museum f. Völkerkunde München, 30-29-8) von oben gesehen (Zeichnung Jürgen Golte).
Schon der Blick von oben auf das Gefäß zeigt, dass die in der Planumzeichnung (Abb. 6) mit den Buchstaben A und D gekennzeichneten Figuren sich in einem Zusammenhang von Gegensätzlichkeit auf der Oberseite des Gefäßkörpers befinden. Dies ist nicht weiter erstaunlich, weil der Akteur A in einer Reihe von Moche-Vasenmalereien als Taggott und Gott der trockenen Jahreszeit erkennbar wird, während die Gestalt D ein Nachtgott und Gott der feuchten Jahreszeit ist. Das aber bedeutet, dass im Gegensatz zur von der zweidimensionalen Abbildung implizierten Gleichzeitigkeit des Erscheinens der Akteure dieser Eindruck vom Moche-Maler wohl nicht intendiert ist.
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Abbildung 8: Die Gabelhalsflasche (Museum f. Völkerkunde München, 30-29-8) in vier Seitenansichten (Zeichnung Jürgen Golte).
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Die Seitenansichten des gleichen Gefäßes eröffnen weitere Interpretationsmöglichkeiten. Entsprechend der Abbildung 4 zeigt sich eine Unterteilung des Gefäßkörpers in eine obere und eine untere Hälfte. Beide Hälften werden durch eine doppelköpfige Schlange voneinander getrennt. Die Schlange hat nicht nur zwei Köpfe, sondern auch einen doppelten Körper. Die obere Hälfte des Körpers ist durch die Aneinanderreihung von Pyramiden (als Symbol der Oberwelt) gekennzeichnet, die untere durch die Aneinanderreihung von Kreisen, die in der Regel als Wassersymbole der Unterwelt verstanden werden. Die doppelköpfige Schlange umgibt den gesamten Gefäßkörper. Die Frontalansicht A zeigt die Übergabe eines Bechers an die Gottheit der trockenen Jahreszeit durch einen anthropomorphisierten Adler. Unterhalb dieser Darstellung findet sich die Sänfte, in der diese Gottheit über den Taghimmel getragen wird. Die Frontalansicht C dagegen zeigt den Gott der feuchten Jahreszeit in einer verehrenden Haltung. Auf seiner Seite zeigen sich in der unteren Hälfte des Gefäßes Gefangene, denen Blut aus der Halsschlagader entnommen wird. Die Frontalansichten A und C bestärken den Eindruck, dass auf dem Gefäß in der Tat die gegensätzlichen Jahreszeiten gemeint sind. Diese Interpretation lenkt den Blick auf die Lateralansichten B und D (Abb. 8). Auch hier lassen sich Gegensätzlichkeiten erkennen. In der Ansicht B erscheint unter dem Ansatz des Steigbügelhenkels die Mondgöttin (C in der Abb. 6), die auf dem Körper der Himmelsschlange von der Frontseite C zur Frontseite A schreitet. Sie trägt einen mit einer Kürbisschale zugedeckten Becher. Ganz gegensätzlich zeigt sich die Lateralansicht D. Hier stehen sich die zwei Köpfe der Himmelsschlange wohl eher feindlich gegenüber. Der Eindruck der Feindlichkeit entsteht nicht nur durch die Krallen und aufgerissenen Rachen, sondern auch durch das Waffenbündel, welches unterhalb der beiden Schlangenköpfe diese Seitenansicht kennzeichnet. Sind die Frontalansichten A und C kalendarisch interpretierbar, so müssten auch die Lateralansichten in diesem Kontext verständlich werden. In der Tat lassen sich die Lateralansichten als Übergangsmomente zwischen den Jahreszeiten interpretieren. Beim Übergang von der trockenen zur feuchten Jahreszeit wechselt die Mondgöttin auf die Seite des Taggottes hinüber (Tag-Nachtgleiche in der 2. Septemberhälfte). Demgegenüber bedeutet der Übergang von der feuchten Jahreszeit zur trockenen Jahreszeit (Tag-Nachtgleiche in der 2. Märzhälfte) den Beginn von Auseinandersetzungen zwischen den Gottheiten von Oberwelt und Unterwelt. So verstanden wäre das sogenannten »Präsentationsthema« eine Darstellung der komplementären Teilungen im Jahreszyklus (Abb. 1), die
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entsprechend der Auffassung der notwendigen Komplementaritäten den Gabelhals der Flasche erklären würde. Erst das Zusammenbringen der Gegensätze würde die Voraussetzung für die Zukunft der Moche-Welt schaffen. Das »Präsentationsthema« wäre in unseren Kategorien eine Darstellung der kalendarischen Vorstellungen der Moche. Hier ist nicht der Ort, um die dargelegten Auffassungen ausführlicher zu belegen. Nur eine weitere Vasenmalerei, die ebenfalls den in der Seitenansicht C der Abbildung 8 erkennbaren Übergang thematisiert, sei hier hinzugefügt. Abbildung 9: Eine Gabelhalsflasche, die die Rückkehr des Gottes der trockenen Jahreszeit zum Taghimmel zum Thema hat (Umzeichnung Golte nach Donnan und McClelland 1999: 88).
Hier sehen wir den Gott der trockenen Jahreszeit bei seiner Rückkehr zu seiner Sänfte in der oberen Bildhälfte. Er erklimmt eine Leiter, die von den anthropomorphisierten Spinnen erstellt wird. Ähnlich wie in Abbildung 8 B erscheint auch die Mondgöttin mit einem Becher in der Hand, die ihn sozusagen in der Himmelssphäre erwartet. Ihre Position zwischen den zwei Gefäßhälften und den Ansatzpunkten des Gabelhalses wird von den Moche-Künstlern in der Regel als der Ort gewählt, an dem das von der einen Gefäßhälfte zur anderen überwechselnde Wesen dargestellt wird. Insofern würde die Darstellung auf dem Gefäß der Abbildung 9 222
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wiederum das Aufeinandertreffen von komplementären Hälften zeigen. Es dürfte sich folglich um eine erweiterte Fassung derjenigen Umstände handeln, unter denen die Mondgöttin die Seiten, d.h. von einer Jahreszeit in die andere, wechselt.
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Abbildungen Abb. 1: Modell der Weltauffassung der Menschen in der »Frühen Zwischenzeit«, Schema von Jürgen Golte. Abb. 2: »Weltschema« des Joan de Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamaygua, In: Joan de Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamayguan (1993 [1613?]): 208. Abb. 3: Gabelhalsflasche der Moche mit ihrer Unterteilung in vier Quadranten, Museum Larco, Lima – ML007013, Zeichnung Jürgen Golte. Abb. 4: Gabelhalsflasche der Moche mit ihrer Unterteilung in zwei Hälften, Museum Larco, Lima – ML010719, Zeichnung Jürgen Golte. Abb. 5: Kombination der vertikalen und der horizontalen Teilung der Oberfläche des Körpers einer Gabelhalsflasche, Zeichnung Jürgen Golte. Abb. 6: Umzeichnung der Malerei auf einer Gabelhalsflasche, Museum für Völkerkunde München, 30-29-8, In: José Antonio de Lavalle, (Hg.) (1985), Culturas Precolombinas. Moche, Colección Arte y Tesoros del Perú, Lima: Banco de Crédito del Perú, S. 68. Abb. 7: Die der Planumzeichnung in Abb. 6 zugrundeliegende Gabelhalsflasche, Museum für Völkerkunde München, 30-29-8, von oben gesehen, Zeichnung Jürgen Golte. Abb. 8: Gabelhalsflasche, Museum für Völkerkunde München, 30-29-8, vier Seitenansichten, Zeichnung Jürgen Golte. Abb. 9: Gabelhalsflasche, die die Rückkehr des Gottes der trockenen Jahreszeit zum Taghimmel zum Thema hat, Umzeichnung Golte nach Donnan/McClelland 1999: 88.
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D E R »S C H L A F E N D E G I G A N T « I S T E R W A C H T : A N E I G N U N G E N K U L T U R E L L E R R EP R Ä S E N T A T I O N E N A M B E I S P I E L D ER B E N N E T T -S T E L E ANDREA BLUMTRITT La Paz/Bolivien, 16. März 2002, Dutzende von Bussen und PKW begleiten eine riesige steinerne Stele auf ihrem Weg ›nach Hause‹, nach Tiahuanaco. Diese präspanische Ruinenstätte liegt auf dem bolivianischen Andenhochplateau im Süden des Titicaca-Sees, nur wenige Kilometer entfernt vom heutigen Ort gleichen Namens. In den 70 Jahren seit seiner Entdeckung ist der tonnenschwere Koloss nicht zur Ruhe gekommen. Der »Schlafende Gigant« (gigante dormido) – so wurde die Bennett-Stele auch genannt, weil sie bei der Ausgrabung liegend vorgefunden wurde – hatte in den vergangenen Jahrzehnten mehr als jedes andere archäologische Objekt immer wieder das Interesse der bolivianischen Öffentlichkeit erregt. Angst und Ablehnung, aber auch Faszination und Hoffnung verband die Menschen mit der monumentalen Stele. Abbildung 1: »Schlafender Gigant«.
Quelle: Bennett (1934: 342).
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Sie ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie kulturelle Repräsentationen der vorspanischen Zeit heute für kommunikative und damit soziale und politische Akte instrumentalisiert werden.
Repräsentationen und Kontexte Die Herstellung integrativer kolonialer Gesellschaften nach der Eroberung Amerikas war begleitet von einer permanenten Deterritorialisierung und Rekontextualisierung kultureller Formen. Das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹ wurden in diesem Zusammenhang ständig neu definiert mit dem Ziel, Identitäten markierende soziale und kulturelle Grenzen zu überwinden oder neu zu ziehen. In kulturellen Repräsentationen, d.h. in Bildern und Vorstellungswelten, die in kommunikative Prozesse und soziale Praktiken eingebunden sind, wird zum Einen vergangenen kollektiven Erinnerungen Ausdruck gegeben, zum Anderen werden gegenwärtige Erfahrungen in größere Bedeutungszusammenhänge verankert. Dieses Verständnis von Aneignungen kultureller Repräsentationen legt ein großes Gewicht auf die soziale und performative Praxis.1 Kulturelle Repräsentationen werden als Ergebnis herrschaftsgeleiteter Identitäts- und Machtpolitik von unterschiedlichen Akteur/innen verstanden, die vor dem Repräsentationszusammenhang der lateinamerikanischen Gesellschaften generiert werden. Mit einem ersten Überblick über die Aneignungsgeschichte des Monolithen sollen machtpolitische Auseinandersetzungen offen gelegt werden, die sich in verschiedenen Diskursen mit Bezug auf die Stele entwickelt haben. Auf diese Weise lassen sich über die jeweiligen Redefinitionen des Repräsentationszusammenhanges Entwicklungstendenzen in der heutigen bolivianischen Gesellschaft nachzeichnen. Dadurch entsteht ein Verständnis dafür, was dieses Bild mit seiner vorspanischen Ikonographie in immer neuen Kontexten wirksam macht und woher die abstrakten, in Stein gemeißelten icons die Potenz erhalten, in aktuelle Diskurse eingreifen zu können.
Eine kurze Geschichte des »Bennett-Monolithen« Die Aneignungs- und Umdeutungsprozesse historischer Vergangenheit oder Zukunftsprojektionen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen
1
Vgl. die Definition zu Repräsentation des SFB 640 (2005). 230
DER »SCHLAFENDE GIGANT« IST ERWACHT
und ihre Beteiligung an Machtpolitik werden im Kontext der jeweiligen sozialen Prozesse und politischen Veränderungen in Rückbezug auf die kulturellen Repräsentationen sichtbar. So spielen im bolivianischen Nationalstaat exponierte archäologische Objekte des Fundortes Tiahuanaco, wie die »Bennett-Stele« oder das »Sonnentor«, eine bedeutsame Rolle in der Identitätspolitik unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen. Archäologen ordnen die Bennett-Stele dem klassischen TiahuanacoStil (400-800 n. Chr.) zu2; neben dem Sonnentor gilt sie als bestes Beispiel dieses Stils.3 Die Kolossalfigur mit 7,30 m Höhe wurde aus rotem Sandstein gearbeitet. Die geometrisch vereinfachten Proportionen des Monolithen, der starr keru (becherförmiges Ritualgefäß) und Stab – beides Insignien der Macht – vor der Brust präsentiert, werden durch den Schattenwurf von Stirnband, Kinn, angewinkelten Unterarmen und Hüftband betont. Diese grobe horizontale Gliederung wird von einem Flachrelief kontrastiert, das die ganze Figur bedeckt und in feinen Linien die ikonographischen Themen des Sonnentors (Zentralfigur/Viracocha mit Tränenspuren, Stufenpyramide, kniende geflügelte Stabträgerfiguren) auf Stirnband und Jacke wiederholt (Kubler 1990). Erst 1932, als der US-amerikanische Archäologe Wendell Clark Bennett (1905-1953) zufällig bei einer von 16 geplanten Sondierungsgrabungen in Tiahuanaco/Bolivien eine riesige Stele freilegte, begann die wechselvolle Geschichte, die den Koloss in die sozialen und politischen, nationalen und ethnischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts katapultierte. Der einflussreiche österreichische Immigrant Arthur Posnansky (1874-1946) erwirkte kurz nach der Entdeckung die Erlaubnis, die Stele, die er als Pachamama (›Mutter Erde‹) interpretierte, nach La Paz transportieren zu dürfen, wo er sie am besten aufgehoben glaubte (Ostermann 2002: 21). Am 8. Juli 1933 kam der Monolith dann in La Paz an und ›zierte‹ für einige Jahre den Prado im Zentrum der Stadt. Der Standort blieb jedoch umstritten und so wurde wenige Jahre später ein neuer Platz für die Stele geschaffen. Sie fand vor dem neuen Sportstadion in Miraflores/La Paz eine Heimat. In einem abgesenkten Tempelplatz – dem Fundort nachempfunden – fristete sie von 1940 bis 2002 ein Schattendasein, umtost von Verkehr und zerfressen von Abgasen.
2 3
Siehe Albarracín-Jordán (1999) oder Portugal Ortiz (1998). Die Tiahuanaco-Kultur, benannt nach dem zentralen Fundort in der Nähe des Titicaca-Sees, wird dem Mittleren Horizont (600-1000 n. Chr.) zugerechnet. Archäolog/innen gliedern sie in mehrere stilistische Phasen, deren zeitliche Abfolge in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder überarbeitet wurde (siehe Bennett 1934: 476; Ponce Sanginés 1972; Janusek 2004: 83). 231
ANDREA BLUMTRITT
1985 verfügte das Nationale Institut für Archäologie (Instituto Nacional de Arqueología – INAR) die Rückführung des Monolithen und beauftragte Spezialisten mit ersten Studien. Aber erst nach langjährigen politischen Verhandlungen konnten die Restaurierung und die Rückführung in das neu erbaute Museum in Tiahuanaco geklärt werden. Im März 2002 wurde der etwa 20 Tonnen schwere Koloss nach fast 70 Jahren zurück nach Tiahuanaco transportiert; die Rückkehr wurde von religiösen Zeremonien der amautas von Tiahuanaco (›Weise‹, bäuerliche Autoritäten) begleitet. Nach ihrem Empfang bekam die Bennett-Stele im neu erbauten Trakt des Regionalmuseums von Tiahuanaco einen herausragenden Platz in einer eigenen Halle.
R e p r ä se n t a t i o n e n d e r M a c h t Die Aneignungsgeschichte der Stele ist untrennbar verbunden mit ihrem Fundort, der archäologischen Grabungsstätte von Tiahuanaco sowie der in einiger Entfernung liegenden heutigen Ortschaft Tiahuanaco. Auch wenn der Fokus des Interesses hier auf die Stele eingegrenzt wird, bleibt der Bezug zum prähistorischen, historischen und rezenten Tiahuanaco wichtig, um die Geschehnisse interpretieren zu können. Präkolumbische Kulturen und Conquista Die Stele Nr. 10 repräsentiert die Tiahuanaco-Kultur auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Der archäologische Fundkontext zeigt, sofern er in der Kolonialzeit nicht grundsätzlich gestört wurde, dass der Monolith im Ensemble mit Steinskulpturen anderer Epochen und Kulturen die Tempelanlage bevölkerte. Er war an seinem ursprünglichen Standort in Beziehung zu vergangenen ideengeschichtlichen Horizonten gesetzt worden – damals unter der deutlichen Vorherrschaft Tiahuanacos. Das SkulpturenArrangement im templete semisubterraneo legte ein beredtes Zeugnis von der integrativen Kraft dieses kulturhistorischen Horizonts ab.4 Für die Macht- und Identitätspolitik der Inka (später Horizont ca. 1450-1534 n. Chr.) hatten die Ruinen Tiahuanacos eine ganz andere Bedeutung, sie leiteten ihre mythische Herkunft aus der vorangegangenen Kultur ab. In der Legitimation der Inkaherrschaft nahm die eindrucksvolle Ruinenstätte daher einen prominenten Platz ein, denn sie war der Schlüssel zu einer andinen Vergangenheit mit einem von allen anerkannten kosmologischen Ursprung (Cummins 2002: 60ff). Mit der Conquista verlor Tiahuanaco diese Legitimationskraft, obwohl die neuen Herren
4
Siehe dazu Kolata (1996: 152). 232
DER »SCHLAFENDE GIGANT« IST ERWACHT
des Andenraums sich durchaus der Bedeutung der prähistorischen Ruinenstätte bewusst waren.5 In späteren Jahrhunderten bewunderten berühmte Reisende wie Alcides Dessalines d’Orbigny (1802-1857) die Zeugnisse einer längst vergangenen Kultur in Tiahuanaco und machten den Ort durch ihre Reiseberichte und Zeichnungen einem breiteren Publikum bekannt. Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich das wissenschaftliche Interesse an der Tiahuanaco-Kultur, aber erst mit der Jahrhundertwende beginnen internationale Grabungsaktivitäten (vgl. Ponce Sanginés 1995). Anfang der 1930er Jahre, als die Bennett-Stele ausgegraben wurde, machte sich Arthur Posnansky zum Wortführer und gestaltenden Akteur der Aneignung präkolumbischer Vergangenheit in Bolivien. Der Monolith repräsentiert in diesem Kontext keinen hegemonialen Machtanspruch, sondern zeigt die Vereinnahmung durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Als Symbol einer rückständigen indigenen Vergangenheit oder Repräsentation der neuen Nation wird ihm auf sehr ambivalente Weise Aufmerksamkeit zuteil (Scarborough 2008: 1092). Wiederentdeckung – eine Standortfrage Bis Mitte des 20. Jahrhunderts dominierten die Aktivitäten der internationalen Forschergemeinde die Archäologie Boliviens. Die Vereinnahmung der Stele in diesem internationalen Kontext belegt die damalige Praxis der Namensgebung, die häufig die Entdecker damit ehrt, dass imposante Fundstücke nach ihnen benannt wurden – so auch die »BennettStele«. Der US-Amerikaner Wendell C. Bennett legte mit der Veröffentlichung seines Forschungsberichtes 1934 eine ausführliche Bestandsaufnahme und Beschreibung der Sondierungsgrabung und des imposanten Fundstückes vor. Gleichzeitig definierte er in Konzentration auf den zentralen Fundort eine kulturhistorische Einordnung und erkannte den Einfluss Tiahuanacos auf den Andenraum (Albarracín-Jordán 1999: 21). Seine Forschung setzte einen ersten Meilenstein im wissenschaftlichen Verständnis der prähistorischen Entwicklung des Andenraums. Bennetts relative Chronologie wurde später vom bolivianischen Archäologen Carlos Ponce Sanginés überarbeitet, der in einem Akt der Neuaneignung die Stele umbenannte, in Stele Nr. 10. Nachdem Bennett das Land 1932 eilig verlassen hatte (Scarborough 2008: 1093) – die Spannungen zwischen Bolivien und Paraguay hatten sich zum Chaco-Krieg (1932-35) ausgeweitet – grub Arthur Posnansky die Stele komplett aus (Bennett hatte nur die Vorderfront freigelegt) und präsentierte den Fund auf dem 25. Amerikanistenkongress 1932 in Argentinien. In einem wenig elaborierten Bericht hob er den nationalen 5
Vgl. z.B. Garcilaso de la Vega (1984 [1609]: 99). 233
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Verdienst am Grabungserfolg hervor, da Bennett per präsidentialem Erlass die Orte für die Sondierungsgrabungen so »klug« von der zuständigen Behörde zugewiesen worden waren (Posnansky 1932: 7). Nicht nur die illegale Ausfuhr von Archäologica, auch die Aneignung von Deutungsmacht bestimmen diesen historischen Kontext, der von mehreren Interessensgruppen gestaltet wird, z.B. von international agierenden Wissenschaftlern, der nationalen Wissenschaftselite, politischen Entscheidungsträgern und einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich beispielsweise über Zeitungen Gehör verschafft. Die wissenschaftliche Interpretation der aufwendigen ikonographischen Gestaltung der Skulptur sowie ihre Bedeutung für die Gesellschaft Tiahuanacos erfahren im Laufe der Zeit unterschiedliche Interpretationen, die den Stand der Forschung, die technischen Möglichkeiten und die methodischen Zugänge der jeweiligen Zeit vertreten (vgl. Bennett 1934; Ponce Sanginés 1972 und Kolata 1996).6 Die wissenschaftliche Aneignung wird vom Zeitgeist geprägt und dient dem wissenschaftlichen Prestigegewinn, der jeder ›Entschlüsselung‹ der Stele innewohnt. Ein besonderer Platz in der Aneignungsgeschichte kommt der Person Arthur Posnanskys zu, der ein begeisterter Anhänger Tiahuanacos ist und dort die »Wiege der amerikanischen Menschheit« gefunden glaubt (Posnansky 1945). Kurz vor der Entdeckung des Monolithen hatte er in Tiahuanaco die Archäologische Gesellschaft von Bolivien und Tiahuanaco (Sociedad Arqueológica de Bolivia y Tiahuanaco) gegründet. Zur Frühlingsequinox, am 23. September 1930, versammelten sich die Mitglieder im Kalasasaya-Tempelbezirk von Tiahuanaco. Zu diesem Anlass schmückte sich der österreichische Immigrant mit dem eindrucksvollen Aymara-Namen Apu-Willca (›Sonnenherr‹).7 Die Gruppe von Honoratioren hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das kulturelle Erbe Tiahuanacos und Boliviens zu schützen: Dazu vereinnahmten sie die ›ruhmreiche‹ Vergangenheit für den liberalen Nationalstaat (unter Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung), inszenierten sich selbst als bürgerliche Wissenschaftselite und versuchten an einer wie auch immer gearteten Symbolmacht teilzuhaben, die den Relikten Tiahuanacos anzuhaften schien. Arthur Posnansky, selbsternannter Wächter Tiahuanacos, ließ sich dann vom Parlament dazu ermächtigen, die Stele nach La Paz zu transferieren und den wertvollen archäologischen Fund im Schutzraum der Stadt zu bewahren. Es entsprach zudem durchaus dem Geschmack der Zeit, den urbanen Raum mit exotischen Zeugnissen vergangener ›Hochkulturen‹ zu schmücken. All dies geschah im Dissens mit den Anwohnern von Tiahuanaco, die sich einer Umsiedlung des Monolithen widersetzten 6 7
Vgl. Kolata 1996: 151f. Vgl. Laguna Meave 2002: 170. 234
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(Scarborough 2008: 1095). Der Streit gipfelte in öffentlichen Drohungen Posnanskys in der Tageszeitung El Diario vom 26. Mai 1933. Dort warf er der indigenen Bevölkerung Tiahuanacos vor, die archäologische Stätte als großen Steinbruch zu nutzen, um ihre »schäbigen Behausungen« zu bauen (Ostermann 2002: 22). Vor dieser Ignoranz und Bosheit – so Posnansky – musste das kulturelle Erbe geschützt werden. Mit einer theatralischen Geste setzte er dem Disput ein Ende: »Ich, der höchste Apostel/ Gesandte Tiahuanacos exkommuniziere euch. Ich, der höchste Apostel/ Gesandte Tiahuanacos verfluche euch« (eigene Übersetzung; zit. nach Gutiérrez Aldayuz 2001a). Dieses Zitat zeigt besonders anschaulich, wie eng sich der österreichische Migrant Posnansky mit der präkolumbischen Kultur verbunden sah. Er ernannte sich selbst zum Gesandten Tiahuanacos und übernimmt auf einer beinahe sakralen Ebene die Vertretung Tiahuanacos. Der Streit erregte eine breite nationale Öffentlichkeit, der von der Presse als »Krieg« (Gutiérrez Aldayuz 2001a) hochgespielt wurde. Sogar die Stadt Oruro soll vermittelnd eingegriffen und dem Monolithen ein Zuhause zwischen den Löwen und Jaguaren eines monumentalen Wasserbeckens angeboten haben (ebd.). Die Degradierung der Stele zum schmückenden Beiwerk des kolonial-republikanischen Stadtzentrums von Oruro oder La Paz drückt eine ›Hierarchie der Kulturen‹ aus, denn der Koloss, der einstmals die Macht Tiahuanacos verkörperte, nimmt in den ihm zugedachten Standorten und Ensembles eine untergeordnete symbolische Position ein. Die Stele war dekontextualisiert worden und sollte in einem bunten Sammelsurium von Exotica rekontextualisiert werden. La Paz wäre damit von dem »Steinbrocken« (Ostermann 2002: 24) befreit gewesen. Ein anderer Vorschlag war, einen Zaun um den Fundort der »autochthonen Reliquie« zu bauen, um sie vor weiteren Verstümmelungen zu schützen. Eine Versetzung hingegen wurde als Attentat auf die Schönheit des gesamten Ensembles, den grandiosen Eindruck der berühmten Ruinen gewertet (El Diario, 27. April 1933: 5, zit. in: Ostermann 2002: 23). Auch Franz Tamayo – einer der bekanntesten bolivianischen Intellektuellen der damaligen Zeit – mischte sich in die Kontroverse ein und rief dazu auf, den archäologischen Reichtum gegen alle Feinde und Bedrohungen zu verteidigen. Er vertraute auf die »mütterliche« Fürsorge der Stadt, die alles dafür tun würde, die Stele gegen die zerstörerischen Kräfte der Natur und vor Räubern zu schützen. In die Kritik nahm er auch die indigene Bevölkerung8 im Umland von Tiahuanaco, die sich Fragmente 8
An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass Franz Tamayo einer rassistischen Gesellschaftskonzeption anhing, die der indigenen Bevölkerung intellektuelle Leistungsfähigkeit absprach. 235
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der prähistorischen Zeugnisse als Amulette aneignete. Die Schießübungen von Soldaten, von denen schon Max Uhle berichtete, prangerte Franz Tamayo am Beispiel des Sonnentors ebenfalls an. Darüber hinaus sah er es im Interesse von Wissenschaft und Forschung, die Stele nach La Paz zu bringen (vgl. Ostermann 2002: 24). Der Einfluss einzelner Interessensgruppen im gesellschaftlichen Gefüge wird in der öffentlich geführten Diskussion und der Umsetzung der Bennett-Stele greifbar. Die Konflikte über den neuen Standort belegen dabei die Durchsetzungskraft einzelner Akteure, legitimiert über das Parlament. Besonders negativ wird die indigene Bevölkerung dargestellt, die in der Tagespresse nicht mit eigener Stimme spricht. Als der Monolith am 8. Juli 1933 in La Paz ankam, empfingen ihn der Ärger und die Kritik zahlreicher Bürger, die ihn nicht auf dem Prado, der Flaniermeile der mestizisch-weißen Oberschicht, sehen wollten. Der Disput um die Stele legt ihre plurivalente Repräsentationskraft offen: Sie stand für eine beeindruckende kulturelle Vergangenheit, die als Wiege der amerikanischen Zivilisationen gefeiert wurde (siehe Posnansky 1945), sie wurde abschätzig als grober Steinklotz einer vorkolumbischen Kultur verabscheut und von der indigenen Bevölkerung als machtvolle religiöse Repräsentation verehrt (Ostermann 2002: 24). Die Frage nach dem Standort, die von einer breiten nationalen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde, konnte die Sociedad Arqueológica de Bolivia y Tiahuanaco in ihrem Sinne entscheiden – allerdings nicht endgültig: Arthur Posnansky wurde gemeinsam mit dem Architekten Emilio Villanueva von der Stadtverwaltung von La Paz damit beauftragt, vor dem 1931 eröffneten Sportstadion in Miraflores/La Paz einen würdigeren Standort für die Stele zu konzipieren. Der Entwurf sah einen abgesenkten Tempelplatz in Anlehnung an den Fundort vor. 1940 fand die Stele dann in der neuen Plaza del Hombre Americano, die in einiger Entfernung vom Zentrum liegt, einen weniger prominenten Standort. Sie bildete mit dem abgesenkten Platz und der neotiahuanakotischen Architektur des Stadions ein Ensemble. In der Konkurrenz zur Fußballarena – dem neuen ›Heiligtum‹ der Stadt – verlor sie jedoch an Sichtbarkeit. Aber, auch an seinem neuen Standort war der Monolith nicht willkommen, weil die Einwohner von Miraflores Unheil von ihm befürchteten. Alles Schlechte in der Stadtgeschichte wurde ihm zugesprochen (Gutiérrez Aldayuz 2001a), denn seine Entwurzelung hatte höhere Mächte verärgert (Scarborough 2008: 1096). Aus unterschiedlichen Gründen wollten weder die urbane Elite noch die residentes (hier: städtische Bevölkerung, die aus dem Umland nach La Paz migriert war) die Skulptur in La Paz haben. In der Ablehnung wird einerseits die Verachtung für al-
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les Indigene spürbar, andererseits drückt sie die Kritik an einer unrechtmäßigen Aneignung aus, die einen wirkmächtigen Gegenstand aus seiner Umgebung reißt und damit Unheil heraufbeschwört. Abbildung 2: Der »Schlafende Gigant« vor dem Stadion in Miraflores/La Paz.
