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German Pages 226 Year 2014
Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz
| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 7
Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.)
Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften
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Inhalt
Wissen und Reproduktion. Einleitung Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch | 7
Zahlverwandtschaften. Versuch über die Reproduktion des Geschlechts der natürlichen Zahl Ellen Harlizius-Klück | 27
»De anima«: On Life and the Living Eugene Thacker | 47
Die Reproduktion des Temperaturbegriffs Arianna Borrelli | 59
Das Geschlecht in der Maschine des Guckkastens. Zur massenmedialen Entgrenzung von Körper, Blick und Bild Ulrike Haß | 83
Weißsein und die Auffaltung des Immunen. Zur notwendigen Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung Isabell Lorey | 99
Endlichkeit und Wiederholung. Michel Foucault als Kritiker der Anthropologie Ute Frietsch | 113
Der Selbstversuch im Labor: Animalische Elektrizität als Experimentierfeld einer bürgerlichen Geschlechterordnung Volker Hess | 133
Zur Spezifität von Diskursen. Die Rede von Identität in Sozialwissenschaften und sozialen Bewegungen Ingrid Jungwirth | 153
Zur Re-Produktion von Differenz in der neurowissenschaftlichen Bildgebung Katrin Nikoleyczik | 171
Epistem-onto-logische Konstruktionen »sozialer« Maschinen. Verschiebungen in der Reproduktion von Geschlecht Corinna Bath | 187
Reproduktion als interpersonelle und konzeptionelle Relation. Überlegungen nach Marilyn Strathern Shahanah Schmid | 205
Autorinnen und Autoren | 219
Wissen und Reproduktion. Einleitung Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch
In der Geschichte des Wissens gibt es Themen, die sich aufgrund ihrer weitgreifenden Bedeutung beständig reproduzieren und mit dieser beständigen Reproduktion Relevanz erhalten. Ein solches prominent wiederkehrendes Thema ist seit der späten Moderne die Reproduktion selbst.1 Der Fokus auf Reproduktion im Sinne von Zeugung zieht sich derart durch die Geschichte des Wissens, dass der Begriff der Reproduktion (wie auch andere die Fortpflanzung betreffende Begriffe, etwa der Begriff der Konzeption) zu einer Beschreibung der Funktionsweise von Wissen geworden ist. Das Konzept der Reproduktion erfährt dabei derzeit in all seinen Facetten weitreichende Veränderungen, die zu diesem Band, der nach dem Zusammenhang von Reproduktion und Wissen fragt, Anlass geben. Die Doppeldeutigkeit der ›Reproduktion‹, Gegenstand und Selbstbeschreibung des Wissens zu sein (ein Aspekt, den Shahanah Schmid im vorliegenden Band ausführlicher behandelt), wird im folgenden ersten Abschnitt der Einleitung als Leitfaden verwendet: Dabei geht es um die Frage nach Neuem und Sich-Wiederholendem, nach der Differenz in epistemologischen Produktionen der Gegenwart, die Anleihen in der Antike zu machen scheinen. Im zweiten Abschnitt betrachten wir die Entwicklung des Begriffes der Reproduktion in der Moderne insbesondere in seiner, sich inzwischen womöglich auflösenden Abgrenzung von Produktion. Auch in philosophischen Auseinandersetzungen mit Begriffen des Reproduktiven beobachten wir Umdeutungen, deren Betrachtung im dritten Abschnitt folgt. Die Abschnitte vier und fünf behandeln die Auseinandersetzung mit Konzepten des Nicht-Reproduktiven, nämlich mit epistemischen Brüchen einerseits und Differenz andererseits. Daran schließt im sechsten Abschnitt eine Betrachtung des Verhältnisses von Abweichung und 1 | Vgl. Jacob, François: La logique du vivant. Une histoire de l’hérédité, Paris: Gallimard 1970; Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, Harvard MA/London: Harvard University Press 2000.
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Norm an, bevor wir – zu guter Letzt – eine Übersicht über die Beiträge im Einzelnen geben.
1. G EISTIGE UND KÖRPERLICHE R EPRODUK TIONEN Wird Reproduktion im Sinne von Zeugung betrachtet, kommt schnell die Relation der Akteure zueinander in den Blick: Wer befruchtet wen auf welche Weise und wer oder was wird (unter welchen Machtverhältnissen) hervorgebracht. Vorwiegend geht es bei Reproduktion um die Kontinuität, die Fortführung einer Genealogie und den Erhalt von Leben und Lebendigkeit (zwei Aspekte, deren ambivalente Differenz Eugene Thacker im vorliegenden Band ausführt). Während die aristotelische Theorie auf die Identität des Gezeugten mit dem männlichen Zeuger abhob, wird in der menschlichen Reproduktion Kontinuität und Differenz produziert: Die Kinder ähneln ihren beiden Eltern, sie sind dennoch mit keinem von beiden identisch. In der Zeugung wird nicht Identität reproduziert, sondern es ergibt sich eine Differenz der Generationen in der Zeit. Eltern und Kinder stehen nicht in einem Verhältnis wie Ursprung und Kopie, sondern in den Kindern erweist sich der Ursprung als eine Version, die durch andere Versionen reproduziert und verändert wird. In Erzählungen über Zeugung spannen sich die Beziehungen nicht nur zwischen Menschen, Maschinen, Pflanzen und Tieren – oder von sich selbst zu sich selbst wie im Fall der Parthenogenese, der sog. Jungfernzeugung. Es wird auch zwischen Göttern, Halbgöttern und Menschen gezeugt, wobei sich die Verhältnisse der Akteure und Akteurinnen im historischen Verlauf verschieben.2 Zahlreiche Bibelstellen behandeln Schöpfung als Fleischwerdung des einen göttlichen Wortes, so etwa in den Schilderungen der Schöpfung Adams und der Empfängnis der Maria. Konzepte von Kreativität als einem allein männlichen Akt der Zeugung lassen sich als »hegemoniale Männlichkeit«3 von den heiligen Schriften und der klassischen Philosophie über die spätantike Metaphysik bis heute verfolgen.4 Dabei zeigt sich das Männliche als selbstkontrolliert, als 2 | In der Geschichte der Göttermythen zeigt sich bereits lange vor der Antike ein Übergang von der Göttlichen Hochzeit, bei der gleichberechtigt gezeugt wird, hin zu einem rein männlichen Zeugungsakt, bei dem Weiblichkeit und Vergänglichkeit gleichgesetzt werden; eine Denkbewegung, die in Hesiods »Theogonie« mit der Verbindung der das Weibliche symbolisierenden Tochter des Zeus, Kore, mit Hades, dem Tod, vollzogen ist (Treusch-Dieter, Gerburg: Die heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut, Pfaffenweiler: Centaurus 1997, siehe auch weiter unten). 3 | Connell, Robert: Masculinities, Cambridge: University of California Press 1995. 4 | S.u. sowie Groneberg, Michael: Woher die Homophobie? Ein Erbe der Spätantike. Vortragsskript für die Tagung »Männer in Beziehungen«, Arbeitskreis für Interdisziplinä-
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eben nicht in Kontakt mit dem Weiblichen tretend, und dennoch als prokreativ schöpferisch. Unsterblichkeit erlange, wer statt eigener Kinder Werke erzeuge und sich des Ruhmes erfreue, so die Auffassung Platons.5 Die leibliche Fortpflanzung wäre der geistigen demnach nachranging.6 Alles Leibliche – auch die gleichgeschlechtliche Lust – wird bedrohliches Signal der dem Weiblichen zugeordneten Sterblichkeit.7 Das »Erzeugen des Zeugens« sei das zentrale ›Thema‹ der Religionen, so Gerburg Treusch-Dieter.8 Allerdings ist in der Zeugung durch den Heiligen Geist die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu’ der zentralere Aspekt gegenüber dem darin ebenfalls enthaltenen Schöpfungsgedanken des Alten Testaments (und auch indem Maria Magdalena als erste Zeugin von der Auferstehung Christi kündet, ist seine Wiedergeburt in ihrem Wort eine rein geistig be- und gezeugte).9 Der antike Demeter-Mythos, der Demeter als »abgesperrt vom Gebären« zeigt,10 sowie der sich lange vor Christi Geburt im südlichen Mittelmeerraum etablierende monotheistische Gottesbegriff, der Unsterblichkeit jenseits von Geburt und Tod garantiert,11 lassen sich geschlechtertheoretischen Interpretationen zufolge, im Sinne einer longue durée, in Zusammenhang sehen mit dem »Erzeugen eines körperunabhängigen ›Zeugen[s]‹« Ende des 20. Jahrhunderts.12 Die bere Männer- und Geschlechterforschung – Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, Stuttgart/Hohenheim, 13.-15. Dezember 2007, unveröffentlicht. 5 | Platon: Symposion 217a-219e, in: ders., Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros: Sämtliche Werke, Bd. 2, Übers. Friedrich Schleiermacher, Reinbek: Rowohlt 2004; Halperin, David: One Hundred Years of Homosexuality, New York: Routledge 1990. 6 | Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M.: Campus 1992; Müller-Sievers, Helmut: »Über Zeugungskraft. Biologische, philosophische und sprachliche Generativität«, in: HansJörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 145-164; Agacinski, Sylviane: Métaphysique des sexes. Masculin/Feminin aux sources du christianisme, Paris: Seuil 2005; Meyer, Eva: »Zum Phantasma der Selbstgeburt«, in: Zukunft als Gegenwart, ZETA 01 (1982), S. 156-190. 7 | Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, München: Hanser 1954; T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben; M. Groneberg: Woher die Homophobie. 8 | G. Treusch-Dieter: Die heilige Hochzeit, S. 5. 9 | Joh. ev., 20; Mark. ev. 16, 9-10; G. Treusch-Dieter: Die heilige Hochzeit, S. 15. 10 | Ebd. S. 6. 11 | G. Treusch-Dieter: Die heilige Hochzeit, S. 6; S. 227ff. 12 | Ebd., sowie vgl. von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel, Zürich/München: Pendo 2001; vgl. auch zum Streben nach jungfräulicher Reinheit und Aneignung
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schriebenen geschlechtlichen Konnotationen von geistigen und körperlichen Anteilen der Reproduktion wurden vor allem in Analysen der 1980er und ’90er Jahre über die gängigen Theorien der biologischen Reproduktion, Zeugung13 und In-Vitro-Fertilisation (IVF) wiedergefunden.14 Angesichts einer zunehmenden »Normalisierung«15 von IVF und Leihmutterschaft richtet sich die heutige Analyse allerdings weniger auf geschlechtliche Konnotationen in Konzepten geistiger und körperlicher Zeugung als auf die des Weiblichen: Braun, Katrin/Kremer, Elisabeth: Asketischer Eros und die Rekonstruktion der Natur zur Maschine, Oldenburg: Universität Oldenburg 1987; vgl. zum Gedanken des Kreativen im mentalen Sinne als Anteil am technischen Zeugungsakt: Schneider, Ingrid: »Embryonen zwischen Virtualisierung und Materialisierung – Kontroll- und Gestaltungswünsche an die technische Reproduktion«, in: Tech nikfolgenabschätzung 2/11 (2002), S. 45-55. 13 | T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben; Pinto-Correia, Clara: The Ovary of Eve. Egg, Sperm and Preformation, Chicago: The University of Chicago Press 1997; Martin, Emily: »The Egg and the Sperm: How Science Has Constructed a Romance Based on Stereotypical Male-Female Roles«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 16/3 (1991), S. 485-501; Tuana, Nancy: »The Weaker Seed«, in: Dies. (Hg.), Feminism and Science, Bloomington: Indiana University Press 1989, S. 147-171; Birkhan, Ingvild: »Ein philosophisches Paradigma der Geschlechtersymbolik. Aristoteles und seine Zeugungstheorie«, in: Elisabeth Mixa/Elisabeth Malleier/Marianne Springer-Kremser et al. (Hg.), Körper – Geschlecht – Geschichte. Histo ri sche und aktuelle Debatten in der Medizin, Wien: Studien-Verlag 1996, S. 44-59; vgl. Bock v. Wülfingen, Bettina: »Zeugung«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, 2. erw. Auflg., Köln: Böhlau 2009, S. 82-103. 14 | Kuhlmann, Ellen/Kollek, Regine (Hg.): Konfiguration des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik, Opladen: Leske und Budrich 2002; E. Mixa et al. (Hg.): Körper – Geschlecht – Geschichte; Saupe, Angelika: Selbstreproduktion von Natur. Die Autopoiesistheorie: Herausforderung für eine feministische Theorie der Gesellschaft, Berlin: Kleine 1997, S. 20-23; Schreiber, Christine: Natürlich künstliche Befruchtung? Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2007; O’Mahony, Patrick/Schäfer, Mike Steffen: »The ›Book of Life‹ in the Press: Comparing German and Irish Media Discourse on Human Genome Research«, in: Social Studies of Science 35/1 (2005), S. 99-130; zur Idee der Überwindung von Geschlecht mit In-vitro-Fertilisation vgl. Bock v. Wülfingen, Bettina: »Platonische Gene. Materialisierung der Liebe in der postsexuellen Fortpflanzung«, in: Irene Berkel (Hg.), Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens, Gießen: Psychosozial-Verlag 2009, S. 63-78; vgl. B. Bock v. Wülfingen: Zeugung. 15 | De Jong, Willemijn/Tkach, Olga (Hg.): Making Bodies, Persons and Families. Normalising Reproductive Technologies in Russia, Switzerland and Germany, Münster/Zürich: Lit-Verlag 2009.
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Veränderungen von Verwandtschaftsverständnissen. Indem auch der Mann zunehmend in den Fokus der (reproduktiven) Klinik gerät,16 treten unterschiedliche symbolisch-geschlechtliche Zuschreibungen oder Differenzen meist in den Hintergrund, während sich der Blick direkt auf die ökonomische Verwertbarkeit reproduktiven Materials17 oder auf Grenzlinien zwischen dem reproduktiven Paar, Staat und Gesellschaft bzw. dem reproduktiven Paar und anderen an deren Reproduktion Beteiligten richtet.18
2. R EPRODUK TION Z WISCHEN N ATURFORSCHUNG UND Ö KONOMIE In jedem Fall, selbst dem der jungfräulichen Zeugungen, bildet die Zeugung den Überschneidungspunkt der Linien von Generativität und Heredität sowie von Individuum, Generation und Gesellschaft – und damit auch von Kontinui16 | Wöllmann, Torsten: »Die Neuerfindung des Männerkörpers: Zur andro lo gi schen Reorganisation des Apparats der körperlichen Produktion«, in: Corinna Bath/Yvonne Bauer/Bettina Bock v. Wülfingen et al. (Hg.), Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper, Bielefeld: transcript 2005, S. 141-166; Oudshoorn, Nelly: »Die natürliche Ordnung der Dinge? Reproduktionswissenschaften und die Politik des ›Othering‹«, in: Ilse Lenz/Lisa Mense/Charlotte Ullrich (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Opladen: Leske + Budrich 2004, S. 241-254. 17 | Waldby, Catherine: »Women’s Reproductive Work in Embryonic Stem Cell Research«, in: New Genetics and Society 27/1 (2008), S. 19-31; Waldby, Catherine/ Mitchell, Robert: Tissue Economies. Blood, Organs and Cell Lines in Late Capitalism, Duke: Duke University Press 2006; Gehring, Petra: »Inwertsetzung der Gattung – zur Kommerzialisierung der Fortpflanzungsmedizin«, in: Jochen Taupitz/Claudia Wiesemann (Hg.), Kommerzialisierung des Körpers. Jahrbuch für Ethik in der Medizin, Heidelberg: Springer Verlag 2007, S. 53-68; Gehring, Petra: Was ist Biomacht? Vom Zweifelhaften Mehrwert des Lebendigen, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2006. 18 | Einerseits mit gouvernementaler, andererseits oft mit ethnologischer Analyse, vgl. B. Bock v. Wülfingen, Zeugung, hier FN 102 und 103 – in beiden Fällen rücken Differenzen in der Geschlechtlichkeit in den Hintergrund, während Differenzen innerhalb der Geschlechtergruppen oder zwischen reproduktiven Paaren, oder zwischen Spender/-in und Empfängerin wie ökonomischer Status oder etwa access sichtbarer werden. Vgl. beispielsweise Beck, Stefan/Cil, Nevim/Hess, Sabine et al. (Hg.): Verwandtschaft machen. Reproduktionstechnologien und Adoption in Deutschland und der Türkei, Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Bd. 42, Münster: Lit-Verlag 2007; Beckman, Linda J./Harvey, S. Marie: »Current Reproductive Technologies: Increased Access and Choice?«, Journal of Social Issues 61/1 (2005), S. 1-20.
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tät und Differenz sowie zwischen den Geschlechtern (im Sinne von diachroner Genealogie und synchroner Körperlichkeit).19 Zu allen Zeiten und selbst noch in den verschiedenen frühwissenschaftlichen Schulen waren daher die verschiedenen Zeugungstheorien Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen gelehrtem Wissen, religiösem Wissen und Volkswissen.20 Ihre wissenschaftliche Untersuchung erhielt erst mit der Optimierung bestimmter Mikroskopiertechniken im 19. Jahrhundert und gleichzeitiger Autorisierung des Expertenwissens einen Schub, der zu immer größeren Unterschieden zwischen wissenschaftlicher Theorie und Volkswissen führte. Ab etwa Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Zeugung schließlich maßgeblich von den sich gründenden ersten biologischen Disziplinen als Erkenntnisgegenstand übernommen. Spätestens von diesem Moment an differenzierte sich die professionelle Untersuchung der Zeugung in Tier- und Pflanzenzucht sowie medizin- und biowissenschaftliche Studien. Wie im Folgenden ausgeführt wird, erfährt der Begriff der Reproduktion heute einen Wandel, der ihn von der Zuschreibung der Passivität und des Materiellen, den er in der Moderne erhalten hatte, löst. Die bis heute gültige Begriffsverwendung von ›Reproduktion‹ als einerseits ›biologischer Erhalt‹ im Sinne von Fortleben über das Individuum hinaus und andererseits ökonomischer ›Erhalt‹ entwickelte sich im 18. Jahrhundert. So beschreibt François Jacob21, dass der Begriff der Reproduktion zunächst die Neubildung, also Regeneration abgetrennter Körperteile bei etwa Würmern oder Süßwasserpolypen meinte. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sei der Begriff auf Zeugung bzw. Befruchtung übertragen worden, wodurch er ein zentrales Element der wissenschaftlichen Erforschung des ›Lebens‹ wurde und zur Gründung der Biologie beitrug.22 Die epistemische Verwobenheit der Begriffe Produktion und Reproduktion zeigt sich besonders deutlich in der Analyse Ludmilla Jordanovas, die 19 | Vgl. F. Jacob, La logique du vivant; López-Beltrán, Carlos: »Natural Things and Non-Natural Things. The Boundaries of the Hereditary in the 18th Century«, in: Staffan Müller-Wille/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politics and Culture 1500-1870, Cambridge MA/London: MIT Press 2007, S. 63-84; Mayr, Ernst: This is Biology. The Science of the Living World, Cambridge MA: Harvard University Press 1997; ders.: What Makes Biology Unique? Cambridge: Cambridge University Press 2005. 20 | Farley, John: Gametes and Spores. Ideas about Sexual Reproduction 1750-1914, Baltimore: John Hopkins University Press 1982; C. López-Beltrán: Natural Things and Non-Natural Things; Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 21 | F. Jacob: La logique du vivant, S. 84. 22 | Ebd.; Rheinberger, Hans-Jörg/Müller-Wille, Staffan: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 31-32.
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feststellt, dass der Begriff »Reproduktion« im 18. Jahrhundert in so unterschiedlichen Feldern wie der politischen Theorie, der Naturphilosophie und der Medizin kursierte.23 Während Produktion und Reproduktion in allen statistischen Haushaltsbetrachtungen (im Sinne von oikos: des Staats-, des Zell- und des Naturhaushaltes), seien sie physiologisch oder staatsökonomisch, eng verbunden waren,24 werden sie erst mit den ökonomischen Theorien der 1850er Jahre getrennten Bereichen zugeordnet. Dabei entlehnte die Ökonomie zunächst viel der Biologie, wie noch Spencer zu berichten weiß;25 wobei sie ihrerseits die Biologie, insbesondere genetische Konzepte der Reproduktion, mit Kosten-Nutzen-Analysen speiste.26 Heute lässt sich ebenso im sozial-ökonomischen und politischen wie im biowissenschaftlichen Bereich eine scheinbare Auflösung der Trennung – oder zumindest der Wunsch nach Auflösung der Trennung – der Bereiche der Produktion und Reproduktion erkennen: Michael Hardt und Antonio Negri haben in »Empire« die These aufgestellt, dass es in den aktuellen postmodernen Gesellschaften keinen Unterschied mehr gebe zwischen Produktion und Reproduktion. Gemeint sind damit die arbeitsteiligen ökonomischen Felder der Produktion und Regeneration von Arbeitskraft im biographischen wie im biopolitischen Sinne. Nachdem das Kapital die Grenzen seiner formalen Expansion erreicht habe und es kein Außen (und damit keine Differenz mehr zwischen innen und außen) gebe, richte sich das Kapital umso mehr nach innen. Die Integration der Arbeit in das Kapital werde intensiver, indem der Erhalt der Arbeitskraft nicht mehr durch familiäre Arbeitsteilung, sondern durch jedes Individuum selbst zu leisten sei. Arbeit und Regeneration würden zunehmend ununterscheidbar und der zuvor widerständige Drang nach Freiheit, Kreativität und Affekt werde unter die Anforderungen der Mobilität und der Flexibilität 23 | Jordanova, Ludmilla: »Interrogating the Concept of Reproduction in the Eighteenth Century«, in: Faye D. Ginsburg/Rayna Rapp (Hg.), Conceiving the New World Order: The Global Stratification of Reproduction, Berkeley: University of California Press 1995, S. 369-386. 24 | Cooper, Melinda: Life as Surplus. Biotechnology and Capitalism in the Neoliberal Era, Seattle/London: University of Washington Press 2008; dies.: »Life, Autopoisesis, Debate: Inventing the Bioeconomy«, Distinktion 14 (2007), S. 25-43; B. Duden: Geschichte unter der Haut, S. 43-44; Clarke, Adele: Disciplining Reproduction. Modernity, American Life Sciences, and ›the problem of sex‹, Berkeley: University of California Press 1998, S. 8-9. 25 | Spencer, Herbert: The Principles of Sociology, New Brunswick: Transaction Publ. 2002, S. 447-597. 26 | Bock v. Wülfingen, Bettina: »Schöne Gene!«, in: Sigrid Walther/Gisela Staupe/ Thomas Macho (Hg.), Was ist schön? Begleitbuch zur Ausstellung des Deutschen Hygiene Museums Dresden, Göttingen: Wallstein 2010, S. 150-155.
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subsumiert. Dies gelte gerade auch für die wissenschaftliche Arbeit, indem es vor allem Informationsberufe seien, die die Gesellschaft des Empire prägten. Kommunikations-, Informations- und Wissensarbeit – als (scheinbar) immateriell und affektiv bestimmt – produziere soziale Netzwerke als Formen der kapitalisierbaren Biomacht.27 Immateriell sei diese Form der Arbeit nur, solange man der herkömmlichen Trennung von Körpern, interaktiven Tätigkeiten und Symbolen folge. Indem die Autoren Analysen, die von einer solchen Trennung ausgehen, als längst überholt verwerfen, berufen sie sich auf Donna Haraway. Sie hatte die kapital- und machtrelevante Verflochtenheit des Technischen und Informatorischen mit Zeichen und Körpern schon für die Reagan- und PostReagan Ära aufgezeigt.28 Während also Hardt und Negri beschreiben, wie in der Jetztzeit des Empire Produktion im marxistischen Sinne mit regenerativer und biopolitischer Reproduktion sowie Generation in eins fallen, lässt sich ein Aufweichen der Grenzen zwischen dem Produktiven und Reproduktiven auch in den Lebenswissenschaften beobachten: Da werden in biowissenschaftlichen Praktiken adulte Stammzellen zu embryonalen Zellen verjüngt, um ganze Körper neu zu bilden; reproduktionsfähige Zellen werden »from scratch« synthetisch hergestellt29 und vermehrt reproduktives Biomaterial marktfähig gemacht.30 Zugleich wird in der biologischen Modellierung organischer Prozesse sowie auch in der biologischen Reproduktion auf zuvor fixierte Grenzen und enge Zuständigkeiten (etwa für Generatives oder Genetisches) mittlerweile zum Teil verzichtet.31 Umso mehr wird plausibel, dass der Begriff der Reproduktion in allen sozialen Bereichen sowohl das Produzieren (was ›Neues‹ impliziert) wie das Erhalten (was die Bewahrung eines Zustands, also Kontinuität von etwas bei Änderung der Zeit besagt) meinen kann. Biologische Konzepte des Begriffs und zelluläre Akteure, die in seiner Konzeptualisierung eine Rolle spielen, werfen daher ebenso epistemische wie politische Fragen auf.32 27 | M. Hardt/A. Negri: Empire, S. 391-392. 28 | Ebd., S. 91 u. 218. 29 | Siehe z.B. Ball, Philipp: »Synthetic Biology: Design for Life«, in: Nature 448 (2007), S. 32-33. 30 | Siehe oben, Fußnote 17. 31 | Bock v. Wülfingen, Bettina: »Is There a Turn to Systems Approaches in Life Sciences?«, in: European Molecular Biology Organisation (EMBO) Reports 10 (2009), S. 3742; B. Bock v. Wülfingen: Zeugung. 32 | So war die Frage nach der Kontinuität von Merkmalen eins der Schlüsselprobleme, das die Erforschung der biologischen Vererbung inspirierte. Sie ließ sich erkennen, als zunehmend Pflanzen, Tiere und Menschen im Zuge von kolonialer Aktivität und von Hungersnöten weltweit umgesiedelt wurden bzw. migrierten (S. Müller-Wille/H. J. Rheinberger, Vererbung). Insofern die Wesen nicht die Merkmalszüge der Umgebung
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3. D IE PHILOSOPHISCHE A UFFASSUNG VON R EPRODUK TION ALS W IEDERHOLUNG Es ist auffällig, dass Begriffe und Konzepte der geistigen und der körperlichen Reproduktion (s.o.) in vielen Theorien stark gewertet werden. So ließe sich etwa in Schriften Michel Foucaults ein negativer metaphorischer Gebrauch von »Geburt« nachweisen: Geboren werden die Klinik und das Gefängnis. Mit der Geburt kommt – wie im Mythos der Büchse der Pandora – das Negative in die Welt.33 Bei Friedrich Nietzsche, Foucault und schließlich Gilles Deleuze wird dieses negative Verständnis der Reproduktion im Sinne von Geburt jedoch zugleich durch ein neues Konzept der »Wiederholung« ersetzt, das eine Aufwertung von Reproduktion ermöglicht. Foucaults Konzept der Wiederholung, das im vorliegenden Band in dem Beitrag von Ute Frietsch analysiert wird, leitet sich sowohl von Nietzsche wie von Sigmund Freud her: Beiden Autoren gilt Wiederholung zunächst als öde oder zwanghaft;34 ihre intensive Auseinandersetzung weist allerdings den Weg zu positiveren Besetzungen dieses Begriffs, der dann von Foucault, Deleuze und Judith Butler beschritten wird. Der positiveren Beschreibung zufolge handelt es sich beim Wiederholen nicht um ein bloßes Nachahmen des immer Gleichen, sondern – so bei Foucault – um die Ermöglichung eines Andersmachens, einer Intervention; resp. – so bei Butler – um ein theatralisches oder experimentelles Produzieren des Neuen in enger Verbundenheit mit dem Tradierten: der eigenen Biographie, den Beständen des Wissens und den gesellschaftlichen Ordnungsmustern.35 Diese weisen zwar (weiterhin) zwanghafte Züge auf, die Zwänge werden jedoch – bereits durch die zeitliche Verschiebung, die sich im Wiederholen ergibt – modifiziert und in beschränktem Umfang umgestaltet. Butler hält an der Zwanghaftigkeit als Charakteristikum des Wiederholens fest; diese Zwanghaftigkeit führt sie allerdings auf eine Pathologie der Gesellschaft und nicht allein des Individuums annahmen, wurde Differenz, insbesondere unter neuen Machtverhältnissen, nun auch zu einer Frage der Genealogie (vgl. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975-1976, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996). 33 | Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M.: Fischer 1999; ders.: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 34 | Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 4, München/ Berlin/New York: dtv/de Gruyter 1980; Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders., Gesammelte Werke, Band 10, Imago Publishing Co.: London 1946 [1914], S. 126-136. 35 | Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 [1993].
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zurück. Sie zeigt auf, dass in den Praktiken der Wiederholung die Zwanghaftigkeit der Gesellschaft reflektiert werde, und dass durch die performativen Praktiken der Wiederholung mit den Momenten der Verschiebung und Inszenierung partiell auch Neues möglich werde.36 Deleuze wiederum legt, in Abgrenzung von Freuds Konzept des Durcharbeitens, den Akzent auf den Genuss, der im Wiederholen selbst liege.37 Er zeigt zunächst den negativen oder pathologischen Charakter der Wiederholung auf, der in ihrer Zwanghaftigkeit liegt: Wiederholt wird, was nicht gewusst ist, was verdrängt wurde, was entfremdet ist.38 Diesem Konzept stellt er jedoch ein positives Verständnis gegenüber: Wiederholt wird, was gelebt werden will. Deleuze versteht dabei bereits Freuds Konzept der Übertragung als Chance, anders – also mit einer Differenz – zu wiederholen, indem mit Affekt wiederholt werde.39 Mit Deleuzes Begriff der Falte wurde das Konzept der Wiederholung zugleich epistemologisch tragfähig: Die Figur der Falte wird von Deleuze auf historische, philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Konzepte bezogen. Diese können sich wiederholen oder, indem sie sich einfalten, vorübergehend unsichtbar werden und verschwinden.40 Indem Deleuze sich auf Konstruktivismus als in allen modernen Wissensformen gegenwärtig beruft, macht er dabei zugleich deutlich, dass nie einfach schon Gesagtes lediglich wiederholt werde. Empirismus extrahiere stets nicht-prä-existente Konzepte in strategischer Weise aus den bearbeiteten Phänomenen.41 Dies bedeutet jedoch keinen Widerspruch zu der Vorstellung, dass die Gegenstände einen Kontext haben, der ihnen voraus geht: Allem, was existiert, sind die Kräfte, die es konstituieren, vorgängig. Solche Kräfte sind die Kategorien und Dinge, mit denen das gemeinte Ding korrespondiert und Zusammenhänge bildet, bis hin zu Staat, Ökonomie und Gesellschaft. Ähnliche Gedankengänge finden sich zum Teil in der aktuellen Wissenschaftsgeschichte.42
36 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 19-49. 37 | Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Übersetzt von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink 1992 [1968], S. 33-37. 38 | Ebd., S. 31-33. 39 | Vgl. ebd., S. 36-37. 40 | Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000 [1988]. 41 | Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialogues, London: Althone Press 1987, S. vii. 42 | Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objectivity, New York: Zone Books 2007; Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; vgl. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 und siehe im Folgenden.