Quelle: Viceministerio de Cultura de Bolivia (2002: 56). Symbol der neuen Macht Mit der Revolution 1952 änderten sich die Machtverhältnisse im Land, die bis dato geknechtete indigene Bevölkerung wurden befreit und als Bauern in das nationalstaatlich-modernistische Projekt der Regierungspartei MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario/Nationalistische Revolutionsbewegung) integriert. Im Zuge dieser Veränderungen wurden die monumentalen Ruinen Tiahuanacos als Zeugen einer glorreichen Vergangenheit in das symbolische Inventar des Nationalstaates aufgenommen. Die Regierung begann die nationale Archäologie zu institutionalisieren und verlagerte 1958 durch die Gründung des Zentrums für Archäologische Forschung in Tiahuanaco (Centro de Investigaciones Arqueológicas en Tiahuanaco – CIAT) die Kontrolle der archäologischen Forschung und Deutung von einem internationalen in einen nationalen Kontext. Der bolivianische Archäologe Carlos Ponce Sanginés bestimmte als verantwortlicher Archäologe diese nationale Aneignung nachhaltig. Er überarbeitete die Chronologie Bennetts (Ponce Sanginés 1972) und benannte die Stelen um. So wurde aus dem Bennett-Monolithen die Stele Nr. 10. Das CIAT schottete sich rigoros gegen ausländische Grabungsaktivitäten ab, die als neo-kolonial und imperialistisch kritisiert wurden.
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Das INAR, 1975 gegründet, löste das CIAT ab und wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einer wichtigen Referenz bei der Entwicklung ethnischer Identitäten. Das beweist das INAR in seiner Rolle bei der erfolgreichen Rückführung des Monolithen. In diesem Zusammenhang begleitete dieses ein internationales Expertenteam (hier ist insbesondere der deutsche Restaurator Franz Moll zu nennen) bei der Restaurierung der Bennett-Stele. Vor allem durch die Person Oswaldo Rivera Sundts (Direktor des INAR) wurde die Restitution als Wiederherstellung der Identität und Rückführung Boliviens an den Ort seines Ursprungs betrieben (Gutiérrez Aldayuz 2001b). In gleichem Maße wie die Entwicklung eines indigenen Selbstbewusstseins voranschritt, wurde die Tiahuanaco-Kultur zum Symbol indigener/andiner Identität stilisiert. Die Ruinenstätte war bereits 1982 als Kulisse für das Manifest der Unabhängigkeit der sindicatos campesinos (›Bauerngewerkschaften‹) gewählt worden (Scarborough 2008: 1099), die als gesellschaftliche Akteure seit der Revolution von 1952 zunehmend an Einfluss gewonnen hatten. Seit den 1990er Jahren spielt die archäologische Stätte eine immer wichtigere Rolle in der Konsolidierung indigener Interessen im Nationalstaat: Indigene Gruppen kämpften um die Wiederaneignung der Definitionsmacht, die sich in einer neuen Festkultur vor der prähistorischen Kulisse Tiahuanacos manifestiert. In diesen Trend passt der öffentliche Aufruf der Einwohner Tiahuanacos, die ihren Vorfahren heimholen wollten. Anders als Arthur Posnansky, der sich zum Apostel Tiahuanacos erklärte, gründet die ortsansässige indigene Bevölkerung ihre Beziehung zu Tiahuanaco auf ein verwandtschaftliches Verhältnis, wobei der Verehrung der Ahnen seit präspanischer Zeit eine religiöse Bedeutung zukommt. Besonderes Gehör fand diese Aktivität, da Tiahuanaco auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes verzeichnet ist. Der Nationalstaat, der dem kulturellen Erbe ebenfalls zunehmend Relevanz beimisst, hatte es nach mehreren Anträgen seitens der Regierung durchgesetzt, dass Tiahuanaco im Jahr 2000 in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde. Am Abend des 16. März 2002 kehrte der Monolith zurück, mehrere Stopps auf seinem Heimweg, an der neuen Universität auf El Alto, den Orten Laja und Tambillo, sowie dem Aussichtspunkt Lloko Lloko wurden in einem feierlichen Rahmen abgehalten. Die letzten Kilometer wurden von einer eindrucksvollen Menschenmenge begleitet. Die Rückführung der Stele wirkte wie ein Akt der Wiedergutmachung und Versöhnung, an deren Beginn als Inszenierung ethnischer Aneignung die Versammlung der lokalen Autoritäten mit den Symbolen ihrer Macht stand. Der Regen, der die Heimkehr des Monolithen begleitete, wurde als gutes
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Zeichen von den dürregeplagten Hochlandbauern interpretiert (Viceministerio 2002: 85ff). Die Bennett-Stele könnte in diesem Kontext zur huaca (andines Heiligtum) einer modernen multi-ethnischen Gesellschaft werden – eine Funktion, die Tiahuanaco schon in der frühen Kolonialzeit zugesprochen worden ist. Damals wurde Tiahuanaco als Ort eines universellen Ursprungs und politischer Zentralgewalt verstanden. Während des Taqui Onkoy (1564-1600), einer millenaristischen Tanzbewegung, dachte man, dass Tiahuanaco eine der wichtigsten huacas wäre, um die Anden zu einen und den autochthonen Gesetzen wieder Geltung zu verschaffen (Cummins 2002: 144). Bestätigt wird diese Interpretation, da der archäologische Ort 2006 als Kulisse für die Inthronisation von Staatspräsident Evo Morales genutzt wurde, der durch die symbolische Kraft der Ruinen Tiahuanacos eine zusätzliche Legitimation erfuhr. Gleichzeitig wird der Mythos Tiahuanaco mit der Widerstandsgeschichte der indigenen Bevölkerung des Andenhochlands verwoben. Die Rückkehr der Stele wurde mit der Wiederkehr des Freiheitskämpfers Tupac Katari (um 1750-1781) gleichgesetzt oder als pachakuti (›Zeitenwende‹) interpretiert, an dessen Spitze Evo Morales als wiedergekehrter Tupac Katari steht (vgl. Scarborough 2008: 1099). Es ist diese Entdeckungs- und Enteignungsgeschichte, die sich in der lokalen Umsetzung der Stele manifestiert, die sie als Symbol des pachakuti, der Wiederaneignung und des Endes kolonialer und imperialistischer Bevormundung prädestiniert. Aus diesem Grund wird ihr derzeit eine solche Aufmerksamkeit zu teil. Sie legt Zeugnis ab für die Größe andiner Kulturen und legitimiert im Kontext Tiahuanacos politische und religiöse Führer. Vom Andenhochland aus wird die Stele außerdem als Nationalsymbol verstanden, das in den tiefen geschichtlichen und kulturellen Wurzeln der Nation präsent ist (Ostermann 2002: 28). Die Objekt gewordene Vergangenheit soll durch die Einbindung in soziale und politische Zusammenhänge mit der Zukunft der Nation verknüpft werden. Andererseits deutet sich in der Form der Redefinition und Wiederaneignung auch eine Exklusivität an, die das Nicht-Indigene ausschließt. Greifbar wurde diese exklusive Vereinnahmung durch die wahren ›kulturellen Eigentümer‹ beim Ausschluss der Anthropologiestudent/innen der Universidad Mayor de San Andrés/La Paz von den Feierlichkeiten, während der Korso mit der Stele an der Universidad Pública von El Alto Halt machte. Und die Autonomiebewegung, die – ausgehend vom Tiefland (Departamento Santa Cruz) – derzeit die nationale Einheit Boliviens in Frage stellt, zeigt ebenfalls die Grenzen der Integrationskraft kultureller Repräsentationen des Andenraums.
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Zeitlose Repräsentationen? In der Wanderung des Monolithen spiegeln sich die wechselnden Diskurse und Machtverhältnisse der letzten 70 Jahren wider. Mit jedem neuen Standort wurde die Stele neu kontextualisiert und wirkt, ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet, in eine moderne Welt. Diese konstruiert sich ebenso im Rückbezug auf Zeugnisse der Vergangenheit, wie in der Reinterpretation dieser Symbole. Hinter der scheinbaren Mehrwertigkeit dieser kulturellen Repräsentation verbergen sich politische Auseinandersetzungen, die in der räumlichen Positionierung von Symbolen ihren Niederschlag finden. In ständig wechselnden Koalitionen und Positionierungen wird dieses kulturelle Symbol von den verschiedensten Akteuren in einem vielschichtigen und permanenten Prozess verhandelt und offenbart so die unterschiedlichen Identitätspolitiken. Die faktische Kontinuität dieser Repräsentationen liegt in der Aneignungspraxis, d.h. der permanenten Rekontextualisierung, Umdeutung, Neuinterpretation und Deterritorialisierung. In der Reklamierung des Monolithen als Referenzpunkt nationaler oder ethnischer Identität wird die diskursive Konstituierung gesellschaftlicher Akteure sichtbar. Die Analyse zeigt, wie die Konfigurationen vergangener Zeiten in die alltägliche Praxis bestimmter Gruppen und Individuen übersetzt werden. Unterschiedliche soziale, politische und kulturelle Gruppen kontextualisieren die Stele in lokale, nationale und globale Zusammenhänge, und geben damit Erfahrungen/ Erinnerungen Ausdruck, die ihre Bezugspunkte in der vorspanischen Zeit haben. Über diese historischen Bezugspunkte, über Bilder und Vorstellungswelten vergangener gesellschaftlicher Wirklichkeiten, legitimieren sie ihre aktuelle Stellung, um gegenwärtige und zukünftige Realitäten zu gestalten. Im Prozess wechselnder Vereinnahmung findet das Bild seine neue Funktion und gerät damit zum Symbol einer fragmentierten Moderne.
Literatur Albarracín-Jordán, Juan (1999): The Archaeology of Tiwanaku. The Myths, History and Science of an Ancient Andean Civilization, La Paz: P.A.P. Bennett, Wendell Clark (1934): »Excavations at Tiahuanaco«. Anthropological Papers of The American Museum of Natural History 34, S. 359-494.
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Cummins, Thomas (2002): Toasts with the Inca. Andean Abstraction and Colonial Images on Quero Vessels, Ann Arbor: University of Michigan Press. Garcilaso de la Vega, El Inca (1984 [1609]): Comentarios Reales, México, D. F.: Editorial Porrúa. Gutiérrez Aldayuz, Nadya (2001a): »Comenzó en 1932. La triste historia de un monolito«. El Pulso 121, S. 20. Gutiérrez Aldayuz, Nadya (2001b): »Restauradores preparan al Bennett para un viaje«. El Pulso 121, S. 21. Janusek, John (2004): Identity and Power in the Ancient Andes. Tiwanaku Cities through Time, New York: Routledge. Kolata, Alan (1996): Valley of the Spirits. A Journey into the Lost Realm of the Aymara, New York et al.: John Wiley & Sons, Inc. Kubler, George (1990): The Art and Architecture of Ancient America, New Haven/London: Yale University Press. Laguna Meave, Alberto (2002): Tiwanaku. Enigma e enigmas (obra postuma), La Paz: Editoral Gisvol. Lange Loma, Guillermo (1994): El mensaje secreto de los símbolos de Tiahuanaco y del lago Titikaka, La Paz: Ediciones Gráficas. Ostermann, Carlos (2002): »Acerca del monolito Bennett y su traslado a Tiwanaku«. Revista de la Fundación Cultural del Banco Central de Bolivia 6 (18), S. 17-32. Ponce Sanginés, Carlos (1972): Tiwanaku. Espacio, tiempo y cultura. Ensayo de síntesis arqueológica, La Paz: Academia Nacional de Ciencias de Bolivia. Ponce Sanginés, Carlos (1995): Tiwanaku: 200 años de investigaciones arqueológicas. Historiación de un prolongado esfuerzo científico, La Paz: Producciones CIMA. Portugal Ortiz, Max (1998): Escultura prehispánica boliviana, Facultad de Ciencias Sociales/Carrera de Antropología-Arqueología, La Paz: Punto Cero S.R.L. Posnansky, Arthur (1932): Un ídolo gigante hallado en el templo subterráneo del primer período de Tiahuanacu. Al XXV Congreso International de Americanistas, La Plata/Rep. Argentina, La Paz: Instituto Tiahuanacu de Antropología, Etnografía y Prehistoria. Posnansky, Arthur (1945): Tiahuanacu. The Cradle of American Man, Bd. 1 und 2, New York: J. J. Augustin. Scarborough, Isabel (2008): »The Bennett Monolith: Archaeological Patrimony and Cultural Restitution in Bolivia«. In: Helaine Silverman/William H. Isbell (Hg.), Handbook of South American Archaeology, New York: Springer New York, S. 1089-1101. SFB 640 (2005): http://www.repraesentationen.de, 29.07.2008
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Viceministerio de Cultura de Bolivia (2002): Tiwanaku. Ciudad eterna de los Andes, La Paz: Viceministerio de Cultura.
Abbildungen Abb. 1: »Schlafender Gigant«, In: Wendell C. Bennett (1934), »Excavations at Tiahuanaco«. Anthropological Papers of The American Museum of Natural History 34, S. 359-494, Fig. 20 S. 432. Abb. 2: Der »Schlafende Gigant« vor dem Stadion in Miraflores/ La Paz, In: Viceministerio de Cultura de Bolivia (2002), Tiwanaku. Ciudad eterna de los Andes, La Paz: Viceministerio de Cultura, S. 56, Foto aus der Sammlung Javier Nuñez de Arco des Archivo Fotográfico Histórico.
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DIE
SYMBOLISCHE
REPRÄSENTATION
VON
ORDNUNG: INSZENIERUNG UND VERMITTLUNGSLEISTUNG VON INSTITUTIONEN IN Y U C A T Á N I M Z E I T A L T E R D E R R EV O L U T I O N E N ULRIKE BOCK Institutionen sind von wesentlicher Bedeutung für die Herstellung und Vermittlung von gesellschaftlichen Werten, denn sie verkörpern die herrschenden Ordnungsvorstellungen und geben ihnen eine dauerhafte Dimension. In ihrem Handeln, ihren Selbstinszenierungen und ihrem Symbolgebrauch tragen Institutionen dazu bei, die politische Ordnung zu legitimieren und sie den Zeitgenossen unmittelbar erfahrbar zu machen (Rehberg 1995; vgl. auch Melville 2001). Dies gilt insbesondere für Zeiten des politischen Wandels, in denen Institutionen sich zu veränderten Ordnungsvorstellungen positionieren müssen oder neue Institutionen geschaffen werden, welche wiederum die neuen Werte repräsentieren. Ein wesentlicher Prozess des Wandels für die hispanische Welt wurde 1808 mit dem Einmarsch Napoleons in Spanien und der Gefangennahme des Königs Ferdinand VII. eingeleitet. Durch das mit der Abwesenheit des Monarchen verbundene Souveränitätsproblem kam es letztlich im Vizekönigreich Neu-Spanien, dem späteren Mexiko, zu zwei parallelen Entwicklungen: Zum Einen mündeten die Aufstandsbewegungen ab 1810 in einen Bürgerkrieg, an dem breite Schichten der Bevölkerung partizipierten. Zum Anderen führte eine in Cádiz einberufene parlamentarische Versammlung, die Cortes, 1812 zu der Einführung einer liberalen Verfassung, womit eine weitreichende Transformation der Ordnung auch in Neu-Spanien verbunden war. Zu dem Wandel auf der lokalen und regionalen Ebene trug vor allem die Schaffung zweier Institutionen bei: die so genannten konstitutionellen Gemeinderäte und die Provinzdeputation. Die Einführung der konstitutionellen Gemeinderäte löste durch das interethnische Wahlrecht, mit dem nun Spanier und Indigene gleichermaßen politisch partizipieren sollten, die traditionelle Separierung des Gemeinwesens mit ihren lokalen Vertretungen der spanischen Stadträte auf der einen und der indigenen Gemeinden (repúblicas de indios) auf der anderen Seite zumindest normativ auf. Die konstitutionellen Gemeinderäte repräsentierten insofern in 243
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besonderem Maße die neue Leitidee einer Gemeinschaft von freien und rechtlich gleichen Individuen. Darüber hinaus wurde mit der Provinzdeputation eine völlig neue Institution auf Provinzebene geschaffen. Auch die Provinzdeputierten wurden nach dem neuen interethnischen Wahlrecht gewählt; die wesentliche Neuerung der Provinzdeputation jedoch lag darin, dass sie die erste Institution in Hispanoamerika war, die auf einer territorial übergreifenden politischen Vertretung basierte und daher eine neue regionale Ordnungsinstanz darstellte. Innerhalb der Vermittlungsleistungen von Institutionen spielt ihre jeweilige Konstituierung eine bedeutende Rolle. Bei diesen Akten handelt es sich um aus dem Alltag herausgehobene Rituale mit hohem symbolischen Gehalt, weshalb sie in besonderem Maße dazu beitragen, die inhärenten Ordnungsideen in repräsentativen Handlungen und Kommunikationsakten zu vergegenwärtigen (Rehberg 1995: 185). Dies soll im Folgenden anhand der Konstituierung der mit der Verfassung von Cádiz bzw. der in dem seit 1821 unabhängigen Mexiko neu geschaffenen Institutionen in Yucatán deutlich gemacht werden. Diese Region eignet sich besonders für eine Untersuchung des Wandels der politisch-administrativen Ordnung, da die Provinz Yucatán von den aufständischen Erhebungen ab 1810 nicht betroffen war und die durch die Verfassung von Cádiz geschaffene Ordnung außerordentlich schnell und erfolgreich umsetzte.
K o n s t i t u i e r u n g s a k te a l s R e p r ä s e n t a t i o n u n d Vermittlung der politischen Ordnung Die Konstituierung der kollegialen Institutionen auf lokaler Ebene war ein symbolischer Akt, der über die instrumentelle Bestimmung und Einsetzung der neuen Ratsmitglieder weit hinausging. Im Falle der spanischen Stadträte des Ancien Régime handelte es sich um jährliche konstitutive Sitzungen, in denen stets aufs Neue die Privilegien der Körperschaft und ihrer Mitglieder zelebriert wurden. So wurden etwa nur bestimmte Ämter gewählt, denn die Zusammensetzung der Stadträte basierte mehrheitlich auf einer lebenslangen Mitgliedschaft der Ratsherren. Aber auch diese Wahlen waren durch eine Kooptation nach Status und Ethnie gekennzeichnet.1
1
In den yukatekischen repúblicas de indios stellte sich die Lage ähnlich dar. Hier wurde zwar ein Großteil der Ämter jährlich gewählt; diese Wahlen implizierten aber keine allgemeine Partizipation der Bevölkerung, sondern gestalteten sich ebenfalls als geschlossene Kooptationsprozesse der indigenen Eliten (Restall 1997: 78ff). 244
SYMBOLISCHE REPRÄSENTATION VON ORDNUNG
Zu den Praktiken des Ancien Régime gehörte es, dass Wahl und Einsetzung der gewählten Amtsinhaber als exklusiver Akt in dem Sitzungssaal des Stadtrates begangen wurden, während die übrigen Bewohner der Stadt auf dem Rathausplatz den Ausgang der Wahl abwarteten. Schon der Gang zum Sitzungssaal zelebrierte die Geschlossenheit des Stadtrates, indem dessen Mitglieder sich zunächst versammelten und sich, angeführt durch ihren Präsidenten, in zwei Reihen geordnet zu dem Saal begaben. Dabei trugen sie die für besondere Anlässe reservierte »große Uniform«, welche den solennen Charakter des Ereignisses durch ihre besonders feierliche Ausgestaltung noch unterstrich. Zuvor hatten sie in einer gemeinsamen Messe in der Kapelle des Rathauses Gottes Beistand für die Wahl erbeten (AGN, Ayuntamientos, Vol. 141, Exp. 2). In ihrem Sitzungssaal gaben die Ratsherren schließlich nach Amt und Dienstalter hierarchisch geordnet ihre Stimmen für die neuen Amtsträger ab. Nach der Feststellung der Wahlergebnisse wurden die Kandidaten in ihr Amt eingesetzt, indem der ranghöchste Kronbeamte in seiner Funktion als Delegierter des Königs ihnen den Amtseid abnahm. Erst dieser Akt stattete sie mit der erforderlichen Autorität aus und machte deutlich, dass die Legitimität der Amtsgewalt letztlich vom König ausging.2 Die symbolische Aufnahme in die Körperschaft wurde vollzogen, indem sich die neuen Amtsinhaber auf die ihnen zustehenden Plätze setzten (CAIHY, Actas de cabildo, Libro 6, 1789). Anschließend präsentierte sich der so neu konstituierte Stadtrat der Allgemeinheit, denn zumindest in der Provinzhauptstadt Mérida war es üblich, dass die gesamte Körperschaft sich nach dem Wahlakt als Zeichen der Dankbarkeit für den geglückten Ausgang der Wahl in die Kirche des Konvents von San Juan de Dios begab. Hierbei wurde der Stadtrat, wie bei seinen öffentlichen Auftritten üblich, von zwei Bediensteten begleitet, welche die mazas trugen, zwei mit Herrschaftszeichen versehene Stäbe, die den besonderen Status der Körperschaft repräsentierten (AGN, Ayuntamientos, Vol. 141, Exp. 2). Wie hier deutlich wird, machten die aufgezählten Elemente – die distinktive Kleidung der Ratsherren, ihr gemeinsames Auftreten als exklusive und privilegierte Körperschaft, die nach innen praktizierte Hierarchie der Stimmabgabe – die herrschende Werteordnung einer hierarchisch strukturierten und korporativ verfassten Gesellschaft nicht nur sichtbar, 2
Aufgrund der Quellenlage ist es schwierig, für die Situation in den indigenen Dörfern Aussagen zu treffen. In einer Wahlakte von 1706 wird die Einsetzung noch von dem lokalen Kaziken vorgenommen, der hier augenscheinlich als Vertreter der königlichen Autorität fungierte (Restall 1990: 118). Inwieweit sich dies mit der Einführung der Distriktbeamten (subdelegados) in den 1790er Jahren änderte, konnte nicht festgestellt werden. 245
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sondern konstituierten diese in dem performativen Akt der Konstituierungszeremonie jeweils aufs Neue und statteten sie mit der erforderlichen Legitimität aus. Die Wahlen zu den konstitutionellen Gemeinderäten nach Maßgabe der Verfassung von Cádiz hingegen stellten einen grundsätzlich neuen Akt der Souveränitätsübertragung seitens der Bevölkerung auf ihre Vertreter dar. Dies wurde in dem Wahlverfahren sichtbar und der Bevölkerung unmittelbar erfahrbar gemacht. Schon in der zeitlichen Abfolge der Wahlen wurde die Außeralltäglichkeit und neue Bedeutung des Vorgangs produziert. Dabei wurden im ersten Wahlgang zunächst die Wahlmänner gewählt, bevor diese in einem Abstand von mehreren Tagen die neuen Ratsherren wählten, mit deren Amtseinsetzung sich schließlich der Gemeinderat als ganzer konstituierte. In Mérida, wo die Wahl der Bürger in verschiedenen Pfarrgemeinden gleichzeitig stattfand, wurde zudem der Akt der allgemeinen Wahl zeitlich von der öffentlichen Auszählung aller Stimmzettel und Publikation der Wahlergebnisse getrennt, was wiederum die Feierlichkeit des gesamten Vorganges erhöhte (Libro de acuerdos 1993: 261-267). Die wesentliche Neuerung aber lag in der Ausweitung der Partizipation auf der ersten Stufe der Wahl, welche die neue Wertordnung einer Gemeinschaft gleichberechtigter Individuen in konkrete Handlungen umsetzte. So wurden alle männlichen »Staatsbürger« aufgerufen, sich zur Wahl einzufinden.3 Auch erfolgte die Auszählung unter Anwesenheit der Wähler, und das Ergebnis wurde »mit klarer und lauter Stimme« in der Reihenfolge der erzielten Stimmen bekannt gegeben. Damit wurde die Bedeutung der Stimmenabgabe für jeden Anwesenden unmittelbar erfahrbar gemacht. Beendet wurde die Wahl, indem sich der Versammlungsleiter bei den Anwesenden nach eventuellen Einwänden erkundigte und anschließend die Wahl für gültig erklärte (AGEY, Colonial, Ayuntamientos, Caja 1, Vol. 1, Exp. 16; Libro de acuerdos 1993: 261-267). Auch im zweiten Schritt, also der Wahl der Ratsherren durch die Wahlmänner sowie der Amtseinsetzung der gewählten Ratsmitglieder, wurden neue Elemente eingeführt. So berieten die Wahlmänner nun unmittelbar vor ihrer Stimmabgabe darüber, welche Personen für die Ausübung der Aufgaben des Rates am besten geeignet erschienen. Zumindest in Mérida geschah dies zudem in einer öffentlichen Sitzung der Wahlmännerversammlung, so dass hier die neue Schwerpunktsetzung auf eine Eignung abseits von gesellschaftlichem Status und Privilegien durch die Kontrolle der Anwesenden noch akzentuiert wurde (ebd.: 265). Im Falle Méridas ist hier immerhin zu konstatieren, dass nur ein Mitglied des alten Stadtrates auch in den neuen Gemeinderat gewählt wurde. Dar3
Das Wahlrecht schloss allerdings die afrikanischstämmige Bevölkerung aus, die in Yucatán 1811 etwa 6 % darstellte (Campos García 2005: 26). 246
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über hinaus gehörte die Hälfte der neuen Ratsherren zu einem Personenkreis, der bereits 1811 eine Petition an die Cortes gerichtet hatte, um die Wählbarkeit aller Ratsämter einzufordern (ACDE, Leg. 4, No. 29). Dies deutet darauf hin, dass die Wahl nicht nur als Instrument für den Wechsel der politischen Führungsgruppe auf lokaler Ebene diente, sondern das Eintreten für die neue politische Ordnung auch ein Kriterium für die Auswahl darstellte. Die Einsetzung der konstitutionellen Gemeinderäte wurde schließlich mit der Ableistung des Amtseides vor ihrem jeweiligen Präsidenten besiegelt. Im Gegensatz zu der traditionellen Eidesformel, welcher die vom König delegierte Amtsgewalt betont hatte, wurde der Amtseid nun auf die Verfassung und den König gleichermaßen abgelegt. Dadurch wurde deutlich gemacht, dass die Autorität des verliehenen Amtes von beiden Instanzen ausging. Die Bezugnahme auf die Verfassung funktionierte außerdem als Symbol der neuen Ordnung selbst, da sie die Gesamtheit der neuen Werte verkörperte. Die Auswirkungen, welche die konstitutionellen Institutionen auf Wahrnehmung und Handeln der Bevölkerung in Yucatán hatten, ergeben insgesamt kein einheitliches Bild. Generell ist aber festzustellen, dass die Institution der Gemeinderäte besonders die Beziehung zwischen der indigenen Bevölkerung und dem Staat grundsätzlich veränderte (Caplan 2003). Zudem lässt sich die Bedeutung der neuen Institutionen auch über ihre erste Gültigkeitsdauer von 1812-1814 hinaus feststellen. Nach der von König Ferdinand VII. bei seiner Rückkehr auf den Thron 1814 dekretierten Restauration der traditionellen Verhältnisse wurde dieser 1820 durch einen Aufstand in Spanien dazu gebracht, die Verfassung von Cádiz erneut einzusetzen. In Campeche, der zweitwichtigsten Stadt der Provinz Yucatán, sah sich nun der Stadtrat auf Drängen der Bevölkerung und entgegen der Weisung des Gouverneurs in Mérida gezwungen, in einer außerordentlichen Sitzung den erneuten Verfassungseid zu beschließen. Am folgenden Tag forderte eine Menschenmenge auf dem zentralen Platz die Wiedereinsetzung des Gemeinderates von 1814, bis auch diesem Anliegen stattgegeben wurde (AGI, México 3043, Exp. 48). Aus diesem Ereignis, welches letztlich zu der erneuten Inkraftsetzung der Verfassung sowie den entsprechenden Wiedereinsetzungen ihrer Institutionen in ganz Yucatán führte, spricht eine starke Verankerung des konstitutionellen Systems zumindest in einem Teil der Bevölkerung. Die Forderung nach der erneuten Einsetzung des konstitutionellen Gemeinderates weist zudem darauf hin, dass die Verfassung nicht nur als Symbol funktionierte, sondern dass die Bevölkerung die konstitutionellen Institutionen als unmittelbaren Bestandteil der neuen Ordnung ansah.
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Die Konstituierung regionaler O r d n u n g si n st an z e n Die zweite Neuerung der Verfassung von Cádiz umfasste die Provinzdeputation, mit der eine neue Ordnungsinstanz auf regionaler Ebene eingeführt wurde. In ihren institutionellen Vermittlungsakten standen insofern die Repräsentation der gesamten Provinz sowie die Position der Provinzdeputation innerhalb der institutionellen Hierarchie im Vordergrund. Bereits in der Einsetzungszeremonie wurde durch den deutlichen zeitlichen Abstand zu dem Wahlprozess weniger die Wahl als Verkörperung der Souveränitätsübertragung und politischen Partizipation präsent gemacht, sondern der feierliche Einsetzungsakt selbst hervorgehoben. Er fand in Mérida in Anwesenheit von Körperschaften, Amtsträgern und Personen von Rang statt, die hier symbolisch für die gesamte Gemeinschaft standen (Diputación Provincial 2006: 58). Mit ihrer Präsenz wurde die Bedeutung der neuen Institution als Organ einer regionalen Ebene konstituiert, das die Belange der gesamten Provinz vertreten sollte. Allerdings wurde so auch das traditionelle Verständnis einer auf Privilegien und unterschiedlichen Partizipationsrechten basierenden Gemeinschaft reproduziert: Nur Körperschaften und ausgewählte Einzelpersonen nahmen an der Vereidigung der Abgeordneten und der eigentlichen Einsetzung der neuen Institution teil. Zudem waren hier nur Körperschaften aus Mérida selbst präsent, womit deren traditionelles Vorrecht als Hauptstadt der Provinz bestätigt wurde. Die hierarchische Stellung der neuen Institution wurde in der Zeremonie durch die Interaktion mit den anwesenden Vertretern der Obrigkeit zum Ausdruck gebracht. Anstatt der traditionellen Antrittsvisite, welche die Mitglieder des Stadtrats im Ancien Régime den kirchlichen und zivilen Autoritäten dargebracht hatten, war es nun der Bischof, der den Provinzabgeordneten an Ort und Stelle der Zeremonie gratulierte. Zudem signalisierten abschließende Reden des höchsten Kronbeamten der Provinz, dem jefe político, und des Bischofs eine Anerkennung des neuen Status der Institution, ohne allerdings dabei eine hierarchische Beziehung der Unterwerfung zu produzieren. Im Akt der Wiedereinsetzung der Provinzdeputation in der zweiten Gültigkeitsperiode der Verfassung von Cádiz ab 1820 sind demgegenüber Ansätze zu einer Stärkung der Autonomie dieser Institution zu erkennen. Während der Ablauf im Wesentlichen identisch mit der ersten Zeremonie war, hielt 1820 nach der Ableistung des Amtseides einer der Provinzabgeordneten eine Rede, in der er das konstitutionelle System lobte. Neben der so hervorgehobenen Stellung der Verfassung betonte der Akt der Rede eine Aufwertung der Abgeordneten gegenüber dem
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präsidierenden jefe político sowie den traditionellen Vertretern der Obrigkeit. Hatte 1813 zuerst der Bischof und abschließend der jefe político eine Rede gehalten und damit die Einsetzungszeremonie beschlossen, so wurde nun der erste Teil des Aktes mit der Rede eines regulären Mitglieds der Provinzdeputation beendet (Diputación Provincial 2006: 333). Beide Tendenzen, die erhöhte Autonomie der Provinzdeputation als handelnde Institution sowie die Stellung der Verfassung als Legitimationsgrundlage, traten in den folgenden Jahren weiter in den Vordergrund. In der politischen Transformationsphase 1821-23, die die Erklärung der Unabhängigkeit, die Gründung des mexikanischen Kaiserreichs sowie später die Errichtung einer föderalen Republik umfasste, wurde eine neue politische Ordnung etabliert, deren Grundlage auf regionaler Ebene die Provinzdeputationen wurden. Eine neue Bedeutung bekamen diese Anfang 1823 mit der Proklamation des Plans von Casa Mata, der sich gegen den mexikanischen Kaiser richtete und den Provinzdeputationen die Regierungsgewalt in den Provinzen übertrug. In Yucatán führte dies zu Konflikten mit der Stadt Campeche, die den Geltungsanspruch der Provinzdeputation als Repräsentation der gesamten Provinz nicht anerkannte. Aus den Bemühungen zu einer Konfliktlösung wurde, wie in anderen Provinzen auch, im Mai 1823 schließlich eine neue Institution geschaffen, die sogenannte Provisorische Regierungsjunta, der nun auch ein Vertreter Campeches angehörte. Diese Junta sollte als Interimsorgan die Regierungsgewalt in Yucatán übernehmen und gleichzeitig die Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung für Yucatán einleiten. Aufgabe dieses Organs wiederum sollte es werden, die politischen Grundfeste des formal noch zu gründenden Bundesstaates auszuarbeiten. Im Gegensatz zu der Konstituierung der Provinzdeputation fand die Einsetzung der Provisorischen Regierungsjunta bereits einen Tag nach ihrer Wahl statt. Während der Wahlakt aber in einer öffentlichen Sitzung vollzogen worden war, beschränkte sich die Anwesenheit nun auf die Provinzdeputation als Inhaber der Regierungsgewalt, die Körperschaften und Amtsträger sowie die Wahlmänner der Provinz (Manifiesto 1824: 2f). Die Einsetzung fand also ebenfalls in einem exklusiven Rahmen statt. Im Vergleich zu der Konstituierung der Provinzdeputation stellten nun aber die Wahlmänner ein neues Element innerhalb der Repräsentation der gesamten Provinz dar und symbolisierten so die Ausweitung der Legitimationsgrundlage auch über die Provinzhauptstadt hinaus. Die Versammlung wurde durch die Verlesung einer Erklärung zu den Aufgaben und Befugnissen der Regierungsjunta eingeleitet, die zunächst diskutiert und verabschiedet wurde. Dies verdeutlichte, dass die Regierungsgewalt zu diesem Zeitpunkt noch von der Versammlung ausgeübt wurde, bevor sie durch den Amtseid an die Provisorische Regierungsjun-
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ta übertragen wurde. Der Eid stellte den Erhalt der föderalen Staatsform in den Vordergrund und verpflichtete die Mitglieder der Junta, in Yucatán keine andere Regierungsform zuzulassen (Manifiesto 1824: 5). Dies beinhaltete eine erhebliche Bedeutungssteigerung der neuen Institution als Ordnungsinstanz, da auf nationaler Ebene die Entscheidung über die künftige Staatsform zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gefällt war. Am 20. August 1823 wurde schließlich die Verfassungsgebende Versammlung in Mérida feierlich eingesetzt. Dabei sind einige Neuerungen zu konstatieren. So veränderte sich der Stellenwert, welcher der Bevölkerung innerhalb des Einsetzungsaktes zukam: Zwar versammelten sich die gewählten Vertreter der Verfassungsgebenden Versammlung zunächst gemeinsam mit der Provisorischen Regierungsjunta sowie den Körperschaften und Amtsträgern der Provinz, um sich zur Messe in die Kathedrale zu begeben, wodurch diesen weiterhin ein besonderer Rang zuteil wurde. Doch legten die Abgeordneten sichtbar für alle Zuschauer ihren Amtseid ab, und auch bei dem anschließenden Gang in den neuen Sitzungssaal der Verfassungsgebenden Versammlung wurden sie von der Bevölkerung begleitet. Die Zuordnung eines eigens bereit gestellten Amtsgebäudes wiederum drückte die Autonomie und Bedeutung sowie die dauerhafte zeitliche Perspektive der neuen Institution aus. Ihr Sitzungssaal besaß eine eigene Zuschauertribüne und institutionalisierte damit die Präsenz einer Öffentlichkeit während der Sitzungen (Instalación 1823). Dies stellte eine deutliche Veränderung der traditionellen Praktiken des Ancien Régime dar und wertete die Bevölkerung für die politische Legitimation der neuen Institution symbolisch auf. Eine weitere bedeutende Neuerung der Einsetzungszeremonie stellte das Ableisten des Amtseides in der Kirche dar. Bisher war es üblich gewesen, den Eid in dem Amtsgebäude der entsprechenden Institution bzw. im Regierungspalast abzulegen. Die neue Praxis, den Amtseid in der Kirche zu leisten, war 1822 bei der Einsetzung des Kongresses auf nationaler Ebene begründet worden (Rosal 1822) und stellte eine klare Aufwertung dar. So wies der Eid in der Kathedrale nicht nur auf die herausgehobene Stellung der jeweiligen Institution hin, sondern auch auf den Versuch, dieser eine zusätzliche, sakral aufgeladene Legitimation zu verschaffen. Dies war erstmals 1812 mit dem Eid auf die Verfassung von Cádiz eingeführt worden. Während noch die traditionellen Proklamationen der Könige jeweils an zentralen öffentlichen Plätzen stattgefunden hatten, legten die Cortes von Cádiz fest, dass der Verfassungseid in den jeweiligen Pfarrkirchen geleistet werden sollte. Allerdings war hier insofern zwischen der allgemeinen Bevölkerung und den Vertretern der Obrigkeit differenziert worden, als dass letztere den Verfassungseid separat in dem Amtsgebäude des Gouverneurs abgelegt hatten (Rubio Mañé
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1968: 160-162). Die Ableistung des Amtseides in der Kathedrale löste diese Exklusivität auf und kann somit auch als symbolische Akzentuierung der Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung als Repräsentanten der gesamten Gemeinschaft interpretiert werden.
S c h l u s s b e tr a c h t u n g e n Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die hier betrachteten institutionellen Akte eine wichtige Rolle für die Verkörperung und Vermittlung der jeweils herrschenden Ordnung spielten. Die Praktiken, die mit den Amtseinführungen des Ancien Régime sowie der neuen Institutionen der Verfassung von Cádiz und des unabhängigen Mexikos einhergingen, repräsentierten die Leitideen der jeweiligen politischen Ordnung und kommunizierten sie symbolisch. Durch konkrete Handlungen trugen sie zur Vermittlung der neuen Prinzipien bei: Die fehlende Hierarchie bei der Stimmabgabe oder die Präsenz der Wähler bei den Schritten des Wahlaktes für die konstitutionellen Gemeinderäte machten abstrakte Konzepte wie Partizipation und Gleichheit unmittelbar erfahrbar. Darüber hinaus wurde die Bedeutung der Schaffung neuer Institutionen für die Herstellung der Ordnung auf regionaler Ebene deutlich. Auch hier spielte die Repräsentation von grundlegenden Ideen, wie der Provinz als politischer Gemeinschaft, eine entscheidende Rolle. Zudem trugen gerade die institutionellen Praktiken dazu bei, diese zu verändern und somit das Verhältnis zwischen Institutionen und Bevölkerung zu transformieren.
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ÜBERSETZUNG IN KOLONIALZEITLICHEN KATECHESEDISKURSEN IN PERU1 ANTONIA SCHNEIDER »Die Spanier schrieben den Inka viele Götter zu […] auch, weil sie die Eigentümlichkeiten der Sprache nicht kennen, so daß sie nicht imstande sind, Mitteilungen von den Indianern zu erbitten und als solche zu verstehen« (Garcilaso de la Vega 1986 [1609]: 57).
Einleitung Dass Übersetzen keine rein sprachliche Tätigkeit ist, sondern auf vielfältige Weise mit kulturellen Gegebenheiten in Beziehung steht, ist seit dem cultural turn in vielen Disziplinen bekannt. Auch in der Ethnologie wird von einer »Anthropology of Translation« oder Übersetzung zwischen den Kulturen gesprochen. Selten jedoch wurde bisher die Rolle der Übersetzung als kulturelle Praxis ausreichend reflektiert. Nicht nur Sprache selbst und damit auch grammatische Strukturen, Texte und Konzepte sind jedoch verschieden, sondern auch die Art und Weise, wie mit fremden Konzepten, Diskurstraditionen und Formen symbolischer Repräsentation jeweils umgegangen wird. Die eigentlich interessante Frage ist dabei vor allem, wie Übersetzungsprozesse ablaufen und auf welchem Weg Ambivalenzen und unterschiedliche Interpretationen zustande kommen. Besonders im kolonialzeitlichen Amerika wird deutlich, wie die Einbettung von Diskursen in Machtstrukturen die Übersetzung und interkulturelle Kommunikation zwischen Individuen geprägt hat. In den Übersetzungsprozessen und religiösen Diskursen im kolonialzeitlichen Peru 1
Eine ausführlichere Version des Artikels erscheint 2008 als Kapitel in meiner Dissertation »Übersetzen als kulturelle Praxis: Pragmatik und Metapragmatik des Übersetzens in institutionellen und ethnologischen Kontexten am Beispiel von Quechua und Spanisch in Huancavelica/Peru« (unveröffentlicht). 253
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trafen nicht nur unterschiedliche Sprachen aufeinander, sondern auch unterschiedliche Kulturen, Religionen und Diskurstraditionen. Der Versuch der Missionare, christliche Konzepte in den Sprachen der indigenen Bevölkerung auszudrücken und für die Missionierung relevante Texte zu übersetzen, beschränkte sich dabei nicht auf die einfache Suche nach Äquivalenten oder eine einseitige Anpassung bzw. Assimilation der indigenen Sprachen. Vielmehr handelte es sich um einen komplexen, höchst ambivalenten und teilweise sogar widersprüchlichen metapragmatischen Vermittlungsprozess, dem sowohl kommunikative Notwendigkeiten und Verständigungsversuche als auch Prozesse kulturellen Wandels zugrunde lagen.2 Die Missionare standen nicht nur vor der Aufgabe, den christlichen Glauben an die einheimischen Bevölkerungsgruppen des amerikanischen Kontinents zu vermitteln, sondern sie waren auch mit deren Glaubensvorstellungen und kulturellen Praktiken konfrontiert und mussten sich mit diesen auseinandersetzen. Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass der Übersetzungsprozess – versteht man ihn nicht als ein rein literales Ereignis, sondern als kulturelle Praxis – nicht nur unidirektional verlaufen sein kann. Obgleich die überlieferten Übersetzungen und Texte in erster Linie die Perspektive der Missionare und der spanischsprachigen Übersetzer widerspiegeln und damit – wie es Barnes (1992: 67) formuliert hat – »distorted mirrors«, also allenfalls »verzerrte Spiegel« der damaligen Gesellschaft darstellen, kann die Komplexität des Verständigungsprozesses nur dann verstanden werden, wenn auch die andere Seite und deren Art des Verstehens mit einbezogen wird. Erst dann ist es in vielen Fällen möglich, Übersetzungsprozesse und ihre Einbettung in kulturelle Kontexte zu interpretieren und daraus resultierende Ambivalenzen und Formen symbolischer Repräsentation zu erklären. Wie die unterschiedlichen Ebenen, Praktiken und Perspektiven dabei zusammenspielten, wird im Folgenden anhand von Beispielen dargestellt.
A m b i v a l e n t e B e d e u tu n g s k o n st r u k ti o n i n i n t e r k u l tu r e l l e n K o n t ak t si tu at i o n e n Auch wenn es häufig scheint, dass Missverständnisse durch den unterschiedlichen kulturellen Kontext von Konzepten oder durch das NichtVorhandensein von Äquivalenten in der jeweils anderen Sprache zustande kommen, sind es dennoch oft gerade die Ähnlichkeiten und daraus folgende Gleichsetzungen, die zu ambivalenten Interpretationen führen 2
Einen ausführlichen geschichtlichen Überblick über die Missionierung auf Quechua während der Kolonialzeit bietet Durston (2007). 254
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bzw. geführt haben. Wie Lockhart (1999: 99-106) für Mexiko beschreibt, war das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent stark durch die »Konvergenz« unterschiedlicher Bedeutungssysteme geprägt. Mit dem Begriff double mistaken identity beschreibt der Autor wie bestimmte Grundannahmen auf beiden Seiten bezüglich der Kultur der ›Anderen‹ auch die Verwendung von Sprache beeinflusst haben, indem in einer Kontaktsituation angenommen werde, dass ein bestimmtes Konzept auf eine in der jeweils eigenen Tradition bekannten Weise funktionierte, wobei jedoch die Interpretation auf der anderen Seite verborgen bliebe. Auch im andinen Kontext lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, wie durch Übersetzung und unterschiedliche Kontextualisierungskonventionen ambivalente Bedeutungen und Resemantisierungen zustande gekommen sind. Bereits auf missionarischer Seite gab es geradezu entgegengesetzte Herangehensweisen an die Übersetzung. Während eine Tendenz darin bestand, gezielt nach einheimischen Wörtern und Übersetzungsmöglichkeiten zu suchen, um sich verständlich zu machen oder die vorhandenen Strukturen für die eigenen Ziele zu nutzen, gab es auch Bestrebungen, sich bewusst von den Begrifflichkeiten der indigenen Sprachen zu distanzieren und stattdessen spanische Lehnwörter zu verwenden, um die ›Reinheit‹ der christlichen Lehre nicht zu gefährden. Vor allem ab dem 17. Jahrhundert wurde die Rolle der Sprache für den Erhalt der religiösen Praktiken hervorgehoben, wobei argumentiert wurde, dass für die christlichen Inhalte kein angemessenes Vokabular zur Verfügung stehe. Darüber hinaus glaubte man, mit den Bezeichnungen auch die entsprechenden religiösen Vorstellungen und Praktiken der andinen Bevölkerung auslöschen zu können (Mannheim 1989: 24-26). So wäre es nach Garcilaso de la Vega »fromme, barmherzige Rücksicht, daß man, wenn man […] von der christlichen Religion spricht, nicht die Wörter verwendet, die sie in ihrem Heidentum gebrauchten, [...], damit sie nicht an die abergläubischen Vorstellungen erinnert werden, die jene Wörter beinhalten, sondern damit diese gänzlich aus ihrem Gedächtnis getilgt werden« (1986 [1609]: 469-70).
Nach dem Dritten Konzil von Lima (1582-1583) wurde angestrebt, durch die Einführung von Verkehrssprachen eine Vereinheitlichung der Übersetzungsprozesse zu erreichen, um dadurch eine stärkere Kontrolle auf den Katechesediskurs auszuüben. Durch verbindliche Formulierungen auf Quechua und Aymara in Musterpredigten, Katechismen und
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Beichtspiegeln sollte der Informalität Abhilfe geschaffen werden.3 Die Entlehnung von spanischen Vokabeln zur Bezeichnung von zentralen Begriffen des Christentums wurde beispielsweise von José de Acosta als relativ unproblematisch betrachtet. Wie andere von den Spaniern eingeführte Dinge wie Pferde, Rinder, Wein, Weizen oder Öl mit spanischen Wörtern bezeichnet würden, könne es auch mit zentralen christlichen Konzepten wie Kreuz, Engel, Jungfräulichkeit oder Ehe geschehen. Man könne sie gewissermaßen den indigenen Sprachen zu eigen machen, wie es auch bei anderen Nationen geschehen sei: »Meines Erachtens braucht man sich nicht zu viele Gedanken darüber machen, ob die Bezeichnungen des Glaubens Kreuz, Engel, Jungfräulichkeit, Ehe und viele andere gut und passend in die Sprache der Indianer übersetzt werden können. Sie könnten sie aus dem Spanischen nehmen und sich zu eigen machen. Dabei würden sie die Sprache durch deren Gebrauch bereichern, wie es schon immer alle Nationen getan haben« (eigene Übersetzung). »Así que pienso que no hay que preocuparse demasiado de si los vocablos de la fe cruz, ángel, virginidad, matrimonio y otros muchos no se pueden traducir bien y con propiedad al idioma de los indios. Podrían tomarse del castellano y apropiárselas, enriqueciendo la lengua con su uso como lo hicieron siempre todas las naciones« (Acosta 1987 [1577]: 75).
Bereits in der Entscheidung, welches Wort im Quechua für die Übersetzung des christlichen Seelenbegriffs verwendet werden sollte, spiegeln sich die unterschiedlichen Epochen, sprachlichen Ideologien und strategischen Überlegungen wider. Fray Domingo de Santo Tomás (1951 [1560]: 189-90) brachte in einer sehr frühen Phase mit »cama-« und »songo« noch andine Begrifflichkeiten ins Spiel (»Songonchic camaquenchic ucupi cac runanchic«).4 Der Stamm »cama-« bezeichnet nach 3
4
Dass man sich der Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen und der Schwierigkeiten der Übersetzung in die indigenen Sprachen durchaus bewusst war, zeigen die Anmerkungen (Anotaciones) in der Doctrina Christiana (1985 [1584]: 172-74). In einer ersten Phase lief Übersetzung noch vielfach auf einer informellen Ebene ab und sie oblag den einzelnen Geistlichen und Übersetzern (vgl. Barnes 1992: 70 und Mannheim 1989: 19-22). Verständigungsprobleme zwischen Priestern und der indigenen Bevölkerung wurden von Chronisten wie José de Acosta (1987 [1577]: IV, iii, 50) oder Garcilaso de la Vega (1986 [1609]) thematisiert. Deutsche Übersetzung: »unser Herz, unsere Seele, das was bei uns Menschen innen ist«. Die Endung »-nchic« steht für die 1. Person Plural inklusiv (d.h. der Sprecher wird mit einbezogen). 256
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andiner Auffassung das »Beseelen« und das Einflößen von Lebenskraft durch eine Gottheit (Taylor 1980: 55). Da dieser Prozess jedoch auch die Tiere und die materielle Welt einschließt, lag es für die christlichen Missionare näher, »cama« als Übersetzungsoption für die Schöpfung zu betrachten.5 Auch »songo« konnte sich langfristig nicht als Äquivalent für »Seele« behaupten, sondern wurde bereits sehr früh mit dem spanischen corazón (»Herz«) assoziiert (Taylor 1980: 55 und 2003: 23). Der Seelenbegriff hingegen wurde bald mit den spanischen Entlehnungen ánima oder alma belegt. Andine Konzepte und Begrifflichkeiten dienten lediglich als komplementäre Hilfen bei der Übersetzung (Albó 2002: 413-14). Die Übersetzung des Konzeptes beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Benennung, sondern es musste auch erläutert und in seiner Bedeutung für die Glaubenspraxis erklärt werden. Es fand also eine Art metapragmatische Charakterisierung des Begriffs in den Predigten und Katechismen statt, die weitere Übersetzungen, Verstehensprozesse und Bedeutungsveränderungen nach sich zog und in der die Einbettung der Übersetzung in den vorherrschenden Anti-Idolatriediskurs6 noch deutlicher wird als bei der Übertragung einzelner Wörter.