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4. E PISTEMOLOGIE UND WISSENSCHAF TLICHES W ISSEN : B RÜCHE Während die körperliche Zeugung in den alten naturphilosophischen Theorien auf eine Identität festgelegt wurde, die sich praktisch nicht halten ließ, sollte sich in der geistigen Zeugung etwas produktiv Neues ergeben.43 Allerdings war Übereinstimmung mit der Tradition auch für die geistige Tätigkeit positiv besetzt und galt als Nachweis der Validität des Wissens. Diese Auffassung war in Europa insbesondere im Mittelalter dominant, wo die Übereinstimmung mit den Alten (Platon, Aristoteles oder den Kirchenvätern) Voraussetzung für die Akzeptanz von Wissen war. Erst mit dem Erneuerungsgedanken der Renaissance44 sowie mit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung und Moderne setzte sich in Europa allgemein die Auffassung durch, dass die Neuheit von Wissen und wissenschaftlichen Ergebnissen im Sinne eines Fortschritts der Menschheit sei. Wie bereits von Immanuel Kant paradigmatisch erfasst wurde, sind die modernen Wissenschaften nicht allein analytisch tätig, sondern konstruktiv und synthetisch.45 Dies gilt nicht allein, jedoch insbesondere für die Naturwissenschaften und für die empirischen Sozialwissenschaften: Insbesondere in der experimentellen Praxis wird die Welt nicht als Gegebenes interpretiert, sondern reformuliert und verändert. Epistemische und epistemologische Objekte und Prozesse lassen sich dabei nicht länger absolut auseinander halten, sie sind in der Wissenschaftsforschung der letzten 20 Jahre näher zusammen gerückt.46 In den Science and Technology Studies hat Epistemologie selbst eine produktive, experimentelle Gangart angenommen, sie begleitet Wissenschaft nicht länger lediglich im Rückblick als Wissenschaftsgeschichte, sondern transformiert darüber hinaus aktuelle wissenschaftliche Forschungsprozesse.47 In der Wissenschaftsgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wird dabei stark mit dem Konzept der epistemologischen Brüche gearbeitet: So hat Thomas S. Kuhn darauf hingewiesen, dass Wissens43 | Zum geistigen Gebären vgl. Begemann, Christian: »Gebären«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 121-134. 44 | Vgl. ebd., S. 127-128. 45 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 46 | Vgl. H.-J. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, S. 7-18; vgl. ders.: Iterationen, Berlin: Merve 2005, S. 127-128: »Wenn die Kultur des Wissenschaftlers die ›Geschichte einer permanenten Reformation ist‹, dann kann die Kultur des Epistemologen in dieser Hinsicht nicht verschieden sein.« 47 | Vgl. H.-J. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, S. 9.
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systeme als Ganze in Vergessenheit geraten und damit nicht länger verifiziert werden können, ohne dass dies eine Aussage über ihre Stimmigkeit beinhalten würde.48 Kuhn hat dies, in Weiterführung von Ludwik Flecks Konzept der Mutation und im Anschluss an Frances Yates und Walter Pagel, am Beispiel der Hermetik des 16. und 17. Jahrhunderts aufgezeigt: Deren Eigenlogik könne im historischen Rückblick zwar nur schwer erschlossen werden, sie sei jedoch vorauszusetzen, wenn überhaupt ein Zugang zu dieser Wissensformation gewonnen werden solle.49 Den Hintergrund von Kuhns Konzept der revolutionären Gangart von Wissenschaft bildete allerdings sein Konzept einer »Normalwissenschaft«, die auf der Reproduktion von Wissen basiert: Wissenschaft verändere sich nicht allein in paradigmatischen Wechseln; bevor es zu einem solchen Bruch komme, müsse ihr Funktionieren zunächst von akkumulativen und repetitiven Prozessen ermöglicht werden, die akzeptiertes Wissen festigten.50 Foucaults Konzept der epistemologischen Brüche, das zeitgleich mit Kuhns Konzept der Paradigmenwechsel zur Veröffentlichung gelangte, weist Übereinstimmungen mit diesem auf, die bereits von unterschiedlichen Autor/-innen analysiert worden sind.51 Auch zu Kuhns »Normalwissenschaft« lassen sich Entsprechungen aufzeigen, wie etwa Foucaults Konzept des Diskurses, dem zufolge nicht jegliche, sondern nur bestimmte, regelkonforme Aussagen zu einer gegebenen Zeit möglich sind.52 In der neueren Wissenschaftsgeschichte hat etwa Hans-Jörg Rheinberger, mit seinen Ausführungen über Iterationen, in Anlehnung an Jaques Derrida, das repetitive Moment von Wissenschaft betont.53 Rheinberger denkt Wissen als medial und daher iterativ verfasst: Wissen habe keinen ursprungsmäßigen An-
48 | Vgl. Kuhn, Thomas S.: »Die Beziehungen zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie«, in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 49-71. 49 | Kuhn, Thomas S.: »Mathematische versus experimentelle Traditionen in der Entwicklung der physikalischen Wissenschaften«, in: ders., Die Entstehung des Neuen, S. 84-124 und passim. 50 | T. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 37-48. 51 | Vgl. Kögler, Hans-Herbert: »Naturwissenschaften«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, S. 428-434. 52 | Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. 53 | Rheinberger, Hans-Jörg: Iterationen, Berlin: Merve 2005. Rheinberger bezieht sich dabei auf Derridas Auffassung vom Schreiben als einem Prozess der Iteration in den »Randgängen der Philosophie«, vgl. Rheinberger ebd. S. 99.
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fang. Dieser werde erst nachträglich konstruiert.54 Dies gilt demnach auch für den polemischen Anspruch auf Neuheit: Wird eine Differenz ohne Ursprung proklamiert, so hat selbst diese ein iteratives Moment. Rheinberger zufolge bezieht sich (der Begriff der) Epistemologie daher nicht wie der Begriff Erkenntnistheorie auf das Subjekt, sondern auf den Prozess der Forschung.55 Forschung sei im 20. Jahrhundert historisiert worden, sie sei ohne Ende und werde daher als iterativer Prozess der Wissensgewinnung verstanden.56 Forschung werde dabei zwar nicht länger als fortschreitend, jedoch, mit Gaston Bachelard, von dem auch der Begriff des epistemologischen Bruches stammt, als »rektifizierend« gedacht.57 Dies sind Konzepte von Epistemologie sowie von Wiederholung, die sich, ihrer Inspiration durch Derrida entsprechend, produktiv auch mit eher sozialwissenschaftlichen Konzepten der Differenz verbinden lassen.
5. D IFFERENZ Bei Deleuze erhält das scheinbar nur Wiederholte über seinen Zusammenschluss mit ›Differenz‹ eine positive Wendung. Deleuze kritisiert dabei die philosophische Tradition, die sich seit Platon und Aristoteles vor allem mit den Konzepten Urbild und Abbild (Kopie) befasst und Differenz stets negativ als das gefasst hätte, was ›nicht-dies‹ ist.58 Dazu wendet er sich dem Begriff des Trugbilds (Simulacrum) zu: Mit ihm werde das Reich des Identischen und der Analogie destabilisiert, jedes Trugbild existiere »unvermittelt«59 aus sich selbst heraus, als sein eigenes Abbild.60 Wie jedoch kann etwas etwas sein, wenn es zugleich different, also nicht identisch ist? Zur Erläuterung bezieht sich Deleuze auf Nietzsches Begriff des Seins als Werden, mit dem sich die Frage nach einer ontologischen Einheit des Seins erübrige. Alles, was existiere, werde nur und sei nie.
54 | Rheinberger, Hans-Jörg: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 115. Rheinberger bezieht sich an dieser Stelle auf Derridas »Grammatologie«. 55 | H.-J. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, S. 29. 56 | Ebd., S. 31. 57 | Ebd., S. 32. Rheinberger differenziert dabei unterschiedliche wissenschaftliche Iterationsformen, vgl. ebd., S. 36. 58 | G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 87-93; Deleuze, Gilles: Platon und das Trugbild, in: ders., Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 311-324. 59 | Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 29. 60 | Ebd., S. 127f.
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Slavoj Žižek hat Deleuzes Begriff des ›Werdens‹ wiederum aus dessen Konzept der Wiederholung erklärt. Fern davon, dem Heraufkommen von etwas Neuem entgegengesetzt zu sein, bestehe das Deleuze’sche Paradox gerade darin, dass etwas wirklich Neues nur durch Wiederholung entstehen könne. Was Wiederholung wiederhole, sei nicht das, was das Vergangene effektiv war, sondern das dem Vergangenen virtuell Inhärente, um das es in seiner vergangenen Aktualisierung betrogen gewesen sei.61 Deleuzes Argumentationsfolie sei dabei in vielen Denkbewegungen allerdings seine Gegnerschaft zu Hegel, dessen Dialektik angeblich die Lehre des Identischen in Extremform darstelle. Die Dialektik operiere demnach mit der Auflösung der Differenz zwischen zweien in einem Dritten, Identität gelte somit als hinreichende Bedingung für die Existenz von Differenz. Mit diesem Argument werde Hegel jedoch missverstanden, so Žižek:62 Deleuzes Argument entspräche dem Standard-Vorwurf an Hegel, der darin bestehe, es handele sich bei seiner Dialektik um einen geschlossenen Kreislauf der Wiedererinnerung, in dem nichts Neues entstehen könne. Dinge aktualisierten sich lediglich und würden, was sie tief in sich immer schon seien. Die Kehrseite dieser Interpretation sei ein anderer Vorwurf, dem zufolge unverständlicherweise aus dem organisch Einen zwei würden, ein Antagonismus, eine Teilung aufgemacht würde, die ebenso unerklärlich durch einen scheinbar jenseits des dialektischen Systems im Außen liegenden Impuls ohne Verluste im Dritten wieder geschlossen werde. Nach Žižek versäumen diese Interpretationen es, die Temporalität der Vorgänge einzubeziehen. Nicht die Spannung zwischen zwei Antagonisten werde aufgelöst in einem Dritten, sondern eine Verschiebung unserer subjektiven Perspektive gehe vor sich: Plötzlich werden wir uns bewusst, dass das, was zuvor als Konflikt erschien, bereits versöhnt ist. Das wahrhaft Neue wäre demnach kein neuer Inhalt, sondern die Veränderung der Perspektive, unter der das Alte in neuem Licht erscheint.
6. D IFFERENZ UND M ACHT : A BWEICHUNG VERSUS N ORMALITÄT Während in der Epistemologie des 20. Jahrhunderts der Bruch betont wurde, galt dies jedoch nicht gleichermaßen für die Differenz(en). Der Begriff der Differenz war besonders mit Derridas Konzept der »différance«63 zwar zu einem zentralen Terminus dekonstruktiver Ansätze geworden, diese wurden jedoch eher im Bereich der Sozialwissenschaften geltend gemacht als im Bereich der 61 | Žižek, Slavoj: Organs Without Bodies. Deleuze and Consequences, New York: Routledge 2004, S. 9-14. 62 | Ebd. 63 | Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen 1988 [1972], S. 29-52.
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Wissenschaftsforschung. Differenz scheint als eine eher sozialwissenschaftliche Kategorie betrachtet zu werden, die demnach nicht zur internen Begrifflichkeit der Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte gehört. Eine explizit andere Auffassung von Wissenschaftsgeschichte lässt sich lediglich bei Autor/-innen finden, die – wie Bruno Latour – wissenschaftssoziologisch argumentieren und daher Theorien des Sozialen und Konzepte der Wissenschaftsforschung verbinden. In diesen Konzepten wird ebenfalls mit Brüchen gearbeitet, doch werden diese Brüche für das Verhältnis von Moderne und Postmoderne realisiert. Ein Grundzug der Postmoderne wird dabei darin gesehen, dass klassische Trennungen, wie etwa jene zwischen forschendem Subjekt und Objekt, die als Trugbild der Moderne verstanden werden kann,64 nun aufgehoben sind. Dass diese Trennung bereits in der Zeit ihrer Genese prekär war, arbeitet in diesem Band der Beitrag von Volker Hess heraus. In sozialwissenschaftlichen Theorien, insbesondere in der Genderforschung und in den Theorien des Postkolonialismus, wird Differenz heute stark gemacht und als produktiv und oftmals als positiv gewertet: Differenz ermöglicht demzufolge das Neue, während Reproduktion allzu oft eine Reproduktion hegemonialer Strukturen bedeute. In diesem Sinne argumentieren in diesem Band Katrin Nikoleyczik und Corinna Bath in ihren jeweiligen Beiträgen. Für ihre Analysen der Verschränkung von alltäglichen Aussagen über das Wesen der Dinge mit wissenschaftlichen Erkenntnisweisen erweist sich dabei das Konzept der Epistem-onto-logie der Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad als hilfreich.65 Judith Butler hat, wie oben bereits beschrieben, im Zuge der Analyse der Reproduktion hegemonialer Verhältnisse, mit dem Konzept der Wiederholung gearbeitet und dieses mit dem Konzept der Differenz verbunden. Ähnlich wie Deleuze fasst sie eine Wiederholung mit Differenz als eine produktive Wiederholung. Butler hat dafür das Konzept der Performativität etabliert, das sie aus der Sprachwissenschaft übernimmt und sozialphilosophisch wendet.66 Eine Argumentation gegen die bloße Reproduktion in den Wissenschaften und für die produktive Dynamik von Differenz lässt sich auch bei Vertreterinnen der feministischen Standpunkttheorie finden. So argumentierte Sandra Harding makrosoziologisch und kategorial, dass Differenzen im Sinne unterscheidbarer Identitäten für das Beziehen eines stabilen Standpunktes politisch
64 | Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; Haraway, Donna: A Cyborg Manifesto, in: dies., Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991, S. 149-182. 65 | Barad, Karen: »Getting Real. Technoscientific Practices and the Materialization of Reality«, in: Differences. Journal of Feminist Cultural Studies 10/2 (1998), S. 87-128. 66 | Vgl. J. Butler, Körper von Gewicht, S. 35-41 und passim.
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und strategisch notwendig seien.67 In Weiterführung der feministischen Idee einer fixierten Positioniertheit sprach sich Donna Haraway für ein situiertes Wissen, allerdings im Sinne eines »mobile positioning«68 aus, und gegen die »semantischen Särge […] abgeschlossener Kategorien«69. Jede Identität sei eine in sich gespaltene und vielfältige und jeder Bezug auf identitäre Kategorien produziere Ausschlüsse, die mit zu reflektieren, wenn nicht vorauszudenken seien. Gegen Hardings machtanalytische Auffassung, ohne eine starke Subjektposition sei herrschenden Positionen nicht beizukommen, verweist Haraway am Beispiel der Science Fiction, ähnlich Butler, auf die Kraft der Parodie.70 Während Haraways Pladoyer für eine selbstkritische Multiperspektivität vor allem in Science and Technology Studies rezipiert wird, fanden andere um die Jahrtausendwende und seither zunehmend auch im deutschsprachigen Raum in »Intersektionalität« ein angemessenes Konzept der Anerkennung von Differenz auf politischer und erkenntnistheoretischer Ebene.71 Ob dieser Begriff dem Anspruch gerecht wird, die immer komplexere Problematisierung dominanter Kategorien zu umfassen, die sowohl auf Differenz im Sinne von Subordination verweisen als auch zugleich Gemeinschaft stiften und damit ihrerseits ausgrenzen, ist umstritten. Dies wird auch deutlich im Beitrag von Ingrid Jungwirth im vorliegenden Band. Die weitreichenden Debatten darum, welche Kategorien als Differenzkategorien in diesem Sinne gefasst werden sollten,72 ob statt einer immer länger werdenden ›Liste‹ eine jeweils situative Analyse der Herstellungen von Norm und Abweichung im Sinne von Foucault hinreiche (siehe hierzu auch
67 | Harding, Sandra: Das Geschlecht des Wissens, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 155-180. 68 | Haraway, Donna: »Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, Feminist Studies 14 (1988), S. 575-599, hier S. 585; Hardings und Haraways epistemologische Konzepte entstanden etwa zeitgleich und im gegenseitigen Austausch. 69 | Haraway, Donna: »Anspruchsloser Zeuge @ Zweites Jahrtausend Frau Mann © trifft Oncomouse™«, in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition HIS 1996, S. 347-389, hier S. 383. 70 | D. Haraway: Situated Knowledges; D. Haraway: Anspruchsloser Zeuge. 71 | Knapp, Gudrun-Axeli: »›Intersectionality‹ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ›Race, Class, Gender‹«, in: Feministische Studien 1 (2005), S. 68-79. 72 | Degele, Nina/Winkler, Gabriele: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, verfügbar unter: www.tu-harburg.de/agentec/winker/pdf/Intersektionalitaet_Mehr ebenen.pdf, (31.05.2010).
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den Beitrag von Isabell Lorey zur Weißseinsforschung im vorliegenden Band),73 oder ob die Intersektionalitätsforschung wegen Vernachlässigung der Kategorie Sexualität durch eine queere Interdependenzanalyse zu ersetzen ist,74 – diese Debatten weisen auf eine zunehmende Sensibilität für vielfältigste Verwerfungen und entsprechende Differenzen hin.
7. Z U DEN B EITR ÄGEN IM E INZELNEN Ellen Harlizius-Klück reflektiert in ihrem Beitrag »Zahlverwandtschaften. Versuch über die Reproduktion des Geschlechts der natürlichen Zahl« die Stabilisierung des Anfangs, die in der platonischen Philosophie unternommen wurde. Sie zeigt die geschlechtliche Zuschreibung dieses Anfangs auf, der zunächst in der Zahl Eins gesetzt wurde. Mit der geschlechtlichen Bestimmung der Anfangs- und aller weiteren Zahlen wurde die Mathematik in Analogie zur körperlichen Reproduktion gesetzt. Die Mathematik profitierte von dieser Analogie, indem sie das in ihr dargebotene Wissen aneignete und die eigenen Bestimmungen auf diese Weise anschaulich und gestaltbar machen konnte. An den Anfang der Wissenschaft wird in moderner wissenschaftlicher Tradition allerdings geradezu mythisch Aristoteles gesetzt – der daher im Vergleich zu Platon geradezu als der Frühere erscheinen kann.75 Eugene Thacker bezieht sich auf Aristoteles’ frühes Werk »De anima«, um mittels seiner Theoreme die heutigen Zweifel an Konzepten des Lebens auf philosophisch fundierte Weise zu artikulieren: In einer Zeit, in der zuvor undenkbare Lebensformen im Labor und am Computer erzeugt werden, finden alte Fragen eine neue Berechtigung. Kann Leben überhaupt reproduzierbar sein im Sinne einer Wiederholung? Thacker führt eine Auseinandersetzung um die Widersprüche des Statischen und des Prozess- und Differenzproduzierenden in Aristoteles’ Begriff des Lebens und zeigt anhand von »De anima«, dass Widersprüchlichkeit einen notwendigen Bestandteil bereits der antiken Konzeptionen von ›Leben‹ darstellt. 73 | Dies wird in Queer Theory seit den 1990er Jahren für sinnvoll befunden, allerdings in Hinsicht auf race und Postkolonialismus zu wenig praktiziert, vgl.: Jagose, Annemarie: Queer Theory, Carlton South: Melbourne University Press 1996; Dietze, Gabriele/ Haschemi Yekani, Elahe/Michaelis, Beatrice: »›Checks and Balances‹. Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory«, in: Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/ Antje Hornscheidt et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie, Opladen/Farmington Hills: Budrich 2007, S. 107-139. 74 | Ebd. 75 | Vgl. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. Aus dem Französischen von Hans-Joachim Metzger, Berlin: Brinkmann & Bose 1983.
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Arianna Borrellis Beitrag schlägt ebenfalls eine Brücke von der Antike in die Moderne, wobei sie auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Konzeptionen einbezieht. Borrelli analysiert die Widersprüchlichkeiten in der wissenschaftsgeschichtlichen Reproduktion des Temperaturbegriffs. Das Konzept der Temperatur habe sich nicht in einem linearen Fortschreiten zu immer größerer Stimmigkeit verändert, wie es im historiographischen Rückblick leicht erscheinen kann. Bei der Entwicklung und Legitimierung des Gebrauchs des Thermometers seien vielmehr auch vermeintlich bereits überholte Temperaturbegriffe der antiken und mittelalterlichen Tradition reartikuliert worden, wenn sie sich strategisch in neue Begründungszusammenhänge einfügen ließen. Der Bezug auf das Warme und Kalte habe dabei zudem unterschiedlichste Möglichkeiten der Vergeschlechtlichung von Geräten und Konzepten eröffnet. Während sich Harlizius-Klück, Thacker und Borrelli gleichsam allgemeinen philosophischen und epistemologischen Konzepten widmen, die nicht auf den Menschen selbst gerichtet sind, rücken in den folgenden Beiträgen, die überwiegend von Aufklärung, Moderne und Postmoderne handeln, wohl nicht zufällig das Individuum und seine problematischen Selbstverhältnisse in den Vordergrund: Ulrike Haß zeigt in ihrem theatergeschichtlichen und zugleich epistemologischen Beitrag auf, dass die Individualisierung von ›Geschlecht‹ (erst) mit Anbruch der Moderne erfolgte. Sie untersucht die massenmedialen Effekte der Maschinerie des Guckkastens, in den ›Geschlecht‹ um 1800 hineingeriet. Während ›Geschlecht‹ zuvor im Sinne von Familie genealogisch konzipiert worden sei, gehe seine Repräsentanz um 1800 an das Individuum über, das nun als Frau oder Mann mit ihm identifiziert werde. Hass zeigt die Guckkasten-Bühne als die vorrangige Maschine auf, durch welche dieses individualisierte Geschlecht – insbesondere im Genre des Bürgerlichen Trauerspiels – zu Beginn der Moderne produziert worden sei. Von Isabell Lorey wiederum wird die Figur der (Selbst-)Immunisierung herausgearbeitet. Lorey beschreibt diese u.a. medizinische Technologie, bei der eine nicht tödliche Menge Gift in den Körper eingeführt wird, um unverletzbar zu machen und Abwehr zu (re-)produzieren. Sie bezieht diese Figur auf die Funktionsweisen des Weißseins und stellt den moralischen Imperativ weißer Selbstpositionierung in Frage, den Wissenschaftler/-innen in dem rezent entstandenen Wissenschaftsfeld der Kritischen Weißseinsforschung kultivieren. Diesen schlägt sie vor, sich mit der geschichtlichen Entwicklung von biopolitischen Subjektivierungsweisen auseinanderzusetzen, um hegemoniale Ansprüche nicht wider Willen zu reproduzieren. Ute Frietsch widmet sich in ihrem Beitrag der Anthropologie-Kritik Foucaults und betont, dass die Absage an Anthropologie ein wesentliches Movens von Foucaults Epistemologie gewesen sei. Sie führt Foucaults wissenschaftstheoretisches Interesse an Empirie auf seine Ausbildung zum Psychologen zurück, die ihn mit einer spezifischen Vermengung von philosophischer Begrün-
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dung und empirischer Praktik konfrontiert habe, welche die Aufrechterhaltung von Selbstverhältnissen unterminiere. Zugleich reflektiert sie, dass in heutiger Wissenschaftsforschung, die sich auf Foucault beruft, dennoch weiterhin mit anthropologischen Konzepten gearbeitet, diese also reproduziert werden. Die theoretische Krux von Anthropologie, den Menschen theoretisch als Subjekt und zugleich empirisch als Objekt der Forschung zu behandeln, sei, Foucault zufolge, weder in der Zeit ihrer Genese noch in der Moderne wissenschaftlich ausreichend berücksichtigt worden: Als Probierstein gilt ihm dabei Kant, dessen Aussagen zu Anthropologie von Frietsch eingehend mit Foucault geprüft werden. In die Zeit um 1800 geht auch der Beitrag von Volker Hess zurück: In der frühen Romantik, zwischen 1790 und 1810 wurden dem anthropologischen Forschungsinteresse entsprechend bei Naturforschern galvanische Reizexperimente am eigenen Körper, Selbstversuche mit elektrischem Strom, beliebt. Wie Volker Hess ausführt, stellten solche Selbstversuche als wissenschaftliches Experiment nicht nur die Leidensfähigkeit des Subjekts auf die Probe, sondern sie stellten auch die Objektivität des Experiments in Frage. Indem der Experimentator zum Objekt seines Versuchs wurde, wurde die längst zur epistemologischen Maxime der Forschung gewordene Prämisse, die Differenz und Distanz zwischen forschendem Subjekt und dem Forschungsgegenstand sei stets aufrecht zu erhalten, unterwandert. Entgegen der Erwartung, dass ein solcher Bruch mit der Subjekt-Objekt-Trennung ein romantischer Unfall gewesen sein mochte, versucht Volker Hess den Selbstversuch als methodologische Grundlage modernen Experimentierens zu verallgemeinern. Auch der Beitrag von Ingrid Jungwirth behandelt eine Spielart der Problematisierung von Selbstverhältnissen. Jungwirth arbeitet mit Foucaults Konzept des Diskurses, wie er in dessen »Archäologie des Wissens« geprägt worden ist. Gegen die Auffassung, dass die problematisierende Rede von Identität immer schon notwendig gewesen und praktiziert worden sei, zeigt sie auf, dass dieser Diskurs und mit ihm die Identitätsfrage erst in den 1950er und 1960er Jahren als wissenschaftlich »unausweichlich« hervorgebracht worden seien. Die wissenschaftliche Problematisierung von Identität hat demnach einen historisch und geographisch spezifischen Ort und ist mit disziplinengeschichtlichen sowie sozialpolitischen Aussagen verbunden, die nicht allgemeingültig sind. Katrin Nikoleyczik wiederum untersucht, wie in der wissenschaftlichen Praktik der Magnetresonanztomographie, mit der Gehirnaktivität visuell dargestellt werden soll, objektive Unmittelbarkeit suggeriert wird. Welche epistemisch bedeutsamen Entscheidungen werden bei der vermeintlich verlustfreien Reproduktion von Vorgängen im Gehirn unsichtbar? Indem sie diese Frage zu beantworten sucht, geht sie davon aus, dass eine natürliche Differenz der Geschlechter mit diesen Bildgebungsverfahren produziert und reproduziert wird. Unter Rückgriff auf den Begriff des agential realism von Karen Barad verfolgt
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sie die Entstehung dieser ›Abbilder‹. Auch Corinna Bath bezieht sich auf die Erkenntnistheoretikerin Karen Barad. In ihrem Beitrag geht es um Informatik: Sie untersucht, auf welche Weise Differenzen zwischen Menschen bei der Rekonstruktion eines vermeintlich universalen Humanums (wieder) hergestellt werden. Galten bisher Emotion und Kommunikation als zentrales Differenzierungsmerkmal des Humanen von der Maschine, wird nun versucht, diese Grenze zu überschreiten, indem Computern Sozialität beigebracht wird. Bath vergleicht verschiedene Ansätze der Softwareagentenforschung, Computer menschenähnliches Verhalten reproduzieren zu lassen und untersucht, in welchem Maße dabei über ontologische Konzepte von Forschenden Ungleichheiten eingeschrieben werden. Indem das Menschliche mal mehr, mal weniger als universal gesetzt und zuweilen gar kritisch beleuchtet wird, kann Bath auf Ansätze verweisen, die Spielraum für Intervention in die (technische) Reproduktion von Ungleichheit bieten. Als ein Fachgebiet, in dem eine ›Reproduktion des Wissens‹ und damit möglicherweise zugleich die Wiederholung von Ungleichheit untersucht werden kann, bietet sich, so Shahanah Schmid, die menschliche, biologische Reproduktion selbst an. Die Autorin untersucht die zwei Grundbedeutungen von Reproduktion und ihr Verhältnis zueinander. Sowohl die epistemologische wie die biologische Bedeutung von Reproduktion behaupten eine Relationalität von etwas Vorgängigem und etwas daraus Entstandenem und doch Verschiedenem. Schmid geht mit Marilyn Strathern davon aus, dass sich Denken und Wissen spätestens seit der ›wissenschaftlichen Revolution‹ in Relationen vollziehe, und dass sich die zwei Bedeutungen von Reproduktion gegenseitig bedingen und konkretisieren. Ihr Beitrag kann insofern als eine kommentierende Zusammenfassung des Bandes »Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften« aufgefasst werden.
Zahlverwandtschaften Versuch über die Reproduktion des Geschlechts der natürlichen Zahl Ellen Harlizius-Klück
D IE ORDNENDE M ACHT DES A NFANGS Gegen Ende des platonischen Dialoges »Kratylos« weist Sokrates seinen Gesprächspartner auf die Wichtigkeit des rechten Anfangs hin. Denn wenn einer, der einen Vortrag hält, mit einem Irrtum beginnt, so ist es kein Wunder, dass viele Fehler entstehen, wenn er alles Folgende mit diesem Anfang in Übereinstimmung bringt. »Daher muß eben über den Anfang jeder Sache jedermann die genaueste Überlegung anstellen und die genaueste Untersuchung, ob er richtig gelegt ist oder nicht, und dann, wenn dieser gehörig geprüft ist, das übrige so darstellen, wie es aus ihm folgt.«1 Diese Textstelle bei Platon zählt zu den mathematikhistorischen Belegen für die Rückführung der Axiomatik und Logik auf die Philosophie,2 denn Sokrates nennt als Beispiel: »wie bei Figuren (ton diagrammaton) bisweilen auch der erste nur ein kleiner und unmerklicher Fehler ist« – und hier denkt man an geometrische Figuren. Dass dieses Argument unter bestimmten Bedingungen auch umkehrbar ist und man sagen kann, wenn aus einem Anfang etwas Fehlerhaftes entstanden ist, dann war der Anfang falsch, wird bei der mathematischen Methode des indirekten Beweises ausgenutzt. Doch diese funktioniert 1 | Platon: Kratylos 436d. Auch in der »Politeia« heißt es, »daß der Anfang eines jeden Geschäftes das Wichtigste ist […]« (Politeia, Buch II, 377a). Platon wird zitiert nach: Eigler, Gunther (Hg.): Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. 2 | Vgl. Szabó, Árpád: »Anfänge des Euklidischen Axiomensystems«, in: Oskar Becker (Hg.), Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 355-461; hier insbesondere S. 368-371.
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nur, wenn die untersuchten Gegenstände kontradiktorisch organisiert sind. Die erste mathematische Kontradiktion dieser Art fand man im Unterschied von gerader und ungerader Zahl. Zusammen mit dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, das auf den vorsokratischen Philosophen Parmenides zurückgeführt wird,3 bildet sie den Anfang der mathematischen Logik und Beweistheorie.4 So wird die Macht des Anfangs zum Argument für eine Ordnung, die auf der Binarität5 aufruht und die von Anfang an nicht nur in der Differenz von Zahleigenschaften, sondern auch in der Differenz von Mann und Frau ihren Ausdruck findet, denn in einem anderen Dialog Platons, im »Politikos«, teilt ein junger Mann namens Sokrates die Klasse derer, die in Herden leben, in Menschen und Tiere auf – und der Gesprächspartner, ein Fremder aus dem Umkreis des Parmenides, weist darauf hin, dass dies ein Fehler sei: »Besser aber und mehr nach Arten und in die Hälften hätte er sie geteilt, wenn er die Zahl in Gerades und Ungerades zerschnitten und so auch das menschliche Geschlecht in männliches und weibliches.«6 Wenn ein Buch über Reproduktion in den Wissenschaften mit einem Kapitel über Binaritäten beginnt, kann das bedeuten, dass Reproduktion und Binarität zusammenhängen? Kann man annehmen, dass die durch das ausgeschlossene Dritte erzeugte Binarität der für den Beginn der Wissenschaften notwendige, rechte Anfang war? War der Verweis auf die Differenz des Männlichen und Weiblichen lediglich eine populäre Analogie? Wurde diese vielleicht abgeleitet von der Vorstellung der Reproduktion einer biologischen Gattung, bei der man die binäre Unterscheidung von männlich und weiblich als grundlegend annahm? Versteht man Reproduktion eher als Wiederholung, so kann man, wie beim Zählen, Vorgänger und Nachfolger unterscheiden und identifizieren, also eine Binarität anderer Art benutzen, die des Unterschieds der Geschlechter (sex) nicht bedarf, ja sogar die Identität des Geschlechts (als Familiengeschlecht) bestimmt. In der von Bettina Mathes erzählten Geschichte der Reproduktionsmedien ist der binäre Unterschied nicht im Unterschied von Vorgänger und Nachfolger, von Original und Kopie, sondern in der Geschichte der Alphabet-
3 | Vgl. etwa Á. Szabó: Anfänge, S. 448f. 4 | Vgl. Becker, Oskar: »Die Lehre vom Geraden und Ungeraden im Neunten Buch der Euklidischen Elemente«, in: O. Becker: Geschichte der griechischen Mathematik, S. 125-145. 5 | In der Mathematik werden zweiwertige Zahlsysteme manchmal dyadisch genannt (etwa die antike Arithmetik von Gerade und Ungerade oder das duale Zahlsystem bei Leibniz). Der Begriff binär wird erst in jüngerer Zeit benutzt, bezeichnet aber ebenfalls zweiwertige Systeme. 6 | Platon: Politikos 262e.
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schrift versteckt.7 Der Anfang des Alphabets, so schreibt sie, konserviere in den Buchstaben A und B nicht einfach zwei Laute, sondern zugleich die Differenz der Geschlechter (gender): das A stehe für das Männliche, das B für das Weibliche – wobei in der Reihenfolge stets zugleich ein Vorrang des ersten vor dem zweiten errichtet werde. Dies könnte die Analogie von Zahl und Geschlecht erklären: Da die griechischen Zahlen mit den Buchstaben des Alphabets in alphabetischer Reihenfolge geschrieben werden, ginge das Geschlecht der ersten Buchstaben auf die ersten Zahlen über: die männliche Eins und die weibliche Zwei. Bei den Pythagoreern, deren Zahlauffassung Platon weitgehend übernimmt,8 ist nun in der Tat die ungerade Zahl männlich und die gerade weiblich. Doch die Eins galt nicht als Zahl, welche bei Euklid folgendermaßen definiert wird: »Zahl ist das aus Einheiten zusammengesetzte Vielfache.«9 Der Ausschluss der Einheit (monas) aus der Zahldefinition hat keine ontologischen oder metaphysischen Gründe. Um Beweise durchführen zu können, muss man von einer Zahl sagen können, ob sie gerade oder ungerade ist, das heißt, ob im Falle einer Halbierung zwei gleiche Zahlen oder eine Einheit übrig bleibt. Von der Eins selbst lässt sich dies nicht sagen, so dass sie aus der beweistechnisch notwendigen Komplementarität ausbricht. Was die Binarität von Gerade und Ungerade und damit die bei Euklid überlieferte Arithmetik dominiert, scheint eine Binarität anderer Art zu sein: Die Gleichheit der beiden Zahlen, aus denen eine Zahl zusammengesetzt ist, bzw. ein bei der Halbierung eventuell übrig bleibender Rest, entscheidet über die komplementäre Eigenschaft. Kann man nun sagen, dass hier die Zwei (als Zahl des Halbierens oder der Gleichheit) und damit das Weibliche am Anfang stehe? Und wäre das Vervielfachen von Zahlen, welches hier als Prinzip der Zahlbildung erscheint, eher als weiblich zu qualifizieren im Gegensatz zu einer Zahlbildung, die auf der Identität und Eins beruht und jeweils um Eines
7 | Vgl. Mathes, Bettina: »Reproduktion«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln: Böhlau 2005, S. 81-99, hier S. 83. Vgl. auch: von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Bild, Schrift, Geschlecht, Zürich: Pendo 2001, S. 59-62 und S. 105ff. 8 | … wenn wir nicht sogar davon ausgehen müssen, dass sie von Platon stammt. Vgl. dazu vor allem: Burkert, Walter: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg: Carl 1962. 9 | Vgl. Thaer, Clemens (Hg.): Euklid. Die Elemente, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 141, Übersetzung modifiziert. Thaer übersetzt in Übereinstimmung mit der modernen Terminologie plēthos mit »Menge«. Die eher wörtliche Übersetzung durch »Vielfaches« verdeutlicht besser, dass es in dieser Arithmetik eher um Erzeugungsvorgänge als um erzeugte Zustände geht.
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weiter zur nächsten Zahl fortschreitet, wie die familiäre Folge von Vätern und Söhnen?10 Mit der Wahl eines männlichen Anfangs scheint für Bettina Mathes »die im Schriftsystem aufgehobene Fruchtbarkeit«11 zugleich als »männlich-geistige Fruchtbarkeit«12 festgelegt zu sein, die in Form der Metapher des digitalen Codes die Genforschung und die Reproduktionstechnologie stark beeinflusst und ihren Erfolg vielleicht erst ermöglicht hat. Christina von Braun hat darauf hingewiesen, dass die phonetische Schrift neue Denkstrukturen und neben der Polis und der Geschichtsschreibung neue Formen des kulturellen Gedächtnisses hervorgebracht hat.13 Sie schreibt zudem, dass die Schrift als Instrument zur Verwirklichung asexueller berechenbarer Körper diene. Nach Nicole Loraux zeigten zum Beispiel die seit Solon schriftlich fixierten Eingrenzungen der Trauerklage in Griechenland, dass die Gefallenen nicht mehr als Söhne ihrer Mütter, sondern als Söhne der Gemeinschaft galten und als solche beklagt werden sollten.14 Bedeutet dies, dass der zweite Platz der Frau im Reproduktionssystem (das B hinter dem A) nun vom Sohn besetzt wurde? Kann man diese Entwicklung mit der Verschiebung der Zahlauffassung zum Nachfolgerprinzip vergleichen, die sich seit Aristoteles durchsetzt?15 Auch in Platons »Politikos«, jenem Dialog in dem die arithmetische Unterscheidung auf die Männlich-Weiblich-Differenz abgebildet und diese Unterscheidungsfähigkeit als reines Wissen deklariert wird, macht sich der namenlose Gesprächsführer ausführlich Gedanken über die Frage der Reproduktion der Gemeinschaft. Man kann die Natur nicht sich selbst überlassen, da sie nicht korrekt oder zumindest nicht in die gewünschte Richtung reproduziert, weil sie von der göttlichen Vernunft verlassen wurde – so wird am Beispiel des Mythos von Kronos erläutert.16 Das Thema ist nicht neu. Schon Homer berichtet in der Odyssee wie Athene in Gestalt des Mentor gegenüber Telemach, dem Sohn 10 | Vgl. dazu Harlizius-Klück, Ellen: Weberei als episteme und die Genese der deduktiven Mathematik. In vier Umschweifen entwickelt aus Platons Dialog Politikos, Berlin: Ebersbach 2004, S. 202f. 11 | Vgl. B. Mathes: Reproduktion, S. 85. 12 | Vgl. B. Mathes: Reproduktion, S. 86. 13 | Vgl. C. von Braun: Schwindel, S. 59. 14 | Vgl. C. von Braun: Schwindel, S. 61. Vgl. auch Loraux, Nicole: Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Exzesse der Politik, Frankfurt a.M./New York: Campus 1990. 15 | Seit Aristoteles zählt man durch wiederholtes Hinzufügen einer Einheit zu einem ursprünglichen Element im Sinne der schrittweisen Vermehrung sowie der Reproduktion von Eigenschaften des Vaters im Sohn/Nachfolger. Vgl. E. Harlizius-Klück: Weberei als episteme, S. 200-205. 16 | Vgl. E. Harlizius-Klück: Weberei als episteme, S. 135-165.
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des Odysseus, klagt: »Wenige Kinder geraten doch ganz in der Art ihrer Väter,/ Meistens sind sie nur minder, kaum einer ist über dem Vater.«17 Wenn also die Stoßrichtung heißt: Kinder zeugen, die ihren Vätern ähnlich sind, dann geht es um eine Reproduktion, deren zugrundeliegende Binarität eine Identität in zeitlicher, aber nicht unbedingt in geschlechtlicher Differenz ist. Die Figur der Athene zeigt an, in welcher Richtung die von den Autoren erträumte Lösung des Problems liegt, denn sie selbst kann sich neben ihrem Vater Zeus durchaus sehen lassen, weil sie nicht einem Frauenkörper, sondern einem Männerkopf entstammt.18 Das Klagen über die Herkunft aus dem Frauenkörper und den damit verbundenen natürlichen Zwang, sich als Mann nicht ohne Frau reproduzieren zu können, ist in der Antike weit verbreitet. Euripides lässt Hippolytos im gleichnamigen Stück sprechen: »O Zeus, was hast du dies verführerische Leid, Das Fraungeschlecht, zur Welt gesandt ans Sonnenlicht? Fortpflanzung freilich war der Menschheit nötig, doch Daß uns durch Frauen dies zuteil wird, ist nicht gut. Die Menschen sollten Goldes oder Silbers Wert In deine Tempel legen als Kaufpreis, dafür Nachwuchs von Kindern haben, jeder nach seinem Wert Bestimmter Schätzung, aber in den Wohnungen Vom Frauenvolke ledig leben, ungestört.«19
Platons oben erwähnte Gleichsetzung der Zahlklassifikation mit der Geschlechterdifferenz steht im »Politikos« in Zusammenhang mit der Absicht, die durch den Frauenkörper in die Reproduktion eingeschlichene Abweichung von der gottgewollten Ordnung20 dadurch in den Griff zu bekommen, dass der weise 17 | Homer: Odyssee. Griechisch und deutsch, übertragen von Anton Weiher, München: Artemis 1990, S. 45 (Od. II, 276f). 18 | Vgl. Harlizius-Klück, Ellen: »Das Gewebe der Geschlechter und der Faden der Logik«, in: Maria Pimminger/Gabriele Werner (Hg.), Bildforschung und Geschlechterkonstruktionen, Wien: Universität für angewandte Kunst o.J. (2008), S. 116-147, hier S. 120f. 19 | Vgl. http://gutenberg.spiegel.de/euripide/hippolyt/Druckversion_hippolyt.htm (20.01.2009). 20 | Im Zeitalter der göttlichen Lenkung durch Kronos wuchsen die Menschen (Männer?) aus der Erde und kehrten nach einer angemessenen Zeit wieder in sie zurück (panta automata gignesthai tois anthropois; Politikos 271d). Diese automatische Genese ging verloren, als Kronos die Welt sich selbst überließ und um ein sterbliches Geschlecht zu schaffen, mussten nun von Athene und Hephaistos die Frauen (handwerklich) produziert werden (Pandora und ihre Gefährtinnen). So wird es bei Platon be-
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Regent die ehelichen Verbindungen im Staat gemäß der rechten Erkenntnis (episteme) bestimmt. Ganz zu Anfang des Dialogs war der Unterschied der Erkenntnisse festgelegt worden: die einen, die nur Einsicht bewirken, sind »die Rechenkunst und einige andere ihr verwandte Künste«;21 die anderen sind die Handwerke, bei denen die »körperlichen Dinge, welche vorher nicht waren«,22 entstehen.23 Der Staatsmann hätte also die Reproduktion des Gemeinwesens mit Hilfe der Arithmetik zu regulieren und wie das zu bewerkstelligen wäre, dafür gibt es einen Hinweis in der »Politeia«, wo uns Sokrates erzählt, was die Musen antworten würden, wenn man sie fragte, wie der von ihm vorgestellte ideale Staat überhaupt ins Wanken geraten könne. Folgendes würden also die Musen antworten:24 »Schwer zwar ist es, daß ein so eingerichteter Staat in Unruhe gerate; aber weil allem Entstandenen doch Untergang bevorsteht, so wird auch eine solche Einrichtung nicht die gesamte Zeit bestehen, sondern sich auflösen. … Die nun, welche ihr zu Lehrern der Stadt erzogen habt, werden die Zeiten glücklicher Erzeugung und der Unfruchtbarkeit für euer Geschlecht, wiewohl weise, durch Berechnung mit Wahrnehmung verbunden doch nicht immer treffen, sondern diese werden an ihnen vorbeigehen, und so werden sie auch einmal Kinder zeugen, wenn sie nicht sollten. Es hat aber das göttliche Erzeugte einen Umlauf, welchen eine vollkommene Zahl umfaßt, das Menschliche aber eine Zahl, in welcher, als der ersten, Vermehrungen – hervorgebrachte und hervorbringende – nachdem sie drei Zwischenräume und vier Glieder von teils ähnlich und unähnlich, teils überschüssig und abgängig machenden Zahlen empfangen haben, alles gegeneinander meßbar und ausdrückbar darstellen; wovon dann die vierdrittige Wurzel, mit der fünf zusammengespannt, dreimal vermehrt, zwei Harmonien darstellt, die eine eine gleichvielmal gleiche, hundert ebensovielmal, die andere gleichlängig zwar der länglichten, aber von hundert Zahlen von den aussprechbaren Durchmessern der Fünf jeder um eins verkürzt, unaussprechbaren aber zwei und von hundert Würfeln der drei. Diese gesamte geometrische Zahl entscheidet hierüber, über bessere und schlechtere Zeugungen; und wenn aus Unkenntnis dieser eure Wächter den Jünglingen Bräute zugesellen zur Unzeit, so wird das Kinder geben, die weder wohlgeartet sind, noch wohlbeglückt.« 25 schrieben. Vgl. dazu E. Harlizius-Klück: Weberei als episteme, Kapitel II: Der Verlust der zölibatären Maschine, inbes. S. 142-148. 21 | Politikos 258 d. 22 | Ebd., 258e. 23 | Und solche, die es vorher nicht gab, sind eben die Frauenkörper. Vgl. Fußnote 13. 24 | Auf die Frage, warum hier die Musen bemüht werden müssen, komme ich noch zurück. 25 | Platon, Politeia, Buch VIII, 546a-547a.
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Diese so genannte Hochzeitszahl ist ein kompliziertes Geschäft26 und man fragt sich, ob nicht die von Platon mit der Rechenkunst erwähnten anderen »ihr verwandten« Künste mehr Transparenz in die Angelegenheit bringen könnten. Doch leider verrät uns Platon nicht ohne Weiteres, woran dabei gedacht war. Da der junge Gesprächspartner im »Politikos«-Dialog, dem die rechte Vorgehensweise bei der Verbindung der Bürger erläutert werden soll, schon an den ersten mathematischen Themen kläglich scheitert, wählt der ihn belehrende Fremde einen Ausweg: Er erläutert die rechte Staatskunst am Beispiel der Weberei. Dies liegt nahe, weil die Dihairesis, also das Teilen in zwei gleiche Teile, das wichtigste Prinzip der Arithmetik ist und die im Dialog »Sophistes« aufgezählten dihairetika zu einem großen Teil Tätigkeiten der Wollverarbeitung sind.27 Die Dihairesis wird also ausführlich anhand der Gewebeherstellung vorgeführt und der Staatsmann ist am Ende einer, der die tapferen und besonnenen Gemüter so verwebt, wie es der Weber mit der starken Kette und dem weichen Schuss macht. Auf diese Weise wäre es möglich, die Geburten im Staat zu steuern und die Gefahr, dass die Kinder ihren Vätern nicht ähnlich sind, zu bannen. Die Ordnung der Weberei dient hier also als Ersatz für die Klassifikationen der Arithmetik, die der junge Mann im Dialog nicht gut genug beherrscht. Muss man dann nicht davon ausgehen, dass sie das Gewünschte, nämlich die Kenntnis (episteme) der rechten Ordnung, Trennung und Verbindung genauso gut leistet? Besteht Platons Absicht nicht darin, Zahlen zur kontrollierten Reproduktion einzusetzen, was durch die Einführung der Weberei hier nur verdeckt wird? Ist es ein Zufall, wenn wir die Anstrengungen zur Vermeidung des »Aus-einer-Frau-geboren-Werdens« und die ersten formalen Überlegungen einer reinen Mathematik hier so dicht beieinander finden? Und ist es ein Zufall, dass die nötige logische Klassifikation, die Dihairesis, hier über das Ordnen von Wolle und Fäden eingeführt wird? Ist die Binarität vielleicht aus der Weberei in die Mathematik, in die Philosophie und die Logik der Wissenschaften geraten? Für die Möglichkeit des formallogischen Aufbaus mathematischer Gebiete wie der Arithmetik und der Geometrie waren zwei Erfindungen oder Entdeckungen entscheidend: die bereits erwähnte indirekte Beweismethode und die 26 | Ähnliches findet man bei Kronios (ca. 2. Jhd. v. Chr.), der sagt: »10 000 und 7500 verhalten sich zueinander wie das Männliche zum Weiblichen oder auch wie die Seele zum Körper. Der Unterschied zwischen guter und schlechter Nachkommenschaft ergebe sich je nach dem, ob dieses Verhältnis stimmig oder unstimmig sei« (vgl. Gaiser, Konrad: »Die Rede der Musen über den Grund von Ordnung und Unordnung. Platon, Politeia VIII 545D-547A«, in: Klaus Döring (Hg.), Studia Platonica. Festschrift für Hermann Gundert, Amsterdam: Grüner 1974, S. 49-85, hier S. 55). Das wäre immerhin leichter auszurechnen, wüsste man nur, was mit dem stimmigen Verhältnis gemeint ist. 27 | Vgl. E. Harlizius-Klück: Weberei als episteme, S. 94-96. Vgl. auch Platon: Sophistes 226a.
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Entdeckung inkommensurabler Größen, also modern gesprochen die Tatsache, dass es Proportionen gibt, die sich nicht mit ganzen Zahlen ausdrücken lassen (wir sprechen heute von irrationalen Zahlen). Da also eine solche ganze Zahl, die zum Beispiel das Verhältnis von Quadratseite und Diagonale angibt, nicht existiert, muss der Beweis indirekt geführt werden und hier zeigt die dualistische Ordnung der Zahlen nach Halbierbarkeit ihre ganze Potenz. Denn der Clou dieser Vorgehensweise ist, dass man als Anfang setzt, die Zahl würde existieren. Bei ihrer Zerlegung stellt sich dann deduktiv heraus, dass sie zugleich gerade und ungerade sein müsste – und das widerspricht dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten. So hat man gezeigt, dass der Anfang falsch gesetzt war, mithin sein Gegenteil richtig: diese Zahl existiert nicht.28 Auch wenn uns die Binarität des Gerade-Ungerade-Unterschieds unmittelbar einleuchtet, die Komplementarität dieser Zahlqualitäten lässt sich im Griechischen nicht am Wort ablesen. Gerade und Ungerade hießen artios und perissos. Mathematikhistoriker vermuten daher, dass die Zahlen als Figuren von Steinchen diskutiert wurden, man den entdeckten Unterschied als Definition schriftlich festhielt (die geradzahlige Steinchenmenge lässt sich halbieren, die ungeradzahlige nicht) und dadurch zu einer höheren Reflexionsstufe kam, auf der die Kontradiktion deutlich wurde.29 So wäre die binäre Logik von Gerade und Ungerade eine Folge der phonetischen Schrift und ohne diese nicht denkbar. Es scheint also, dass nicht nur die binäre Logik, sondern auch der technisch-zeugende Aspekt des Zahlensystems ein Effekt der Alphabetschrift ist und mit ihr im antiken Griechenland entstand. Hier könnte man enden und die Mischung aus Geschlechterdualismus, dyadischer Zahlordnung und Struktur der Weberei für einen historischen oder platonischen Zufall halten, der die Dominanz des Schrifteffekts nur oberflächlich berührt.
R EPRODUK TIVES Z ÄHLEN In den mathematikhistorischen Studien zur antiken Mathematik bleibt der Aspekt der männlich-weiblich Codierung der Zahl als mathematisch uninteressante und eher lästige Begleiterscheinung ausgeblendet. Wir haben bereits 28 | Vgl. Euklid: Elemente, S. 313 (Buch X, § 115a). 29 | Vgl. Lefèvre, Wolfgang: »Rechensteine und Sprache. Zur Begründung der wissenschaftlichen Mathematik durch die Pythagoreer«, in: Peter Damerow/Wolfgang Lefèvre (Hg.), Rechenstein, Experiment, Sprache. Historische Fallstudien zur Entstehung der exakten Wissenschaften, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 115-169. Lefèvre unterscheidet nicht zwischen Sprache und Alphabetschrift. Vgl. auch E. Harlizius-Klück: Weberei als episteme, S. 55-60.
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gesehen, dass er sich nicht nahtlos und ohne Weiteres deckt mit der geschlechtlichen Codierung der Alphabetschrift, die ohnehin und mit gewissen Bedenken nur für den Anfang gilt, während der Gerade-Ungerade-Unterschied sich über alle Zahlen ausbreitet. Auch die enge Verbindung von Webereitechnik und -terminologie mit der logischen Klassifikation seit Platon wird weder in der Philosophie- noch in der Mathematikgeschichte thematisiert. Sie wird als eine Art Metaphorik übergangen. Vielleicht lohnt sich ein Blick auf andere geschlechtlich codierte Zahlsysteme oder auch solche, die das reproduktive Prinzip als Ausgangspunkt des Zählens sprachlich/wörtlich aufnehmen. Zwei solcher Systeme sollen im Folgenden vorgestellt werden, um zu verdeutlichen, dass diese Zahlauffassung kein Ausnahmefall ist. Jadran Mimica30 geht davon aus, dass unsere Art, Mathematik zu betreiben, spezifisch ist für die abendländische Wissenskultur und dass ethnografische Untersuchungen eine alternative ontologische Grundlage liefern können, um derartige kulturelle Tatsachen zu befragen. Schwerpunkt seiner ethnologischen Studie ist die Logik der Zahlenreihe und deren Erzeugung bei den Iqwaye in Papua-Neuguinea. Gezählt wird mit den Fingern, an den Händen, Füßen, den Personen einer Gruppe usw. Dabei ist das Zählen keine flüssige Angelegenheit, sondern eine Aufgabe, die ständiges Nachdenken erfordert, weil die Zahlen aus den einzigen eigentlichen Zahlwörtern für eins und zwei (ungwonangi und huwlaqu)31 sinnvoll, das heißt gemäß den korrekten Erzeugungsprinzipien, kombiniert werden müssen. Das Zählen folgt dazu der Gliederung des Körpers, der als Einheit von vier Untermengen mit jeweils fünf Elementen gedacht wird: der Eins, der Zwei, der zweiten Eins (=3), der zweiten Zwei (=4) und einer weiteren Eins, die das entstandene Ganze, die Hand (=5), bezeichnet. Beim weiteren Zählen kommt die zweite Hand hinzu, dann geht man zu den Zehen über und schließlich zu anderen Personen. Zum Beispiel bezeichnet man 300 als: ›zwei Hände und ein Fuß Personen mit all’ ihren Händen und Füßen‹. Übersetzt: ((2x5)+5)x((2x5)+(2x5)) = (10+5)x20 = 15x20 = 300. Nach Mimica hat diese Art, Zahlen zu erzeugen, die gleiche Struktur wie der Mythos der Iqwaye von der Zeugung der Welt. Ein männlicher Schöpfergott 30 | Mimica, Jadran: Intimations of Infinity. The Mythopoieia of the Iqwaye Counting System and Number, Oxford: Berg 1988, vgl. S. 6. 31 | Vgl. J. Mimica: Intimations of Infinity, S. 36f. Die Anzahl der Zahlwörter besagt nichts über die Zählfähigkeiten. Sie besagt nur, dass die repräsentative Ordnung auf einer bestimmten Anzahl von Elementen beruht. Im Gegenteil scheint es sogar so zu sein, dass die Komplexität der beherrschbaren Ordnung umso größer sein kann, wenn die Anzahl der Elemente gering und ihre Ordnung simpel ist. Daher rührt der durchschlagende Erfolg des Computers, der ja auch nur zwei Zahlen kennt: Null und Eins.
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(die Iqwaye sind in patrilinearen Abstammungsgruppen organisiert) erzeugt aus seinen Körperteilen den gesamten Kosmos. Die Möglichkeit des Zählens hängt also eng mit dem Bild vom Kosmos und den Prinzipien seiner Entstehung zusammen. Die Zählordnung mit Hilfe des Körperschemas ist als binäre Struktur von Beziehungen zwischen den beiden Zahlen Eins und Zwei organisiert, und zwar analog zu einer Vorstellung von Teil und Ganzem. So ergibt ein Paar (von jeweils zwei Fingern) zusammen mit einem Finger das Ganze einer Hand, die wiederum Teil eines Körpers ist. Mimica spricht vom Zählen der Iqwaye als einem »process of totalisation«.32 Die Teil-Ganzes-Binarität findet sich auch in der sozialen Organisation, in der Kinder Teil-Ganze sind, die den Vater replizieren.33 Der Vater ist als bisexuell gedacht und jeder Körper symbolisch in eine männliche rechte und eine weibliche linke Seite unterteilt, denen das Starke und das Schwache zugeordnet sind. Dabei beruhen diese Zweiwertigkeiten nicht auf der Vorstellung von Gegensätzlichkeit, sondern auf der der Vereinigung, welche eben im Zählprozess permanent wiederholt wird. Die beiden einzigen Zahlen werden auf die beiden Geschlechter abgebildet: »… the ontological meaning of male sex is always oneness, whereas the female is the dyad or twoness.«34 Und Mimica resümiert: »… the generation of numbers is to be understood as the symbolic process of sexual reproduction.«35 Leider erwähnt Mimica nicht, ob die Iqwaye über eine Schrift verfügen. Vermutlich ist dies für ihn wie für andere Mathematiker eine Selbstverständlichkeit. Brian Rotman,36 der ähnlich wie Mimica der westlichen Mathematik vorwirft, in platonistischer Weise eine Realität zu beschreiben, die jenseits der Erfahrung, der Veränderung und der Sprache gültig sei, besteht sogar darauf, dass Mathematik eine Sprache sei, die ohne Schrift nicht existiere. Auf die Frage der Schrift kommen wir noch zurück und sehen uns im Folgenden die Zahlordnung der Quechua-sprechenden Bevölkerung Südamerikas an, bei der wir ebenfalls das Zählen als Reproduktionsprozess vorfinden.37 In Quechua, einer Sprache, die in den bolivianischen und peruanischen Anden
32 | J. Mimica, Intimations of Infinity, S. 56. 33 | Vgl. J. Mimica, Intimations of Infinity, S. 63. 34 | J. Mimica, Intimations of Infinity, S. 89. 35 | J. Mimica, Intimations of Infinity, S. 69. 36 | Rotman, Brian: Ad Infinitum. The Ghost in Turing’s Machine. Taking God out of Mathematics and Putting the Body Back In, Stanford: Stanford University Press 1993. 37 | Vgl. zum Folgenden: Urton, Gary: The Social Life of Numbers. A Quechua Ontology of Numbers and Philosophy of Arithmetic, Austin: University of Texas Press 1997.