Pragmatik und Metapragmatik im Ü b e r s e t z u n g sp r o z e s s Nach christlicher Vorstellung gibt es ein Weiterleben nach dem Tod in der unsterblichen Seele eines Menschen. Auch in der andinen Kosmologie spielten Wesen und Seinsformen außerhalb des menschlichen Körpers nach dem Tod eine Rolle. Im Huarochirí-Manuskript beispielsweise wird eine »Seele« beschrieben, die nach fünf Tagen in den Körper zurückkehrt. Außerdem leben Verstorbene auch nach ihrem Tod in rezipro5
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Nach Harrison (1989: 77-78) bezeichnet das Wort »cama« neben »ruray« (»machen«) und »churay« (»stellen«) nur einen Aspekt der Schöpfung. Als weitere Übersetzungsmöglichkeit für die Schöpfung bot sich »paqariy« (»geboren werden, entstehen«) an, was sich jedoch in der andinen Mythologie eher auf das Entstehen von einzelnen Lineages bezog (vgl. Dedenbach-Salazar 1997: 199). In gegenwärtigen Texten und Diskursen im Gebiet um Huancavelica wird das Wort »unanchay« (wörtlich: »verstehen, einschätzen, Zeichen setzen«; vgl. Perroud/Chouvenc 1970: 178) für die Schöpfung verwendet. Der Katechesediskurs war eingebettet in den Versuch, die Glaubensvorstellung der indigene Bevölkerung, die als »Götzenglauben« betrachtet wurden, auszurotten (extirpación de idolatrías). Siehe dazu Arriaga (1999 [1621]). 257
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ker Beziehung zu den lebenden Menschen, indem sie eine Schutzfunktion ausüben und im Gegenzug mit Gütern versorgt werden müssen (vgl. Taylor 1987: 417-21).7 Obwohl die Erzähler von ánima sprechen, beschreiben sie eine andine Vorstellung vom Leben nach dem Tod. In einer Predigt von Francisco de Avila (2002 [1646]) wird deutlich, wie nicht nur versucht wurde, den christlichen Seelenbegriff zu erklären, sondern auch die andine Vorstellung von der Beseeltheit und Belebtheit der Natur zu durchbrechen. Auch hier wird das Wort ánima verwendet, obwohl nicht direkt der christliche Seelenbegriff beschrieben, sondern vielmehr argumentiert wird, dass Dinge wie eine Kerze oder die Gestirne kein Leben in sich tragen würden: »Chaymantari chay inti killa quyllur manam kawsaqchu mana ánimayuqmi. Qam wasiykipi k’ancharikunqaykipaq manachu utkumanta sebomantawan huk candelakta ruraq kanki? – Arí, ruraqmi kani. – Mà willaway kunan: chay candela ánimayuqchu kawsanchu rikunchu mikhunchu? Manapuni. Chayhinapunitaqmi inti killa illarin k’ancharin, ichaqa manam kawsaqchu, chayraykutaq mana wañuqchu« (Francisco de Avila 2002 [1646]: 68). »Y de más de esto, ésos no son vivientes ni tienen ánima. Ve acá, ¿tú en tu casa no haces una vela de sebo y algodón para que de noche te alumbre? – Sí. – Pues, dime ahora: ¿esa vela tiene ánima? ¿Vive? ¿Ve? ¿Es cosa que come? De ninguna manera. De este propio modo son el sol y la luna; resplandecen, alumbran, pero no viven y, por esta razón, no mueren« (Francisco de Avila 2002 [1646]: 53).8 »Und überdies leben die Sonne, der Mond und die Sterne nicht, sie haben keine Seele. Und machst du in deinem Haus, um Licht zu haben, nicht aus Baumwolle und Talg eine Kerze? – Ja, ich mache es. – Dann sag mir: Hat diese Kerze eine Seele, lebt sie, sieht sie, isst sie? Auf gar keinen Fall. Ebenso nehmen Sonne und Mond ihren Lauf, sie leuchten, aber sie leben nicht und daher sterben sie auch nicht« (eigene Übersetzung).
Hier sieht man sehr deutlich, wie ambivalent der Übersetzungsprozess verlaufen ist. Auf der einen Seite wurden Entlehnungen eingeführt, um Gleichsetzungen zu vermeiden und um den christlichen Seelenbegriff von den entsprechenden andinen Konzepten abzugrenzen. Gleichzeitig 7
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Das Huarochirí-Manuskript (ca. 1598) von Francisco de Avila (herausgegeben u.a. von Taylor 1987) stellt eines der wenigen Aufzeichnungen mündlicher Traditionen der indigenen Bevölkerung während der Kolonialzeit dar. Wie vom Herausgeber (Taylor 2002: 13) angegeben, stellt hier der spanische Text das Original dar, der von Avila ins Quechua übersetzt wurde. 258
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musste jedoch in den Erklärungen und Kontextualisierungen auf genau diese Konzepte Bezug genommen werden. Während man sich auf der kognitiven Ebene von den indigenen Traditionen distanzierte, war es in der Praxis häufig notwendig, eine gemeinsame Verständigungsbasis mit der andinen Bevölkerung herzustellen. Dabei mussten die Prediger auch auf gemeinsame Erfahrungen, bekannte Praktiken und Beispiele zurückgreifen, um mit dem Begriff verbundene Vorstellungen plausibel zu machen. So wurde die Unsterblichkeit der Seele im Tercero Catecismo (1985 [1585]: 365) mit andinen Praktiken erläutert: »Chayraycum runacuna aya[n]ta cuyacuspa, çumaćta pampa[n]cu, huacintapas huacichachipuntaq. Allco huañućtaca, caballo huañućtaca manam hinacchu, ya[n]callam maypipas uischuc. Ymaraycutac ayancunaćta runacuna pampacpas, ymacpas? anima[n]mi uiñaypac cauça[n] [...]. Cay cuna[n] ñiscaytaca machuyqchiccunapas checantam vnancharca[n]cu«.9 »Por esso los hombres tienen tanta cuenta, con dar sepultura a los cuerpos, y hazelles enterramie[n]tos, y no echan los cuerpos de sus difuntos al muladar como los perros o cauallos. Porque si pensays?por que [sic] el alma viue todauia,[…], y esto así lo entendieron vuestros antepasados« (Übersetzung: Autoren des Tercero Catecismo).
»Deshalb beerdigen die Menschen die Verstorbenen, die sie lieben, sie machen ihnen eine Wohnstätte, sie werfen sie nicht irgendwo (sinnlos) weg, wie die Hunde oder die Pferde. Sie haben ihre Toten beerdigt, da deren Seele ewig lebt. [...] Das, was ich jetzt gesagt habe, haben auch eure Vorfahren ganz richtig verstanden« (eigene Übersetzung).
Die Herausforderung vor einem Publikum zu sprechen, das nicht mit diesen schriftlich überlieferten Traditionen vertraut war, machte es notwendig, auch auf Diskurstraditionen sowie Argumentations- und Sprechweisen der damaligen Gesellschaft zu berücksichtigen.10 Schließlich ging es 9
[n] wurde dort eingefügt, wo im Original ein Querstrich auf dem vorangehenden Vokal steht, z.B. animāmi = animanmi. Ansonsten wurde die Schreibweise aus dem Original übernommen. 10 Das Spannungsverhältnis zwischen Semantik, Pragmatik und Metapragmatik wird in vielen weiteren Beispielen deutlich. Auch Wörter wie »Epiphanie« (Erscheinung des Herrn, 6. Januar) wurden mit Hilfe von Beispielen in der Erfahrungswelt der Bevölkerung verankert. So übersetzt Francisco de Avila (2002 [1646]: 45ff) das Wort teils wörtlich teils mit Hilfe spanischer Entlehnungen und Umschreibungen in Beispielen, in denen er häufig Quechua-spezifische rhetorische Mittel wie die wörtliche Rede verwendet, um seinen Argumentationen Gewicht zu verleihen. 259
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nicht nur um die kognitive Ebene, sondern um die Umsetzung des christlichen Glaubens in der Praxis.11 Gleichzeitig standen die Missionare vor der Aufgabe, sowohl die andinen Traditionen als auch die Existenz des neu entdeckten Kontinents in ihre eigene Geschichtsauffassung zu integrieren. Durch die Übersetzung in eine Sprache mit mündlicher Überlieferung verloren die schriftlichen Traditionen der Europäer teilweise ihre festen Strukturen und wurden offen für Veränderungen und abweichende Versionen, die noch bis heute in der andinen Oraltradition weiterleben.12
Sprachliche Ideologien und Anti-Idolatriediskurs In welche ideologischen Verflechtungen Übersetzung im kolonialzeitlichen Peru eingebunden war, zeigen auch die Resemantisierungen vieler Wörter aus dem Quechua. Indigene Traditionen wurden einerseits als nichtig und falsch dargestellt, andererseits aber auch den aus missionarischer Sicht ›bösen Mächten‹ zugeordnet. Wie Spalding anmerkt, war beiden Seiten die Vorstellung gemeinsam, dass es jenseitige Mächte gibt, die sich der eigenen Kontrolle entziehen: »For both European and Andean societies shared a common basic assumption that social order and survival depended ultimately upon forces beyond their own direct control, forces that could be entreated or appeased, but had a will and a logic of their own« (Spalding 1984: 239-40).
Wortbedeutungen, die sowohl positive als auch negative Aspekte beinhalten konnten, wurden im Katechesediskurs häufig in ihrem Bedeutungsspektrum reduziert und allein mit negativ besetzten Begriffen übersetzt, wie z.B. »supay« als »Teufel« oder »huaca« als »Götze«.13 Garci-
11 Wie vor allem José María Arguedas (1955) beobachtet hat, wurden die poetischen Mittel des Quechua ganz gezielt eingesetzt, um die Menschen auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Auch in heutigen Kirchenliedern und Texten auf Quechua findet sich dieser Ansatz wieder. 12 Beispielsweise werden Elemente der Geschichte von der Arche Noah mit andinen Traditionen verbunden (vgl. Ansión 1987: 100-106). 13 »Supay« vereinte ursprünglich sowohl positive als auch negative Elemente in sich und konnte sowohl zur Bezeichnung von ›guten‹ als auch ›bösen Mächten‹ verwendet werden (vgl. Taylor 1980: 49). Bis heute wird das Wort in einigen Regionen in seiner ambivalenten Bedeutung gebraucht, wobei positive Konnotationen überwiegen (vgl. Harrison 1989: 47-48, 135137). 260
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laso de la Vega (1986 [1609]: 58-59) beschreibt, wie die vielfältigen Bedeutungsnuancen, die das Wort »huaca« im Quechua ursprünglich beinhaltete (z.B. markante Stellen in der Natur, Kultstätten, Berge, alles Außergewöhnliche) allein auf ihre negativen Aspekte reduziert und an den Anti-Idolatriediskurs angepasst wurden. Die Missionare machten die »huacas« auf diese Weise zu den Orten »an denen der Teufel zu den Menschen spricht, um sie glauben zu machen, dass diese Gott seien« (ebd.: 56). Diese Bedeutungsveränderungen sind keineswegs allein dadurch zu begründen, dass das Spanische ›mächtiger‹ war. Vielmehr sind sie in einem Kontext von sprachlichen Ideologien zu betrachten, die bis hinein in semiotische Aspekte und Fragen symbolischer Repräsentation reichen. Im Quechua ist bereits in der Sprachstruktur ein hoher Grad an Ambivalenz möglich. Die Bedeutung einzelner Lexeme wird meist erst durch das Anfügen von Suffixen und in ihrer Verwendung im Kontext konkret, und semantische Paare können jeweils unterschiedliche Aspekte eines Konzeptes (beispielsweise der Seele oder der Schöpfung) bezeichnen. Der Ausschließlichkeitsanspruch der Missionare hat dazu geführt, dass sie das ambivalente Potential bestimmter Begrifflichkeiten im Quechua nicht sehen wollten oder konnten, sondern stattdessen versuchten, Bedeutungen festzuschreiben, zu standardisieren und unerwünschte Konnotationen zu vermeiden. Sprache wurde nicht nur als Mittel verstanden, Verständigung herzustellen, sondern auch als Instrument, das Denken und die Vorstellungen der Missionierten in eine bestimmte Richtung zu lenken. So waren sich die Missionare der sakralen Komponente des Wortes »huaca« sehr wohl bewusst und ihre Strategie zielte daher darauf ab, die Verehrung der Kultobjekte zu unterbinden, indem sie diese entweder zerstörten oder ihnen ihre Macht und ihre göttlichen Eigenschaften absprachen. Der Unterschied zur christlichen Heiligenverehrung wurde dabei auf einer rein semiotischen Ebene festgelegt. Im Gegensatz zu den Kultobjekten der Indianer wären die Heiligenbilder nicht die Heiligen selbst, sondern würden diese lediglich repräsentieren: »Sie wohnen nicht in den Bildern, sondern diese sind nur etwas, das so aussieht wie jene. Wenn man die Bilder ansieht, denken sie an den Himmel, wo Jesus wohnt und die Heiligen [...]. Früher haben eure Vorfahren und ihr eure »huacas« nicht auf dieselbe Weise verehrt. Wenn man eure »huaca« weggeworfen hat, habt ihr gesagt ›man nimmt mir meinen Gott weg‹ und habt geweint« (eigene Übersetzung aus dem Tercero Catecismo in Taylor 2003: 106-109).
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Entmachtung, Dämonisierung und Instrumentalisierung andiner Glaubensvorstellungen war es, das den kolonialzeitlichen Übersetzungsprozess entscheidend geprägt und zu Re261
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semantisierungen und Umdeutungen geführt hat, die bis heute fortdauern. Auch die Reaktionen und Umdeutungen der indigenen Bevölkerung sind nicht nur als Widerstand gegen die Missionierung zu verstehen, sondern auch im Kontext ihrer Wirklichkeitsauffassung zu betrachten. Da es außer dem Huarochirí-Manuskript jedoch kaum schriftliche Aufzeichnungen von der damaligen Oraltradition und mündlichen Praxis der Katechese gibt, kann man heute jedoch nur sehr schwer nachvollziehen, auf welche Weise die andine Bevölkerung die neue Sprache, Kultur und Religion aufgenommen hat. Dass sie am Verständigungsprozess aktiv beteiligt waren, steht jedoch außer Frage. Erst dadurch konnte es zu ambivalenten Interpretationen und Umdeutungen kommen. In einigen Regionen beispielsweise wird noch heute das Wort ánima in Zusammenhang mit andinen Vorstellungen verwendet, so dass Perroud/Chouvenc (1970) in ihrem Wörterbuch dazu raten, lieber alma zu verwenden, wenn über die christliche Seelenvorstellung gesprochen werde (»Tratándose de la salvación es preferible emplear alma«).
Schlussfolgerungen Wie die Beispiele gezeigt haben, muss eine ethnologische Theorie der Übersetzung als kulturelle Praxis in Bezug auf die kolonialzeitlichen Texte über die Ebene einzelner Konzepte und Begrifflichkeiten hinausgehen. Der kulturelle Kontext erstreckt sich dabei nicht nur auf mit einem Begriff verbundene Praktiken, Vorstellungen und Weltbilder, sondern auch auf pragmatische und kommunikative Aspekte, wobei unterschiedliche Diskurssysteme und Formen symbolischer Repräsentation zu jeweils unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen führen können. Die kolonialzeitlichen Missionare sind bei ihren Übersetzungsbemühungen nicht allein an den unterschiedlichen kulturellen Kontexten selbst oder am Nicht-Vorhandensein von Äquivalenten gescheitert, sondern vor allem daran, dass die Sprachen und Diskurstraditionen, mit denen sie es zu tun hatten, teilweise anders funktionierten als die eigenen. Während sie selbst vor allem die Schrifttraditionen und deren universalistischen Charakter betonten und nach möglichst verbindlichen und eindeutigen Übersetzungen suchten, konnte die andine Bevölkerung häufig Fremdes in ihre Sprache und Vorstellungswelt integrieren, d.h. Dinge nebeneinander zulassen, die sich gegenseitig ergänzen. So war es in den andinen Gesellschaften nicht nur grundsätzlich möglich, neue Götter und mythische Traditionen in ihr Weltbild aufzunehmen, sondern auch unterschiedliche Begrifflichkeiten und Diskurstraditionen. Eine verbindliche Terminologie festlegen zu wollen, war daher von Anfang an mit kommunikati-
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ven Problemen behaftet. Darüber hinaus hatte die indigene Bevölkerung ihre eigenen Formen der Weitergabe von Wissen und der Kommunikation mit der übernatürlichen Welt, wie etwa im Mythos, in oralen Traditionen oder in Gesängen. Zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart verdeutlichen, wie in diesen unterschiedliche Traditionen miteinander verknüpft und vor dem Hintergrund der andinen Weltsicht neu interpretiert wurden. Auch in der Oraltradition und in gegenwärtigen Katechesediskursen stellt sich Übersetzung als dynamischer Prozess dar, der auch Formen der Aneignung christlicher Diskurstraditionen von Seiten der andinen Bevölkerung repräsentiert.
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D E R E I N S A T Z D I S K U R S I V E R T R AD I T I O N E N I N D E R »P R I M E R N U E V A C O R Ó N I C A Y B U E N G O B I E R N O « (1615) MARET KELLER »Ich habe mich bemüht, hierfür die wahrhaftigsten Berichte zu erhalten, die mir erreichbar waren, um das Wesentliche von jenen Personen zu übernehmen. Obwohl man mir jene Berichte aus verschiedenen Gebieten brachte, wurden schließlich alle entsprechend der am allgemeinsten anerkannten Meinung zusammengefasst.«1
Die Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno, ein im Jahre 1615 in Peru beendetes Manuskript von 1189 Seiten, ist ein wunderliches Werk. Obschon optisch einheitlich gestaltet, ist es inhaltlich und stilistisch überaus heterogen. Das einzig bekannte Werk des indigenen Autors Felipe Guaman Poma de Ayala ist auf Spanisch verfasst, beinhaltet jedoch Passagen auf Quechua, Latein und Aymara, sowie 398 ganzseitige Zeichnungen. Der Autor richtet seine Schrift vor allem an das ferne Oberhaupt Perus, Philipp III., König von Spanien. Die Corónica wendet sich aber auch an die Vielzahl der gesellschaftlichen Akteure und Bewohner des Vizekönigreichs, die sie detailliert beschreibt. Die Besonderheit dieses Werkes wird durch die Bezeichnung als »indigene Chronik« (vgl. Porras Barrenechea 1986 [1945]) angedeutet, aber nicht erklärt. Der vorliegende Beitrag wesentliche Aspekte meiner Diplomarbeit (2007, unveröffentlicht) auf. Sie handelt »Von der Kunst sich verständlich zu machen«, und untersucht die »Diskursive[n] Traditionen Europas und der Andenregion in der kolonialzeitlichen Schrift ›El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno‹ von Felipe Guaman Poma de Ayala«. Ziel war es, den Text aus den kommunikativen Praktiken seiner Zeit heraus zu begreifen und dabei die Techniken zu untersuchen, mit denen hier Verständnis ›erzeugt‹ werden sollte. Das Konzept der diskursiven Traditionen erwies sich als geeignet für die Beschreibung und Erklärung der 1
Kommentar Poma de Ayalas zu seiner Arbeitsweise (2004 [1615]: 10). 265
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charakteristischen Eigenheiten des Werkes. Mit Hilfe dieser Perspektive ließen sich auch die verfügbaren und tatsächlich angewandten Vorbilder feststellen und ihr Einsatz bewerten. Die Corónica wurde im Jahre 1908 in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen entdeckt und 1936 erstmals publiziert, doch erst die Studien Rolena Adornos (z.B. 1978, 1984) weckten ein breites wissenschaftliches Interesse. Adorno untersuchte die schriftlichen europäischen Vorbilder, sowie den in den Zeichnungen enthaltenen typisch andinen Raumsymbolismus, der das Gezeigte anhand seiner absoluten und relativen Position innerhalb des Bildes bewertet. Im Laufe der Zeit erfuhr die Corónica zahlreiche Aus- und Umdeutungen: Ihrem Titel und Aussagen im Text zufolge sollte sie als »erste neue« Chronik und als Anleitung für die »Gute Regierung« dienen. Sie galt nun zunächst als ›schlecht geschriebene‹ faktisch teilweise falsche Geschichtsschreibung (vgl. z.B. Porras Barrenechea (1986 [1945]), wurde in der Folge aber auch als authentische Quelle indigener Kultur, als die letzte indigene oder als die erste amerikanische Literatur bezeichnet (vgl. z.B. Ross 1996). Unstrittig ist, dass die Corónica ein wertvolles Beispiel für die Rezeption der Conquista und der Europäer durch den indigenen Menschen darstellt. Sie dokumentiert das Bemühen des Autors um politische Teilhabe und seinen Versuch, sich, seine Kultur und sein Rechtsempfinden einem europäischen Publikum verständlich zu machen. In der historischen Person Poma de Ayalas treffen sich Einflüsse der vorspanischen andinen Kulturen der Yarovilca und Inka, und der Spanier. Es wurde nun untersucht, in welche Traditionen er seine Corónica stellte, stellen wollte oder stellen musste.
Diskursive Traditionen Die sprachwissenschaftliche Betrachtung der diskursiven Traditionen geht auf Ansätze Coserius (1981) zurück. Sie geht davon aus, dass jede sprachliche Äußerung nicht nur von den Normen der jeweiligen Einzelsprache beeinflusst ist, sondern unweigerlich auch von den traditionellen »Formen« des Sprechens und Schreibens. Diese »Genres« oder »Textgestalten«, die sich im Laufe der Zeit entwickeln, sich formen und verschwinden, existieren oftmals auch über Sprachgrenzen hinweg (vgl. Jungbluth 2006: 54). Besitzt nun ein Text bestimmte charakteristische Merkmale, so wird er vom Leser oder Hörer als zu der betreffenden Tradition gehörend begriffen. Die Nutzung diskursiver Traditionen lässt also Rückschlüsse auf die Aussageabsicht des Urhebers, auf die Finalität des Textes zu. Mein Projekt zielte demzufolge auf die intendierte und die tat-
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sächliche Verortung der Corónica in den Diskurstraditionen ihrer Zeit (vgl. dazu Oesterreicher 2001). Von den europäischen Traditionen wurden im Rahmen des Projekts vor allem Chronik und Fürstenspiegel betrachtet. In diese Traditionen stellt Poma de Ayala sein Werk sowohl durch die Titelgebung als auch durch metasprachliche Anmerkungen innerhalb des Textes. Für ein profundes Verständnis der Corónica wären sicher auch die Traditionen bildlicher Darstellungen zu untersuchen. Mangels andinen Quellenmaterials wurde hier lediglich die Sekundärliteratur zum Symbolismus der Zeichnungen Poma de Ayalas vorgestellt und der europäische Einsatz von Bildern in der Christianisierung und in der Buchmalerei der Zeit skizziert. Da die andine Kultur kein sprachabbildendes Notationssystem nutzte, sind ihre textuellen Praktiken nicht als solche dokumentiert. Bei der Darstellung andiner diskursiver Traditionen wurde daher vor allem auf die Funktionsweise der Übertragungstechniken eingegangen, welche die sprachliche Realisation vorstrukturiert haben mögen. Am Bedeutsamsten sind hier vor allem die Tocapus genannten viereckigen Gewebemuster, die zumindest den Status des Trägers verdeutlichten, und die Knotenschnüre, Quipus, in denen numerische, eventuell auch qualitative Information kodiert waren (vgl. Prada Ramirez 1994). Anhand exemplarischer Textstellen wurden Gliederung, Überschriften, Syntax und Lexik linguistisch beschrieben und analysiert. Die Beschäftigung mit der Semantik führte zu einer Betrachtung der Argumentationsverläufe, die der kritischen Diskursanalyse nahe steht. Auch explizit erwähnte Quellen und Einflüsse sowie Methoden der Leserlenkung wurden untersucht.
Befunde In der Schrift des andinen Autors Felipe Guaman Poma de Ayala zeigt sich exemplarisch die Reaktion eines ›Indios‹ auf die europäischen Zuschreibungen von Identität. Explizite Bezüge in Text und Bild, aber auch die Analyse der diskursiven Traditionen bezeugen Poma de Ayalas profunde Kenntnisse bezüglich Konventionen und Funktionsweisen verschiedener andiner und europäischer Kommunikationsmedien und -praktiken. Der Autor orientiert sich an der europäischen Norm. Abweichungen davon sind durch Interferenzen, nicht durch Unkenntnis, begründet. Offensichtlich stellt bereits die Verwendung der Medien Papier und Tinte sowie der Notationssysteme Alphabetschrift und Zeichnung eine Anpassung an die Rezeptionsgewohnheiten der neuen Machthaber und
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primären Adressaten der Schrift dar. Die starke Gliederung und Hierarchisierung der Inhalte erinnert an die Strukturierung der Quipus. Die explizite Gliederung widerspricht nicht europäischen Gepflogenheiten, ihre Nutzung für die Integration verschiedener Themen und Genres ist jedoch ungewöhnlich. Das Werk zeigt eine hohe Frequenz konventionell eingesetzter juristischer und religiöser Fachtermini, wie man sie von einem christianisierten Schreiber und Übersetzer erwarten würde, als der sich der Autor auch bezeichnet. Die chronologische Gliederung der Inhalte erfüllt das Hauptcharakteristikum der europäischen Chronik. Die vielen Aufzählungen und eine wenig variantenreiche Syntax lassen wiederum an die Inventarfunktion der Quipus denken. Die Finalität der Schrift entspricht der des Fürstenspiegels, soll sie doch der Beratung politischer Entscheidungsträger dienen. Vor Ankunft der Spanier wurde diese Funktion im Andengebiet von persönlich anwesenden Beratern erfüllt. Poma de Ayala inszeniert nun in seinem Text die Figur des Autors als Zeuge, manchmal als Hauptperson der Handlung, was ihm erlaubt, den königlichen Leser bzw. die verschiedenen Adressatengruppen explizit ›anzusprechen‹. Hinweise auf einen Widerspruch zwischen Aussagen des Textes und der durch Konnotationen und Raumsymbolismus ermöglichten bzw. unvermeidlichen Bewertung des bildlich Dargestellten fanden sich nicht. Die diskursanalytische Betrachtung von Darstellung und Bewertung andiner und spanischer Handlungsweisen und Charakterzüge zeigt die durchgehende Verwendung europäischer Kategorien, die allerdings spezifische Modifikationen erfahren: Zwar sind die Indigenen »Barbaren«, doch Barbaren sind friedliche Unwissende (vgl. z.B. Poma de Ayala 2004 [1615]: 211 [213]). Es gibt »Tyrannen«, doch werden niemals die ehemaligen inkaischen Machthaber, sondern nur königsuntreue Spanier als solche bezeichnet (vgl. Poma de Ayala, 2004 [1615]: 413 [415], 422 [424]). Die Argumentation Poma de Ayalas ist darauf angelegt, dem Verhalten der Spanier die rechtlich-religiöse Legitimation zu entziehen, die viele spanische Theoretiker als gegeben sahen. Die Argumentationsstrukturen decken sich mit denen pro-indigener Schriften (vgl. z.B. las Casas 1994 [1563]), die in Peru bekannt gewesen sein dürften, jedoch mit keinem Wort erwähnt werden. Diese Nicht-Nennung muss meines Erachtens nicht als Versuch verstanden werden, die Zensur zu vermeiden, sondern könnte durch die Absicht begründet sein, mit der eigenen, im Text aufgebauten Autorität die Richtigkeit der Behauptungen las Casas2 durch seinen ›unabhängigen‹ Bericht zu ›beweisen‹.