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gesprochen wird,38 beginnt man das Zählen mit einer als weiblich gedachten Eins. Das Wort ›Mama‹ bezeichnet: • • • • •
den Ursprung der Zahlen den Ursprung der Farben die (Sippen-)Mutter die Vorsteherin und Meisterin der Web-Werkstatt die Königin der Inka.
Gezählt wird nach dem Vorbild der Zehner-Gruppe einer Mutter und ihrer Nachkommen, geordnet nach dem Alter, das heißt: Säuglinge werden zuletzt gezählt (höchste Zahl, kleinster Finger).39 Beim Zählen werden die Gegenstände oder Zahlen in Paaren gruppiert: zu jeder ungeraden Zahl gehört die ihr folgende gerade Zahl. Das interne Verhältnis dieses Paares ist konträr organisiert: Ungerade Zahlen gelten als negativ, problematisch, Unglück verheißend, gerade Zahlen dagegen als positiv, Glück bringend und produktiv. Neben diesem dualistischen Organisationsprinzip sind außerdem Zehnergruppen von besonderer Bedeutung für umfassendere Zahlordnungen. Nicht zufällig ist der Name der Eins im Quechua auch der Name der Vorsteherin der Webwerkstatt. In der Weberei der quechua-sprechenden Bevölkerung ist die Kunst des Zählens am weitesten entwickelt, und dort wird sie am höchsten geschätzt.40 Mädchen lernen Zählen und Rechnen schon früh beim Weben. Mit vier bis fünf Jahren machen sie ihre ersten Versuche, und wenn sie sechs bis acht Jahre alt sind, beginnt die direkte Anleitung fürs Schären der Kette und das Weben von einfachen Bändern mit geometrischen Mustern, den ch’askas. Mit Eintritt in die Pubertät weben sie ihren ersten axsu: einen Frauenrock mit einem der komplexesten Gewebe, die in den Anden hergestellt werden.41 Er besteht aus zwei Teilen, die man separat webt und anschließend verbindet: einem ungemusterten Feld (pampa) und einem gemusterten Teil, der wiederum aus zwei Sorten von Mustern besteht, den layas (species, Art) mit Tieren, Pflanzen, Menschen, Gegenständen und den ch’askas (Sterne, Zotteln) mit rein geometrischen Motiven.
38 | Vgl. G. Urton: Social Life of Numbers, S. 1. 39 | Vgl. dazu das Kapitel »Birth Order and the Origin of Ordination«, in: G. Urton: Social Life of Numbers, S. 85-90. 40 | Vgl. G. Urton, Social Life of Numbers, S. 111 und S. 112-132. 41 | Die Beschreibung der Weberei folgt G. Urton: Social Life of Numbers, S. 112-137.
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Abbildung 1: Schema eines axsu, aus G. Urton: Social Life of Numbers, dort Abb. 4.5.
Wir finden hier das dualistische Prinzip42 des Zählens wieder, auf dem ebenso die Herstellung der Gewebekette beruht, die aus Paaren von weißen und farbigen Fäden besteht. Auch das dezimale Prinzip spielt beim Mustern eine entscheidende Rolle: Alle layas enthalten ausschließlich Vielfache von Zehn als Fadenpaar-Anzahl, wobei die Zahlen für die enthaltenen Motive festgelegt sind. Pferde bestehen aus 45-50 Paaren, der Kondor hat 30 und Katze, Ente, Hund, Affe und Huhn je 25 Fadenpaare. Leider geht Gary Urton auf mathematisch komplexere Fragen der Musterweberei nicht ein, da seine eigene Weberfahrung nicht weit reicht (und die Frauen andere Zahlbezeichnungen haben, die die Männer nicht kennen und die man ihnen auch nicht verrät).43 In mathematischen Begriffen gesprochen erfordert die Musterweberei Kenntnisse der Modulo-Arithmetik (Theorie der Restklassen), der Primzahl42 | Urton benutzt den Begriff Dualismus (dualism), der Zweiwertigkeit bezeichnet. 43 | »… women have their own number symbols and metaphors and … many of these are of an explicitly sexual nature …«, G. Urton: Social Life of Numbers, S. 45.
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theorie, der Berechnung von kleinsten gemeinsamen Vielfachen und größten gemeinsamen Teilern sowie Kenntnisse über die Geometrie der Ebene und die Möglichkeit der Beschreibung in rationalen Verhältnissen. Jedes Muster muss ja in diskrete, zählbare Einzelelemente aufgelöst oder aus ihnen zusammengesetzt werden. Die fürs Zählen und beim Mustern der Gewebe zentralen Prinzipien dual und dezimal weist Urton schon in der Organisationsstruktur des Inka-Staates vor der Ankunft der Spanier (also vor der Kenntnis der lateinischen Schrift) nach,44 denn zum einen gab es dort das dualistisch organisierte Prinzip der Gabe und Gegengabe, bzw. der Verpflichtung zwischen Menschen von hohem und niedrigem Rang, und zum anderen entstanden tributpflichtige Gemeinschaften durch die Ordnung in 10er bzw. 100er und 1000er Gruppen. Erst bei einer vollständigen Gruppe entstand die jeweilige Tributpflicht. Gary Urton schreibt nun zum Prinzip des Zählens, Fortpflanzung oder auch Reproduktion sei die Kategorie, die sowohl geordnete Sequenzen von Elementen zeuge als auch zur Benennung dieser Ordnung verwendet werde.45 Die sukzessive Ordnung nach Geburt ausgehend von der Mutter als produktivem Ursprung sei das Vorbild (zahlenmäßiger) Ordnung überhaupt. Verwandtschaft und soziale Beziehungen bildeten daher die Grundlage für das Denken mit und über Zahlen und jede Form der guten oder richtigen Organisation, etwa bei der Verwaltung des Staates.46 Doch Urton berücksichtigt nicht, dass die reproduktive Ordnung keine modulo-Arithmetik vorschreibt. Weder der Gerade-Ungerade-Unterschied noch die dezimale Gruppierung ist auf die Verwandtschaftsbeziehung zurückführbar. Man könnte mit Blick auf Mimicas Beispiel der Iqwaye vermuten, dass die Zehnergruppen ihr Vorbild in der Ordnung der Finger und Zehen haben. Für die Gerade-Ungerade-Komplementarität scheint der Geschlechtsunterschied zwar nahezuliegen, er wird aber im Quechua gar nicht in Anspruch genommen, obwohl es um Reproduktion (der Gemeinschaft der Mutter und ihrer Kinder) geht. Tatsächlich scheint mir eine mögliche Antwort in Urtons Beispiel darin zu liegen, dass die Zahl eine Abstraktion der Gewebeordnung ist, die die Ordnung des Lebendigen als Ganzes vorstellt. Die von Urton referierte Zahlordnung ist eine modulo-Arithmetik, die nur vollständige Einheiten/Gruppen zählt, so wie es ja auch im gut gemusterten Gewebe der Fall ist. Wo es um die Ordnung im Staate geht, wird nicht unbedingt die Zahlstruktur auf den Staat übertragen, sondern vermutlich die strukturelle Ordnung der Weberei – und die Zahl ist das passende Mittel, um dies zu tun. 44 | Vgl. G. Urton: Social Life of Numbers, insbes. das Kapitel: »Numbers and Arithmetic in Pre-Hispanic and Colonial Andean Societies«, S. 173-201. 45 | G. Urton: Social Life of Numbers, S. 70f. 46 | Vgl. G. Urton: Social Life of Numbers, S. 214-219.
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Genau diese Vermutung wird durch ein Dokument bestätigt, das versucht, den Europäern die schriftlose Inka-Kultur durch Bilder zu verdeutlichen. Folgende Abbildungen stammen aus dem 1176 Seiten langen Brief des Guaman Poma de Ayala, selbst Nachkomme der Inka, an König Philipp III. von Spanien. Dieser Buch-Brief trägt den Titel »neue Chronik über die gute Regierung« und klagt die Haltung der Spanier an, die sich als von Gott gesandte gute Herrscher aufführen. Er stellt dem spanischen Verwaltungs-System die alten, besseren und sogar »christlicheren« Traditionen der Inka gegenüber.47
Abbildung 2: (links) Yahuar Huaca Inka, (rechts) Viracocha Inka, aus: Guaman Poma. Nueva corónica, fol. 104v und fol. 106v. Die Abbildung 2 zeigt den siebten und achten von zehn dargestellten Inka-Königen, die alle mit Tunika und Mantel bekleidet sind. Die Tunika hat ein in Reihen und Streifen angelegtes Muster. Innerhalb einzelner Felder sieht man die in den westeuropäischen Sprachen geläufigen hindu-arabischen Zahlzeichen, die den Inka-Königen und den Weberinnen vor der Ankunft der Spanier natürlich unbekannt waren (vgl. Abb. 3). Es handelt sich also vermutlich um eine Übersetzung von Muster-Elementen in Zahlzeichen. Doch die Zuordnung bleibt ungewiss. Gary Urton vermutet, dass Guaman Poma nur illustrieren wollte, dass die Inka schon vor den Spaniern Zahlen als Organisations-Instrumente der Regierung benutzten. Die Kenntnis der administrativen Kompetenz der Zahlen 47 | Das Manuskript befindet sich heute in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen und ist vollständig unter www.kb.dk/permalink/2006/poma/ einsehbar. Die Abbildungen stammen aus dieser Quelle.
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sei sein wichtigstes Argument gegen die moralische Überlegenheit der Spanier und ihre Vorstellung von einer guten Regierung.48 Doch auch hier ist es fraglich, ob es Poma um die Zahl als abstraktes Ordnungsinstrument ging, oder ob er die Musterelemente, nach denen die Ordnung im Inka-Staat geregelt wurde, in die den Spaniern bekannten Zahlen übersetzte, weil ihm klar war, dass man ihnen eine aus Mustern abgeleitete Ordnung nur auf diese Weise verdeutlichen konnte.49
Abbildung 3: Detail der Tunika von Yahuar Huaca Inka.
A M S AUM ERKENNT MAN DAS G E WEBE 50 Warum schon wieder die Weberei als Vorlage einer guten Ordnung? Liegt bei Platon vielleicht eine ähnliche Situation vor? Ist eine derartige Musterweberei das ideale Vorbild eines Mediums, das nach binären Prinzipien und mathematisch beschreibbaren Abfolgen reproduziert? Die Bildweberei ist nicht nur deshalb als Reproduktionsmedium aufzufassen, weil sie ein Bild der Dinge und ihrer Ordnung bietet. Der Webprozess wird häufig analog zur natürlichen Reproduktion aufgefasst, und zwar nicht nur bei den Quechua-sprechenden Frauen, sondern auch in der griechischen Antike. In Untersuchungen zur Funktion von Geweben in der homerischen Gesellschaft hat Beate Wagner-Hasel herausgearbeitet, dass die webenden Frauen bei Homer (Helena, Penelope etc.) den zeitlichen Gattungskörper symbolisch mit ihren Geweben und real durch den Tausch bzw. die Gabe dieser Gewebe herstellen. Die Weberei der basileas (adliger Frauen mit dem Status einer Art von Königin) 48 | Vgl. G. Urton, Social Life of Numbers, S. 201-208. 49 | Selbst wenn zum Beispiel unsere deutsche Sprache nahe legt, dass eine musterhafte Ordnung schon alleine aufgrund ihres Namens etwas mit Mustern auf Stoffen zu tun haben könnte – wir fänden die Erklärung, dass es um eine zugrunde liegende ›eigentliche‹ Zahlstruktur gehe, allemal überzeugender. 50 | Ein vergessenes Sprichwort, weil sich uns der Sinn nicht mehr erschließt. Vgl. Harlizius-Klück, Ellen: Saum & Zeit. Ein Wörter-und-Sachen-Buch in 496 lexikalischen Abschnitten angezettelt, Berlin: Ebersbach 2005, S. 169.
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und die Zirkulation dieser Gewebe stellte eine Gemeinschaft durch die Zeit her und konnte beim Fehlen von klaren Erbfolgeregelungen auch Rangpositionen bestimmen. Wagner-Hasel spricht von einer in den Geweben materialisierten generativen Macht, über die nur die Mütter und Ehefrauen verfügten, und »die die Diskontinuität von Erfahrung und Erinnerung überbrückt und Rangpositionen in die nächste Generation übermittelt.«51 Diese generative Macht wurde im demokratischen Athen von den Männern beansprucht. Die von Nicole Loraux als Beleg für die Veränderung der Mutterrolle zitierten Beschränkungen der Trauer betreffen folgerichtig auch die aufwändigen Stoffe und Kleider, die in den althergebrachten Trauerritualen eine große Bedeutung hatten. Wie Beate Wagner-Hasel nachgewiesen hat, war davon nicht nur die öffentliche Darstellung weiblichen Reichtums und weiblicher Fertigkeiten betroffen, sondern gerade auch der Anteil am Nachruhm der Toten, der die familiäre Stellung durch die Zeit sicherte.52 Demnach war in der Übergangszeit von der Erfindung der Schrift zur Erfindung des schriftlich kodifizierten Gemeinwesens die Polisbildung keine Frage dauerhafter Gedächtniszeichen: »Der Polisbezug im Sinne eines Gemeinschaftsbezugs, der über das Hauswesen hinausreicht, ist eher in den Ritualen der Frauen, in der Totenklage und in der Präsentation des Leichentuchs sichtbar, die sich an die Bewohner eines Gemeinwesens oder einer Siedlung, an den demos, wenden.«53 Man muss sich die Technik genauer ansehen, um zu verstehen, worin genau der Bezug von Weberei und reproduktiver Ordnung besteht und wo spezifische Zahlqualitäten ins Spiel kommen. Das Mustern des Gewebes wird in Griechenland durch eine Besonderheit des verwendeten Gewichtswebstuhls zugleich erschwert und vereinfacht. Bevor der Webstuhl eingerichtet werden konnte, webte man ein Band, das so lang war, wie das spätere Gewebe breit sein sollte. Die Schussfäden dieses Bandes zog man an einer Seite so weit heraus, wie das Gewebe lang werden sollte. Dann befestigte man das Band oben am Querbalken des Webstuhls und die langen herabhängenden Fäden dienten als Kettfäden des Gewebes, an die die Gewichte angeknotet wurden.54
51 | Wagner-Hasel, Beate: Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, S. 204f. 52 | Vgl. B. Wagner-Hasel, Stoff, insbesondere Kapitel IV: »Ehrgeschenke und Machtstruktur: time und geras«, S. 166-219. 53 | B. Wagner-Hasel: Stoff, S. 218. 54 | Vgl. Barber, Elisabeth J. W.: Prehistoric Textiles. The Development of Cloth in the Neolithic and Bronze Ages with Special Reference to the Aegean, Princeton 1992, S. 269-273; vgl. auch E. Harlizius-Klück, Weberei als episteme, S. 99-119 (mit korrigiertem Webstuhldiagramm).
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Schon beim Weben dieses Anfangsbandes wurden die Fäden gruppiert: die geradzahligen und die ungeradzahligen jeweils in eigenen Bündeln. Diese Art der Trennung müsste in Platons Dialog dem verbindenden Teil der Weberei, also dem eigentlichen Weben untergeordnet werden. Es wird nämlich dort die Wollverarbeitung in zwei Teile geteilt, die jeder wiederum zwei Teile haben: Die diakritike (der trennende Teil) und die synkritike (der verbindende Teil) lassen sich wieder unterteilen in je einen trennenden und verbindenden Teil. Das Kämmen der Wolle gehört demnach zum trennenden Teil der trennenden Hälfte, das Spinnen zum verbindenden Teil der trennenden Hälfte. Das Weben ist das Verbindende der verbindenden Hälfte, aber das Trennende der verbindenden Hälfte wird verschwiegen.55 Das Band blieb am Gewebe und konnte an den Seiten fortgesetzt werden, so dass das fertige Tuch nicht zugeschnitten werden musste.56 Die Säume und Kanten waren von Anfang an mit in das Gewebe integriert. Das bedeutet für die Webereipraxis, dass man die Musterrapporte sehr präzise an das vorgewebte Band anpassen und schon beim Weben dieses Bandes genau überlegen musste, welche Folgen die Musterung oder die Anzahl der eingetragenen Fäden für das Gesamtgewebe haben würde. Wir kennen dieses Thema von der ordnenden Macht des Anfangs schon. Es ist in der griechischen Antike nicht nur eine Frage des logischen Aufbaus von Theorien, sondern auch eine Frage der Legitimation von Texten. Der Inhalt des Lehrgedichtes des Parmenides bezieht seine Glaubwürdigkeit aus der Tatsache, dass er dem Autor durch eine weibliche Gottheit verkündet wird und der Anfang des Lehrgedichts beschreibt die Reise zu dieser Göttin. Platon hat die Hochzeitszahl von den Musen verkünden lassen, ähnlich wie Homers Ilias mit der Anrufung der Musen beginnt. Diese Anfangsfiguren scheinen aus der Not der Dichter, ihre Dichtung zu legitimieren, in die frühen Werke der Wissenschaft übernommen worden zu sein. Gregory Nagy57 hat für die autoritative Bedeutung von Eingangsformeln in Dichtung und Geschichtsschreibung einen Zusammenhang zwischen dem Prozess des Webens und dem Verfassen von Texten nachgewiesen. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Gewebeanfangskante, die im Falle der Herstellung sakraler Gewebe wie des peplos der Stadtgöttin Athena kultische Bedeutung hatte. Aus diesem sakralen Charakter der Herstellung der Gewebeanfangskante für Gewänder der Götter leitet Gregory 55 | Platon, Politikos, 282a-b. 56 | Dies ist der verlorene Sinn des Sprichworts am Anfang dieses Kapitels: am (ungeschnittenen und deshalb ungenähten) Saum erkennt man, ob ein Gewebe auf einem Gewichtswebstuhl hergestellt worden ist. 57 | Nagy, Gregory: Plato’s Rhapsody and Homer’s Music. The Poetics of the Panathenaic Festival in Classical Athens, Cambridge MA/London: Harvard University Press 2002.
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Nagy die legitimierende Bedeutung des Anfangs ab. Dabei bleibt die Frage, warum denn die Weberei des Anfangs eine so hohe kultische Bedeutung hatte. Wird hier nicht die technische Tatsache, dass dem Saum, dem Geweberand, als Anfang und Grund der gesamten Gewebestruktur und -ordnung eine regulierende und legitimierende Bedeutung zukommt, auf die Textproduktion übertragen? Dann wäre die kultische Bedeutung des Anfangs der Übertragung textiltechnischer Bedeutungsstrukturen auf Texte zu verdanken. Und selbst wenn die Webtechniken ebenso wie die Redeformeln und die Legitimation durch die weibliche Gottheit im Laufe der Zeit verschwinden, so bleibt doch die ordnende Macht des Anfangs in der neu entstehenden Denkstruktur erhalten. Nun bietet ein Gewebe trotz der Herrschaft der binären Prinzipien Kette und Schuss bzw. Kettfadenhebung und -senkung und trotz der klaren Hierarchie des Anfangsbandes über die Struktur des fertigen Gewebes nicht den Anblick einer hierarchischen oder binären Organisation. Es stellt am Ende weniger die Differenz der Elemente, sondern eher ihre Verbindung vor Augen. Es besteht aus binär organisierten kontinuierlichen Elementen, deren konträre Eigenschaften eine Sache des Produktionsprozesses sind. Das Gerade- oder Ungerade-Sein ebenso wie das Kette- oder Schuss-Sein sind temporäre Eigenschaften dieses kontinuierlichen Fadens. Die binären Differenzen der Weberei58 sind daher am Ende im Gewebe aufgehoben und zwar in dem doppeldeutigen Sinne, dass sie sowohl teilweise verschwinden (der Unterschied von Kette und Schuss ist kaum noch erkennbar) als auch sichtbar bleiben (welcher Faden ist gehoben, welcher gesenkt). Es sind genau diese Eigenschaften, die im platonischen Dialog »Politikos« für die Ordnung des Gemeinwesens durch den Staatsmann genutzt werden. Insofern ist die Weberei zwar einerseits den Handwerken zuzurechnen, die nicht zur reinen Erkenntnis führen, andererseits liefert sie aber auch das Vorbild der klassifikatorischen Ordnung überhaupt. In der oft zitierten Unterteilung der Erkenntnisse (epistemas) in »die Rechenkunst und einige andere ihr 58 | Ein schönes Beispiel für die Gefahr, durch die Faszination der binären Struktur genau am Kern des Webprozesses vorbeizuzielen: Olaf Eigenbrodt will die Weberei in den Gegensatz von analog und digital einordnen und schreibt, seit der Jacquardmaschine sei aus dem vorher analogen Webstuhl ein digitales Gerät geworden. Die Jacquardmaschine automatisiert aber lediglich einen Prozess, der schon immer digital organisiert war, denn die Maschine erledigt die Arbeit des Ziehjungen, aber sie verändert nichts an der Struktur der Weberei oder am Prinzip des Webstuhls, der, seit es ihn gibt, mit der zweiwertigen Anweisung arbeitet, den Kettfaden entweder zu heben oder zu senken. Vgl. Eigenbrodt, Olaf: »Textnetze – Netztexte. Mythopoetische Gewebe, poststrukturalistische Literaturtheorie und Hypertext«, in: Gabriele Mentges/Heide Nixdorff (Hg.), Bewegung – Sprache – Materialität. Kulturelle Manifestationen des Textilen (Textil – Körper – Mode. Dortmunder Reihe zu kulturanthropologischen Studien des Textilen; Band 4), Berlin: Ebersbach 2003, S. 89-183, hier insbesondere S. 150.
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verwandte Künste«59 und Handwerke, welche die »körperlichen Dinge, welche vorher nicht waren«60 erzeugen, müsste man die Weberei aufgrund ihrer binären und daher dihairetischen Struktur in die erste Kategorie setzen, zumal die Zahlklassifikation nach geraden und ungeraden Zahlen hier ihre wichtigste Bedeutung und vielleicht sogar ihren Ursprung hat. Wie auch immer die reproduktive Potenz der Zahl und ihre Attributierung als weiblich oder männlich von Platon gedacht war, in die später daraus entstandene Logik und Mathematik sind solche Zuordnungen nicht ohne markante Verschiebungen übernommen worden. Was die an einer Relativierung der westlichen Mathematik interessierten Autoren als platonistische Mathematik kritisieren, enthält in ihren Augen keine geschlechtliche Konnotation.61 Bei Platon selbst war das noch anders. Und so können seine Schriften als Beleg dafür gelten, dass man gar nicht nach Südamerika oder Neuguinea schauen muss, um die platonistische Mathematik zu dekonstruieren. Manchmal genügt ein genauer Blick auf den Anfang.
59 | Platon: Politikos 258d. 60 | Ebd., 258e. 61 | Es sei denn, man fasst die seit Aristoteles als verbindlich geltende Zählung als eine Form der geschlechtlichen Reproduktion des Vaters im Sohn/Nachfolger auf.
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1. S UPERNATUR AL H ORROR AND S UPERNATUR AL L IFE The concept of life encompasses so much that it is difficult not to think of it in terms of contradiction. We live in an era that is witnessing the creation of previously impossible life forms in the lab, and in the computer. It is also a time in which the threat of extinction – the absolute negation of life – is evoked in the occurrence of natural disasters and global pandemics. In a sense, the major problem is not whether one can define life, but with the very plasticity of life, a shape-shifting quality that is exhibited in all the different ways in which we use the word. This presents obstacles to any attempt to adequately think the concept of life. The result is a sense that life is everywhere at stake, and yet it is nowhere the same. It is claimed of everything, and yet it itself is nothing. It is at once ineffable and yet defined by specific properties. There is a cultural expression of this as well. Many stories in the literary tradition of supernatural horror contain thought-provoking insights on the concept of life – and, specifically, on the limits to such a concept when it is thought of in exclusively human-centric terms. Let us take the late-period works of H.P. Lovecraft as an example. In Lovecraft’s stories, one often finds three forms of life: There is, first, the human-centered world of the living and the non-living (plants, animals, human beings), along with the profane world of society, politics, and science. This is a world in which we find characters weighted down by deeply-ingrained ways of thinking about the world – rural vs. urban, civilized vs. primitive, ancient vs. modern, and so on. In the midst of this all-too-human world, Lovecraft’s characters discover remnants – usually at a distant, furtive archaeological site – of advanced forms of life that have existed eons prior to the appearance of life on earth as we know it. This is the life that is so ancient it is alien. For Lovecraft’s characters, the strange, alien facticity of the remnant throws into abeyance all human presupposition – history, biology, geology, cosmology
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– concerning the human and its relation to the world. But there is also a third form of life that appears in Lovecraft’s stories. This form of life often resists description, either in terms of the human world, or in terms of the Old Ones. While this form of life is often named, more often than not, however, they represent the very horizon of human thought to think life and the living at all – hence Lovecraft’s characters obliquely refer to them as ›nameless things‹. Furthermore, what is horrific is not just that such nameless things are alive, but that in their living they evoke in Lovecraft’s characters the limits of thought to think life at all. In Lovecraft’s novel »At the Mountains of Madness« one of the central characters attempts to describe the Shoggoths – an oozing form of life composed of mathematically-grouped dots and a multitude of eyes: »Formless protoplasm able to mock and reflect all forms and organs and processes – viscous agglutinations of bubbling cells – rubbery fifteen-foot spheroids infinitely plastic and ductile […] more and more intelligent, more and more amphibious, more and more imitative […].«1 Lovecraft’s characters are not insane – in fact, the source of their horror is that they are not insane, for then they could dismiss what they encounter as pure subjectivism. The problem is that Lovecraft’s characters come to verify this third form of life – but in a manner that is incommensurate to any form of empirical verification. The very categories of matter and form, actual and potential, origin and finality – all these flounder before a form of life that is at once oozing and mathematical, formless and geometric. In a sense, this third kind of life, the ›nameless thing‹ so often described by Lovecraft, is a paradigm for the intelligibility of life today. Certainly, with so many definitions of life, and so much knowledge produced about this or that form of life, the question of life itself does not disappear.2 In fact, it becomes more pronounced. In other words, the various and often competing epistemologies of life3 in the end point back to a more fundamental question concerning an ontology of life, and to what extent such an ontology is possible. It is for this reason that a return to Aristotle’s project is worthwhile. However, the suggestion is not that Aristotle provides any new perspectives or alternatives, much less an answer to the question of life. What I will suggest is that 1 | Lovecraft, Howard Phillips: »At the Mountains of Madness«, in: S.T. Joshi (ed.), The Thing on the Doorstep and Other Weird Stories, New York: Penguin 2001, S. 246-340. 2 | The concept of life itself – which is found in recent science studies scholarship – is posed as a philosophical problematic early on by Georges Canguilhem. Indeed, the question of life itself haunts nearly every major thinker in the history of biology. See Canguilhem, Georges: La connaissance de la vie, Paris: Vrin 2000. 3 | For example, see Ruse, Michael (ed.): The Philosophy of Biology, Amherst/New York: Prometheus Books, 2007. For a historical analysis, see Lenoir, Timothy: The Strategy of Life, Chicago: University of Chicago Press 1989.
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Aristotle sets out a framework for thinking about life whose influence can still be detected today. That framework is really a limit – and it is a limit beyond which we must go if we are to continue thinking about our current situation of biopolitics,4 bare life,5 or whatever one prefers to call it. The key to moving beyond the Aristotelian ontology of life lies in the fissures within that ontology. These fissures are not lapses in argumentation – rather, they entail the development of a logically coherent and yet necessarily contradictory concept of life.
2. THE P ROBLEM OF L IFE The text in which Aristotle poses this question of an ontology of life is the »De anima«. However, it is important to note that the approach to the »De anima« presented here differs significantly from its tradition reception. Generally speaking, there are three main traditions surrounding the interpretation of the »De anima«. The first is that of theology, in which the notion of life is read in terms of soul or spirit in the early Christian sense. Between the 11th and 13th centuries, the commentaries by Arabic, Jewish, and Christian philosophers deeply influenced this theological reading of the »De anima«. Here life is understood as the divine spark of life that emanates or is manifest in all the individual instances of living creatures. The unfortunate English translation of the »De anima« as »On the Soul« still betrays the influence of this tradition today. Added to this is a second interpretive tradition, which is that of biology. While natural philosophers such as the Comte de Buffon noted the importance of Aristotle for taxonomy and classification,6 it is with the emergence of distinct life sciences, especially after Lamarck and Darwin, that Aristotle begins to be written into the history of biology. Here life is understood as natural-biological life, perhaps endowed with a vital life-force that flows through each living organism. Today, university textbooks on the philosophy of biology routinely begin with Aristotle, the ›godfather of biology‹. Finally, there is a third approach, that of psychology, which has become the dominant framework for reading the »De anima« today. Arguably, this approach was inaugurated by the work of Franz Brentano, whose work on the »De anima« focused on sense perception, emotion, and cognition. This post-Kantian reading of the »De anima« relegated the question of life itself into the background, in 4 | Of Foucault’s many lectures on biopolitics, see Foucault, Michel: Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France, Paris: Seuil 2004. 5 | See Agamben, Giorgio: Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, Stanford: Stanford University Press 1998. 6 | See the introduction to the »Histoire naturelle«, collected in Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon: Oeuvres, Paris: Gallimard 2007.