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Diese besagten im Wesentlichen, dass die ›Indios‹ niemals Christen angegriffen hätten, unter rechtmäßiger Regierung lebten und die Evangelisie268
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Poma de Ayala ist Übersetzer von Beruf und Botschafter aus Berufung. In seiner Schrift nutzt er virtuos den Interpretations- und Verhandlungsspielraum, den dieses Amt in Verbindung mit diesem Medium zu bieten vermag. In der Nutzung europäischer diskursiver Traditionen und Kategorien selbst, aber auch in den charakteristischen Modifikationen von Definitionen und Zuschreibungen zeigt sich der immanent politische Charakter der Schrift. Das Werk soll seine Leser zur Etablierung und Einhaltung klarer sozialer Grenzen und Umverteilung der Autorität zugunsten der einheimischen Bevölkerung bewegen. Der Autor versucht den Eindruck der Parteilichkeit zu vermeiden. Er erhebt den Anspruch, die ›wahre‹ Geschichte der präkolumbischen Gesellschaft der Andenregion und die ›wahren‹ Zustände in der kolonialen Gesellschaft zu beschreiben. Seine Bewertung legitimiert sich durch die Messung an einem abstrakten und allgemeingültigen, mithin ›einzig wahren‹ Ordnungsprinzip: Die reale gesellschaftliche Etablierung der im letzten Abschnitt seiner Schrift virtuell vorweggenommenen neuen Ordnung sei im Interesse aller Beteiligten.
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KONTROVERSE GESCHICHTSBILDER: M A R I O V A R G A S L L O S A S S T R A T EG I E F I K T I O N AL E R ERINNERUNGSPOLITIK KORA BAUMBACH Mario Vargas Llosa, 1936 in Peru geboren und mit mehreren renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, gehört zu den angesehensten und engagiertesten Intellektuellen Lateinamerikas. In seinem 1984 erschienenen Roman Historia de Mayta (dt. Maytas Geschichte) verhandelt er politische und soziale Zusammenhänge in einem literarischen Kontext, fordert dieses Mal allerdings ob seiner politischen Botschaft sowohl vehemente Rezensenten- als auch enragierte literaturwissenschaftliche Kritik heraus. Welche Botschaft transportiert der Roman, dass er – als fiktionales Konstrukt entworfen – solch harsche Kritik heraufbeschwört? Welche fiktionalen Erinnerungsbilder entwirft Vargas Llosa und welche expliziten wie auch impliziten Geschichtsbilder liegen dem zugrunde? Wie hängen, sieht sich doch der Autor gerade mit dezidiert politischen Vorwürfen konfrontiert, literarischer und politischer Diskurs zusammen?
D i e h i st o r i s c h - p o l i ti sc h e n H i n t e r g r ü n d e i n Peru und ihre fiktionale Ausarbeitung Es sind zwei realgeschichtliche Kontexte, die für das Verständnis des Romans von zentraler Bedeutung sind: Die peruanischen Revolutionsversuche der 1960er Jahre zum Einen, die Etablierung des Sendero Luminoso (›Leuchtender Pfad‹) und die staatlich-militärische Reaktion zum Anderen. Den realgeschichtlichen Ausgangspunkt für die historische Erzählebene bildet die Regierungsphase Manuel Prado y Ugarteches, der aus den Wahlen 1956 als Sieger hervorging. Er brachte Peru zwar durch die Legalisierung der Kommunistischen Partei und der sozialdemokratischen APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) wieder auf einen demokratischen Weg; nichtsdestotrotz hatte Peru aufgrund ungerechter Landverteilung und Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft, Landflucht und daraus resultierender Verschärfung der Armut schwere soziale Miss271
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stände zu beklagen (vgl. Oertzen/Goedeking 2004: 83). Im zentralen Hochland, in den departamentos Pasco und Junín, kam es daher zu bäuerlichem Widerstand in Form von Landbesetzungen. Auch wenn die Bauern nach vier Jahren die beanspruchten Ländereien erkämpfen konnten, blieb die dringend nötige Agrarreform aus. Bereits 1951 war südöstlich von Cusco eine breite Bauernbewegung entstanden, die sich 1960 unter dem Einfluss des trotzkistischen Studenten Hugo Blanco radikalisierte, aber nach nur drei Jahren zerschlagen wurde (vgl. Oertzen/ Goedeking 2004: 83f). Dieser erste Aufstandsversuch um Hugo Blanco inspirierte auch radikalere, Kuba-orientierte Gruppen.1 Für die sukzessiv gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen spielte das Gelingen der kubanischen Revolution die entscheidende Rolle: Die Opposition sah sich motiviert, Kuba, dem Realität gewordenen Ideal eines geglückten Umsturzes, nachzueifern. Einen zweiten Ansatzpunkt für die Erzählgegenwart des Romans liefert der Kampf des Sendero Luminoso, einer terroristischen Gruppierung, die sich auf den Marxismus beruft. Von Abimael Guzmán 1970 an der Universität von Ayacucho, einer Provinz in den Zentralanden, gegründet, nimmt sie 1980 von dort ihren Weg und vermag es, sich bald über weite Teile des Landes auszubreiten. Ihre Radikalität und Gewalttätigkeit rufen nicht nur das brutal reagierende peruanische Militär, sondern auch aufgrund der ab etwa der Mitte der 1980er Jahre eingegangenen Allianz mit den Drogenhändlern nordamerikanische Unterstützung für das Militär auf den Plan (vgl. Oertzen/Goedeking 2004: 98ff). Die peruanische Wahrheitskommission von 2003 beziffert die Zahl der Toten auf etwa 70.000, die der Exilierten auf ungefähr eine Million (zur peruanischen Wahrheitskommission und ihren Ergebnissen vgl. Lerner Febres/Sayer 2008). Historia de Mayta erzählt die Geschichte des Trotzkisten Alejandro Mayta und verschränkt dabei eine historische und eine zeitgenössische Erzählebene: Zum Einen spürt der Erzähler ihm in der Erzählgegenwart des Romans, dem Peru des Jahres 1983, nach, das gerade in einem Bür1
Es sind dies vor allem: 1. MIR (Movimiento de la Izquierda Revolucionaria/Bewegung der revolutionären Linken) unter Luis Felipe de la Puente Uceda, die in Cusco operierte und 1965 durch das Militär niedergeschlagen wurde; 2. Túpac Amaru (nicht identisch mit der späteren MRTA, Movimiento Revolucionario Tupac Amaru) unter Guillermo Lobatón, die in Junín kämpfte und die 1966 das gleiche Schicksal wie die MIR ereilte; 3. das Castro-nahe ELN (Ejército de la Liberación Nacional/Nationale Befreiungsarmee), das 1962 von Héctor Béjar Rivera und Javier Heraud gegründet und 1966 in Ayacucho geschlagen wurde. 272
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gerkrieg, der sich zu einem Stellvertreterkrieg beider geopolitischer Machtblöcke auswächst, versinkt. Mit Hilfe von Zeugenaussagen, Zeitungsberichten und einer Reise auf den Spuren des Revolutionärs tastet sich der Erzähler an Mayta heran und versucht, sich ein Bild des Menschen zu machen, der – so die zweite, historische Erzählebene – 25 Jahre zuvor beabsichtigte, in Peru eine sozialistische Revolution zu initiieren. Von Jauja aus, einer Stadt der Andenprovinz Junín, wollte er sie auf das gesamte Land ausdehnen. Doch dieser Versuch, den Vargas Llosa abweichend von der historischen Vorlage um vier Jahre vordatiert, scheiterte. Damit kehrt Vargas Llosa die Chronologie von geglückter kubanischer und misslungener Jaujaer Revolution um, ein, wie ich noch zeigen werde, wichtiger Eingriff. Das Geschehen kulminiert am Ende in der Begegnung des Erzählers mit dem ›realen‹ Mayta. Nach einem Jahr der Recherche muss der Erzähler sich eingestehen, dass die mäandernden Zeugenaussagen, in denen sich immer mehr Geschichte und aktuelle Ereignisse, subjektive Einschätzungen, eigene Interessenslagen und Projektionen vermischen, sowohl ihm selbst als auch dem Leser die ›wahren‹ Begebenheiten immer mehr entzogen haben. Von Beginn des discours an verknüpft der Erzähler Maytas Revolutionsversuch mit der gegenwärtigen Gewalt seines Landes und interpretiert ihn als den Anfang einer Gewaltspirale, die in der apokalyptischen Situation Perus ihren Höhepunkt findet. Eben diese Geschichtsdeutung ist für die politische Kritik Stein des Anstoßes.
Moralische Vorwürfe und ästhetische A n sp r ü c h e Mario Vargas Llosa gibt sich in seinem Vortragsband Die Wirklichkeit des Schriftstellers, der erstmals 1991 erscheint, überrascht, dass die Rezeption seines Romans als »politisches Statement« der eigenen Intention, keineswegs »ein politisches Buch« konzipiert zu haben (Vargas Llosa 2003: 174), so zuwider gelaufen sei. Diesem Rechtfertigungsversuch hält Sabine Köllmann, die sich wiederum über Vargas Llosas Erstaunen wundert, entgegen: »Das Schreiben über das Schreiben, das Vargas Llosa im nachhinein in den Vordergrund des Romans […] rücken möchte, macht sich schliesslich [sic] nicht zufällig an einem brisanten politischen Thema, der revolutionären Gewalt und ihren Folgen, fest, das den Autor auch in seinen essayistischen Texten beschäftigt […]« (Köllmann 1996: 222f).
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Roman und Rechtfertigungsversuch erscheinen in einer Zeit, in der Terror und Reaktion auf diesen das Land zerreißen und ein immer weiter ansteigendes Maß an Gewalt perpetuieren. Der politische Zustand Perus ähnelt erschreckend dem eines Bürgerkriegs. In einer politisch so aufgeheizten Situation kann sich ein politischer Autor kaum auf die nichtpolitisch gemeinte Intention seines fiktionalen Textes zurückziehen. Der Ansicht, mit dem zehnten Kapitel des Buches2 die literarischen zu Ungunsten aller politischer Elemente betont zu haben, folgen nur wenige Rezensenten oder Literaturwissenschaftler; Historia de Mayta ist zumeist unter politischen Gesichtspunkten als Angriff gegen bzw. als Abrechnung mit der lateinamerikanischen Linken gelesen worden.3 Das erklärt sich auch daraus, dass einige Rezensenten den Erzähler des Romans mit dessen Autor identifizierten (vgl. z.B. Böhringer 1985: 114) und Vargas Llosas frappierend veränderte politische Auffassung dem Vorschub leistete. Seinen Weg als Intellektueller mit sozialer Verantwortung, als »Verfechter sozialistischer Ideen und Bewunderer der kubanischen Revolution zum Verteidiger der Freiheit in allen Gesellschaften, vor allem aber den sozialistischen« (Köllmann 1996: 49), zeichnet Köllmann anhand Vargas Llosas genuin politischer Äußerungen präzise nach. Eine Zäsur bilden dabei die Jahre 1968 bis 1972, die seine »Desillusionierung über das kubanische Modell« (ebd.) zeigen, angefangen mit seiner Kritik an Castros Verteidigung des sowjetischen Einmarschs in der ČSSR 1968 bis zum Caso Padilla.4 »Seine politische Haltung wird im2
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Im zehnten Kapitel trifft der Erzähler den ›realen‹ Mayta, um ihn zu interviewen und seine Sicht der Ereignisse zu erfahren. Während des Gesprächs erfährt der Leser, dass die Darstellungen der vorangegangenen neun Kapitel einzig der Phantasie des Erzählers entspringen und in manchen Punkten nicht mit der Geschichte des Mayta des zehnten Kapitels übereinstimmen. Vgl. dazu beispielsweise Scheerer, der den Bezug auf die politische Botschaft mit Aussagen Vargas Llosas in seinen Interviews gerechtfertigt sieht (Scheerer 1991: 132). Selbst Reisz de Rivarola, die gerade nicht die politische Komponente in den Vordergrund rückt, macht Vargas Llosa für diese Rezeption durch seine Kaprizierung auf die Politik in den Interviews mit verantwortlich (Reisz de Rivarola 1987: 836). Der kubanische Lyriker Herberto Padilla provozierte mit seinem Band Fuera del Juego (dt.: Außerhalb des Spiels) von 1968 die Kritik der kubanischen Regierung: Nach seiner Inhaftierung unterzog er sich der Selbstkritik und wanderte danach in die USA aus. Im Anschluss an die Inhaftierung erging auf Betreiben Vargas Llosas, Juan und Luis Goytisolos, José María Castellets und Hans Magnus Enzensbergers ein Protestschreiben mit der Unterschrift weiterer namhafter Literaten an Castro, das von den kubanischen Massenmedien mit dem Vorwurf antisozialistischer Kampagnen beantwortet wurde. Der Caso Padilla markiere den Punkt, wie in der Sep274
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mer deutlicher die eines Liberalen […]« (Köllmann 1996: 50ff). Auch Hermann Herlinghaus widmet sich Vargas Llosas Abkehr vom Sozialismus: »Die Auseinandersetzung mit Idee und Praxis der sozialen Revolution in Lateinamerika wurde prägend für Vargas Llosas Auffassung von der Welt. An ihrem Beginn stand das Nachdenken über Alternativen zur latenten Misere auf dem Subkontinent […]. Die Mahnungen, das künstlerische Schaffen nicht seiner ›natürlichen‹ Ambivalenz zu berauben, hatte Vargas Llosa einst unter die Prämisse revolutionärer Haltung gestellt. Das Alternativdenken des Schriftstellers entwickelte jedoch in der Konsequenz zunehmenden Rigorismus, eine Logik der Selbstautorisation des kritisch eingestellten Künstlers, die […] schließlich in eine revolutionsfeindliche, den sozialen Vorgängen gegenüber seltsam unbewegliche Apologie mündete« (Herlinghaus 1992: 132).5
Dem Unmut über seine politische Neuorientierung und die damit einhergehende Schlagkraft solcher Anschuldigungen scheint Vargas Llosa mit seinem Aufsatz »Die Kunst der Lüge« begegnen zu wollen. Hier definiert er das dichotome Begriffspaar von Wahrheit und Lüge in seiner spezifischen Beziehung zum Roman gerade ohne moralischen Impetus. Die Wahrheit eines Romans hänge vielmehr ab »[v]on seiner eigenen Überzeugungskraft, von der kommunikativen Potenz seiner Phantasie, von der Geschicktheit seiner Magie. […] Denn ›die Wahrheit sagen‹ heißt für einen Roman, den Leser eine Illusion erleben lassen, und ›lügen‹ heißt, unfähig sein zu dieser Simulierung. Der Roman ist mithin ein amoralisches Genre oder, besser gesagt, ein Genre mit einer Ethik sui generis, für die Wahrheit oder Lüge ausschließlich ästhetische Kategorien sind« (Vargas Llosa 1988: 230).
Auch wenn die Literaturkritik, die sich moralischer Maßstäbe bedient, auf einer anderen Ebene als der peruanische Schriftsteller argumentiert, der die Begriffe einer rein ästhetischen Kategorie zuordnet, läuft der moralische Vorwurf an Vargas Llosa, mit Historia de Mayta sowohl politi-
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temberausgabe 2000 von CubaNet zu lesen ist, an dem die westliche Intelligenz und das Regime Castros begannen, getrennte Wege zu gehen (vgl. ohne Namen 2000; zu Vargas Llosas Standpunkt zum Fall Padilla vgl. Herlinghaus 1992: 129ff). Ebenso wie Köllmann und Herlinghaus rekurriert Williams in seiner Darstellung von Vargas Llosas politischem Werdegang auf Essays der 1960er Jahre (Williams 1986: 14f). Vgl. auch Gerdes (Gerdes 1985: 10ff) oder Rowe, der die Anfänge, die Vargas Llosa zum Bruch mit Castro veranlassen, bereits in früheren Schriften definiert sieht (Rowe 1992: 45ff). 275
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sche als auch historische Geschichtsklitterung zu betreiben, nur scheinbar ins Leere, denn Vargas Llosa selbst ist es, der jene neu entstandene fiktive Realität wieder an die realen Gegebenheiten zurückbindet (vgl. Vargas Llosa 1988: 230). Auch wenn er der Literatur ein hohes Maß an Freiraum zugesteht – denn ihre Wahrheiten seien immer nur subjektive und somit relative Wahrheiten, die mitunter flagrante Ungenauigkeiten oder sogar geschichtliche Lügen darstellten –, habe sie ihren Ausgangspunkt doch in der Erinnerung des Schriftstellers, die reale Ereignisse referiert. Literatur schöpfe ihre große Bedeutung aus eben jenen subjektiven und relativen Wahrheiten, in denen ihre eigentliche Funktion versteckt liege: Indem der Autor eine Geschichte mit Hilfe von Übertreibungen oder gar Lügen erzähle, gelinge es ihm, eine tiefer verborgen liegende und nur so zutage zu hebende Wahrheit – die die Geschichte der Historiker weder kennt noch zu erzählen vermag – zu zeigen (vgl. ebd.: 231). Mario Vargas Llosa besteht darauf, dass es innerhalb der Literatur keine Lügen geben kann, weil die Literatur sui generis als Fiktion, als Lüge bezeichnet werden muss. Im Versuch, Romane von einer moralischen und politischen Verantwortung durch den kategorialen Wechsel zu ästhetischen Maßstäben freizusprechen, benutzt er jedoch selbst wieder jene Maßstäbe, die er zu überwinden hoffte: »In der Tat lügen die Romane – sie können auch gar nicht anders –, aber dies ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere Teil besteht darin, daß sie mit ihrer Lüge eine eigentümliche Wahrheit ausdrücken, die nur verborgen und verdeckt ausgedrückt werden kann, verkleidet als etwas, das sie nicht ist. […] Im Keim jedes Romans liegt ein Stück Nonkonformismus und ein unerfüllter Wunsch« (Vargas Llosa 1988: 225f).
Auf diese eingeschlossene und verborgene Wahrheit haben Literaturkritik und Literaturwissenschaft Vargas Llosa festzumachen versucht und die Verknüpfung von ästhetischer und moralischer Kategorie neu hergestellt. Schwalb kommt in seinen Ausführungen zum Schluss, dass die Taktik Vargas Llosas, wiederholt die fiktive Natur des Erzählten zu betonen und auf diesem Weg die politische Konnotation zu neutralisieren, so nicht funktioniere. Denn auch wenn er Wahrheit und Lüge einzig von der Qualität des Textes im Moment der Lektüre abhängig mache, evoziere er doch zwangsläufig Korrespondenzen zwischen der fiktiven Welt des Romans und der peruanischen Realität. Er müsse sich also nicht wundern, wenn Maytas Geschichte weniger phantastisch als von ihm beabsichtigt rezipiert werde (vgl. Schwalb 2000: 201f). Die Verbindung erfolgt einerseits über das nicht unbeträchtliche Wiedererkennungspotenzial der geographisch-politischen Aktualisierungen des Romans, anderer-
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seits über die Problematik, inwiefern Literatur als fiktionales Gegenkonzept zur Wirklichkeit6 Auswirkungen auf diese reale Welt hat.
Z u r V e r a n tw o r tu n g d e s S c h r i f ts t e l l e r s »Natürlich ist diese Auflehnung relativ. Viele Geschichtenerzähler […] fühlen […] sich keineswegs als heimliche Sprengmeister der Welt, in der sie leben. Andererseits handelt es sich um einen ziemlich friedvollen Protest, denn welcher Schaden entsteht dem realen Leben schon, wenn man ihm das nicht greifbare Leben der fiktiven Literatur entgegensetzt? Welche Gefahr birgt diese Konkurrenz? Auf den ersten Blick: keine. Es handelt sich doch um ein Spiel, nicht wahr? Und Spiele sind gewöhnlich nicht gefährlich, solange sie ihr Terrain nicht überschreiten und sich nicht in das reale Leben einmischen« (Vargas Llosa 2004: 14).
Aber gerade in der vermeintlichen Harmlosigkeit von Literatur liege der fatale Irrtum: »Das literarische Spiel ist nicht harmlos. Die fiktive Literatur entsteht aus tiefster Unzufriedenheit mit dem wirklichen Leben und kann gleichzeitig wiederum Quelle von Unruhe und Unzufriedenheit sein. Wer dank der Literatur eine große Fiktion lebt […], kehrt in das wirkliche Leben sehr viel sensibilisierter für dessen Beschränkungen und Unvollkommenheiten zurück […]. Diese Unruhe, welche gute Literatur gegenüber der Realität erzeugt, übersetzt sich unter bestimmten Umständen auch in Auflehnung gegen Autoritäten, Institutionen oder den herrschenden Glauben« (Vargas Llosa 2004: 14).
Als der Erzähler des Romans die Schwester Vallejos’, des zweiten Revolutionärs neben Mayta, besucht, diskutieren sie die Frage nach der Notwendigkeit von Literatur. Angesichts der prekären Lebensbedingungen ist der Erzähler versucht, sich der Resignation, was Literatur überhaupt auszurichten vermag, hinzugeben, fasst jedoch wieder Mut: »Ein schlechter Gedanke. Denn wenn auch ich mich […] von Verzweiflung packen lasse, werde ich diesen Roman nicht schreiben. Und damit wird nie6
»Die fiktive Literatur ist eine Lüge, die eine tiefe Wahrheit verbirgt; sie ist das Leben, das es nicht gab, das Männer und Frauen einer bestimmten Epoche führen wollten und nicht konnten und deshalb erfinden mußten. Sie ist kein historisches Abbild, sondern eher ihr Gegenbild; das, was nicht geschah, was genau deshalb mit Phantasie und Worten erfunden werden mußte, um die Sehnsucht zu lindern, die das wirkliche Leben nicht befriedigen konnte […]« (Vargas Llosa 2004: 13). 277
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mandem geholfen sein. Ein Roman ist etwas, so vergänglich er auch sein mag, die Verzweiflung aber ist nichts« (Vargas Llosa 1989: 97).
Implizit hält der Erzähler der Resignation seiner Landsleute entgegen, was er ihnen explizit auf die ihm häufig entweder mit Erstaunen oder Unverständnis gestellte Frage: »Wie können Sie nur Romane schreiben mitten in diesem Alptraum?« (Vargas Llosa 1989: 160) antwortet: die Sinnhaftigkeit von Literatur. Romanimmanent folgt Vargas Llosa damit seiner These vom Auflehnungspotenzial guter Literatur. Der Erzähler stellt den Roman, an dem er arbeitet, der apokalyptischen Gegenwartssituation entgegen; er will ihn als Trost, als Sinn gebendes Konstrukt wahrnehmen (vgl. Vargas Llosa 1989: 169). Der Sinn von Literatur – gerade unter solch furchtbaren Bedingungen – erschöpft sich aber nicht in einer reinen Kompensationsfunktion einer unbefriedigenden oder beängstigenden Realität gegenüber. Vargas Llosa hat oft genug die Erklärungsfunktion von Literatur hervorgehoben: Die reale Gegebenheit erfährt durch die Fiktionalisierung eine zweistufige Strukturierung. Ihre erste tiefgreifende Veränderung liege im Übergang vom Geschehenen ins Geschriebene. In einem zweiten Schritt organisiere sie das Leben. Sie entwickle mit der Fiktion ein Trugbild, indem sie das Chaos der Realität in eine vermeintliche Ordnung verwandele, in der Geschichten durch Anfang, Ende und kausale Zusammenhänge, die sie in der Realität entbehrten, strukturiert werden. Über den Umweg der Fiktionalisierung gelingt es dem Autor, dem Leser die komplexe Realität erreichbar, erfahrbar und sogar verstehbar zu machen (vgl. Vargas Llosa 1988: 227ff). Damit aber schreibt Vargas Llosa der Literatur eine spezifische Wirkung in der wirklichen Welt zu. Auf die Frage von Maytas Patentante, warum der Erzähler ausgerechnet die Geschichte Maytas untersuchen und zum Romangegenstand machen wolle, antwortet er: »Weil sein Fall der erste in einer Reihe war, die eine ganze Epoche prägen sollte? Weil er der absurdeste war? Weil er der tragischste war? Weil er, in seiner Absurdität und Tragik, etwas vorweggenommen hat? Oder einfach, weil seine Person und seine Geschichte etwas Erschütterndes haben, dem ich mich nicht entziehen kann, etwas, das über ihre politischen und moralischen Implikationen hinaus so etwas wie ein Röntgenbild der peruanischen Misere ist?« (Vargas Llosa 1989: 22).
Bereits an dieser frühen Stelle im Roman deutet der Erzähler an, dass der gescheiterten Revolution Maytas und Vallejos’ eine größere Bedeutung aufgrund ihrer Funktion als »Röntgenbild […] der peruanischen Misere«
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zukommt, das in seiner »Absurdität und Tragik« über das eigene Scheitern hinausweist. Zwei Kapitel später stellt der Erzähler erstmalig eine eindeutige Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart her: »›Es war die erste von vielen. Mit ihr begann die Geschichte, die ihren Endpunkt in dem gefunden hat, was wir heute erleben.‹ […] ›Diese Gewalt hat doch nur zu mehr Gewalt geführt. Und die Dinge haben sich nicht geändert, nicht wahr?‹« (Vargas Llosa 1989: 73).
Die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des gescheiterten Versuchs pariert er, indem er dem Aufstandsversuch die Funktion eines Initialfunkens zuschreibt. Mayta und Vallejos öffnen die Schleusen für die Gewalt als probates Mittel im Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Armut, die spätere Generationen zu schließen nicht mehr in der Lage sind. Die Harmlosigkeit, die man diesem Versuch nach der Lektüre der später folgenden Beschreibung attestieren möchte, entzieht der Erzähler ihr zugunsten einer Verantwortung, die bis in gegenwärtige Tage anhält: »Ich habe Mühe, nicht den Faden zu verlieren in diesem Labyrinth, in dem sich Quechua und Spanisch mischen und das fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Geschehen plötzlich in die Bombardierung vor einigen Tagen oder Wochen – auch das ist nicht klar – und die ›Hinrichtungsaktionen‹ der Guerilla übergeht. In den Köpfen dieser Bauern kommt natürlicherweise eine Verbindung zustande, der ich nur mit Mühe auf die Spur kam und die sehr wenige meiner Landsleute sehen« (Vargas Llosa 1989: 303).
Die Verbindung des damaligen Ereignisses mit der aktuellen apokalyptischen Atmosphäre wird dezidiert über das Medium Gewalt geknüpft. Einmal als angemessene Form im Interesse einer gerechteren Zukunft definiert, ist sie aufgrund der Logik des Krieges nicht mehr einzudämmen. In Form der Anklage zieht der Erzähler beide Revolutionäre für deren Entfesselung zur Verantwortung. Mildernde Umstände aufgrund hoher moralischer Prinzipien und ehrenvoller Ideale lässt er nicht gelten, ebenso wenig wie den kategorialen Unterschied zwischen tatsächlich revolutionär intendierter Befreiungsbewegung und terroristischer Gewalt. Auch wenn die Gegenseite – im Roman vor allem die ›Freiheitsschwadrone‹ und die US-Amerikaner –, an mehreren Stellen Kritik erfährt, wachsen sich diese Einsprengsel nicht zu Anschuldigungen aus. Demgegenüber kommt der Verantwortung Maytas und Vallejos’ der Status einer Schuldzuweisung zu: Indem Vargas Llosa die reale chronologische Reihenfolge der gescheiterten Jaujaer und der geglückten kubanischen Revolution
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verkehrt, entzieht er ersterer die Motivation eines siegreich zu Ende geführten Kampfes. Die Kausalität, die Vargas Llosa im Laufe des Romangeschehens zwischen 1958 und 1983 herstellt, wird damit aufgrund der chronologischen Verkehrung zur Schuld zuweisenden Anklage. Die in seiner Poetologie dargestellte Strukturierung der Realität auf dem Wege der Fiktionalisierung gerät ihm mit Historia de Mayta zur politischen Erklärung von Sinnzusammenhängen.
Resümee Historia de Mayta kann als hoch artifizieller Roman charakterisiert werden, der in einem intelligenten Versteckspiel um Wahrheit und Lüge, um Fiktion und Realität, die Geschichte eines missglückten und von sämtlichen Zeugen im Roman als marginal definierten Revolutionsversuches erzählt und geschickt mit der fiktionalen Gegenwart verknüpft. Wer allerdings wie Dick Gerdes dafür plädiert, den Roman einzig innerhalb der Grenzen der Fiktion zu lesen und ihm jegliche Verbindung mit der Realität abspricht (vgl. Gerdes 1985: 191; vgl. auch Reisz de Rivarola 1987), unterschlägt die Verquickung eines jeden Romans mit der Realität, die Vargas Llosa selbst sämtlichen fiktionalen Produkten attestiert: »Aber die Romane sind nicht nur durch ihren Autor mit dem wirklichen Leben verbunden; wenn sie sich in dem, was sie erfinden und erzählen, nicht auf die Welt bezögen, in der ihre Leser leben, wäre ein Roman für diese etwas völlig Fremdes, nicht Nachvollziehbares, ein Kunstprodukt, das mit ihrer eigenen Erfahrung nichts zu tun hat« (Vargas Llosa 2004: 31).
Die Überzeugungskraft eines Romans, die Vargas Llosa zu einem wesentlichen Kriterium gelungener Literatur erhebt, liegt in der Etablierung einer Eigenständigkeit von der realen Welt begründet, die genauso fiktiv ist wie das literarische Produkt selbst. Denn außer dem Autor ist es gerade das Wiedererkennungspotenzial, das den Roman an die Realität zurückbindet. Dieses Wiedererkennungspotenzial ist im Falle von Historia de Mayta von nicht unbeträchtlichem Umfang. Immer wieder insistiert der Erzähler im Laufe des Romangeschehens auf die Fiktionalität dessen, was er zu schreiben beabsichtigt: »›Es wird ja auch nicht die wirkliche Geschichte sein, sondern in der Tat ein Roman‹, bestätige ich. ›Eine sehr blasse, entfernte und, wenn du so willst, falsche Version.‹ ›Wozu dann die viele Mühe‹, sagt sie [Vallejos’ Schwester, K.B.] ironisch. ›Wozu dann herausfinden wollen, was passiert ist, wozu dann 280
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mir auf diese Weise Geständnisse entlocken. Warum nicht lieber von Anfang an lügen?‹ ›Weil ich Realist bin, ich versuche in meinen Romanen immer, mit Sachkenntnis zu lügen‹, erkläre ich ihr« (Vargas Llosa 1989: 82).
Die auffällige Signifikanz der metaliterarischen Ebene im Roman, die ihren Höhepunkt mit dem Interview des ›realen‹ Mayta durch einen Erzähler, der sich selbst als unzuverlässig und die vorangegangenen neun Kapitel als Fiktion in der Fiktion entlarvt, findet, versucht theoriekonform die Verknüpfung mit der Realität zu verschleiern. Wer also Historia de Mayta die politische Konnotation aberkennt, erliegt dem intelligenten Verwirrspiel Vargas Llosas.7 »It might be argued that everything that Mayta is, is acknowledged as invention. But as in certain types of Journalism, the mud sticks. The invented denotations were always an excuse for political connotations, drawing on a predetermined political symbolism. It is this symbolic code that dominates the novel, despite virtuosities in the narrative order, and meshes with the persona of the author [...]. This novel can be seen as a skillful transposition of the drama of the essays, of their contrasting of correct and incorrect opinion« (Rowe 1992: 59f).
Verborgen unter dem Deckmantel der Fiktion und verteidigt mit dem Argument des subjektiven Freiraums literarischer Produkte, transportiert der Roman jedoch eine wesentliche politische Botschaft, die erst im Kontext der Essayistik und Poetologie Vargas Llosas ihre gesamte Bedeutungsfülle erhält. Der Roman zielt auf das Bewusstsein des Lesers, bietet in den Wirren der politischen Gegenwart einen Erklärungsversuch der peruanischen Realität oder muss zumindest aufgrund seiner Aktualität und politischen Brisanz damit rechnen, als solcher gelesen zu werden. Damit muss man ihm den Status eines politischen Statements im literarischen Gewand zusprechen. Gerade weil Literatur aber einen Freiraum eröffnet, bietet sie auch die Möglichkeit freier politischer Positionierungen.
Literatur Böhringer, Willy (1985): »Mario Vargas Llosa. Historia de Mayta«. Iberoamericana 2 (3), S. 112-115.
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Vgl. dazu auch Köllmann: »Mit den programmatischen Äusserungen [sic] zur ›Objektivität‹ des Schriftsteller-Erzählers sollen seine eindeutigen politischen Wertungen der Zeugen und der Ereignisse der Vergangenheit offenbar verschleiert werden« (Köllmann 1996: 348 oder auch 349 und 380). 281
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Gerdes, Dick (1985): Mario Vargas Llosa, Boston: Twayne Publishers. Herlinghaus, Hermann (1992): »Mario Vargas Llosa oder: Der Abschied eines Schriftstellers von der Revolution«. In: Christoph Links (Hg.), Lateinamerikanische Literaturen im 20. Jahrhundert. Autoren, Werke, Strömungen, Berlin et al.: Lang, S. 119-133. Köllmann, Sabine (1996): Literatur und Politik. Mario Vargas Llosa, Bern et al.: Lang. Lerner Febres, Salomón/Sayer, Josef (Hg.) (2008): Wider das Vergessen. Yuyanapaq. Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission Peru, übers. v. Beate Engelhardt/Elena Muguruza, Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag. Oertzen, Eleonore von/Goedeking, Ulrich (2004): Peru, 3. Auflage, München: C. H. Beck. Ohne Namen (2000): »Caso Padilla. Punto final«. La Vanguardia digital, 27.09.2000, http://www.cubanet.org/CNews/y00/sep00/27o7.htm, 01.09.2008. Reisz de Rivarola, Susana (1987): »La historia como ficción y la ficción como historia. Vargas Llosa y Mayta«. Nueva revista de filología hispánica 2, S. 835-853. Rowe, William (1992): »Liberalism and Authority. The Case of Mario Vargas Llosa«. In: George Yúdice/Jean Franco/Juan Flores (Hg.), On Edge. The Crisis of Contemporary Latin American Culture, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, S. 45-64. Scheerer, Thomas M. (1991): Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schwalb, Carlos (2000): »Historia de Mayta y el interrogante de la Crisis del Perú«. Revista hispánica moderna 53 (1), S. 192-205. Vargas Llosa, Mario (1988): »Die Kunst der Lüge«. In: Ders.: Gegen Wind und Wetter, übers. v. Elke Wehr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 225-232. Vargas Llosa, Mario (1989): Maytas Geschichte, übers. v. Elke Wehr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vargas Llosa, Mario (2003): »Eine Lüge in Wahrheit verwandeln. Maytas Geschichte als Metapher für die Aufgabe des Schriftstellers«. In: Ders., Die Wirklichkeit des Schriftstellers, übers. v. Lieselotte Kolanoske, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 173-191. Vargas Llosa, Mario (2004): Briefe an einen jungen Schriftsteller. Wie man Romane schreibt, übers. v. Clementine Kügler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Williams, Raymond Leslie (1986): Mario Vargas Llosa, New York: Ungar.
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INDIGENISTISCHE ASPEKTE IM WERK RAÚL ANGUIANOS: DIE REISE NACH BONAMPAK MIRIAM OESTERREICH Der mexikanische Maler Raúl Anguiano (1915-2006) schuf in den 1950er Jahren einen Werkkomplex1, der auf der Darstellung von indigenen Sujets basiert und infolgedessen als Indigenistisches Werk2 bezeichnet werden soll. Schwerpunkt der Analyse wird die Problematik sein, die entsteht, wenn ein akademisch ausgebildeter mexikanischer Künstler infolge eines Expeditionsauftrages der Regierung Exotismus im eigenen Land betreibt. Anguiano portraitiert die Mayaethnie der Lacandones aus dem südmexikanischen Tiefland von Chiapas, die gemeinhin als ›noch ursprünglich‹ und ›unverfälscht in der primitiven Lebensweise‹ galt, und die, auch mittels künstlerisch engagierter Kampagnen, in die nationale Identität Mexikos integriert werden sollte. Solche Repräsentation des Fremden im eigenen Land weist geistesgeschichtlich sowie formal Parallelen auf zur Kolonialgeschichte des Kontinents, als die einheimische Bevölkerung in den Augen der Kolonisatoren und später der Forscher, Ethnologen und Reisenden in sogenannte ›gute Wilde‹ und ›Barbaren‹ geschieden wurde. Diese Parallelen sollen hier aufgezeigt werden, und es wird zu untersuchen sein, welche
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Im Folgenden werde ich sein Werk exemplarisch anhand weniger ausgewählter Bildbeispiele untersuchen. »Der Indigenismus in lateinamerikanischen Ländern mit hohem Anteil an indigener Bevölkerung postuliert die Neubestimmung nationaler Identität unter Einschluss der bislang missachteten ethnischen Minoritäten, der Indigenen. Anthropologische, ethnologische, archäologische Forschungen untermauern die Auffassung, dass die Kultur der Indigenen keineswegs minderwertig sei und ein integraler Bestandteil einer authentischen nationalen Kultur und Identität sein müsse. Allerdings wird der Indigenismus von außen an die indianische Kultur herangetragen und ist Ausdruck eines ›weißen‹ Paternalismus und oft integrativen sozialistisch-kommunistischen Konzepts« (Garscha 2002: 511). 283
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Konsequenzen die »finalistische Interpretationsstrategie«3 der Eroberer auf die Geistesgeschichte auch in Amerika, gerade im Zuge der Nationalstaatenbildung und der daraus resultierenden Prozesse der Veränderung und Erneuerung von Identitäten, hatte und immer noch hat, und wie diese ästhetisch und künstlerisch zum Ausdruck kommen. 1949 nahm Raúl Anguiano an einer vom Instituto Nacional de Bellas Artes (INBA, Mexikos nationale Kunstinstitution) in Auftrag gegebenen und organisierten künstlerischen Expedition zur Erforschung der erst kurz zuvor entdeckten Mayaruinen von Bonampak teil. Dies geschah im Rahmen der Regierungskampagne zur Schaffung einer nationalen Identität durch das Konstruieren von Homogenität in ethnischer und kultureller Hinsicht. Die sogenannte ›unidad nacional‹ (nationale Einheit) bestimmte das Handeln in Politik, Presse und Öffentlichkeit im postrevolutionären Mexiko. Bei der Konstruktion einer nationalen Symbolik wurde dabei besonders auf die indigene Vergangenheit des Landes zurückgegriffen. Das Interesse an der autochthonen Bevölkerung war unter der Bezeichnung Indigenismus Teil dieser Politik. In diesem Zusammenhang wird die Verklärung der indigenen prähispanischen Vergangenheit deutlich: Eine glorreiche Historie wirkt identitätsstiftend in die Zukunft hinein.4 Anguianos Auftrag lautete, das zeitgenössische Leben der Maya zu dokumentieren. Während der Dauer der Reise zeichnete er das alltägliche Leben der Lacandones. Nach der Rückkehr in die Hauptstadt setzte er zahlreiche Skizzen in Öl und Tempera sowie in verschiedene graphische Techniken um. Raúl Anguiano malt figürlich, seine Sujets sind sorgsam und detailreich ausgeführt. Durch die weiche Malweise in kräftigen Farben und ohne klare Abgrenzung des Darstellungsobjekts zu seinem Hintergrund sind formal Anklänge an den Impressionismus festzustellen. Die Gemälde sind jedoch nicht vor dem Modell en plein air entstanden, sondern sorgsam im Atelier geplant und ausgeführt. Damit lässt sich die
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Kolumbus praktiziere eine »finalistische« Interpretationsstrategie, ähnlich den Kirchenvätern bei der Interpretation der Bibel: Die Endbedeutung sei im Voraus klar, man suche lediglich den Weg, der die anfängliche Bedeutung mit diesem letzten Sinn verbindet (Todorov 1985: 26). Die Realität der zeitgenössischen Indigenen stehe jedoch im krassen Gegensatz zu diesem Idealbild. Der Indigene legitimiere demnach die nationale Identität, ohne Teil der Nation zu sein (vgl. Lafaye 1994: 31). Zur Inkongruenz des Stolzes auf präkolumbische Indigenität und der Diskriminierung zeitgenössischer vgl. Del Val (2004: 105). 284
INDIGENISTISCHE ASPEKTE BEI RAÚL ANGUIANOS
Technik in eine sehr konventionelle Arbeitstradition akademischer Prägung einordnen.5 Anguianos Darstellungsgegenstand ist Indigenität. Er beschränkt sich ausschließlich auf dessen Repräsentation; in keinem seiner Bilder sind Expeditionsteilnehmer zu sehen, auch Gegenstände, die eine zeitliche Einordnung des Dargestellten zuließen, sind nicht vorhanden. Offensichtlich indigene Personen werden größtenteils einheitlich in einer Naturkulisse, die sie umschließt, vorgestellt. Ungeachtet des exotischen Sujets sind in Anguianos Arbeiten jedoch vielerlei Parallelen zu kunsthistorisch bekannter Ikonographie biblischen oder klassisch-antiken Ursprungs feststellbar. Es ist augenfällig, wie sehr die Inszenierungen indigener Frauen am westlich-abendländischen Schönheitsideal angelehnt sind: Ebenmaß, Feingliedrigkeit und Schlankheit charakterisieren ihre Züge, ein Ideal, das in der europäischen Tradition aus der Antike übernommen wurde.6 Dabei wird der Zusammenhang zwischen äußerlicher Makellosigkeit und der Zuschreibung von innerer Schönheit, das heißt Güte und Unschuld, offenbar. Auffällig ist auch die wiederkehrende Darstellung der Indigenen in weißen, weit geschnittenen Tuniken, ihrer traditionellen Tracht. Anguiano zeichnet seine Figuren so, dass sie beinahe mit ihrer Umgebung zu verschmelzen scheinen, beziehungsweise in dieser aufgehen und vor dem Auge des Betrachters fliehend in höhere Sphären entschwinden. Der Vergleich mit der in der europäischen Bildtradition verankerten Vorstellung von Engeln liegt nahe. Auch diese sind jenseits der menschlichen Einflusssphäre angesiedelte Wesen, die als durch und durch gut konnotiert werden und alterslos, oft geschlechtslos sind. Aus dem Darstellungsmodus ergibt sich, dass Anguiano seine indigenen Modelle in die menschliche Existenz überschreitende, transzendente Sphären erhebt, ihnen damit Zeit- oder Ortsbindung weitestgehend abspricht und sie zu Wesen, die nicht seinesgleichen sind, stilisiert. Die diffuse Lichtführung verstärkt diesen Eindruck, der sowohl zeitliche als auch geographische Unbestimmtheit evoziert. Konsequenter und übermäßiger Einsatz von 5
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Die Kunstakademie San Carlos war seit ihrer Gründung 1785 maßgeblich für das mexikanische Kunstgeschehen. Der Unterricht wurde hauptsächlich von spanischen Lehrkräften nach europäischem Maßstab mit einem Schwerpunkt auf Historienmalerei erteilt. »Schönheit äußerte sich [in der Antike] als geordnete Einheit des Mannigfaltigen, als Symmetrie, in der Übereinstimmung der Teile eines Ganzen zueinander und zum Ganzen« (Büttner 2006: 195). In der griechischen Plastik kommt das Ideal psychophysischer Schönheit als Harmonie von Seele und Körper zum Ausdruck, d.h. Schönheit der äußeren Form und des seelisch Guten (vgl. Eco 2004: 45). 285
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unnatürlich strahlendem Weiß als traditioneller abendländischer Farbe der Unschuld unterstützt wiederum den Eindruck der seelischen Reinheit der Gewandträger. Während La Espina (»Der Dorn«, Abb. 1), das bekannteste Gemälde Anguianos, den Topos des Dornausziehers aus der klassisch-abendländischen Ikonographie aufgreift, rekurriert der Maler in La Esperanza (»Die Hoffnung«, Abb. 2) auf das Thema des Urbildes der Mutter mit Kind, das im abendländischen Bildkanon durch die Madonna mit dem Christuskind besetzt ist; Anguianos Werk folgt diesem Bildtypus bis ins Detail. Abbildung 1: Raúl Anguiano: La Espina, 1952, Öl auf Leinwand, 120x170 cm, Sammlung INBA, Acervo Museo Arte Moderno.
Quelle: Quálitas Compañía de Seguros (1999: 63). Die Heiligkeit und Jungfräulichkeit der Szene wird unterstrichen durch einen Nimbus, den das Licht über dem Kopf der Indigenen formt. Diesem Typus entsprechend, scheinen Mutter und Kind vollkommen in sich versunken und von der Welt abgeschieden. Der Rahmen, den Baumstamm und Rocksaum bilden, umfasst die Figurengruppe wie ein Heiligenschein die Muttergottes. Durch diese bildliche Inklusion sind auch die Bedingungen für eine gedankliche Verbindung mit Hortus-ConclususDarstellungen, der Repräsentation der Madonna in einem umfriedeten Paradiesgarten, gegeben. 286
INDIGENISTISCHE ASPEKTE BEI RAÚL ANGUIANOS
Abbildung 2: Raúl Anguiano: Esperanza, 1995, Ohne Maße, Litographie, 6/25, Sammlung Raúl Anguiano.
Quelle: Quálitas Compañía de Seguros (1999: 49). Die formale Gleichsetzung mit der jungfräulichen Maria, die rein von der Sünde ist und mit ihrem Sohn der Welt die Erlösung von der Erbsünde schenkt, ist beachtenswert vor allem hinsichtlich dessen, dass Anguiano die Indigenen auch in seinem Tagebuch als ›reine‹ Wesen, vergleichbar mit den Paradiesbewohnern vor der Vertreibung aus Eden und dem Beginn der Sünde, charakterisiert. In der christlichen Bildtradition ist es Maria, die in ärmlicher aber von Gott gesegneter und harmonischer Umgebung ihr Kind gebärt. Doch in Alumbramiento en la Selva (»Geburt im Urwald«) weckt auch der umgebende Wald Assoziationen an das biblische Paradies.7 Wie die in der Bibel beschriebenen Heiligen Drei Könige sind hier Menschen anwesend, die die Geburt und die Gebärende bewachen und unterstützen. Sogar die Geschenke ähneln einander, ein rauchender Behälter erinnert an ein Weihrauchgefäß. In den beiden letztgenannten Bildern verbindet Anguiano die christliche Vorstellung der Zeit vor dem Sündenfall mit der Zeit der Erlösung von ebendiesem, ohne eine Zwischenzeit des Wartens 7
Vgl. Christi Geburt: Lukas 2, 6-19. Paradiesbeschreibung: Genesis 2, 8-25. Huldigung der Sterndeuter: Matthäus 2, 1-23. 287
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auf den Messias zu thematisieren. Er verortet die Indigenen offensichtlich jenseits aller menschlichen Sünde. Das fremde Sujet wird mittels des Rekurses auf abendländische Topoi dargestellt. Statt dem Fremden in der Tradition der Einheit von Inhalt und Form auch eine fremde, unbekannte, dem dargestellten Sujet angepasste Form zu geben, verlagert Anguiano das Thema ins MythischAntike. So verklärt er Mitbürger seiner eigenen Nation in seinen Gemälden zu halbmythischen, geschichtslosen Wesen. Diese glorifizierende Repräsentation des Indigenen soll hier als Projektion politischer Motive und abendländisch geprägter Weltanschauung der in der Öffentlichkeit dominanten Schicht auf das Indigen-Fremde verstanden werden. In der Aneignung dieses Fremden durch bildnerische Repräsentation wird durch den Gebrauch von in der traditionellen Ikonographie der Kunst- und Kulturgeschichte verankerten Symbolen ein Herrschaftsdiskurs eröffnet. Mit dem Rückgriff auf Kontinuitäten der Repräsentationspraxis des Exotischen steht Raúl Anguiano mit seinem Indigenistischen Werk in der abendländischen Geistestradition der Darstellung des ›Guten Wilden‹. Diese Denkfigur speist sich zum Einen aus der Arkadienimagination der griechisch-römischen Antike, zum Anderen aus Vorstellungen mittelalterlich-christlicher Mythologie wie dem biblischen verlorenen Paradiesgarten und der mittelalterlichen Vorstellung, dass eine Enklave dieses Urzustands, das Irdische Paradies, sich irgendwo auf der Erde erhalten habe. Ebenso fließen in die Imagination mittelalterliche Vorstellungen vom sogenannten ›Wilden Mann‹, in der Erweiterung die ›Wilde Familie‹, ein. Die ›Wilde Familie‹ stand im Kontext mit antiken Vorstellungen über den Beginn der menschlichen Kultur; wenn sie später in der Repräsentation mit der ›Indianischen Familie‹ gleichgesetzt wurde, so lag dem wiederum eine Analogie zur Idee vom Leben des ersten Menschenpaars, von Adam und Eva, zugrunde (Frübis 2003: 343-345). Mit einem solchen Rekurs auf die mythischen Anfänge menschlicher Zivilisation unterliegt die Vorstellung vom ›Guten Wilden‹ den Zuschreibungen von Primitivität, Ursprünglichkeit, vorkultureller Naivität und Naturverbundenheit. Mit der kolonialen Eroberung des Kontinents Amerika hatte sich den Projektionen europäischer Vorstellungen ein geographisch lokalisierbarer Ort eröffnet, der alle zuvor lediglich angenommenen Glaubensvorstellungen zu bestätigen schien (vgl. Frübis 1995: 12). In der Folge spielten bildliche und textliche Repräsentationen im Unterwerfungsprozess eine herausragende Rolle. Zu diesen gehörte die Darstellung einer antikisierenden Schönheitsästhetik europäischer Kunstgeschichte durch die Gleichsetzung historischer Abgeschiedenheit von Griechen und Römern
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mit der geographischen Abgeschiedenheit der Indigenen Amerikas (vgl. Mason 1998: 39f), ebenso wie die Betonung einer nostalgischen Perspektive, die behauptet, ein im Untergang begriffenes Volk zum letzten Mal zu sehen (vgl. ebd.: 127), sowie das Beharren auf dem Anderen vor dem Gemeinsamen. Kennzeichnend für eine solche Idylle ist eine »retrospektive Mentalität«, die auf gesellschaftliche Veränderungen mit Nostalgie und den Wunschbildern von Idylle reagiert, mit »raumzeitlichem Stillstand und Geschichtslosigkeit« (vgl. »Idylle«. In: Olbrich Bd. 3 2004: 381f). Die Expedition von 1949 stand in diesem Sinne ganz im Zeichen des Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Dieser zeichnet ein Bild autochthoner Völker, das in der Archaik verankert ist, und geht von einem konsequenten Stufenmodell zivilisatorischer Entwicklung aus, das Indigene als »Überbleibsel aus der Steinzeit« oder des »Kindesalters der Menschheit« (Lévi-Strauss 1974: 231-233) versteht. Diese anderen Kulturen werden als nicht nur räumlich entfernt, sondern vor allem auch zeitlich rückständig betrachtet. Durch die bildliche Exotisierung seiner Modelle schafft Anguiano große Distanz zwischen sich, dem Betrachter und dem Modell, dem er dadurch die Zugehörigkeit zur gleichzeitigen und gleichörtlichen Existenz abspricht. Der Werkzyklus zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er das indigene Sujet mit einer traditionell abendländischen Formensprache und einem ebensolchen ikonographischen Bildrepertoire verbindet. Wie aufgezeigt, ist der Mythos des ›Guten Wilden‹ und seiner paradiesischen Heimstätte ein gänzlich europäisch-abendländischer. Die gestalterische Ähnlichkeit der Bilder Anguianos zu denen kolonialzeitlicher Repräsentation legt einen Rekurs auf dieses Genre nahe. Bei der gedanklichen Gleichstellung der exotisierten Wahrnehmung des fremden Kontinents Amerika während der Konquista einerseits und der indigenen mexikanischen Bevölkerung während einer indigenistischen Forschungsreise andererseits fallen Parallelen in der Charakterisierung des Exotischen auf. Das ›Andere‹ wird als das ›Exotische‹ wahrgenommen, damit geschieht keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Fremden (vgl. Mason 1998: 6). Es kann sich nicht selbst reflektieren und unterliegt deshalb einer Beschreibung von außen. Die Imagination des ›Guten Wilden‹ zeugt zwar von gutem Willen, wie er in der Arbeit Anguianos nicht zu übersehen ist, vermag aber letztlich mit der Invertierung der Pole ›zivilisiert-unzivilisiert‹ und ›gut-böse‹ das Problem nicht zu lösen, sondern nur in der Umkehrung zu fixieren (vgl. Fludernik et al. 2002: 11). So flicht der Maler in die eigene Beziehung zu seinem indigenen Modell hierarchische Strukturen ein, die neokolonialistische Aspekte aufweisen.