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favor of an understanding of the human subject and its phenomenal relation to its environment.7 A great deal of recent scholarship on the »De anima« emphasizes this cognitivist approach.8 These traditions of interpretation are neither chronological nor mutually exclusive. They form three ways in which the central philosophical question that the »De anima« poses – the question of life itself – is sublimated into a non-philosophical domain (theology, biology, psychology). In the process, the question of philosophy has dropped out, and this strange disappearing act is, in a way, the fundamental fissure within the »De anima« itself. Therefore, the »De anima« is a treatise of ontology, but of a particular kind – a treatise on the ontology of life, insofar as ›life‹ is not simply reducible or synonymous to ›being‹. To begin with, consider the »De anima« as an approach to a basic problem: whether there can be an ontology of life that does not simply become either biological description, theological sublimation or psychological interiorization. Let us state up front the core of this problem, which is that Aristotle must presuppose that which he sets out to discover. In setting out to discover the principle of life, Aristotle must presume the difference between the living and the non-living. The problem Aristotle is faced with goes something like this: Aristotle, in approaching the diversity of life forms, observes a set of characteristics unique to what he calls life. These are described in treatises such as the »Historia Animalium«, as well as in the »De anima«. These include life defined by its forms (as productive of forms-of-life), life defined by its temporality (characterized by movement and change), and life defined by a spiritual aspect (that which is common among all forms of life). In spite of – or because of – this Aristotle is confronted with a challenge, which is to articulate a concept that is adequate to the diversity of what counts as life. Such a concept must, in Aristotle’s terms, be at once the formal and the final cause, the point at which the two overlap. But this means that such a concept cannot itself be a kind of life, or one among many instances of life, for otherwise this simply begs the question, in an infinitely deferred search for a first cause. In addition to this, any concept of life must account for the internally-caused, self-animating, and self-organizing capacities of life. The concept of autonomy is important for Aristotle, both in the »De anima« and in treatises such as »De Motu Animalium«. The cause of life, and the condition for life, is part of life itself. For Aristotle, it is this self-governing aspect of life that serves to different7 | Brentano, Franz: The Psychology of Aristotle, Berkeley: University of California Press 1977. 8 | For a summary, see the introductory essays in Nussbaum, Martha/Rorty, Amelie Oksenberg (eds.): Essays on Aristotle’s De Anima, Oxford: Oxford University Press 1995.
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iate the living from the non-living. Any concept of life must be inseparable from actual instances of life – while not being determined or limited by them. On the one hand, any concept of life must be transcendent to life in order to account for its propensity for change. On the other hand, any concept of life must be immanent to life in order to demonstrate the interrelation between essence and existence. While the biologist in Aristotle observes a set of characteristics unique to what he calls life, the metaphysician in him struggles to articulate a coherent concept to encompass these different characteristics of life.
3. P RINCIPLE - OF - LIFE How does Aristotle resolve this problematic? In the »De anima« Aristotle performs two operations that are crucial for his ontology of life. The first is to propose a re-working of the Greek term psukhē (ψῡχή) such that it can function as the concept of life itself. As we’ve noted, the complicated tradition of translation and commentary on the »De anima« has resulted in the English rendering of the term psukhē as ›soul‹, though Aristotle certainly had in mind a non-theistic notion of ›soul‹. The term psukhē is perhaps better translated as ›vital principle‹ or ›principle of life‹, given the way that Aristotle’s text straddles the domains of philosophy, biology, and theology. Most of Book I of »De anima« is concerned with this re-working of psukhē as it is used by earlier thinkers. In each case, what Aristotle extracts from the prior concepts of psukhē is an animating principle of the world that is not itself reduced to its own attributes. What the presocratic use of psukhē does account for is movement, and in particular, the very capacity for movement, change, and development that is characteristic of living beings. But this usage is inadequate in that it does not account for how dynamic change or movement occurs, especially in the cases of living beings. Life, then, is the standard for understanding the dynamic and process-based aspects of the natural world. One can, for instance, simply define life not in terms of what it is, but in terms of what it does. In Book II of the »De anima« Aristotle notes that of bodies generally speaking, »some have life and some have not; by life we mean the capacity for self-sustenance, growth, and decay.«9 In passages like these Aristotle uses the term zoē, denoting as it does biological life. But for Aristotle it is precisely this sort of descriptive definition that must itself be explained. Hence his preference for the term psukhē or ›soul‹. For Aristotle psukhē must not simply describe, but also put forth a more fundamental question about a principle of life, and what the term psukhē defines is the very idea of life itself. Aristotle 9 | Aristotle: On the Soul; Parva Naturalia; On Breath, Hett, W.S. (trans.), Cambridge: Harvard University Press 2000 [1936], II.1.412a.
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reiterates this equation repeatedly throughout the »De anima«: »The soul is the cause, the first principle of the living body«; »that which has soul is distinguished from that which has not by living.«10 In these and other passages, Aristotle sets a number of terms in a constellation with each other. There is, of course, the principle term psukhē (soul), which Aristotle equates with the concept of life itself. But this is also distinguished from other terms denoting life such as zoē, which implies a more biological, naturalistic understanding of life, and bíos, which often implies a qualified life. What distinguishes psukhē as not just meaning life but specifically a principle of life is the term Aristotle uses again and again, archē. This is the key to Aristotle’s raising up of the term psukhē to an ontological principle, a principle-of-life. However, the Aristotelian ontology of life opens onto a further problem regarding the status of psukhē as a principle, an essence-concept. From one perspective, psukhē is that which conditions change and which does not change; a principle of life that is itself not life. However psukhē also cannot be totally separate from the actualization of change, or towards that which it tends – its purpose, its finality, its goal or aim. This in turn implies that psukhē is never present in itself, apart from its manifestation in the various kinds of life. While Aristotle’s concept of psukhē enables him to unfold an entire ontology around life as a principle-of-life, there still remains the problem of the relation between psukhē as this life-in-itself and psukhē as manifested concretely in physical, biological, living beings.
4. L IFE VS . THE L IVING Aristotle’s concept of life psukhē must perform contradictory functions: it must account for life without itself being life, and yet it cannot be separate from life. It must be at once external and internal to life. How does Aristotle smooth-over this contradiction? The clearest statement comes in the opening passages of the »De anima«. Aristotle begins by raising up the question of life to that of a philosophy of nature: »The knowledge of the soul admittedly contributes greatly to the advance of truth in general, and, above all, to our understanding of Nature.« He then states the ontological ground of such a philosophy, noting that »the soul is in some sense the principle of animal life.« Given this, Aristotle then outlines a philosophical program that aims to study »first its essential nature, and secondly its properties.« Such a program will be founded on a basic distinction, which
10 | Ibid., II.4.415b; II.2.413a.
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is that some of the properties of life are »proper to the soul itself, while others are considered to attach to the animal owing to the presence within it of soul.«11 What is interesting in passages like these is the distinction Aristotle makes within life. Every time Aristotle mentions psukhē (soul) he couples it with terms such as zoē (animal life). Here, at the outset of the treatise, Aristotle is laying bare his aim. But in so doing he is also setting the parameters for what an ontology of life can possibly mean. We set out to inquire into what psukhē is. Why? Because psukhē is the principle or archē of all living beings. But how and in what way is psukhē a principle of life? Again Aristotle’s original problem returns – we look around and bear witness to all the diverse and particular instances of life; how can there be a concept to encompass everything that is life? Aristotle’s reply is that a single principle of life can only encompass all the particular instances of life if that concept is itself internally split, and that split will be between psukhē as a life-principle and psukhē as a manifestation in living beings. This is a delicate distinction in the »De anima« – it never quite holds, even though Aristotle states it at the outset. But it is also a crucial move philosophically speaking, for it allows Aristotle to think both a concept of life-in-itself, un-tethered to this or that particular instance of life, as well as a concept of life in its manifold variations and manifestations. Quite simply, Aristotle utilizes metaphysical concepts to describe an internal differentiation within psukhē. There is a first aspect of psukhē, the essence or the being of life, as it were. Here one is considering not this or that particular living being, but that aspect of life that cuts across all particular instances of life. Then there is the second aspect of psukhē, or those attributes that may vary or change, without effecting the principle-of-life itself. In the case of an animal, the substantial notion of psukhē would be that which it has in common with any other living being, that by virtue of which it is living, while the accidental notion of psukhē would be all those attributes that constitute the variables of this particular animal – e.g. the variables that delineate one species from another. In short, Aristotle bifurcates the concept of psukhē into psukhē-as-principle and psukhē-as-manifestation, or, in different terms, into that-by-which-the-livingis-living and that-which-is-living. While this internal differentiation generally adopts the metaphysical pair of substance-accident, it also takes on a new guise in the context of an inquiry into life. Let us summarize by saying that Aristotle’s ontology of life depends on a split within the central concept of psukhē, and that split is one between Life and the living.12 The concept of life in the »De anima« 11 | »On the Soul«, Smith, J.A. (trans.), in: Jonathan Barnes (ed.), The Complete Works of Aristotle, Princeton: Princeton University Press 1984, I.1.402a. 12 | The distinction between Life-living bears comparison to Heidegger’s distinction between Being-beings. However Heidegger himself was greatly influenced by Aristotle (in particular, his early lectures on ›facticity‹ in Aristotle), and the question of Being-
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is bifurcated between a quasi-ontological notion of Life and a naturalistic notion of the living (or particular instances or manifestations of Life). Here Life is the concept of life-in-itself, the life of the living, the abstract notion of life, while the living are any and all the instances of life, the manifestations of life, in some cases even the naturalistic and biological notions of life. Life is that through which the heterogeneous domains of the living are alive; Life is that by which the heterogeneous domains of the living can be said to be alive. Aristotle’s ontology of life sets out to address both the concept of life and its manifestations. The term psukhē signifies that which is held in common among all the living, while the internal distinction between Life and the living accommodates stratifications within life. So crucial is this move to any ontology of life that it can be said to be equivalent to the very possibility of an ontology of life itself. Aristotle’s original problematic is how to articulate a concept of life that accounts for its multiplicity. His solution is to develop a concept of a principle-of-life, encapsulated in the term psukhē. But then this requires a presupposition between something called lifein-itself and the various and manifold instances of the life (Life and the living). However this raises more questions than it answers – in Aristotle’s »De anima«, psukhē is at once ontologically necessary and yet that which cannot be thought in itself.
5. L OGIC AND L IFE Immediately one notices a number of contradictions within this Aristotelian framework. To begin with, while we can point to numerous instances of the living, Life, in itself, is never existent as such. The only evidence of Life is precisely its manifestation in and as the living. And yet, in his emphasis on the hylomorphic conjunction of form and matter, Aristotle also notes that there is no such thing as Life in itself – only Life as it is manifested and actualized. Aristotle, though he may state his aim as being an inquiry into Life, can only begin by elaborating descriptions of the living. The end-point appears to be the only starting-point, and what grounds the Aristotelian ontology of life is therefore that which is not available to thought. If Life, as that which grounds the living, is never present in itself, then this opens onto another contradiction: What is common among the living is Life, beings is posed in a rudimentary fashion in Aristotle’s »Metaphysica«. But in Heidegger’s lectures on Aristotle, facticity is never posed as a question of life. Instead, facticity comes to define the existence as such of particular beings (be they living or not). In short, the wager that Aristotle makes is that there can be an ontology of life in which life is not reducible to being.
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but Life in itself has no properties, attributes, or characteristics. On a basic level, if Life had particular attributes, it would then become one thing among other things, and would lose its function as an archē. But on a more important level, this emptying-out of Life enables it to encompass the proliferation and fecundity of the living. Now, while Aristotle does offer a number of criteria for deciding if something is alive or not, these criteria themselves presume that there is something held in common, a life-principle (psukhē) for any instance in which the criteria can be applied. The same can be said for Aristotle’s stratification of the types of psukhē in Book II (plant, animal, human) – while its effect is to arrange the forms of life into a hierarchy according functions, the hierarchy itself is cumulative, and presumes some basis held in common between both the lowliest plant and the loftiest human. Although each of these contradictions appear to point to an incommensurability between Life and the living, it is important to note that, for Aristotle, they form an inseparable pair. And this is a third contradiction that we can mention: One cannot think Life without also thinking the living; one cannot think Life while also at the same time thinking the living. On the one hand, Aristotle presents two distinct terms, each with different functions that describe different aspects of life – while Life accounts for what is common among all the instances of the living, the living manifests the individuations and differentiations that are also part and parcel of the natural world. But, as we’ve seen, these two terms point to a number of contradictions, such that it becomes difficult to think their relation at all, except in terms of contradiction. Is this a problem for Aristotle’s ontology of life? If it is, it would imply a relation between psukhē and logos, or, more specifically, between the principle-of-life and a principle of non-contradiction. The usual response – not only a Cartesian, but a Kantian one – would be to highlight the disconnect between Aristotle’s concept of life and life itself. The presence of contradiction in Aristotle’s bifurcation between Life and the living points first and foremost to the inadequacy of thought vis-à-vis its object. That is, the problem is not contradiction in itself, but the internal failures of the concept in explaining its object, either because it does not adequately correlate to its object, or because it has not distinguished between the thing-in-itself and the perception of that thing. The only alternative in such a situation is to modify the concept such that it accounts for its object in a consistent and non-contradictory manner. This is the only alternative, since the other option – the assertion that there is no relation whatsoever between any concept of life and life itself – necessarily points outside philosophy and towards the mystical horizon. The one commonality here is that contradiction is a problem. As we noted, contradiction appears to play a central role in Aristotle’s bifurcation between Life and the living. Contradiction also plays a central role in Aristotle’s logical treatises, though less as a structural feature than as subject matter. In the »Cate-
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goriae«, an early work, Aristotle points out four main types of opposition: terms that are correlatives of each other (doubling or halving), terms that are privations of positives (such as blindness for sight), terms that are affirmations of negations (statements that are either true or false), and terms that are contraries to one another (as the good to the bad). In this last type of opposition, that of contraries, each term is not interdependent upon the other, but rather each term is the negation of the other. The existence of one of the terms implies the negation of the other. Thus between two terms A and B and a state x, for any state xA = true, then it will necessarily follow that xB = false. This presumes that either A or B, but not both, must have the value x = true. And this is, at least, how Aristotle presents contraries; his primary example is medical, where A = health and B = illness. Hence to assert that health and illness can exist together would, in Aristotle’s logical sense, be contradictory (though not, certainly, in all other senses). As Aristotle notes, »contraries are such that it is necessary for one or the other of them to belong to the things they naturally occur in or are predicated of, there is nothing intermediate between them«.13 In other words, contradiction in the Aristotelian sense is a situation in which there is a refusal of the sort of either-or logic between contrary terms. This leaves two options: either that both terms A and B are true (both true), or that neither A nor B are true (both false). Modern philosophical logic, extending Aristotle’s definition, traditionally refers to these as contradiction and consistency, respectively. Aristotle returns to the logic of contradiction several times. Perhaps his most well-known gloss on the topic comes in the »Metaphysica«, in what has come to be known as the Law of Non-Contradiction: »the same attribute cannot at the same time belong and not belong to the same subject and in the same respect.«14 All of this implies that the being of one term implies the non-being of the other term, or, alternately, that a single term cannot both be and not-be. Instead of attempting to resolve such contradictions, perhaps we can preserve them. Instead of attempting to fix Aristotle’s contradictions, either by dispensing with his terms altogether or by offering a new concept, let us ask whether there is a coherent logic of contradiction in the Aristotelian ontology of life that would, in effect, be the foundation of that ontology. Let us suppose that contradiction is not an accidental or derivative by-product, but that it is in some way significant, if not fundamental, to any ontology of life. This would be to ask what conclusions follow when this logic of contradiction is viewed as a constituent part of the concept of psukhē and the between Life and the living.
13 | »Categoriae«, Edghill, E. M. (trans.), in: Jonathan Barnes (ed.), The Complete Works of Aristotle, Princeton: Princeton University Press 1984, 12a.1-4. 14 | »Metaphysica«, Ross, W. D. (trans.), in: Jonathan Barnes (ed.), The Complete Works of Aristotle, Princeton: Princeton University Press 1984, 1005b.18-20.
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The implication, then, is that the ontology of life, as it is framed by Aristotle, entails the affirmation of contradiction. If this is the case, this type of contradiction would have to be differentiated from the existentialist notion that ›life makes no sense‹. It would also have to be differentiated from the psychological characterization of desires or drives as inherently contradictory. In both of these cases, the life that is discussed is specifically human life. For Aristotle, what is at stake is neither the meaning (or meaninglessness) of life, nor the conflicting drives of human psychology. Rather, the »De anima« poses an ontological question: whether the contradiction in life is itself a property of the world, however inaccessible this world may remain to us as human subjects.
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Die Reproduktion des Temperaturbegriffs Arianna Borrelli
1. TEMPER ATUR Z WISCHEN TASTSINN UND THERMOME TER Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht die Geschichte des Temperaturbegriffs als Beispiel der Dialektik von Produktion und Reproduktion von Wissen. Begriffe werden bei jeder Übertragung mit alten und neuen Mitteln konstruiert und, wie der Fall der Temperatur zeigt, ist es manchmal schwierig zu sagen, ob dieser Prozess als stabile Reproduktion oder als innovative Produktion zu charakterisieren ist. Der Temperaturbegriff hat sich als Fixpunkt einer jahrhundertlangen Geschichte erwiesen, deren Wirbel und Ströme ihn immer wieder reproduziert und vor dem Verschwinden bewahrt haben. Als Mittel seiner Produktion und Reproduktion galten zu verschiedenen Zeiten Wörter, Zahlen, Diagramme, Instrumente, sinnliche Empfindungen sowie der menschliche Körper in seiner Ganzheit als Wahrnehmungsapparat. Am Anfang und Ende des historischen Geschehens stehen zwei Temperaturbegriffe, die grundsätzlich verschieden sind, von denen aber der eine in einiger Hinsicht die Reproduktion des anderen ist. Von der heutigen Temperaturlehre ausgehend, werde ich im Folgenden einige Hauptpunkte dieser historischen Konstellation umreißen. Dabei werde ich auch schildern, wie die zentrale epistemologische Rolle des Thermometers die historiographische Rekonstruktion der Geschichte der Temperatur beeinflusst hat. In diesem und im nächsten Abschnitt stelle ich den epistemologischen Rahmen des modernen Temperaturbegriffs dar und beschreibe die Ähnlichkeiten zwischen Epistemologie und Historiographie dieses Konzepts. Danach folgt ein Überblick der Geschichte des Temperaturbegriffs von der Antike bis ins 18. Jahrhundert und schließlich eine Diskussion der kulturhistorischen Zusammenhänge, welche die historischen und epistemologischen Entwicklungen bedingt haben könnten. Als Ausgangspunkt für die Diskussion des modernen Temperaturbegriffs dient das Lehrbuch »Theory of Heat« (2. Aufl. 1888) von James Clerk Maxwell
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(1831-1879). Dies ist ein allgemein verständlicher und wissenschaftlich präziser Text, der den Sichtweisen entspricht, die noch in der heutigen Physik gelten.1 Das Buch fängt so an: »The distinction between hot bodies and cold ones is familiar to all, and is associated in our minds with the difference of the sensations which we experience in touching various substances, according as they are hot or cold. The intensity of these sensations is susceptible of degrees, so that we may estimate one body to be hotter or colder than another by touch. […] The temperature of a body, therefore, is a quantity which indicates how hot or cold the body is. […] We might suppose that a person who has carefully cultivated his senses would be able by simply touching an object to assign its place in a scale of temperatures, but it is found by experiment that the estimate formed of temperature by the touch depends upon a great variety of circumstances, some of these relating to the texture or consistency of the object, and some to the temperature of the hand or the state of health of the person who makes the estimate.« 2
Der Begriff des »Grades« (degree) der Temperatur wird von Maxwell als Verfeinerung und Präzisierung der taktilen Wärme- und Kälteempfindungen eingeführt, wobei diese zugleich als undeutlich charakterisiert werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine vertrauenswürdige Methode der Temperaturbestimmung zu finden: das Thermometer. Nachdem er das Thermometer besprochen hat, führt Maxwell den Begriff der Wärme ein und betont den Unterschied zwischen Wärme und Temperatur. »Heat […] may pass out of one body into another just as water may be poured from one vessel into another, and it may be retained in a body for any time, just as water may be kept in a vessel. We have therefore a right to speak of heat as of a measurable quantity. […] We have now obtained two of the fundamental ideas of the science of heat – the idea of temperature, or the property of a body considered with reference to its power of heating other bodies; and the idea of heat as a measurable quantity, which may be transferred from hotter bodies to colder ones.« 3
Im Laufe des Lehrbuchs wird sich Wärme als eine Form der Energie erweisen. Die Temperatur ist hingegen durch Hinweis auf eine »Fähigkeit zur Erwärmung anderer Körper« (»power of communicating heat to other bodies«) definiert, die aber als wissenschaftlicher Begriff nicht weiter bestimmt wird.4 Daher fußt Maxwells Definition der Temperatur nur auf Wärmeempfindung 1 | Maxwell, James Clerk: Theory of Heat, Mineola: Dover 2001 [1888]. 2 | Vgl. ebd., S. 1-2. 3 | Vgl. ebd., S. 7-9. 4 | Vgl. ebd., S. 32.
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und Thermometrie. Wie er selbst bemerkt, lässt dies dem Phänomen des thermischen Gleichgewichts eine besondere Bedeutung zukommen: »Law of equal temperatures – Bodies whose temperatures are equal to that of the same body have themselves equal temperatures. This law is not a truism, but expresses the fact that if a piece of iron when plunged into a vessel of water is in thermal equilibrium with the water, and if the same piece of iron, without altering its temperature, is transferred to a vessel of oil, and is found to be also in thermal equilibrium with the oil, then if the oil and water were put into the same vessel they would themselves be in thermal equilibrium, and the same would be true of any other three substances. This law, therefore, expresses much more than Euclid’s axiom that ›Things which are equal to the same thing are equal to one another‹ and is the foundation of the whole science of thermometry.« 5
Es mag schwer vorstellbar sein, dass eine empirische Tatsache (fact) für eine tautologische Wahrheit (truism) gehalten werden konnte, doch Maxwell schien es nötig zu betonen, dass das »Gesetz der gleichen Temperaturen« eine Tatsache und keine Tautologie sei und die Grundlage der Thermometrie bilde. So basiert die Definition der Temperatur auf der Thermometrie, die ihrerseits das thermische Gleichgewicht voraussetzt. Wie kann man aber ohne Temperatur und Thermometer erkennen, ob und wann dieses Phänomen statthat? Wie kann man wissen, dass das Thermometer nicht immer nur seine eigene Temperatur anzeigt, sondern auch jene der Körper, die mit ihm in Kontakt gebracht wurden? In der Praxis können solche Fragen durch verschiedene Methoden mit ausreichender Präzision beantwortet werden. In der Theorie hingegen konnte der Kreis nur dank des Verweises auf die alltäglichen Wärme- und Kälteempfindungen gebrochen werden. Maxwells Ansatz zur Definition der Temperatur wurde von Ernst Mach (1838-1916) in einer methodologisch-philosophischen Analyse des Temperaturbegriffs formalisiert.6 Erst führte Mach den Begriff des »Wärmezustands« eines Körpers mit Verweis auf Wärmeempfindungen ein, dann beschrieb er das Phänomen der Ausdehnung der Körper unter der Wirkung der Wärme, das die Herstellung von »Thermoskopen« erlaubt.7 So konnte er per Übereinkunft festlegen: »höhere Wärmezustände sollen jene heissen, in welchen die Körper am Thermoskop eine grössere Volumanzeige bedingen«.8 Schließlich definierte Mach die Temperatur als eine den Wärmezustand kennzeichnende Zahl. 5 | Vgl. ebd., S. 32-33, Hervorhebung im Original. 6 | Mach, Ernst: Die Principien der Wärmelehre, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1919. 7 | Vgl. ebd., S. 3-57. 8 | Vgl. ebd., S. 42.
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Seit der Zeit Maxwells und Machs sind alle Versuche gescheitert, Temperatur und thermisches Gleichgewicht auf mechanische Konzepte wie Energie, Volumen oder Druck zurückzuführen.9 Daher verwenden heutige Lehrbücher der Thermodynamik immer noch Verweise auf taktile Empfindung und auf die alltägliche Erfahrung des thermischen Gleichgewichts, um die Begriffe »Thermometer« und »Temperatur« einzuführen.10 Die Unterscheidung zwischen Temperatur und Wärme, und im Allgemeinen zwischen intensiven und extensiven Größen (z.B. Druck versus Volumen), ist für die heutige Thermodynamik grundlegend und wird als eine ausschließlich moderne Errungenschaft präsentiert.11
2. E PISTEMOLOGIE UND G ESCHICHTE DES THERMOME TERS Die im vorigen Abschnitt beschriebene Problematik mag als eine reine Frage der Epistemologie und Wissenschaftstheorie erscheinen, doch werden sich Epistemologie und Geschichte in diesem Fall als eng verbunden erweisen. Machs Einführung von Wärmezustand, Thermometer und Temperatur verstand sich nicht als rein philosophisch, sondern war Teil eines Überblicks über die Geschichte der Thermometrie. Nach der Definition des Wärmezustandes eines Körpers durch den Verweis auf die sinnlichen Empfindungen, schrieb Mach: »Die Sinnesorgane sind […] nicht der Förderung der physikalischen Erkenntniss, sondern der Erhaltung günstiger Lebensbedingungen angepasst. […] Wo es sich aber um das physikalische Verhalten eines Körpers […] handelt, müssen wir uns nach einem Merkmal dieses Verhaltens umsehen, welches von der veränderlichen, schwer und umständlich controlirbaren Beschaffenheit unseres Sinnesorganes unabhängig ist. Ein solches Merkmal ist gefunden worden. Es ist seit langer Zeit bekannt, dass derselbe Körper, je nachdem er unter sonst gleichen Umständen kälter oder wärmer erscheint, auch ein kleineres oder grösseres Volum annimmt. […] Doch scheint erst Galilei, der grosse Begründer der Dynamik, den 9 | Für einen Überblick zu dieser Problematik siehe zum Beispiel: Pitteri, Mario: »On the Axiomatic Foundations of Temperature«, in: Clifford Truesdell (Hg.), Rational Thermodynamics. Second Edition, New York: Springer 1984, S. 522-544. 10 | Zum Beispiel in: Kluge, Gerhard/Neugebauer, Gernot: Grundlagen der Thermodynamik, Heidelberg: Spektrum 1994, S. 25-26; Quinn, Terry J.: Temperature, London: Academic Press 1983, S. 3-10; Winstock, R.: »Temperature«, in: Rita G. Lerner/George L. Trigg (Hg.), Encyclopedia of Physics. Third Edition, Bd. 2, Weinheim: Wiley-VCH 2005, S. 2668-2671. 11 | Über extensive und intensive Größe in der Thermodynamik: G. Kluge/G. Neugebauer: Thermodynamik, S. 29-32.
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glücklichen Gedanken gefasst zu haben, das Volum der Luft als Merkmal ihres Wärmezustandes zu benutzen, und auf diese Weise ein Thermoskop, beziehungsweise ein Thermometer zu construieren. Als selbstverständlich wurde es angenommen, dass ein solcher Apparat auch den Wärmezustand der berührten Körper angiebt auf Grund der naheliegenden Beobachtung, nach welcher ungleich warme sich berührende Körper alsbald sich gleich warm anfühlen.«12
So hätte sich nach Meinung Machs die Erfindung des Thermometers aus dem Bedürfnis ergeben, den Wärmezustand der Körper in einer genaueren Art zu bestimmen als es mit den Sinnesorganen möglich war. Das thermische Gleichgewicht wäre bereits in der vormodernen Zeit ein selbstverständliches Phänomen gewesen, dessen Existenz sich problemlos aus der taktilen Erfahrung ergab und nicht weiter hinterfragt wurde. Wie wir sehen werden, ist diese Darstellung historisch inkorrekt, doch hatte sie Mach von einem Historiker übernommen. Machs Quelle war Fritz Burkhardts Werk »Erfindung des Thermometers und seine Gestaltung im XVII. Jahrhundert« (1867) und die von Burkhardt und Mach vertretene Ansicht wurde später oft wiederholt.13 So sprach 1956 Martin K. Barnett von einer »objectivation of sensation« durch das Thermometer.14 1961 schrieb Thomas S. Kuhn: »Many of the early experiments involving thermometers read like investigations of the new instrument rather than like investigations with it. […] ›Degree of heat‹ had for a long time been defined by the senses, and the senses responded quite differently to bodies which produced the same thermometric readings. Before the thermometer could become unequivocally a laboratory instrument rather than an experimental subject, thermometric readings had to be seen as the direct measure of ›degree of heat‹, and sensations had simultaneously to be viewed as a complex and equivocal phenomenon dependent upon a number of different parameters. That conceptual reorientation seems to have been completed in at least a few scientific circles before the end of the seventeenth century, but no rapid discovery of quantitative regularities followed. First scientists had to be forced to a bifurcation of ›degree of heat‹ into ›quantity of heat‹, on the one hand, and ›temperature‹, on the other.«15
12 | E. Mach, Wärmelehre, S. 4; Hervorhebung im Original. 13 | Burkhardt, Fritz: Die Erfindung des Thermometers und seine Gestaltung im XVII. Jahrhundert, Basel: Carl Schultzes’s Universitätsbücherei 1867, hier S. 1. 14 | Barnett, Martin K.: »The Development of Thermometry and the Temperature Concept«, in: Osiris 12 (1956), S. 269-341, hier S. 273. 15 | Kuhn, Tomas S.: »The Function of Measurement in Modern Physical Science«, in: Isis 52 (1961), S. 161-193, hier S. 188-189; Hervorhebung im Original.
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Kuhn folgend hat Gernot Böhme die Entstehung des Unterschieds zwischen Wärmemenge und Temperatur als eine Entfernung von den körperlichen Empfindungen thematisiert.16 In seiner philosophisch-historischen Monographie »Inventing Temperature. Measurement and Scientific Progress« (2004) stellte auch Hasok Chang die Entstehung des Temperaturbegriffs als einen Fortschritt vom Tastsinn zu modernen Temperaturskalen dar – einen Fortschritt, den das Thermometer ermöglicht habe.17 Wenn man diese Texte liest, könnte man meinen, es habe vor dem Erscheinen des Thermometers gar keinen Begriff der Temperatur gegeben und man habe nur von Wärme- und Kälteempfindungen in einem undeutlichen, rein qualitativen Sinn gesprochen und geschrieben. Doch dies war nicht der Fall – ganz im Gegenteil: Richtet man den Blick auf die Zeit vor dem Thermometer, so entdeckt man eine hochkomplexe, quantifizierte Temperaturlehre, in welcher der Tastsinn nur eine Nebenrolle spielte. Dabei stellt sich heraus, dass der Unterschied zwischen Temperatur und Wärmemenge bereits im Mittelalter formuliert wurde und eine zentrale Stellung in der damaligen Wärme- und Kältelehre innehatte. Diese frühe Phase der Geschichte des Temperaturbegriffs ist den Historikern zwar nicht entgangen und zumindest Gernot Böhme dürfte sie gut bekannt sein.18 Ihre Bedeutung für die Entstehung des Thermometers und ihre unverkennbaren Gemeinsamkeiten mit der heutigen Temperatur- und Wärmelehre wurden aber nur selten, wenn überhaupt, thematisiert. Zum Beispiel ließ Kirstine Meyer 1913 in ihrer Untersuchung zur Geschichte des Temperaturbegriffs die quantitativen Aspekte der antiken und mittelalterlichen Theorien von Wärme und Temperatur außer Acht.19 Gustav Hellmann (1920), Sherwood Taylor (1942) und Knowles Middleton (1966) erwähnten sie, aber ohne ihre Rolle bei der Entwicklung des Thermometers zu betonen.20 Historiker des Mittel16 | Böhme, Gernot: »Temperatur und Wärmemenge. Ein Fall alternativer Quantifizierung eines lebensweltlich-technischen Begriffs«, in: Peter Eisenhardt (Hg.), Der Weg der Wahrheit. Aufsätze zur Einheit der Wissenschaftsgeschichte, Hildesheim: Olms 1999, S. 217-225. 17 | Chang, Hasok: Inventing Temperature. Measurement and Scientific Progress, Oxford: Oxford University Press 2004, S. 47-48. 18 | Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München: Beck 1996, hier S. 164-174, S. 242-250. 19 | Meyer, Kirstine: Die Entwickelung des Temperaturbegriffs im Laufe der Zeiten, Braunschweig: Vieweg 1913 [Orig. Dänisch]. 20 | Hellmann, Gustav: »Beiträge zur Erfindungsgeschichte meteorologischer Instrumente«, in: Abhandlungen der preussischen Akademie der Wissenschaften. Physikalisch-mathematische Klasse (1920), S. 1-59; Middleton, W.E. Knowles: A History of the Thermometer and its Use in Meteorology, Baltimore: Johns Hopkins 1966; Taylor,
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alters sind zwar oft auf die Details der quantitativen Temperaturlehre jener Epoche eingegangen, doch ohne ihre mögliche Relevanz für die spätere Geschichte der Wärmelehre zu untersuchen.21 Auf den folgenden Seiten werde ich anhand von Forschungsergebnissen und ausgewählten Primärquellen versuchen, eine Brücke zwischen dem vormodernen und dem modernen Temperaturbegriff zu schlagen. Besondere Aufmerksamkeit widme ich der Rolle, die Thermometer und Tastsinn in diesem Kontext spielten. Hat das Thermometer tatsächlich den Tastsinn als Mittel der Wahrnehmung und Quantifizierung der Wärmeerscheinungen ersetzt? Wenn sich diese These als historisch nicht nachvollziehbar erweisen sollte, warum wird sie dann so oft vertreten? Diesen Fragen nachgehend werde ich in Abschnitt 3 und 4 die antike und mittelalterliche Temperaturlehre besprechen. In Abschnitt 5 stelle ich dar, wie bedeutungsvoll dieser ältere Temperaturbegriff bei der Entstehung des Thermometers war. In Abschnitt 6 und 7 biete ich einen Überblick der Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, in dem das Thermometer zu einem exakten Messgerät wurde, aber gelegentlich auch als Symbol für Irrationalität und Gefühle gelten konnte. In Abschnitt 7 komme ich dann auf Maxwell und Mach zurück und werde tentativ den Fragen nachgehen, warum sie den Rückgriff auf taktile Empfindungen als notwendig erachteten und wieso diese epistemologische Stellungnahme in eine fiktive historische Darstellung verwandelt wurde.
3. W ÄRME UND K ÄLTE ALS ENTGEGENGESE T Z TE P RINZIPIEN Historiker der antiken und mittelalterlichen Philosophie und Medizin haben längst gezeigt, dass die Quantifizierung von Qualitäten wie Wärme und Kälte auf die Antike zurückgeht.22 Im arabischen und lateinischen Mittelalter wurden auf der antiken Grundlage eine Anzahl von komplexen, konkurrierenden Methoden entwickelt, um die Quantifizierung der Qualitäten zu rechtfertigen und durchzuführen. Diese Theorien wurden oft unabhängig voneinander for-
F. Sherwood: »The Origin of the Thermometer«, in: Annals of Science 5 (1942), S. 129156. 21 | Clagett, Marshall: Giovanni Maliani and Late Medieval Physics, New York: Columbia University Press 1941; McVaugh, Michael R.: »The Development of Medieval Pharmaceutical Theory«, in: Arnaldus de Villanova, Opera medica omnia II. Aphorismi de gradibus, herausgegeben von Michael R. Mc Vaugh, Granada: Universidad de Barcelona 1975, S. 3-136. 22 | Sylla, Edith: »Medieval Quantification of Qualities: The ›Merton School‹«, in: Archive for History of Exact Sciences 8 (1971), S. 9-39.
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muliert, zum Beispiel im Rahmen der Pharmakologie, der Theologie, der Philosophie der Natur und der Metaphysik. Die Erfahrungen von Wärme und Kälte, die in diesem Kontext zur Diskussion standen, waren keineswegs auf taktile Empfindungen beschränkt: Im Gegenteil stellten sie eine so breite Palette dar, wie es später nicht mehr der Fall war.23 Bereits Aristoteles (384-322 v. u. Z.) hatte ausführlich besprochen, dass der Tastsinn nur einer von mehreren Wegen zur Bestimmung der Wärme oder Kälte eines Körpers sei.24 Wie wir sehen werden, waren Medizin und Pharmakologie von zentraler Bedeutung für die vormoderne Wärmelehre und besonders wichtig war die Idee, dass Medikamente je nach ihrer Wirkung als mehr oder weniger ›warm‹ oder ›kalt‹ betrachtet werden sollten. ›Warm‹ und ›kalt‹ war zudem ein Mensch nicht nur, wenn er bei Berührung warm oder kalt vorkam, sondern auch je nachdem, wie schnell er im Stande war, Wärme zu übermitteln und je nach seiner gemüthaften Einstellung, seinem ›Temperament‹. Die vormodernen Diskussionen über die Quantifizierung von Wärme und Kälte fanden im Rahmen der aristotelischen Philosophie und der hippokratischgalenischen Medizin statt. Sie wurden durch zwei Faktoren entscheidend geprägt: die aristotelische Theorie von Materie und Form und das Viererschema der elementaren Qualitäten warm/kalt und feucht/trocken. Letzteres spielte sowohl in der aristotelischen als auch in der hippokratisch-galenischen Lehre eine zentrale Rolle.25 Nach Meinung des Aristoteles bestand jeder Körper aus einer unzertrennlichen Verbindung von Materie und Form. Qualitäten hingen mit der Form zusammen, während die Materie durch Quantität bestimmt war. Allerdings räumte der griechische Philosoph auch die Möglichkeit ein, dass eine Qualität in unterschiedlichen quantitativen Stufen von ›mehr‹ oder ›weniger‹ vorkommen könne.26 In diesem Kontext hatten Wärme und Kälte eine besondere Stellung, weil sie zusammen mit Feuchtigkeit und Trockenheit die vier elementaren Qualitäten ausmachten, deren Kombinationen alle anderen Qualitäten bestimmten. Die elementaren Qualitäten waren in zwei Paare geordnet (warm/kalt, trocken/ feucht) und aus einigen aristotelischen Schriften ging hervor, dass zwei entgegengesetzte Qualitäten gleichzeitig in der Form eines Körpers anwesend sein 23 | Zur Verschiedenheit der Phänomene von Wärme und Kälte in der Vormoderne siehe: M. Clagett: Giovanni Maliani, S. 34-61, S. 79-80; Lloyd, Geoffrey Ernest Richard: »The Hot and the Cold, the Dry and the Wet in Greek Philosophy«, in: The Journal of Hellenic Studies 84 (1964), S. 92-106, hier S. 100-106; K. Meyer: Entwickelung, S. 4-19. 24 | Aristoteles, De partibus animalium II, 2, 648-649, zum Beispiel in Aristoteles: Opera omnia, Bd. 3, Paris: Ambrosio Firmin Didot 1854, S. 232-233. 25 | G. E. R. Lloyd: The hot and the cold. 26 | Aristoteles: Categoriae 8, 10b-11a, zum Beispiel in: Aristoteles: Organon, Bd. 2, Hamburg: Meiner 1998, S. 62-63.
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konnten. Die Eigenschaften des Körpers waren dann das Ergebnis der Wechselwirkung der beiden Prinzipien. Für unser Thema ist lediglich wichtig zu bemerken, dass Wärme und Kälte zwei entgegengesetzte, voneinander unabhängige Prinzipien waren und dass die Kälte in der Regel nicht als bloße Abwesenheit von Wärme betrachtet wurde. Der für einen Körper charakteristische Zustand der Wechselwirkung zwischen entgegengesetzten Prinzipien wurde im lateinischen Spätmittelalter oft als »Temperatur« (tempera, temperies) bezeichnet, sowohl im Fall von Wärme und Kälte als auch von anderen Paaren von Qualitäten. Aristoteles und seine Nachfolger verwendeten die Polarität von Wärme und Kälte sowie von Feuchtigkeit und Trockenheit als Muster für die Beschreibung und Erklärung der Naturphänomene in sehr unterschiedlichen Bereichen, die wir heute als Physik, Chemie, Biologie, Meteorologie und Physiologie bezeichnen würden. Dadurch konnten unterschiedliche Erfahrungen miteinander verbunden werden. Zum Beispiel stellten hippokratisch-galenische Philosophen eine Verbindung zwischen Gesundheit und lokaler Umwelt her. In seinen biologischen und zoologischen Schriften vertrat Aristoteles die Meinung, dass es eine geschlechterspezifische Verteilung von Wärme und Kälte gebe und dass männliche Tiere immer wärmer als die entsprechenden Weibchen seien.27 Dies gelte auch für die Menschen, bei denen der Temperaturunterschied zwischen Mann und Frau besonders hoch ausfalle. An dieser Stelle ist zu beachten, dass es sich bei diesem Unterschied nicht um eine absolute Zuschreibung von Wärme bzw. Kälte zu dem einen oder dem anderen Geschlecht handelte. Wie alle anderen Körper sollten auch männliche und weibliche Lebewesen immer nur aufgrund einer Wechselwirkung von beiden Prinzipien bestehen können, aus denen sich in diesem Fall ein geschlechterspezifisches Gleichgewicht – eine Temperatur – ergab. Die ungleiche Verteilung von Wärme und Kälte zwischen den Geschlechtern war bei der Reproduktion von größter Wichtigkeit. Das grundlegende Element zur Entstehung neuen Lebens: die Lebenswärme, wurde bei der Paarung vom Männchen geliefert. Diese allein reichte aber nicht aus, um eine erfolgreiche Zeugung zu gewährleisten: Zu diesem Zweck war auch die kältere Temperatur des Weibchens notwendig, in dessen Körper die Wärme des Samens konzentriert und kondensiert wurde.28
27 | Die folgende Diskussion basiert auf: Althoff, Jochen: Warm, kalt, flüssig und feucht. Die Elementarqualitäten in den zoologischen Schriften, Stuttgart: Steiner 1992, bes. S. 150-151 und S. 181-212; Green, Judith M.: »Aristotle on Necessary Verticality, Body Heat, and Gendered Proper Places in the Polis: A Feminist Critique«, in: Hypathia 7 (1992), S. 70-96. 28 | J. Althoff: Warm, kalt, S. 203-206; J. M. Green: Aristotle, S. 84.
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Die Wechselwirkung von Wärme und Kälte bei der Reproduktion zeigt, wie zentral die Idee der Polarität im aristotelischen System war: Die Wärme war zwar für Aristoteles eine wertvollere Qualität als die Kälte, doch konnte sich das Leben nicht allein mittels der Wärme reproduzieren.29
4. D IE G R ADE DER W ÄRME UND K ÄLTE IN P HARMAKOLOGIE UND A LCHEMIE Bereits Aristoteles hatte die Möglichkeit eingeräumt, die Stufen der Wärme und Kälte mit Zahlen in Verbindung zu setzten. Der erste, der dies systematisch tat, war aber der Arzt Galen von Pergamon (ca. 129-216), dessen Werk für die Medizin des arabischen und lateinischen Mittelalters prägend wurde.30 Galen erweiterte und verfeinerte die hippokratische Lehre der Humoralpathologie, deren zentraler Begriff das Gleichgewicht war. Die Eigenschaften jedes Körpers hingen von der Wechselwirkung entgegengesetzter Prinzipien – den vier »Humores« (Säften) als den vier elementaren Qualitäten – ab. Ein gesunder Körper galt als »wohltemperiert« (¡p῎gl_okς), weil in ihm Gleichgewicht zwischen den Prinzipien herrschte. Bei Krankheit galt das Gleichgewicht hingegen als gestört und musste mit Hilfe von Medikamenten, die eine passende Wirkung hatten, wiederhergestellt werden. Eine erregende Substanz wie Wein wirkte ›warm‹, während eine betäubende wie Opium ›kalt‹ war. Galen erklärte, dass eine Ordnung (o_ ´jfς) der Wärme und Kälte verschiedener Medikamente festgelegt werden könne, indem man ihre Wirkung betrachte.31 Ein Medikament, das auf einen wohltemperierten Körper keine Wirkung zeigte, war selbst temperiert. Pharmaka, die auf einen wohltemperierten Körper mit verschiedenen Intensitäten der Wärme oder Kälte wirkten, nahmen in der Wärme- bzw. Kälteordnung die Plätze eins bis vier ein. So gab es für Galen den temperierten Zustand und jeweils vier Stufen der zunehmenden Wärme oder Kälte. In den folgenden Jahrhunderten erweiterten erst arabische und dann lateinische Gelehrte Galens Lehre und stellten sich die Frage, ob und wie die Qualitäten des Verbunds zweier Medikamente ermittelt werden könnten: Musste 29 | Vgl. ebd., S. 194-199, J. M. Green: Aristotle, hier bes. S. 82-84. 30 | Nutton, Vivian: »Humoralism«, in: William F. Bynum/Roy Porter (Hg.), Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 1, London: Routledge 1993, S. 281-291. Der folgende Überblick über die Pharmakologie der Antike und des arabischen und lateinischen Mittelalters basiert auf: Clulee, Nicholas H.: »John Dee’s Mathematics and the Grading of Compound Qualities«, in: Ambix 18 (1971), S. 178-211; M. R. McVaugh, Development; E. Sylla: Quantification. 31 | Galen: »De simplicium medicamentorum temperamentis ac facultatibus«, in: Claudii Galeni opera omnia, Bd. 9, Hildesheim: Georg Olms Verlag 1997, hier S. 570-572.
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man die Wirkung der zusammengesetzten Substanz ausprobieren oder durfte man sich auf theoretische Überlegungen verlassen? Der neuplatonische Philosoph Ab Yūsuf Ya’qūb ibn Is˕āq al-̒abbā˕ al-Kindi (gest. ca. 873) formulierte eine theoretische Methode für die Bestimmung der Stufen von Wärme und Kälte, die in den lateinischen Übersetzungen seines Werkes als ›Grade‹ (gradus) bezeichnet wurden. al-Kindi bediente sich der aristotelischen Idee einer polaren Wechselwirkung der Wärme und Kälte, und verstand den Grad der Temperatur eines Medikaments als Ergebnis der Spannung zwischen der Wärme und der Kälte, die in seiner Form gleichzeitig anwesend waren. In einem temperierten Pharmakon war das Verhältnis zwischen den beiden Prinzipien 1:1. Der erste Grad der Wärme ergab sich, wenn doppelt so viel Wärme wie Kälte anwesend war, also 2:1. Der zweite, dritte und vierte Grad der Wärme entsprachen Verhältnissen von 4:1, 8:1 und 16:1. Nach Meinung von al-Kindi konnte die Temperatur eines Verbunds nicht nur durch Experimente am Körper, sondern auch durch mathematische Manipulationen der Qualitäten seiner Zutaten bestimmt werden. al-Kindis Graduierung wurde durch Abū’l-Walīd Mu˕ammad ibn Ahmad ibn Mu˕ammad ibn Rushd (Averroës) (1126-1198) kritisiert. Wie al-Kindi vertrat auch ibn-Rushd die Meinung, dass eine theoretische Bestimmung von Temperatur als mathematische Relation möglich sei. Doch war er mit al-Kindis Methode für die Bestimmung der Grade nicht einverstanden und hielt es zum Beispiel für wahrscheinlich, dass der zweite Grad der Wärme durch eine Proportion von 3:1 zwischen Wärme und Kälte bestimmt sei. Im späten 13. Jahrhundert wurden die pharmakologischen Lehren von alKindi und ibn-Rushd im lateinischen Europa bekannt und dienten als Ausgangspunkt für neue Reflexionen über die Graduierung der Qualitäten von pharmakologischen und alchemistischen Substanzen. Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigten, waren Roger Bacon (1214-1294), Arnald von Villanova (ca. 1238-1311) und Ramon Llull (1232-1316). In allen diesen Theorien prägte die Idee der Polarität der Wärme und Kälte weiterhin die Methode der Graduierung. Die Grade der Temperatur wurden als mathematische Verhältnisse zwischen zwei Zahlen, die jeweils mit Wärme und Kälte zusammenhingen, aufgefasst. So lag es auch nahe, zwischen dem Grad der Temperatur und der Menge an Wärme oder Kälte zu unterscheiden: Die Menge hing mit der Quantität von warmer oder kalter Materie zusammen, die Temperatur mit dem mathematischen Verhältnis zwischen den beiden Mengen. Parallel zu den pharmakologischen und alchemistischen Diskussionen entfalteten sich in Europa theologisch-philosophische Debatten über die quantitative Veränderung von Qualitäten.32 Obwohl die beiden Traditionen voneinander unabhängig blieben, gab es viele Kontaktpunkte und im Laufe des 14. Jahrhun32 | M. R. McVaughn: Development, S. 98-99; E. Sylla: Quantification.
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derts wurde der Unterschied zwischen ›intensiver‹ und ›extensiver‹ Größe in beiden Bereichen eindeutig formuliert. Im Fall von Wärme und Kälte entsprach diese Differenz der zwischen (extensiver) Menge von warmer oder kalter Materie und (intensivem) Grad ihrer Temperatur. Um die intensive Quantität der Wärme und Kälte sowie anderer entgegengesetzter Prinzipien zu repräsentieren, führte Roger Bacon die »linea intensionis« (»Linie der Intensität«) ein: Es handelte sich um eine Gerade, deren Mittelpunkt den temperierten Zustand darstellte, während zwei Reihen von Punkten, die von der Mitte in entgegengesetzten Richtungen gleich entfernt waren, die Grade der Wärme bzw. Kälte repräsentierten.33 In anderen Worten sah diese Linie genau so aus, wie die Tempetaturskala, die später auf dem Thermometer erscheinen sollte. In der Renaissance war Bacons »linea intensionis« in zahlreichen geometrischen Diagrammen zu finden, welche die nun sehr komplexen Lehren von Temperatur und Temperamenten darstellten.34 Die Spätrenaissance sah jedoch bereits den Anfang des Untergangs der aristotelisch-galenischen Philosophie der Natur. Auf dieser Bühne trat kurz nach 1600 das Gerät »Thermometer« auf.
5. D AS THERMOME TER UND DIE A USHÖHLUNG DER ARISTOTELISCH - GALENISCHEN TEMPER ATURLEHRE In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts war unter den Gelehrten und Naturforschern Europas ein Experiment bekannt geworden, das sichtbar machen sollte, wie sich die Luft mit der Wärme ausdehnte und mit der Kälte zusammenzog.35 Der Apparat bestand aus einer Glasflasche, deren Öffnung in eine Schale voll Wasser eingetaucht war. Wenn der Bauch der Flasche mit Feuer oder mit den Händen erhitzt wurde, konnte man die Ausdehnung der Luft in Form des Absenkens des Wassers beobachten. Entfernte man die Wärmequelle, zog sich die Luft wieder zusammen und das Wasser stieg nach oben.
33 | N. H. Clulee: John Dee; M. R. McVaughn: Development, S. 39-45. 34 | Ian Maclean: »Diagrams in Defence of Galen: Medical Uses of Tables, Squares, Dichotomies, Wheels, and Latitudes, 1480-1574«, in: Sachiko Kusukawa/Ian Maclean (Hg.), Transmitting Knowledge. Words, Images and Instruments in Early Modern Europe, Oxford: Oxford University Press 2006, S. 135-164. 35 | Der folgende Überblick der frühen Geschichte des Thermometers basiert auf: Borrelli, Arianna: »The Weatherglass and its Observers in the Early Seventeenth Century«, in: Claus Zittel et al. (Hg.): Philosophies of Technology. Francis Bacon and his Contemporaries, Bd. 1, Leiden: Brill 2008, S. 67-130; W.E.K. Middleton: Thermometer, S. 3-39; F. S. Taylor: Thermometer.
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In einer auf 1611 datierten Sammlung der »Wundervollen Mathematik« (»Matematica maravigliosa«) findet man dieses Experiment als ein Instrument beschrieben, »mit dem man die Veränderung des Wetters nach Wärme oder Kälte in Graden und Minuten erkennt« (»col quale si conosce il cambiamento del tempo in caldo o in freddo secondo gradi o minuti«).36 Ein Bild zeigt, dass den Hals der Flasche entlang eine Graduierung angebracht war. 1612 beschrieb der Paduaner Medizinprofessor Santorio Santorio (1561-1636) einen Apparat, welcher der von ihm angestrebten Quantifizierung der Medizin dienen sollte: Auch diesmal handelte es sich um ein Glasgefäß, in dem die Ausdehnung der Luft die Intensität der Wärme anzeigte. In einem späteren Werk beschrieb es Santorio so: »Ein Gefäß aus Glas, mit dem wir in sehr einfacher Art und Weise zu jeder Stunde die kalte oder warme Temperatur bestimmen können und auch wissen, wie sehr die Temperatur vom vorher gemessenen, natürlichen Zustand entfernt sei. Dieses Gefäß wurde durch Heron für einen anderen Zweck entworfen. Wir haben es daran angepasst, sowohl die kalte und warme Temperatur der Luft und aller Teile des Körpers als auch den Grad der Wärme bei Fieber zu erkennen.« 37
Santorio war ein Vertreter der aristotelisch-galenischen Tradition und verstand das Gerät in dieser Passage als Instrument der Bestimmung der »Temperatur« innerhalb jener Tradition.38 In seinem kosmologischen Traktat »Sphaera mundi« (1620) führte der Jesuit Giuseppe Biancani (1566-1624) für das Instrument einen neuen Namen ein: »Thermoscopium«. Auch er sah das Gerät als ein mit der aristotelischen Lehre im Einklang stehendes Instrument. Das Wort »thermomètre« erschien erstmals im Jahre 1624 in einem mit dem Jesuitenkolleg
36 | Chaldecott J. A.: »Bartolomeo Telioux and the Early History of the Thermometer«, in: Annals of Science 8 (1952) S. 195-201 und Abb. X-XI. 37 | »vas vitreum quo facillime possumus singulis horis dimetiri temperaturam frigidam, vel calidam et perfecte scire singulis horis quantum temperatura recedat a naturali statu prius mensurato. Quod vas ab Herone in alium usum proponitur. Nos vero illud accomodavimus, et pro dignoscenda temperatura calida et frigida aeris, et omnium partium corporis, et pro dignoscendo gradu caloris febricitantium.« (Santorio, Santorio: Commentaria in primam fen primi libri Canonis Avicennae, Venedig: Brogolio 1646, c. 30-31; Übersetzung ins Deutsche A. B.). Der altgriechische Gelehrte Hero von Alexandria (284-221 v. u. Z.) hatte in der Tat in seinen Schriften ein dem Luftthermometer ähnliches Gerät beschrieben, doch hatte er damit keine Quantifizierung der Wärme und Kälte unternommen. 38 | Temkin, Owsei: Galenism. Rise and Decline of a Medical Philosophy, Ithaca: Cornell University Press 1973, S. 159-161.
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von Pont-à-Mousson verbundenen Text und Mitte des Jahrhunderts war das Thermometer in ganz Europa bekannt. So zog das Gerät, das als »Thermometer« bekannt wurde, zunächst deswegen die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich, weil es den aristotelisch-galenischen Begriff der Temperatur zu verkörpern schien. Nicht das Thermometer produzierte die Begriffe des Grades, der Wärme und der Temperatur, sondern umgekehrt. Allerdings hatte die Übertragung der alten Wissensstrukturen in ein neues Medium neue Horizonte der Wissensproduktion und -reproduktion eröffnet und auch viele Naturforscher, die keineswegs Vertreter der aristotelischen Physik waren, fühlten sich vom Thermometer angezogen. Das neue Gerät war auch deswegen interessant, weil es anscheinend die Veränderungen des Wetters voraussagen konnte. Dies lag daran, dass es nicht versiegelt war und daher auch auf Veränderungen des äußeren Luftdrucks reagierte. Das Phänomen des Luftdrucks wurde um 1650 konzeptualisiert und untersucht. Erst von da an sprachen Naturphilosophen von zwei unterschiedlichen Geräten: dem Thermometer und dem Barometer. Beide konnten aber weiterhin als ›Wetterglas‹ bezeichnet werden. Der Grund, warum ein Barometer das Wetter vorhersagen konnte, wurde erst im Kontext der Meteorologie des 19. Jahrhunderts verständlich und bis dahin wurde viel über barometrische Vorhersagen gerätselt.39 Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass Barometer und Thermometer unter einigen Aspekten bis in die Moderne eng verknüpft blieben. Ab 1650 verbreiteten sich das Alkohol-Thermometer, später auch andere Formen des Geräts und es vollzog sich eine entscheidende Wende in der Geschichte des Temperaturbegriffs. Sie bestand darin, dass sich das Konzept der Temperatur oder des Grades der Wärme von dem aristotelisch-galenischen Kontext, in dem es entstanden war, loslöste: Es wurde weiterhin von Temperatur gesprochen, doch dies zusehends als von einer theoretisch eher unbestimmten Zahl, die vom Thermometer angezeigt wurde. Dieser Wandel steht nicht nur im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Thermometers, sondern auch mit dem langsamen Untergang der aristotelisch-galenischen Philosophie der Natur ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. In Alchemie, Medizin und Pharmakologie waren aristotelische Theorien durch die paracelsische Lehre bereits im 16. Jahrhundert angegriffen worden und in der Physik fanden nach 1600 atomistische
39 | Golinski, Jan: British Weather and the Climate of the Enlightenment, Chicago: University of Chicago Press 2007, S. 114-120; Middleton, W.E. Knowles: A History of the Theories of Rain and other Forms of Precipitation, New York: Franklin Watts 1966, S. 63-91.
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Ansichten zunehmende Verbreitung.40 In diesem Zusammenhang änderten sich auch die Ansichten über die Natur von Wärme und Kälte. Für lange Zeit konnte sich keine der vielen Theorien der Wärme vor den anderen durchsetzen, doch den meisten Überlegungen war ein Zug gemeinsam: Die Idee, dass die Kälte ein von der Wärme unabhängiges Prinzip sei, wurde immer häufiger in Zweifel gezogen, und zwar zugunsten der Meinung, dass Kälte die Abwesenheit von Wärme sei.41 So verschwand die Idee der Polarität von Wärme und Kälte von der Bildfläche und mit ihr trat auch der theoretische Begriff des Gleichgewichts in den Hintergrund.
6. E XKURS : THERMOME TER UND B AROME TER ALS W AHRNEHMUNGSAPPAR ATE FÜR DAS I RR ATIONALE IN DER FRÜHEN N EUZEIT UND IN DER M ODERNE Der Verlust seines ursprünglichen philosophisch-medizinischen Kontexts ließ das Thermometer oft als rätselhaften Apparat erscheinen, wie Kuhn zurecht bemerkte.42 Da die »Temperatur« nicht mehr als Resultat einer Wechselwirkung zwischen Wärme und Kälte verstanden wurde, blieb es unklar, wie die vom Thermometer angezeigten Zahlen naturphilosophisch zu deuten seien. Trotzdem waren die Geräte nicht überflüssig: Sowohl in der Meteorologie als auch in physikalischen und chemischen Experimenten wurden Thermometer zunehmend eingesetzt, um den Grad der Wärme oder Kälte verschiedener Tage, Gegenden, Menschen oder chemischer Prozesse zu vergleichen. Während die Frage nach der Natur von Wärme und Kälte umstritten blieb, vermehrten sich zwischen dem späten 17. und dem frühen 18. Jahrhundert die Versuche, standardisierte Thermometer zu produzieren, deren Messergebnisse miteinander problemlos verglichen werden konnten. Doch bevor ich den Einsatz des Thermometers als eines exakten Messinstruments im Labor diskutiere, möchte ich kurz auf die symbolische Bedeutung des Thermometers und des Barometers in der öffentlichen Diskussion sowie der Literatur der frühen Neuzeit und Moderne eingehen. Dieses Thema verdeutlicht sehr gut, wie breit die Palette der möglichen Bedeutungen war, die einem Instrument in der frühen Neuzeit zugeschrieben werden konnten. Wie im vorigen Abschnitt gesehen, wurde bereits im 17. Jahrhundert zwischen Thermometer und Barometer unterschieden, wobei die Fähigkeit des Barometers, Wetter vorauszusagen, bis ins 19. 40 | Garber, Daniel: »Physics and Foundations«, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), The Cambridge History of Science. Vol. 3: Early Modern Science, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 21-69, hier insbesondere S. 29-47. 41 | H. Chang: Temperature, S. 162-168. 42 | T. S. Kuhn: Measurement, S. 188-189, wie in Abschnitt 2 oben diskutiert.