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Natalia Majluf zieht die Parallele zur Bedeutung solcher Bildstrategien auf einer ästhetischen Ebene. Ihr zufolge wird der Unterschied zwischen europäischer und mexikanischer Kunst als eine Leerstelle beschrieben, die erst durch die Darstellung des Indigenen gefüllt werde. Ohne diese sei mexikanische Kunst lediglich eine Kopie fremder Richtungen, der es an Kraft und Ausdruck, Natürlichkeit und Intensität fehle. Nur durch indigene Sujets sei die mexikanische Kunst einzigartig, nicht jedoch durch eine neue Konzeption von Kunst an sich oder technisch-formaler Mittel. Der Indigene werde durch den Künstler neu erfunden und diene ihm als Projektionsfläche (vgl. Majluf 1994: 618-620). Gabriele Vogelberg wendet das Diktum Edward Saids, dass das Andere durch Repräsentation nicht nur abgebildet, sondern erst konstruiert und neu erschaffen werde (vgl. Said 1979), auf die Arbeitsweise des Malers mit dem Modell an8: Das Bild werde, bevor der Künstler sich visuell und praktisch mit einem Thema beschäftigt, gedanklich schon in allen Einzelheiten und Detailfragen entwickelt. Der Kopf des Produzenten sei das Laboratorium, in dem sich eigene Kreativität und fremde Inspiration, etwa durch Vorbilder und schon Bekanntes und Gesehenes, verbänden. Der Imagination des Künstlers folgend, entwickle er vor seinem geistigen Auge die Komposition. Der eigentliche Kraftakt vollziehe sich somit im intellektuellen Bereich und gehorche daher nur einer internen Zwiesprache des Künstlers mit sich selbst: Das Modell bleibe von diesen Denkprozessen gänzlich ausgeschlossen. Anguiano imaginiert sein Sujet, das an der Konzeption seines eigenen Bildes selbst keinerlei Anteil hat. Was bedeutet eine solche Übernahme europäischer Repräsentationspraktiken innerhalb Lateinamerikas? Der Begriff des »Auto-Exotismus« beschreibt nach Walter Bruno Berg die Selbstzuschreibung von Elementen eines ursprünglich von Europäern zur Charakterisierung des Fremden verwandten Bildes innerhalb Amerikas (vgl. Berg 2002: 298-300). Wenn Mexiko die vorgelegten Repräsentationsschemata zur Konstruktion einer nationalen Identität kopiert, folgt es damit dem Konzept eines »abgeleiteten Diskurses«9 (Castro Varela/Dhawan 2005: 18). Die Einteilung von Zentrum und Peripherie10 erfuhr so in der nationalistischen Ideologie 8
In ihrem Text anhand des Beispiels des Malers Frederic Leighton (vgl. Vogelberg 2005: 22f). 9 »Die These eines abgeleiteten Diskurses beschreibt ein mimetisches Modell postkolonialer Nation, das von der kolonialen Herrschaft abhängig bleibt« (Castro Varela/Dhawan 2005: 18). 10 »Zentrum-Peripherie-Modell (Z.-P.-M.): Zur Analyse der Abhängigkeitsbeziehungen in der gegenwärtigen Weltgesellschaft verwandtes Konstrukt, in welchem die kapitalistischen Industrienationen (Zentrum) die Entwick290
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Mexikos eine Verschiebung: Mexiko-Stadt und Umland nämlich nahmen den Platz des traditionellen Zentrums ein, während dem indigenen Süden der der Peripherie zugeordnet wurde (vgl. Herlinghaus/Walter 1997: 242300). Auch die angesprochene Aberkennung von Zeitgenossenschaft folgt einem solchen abgeleiteten Diskurs, denn die Anthropologie des 19. Jahrhunderts habe, nach Johannes Fabian, einen ideologischen Prozess sanktioniert mithilfe dessen Beziehungen zwischen dem Westen und seinem Anderen, der Anthropologie und seinem Objekt, nicht nur als Unterschied aufgefasst wurden, sondern als Entfernung in Raum und Zeit (vgl. Fabian 2002: 146f).11 Aus der Auto-Exotisierung resultiert hier die Überhöhung des Darstellungsobjekts, es verwandelt sich in ein kollektives Symbol. Laut Majluf beinhaltet Mexikos indigenistische Kunst darüber hinaus jedoch ein weiteres Paradoxon: Die Indigenen sollten letztlich immer in der Position des ›Anderen‹ bleiben, damit der mexikanischen Kunst nicht ihr exotisches Sujet verloren ginge. Die Erkenntnis der Vergrößerung von Distanz steht in krassem Gegensatz zum offiziellen Anliegen des Konzeptes, nationale Einheit zu schaffen; ein Konzept, das einmal als Abkehr vom Eurozentrismus und dem kolonialen Erbe gefeiert und doch mit den Mitteln des Rekurses auf gerade diese durchgeführt wird. Der von Anguiano vertretene Indigenismus strebt dagegen, wenn auch unwissentlich, an, das Fremde und Exotische der eigenen Kultur einzuverleiben und erst so die Definition des Eigenen zu ermöglichen. José Del Val, mexikanischer Intellektueller und Ethnologe, betrachtet heutzutage den Indigenismus, dem Anguiano künstlerisch verpflichtet war, als gescheitert. Dessen Folge sei eine auf das Mestizische zentrierte Gesellschaft, die die Indigenen Mexikos diskriminiere und in der Armut fixiere (vgl. Del Val 2004: 83-87, 118). Die Konstruktion der von ihm geforderten pluriethnischen und multikulturellen, postnationalen Gesellschaft wird aber vor allem in künstlerischer Hinsicht erst seit wenigen lungsländer (Peripherie) wirtschaftlich und politisch dominieren, in Abhängigkeit halten und deren Entwicklungschancen beeinträchtigen. Das Z.-P.-M. entstammt imperialismustheoretischen Vorstellungen […] und hebt v.a. auf die Gleichzeitigkeit von Entwicklung (der Industrieländer) und Unterentwicklung (der Entwicklungsländer) ab« (Boeckh 2005: 1174). 11 »Fabian refers to the phenomenon of discrepancy between intersubjective fieldwork and the distancing rhetoric of ethnographic discourse as the ›denial of coevalness‹ [Verleugnung von Gleichzeitigkeit, das heißt Zeitgenössigkeit und Simultanität; Anmerkung der Autorin]. Conceiving global history in terms of universal progress, this allochronic logic identified and constituted late-nineteenth-century ›savages‹ as ›survivals‹ – inhabitants of more or less ancient states of cultural development« (Bunzl 2002: xi). 291
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Jahren mit seltenen Kunst- und Ausstellungsprojekten, die die Indigenen als Akteure mit einbeziehen12, gefördert.
Literatur Berg, Walter Bruno (2002): »Autoexotische Identitätskonstruktionen in Lateinamerika und ihre Dekonstruktion im 20. Jahrhundert«. In: Monika Fludernik et al. (Hg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon-Verlag, S. 295-322. Boeckh, Andreas (2005): »Zentrum-Peripherie-Modell«. In: Dieter Nohlen/Rainer Olaf Schultze (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft, München: Verlag C. H. Beck, S. 1174. Bunzl, Matti (2002): »Foreword to Johannes Fabian’s Time and the Other. Synthesis of a Critical Anthropology«. In: Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York: Columbia University Press, S. ix-xxxiv. Burghartz, Susanna et al. (Hg.) (2003): Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, Frankfurt a.M.: Klostermann. Büttner, Stefan (2006): Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München: Verlag C. H. Beck. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag.
12 Das Werk des zapotekischen Malers Francisco Toledo zählt zu den bedeutendsten der Gegenwart, die Konzeptkünstlerin und Fotografin Maruch Santiz Gómez stammt aus Chiapas. Vor allem in dieser Region existieren etliche künstlerische und von Indigenen verwaltete Kooperativen, wie das Indigene Fotoarchiv (Archivo Fotográfico Indígena), das seit 1992 in San Cristóbal de Las Casas ansässig ist. Dieses Projekt bietet Indigenen freien Zugang zu fotografischem Werkzeug, Material und Know How, so dass diese selbst fotografieren und Bilder entwickeln können. Damit besteht die Möglichkeit, die eigene Kultur selbst zu repräsentieren. Indigene Videokunst war erstmals 1992 auf dem 1. Festival für Indigene Videokunst (I Encuentro de Video Indígena) und dann auf dem 1. Interamerikanischen Festival Indigener Videokünstler (I Encuentro Interamericano de Videoastas Indígenas) 1994 sehen (vgl. Nungesser 2004: 625-662). Postkoloniale Theorie als Perspektive auf die Kulturpolitik gegenüber den indigenen Gemeinschaften wurde innerhalb Mexikos erstmals von Néstor García Canclini und später von Wissenschaftler/innen wie Natalia Majluf oder José del Val diskutiert. 292
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Del Val, José (2004): México. Identidad y Nación, México, D.F.: UNAM. Eco, Umberto (Hg.) (2004): Die Geschichte der Schönheit, München et al.: Hanser. Fabian, Johannes (2002): Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York: Columbia University Press. Fludernik, Monika et al. (Hg.) (2002): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon-Verlag. Frübis, Hildegard (2003): »Conflicting Images. Die Bilder aus der Neuen Welt im Prozess der Konfessionalisierung«. In: Susanna Burghartz et al. (Hg.), Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 334-360. Frübis, Hildegard (1995): Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin: Reimer. García Canclini, Néstor (1995): Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity, Minneapolis: University of Minnesota Press. García Canclini, Néstor (2003): »Noticias recientes sobre la hibridación. Konferenz in Faro 2000«. Revista Transcultural de Música 7, http://www.sibetrans.com/trans/trans7/canclini.htm, 27. 01. 2008. Garscha, Karsten (2002): »Négritude/Black Aesthetics/Créolité«. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 498-537. Herlinghaus, Hermann/Walter, Monika (1997): »Lateinamerikanische Peripherie – diesseits und jenseits der Moderne«. In: Robert Weimann (Hg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 242-300. Kaufmann, Stefan/Haslinger, Peter (2002): »Einleitung. Der Edle Wilde. Wendungen eines Topos«. In: Monika Fludernik et al. (Hg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon-Verlag, S. 13-41. Lafaye, Jacques (2002): »Abismo de conceptos. Identidad, nación, mexicano«. In: Ders., Quetzalcóatl y Guadalupe. La Formación de la Conciencia Nacional, México, D.F.: Fondo de Cultura Económica, S. 501-557. Lafaye, Jacques (1994): »Prolegómenos a todo estudio por venir de la identidad nacional mexicana. Reflexiones críticas«. In: Ramón Alvarado/Graciela Lechuga Solís (Hg.), México. Identidad y Cultura Nacional, Biblioteca Memoria Mexicana, Bd. 3, México, D.F.: UNAM, S. 25-34.
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Lévi-Strauss, Claude (1974): Traurige Tropen. Indianer in Brasilien, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Majluf, Natalia (1994): »El Indigenismo en México y Perú. Hacia una visión comparativa«. In: Universidad Nacional Autónoma de México. Instituto de Investigaciones Estéticas (Hg.), XVII. Coloquio Internacional de Historia del Arte. Arte, Historia e Identidad en América. Visiones Comparativas, México, D.F.: UNAM, S. 611-628. Mason, Peter (1998): Infelicities. Representations of the Exotic, Baltimore/London: John Hopkins University Press. Nungesser, Michael (2004): »Mexikanische Kunst seit der Revolution«. In: Walther L. Bernecker et al. (Hg.), Mexiko heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a.M.: Vervuert, S. 625-662. Olbrich, Harald (Hg.) (2004): Lexikon der Kunst, Band 1-7, Leipzig: Seemann. Said, Edward (1979): Orientalism, New York: Pantheon Books. Todorov, Tzvetan (1985): Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vogelberg, Gabriele Maria (2005): Künstler und Modell. Zwischen Imagination und Wirklichkeit. Untersuchung zum Modellkult zwischen 1860 und 1920, Jürg Meyer zur Capellen (Hg.), Schriften zur Bildenden Kunst, Bd. 13, Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Abbildungen Abb. 1: Raúl Anguiano: La Espina, 1952, Öl auf Leinwand, 120x170 cm, Sammlung INBA, Acervo Museo Arte Moderno. In: Quálitas Compañía de Seguros (Hg.) (1999), Raúl Anguiano. Journal of an Expedition to the Lacandon Jungle 1949, México, D.F.: Promoción de Arte Mexicano, S. 63. Abb. 2: Raúl Anguiano: Esperanza, 1995, Ohne Maße, Litographie, 6/25, Sammlung Raúl Anguiano. In: Quálitas Compañía de Seguros (Hg.) (1999), Raúl Anguiano. Journal of an Expedition to the Lacandon Jungle 1949, México, D.F.: Promoción de Arte Mexicano, S. 49.
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FORMEN DER SELBSTINSZENIERUNG: NAHUI OLIN, EINE MEXIKANISCHE KÜNSTLERIN D E R 1920 E R J AH R E ANNA BESSLER Ihren Zeitgenossen in Mexiko-Stadt war die Künstlerin Nahui Olin (Carmen Mondragón, 1893-1978) vor allem als Muse und Modell für erfolgreiche Maler und Fotografen bekannt. In den prominentesten Wandmalereien Diego Riveras taucht ihr Portrait auf, Roberto Montenegro hält Nahui Olin in Öl fest, und Edward Weston fotografiert sie mehrmals als Akt. Auch in ihrem eigenen malerischen und dichterischen Werk konzentriert sich Olin auf die Darstellung und Thematisierung ihrer Person. Die folgende Untersuchung widmet sich den verschiedenen Varianten der Präsentation von Nahui Olins Körper in der Fülle der existierenden Portraits, ebenso wie der Frage nach der Autorschaft der Inszenierungen. Auch wenn Olin nicht immer als Schöpferin ihrer Portraits auftritt, soll hier die These aufgestellt werden, dass sie dennoch die Autorin der Inszenierung ihrer selbst innerhalb der drei im Folgenden zu besprechenden Werke ist. Dabei bricht sie die traditionellen Rollen des aktiven männlichen Künstlers und des passiven weiblichen Modells auf und kehrt das Verhältnis um. Voraussetzung für die Selbstinszenierungen ist das Schaffen einer künstlichen Identität, die 1921 mit der Taufe von Carmen Mondragón auf den aztekischen Namen Nahui Olin1 beginnt. Hinter dieser neuen Identität steht ein wohldurchdachtes Konzept, das sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt. Einerseits lassen sich diese an äußeren Merkmalen festmachen: So formt sie einen eigenen Typus, ähnlich einem Markenzeichen, der aus auffällig blondem Haar und übertrieben großen grün-blauen Augen besteht. Der Gesamtheit ihrer Portraits, stammen sie nun aus ihrer eigenen Feder oder der männlicher Künstler, ist das Herausheben dieser Körpermerkmale gemeinsam, die dadurch wie kanonisiert für die Darstellung ihrer Person wirken. 1
Diesen aztekischen Namen kann man als Bezug zur zeitgenössischen kulturellen und politischen Rückbesinnung auf die antiken Hochkulturen Mexikos zur Schaffung eines Nationalgefühls, des »lo mexicano«, betrachten. 295
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Anderseits beruht das Konzept auf dem außerordentlichen Ruf, den Olin sich erarbeitet. Nach ihrer Rückkehr aus Europa lässt sie sich von ihrem Ehemann scheiden und beginnt ein Liebesverhältnis mit dem viel älteren Künstler Dr. Atl (Gerardo Murillo, 1875-1964), welches sie als permanenten halböffentlichen Skandal inszeniert. Sie präsentiert auf Festen ihren nackten Körper, geht eine Fülle von Affären ein und erleidet gleichzeitig gewaltige Eifersuchtsattacken (biografische Angaben vgl. Malvido 2003). Solche Auftritte bringen ihr den Ruf einer temperamentvollen und außerordentlich sinnlichen Frau ein. Zusammen mit der Betonung ihres im mexikanischen Kontext exotischen Aussehens kulminieren die Komponenten in dem erotisch aufgeladenen Gesamtwerk Nahui Olin. Diese Kunstperson findet ihren Ausdruck in den verschiedenen künstlerischen Medien. Durch die Inszenierung ihres Körpers sowohl in der Fotografie als auch in der Malerei in zumeist gänzlicher Nacktheit, dazu noch in einladenden Posen, präsentiert sich Nahui Olin zwar als Objekt männlicher Lust, verkörpert aber gleichzeitig weibliche sexuelle Selbstbestimmung. Inwiefern Olin das Künstler-Modell-Verhältnis aufbricht und wie sich ihre sexuelle Selbstbestimmung ausdrückt, soll im Folgenden an drei ausgewählten Kunstwerken veranschaulicht werden. In der Musen- und Tugendversammlung in Diego Riveras (18861957) erstem Wandgemälde »La Creación« (dt.: Die Schöpfung, 1923, in der Schule von San Ildefonso, Mexiko-Stadt) fungiert Nahui Olin als Modell für Erato, die Muse der erotischen Poesie (Abb. 1). Erato ist als solche weder durch ein Attribut noch durch Gestik oder Mimik erkennbar. Ganz unerwartet ist sie in einer verschlossenen Körperhaltung dargestellt und keusch gekleidet. Die siebzehn Frauenfiguren um sie herum dagegen sind für den Betrachter leicht zu bestimmen: Die Muse des Tanzes wird beispielsweise in einer tänzerischen Ausgangsstellung abgebildet, die Muse der Musik spielt auf einer Flöte. Erato findet der Betrachter in einer neutralen Haltung vor, die keine Rückschlüsse auf die Muse der erotischen Poesie zulässt. Weder wurde sie lasziv dargestellt, was auf den erotischen Inhalt der Poesie anspielen würde, noch nach antikem Vorbild mit einer Leier ausgestattet. Folglich muss es etwas geben, was eine derartige Präsentation der Muse der erotischen Poesie rechtfertigt, etwas, das autonom funktioniert, ohne ausweisende Attribute oder besondere Gesten.
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Abbildung 1: Diego Rivera: La Creación, 1923, Enkaustiktechnik, Escuela Preparatoria de San Ildefonso, Mexiko Stadt.
Quelle: Newman Helms (1986: 236), Foto: Dirk Bakker. 297
ANNA BESSLER
Während die Frauen, die für die anderen Musen Modell standen, nicht identifizierbar sind, handelt es sich bei der Muse Erato um ein pointiertes Portrait Nahui Olins. Die auffallenden blonden Haare und die großen hellen Augen, welche ihr im Kreise der Musen ein exotisches Aussehen verleihen, garantieren, dass Olin aus der Menge heraussticht und vom zeitgenössischen Betrachter erkannt wird. Damit wird der Bogen von Erato zu Nahui Olin gespannt, die in ihrem bürgerlichen Leben wiederum als betont erotische Person und Dichterin auftritt. Die Ikonographie des Gemäldes funktioniert an dieser Stelle nicht über kennzeichnende Attribute, sondern über das Wiedererkennen der portraitierten Person, die Kunst und Erotik – auch in ihrem Verhältnis zueinander – verkörpert. Nur das konsequente Ausleben des ersonnenen Konzepts kann diesen allgemeingültigen Ruf begründen, der so stark ist, dass er im Stande ist, eine vom Betrachter leicht zu entschlüsselnde Ikonographie zu ersetzen. Kunst rekurriert hier auf Kunst. Diego Rivera verwendet in seinem Wandgemälde Nahui Olins künstlerisches Konzept, also ihre Inszenierung als erotische Person. Folglich besteht keine herkömmliche MalerModell-Beziehung. Der Maler inszeniert Olin nicht gemäß seinen Wünschen, sondern zitiert sie lediglich. Nahui Olin, als Autorin ihres Konzepts, taucht hier gleichzeitig als Autorin der Inszenierung ihrer Person innerhalb des Werkes auf. Das zweite ausgewählte Werk umfasst eine Reihe von circa zwanzig Aktfotografien, welche die Künstlerin Ende der 1920er Jahre mit dem mexikanischen Fotografen Antonio Garduño realisiert (Abb. 2 und 3). Nahui Olin gebärdet sich als Auftraggeberin, indem sie die fertige Fotoreihe an sich nimmt, um diese in einer privaten Ausstellung in ihrem Haus im September des Jahres 1927 zu präsentieren. Die Inszenierung, die in den Aufnahmen stattfindet, wird somit außerhalb des Studios für ein geladenes Publikum fortgesetzt. Auch hier soll darauf hingewiesen werden, dass Olin sich von der passiven Rolle des Modells löst und den Fotografen vielmehr als Dokumentator ihrer Selbstinszenierung gebraucht. Bestimmt wird diese durch die aufreizenden Posen, die Olin einnimmt, und den gezielt eingesetzten Blick.
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FORMEN DER SELBSTINSZENIERUNG
Abbildung 2: Antonio Garduño: Nahui Olin, nicht datiert, Schwarzweißfotografie, Privatbesitz.
Quelle: Malvido (2003:139). Abbildung 3: Antonio Garduño: Nahui Olin, nicht datiert, Schwarzweißfotografie, Privatbesitz.
Quelle: Malvido (2003: 142). 299
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Das Außergewöhnliche daran ist die Präsentation des vollständig nackten Körpers, bei der oft nicht einmal der Schambereich durch Pose oder stoffliche Draperie verhüllt wird. Durch die nichts verbergende Pose und ihren direkten Blick zum Betrachter wird jener explizit dazu aufgefordert, Olins Körper offen anzublicken. Somit findet kein geheimer Voyeurismus statt. Ganz im Gegenteil, unverhohlenes Begutachten ist hier, genau wie beim Verweilen vor einem Kunstwerk, erwünscht, ja sogar Sinn der Sache (vgl. Trimborn 1997: 21). Dadurch, dass Olin weder passiv noch anonym auftritt, heben sich ihre Bilder von pornografischen Fotografien, die sich laut Nina Bolt oftmals durch Anonymität auszeichnen (vgl. Bolt 2001: 89), ab. Zusätzlich lässt sie sich in der Fotoreihe von den glamourösen Inszenierungen auf zeitgenössischen Autogrammkarten weiblicher Film- und Theaterstars inspirieren, wodurch sie deren Starstatus auch für sich beansprucht. Antonio Garduño ist seinerzeit dafür bekannt, idyllische und romantische Szenen zu fotografieren, in denen die Portraitierten in volkstümlicher Tracht erscheinen (vgl. Monroy 2005: 122). Dies legt nahe, dass in der aufsehenerregenden vorliegenden Fotoreihe Nahui Olin die Regie führt, um der Erotik anhand ihres nackten Körpers Ausdruck zu verleihen. Das dritte exemplarische Kunstwerk ist ein Selbstbildnis Nahui Olins, das wahrscheinlich ebenfalls Ende der 1920er Jahre entstand (Abb. 4). Das Gemälde, das weder datiert ist noch einen Titel trägt, zeigt die Künstlerin auf einem Balkon in ähnlich exponierender Pose wie in der eben besprochenen Fotoreihe. Sie befindet sich über einer Stadt, die sich, nicht zentralperspektivisch konstruiert, wie ein folkloristischer Webteppich ausbreitet. Wiederum tritt Olin vollständig unbekleidet auf und blickt dem Betrachter direkt in die Augen. Künstlerselbstbildnisse zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie den Schöpfer »in einer bestimmten Erscheinungsform, in der er gesehen werden möchte« (Pfisterer/Rosen 2005: 15) zeigen. Sie veranschaulichen den gewünschten Status in der Gesellschaft oder den beanspruchten Rang als Maler und Schöpfer. Der häufigste Typus solcher Selbstbildnisse ist der, welcher den Maler mit den Insignien seines Berufs zeigt.
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FORMEN DER SELBSTINSZENIERUNG
Abbildung 4: Nahui Olin: Selbstportrait, nicht datiert, Öl auf Karton, Privatbesitz.