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Jahrhundert unerklärt blieb. Versiegelte Thermometer, die aufgrund der Ausdehnung von Alkohol oder Quecksilber funktionierten, wiesen keine prophetischen Züge auf, jedoch konnten auch sie im 18. Jahrhundert als rätselhafte Wettergläser gelten. Zwei Historiker haben sich mit diesem Aspekt der Geschichte von Barometer und Thermometer beschäftigt: Terry Castle und Jan Golinski.43 Golinski hat gezeigt, dass in der Aufklärungszeit in privaten englischen Haushalten Barometer, Thermometer sowie andere meteorologische Instrumente anzutreffen waren, die als Prestigeobjekte und als Mittel für die alltägliche Untersuchung von Wettererscheinungen seitens der interessierten Laien dienten.44 Die Geräte wurden oft als Analogon zum menschlichen Körper gesehen, weil sie wie er in einer nicht-mechanischen Art und Weise auf die Veränderungen der Atmosphäre reagierten: Golinski spricht sogar von einem Wiederaufleben der antiken Theorien über die Beziehung zwischen Gesundheit und lokalen atmosphärischen Bedingungen.45 In diesem Zusammenhang übte das Barometer als Wetter-Orakel die größte Faszination aus und wurde nach Golinski gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Symbol der Spannung zwischen Vernunft und Gefühlen, die für die Aufklärung charakteristisch war.46 Diese besondere Stellung des Barometers ist für unseres Thema von Bedeutung, weil sie anscheinend auf das Thermometer übertragen wurde. Mit dieser Thematik hat sich Terry Castle beschäftigt und gezeigt, wie in der Literatur des 18. und 19 Jahrhunderts sowohl das Thermometer als auch das Barometer als Metapher für Geräte verwendet wurden, die das Übersinnliche und das rational nicht Vorhersehbare wahrnehmen konnten: nicht nur die Veränderungen des Wetters, sondern auch jene der Politik und insbesondere der menschlichen Gefühle.47 In ihrer Monographie »The Female Thermometer« (1995) hat Castle gezeigt, wie in der populären und satirischen Literatur jener Zeit metaphorisch von Thermometern und Barometern der Gefühle die Rede war, und wie in erzählenden Texten oft Parallelen zwischen Veränderungen des »Wetterglases« und der Gefühlslage gezogen wurden. Der Grund, warum Thermometer und Barometer in der öffentlichen Kultur einander assimiliert wurden, mag darin liegen, dass die interessierten Laien ihre Funktionsweise nicht völlig verstanden: Castle spricht von einer Faszination durch das Quecksilber, das in beiden Geräten vorkommen konnte und traditionellerweise mit merkurialen Charaktereigenschaften verbunden wurde.48 Ich finde es wichtig, an dieser Stelle auch 43 | Castle, Terry: The Female Thermometer. 18th Century Culture and the Invention of the Uncanny, New York: Oxford University Press 1995; J. Golinski: British Weather. 44 | Vgl. ebd., S. 108-110 und S. 120-127. 45 | Vgl. ebd., S. 137-169. 46 | Vgl. ebd., S. 120-136. 47 | T. Castle: Female Thermometer, S. 21-55. 48 | Vgl. ebd., S. 24-25.
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den oben besprochenen Umstand zu berücksichtigen, dass das Thermometer zu jenem Zeitpunkt als rätselhaft erscheinen konnte, weil der Temperaturbegriff keine befriedigende theoretische Grundlage mehr besaß. Wie Golinski unterstreicht auch Castle, dass Thermometer und Barometer zu Symbolen der Irrationalität der menschlichen Gefühle wurden. Ihrer Meinung nach trug die Symbolik der beiden Instrumente in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts oft misogyne Züge und stellte die Irrationalität der weiblichen Gefühle und insbesondere der sexuellen Triebe der Frauen dar. Ein Beispiel dafür ist das »female thermometer« von Bornell Thornton (1754), das die Stufen der weiblichen Erregung von »inviolable modesty« bis »abandoned impudence« anzeigen konnte.49 Bei Männern war das weibliche Thermometer insofern nutzlos, weil bei ihnen zwar die beiden Extreme, aber keine Zwischenstufen vorgesehen waren. Diese Sichtweise sei, so Castle, teilweise noch als eine Auswirkung der aristotelisch-galenischen Idee der Polarität in der Temperamentenlehre zu verstehen, wo Frauen dem Irrationalen und Männer dem Rationalen näher standen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts seien aber Thermometer und Barometer eher als Wahrnehmungsapparate für das psychische Leben der Menschen beider Geschlechter aufgefasst worden: eine »feminization of the male subject«, die bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkte.50 Die von Castle gezeichnete Entwicklung möchte ich tentativ als eine Ablehnung des alten Musters eines polaren Gegensatzes der beiden Geschlechter verstehen, die sich in der Literatur und in der populären Kultur vollzog und als Analogon zum Verschwinden der Polarität zwischen Wärme und Kälte in der Philosophie der Natur betrachtet werden könnte. Obwohl dieser Aspekt der Geschichte des Thermometers keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Entstehung des modernen Temperaturbegriffs gehabt zu haben scheint, ist es vom kulturhistorischen Standpunkt wichtig zu bemerken, wie das gleiche Gerät in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedliche, sogar entgegengesetzte Deutungen erhalten konnte: Im wissenschaftlichen Labor wies die Praxis der Thermometrie keine Beziehungen zu den Gefühlen und zum Irrationalen auf, in der Literatur und im öffentlichen Diskurs hingegen schon. Diese Konstellation scheint besonders interessant, wenn man an das Ideal der gefühlslosen »Objektivität« denkt, das in der modernen Naturwissenschaft eine zentrale Rolle zu spielen begann.51 Zur Verwirklichung dieser idealen Vorstellung der Objektivität wurden Instrumente eingesetzt, 49 | Vgl. ebd., S. 21-22. 50 | Vgl. ebd., S. 33. 51 | Für eine kurze Darstellung der Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität, siehe: Daston, Lorraine: »Scientific Objectivity and the Ineffable«, in: Lorenz Krüger/ Brigitte Falkenburg (Hg.), Physik, Philosophie und die Einheit der Wissenschaften, Heidelberg: Spektrum 1995, S. 306-331.
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welche die menschlichen Sinne bei wissenschaftlichen Beobachtungen nicht nur ergänzen, sondern auch disziplinieren sollten. Wie im nächsten Abschnitt dargestellt, übernahm das Thermometer diese Rolle hinsichtlich der Wärmeund Kälteempfindungen und wurde dadurch zur definierenden Instanz für den modernen Temperaturbegriff, dem wir bei Maxwell und Mach begegnet sind. Die symbolische Bedeutung des Thermometers in der Literatur jener Zeit scheint aber das genaue Gegenteil zu seiner idealen Funktion im Labor gewesen zu sein: Im Labor sollte es Gefühle und Empfindungen ausschließen und sie durch Zahlergebnisse ersetzen, in der Literatur nahm es stattdessen metaphorisch Gefühlen auf, um sie sichtbar zu machen. Es wäre hier interessant zu fragen, ob unter Umständen das wissenschaftliche und das literarische Bild des Thermometers miteinander kollidieren konnten, doch ist es an dieser Stelle nicht möglich, dieser Frage nachzugehen. Wir werden uns stattdessen der Anwendung des Thermometers im Labor zuwenden und die Entstehung des modernen Temperaturbegriffs diskutieren.
7. D AS R ÄTSEL DER TEMPER ATUR UND DIE MODERNE R EPRODUK TION DER ANTIKEN D IFFERENZ Z WISCHEN E X TENSIVER UND INTENSIVER G RÖSSE Neben seinen Untersuchungen zu Barometer und Meteorologie hat Ian Golinski auch die Rolle von Thermometer und Grad der Wärme in der Laborpraxis dreier Naturwissenschaftler analysiert, die die Geschichte der frühneuzeitlichen Chemie stark prägten: Hermann Boerhaave (1668-1738), Joseph Black (1728-1799) und Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794). Golinski deutete das historische Geschehen als einen Prozess des »Black-boxing« des Thermometers.52 Erst habe Boerhaave das Thermometer als Mittel zur quantitativen Bestimmung der Wärme gegenüber dem Tastsinn aufgewertet. Später hätten hingegen Black und, danach, Lavoisier die vom Thermometer gemessene Temperatur als eine Größe betrachtet, die mit der Wärme nicht identisch war. Für die Temperatur hätten sie aber keine theoretische Deutung angeboten, sondern sie bloß als einen nützlichen Parameter in der chemischen Laborpraxis behandelt. Diese zweite Phase interpretierte Golinski nicht nur als ein »Black-boxing«, sondern auch als eine Abwertung des Instruments gegenüber anderen Geräten des chemischen Labors, insbesondere dem von Lavoisier erfundenen Calorimeter.53
52 | Golinski, Jan: »›Fit Instruments‹: Thermometers in Eighteenth-Century Chemistry«, in: Frederic L. Holmes/Trevor H. Levere (Hg.), Instruments and Experimentation in the History of Chemistry, Cambridge MA: MIT Press 2000, S. 185-210. 53 | Vgl. ebd., S. 205.
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Die Entwicklung, die Golinski als eine Abwertung sieht, kann meines Erachtens auch als eine epistemologische Aufwertung des Thermometers gedeutet werden, weil bei Black und Lavoisier die thermometrische Messung zur definierenden Instanz für den Temperaturbegriff wurde. Besonders interessant ist dieser Prozess für unser Thema, weil dabei der Unterschied zwischen der extensiven Menge an Wärme einerseits und dem intensiven Grad der Temperatur andererseits wieder entdeckt wurde. Es lohnt sich, die Meinungen einiger historischer Akteure näher zu betrachten, obwohl sie nur exemplarischen Charakter haben und nicht als eine Zusammenfassung der vielfältigen Temperaturlehren der Epoche gelten dürfen. Im Rahmen seiner Theorie der Materie hatte Anfang des 18. Jahrhunderts Boerhaave das Thermometer zur wahren Methode der Messung der Quantität des »Elementarfeuers«, des wichtigsten aktiven Prinzips seiner Chemie, erklärt. Für ihn war die Quantität des Elementarfeuers eine Größe, die der thermischen Ausdehnung der Körper proportional war, und es war auf der Grundlage dieser theoretischen Bestimmung, dass die vom Thermometer gemessenen Zahlen als der einzige zuverlässige Hinweis auf die anwesende Menge von Wärme galten.54 Daher war Boerhaaves Temperaturbegriff in erster Linie durch theoretische Überlegungen und nicht durch das Thermometer definiert. Die Aufwertung des Thermometers im Vergleich zu den Sinnen in Boerhaaves Chemie muss außerdem im Kontext eines Wandels verstanden werden, der sich innerhalb der Chemie des 18. Jahrhunderts abspielte. Wie von Lissa Roberts gezeigt, nahm in jener Periode die Bedeutung der Sinnesempfindungen als Mittel zur Bestimmung chemischer Grundbegriffe zugunsten der instrumentellen Praxis ab.55 Es war in diesem spezifischen Zusammenhang, dass Tastsinn und Thermometer als zwei Instrumente zur Wahrnehmung der Temperatur betrachtet werden konnten, deren Leistungen miteinander vergleichbar waren. Aus dieser frühneuzeitlichen Entwicklung darf man aber nicht ohne Weiteres auf die Existenz einer früheren Periode schließen, in der Wärme und Kälte ausschließlich auf der Grundlage taktiler Empfindungen gedacht worden seien. Wie wir in den vorigen Abschnitten gesehen haben, war dies nicht der Fall. Wenden wir uns nun Joseph Black zu: Er war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aktiv, als Instrumente in der Laborpraxis einen festen Platz hatten und die aristotelische Physik schon lange keine Rolle mehr spielte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er nichts über die aristotelischen Ursprünge von Thermometer und Temperatur zu wissen schien. Seiner Meinung nach hatte
54 | Vgl. ebd., S. 190-193. 55 | Roberts, Lissa: »The Death of the Sensuous Chemist: The ›New‹ Chemistry and the Transformation of Sensuous Technology«, in: Studies in the History and Philosophy of Science 26 (1995), S. 503-529.
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Santorio das Gerät gebaut, um es als Maß der Wärme zu verwenden.56 Black erklärte, wie das Thermometer unsere Kenntnisse über die Wärme verbessert habe, und stellte dessen Leistung als eine Erweiterung und Verfeinerung der taktilen Wärmeempfindungen dar. Über Gleichgewicht, Temperatur und Thermometer sagte er: »Even without the help of a thermometer, we can perceive a tendency of heat to diffuse itself from any hotter body to the cooler around, until it be distributed among them, in such a manner that none of them are disposed to take any more heat from the rest. The heat is thus brought into a state of equilibrium. This equilibrium is somewhat curious. We find that when all mutual action is ended, a thermometer, applied to any one of the bodies, acquires the same degree of expansion: Therefore the temperature of them is all the same, and the equilibrium is universal. No previous acquaintance with the peculiar relation of each to heat could have assured us of this, and we owe the discovery entirely to the thermometer. We must therefore adopt, as one of the most general laws of heat, that ›all bodies communicating freely with each other, and exposed to no inequality of external action, acquire the same temperature, as indicated by a thermometer‹.« 57
So formulierte Black als einer der ersten das ›Gesetz der gleichen Temperaturen« und bestimmte dabei die Temperatur als die Zahl, die beim Bestehen des Gleichgewichts vom Thermometer angezeigt (»indicated«) wird. Wie Maxwell und Mach verwies er auf die Wärmeempfindungen, um die Existenz einer Tendenz zur gleichmäßigen Wärmeverteilung zu erkennen. Er beschrieb aber das thermische Gleichgewicht im engeren Sinne als ein eigenartiges, erst dank dem Thermometer entdecktes Phänomen, das weiter erforscht werden sollte. Black kritisierte Boerhaave, weil dieser die vom Thermometer angezeigte Temperatur als eine Menge an Wärme gedeutet hatte, die wie der Raum, d.h. extensiv, zunehmen würde. Stattdessen sei es nötig, zwischen der »Größe« (quantity) und der »Stärke« oder »Intensität« (strength, intensity) der Wärme zu unterscheiden: »The nature of this equilibrium [d.h. des thermischen Gleichgewichts, A.B.] was not well understood, until I pointed out a method of investigating it. Dr. Boerhaave imagined, that when it obtains, there is an equal quantity of heat in every equal measure of space, however filled up with different bodies […] But this is taking a very hasty view of the subject. It is confounding the quantity of heat in different bodies with its general
56 | Black, Joseph: Lectures on the Elements of Chemistry Delivered in the University of Edinburgh Now Published from his Manuscripts by John Robinson, Bd. 1, Edinburgh: Mundell 1803, S. 50-51. 57 | Vgl. ebd., S. 76-77.
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strength or intensity, though it is plain that these are two different things, and should always be distinguished, when we are thinking of the distribution of heat.« 58
So formulierte Black einen Unterschied, der sehr große Ähnlichkeit mit der herkömmlichen aristotelisch-galenischen Lehre von Wärme und Temperatur aufwies. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt äußerte sich auch Johann Heinrich Lambert (1728-1777) über die Notwendigkeit, zwischen Wärmemenge und Temperatur zu unterscheiden. In seiner »Pyrometrie« (1779) erklärte Lambert die Wärme als Wirkung von Feuerteilchen und diskutierte den Unterschied zwischen ihrer Menge und ihrer Kraft: Der Grad der Wärme war als die »Kraft der Feuerteilchen« zu verstehen, deren wahres Maß von einer bestimmten Art von Luftthermometer gegeben war.59 Anders als Black bot Lambert auch eine Erklärung für das thermische Gleichgewicht: Es sei das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen der Kraft der Feuerteilchen und der Festigkeit der Körper.60 So hatte auch für Lambert das Thermometer eine privilegierte epistemologische Stellung inne. Auch in seinem erkenntnistheoretischen Traktat »Anlage zur Architectonic« (1771) hatte er zwar den sinnlichen Empfindungen eine grundlegende erkenntnistheoretische Funktion eingeräumt, aber zugleich erklärt, dass sie durch andere Methoden der Quantifizierung zu ergänzen seien.61 Zusammenfassend können wir feststellen, dass sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Thermometer als definierende Instanz für die Temperatur durchsetzte. Gleichzeitig wurde der Verweis auf den Tastsinn aber immer häufiger verwendet, um die auf dem Thermometer basierende Definition einzuführen oder gar zu rechtfertigen: Das Thermometer konnte die Temperatur besser als der Tastsinn bestimmen, doch konnte es sie nur deswegen bestimmen, weil es eine Verfeinerung des Tastsinns war. Dabei wurde die grundlegende Rolle des thermischen Gleichgewichts thematisiert und diese Erscheinung galt keineswegs als selbstverständlich, sondern eher als neu und erklärungsbedürftig. Schließlich wurde in diesem Kontext die Differenz zwischen Temperatur und Wärme betont. Es wäre nicht korrekt zu behaupten, dass sie mit dem alten aristotelisch-galenischen Unterschied gleichbedeutend war. Gleichfalls inkorrekt wäre es aber zu sagen, es bestehe zwischen den alten und den neuen Begriffen
58 | Vgl. ebd., S. 77-78. 59 | Lambert, J. H.: Pyrometrie oder vom Maaße des Feuers und der Wärme, Berlin: Hande und Spener 1779, S. 54-55. 60 | Vgl. ebd., S. 7-8. Über Lamberts Wärmelehre: Fox, Robert: »The science of Fire: J.H. Lambert and Study of Heat«, in: Actes du colloque international Jean-Henri Lambert, Paris: Ophrys 1979, S. 325-342. 61 | Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic, 2 Bd., Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1771 (Nachdr. 1965), hier Bd. 2, S. 398-399.
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keine Beziehung, denn die moderne Temperatur war in vielerlei Hinsicht das Ergebnis einer Reproduktion des älteren Wissens.
8. G LEICHGE WICHT UND TEMPER ATUR IN E PISTEMOLOGIE UND G ESCHICHTE In Lavoisiers chemischen Labors hatten Präzisionsinstrumente eine hervorragende Stellung. Am Anfang des »Memoire über die Wärme« (»Mémoire sur la chaleur«) (1780), das er zusammen mit Pierre Simon Laplace (1749-1827) verfasste, stellten die Autoren kurz und ohne Problematisierung fest, dass die Quantifizierung der Wärmeerscheinungen eine rein moderne Errungenschaft sei: »Il ne paraît pas que les anciens aient eu l’idée de mesurer ses rapports, et ce n’est que dans le dernier siècle que l’on a imaginé des moyens pour y parvenir.«62 Lavoisier und Laplace boten eine fiktive Darstellung der Erfindung des Geräts, die später von Burkhardt, Mach und anderen Historikern übernommen wurde. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die moderne Thermodynamik entwickelt, die auf der Idee gründet, dass Wärme eine besondere Form der Energie sei. Wie im ersten Abschnitt gesehen, spielten in der neuen Theorie Temperatur und thermisches Gleichgewicht eine sehr wichtige Rolle, doch versuchten die Wissenschaftler des frühen 19. Jahrhunderts nicht, eine physikalische Deutung für das thermische Gleichgewicht zu finden. Eher strebte William Thomson (Lord Kelvin) (1824-1907) danach, die Temperatur ohne Rückgriff auf Thermometer und Gleichgewicht zu definieren.63 Gleichzeitig verbreitete sich die Sichtweise, dass die vorthermometrische Wärmelehre eine rein qualitative, auf Tastsinn basierende Theorie gewesen sei, in der zwischen Temperatur und Wärmemenge nicht unterschieden wurde. Warum fragte man in jener Periode nicht nach den möglichen physikalischen Ursachen des thermischen Gleichgewichts? Warum wurde die vormoderne Wärmelehre so oft vergessen? Inwieweit kann man eine Beziehung zwischen Epistemologie und Historiographie herstellen? Einen plausiblen kulturhistorischen Rahmen für die epistemologische Entwicklung mag man in den Forschungsergebnissen von Norton Wise und Crosbie Smith finden.64 In einer 62 | Lavoisier, Antoine Laurent/Laplace, Pierre Simon: »Mémoire sur la chaleur«, in : Mémoires de l’Académie des Sciences (1780), S. 355-405, hier S. 356. 63 | H. Chang: Temperature, S. 173-197. 64 | Wise, M. Norton/Smith, Crosbie: »Work and Waste: Political Economy and Natural Philosophy in Nineteenth Century Britain (I)«, in: History of Science 27 (1989), S. 263301; Wise, M. Norton/Smith, Crosbie: »Work and Waste: Political Economy and Natural Philosophy in Nineteenth Century Britain (II)«, in: History of Science 27 (1989), S. 391-
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Reihe von Aufsätzen haben die Autoren überzeugend dargestellt, dass Erklärungsmuster, die auf dem Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte basierten, in der Naturphilosophie, Ökonomie und Politik der Aufklärungszeit sehr oft vorkamen: Das Gleichgewicht galt damals als Symbol für analytische Rationalität.65 In England wurden diese Theorien aber in den Jahren um 1830 durch Modelle ersetzt, die nicht mehr auf der Tendenz zum stabilen Gleichgewicht, sondern auf dem Streben nach dynamischem Fortschritt basierten. Die neuen Muster standen nach Meinung von Wise und Smith mit der zunehmenden Relevanz der Dampfmaschine und der industriellen Produktion in Zusammenhang.66 Die Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Alltag hätten demnach einen Wandel der Denkweisen mit sich geführt. Im Fall des Temperaturbegriffs könnte man in diesem Sinn annehmen, dass die neue Denkweise die Überlegungen über das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte nicht gefördert und womöglich gar unterdrückt hätte. Hinzu kam, dass die Idee der Polarität der Naturkräfte charakteristisch war für die deutschsprachige ›Naturphilosophie‹ des 19. Jahrhunderts, weswegen sie bei vielen Naturforschern verpönt war, obwohl sie sich für die Wissenschaften in einigen Fällen als heuristisch fruchtbar erwiesen hatte.67 Daher standen die modernen Wissenschaftler möglicherweise unter dem Eindruck, dass eine Diskussion über die grundlegenden Wirkungsprinzipien des Thermometers genauso unwissenschaftlich gewesen wäre wie die populären Vorstellungen, dass es ›Thermometer der Gefühle‹ geben könne. Obwohl Temperatur und thermisches Gleichgewicht nicht hinterfragt wurden, spielten sie bei der Entwicklung der Thermodynamik im 19. Jahrhundert eine grundlegende Rolle. Da ihnen aber in der neuen Theorie eine epistemologische Grundlage fehlte, wurde diese Lücke mit dem Hinweis auf den Tastsinn und auf die Alltagserfahrung der Wärmeverteilung geschlossen. Wie im ersten Abschnitt besprochen, ist dieser epistemologische Übergang vom Tastsinn zum Thermometer noch in den heutigen Lehrbüchern der Thermodynamik zu finden, weil die Frage der Zurückführung der Temperatur auf andere naturwissenschaftliche Begriffe offen bleibt.68 449; Wise, M. Norton/Smith, Crosbie: »Work and Waste: Political Economy and Natural Philosophy in Nineteenth Century Britain (III)«, in: History of Science 28 (1990), S. 221-261. 65 | N. M. Wise/C. Smith: Work and Waste I. 66 | N. M. Wise/C. Smith: Work and Waste II. 67 | Caneva, Kenneth L. : »Physics and Naturphilosophie: A Reconnaissance«, in: History of Science 35 (1997), S. 35-106. 68 | Der Einsatz statistischer Überlegungen hat sich für die Thermodynamik als heuristisch sehr fruchtbar erwiesen, doch konnte dadurch das Problem der Unvereinbarkeit der Irreversibilität der Thermodynamik mit der Reversibilität der klassischen Physik und der Quantenmechanik, aus denen sie prinzipiell hergeleitet werden sollte, nicht
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Was die historiographische Entwicklung betrifft, so ist sie sicherlich zum Teil dadurch zu erklären, dass der Vergleich zwischen Tastsinn und Thermometer seit dem 18. Jahrhundert in den Quellen immer wieder vorkam: Er stand bereits in den Schriften von Boerhaave und Black, und bei Lavoisier und Laplace bekam er sogar die Form einer fortschreitenden historischen Entwicklung. Bemerkenswert ist trotzdem, dass sich detaillierte Untersuchungen wie jene von Burkhardt und Mach mit der antiken Lehre der Grade der Wärme nicht beschäftigten, und dass spätere Autoren wie Kuhn, Barnett oder Chang vorliegende Forschungsergebnisse über dieses Thema nicht berücksichtigen. Ich möchte daher vorschlagen, dass ein zusätzlicher Grund für das Vergessen der Geschichte des Temperaturbegriffs der Umstand gewesen sein könnte, dass taktile Wärmeempfindungen im Rahmen der heutigen Thermodynamik ebenfalls eine wichtige epistemologische Stellung innehaben. So haben Wissenschaftshistoriker und -philosophen in einem bestimmten Sinn die Muster der wissenschaftlichen Epistemologie reproduziert und jedenfalls keinen von Tastsinn und Thermometer unabhängigen Weg zur Herleitung des Temperaturbegriffs erkannt.
gelöst werden (Swing, Raymond: »Thermodynamik«, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg: Meiner 1990, S. 592-594, Carrier, Martin: »Thermodynamik«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart: Metzler 1996, S. 292-296).
Das Geschlecht in der Maschine des Guckkastens Zur massenmedialen Entgrenzung von Körper, Blick und Bild Ulrike Hass
Dargestellte Familien zwischen 1500 und 1800 handeln vom Sturz der Vaterordnung, lange bevor das Adjektiv ›patriarchalisch‹ im 19. Jahrhundert die Bedeutung ›vaterrechtlich‹ annimmt.1 Die Bezugnahme auf die Ordnungen der Herkünfte genealogischer, soziosymbolischer und transzendentaler Art schmilzt rasant, um in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine einzigartige Verklammerung der genealogischen Position mit der des individualisierten Geschlechts herbeizuführen. Das Leitmedium dieser Verklammerung ist der Guckkasten des modernen Theaters.2
1 | Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Hg., unter Leitung von Wolfgang Pfeifer): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3 Bde, Berlin: Akademie-Verlag 1989, Bd. 2, S. 1242. 2 | Mit Guckkasten wird die sich im 17. Jahrhundert in Norditalien herausbildende und rasch von anderen westeuropäischen Ländern adaptierte »scène italienne« bezeichnet, die folgende Strukturmerkmale aufweist: In stabile, überdachte und fensterlose Baukörper wird das Theater als ›Schauanlage‹ eingebracht. Diese beruht auf der konfrontativen und abstandslosen Verklammerung von Zuschauerraum und Bühne, wodurch die Zwischenzone entfällt, die zuvor im ›Parkett‹ als Ort chorischer Zwischenspiele (Tanz, Gesang) fungierte. Unmittelbare Konsequenz ist die Trennung von Oper und Schauspiel. Die neuartigen Theaterräume enthalten einen geometralen Ort (Zuschauer) und einen Ort des fiktiven Geschehens (Bühne), die mithilfe der zentralperspektivischen Konstruktion von Sichtpunkt (Zuschauerrückwand) und Fluchtpunkt (Brandmauer der Bühne) aufeinander bezogen sind. Unter dieser Bedingung muss alles, was
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Dabei ist der Guckkasten als Leitmedium der Transformationen ›um 1800‹ weniger in ein direktes Verhältnis zu den Wissenschaften zu setzen, als dass mit ihm die spezifische mediale Verfasstheit des Wissens selbst in den Mittelpunkt rückt. Die Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden durchzieht fortan die Felder der sozialen, öffentlichen sowie der wissenschaftlichen Kommunikation. Deren Formen beerben unverhohlen die essentials des Guckkastens, bis hin zum Hörsaal als Maschine vermeintlich wahrheitsvermittelnder Lehre. In Folge dieser Erbschaften beruht die mediale Verfasstheit des Wissens auf konkreten Demarkationslinien im sozialen Raum, die – auf der Grundlage und in Folge der aufzuweisenden Verklammerung von genealogischer Position und individualisiertem Geschlecht – geschlechtsspezifisch definiert werden. Gleichzeitig erfahren die Gegenstände des Wissens durch die mediale Verfasstheit des Wissens selbst eine Modellierung, in der ihre geschlechtsspezifische Voraussetzung nachwirkt. Im Wechselspiel von Einschlüssen und Ausschlüssen bringt sie Subjekte und Objekte des Wissens hervor. Im Zentrum dieser Dynamik wirkt das Dazwischentreten des Bildes oder vielmehr der Einbau des Bildes, das im Körper auf der Bühne gründet, in die Form der nunmehr audio-visuellen Kommunikation und die ihr zugehörige Medialität des Wissens. Der Guckkasten wirkt als Maschine, die für einhundertfünfzig Jahre unaufhörlich geschlechtlich identifizierte Körper, Blicke und Bilder generiert, bevor diese Arbeit an andere Medien delegiert wird. Die Arbeit dieser Generierung tritt an die Stelle einer Reproduktion, die sich im genealogischen Schema einst als Verkettung und Fortsetzung von familiären Herkünften begriff. Indem die genealogische Position individualisiert wird, wird auch das Prinzip der Verkettung fraglich und aus der Genealogie ausschließlich eine Frage der sexuellen Reproduktion. Die Entkettung der Generationen und die massenmediale Entgrenzung der audio-visuellen Bilder sind reziproke Prozesse. Im Zentrum dieser Entwicklung steht das Bild der Frau. Auf diese sehr komplexen Zusammenhänge möchte ich im Folgenden, exemplarisch und so knapp wie möglich, hinweisen.
F ALL DES V ATERKÖNIGS : L E AR König Lear will im hohen Alter seine Macht, seinen Landbesitz und seine Staatspflichten vererben und unter seinen drei Töchtern teilen. Was ist Lear, wenn er nicht mehr König ist? Er ist ein alter Vater, der einen diabolischen Plan ausheckt. Er verbindet die Aufteilung – die Art eines modernen bürgerlichen Vaters vorwegnehmend – mit einem Liebeswettbewerb unter seinen Töchtern. auf der Bühne zur Darstellung gelangt, notwendigerweise und zuerst als Sichtbares in Erscheinung treten und unterliegt der Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden.