Quelle: Malvido (2003: 126). Nahui Olin stellt sich offensichtlich nicht als bildende Künstlerin mit Malutensilien ausgestattet oder vor einer Staffelei situiert dar. Trotzdem können wir davon ausgehen, dass auch Olin ihren höchstpersönlichen Entwurf hier in perfekter Form umsetzt. Augenfällig sind die Parallelen zur protokubistischen Malweise Picassos (vgl. Madeline 2004: 33f), die sich in der Vielansichtigkeit ihres Körpers wieder finden. Dadurch ist es möglich, alle Körperteile, die – wie Mund, Brüste und Gesäß – sexuell aufgeladen sind, gleichzeitig zu präsentieren. Hier wird der Anspruch offenbar, den Nahui Olin an sich hat. Sie gibt sich wieder als Idealfrau (vgl. ebd.), die über alle erotischen Merkmale verfügt. Darüber hinaus betont Olin, gemäß ihrem entworfenen Typus, ihre Augen und Haare auf fast karikierende Weise. Es handelt sich um eine optimale Darstellung ihrer selbst, in der die Erotik pointiert in Pose und malerischer Betonung umgesetzt wird und das Wiedererkennen durch die 301
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Merkmale Haar und Augen gesichert ist. Diese fungieren hier wie eine Signatur, die den Urheber des Werks bezeichnet. Das Gemälde kann so als Künstlerportrait im traditionellen Sinn verstanden werden, wenn man davon ausgeht, dass Nahui Olins Kunst der Selbstinszenierung hier in perfektionierter Weise ausgeführt wird. Dadurch, dass sie sich oberhalb einer Stadt befindet, kann Olin zwar von der Stadt aus gesehen und bewundert werden, bleibt jedoch für den imaginären Betrachter durch die Distanz unverfügbar. Diese sexuelle Unverfügbarkeit ist ein Merkmal, das den meisten ihrer Portraits, ob aus ihrer Hand oder durch einen männlichen Künstler festgehalten, anhaftet. Nahui Olin löst sich in ihrem Werk von jedem traditionellen Kunstbegriff. Zwar tritt sie in herkömmlichen Medien, wie der Malerei und der Fotografie, auf, hat aber nicht den Anspruch, diese stilistisch zu revolutionieren. Ihre Innovation besteht darin, ihren Körper in den verschiedenen Medien wie ein Kunstwerk zu präsentieren. Dabei greift sie immer auf die gleichen Strategien und Merkmale – die Nacktheit, die Posen, den Blick, die betonten Augen und das blonde Haar – zurück, die sie wie Versatzstücke einsetzt, um das Konzept ihrer erotischen Persönlichkeit zu verbildlichen. Man kann sagen, dass Olins Medium, welches sie perfekt beherrscht und einzusetzen weiß, ihr Körper ist. Mit ihm arbeitet sie, um sich und ihrer Kunst Ausdruck zu verleihen. Olin schafft mit ihrer auf den Erotismus abzielenden Selbstinszenierung eine völlig neue Kunstform in Mexiko, die dem dortigen zeitgenössischen Verständnis von Kunst voraus war und den noch nicht an performativer Kunst geschulten Rezipienten gegebenenfalls überforderte. Jedoch muss man in der Aneignung einer neuerschaffenen Identität keine Flucht aus einer Gesellschaft, die noch nicht reif war für ihre erotischen Inszenierungen, sehen. Vielmehr ist darin ein künstlerischer Akt erkennbar, in dem Olin Ansätze von Künstlern der 1970er und 80er Jahre, wie Cindy Sherman, antizipiert, deren Thema der eigene Körper in verschiedenen Rollen darstellt. Zeitgleich mit Olins Selbstinszenierungen üben andere Frauen in Europa und Nordamerika eine ähnliche Körperkunst aus. Eine wichtige Vertreterin ist Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874-1927), die in den 1910er und 20er Jahren Berlin und New York mit ihrer exzessiven Selbstinszenierungskunst konfrontierte. Das bisher genuin europäisch-westliche Modell von weiblicher Selbstinszenierung verknüpft mit sexueller Selbstbestimmung wird von Nahui Olin wohl erstmals auf Mexiko übertragen. Sie verknüpft ihre Mexikanität, die sie durch ihren aztekischen Namen explizit unterstreicht, mit einer europäischen Tradition in der Kunstgeschichte. Diese
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FORMEN DER SELBSTINSZENIERUNG
führt in einer Linie von körperbetonten Selbstinszenierungen von Paolina Bonaparte (1780-1825) und Lady Hamilton (1761-1815) zur französischen Theaterdarstellerin Sarah Bernhardt (1844-1923) bis zu eben genannter Elsa von Freytag-Loringhoven. Als spätere Vertreterin des erotischen Körperkults kann der so genannte »Typus der Sexbombe« (Trimborn 1997) aus den amerikanischen Filmen der 1940er und 50er Jahre gesehen werden. Gemeinsam haben Nahui Olin und dessen bekannteste Vertreterin, Marilyn Monroe, die aussagekräftigen Posen und die physischen Markenzeichen, wie Haare, Augen oder Mund. Während jedoch der »Typus der Sexbombe« Verfügbarkeit ausdrückt, will sich Nahui Olin genau davon distanzieren. All ihre Inszenierungen zeichnen sich durch eine sexuelle Selbstbestimmung aus, welche die Entfernung zum Betrachter vergrößert und damit die Erhebung ihres Körpers zum Kunstwerk unterstreicht. Augenscheinlich ist es ihr Wunsch, männliche Lust zu wecken und als Projektionsfläche für erotische Wünsche zu dienen, dabei jedoch unerreichbar auf einem Sockel zu stehen.
Literatur Bolt, Nina (2001): Haare. Eine Kulturgeschichte der wichtigsten Hauptsache der Welt, Bergisch-Gladbach: Lübbe. Madeline, Laurence (2004): »Picasso et Ingres pour la vie«. In: Véronique Leleu (Hg.), Picasso. Ingres, Paris: Fayard, S. 3-39. Malvido, Adriana (2003): Nahui Olin. La mujer del sol, México, D.F.: Circe. Monroy Nasr, Rebeca (2005): »Del medio tono al alto contraste«. In: Emma García Krinsky (Hg.), Imaginarios y fotografía en México. 1839-1970, Barcelona: Lunwerg, S. 119-139. Pfisterer, Ulrich/Rosen, Valseka von (2005): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam. Trimborn, Jürgen (1997): Die Pose als Inszenierungsmittel der Sexbombe im amerikanischen Film der fünfziger und sechziger Jahre, Köln: Leppin.
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Abbildungen Abb. 1: Diego Rivera: La Creación, 1923, Enkaustiktechnik, Escuela Preparatoria de San Ildefonso, Mexiko-Stadt, In: Cynthia Newman Helms (Hg.) (1986), Diego Rivera, Ausstellungskatalog, New York/London: Norton & Company, S. 236, Foto: Dirk Bakker. Abb. 2: Antonio Garduño: Nahui Olin, nicht datiert, Schwarzweißfotografie, Privatbesitz, In: Adriana Malvido (2003), Nahui Olin. La mujer del sol, México, D.F.: Circe, S. 139. Abb. 3: Antonio Garduño: Nahui Olin, nicht datiert, Schwarzweißfotografie, Privatbesitz, In: Adriana Malvido (2003), Nahui Olin. La mujer del sol, México, D.F.: Circe, S. 142. Abb. 4: Nahui Olin: Selbstportrait, nicht datiert, Öl auf Karton, Privatbesitz, In: Adriana Malvido (2003), Nahui Olin. La mujer del sol, México, D.F.: Circe, S. 126.
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VISUELLE UMSETZUNG
G E I S T I G ER
WELTEN
INGA SCHARF DA SILVA IM GESPRÄCH MIT ALEXANDER BRUST Die konstante Auseinandersetzung mit neuen Themen ist in einem ethnologischen Museum ebenso Alltag wie die Betrachtung zeitgenössischen Kunstschaffens. Eine Gegenüberstellung von künstlerischen Interpretationen mit sozialen Praktiken des Umgangs mit einem Thema ist genauso reizvoll wie das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft oder eine Untersuchung der Produktion und Migration von Bildern und Symbolen in, auf und über unterschiedliche Medien und kulturelle Grenzen hinweg. Die visuelle Umsetzung immaterieller Phänomene und die Brücke zwischen Kunst und Ethnologie in den Arbeiten Inga Scharf da Silvas stehen im Mittelpunkt des nachfolgenden Gesprächs. Es fand zur Vorbereitung einer Kommentierung der Arbeiten Inga Scharf da Silvas anlässlich der Ausstellung einer Auswahl ihrer Malereien aus den letzten zehn Jahren im Rahmen der Tagung »Ideen – Darstellungen – Wirklichkeiten: Symbolische Repräsentationen in den Amerikas« statt. Ein Interview schien der geeignete Weg einer Annäherung als Nichtexperte in afrobrasilianischer Religion an die Arbeiten der Künstlerin. Alexander Brust (AB): Inga, Sie arbeiten als Ethnologin, Kunsthistorikerin und Künstlerin. Wie sind Sie zur Malerei und zur Fotografie gekommen? Inga Scharf da Silva (ISdS): Ich wollte immer ein anderer Mensch werden; ausbrechen aus den eingeschränkten und prestigeorientierten Konventionen meiner Nachbarschaft [Berlin-Grunewald]. Meine Behinderung hat meine innere Erfahrung, wie unter einer Glasglocke zu leben, verstärkt. Dennoch hat meine beidseitige mittel- bis hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit niemals meine Aufnahmefähigkeit gemindert, sondern geschärft. Ich bin nicht nur körperlich, sondern auch geistig ›schwer‹-›hörig‹ und habe mich immer gegen Vorurteile und passive Zuschreibungen gewehrt. Durch meine andere Art und Weise, die Welt akustisch wahrzunehmen, wurde mein fotografisches Sehen herausgefordert und führte mich beim Lesen der Gesichter und der Gestik von Menschen auf den Weg der Malerei. Es bringt mich auch dazu, konzentrierter zu arbeiten und Informationen zu recherchieren, die ich einmal gehört 305
INGA SCHARF DA SILVA UND ALEXANDER BRUST
habe. Meine Unsicherheit beim Zusammenpuzzeln der gehörten Informationen in meinem Kopf führte und führt mich immer wieder dazu, die mich interessierenden Dinge im Leben sehr intensiv zu durchleben, um sie zu verstehen und zu verkörpern. Ich sehe da durchaus eine Parallele zwischen meinem eigenen Lebensweg und der Trance in der Umbanda.1 Das ist auch der Grund dafür, warum sie mir so selbstverständlich und vertraut vorkam, als ich sie das erste Mal kennenlernte. Ebenso male ich sie. Sehr menschlich, sehr nahe an meiner persönlichen Erfahrung. AB: Was fasziniert Sie dagegen an der Wissenschaft? ISdS: Die Wissenschaften geben mir ein Instrument in die Hand, um die Welt zu entschlüsseln. Ich als Teil der blasierten Europäer empfinde es als wichtig, über den eigenen Tellerrand zu sehen und das Denken in anderen Kategorien zu üben. Die Ethnologie ist sich ihrer Fachgeschichte und der eigenen Kultur gegenüber sehr kritisch und mutig, das gefällt mir – sie geht für mich vom Fragen und nicht vom Antworten aus. AB: Sowohl in Ihrer künstlerischen wie auch in der wissenschaftlichen Arbeit setzen Sie sich mit Candomblé2 und Umbanda sowie deren hybriden Formen in Brasilien auseinander. Inwiefern befruchten sich diese beiden Facetten Ihrer Tätigkeiten? ISdS: Die Malerei ist für mich eine Verinnerlichung von Inhalten der Religionen. Kunst und Wissenschaft funktionieren für mich persönlich in sich ergänzender Weise: Während ich beim Schreiben von wissenschaftlichen Texten immer frage und lerne, geben mir meine Bilder Antworten. Dadurch, dass ich beim Malen das Denken wegschalte, erreiche ich ein Niveau, das auf ein Wissen zurückgreifen kann, das jenseits meiner individuellen Erfahrung liegt und mir z.B. Symbole deutlich macht. Der Prozess des Malens ist ein unbewusster, der sich auf ein Wissen bezieht, dass nicht analytisch und in Worten formuliert vorliegt. Meine Bilder haben mir immer im Nachhinein, beim Betrachten, sehr viel über meinen persönlichen Blick auf diese Religion und meine Suche in ihr offenbart: das uns alle verbindende Menschliche, der Glaube an das Leben.
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Die Umbanda ist eine synkretistische Religion der Moderne, die im Südosten Brasiliens entstanden ist. Der Candomblé ist eine Religion, die in Brasilien entstanden ist und auf unterschiedliche afrikanische Glaubensvorstellungen zurückgreift und sie meist miteinander kombiniert. 306
VISUELLE UMSETZUNG GEISTIGER WELTEN
AB: Was interessiert Sie ausgerechnet an der Umbanda, eine Religion, die in Europa weniger bekannt ist als beispielsweise der Candomblé? ISdS: Die Umbanda ist für mich eine neue Religion, die die Quintessenz der brasilianischen Gesellschaft darstellt: Sie thematisiert alle großen aktuellen Themen und erhebt die meist marginalisierten und stigmatisierten Bevölkerungsgruppen auf spiritueller Ebene zu Geistwesen. So tradiert sie die Erinnerung und Ehrung an die stark dezimierte indigene Bevölkerung. Strukturell gesehen ist die Umbanda eine sehr demokratische Religion, die jenseits der Autoritäten verborgen bleibt und offen für alle Menschen ist, jeglicher Couleur und jeglicher anderer religiöser Zugehörigkeit. Sie bietet die Möglichkeit, Hilfe in gesundheitlichen, spirituellen und seelischen Fragen durch Gespräche mit in Medien inkorporierten Geistwesen anzunehmen und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Persönlich sympathisiere ich mit Kreativität, die sich durch eine Mischung von Menschen und ihren Gedanken ausdrückt, wie es die Umbanda exemplarisch einlöst. Die Gläubigen definieren ihre Umwelt nicht als feindlich oder falsch, sondern umarmen sie und binden sie somit in ihr Weltbild mit ein. AB: Ich sehe in Ihren Arbeiten einen Einfluss des europäischen Expressionismus aber auch in der Farbwahl Anlehnungen an Arbeiten nordostbrasilianischer Künstler, wie ich sie beispielsweise aus der Stadt Olinda im Bundesstaat Pernambuco kenne. Welche Strömungen der Kunst haben wichtige Einflüsse auf Ihre Arbeiten gehabt? ISdS: Schon als Kleinkind war ich sehr beeindruckt von den Gemälden von Emil Nolde, die ich in seinem Haus in Seebühl erstmals zu sehen bekam. Diese Sympathie ersetzte ich als Jugendliche mit einer Identifizierung mit diesem Stil, deren Vertreter emotional und unmittelbar die Bilder ihrer Seele ausdrücken und die Grenzen ihrer konventionellen Welt brechen wollten. Da ich aber im Gegensatz zu den deutschen Expressionisten die Gelegenheit habe, mich nicht nur schablonenhaft und durch Objekte eines Museumsbesuchs vermittelt außereuropäischen Kulturen zu nähern, würde ich mich als neo-expressionistisch bezeichnen. Die von mir gemalten Gesichter mit den halb oder ganz geschlossenen Augen wirken einerseits maskenhaft wie Picassos Umdeutungen afrikanischer Plastik und doch sind sie belebt durch Farbe und Individualität – das stellt für mich die Trance dar, wie ich sie während meiner Feldforschungen zwischen 1997 und 2000 erlebt habe. Ich möchte damit die Gleichzeitigkeit von ritualisierter Ruhe, die wie ein anderes Gesicht
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INGA SCHARF DA SILVA UND ALEXANDER BRUST
bzw. Sein durch die Medien verkörpert wird, und die sehr lebendige Manifestation geistiger Welten ausdrücken. Viele sprechen mich darauf an, dass meine Malerei sehr brasilianisch wirkt und ich habe bislang immer entgegnet, dass sie doch sehr deutsch sei; sie eben ein anderes Deutschland darstellt, als es mitsamt grässlicher Vergangenheit und gegenwärtiger Leitkultur auf den Fahnen steht. Aber ich habe meine Sichtweise verändert. Ich glaube, dass ich mich teilweise als Mensch so sehr in Brasilien selbst gefunden habe, dass ich es nicht mehr bemerke bzw. als selbstverständlich empfinde. Es ist sicherlich auch die durch das intensive Sonnenlicht hervorgebrachte Leuchtkraft meiner Farben, die von Bedeutung sind, aber auch eine allgemeine Vorstellung vom Leben und damit auch von Kunst, in der ich erst in Brasilien bestätigt wurde und nicht hierzulande, die meine Malerei sehr brasilianisch macht: das Interesse an der Lebensbejahung. AB: Sie hatten die Gelegenheit, den französischstämmigen Fotografen und Ethnologen Pierre Fatumbi Verger in seiner Wahlheimat Brasilien kennenzulernen. In Ihren Arbeiten nehmen Sie immer wieder Bezug auf seine Arbeiten, setzen beispielsweise Fotografien in Malerei um. Was inspiriert Sie an seinen Motiven? ISdS: Pierre Fatumbi Verger ist nicht nur als Mensch, sondern auch als unabhängiger Ethnologe ein großes Vorbild für mich – ganz abgesehen davon, dass er ein herausragender Fotograf ist. Sein persönlicher Blick offenbart Motive von Menschen, die gleichzeitig religiös und sinnlich sind, alltäglich und natürlich. Sie geben niemals vor, etwas darzustellen, sondern sind durch ihre Authentizität und Bescheidenheit stark. AB: Verger war forschender Fotograf und fotografierender Ethnologe. Sehen Sie Parallelen in den Erfahrungen, die Sie gemacht haben, und wie Sie diese verarbeiten und kommunizieren? Sind Sie ebenfalls initiiert? ISdS: Mir ist erst vor kurzem klar geworden, dass die Malerei mir einen Ersatz für eine Initiation gegeben hat. Ich bin gegen eine Initiation gar nicht abgeneigt, kann aber nur feststellen, dass mir die Malerei eine Aneignung und Verinnerlichung ermöglichte. Vielleicht ist meine Sehnsucht nach Freiheit stärker als mein Wunsch nach spiritueller Zugehörigkeit. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass ich meine Doktorarbeit über die sehr freiheitsliebenden Caboclos, indigene Geistwesen, in der Umbanda schreibe.
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VISUELLE UMSETZUNG GEISTIGER WELTEN
AB: Die Arbeiten von Pierre Verger haben nicht nur die Visuelle Anthropologie und die brasilianische Fotografie beeinflusst, sondern dominieren auch das Bildgedächtnis, welches in Europa von Religionen mit afrobrasilianischen Einflüssen gezeichnet wird. Worin sehen Sie die Aussagekraft und visuellen Botschaften seiner Arbeiten für die Ihrige? ISdS: Für die Serie »Candomblé« habe ich Fotografien von Verger als Vorlage für meine Gemälde ausgewählt, die frontale Ansichten von Gottheiten – Orixás – verinnerlichten Menschen oder Würdenträgern darstellt. Sie zeigen so deutlich die Charaktere und symbolische Zugehörigkeit von z.B. Iemanjá, die große Meeres- und Muttergöttin mit ihrem großmütigen, starken und kommunikativen und doch sehr verletzlichen Wesen. Vergers Fotografie zeigt eine Frau, die voller Hingabe den Kopf nach oben dem Himmel entgegenreckt und dabei ihren Hals offenbart, der ein nach unten zeigendes Dreieck als Zeichen der Weiblichkeit bildet. Dieses Merkmal habe ich malerisch betont. Oder eine Gläubige von Xangô, dem Orixá des Feuers und der Gerechtigkeit, die beide Hände in Ehrfurcht erhebt und eine Doppelaxt hält – diese Gestik der geöffneten Hand ist ein Zeichen für Gläubigkeit und gegenseitiger Kommunikation zwischen den Menschen und den Orixás. Die von mir gemalte Frau grenzt an die Ränder des Bildes, da ihr der vorgegebene Raum zu klein ist für ihre geistige Welt. AB: Wie haben sich Ihre Arbeiten in den letzten Jahren verändert? ISdS: Bis mein Kind Apuan geboren wurde, habe ich die senkrechte Ausrichtung der Leinwand vorgezogen, in deren Mitte ein Mensch sich über seine in den Orixás wiedergespiegelte Persönlichkeit und Individualität darstellte und einen dynamischen Bezug zwischen Himmel und Erde einnahm. Meine Bilder waren aufgrund der vielen mich prägenden Sinneseindrücke von einer Gleichzeitigkeit der Bildebenen geprägt, bei dem z.B. die Altarfiguren im Hintergrund genauso bedeutend sind wie die in Trance gefallenen Medien, da sie die bildlichen Äquivalente bilden. Bild und Abbild, Wesen und Symbol sind auf der gleichen Ebene. Die Erfahrung der religiösen Trance ist durch das Zusammenrücken des Raumes unmittelbar. Nach der Geburt meines Sohnes wählte ich meist die horizontale Lage der Bilder, auf denen mehrere Menschen in Bezug zueinander stehen: Sie kommunizieren miteinander, reden, umarmen sich und scheinen zu tanzen. Die Farben überbieten sich, strahlen nun wirklich aus sich selbst heraus.
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INGA SCHARF DA SILVA UND ALEXANDER BRUST
AB: Schließlich ist mir an Ihren Arbeiten aufgefallen, dass Sie diese mit der Signatur Ingá versehen. Was hat es damit auf sich? ISdS: Meine Eltern gaben mir den skandinavischen Namen Inga, weil sie dachten, dass er keine bekannte Bedeutung habe und ich sie mir somit selbst geben könne, wie ein weißes Blatt Papier. Als ich 1998 meinen Mann in Pernambuco kennenlernte, wies mich zuerst der pernambucanische Künstler Gilvan Samico darauf hin, dass es eine seltene und wildwachsende Frucht in der Form einer Schote mit meinem Namen im Nordosten Brasiliens gibt; Ingá mit einem Akzent auf dem »a«. Später erfuhr ich von einem Ethnologen, dass es auch ein Boot in der Form dieser Frucht gibt sowie einen Titel für diejenigen, die mit diesem Boot von einem indigenen Volk zum anderen fahren und die neuesten Geschichten erzählen. In übertragener Form also Ethnologen! Ich finde es bezeichnend, dass ich eine passende Bedeutung meines Namens am anderen Ende der Welt fand.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Karoline Bahrs (M.A.) promoviert in Ethnomusicology an der University of Pittsburgh/PA. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildung und Ausdruck sozialer Identitäten in musikalischen Traditionen und populären Musikstilen sowie deren gegenseitige Referenzen in den Amerikas. Kora Baumbach (M.A.) promoviert an der Universität Göttingen über Imperialismus- und Kolonialismusdiskurse. Sie ist Stipendiatin der RosaLuxemburg-Stiftung und ihre Arbeitsgebiete beinhalten Protestbewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Jeanne Berrenberg (Dr.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der FU Berlin. Ihr regionaler Fokus ist Südasien und der ›Mittlere Osten‹. Ihre theoretischen Schwerpunkte sind Hermeneutik, Anthropologie des Erzählens, Symbolische Ordnungen, Ethnizität und der Islam. Anna Bessler (M.A.) studierte Kunstgeschichte und Romanistik in Heidelberg, Havanna, Valencia und Berlin. Zurzeit bereitet sie ihre Promotion vor, die sich den 1920er und 30er Jahren in Mexiko widmen wird. Andrea Blumtritt (Dr. des.) lehrt Ethnologie am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Ihr regionaler Schwerpunkt ist der Andenraum, insbesondere Bolivien, wo sie zu den Themen Transkulturalität, Geschlechterforschung sowie Migration forscht. Ulrike Bock (M.A.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt »Die symbolische Konstituierung der Nation: Mexiko im Zeitalter der Revolutionen« des SFB 496 an der Universität Münster. Alexander Brust (M.A.) ist Leiter der Abteilung Amerika am Museum der Kulturen Basel. Seine regionalen Schwerpunkte sind Südmexiko und Zentralbrasilien, wo er zu Museologie, Visueller Anthropologie, Materieller Kultur und interkultureller Bildung arbeitet.
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DIFFERENZ UND HERRSCHAFT IN DEN AMERIKAS
Frédéric Döhl (M.A.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin im musikwissenschaftlichen Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«. Zudem ist er als Rechtsanwalt tätig. Anne Ebert (M.A.) studierte Altamerikanistik und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Ihre Interessenschwerpunkte sind der Andenraum und Mexiko, speziell gesellschaftliche Veränderungs- und Aushandlungsprozesse in der Kolonialzeit. Jürgen Golte (Prof. Dr.) ist Universitätsprofessor für Altamerikanistik an der FU Berlin. Sein regionaler Fokus ist der Zentrale Andenraum, insbesondere die Nordküste Perus. Seine Forschungsschwerpunkte sind Urbane Anthropologie, Ethnohistorie sowie Ikonographie der nordperuanischen Moche-Kultur. Pablo F. Gomez (Dr. med., M.A.) promoviert im Fachbereich für Geschichte an der Vanderbilt University (Nashville/USA). Seine Forschungsthemen sind afrikanische und europäische Heilpraktiken im kolonialzeitlichen Lateinamerika sowie Körper- und Rassekonzepte der Frühen Neuzeit. Menja Holtz (M.A.) promoviert im interdisziplinären DFGGraduiertenkolleg »Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs« an der Universität Rostock zum Wissenschaftsaustausch zwischen Lateinamerika und Deutschland. Maret Keller (Dipl.) promoviert in Heidelberg am Forschungskolleg für Transkulturelle Studien. Ihre Schwerpunkte sind deskriptive Linguistik, multimodale und interkulturelle Kommunikation sowie Medientheorie. Maria Lidola (M.A.) studierte Ethnologie, Altamerikanistik und Politologie an der Freien Universität Berlin. Ihre Interessenschwerpunkte sind Migration und Anthropologie des Körpers mit Fokus auf Geschlechterbeziehungen sowie Identität. Elísio Macamo (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Entwicklungssoziologie an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind Risiken, Krisen und Katastrophen, Wissenssoziologie und die politische Soziologie der portugiesisch-sprachigen Länder Afrikas.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Nina Möllers (Dr. phil.) arbeitet am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der USamerikanische Süden, Gender und Cultural Studies sowie die Geschichte der Arbeit. Miriam Oesterreich (M.A.) promoviert in Heidelberg zum Thema »Kodifizierung des Exotischen in der Darstellungen des menschlichen Körpers«. Ihr Schwerpunkt ist Lateinamerikanische Kunstgeschichte. Gundo Rial y Costas ist Doktorand in Lateinamerikanistik an der FU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind kulturelle und soziale Transformationsprozesse in den Amerikas. Inga Scharf da Silva (M.A.) ist Künstlerin (Atelierhaus Sigmaringer/Berlin, BBK), Ethnologin und Kunsthistorikerin. Sie war Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin und arbeitet derzeit an ihrer kunstethnologischen Dissertation. Antonia Schneider (Dr. phil.) lehrt am Institut für Ethnologie und Afrikanistik der Universität München (LMU). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethnolinguistik, interkulturelle Kommunikation sowie Oraltradition und Kultur der zentralen Anden. Dania Schüürmann (M.A.) studierte Anthropologie und Brasilianistik u.a. an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind symbolische Anthropologie, Performance Studies und Ästhetik. Verena Stolcke (Prof. Dr.) ist Professorin für Sozialanthropologie an der Universitat Autónoma de Barcelona. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie der Anthropologie, historische Anthropologie, Systeme sozialer und politischer Ungleichheit, Migrationen sowie Geschlechter- und Rassenkonstruktionen in Lateinamerika und Europa. Ximena Tabares (Dr. phil) ist Lehrbeauftragte im Bereich Kulturanthropologie am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Soziale Netzwerke und Methoden der Sozialforschung. Markus Wiencke (Dipl.-Psych., M.A.) promoviert zurzeit an der FU Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die kulturellen Bedingungen von psychischem Kranksein und Organisationsethnologie.
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hg.)
Räume Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2008 Dezember 2008, 160 Seiten, kart., 8,50 , ISBN 978-3-89942-960-2 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) und Räume (2/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
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Michael Schetsche, Martin Engelbrecht (Hg.) Von Menschen und Außerirdischen Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft August 2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-855-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2008-12-04 15-44-35 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0260196304201264|(S.
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3) ANZ1063.p 196304201272
Kultur- und Medientheorie Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«
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Februar 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5
Dezember 2008, 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-CD-ROM, 24,80 €, ISBN 978-3-89942-904-6
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien
Sonja Neef (Hg.) An Bord der Bauhaus Zur Heimatlosigkeit der Moderne
Februar 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht Februar 2009, ca. 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0
Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2
Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen Januar 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-652-6
März 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1104-5
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts März 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1
Gunnar Schmidt Visualisierungen des Ereignisses Medienästhetische Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand Dezember 2008, 146 Seiten, kart., zahlr. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1076-5
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2008-12-04 15-44-35 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0260196304201264|(S.
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3) ANZ1063.p 196304201272
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