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Diejenige, die ihn am meisten liebt, soll den größten Happen bekommen. Die Töchter stellen sich zum Wettstreit auf. Die Älteste häuft die Superlative eines vollkommenen Lebens auf – Glück, Ehre, Gesundheit und Schönheit – und sagt, dass sie ihren Vater maßlos mehr als alles dies lieben würde, mehr als ihr eigenes Augenlicht. Das lässt sich eigentlich nicht überbieten. Die Mittlere überbietet ihre Schwester dennoch: Sie beschwört nicht das Haben, sondern die Intensität der Liebesempfindung, ein vollendetes sinnliches Empfinden, das allein in der Lage sei, die Kostbarkeit der Liebe wahrzunehmen, die ihr vom Vater aus entgegen ströme. Diese Umkehrung ist von Interesse: Die Mittlere spricht nicht von der Liebe, die sie dem Vater entgegenbringt, sondern von derjenigen, die vom Vater aus auf sie fällt. Damit ist das Thema der inzestuösen Vaterliebe angeschlagen, für die sich im Stück mehr und mehr Spuren finden lassen. Die jüngste Tochter Cordelia hingegen antwortet lakonisch: Sie liebe ihren Vater pflichtgemäß, so wie es ihm zustehe als Vater, nicht mehr und nicht minder. Sie fügt hinzu, dass sie nicht daran denke, die Vaterliebe mit derjenigen zu einem Mann oder Gatten zu verwechseln. Lear verstößt sie darauf hin. Er entsagt aller Vaterpflicht. Er kündigt ihr die Blutsverwandtschaft auf und verbannt sie. Er hält es sich zugute, dass er sie nicht sofort umbringt. Er zitiert den barbarischen Tyrannen aus der Antike, der seine Kinder frisst, und sagt, dass dieser ihm genauso fern stehe wie Cordelia, seine gewesene Tochter. Aus diesem Vorgang, der kurz und bündig zu Beginn des Stückes stattfindet, folgt alles Weitere. »König Lear« ist nicht die Tragödie des alternden Mannes, als die sie heute von alternden Großschauspielern zelebriert wird, sondern die Tragödie einer verfehlten Vaterschaft. In »König Lear« gibt es keinen Vater, der wüsste, was ein Vater ist. Der alte Lear will versorgt werden und versucht, seine beiden ältesten Töchter zu seinen »Müttern« zu machen, wie es im Stück heißt. Die beiden Schwestern, die in Lear nur noch einen alten, lästigen Mann sehen, zielen auf seine Männlichkeit. Als Ausweis seiner »Männlichkeit« bezeichnet Lear einen Tross von 100 Rittern, der von den Schwestern kontinuierlich verringert wird: Von 100 auf 50 auf 25 auf 10 auf 1. Die Geschichte eines erbitterten Kampfes, einer Kastration, die Zug um Zug die Integrität Lears vernichtet. Lear ist kein König mehr, kein Vater mehr, kein Mann. Es gibt keine Bezeichnung mehr für diesen unsymbolisierbaren Rest von Vitalfunktionen.
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»Zerrissen ist das Band zwischen Vater und Sohn«, resümiert Gloucester, »da sieht man Sohn gegen Vater: der König weicht ab von den Bahnen der Natur: da sieht man Vater gegen Kind«.3 Gloucester, der auf Lears Seite steht, wird von dessen beiden älteren Töchtern geblendet und will sich die Klippen von Dover hinab stürzen. Doch Gloucester kann selbst ›das Schlimmste‹ nicht mehr wählen: Die tödliche Vertikale der Klippen existiert nur in der Erzählung des Jungen (dies ist, unerkannt, Gloucesters verstoßener Sohn Edmund), der den Blinden fehl geführt hat. Im Horizont einer schwindenden Verankerung der Welt in der Vertikale lautet Shakespeares Analytik der Moderne um 1600, dass mit den geweihten Königen auch das Wissen um das väterliche Amt verloren gehe: Die Positionen Gott, König, Vater sowie die soziosymbolische Ordnung in ihrem Namen werden gemeinsam und auf einmal unterminiert.
1800: E NGFÜHRUNG DER GENE ALOGISCHEN P OSITION MIT DER DES G ESCHLECHTS In einem für unseren heutigen sprachlichen und kulturellen Horizont kaum mehr erreichbaren Sinn handeln genealogische Fragen von der Asymmetrie älterer und jüngerer Generationen in radikaler Absehung von der je einzeln behaupteten, geschlechtlichen Identität. Sie handeln von Geschlechtern im Horizont der Gattung. Der Umbruch von einer kollektiven, pluralen Signatur des Geschlechterbegriffs zu einer nur noch singulär lesbaren Signatur des Geschlechts (männlich oder weiblich) beruht auf einer metonymischen Verschmelzung von genealogischen Positionen mit geschlechtsspezifischen Konnotationen. Diese Verschmelzung wird maßgeblich im 18. Jahrhundert etabliert – von denselben subtilen geschichtlichen und kulturellen Kräften, die den Vater im selben Zeitraum naturalisieren, d.h. auf jene biologische Gegebenheit reduzieren, die heute in der Erscheinung des Gentests triumphiert. Die Reduktion des Vaters auf den ›natürlichen‹ Erzeuger seiner Nachkommen bricht mit der institutionellen Funktion des Vaters, auf die sich das okzidentale Modell für die Filiation einst stützte. 3 | Gloucesters ›hellsichtige‹ Rede rekurriert auf Matth. 10,21: »Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater den Sohn, und die Kinder werden sich empören wider ihre Eltern und ihnen zum Tode helfen.« Vgl. auch Luk. 12,53: »Es wird sein der Vater wider den Sohn und der Sohn wider den Vater, die Mutter wider die Tochter und die Tochter wider die Mutter.« – Mit diesen Versen wird keine Apokalypse beschworen, sondern sie benennen, gleichermaßen irritierend und aufschlussreich, die Folgen einer unbedingten Nachfolge Christi (die keine direkte, sondern eine über den Sohn vermittelte Vaternachfolge ist).
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Mit dem Begriff der ›Filiation‹ in der alten Bedeutung von ›Abkommenschaft‹ wird das genealogische Thema vom Nebenschauplatz aus eröffnet: Der Terminus ›Filial‹ in der Zusammensetzung mit ›Handlung‹ oder ›Speicher‹ bezeichnete im 18. und 19. Jahrhundert eine Nebenhandlung oder einen Nebenspeicher. Entsprechend fokussiert die ›Filiation‹ das Fadenwerk der Generationenablösung von der Kindesabhängigkeit her und meint zuerst den großen Komplex der vom Kind ausgehenden Verpflichtungen: Der Begriff der Filiation zeigt an, dass es sich um eine Institutionalisierung handelt, um einen Vorgang, der Recht verlangt, diktiert und eröffnet. Ein Recht, das eingeräumt und hergestellt werden muss. Das Marginale und das Zweitrangige dieses Ortes weisen darauf hin, dass er in einem asymmetrischen Verhältnis zu der Gewalt steht, die tief ins Innere der Beziehungen zwischen den Generationen reicht. Im Kern läuft die Filiation auf eine Ablösung hinaus, in welcher der Vater seinen Platz als Sohn aufgibt und Vater wird, um diesen Platz seinen Söhnen zuzuweisen – des einen wie des anderen Geschlechts, wie die römische Rechtstradition es ausdrückt: filius utriusque sexus. Der Wechsel vom Sohn zum Vater ist alles andere als selbstverständlich. Gewechselt wird in eine Position, die nicht auf ›natürliche‹ Weise gegeben ist, sondern deren ›Natur‹ eine symbolische ist und eine juridische Form besitzt, einem Rechtstitel, einem ›Amt‹ oder einer Aufgabe vergleichbar. Diese Aufgabe – im doppelten Sinn der Selbstaufgabe als Sohn und der Aufgabe, die in der Übernahme des Amtes als Vater besteht – bleibt von einer immensen Fragilität gekennzeichnet. Es bleibt immer ein Rest, ein Suspens der vollständigen Aufgabe, von dem eine latente Bedrohung für den Platz der Nachkommen ausgeht. In diesem Sinn interpretiert Pierre Legendre die Formel Pater semper incertus est: Der Vater ist immer ungewiss, nicht weil er gegenüber der biologistischen ›Wahrheit‹ des Kindbettes benachteiligt wäre, sondern weil seine Vaterschaft in einer Aufgabe besteht, die einen permanenten und nie ganz vollständig gelingenden Platzwechsel von ihm verlangt. Nicht anders übrigens als die Mutter an dieser Stelle, die als Gebärende sich ebenfalls ›die Gewissheit der Geburt erst erobern muss‹ 4. Eltern sind nicht, sondern werden. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die mittelhochdeutsche Schreibung von ›Ältern‹ mit ›Ä‹ durch die Schreibung mit ›E‹ sich erst im 18./19. Jahrhundert durchsetzt, seitdem – wie es im etymologischen Wörterbuch heißt – hinsichtlich der Bezeichnung Eltern »der Zusammenhang mit alt nicht mehr erkannt wird«5. Wie Nachkommen der sprechenden Gattung in diese Kultur eingeschrieben und initiiert werden können, hängt im Sinne der sozialen Geburt von ›Ältern‹ ab, die sich als Söhne und Töchter aufgeben müssen, um mit ihren Nachkom4 | Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Aus dem Französischen von Clemens Pornschlegel, Freiburg i.Br.: Rombach 1998. 5 | Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, S. 352.
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men verbunden bleiben zu können. Eltern, die diesen Platzwechsel nicht vollziehen und sich weiterhin als Söhne und Töchter behaupten, verweigern die Filiation. Die beiden grundlegenden Formen, in denen sich diese Verweigerung äußert, bestehen in einer inzestuösen Zerstörung der eigenen Nachkommen oder in deren selbstzerstörerischem Aufstand gegen den unreifen Sohn-Vater, die unreife Tochter-Mutter, die jene Grenze missachten, die sie von ihren Nachkommen trennt (und gleichzeitig mit ihnen verbindet). Legendres Theorie der Familie als Institution betont das Verhältnis der Generationen in seiner Asymmetrie. Die Entgleisung der väterlichen Funktion verursacht Kosten, die nicht von den Älteren, sondern von den Jüngeren getragen werden und sich multiplizieren, wenn diese versuchen, in eine Nachfolge einzutreten, die ohne Referenz bleibt. Das Fraglichwerden dieser Referenz geht mit der Reduktion des Vaters auf seine ›natürlichen‹ Eigenschaften als Erzeuger einher. Im 18. Jahrhundert werden dieser Umbruch in der Konzeption des Vaters und seine Folgen von den damaligen Leitmedien, Literatur und Theater, überdeutlich registriert, mit weithin nachhallenden und immer radikaleren Gestaltungen im langen 19. Jahrhundert. Dies ist möglich, weil die Figuren des literarischen Theaters noch in einer Tradition stehen, die sich, gebrochen, von Shakespeare herschreibt: Geschichte verkörpert sich in Figuren, wird in ihnen lesbar und verschwindet zugleich im ›Charakter‹. Die Figuren enthalten Spuren der Lesbarkeit von Geschichte. Der Vorgang, dass in ihnen Geschichte gelesen worden ist und verschwindet, macht sie gegenwartstauglich, zu Theaterfiguren. Daher hat das literarische Theater in und mit seinen Figuren Anteil an einer Bewegungsform der Moderne, die sich in der Form der Vergegenwärtigung zum Verschwinden der Tradition entschließt: Die Prozesse der Entstehung des modernen Vaters und des modernen Theaters weisen eine hohe Strukturanalogie auf. In diesem Sinn handelt seit dem 18. Jahrhundert das Theater auch von sich selbst und den Bedingungen seiner Darstellung, wenn es vom Vater handelt und in schier unendlichen Variationen versucht, den sozialen Dritten zu konstruieren und lesbar zu machen.6 Der moderne Vater avancierte für etwa einhundertfünfzig Jahre zu einem seiner ersten Gegenstände, indem es unausgesetzt mit ihm haderte und seine zerstörerischen Konsequenzen für die Ordnung der Filiation aufzeigte. Zu den hellsichtigsten Dramen in dieser Hinsicht gehören »Der Hofmeister« von Jakob Michael Reinhold Lenz, der 1771 das kleinfamiliäre Desaster zur Zeit seiner 6 | Mit dem Begriff des ›sozialen Dritten‹ wird hier jenes die dramatische Struktur konstituierende Bemühen bezeichnet, aus den innerdramatisch konfliktreich aufeinander bezogenen Dualismen Aussagen über das Ganze der gesellschaftlichen Anordnung zu gewinnen. Mögliche Aussagen über das Dritte der Gesamtanordnung müssen, da keine prästabile Ordnung mehr behauptet wird, von Stück zu Stück und mit jeder erneuten Rezeption differieren.
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Einrichtung porträtiert und »Der Vater« von August Strindberg, der es 1898 zu Ende ausbuchstabiert.
V OR DEN V ÄTERN STERBEN DIE T ÖCHTER : E MILIA Im modernen Vater, dem per Zeugung auf quasi-natürliche Weise der Ausweis der Vaterschaft zukommt, werden die Positionen ›Mann‹ und ›Vater‹ ununterscheidbar miteinander verschmolzen. Das 18. Jahrhundert entwirft dieses Verschmelzungsprodukt als ›zärtlich liebenden‹ Vater. Er tritt, eigenartig genug, nicht die Familie ›gründend‹ im Duo mit seiner Frau, sondern im Duo mit seiner Tochter auf. Dieses verkehrt-geschlechtliche Duo bedeutet für die Töchter im bürgerlichen Trauerspiel – welches sich als eine Form der theoretischen Durchdringung und gleichzeitig als Motor der Modellierung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt –, dass sie vor ihren Vätern sterben. »Emilia Galotti« (1772) kann als ›Muster‹ gelesen werden, als das es von Lessing konzipiert worden ist. Seine dramatische Fabel beruht auf zwei Szenen der Begegnung, die einander antipodisch und modellhaft entgegengesetzt sind. Eröffnet wird die Fabel durch eine Begegnung zwischen Emilia und dem Prinzen, die off-scene stattfindet. Wir wissen von dieser Szene nur etwas durch die Erregung Emilias, die ihrer Mutter berichtet: »Er sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was ich ihm geantwortet – […] Jetzt weiß ich von dem allen nichts. Meine Sinne hatten mich verlassen.«7 Die Szene, die wir weder sehen noch hören, ist eingeschlossen in den unbewussten Rand der Person. Sie bezeichnet einen Moment der Depersonalisation oder des symbolischen Todes. Seit dieser Begegnung ist Emilia eine Figur, die zu viel weiß und der es darum gehen muss, ihr Wissen mit der väterlichen Ordnung zu versöhnen und über seine Anerkennung ihren Platz in der Ordnung wieder zu gewinnen. Solange diese Anerkennung nicht gelingt – in diesem Fall die gesamte Zeitspanne des Dramas und die gesamte Zeit, in der wir etwas von Emilia wissen – ist diese Figur ungetrennt vom Faktum der erfahrenen Selbstauflösung. Die andere Begegnung, welche zugleich die dramatische Fabel abschließt, ist die Szene zwischen Emilia und Vater Galotti, in der Emilia auf eigenes Verlangen durch die Hand ihres Vaters stirbt. Ihr Tod findet auf offener Bühne statt. Was geschieht, ist jedoch gerade in seiner Unverborgenheit rätselhaft, denn es verweigert den Standardeffekt der Abgeschlossenheit. Die Beruhigung über ein zwar schlimmes, aber doch sinnfälliges Ende bleibt aus. Bekanntlich hat kaum ein Bühnentod eine derartige Suche nach Schuld ausgelöst, und trotz
7 | Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, II. Aufzug, 6. Auftritt.
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aller Mühe der Interpretationen war eine solche Schuld entweder nicht zu finden oder erschien zu geringfügig, um den Tod zu rechtfertigen. Emilias Erklärung, bevor sie den Dolch aus der Hand ihres Vaters für sich fordert, ist glasklar (und beweist, dass Emilia Foucault gelesen hat): Die herkömmliche, souveräne Gewalt herrschte über Leben und Tod. Das moralische Kapital der Bürgerlichen, das in der sinnlichen Attraktivität und gleichzeitigen Unberührtheit ihrer Töchter bestehe, sei hingegen einer Macht ausgesetzt, gegen die sich alle frühere Gewalt wie Nichts ausnähme. Die moderne Macht richte sich gegen die lebendigen Körper. Emilias Rede vor dem Vater versucht, seine Anerkennung ihres Genießens zu gewinnen (»Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine«8). Aber der Vater umarmt sie, indem er sie durchsticht. Es ist ununterscheidbar, ob er sich in diesem Moment als Vater oder als Mann verhält: Als väterliche Instanz, die das Genießen der Tochter nicht kennt oder als väterlicher Mann, der das Betriebsgeheimnis eines Erziehungsaktes hütet, aus dem die geschlechtlich identifizierten, begehrenswerten Körper der Töchter hervorgehen. Das Unvorstellbare seiner tödlichen Umarmung schließt die Lücke zwischen der erfahrenen sinnlichen Auflösung Emilias und ihrer Identität als Tochter im symbolischen System der Familie. Emilia schließt in diesem väterlichen Akt sich, ihren Körper und ihre namentliche Identität zusammen. Die radikale Identifikation von Körper (Emilia) und symbolischer Anerkennung (Galotti) ist die Leiche. Ihre Leiche repräsentiert den individuellen Leib, der den sozialen Körper nachhaltig ausgeschlossen hat, d.h. genau jenen Körper, auf den es aus genealogischer Perspektive ankommt.
G UCKK ASTEN ALS B ILDERMASCHINE Die Vorgänge dieser epochalen Umdeutungen auf den genealogischen und symbolischen Feldern gehen einher mit einer Geschichte des Sehens, in der alles in die Sichtbarkeit des Bildes drängt und die Beziehungen zum Unsichtbaren, Verborgenen tendenziell zerschnitten werden. Seit Shakespeare wird im Theater die Krise der Wahrnehmung thematisiert – in »König Lear« ist das Problem der Blendung, der Erblindung und des blinden Agierens zentral. Die bürgerlichen Umdeutungen und paradoxen Engführungen drängen in die Sichtbarkeit einer Bühne, die ihre optische Einrichtung aus dem Bildbarock übernimmt. Doch um welche Sichtbarkeit und um welche Bildlichkeit handelt es sich beim Guckkasten? Sucht man nach einem Bildtypus, mit dem sich der Guckkasten vergleichen lässt, so wäre dies am ehesten das Fotonegativ als ein Bildträger, der sich so8 | Vgl. ebd., V/7.
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wohl von vorne als auch von der Rückseite her betrachten lässt: Er kann von hinten belichtet und von vorne gelesen werden und zeichnet sich durch seine Durchsichtigkeit aus. Für die Bühne als Bildträger müsste man eine durchsichtige Fläche an der Bühnenvorderkante annehmen, genau dort, wo sie in der entwickelten Bühnenoptik von Andrea Pozzo 1700 platziert und als quadro, als Eintragungsfläche (auch: tabula) tituliert wird. Von der Bühne her werden die Dekorationen, szenischen Abläufe und Figuren so komponiert, dass sie auf dieser Fläche einen möglichst geschlossenen visuellen Eindruck ergeben, der von der Zuschauerseite her als ein Bild wahrnehmbar und lesbar ist. Entlang dieser optischen Fläche werden die räumlichen Beziehungen zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne zerschnitten. Das, was sie verbindet, ist dieser Schnitt. Optische Einrichtung heißt nun weiter, dass alles, was auf dieser Bühne zur Darstellung gelangt, in ein Verhältnis zur Bildlichkeit gezwungen wird. Pozzos durchlässiger Bildträger, dieser Schnitt zwischen Zuschauerraum und Bühne, nimmt sichtbare Darstellungen auf. Darin erschöpft sich seine Definition, die uns mit einer abstrakten, merkwürdig kalten, optischen Architektur konfrontiert, die unbewohnt und unbewohnbar scheint. (Und Pozzo als Maler hatte alle Hände voll zu tun, diese Leere atmosphärisch zu verkleiden.) Ein halbes Jahrhundert nach Pozzo zieht das Theater der Schauspieler in diese Guckkästen ein und wird dabei in einem zwiespältigen Sinn durch eine Flut von Schauspieltraktaten und Schauspielästhetiken begleitet. Die Darsteller einer menschlichen Figur einerseits und die Schauanlagen in den fensterlosen, geschlossenen Baukörpern andererseits, die bis dahin zwei völlig voneinander getrennte und verschiedene Wege der Entwicklung genommen haben, werden zu einer widersprüchlichen Einheit verschmolzen. Dem modernen Schauspieler, der im Zuge seiner Domestizierung das »Phantasma der natürlichen Gestalt«9 erfindet, wird nun aufgelastet, was der optischen Architektur als solcher fehlt: Der Blick, der Gesichtspunkt, die Seele, das Subjekt, sein Begehren. Der Schauspieler hingegen verstrickt sich in einen unaufhörlichen Kampf gegen seine bedingungslose Sichtbarkeit und sein Gesehenwerden, das im System dieses Raumes verankert ist und gleich einem »toten Auge«10 auf seinen Gebärden lastet. Der Guckkasten führt zu einer Zerreißprobe für den modernen Schauspieler (»Paradoxe sur le comédien«, Diderot). Von Anfang an unterliegt er einer doppelten Voraussetzung: Unter den optischen Bedingungen einer Bühne, die alles, was auf ihr zur Darstellung gelangt, in ein Verhältnis zur Bild9 | Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Nexus 2000. 10 | Haß, Ulrike: »Die Bühne als ein totes Auge. Zur Beziehung zwischen Keplers Theorie des Netzhautbildes und der barocken Bühne«, in: Günther Heeg (Hg.), Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München: Epodium, 2004, S. 23-37.
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lichkeit zwingt, handelt der Schauspieler im Bild lediglich mit Körperbildern. Unter der Voraussetzung, dass er nicht anders denn als Körper auf der Bühne vorhanden sein und Wirkung erbringen will, handelt er von seinem Leibraum aus, dem eine eigentümliche Blindheit eignet. Im Zeichen der Bildwirkung der Bühne entsteht der neuartige Zwitter des Sprechtheaters, das sich in erster Linie auf die Form des zwischenmenschlichen Dialogs stützt. Diese moderne Form des Dialogs wird gleichsam als innere Bühne in die Bildbühne implantiert. Auf der Bildbühne ist der darstellende Körper nicht ohne Dialog und die dialogische Rede nicht ohne ihre (sprechende) Konterkarierung durch die darstellenden Körper denkbar. Die innige strukturelle Verschwisterung der beiden Felder bewirkt eine rasche Naturalisierung dieser Form. Ihre Naturalisierung verdrängt, dass es sich um eine sehr spezielle Form der Zusammensetzung handelt, die schon sehr bald Tendenzen zur Auflösung zeigt. Die Voraussetzung, dass der zwischenmenschliche Dialog – im Gegensatz zum tragischen Dialog – Rede im Wahrnehmungsfeld des Anderen ist, Anrede und Antwort im Bildfeld voreinander erscheinender Körper, bringt die Körper ins Spiel. Der zwischenmenschliche Dialog schließt die Körper zugleich ein und aus. Er besitzt eine enge, sogar konstitutive Verbindung zur Herausbildung von körperbildlicher Identität. Parallel zu einer weitreichenden Formulierung von Franz Rosenzweig, der bezüglich des tragischen Dialogs gesagt hat, dass dieser geschaffen worden sei, um das Schweigen darzustellen,11 kann man vom zwischenmenschlichen Dialog sagen, dass er erfunden worden ist, um den Körper zur Darstellung zu bringen. In der bürgerlichen Epoche geht es um die Kreation des Körpers der Darstellung. Dieser Körper soll die Identität des Individuums körperbildlich inventarisieren und zur Darstellung bringen. Das Körperbild, wie es hier skizziert wird, zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus: Zunächst handelt es sich um ein bewegtes Bild. Gegenüber einer Auffassung, die das Körperbild vorschnell als Erscheinungsform der Gestalt begreift, ist es wesentlich, sich den Aufführungscharakter der körperbildlichen Balancearbeit vor Augen zu halten: Sie pendelt zwischen gelingender und misslingender Darstellung (von Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, geschlechtlicher Identität und Ansprechbarkeit), zwischen Abbruch und Erfolg ihrer synthetisierenden Arbeit, zwischen Unterschreitung und Erfüllung dieser Synthese. Des Weiteren kennzeichnet dieses Körperbild, dass es als Ertrag aus einer bestimmten dialogischen, interpersonalen dramatischen Struktur hervor gegangen ist und mit dieser Struktur – in welchem Medium auch immer – verknüpft bleibt. Insofern ist der Guckkasten eine Bildermaschine. Das Amalgam von Körperbild und dialogischer Struktur ist in der Mediengeschichte der Darstellung wesentlich mit dem Bild der Frau verknüpft. Die 11 | Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 83.
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›Zulassung‹ von Frauen im System der Darstellung ist weniger als Fortschrittsgeschichte, denn als mediale Bedingung der Möglichkeit zur Entfaltung einer interpersonalen dramatischen Struktur zu verstehen. Die Frau hat sich im Zusammenhang der Repräsentation, wie Elfriede Jelinek nicht müde wird zu betonen, nie anders denn als Bild und insofern niemals ›selbst‹ gehabt.
D IE F R AU ALS B ILD: L UKRE TIA UND E MILIA In der Renaissance-Komödie, der mittleren Gattung zwischen der Tragödie, die von dynastischen Personen handelt und der Pastorale, die mit allegorischen und mythischen Figuren spielt, betritt zum ersten Mal die Frau ›als Frau‹ die Bühne: Ihr Auftritt wird nicht mehr allegorisch legitimiert und ist nicht mehr von mythologischen Motiven umstellt. Er ist auch nicht mehr durch genealogische Verwicklungen hochgestellter Herrscherhäuser begründet, die ihren Auftritt als betrogene Erbin, zukünftige Gattin oder Witwe eines Herrschers verlangten. Vielmehr betritt die Frau in der Komödie die Szene erstmals ›auf sich selbst gestellt‹. Dies geschieht indessen zum Preis der ungeheuerlichen Reduktion, dass sie nichts als ihr eigenes Bild darstellt, das einen Anblick bietet. Die berühmteste Komödie der Renaissance bildet zugleich das Paradigma für die Komödienstruktur der Neuzeit: »La Mandragola« von Niccolo Macchiavelli.12 Die Konstruktion dieser Komödie, die ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt habe,13 beginnt mit einem Blick, der wie durch ein Fernrohr von weither auf eine bestimmte Frau fällt: In Paris streiten drei junge Italiener darüber, wo es die schönsten Frauen gibt. Sie wetten, ob es die Französinnen oder die Italienerinnen seien. Ihre Wette wird durch die Lobeshymnen eines jungen Florentiners entschieden, der die Schönheit einer gewissen Lukretia in Florenz rühmt. Seine Rede entfacht in einem anderen Teilnehmer der Tischrunde, Callimaco, den brennenden Wunsch, das versprochene Bild in Wirklichkeit zu sehen. Er begibt sich nach Florenz und es gelingt ihm, Lukretia einmal von weitem zu Gesicht zu bekommen. Von da an wird Lukretia zum Ziel, das mit dem Fluchtpunkt der Komödienkonstruktion identisch ist. Die Hinzuziehung eines Heiratsmaklers, der neben Callimaco am häufigsten szenisch präsent ist, ist aufschlussreich: Bekanntlich lassen sich die Umrisse eines Körpers auch ohne den Gebrauch der Augen, nur durch die Handhabung einer Vorrichtung von Fäden, die von Punkt zu Punkt gespannt werden, auf die Bildfläche übertragen (wie es durch das bekannte Experiment von Dürer 12 | Machiavelli, Niccolo: La Mandragola. Übersetzt von Paul Heyse, in: Drei italienische Lustspiele aus der Zeit der Renaissance, Jena: Diederichs 1912, S. 178. 13 | Haß, Ulrike: »Die Komödie als Bühnenform«, in: dies.: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Fink 2005, S. 245-255.
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demonstriert wird). Die Konstruktion der »Mandragola« lässt die Engführung zwischen dem blinden Mechanismus der Perspektive und dem Begehren zu, das der in sich unbestimmten Sehnsucht zu sehen gleicht. Die Zeit der Eroberung ist mit der Zeit des Dramas identisch. Lukretia bietet ein denkbar schwieriges Ziel. Ihre frommen Lebensgewohnheiten bedeuten, dass sie im Innern eines Hauses sitzt, das sie nur zum Kirchgang verlässt. In der Intrige, die angezettelt wird, spielt ein Arzt eine Rolle, der von Callimaco selbst vorgetäuscht wird. Er bespricht sich mit dem Ehemann bezüglich einer Kur, die der unerwünschten Kinderlosigkeit von Lukretia abhelfen soll. Für seine Diagnose verlangt der Arzt vom Ehemann eine Urinprobe Lukretias, die bei ihrer Beratung auf offener Szene aus der Hand des Ehemannes in die des vermeintlichen Arztes und zukünftigen Liebhabers wandert. Krasser kann die Eroberung eines Bildes, die in diesem Fall komödiengerecht von der Rückseite des Bildes her unternommen wird, kaum dargestellt werden. Abgesehen von einer Nebenszene, die sie im Gespräch mit dem Popen zeigt, ist Lukretia nur zum Schluss, nach der erfolgreichen Eroberung ›aus medizinischen Gründen‹ im Haus des Ehemanns mit allen anderen Beteiligten szenisch vorhanden. Die Frau ist Bild und Anblick. Ausgeschlossen ist die Realität eines Körpers, worauf die Szene mit der Urinprobe eindringlich hinweist. Körper können nur unkörperlich in ihr Bild eingehen. Callimacos Blick veranlasst die Komödienkette der Eroberung. Er entzündet sich am imaginär beschworenen Bild Lukretias und konkretisiert sich durch ihren Anblick. Lukretia, im Fokus des Blicks, bildet den Fluchtpunkt einer Intrige, die mit den Mitteln der Augentäuschung arbeitet. Der aktive Besitz des Blicks (männlich) und das passive Erleiden des Blicks als Anblick (weiblich) stellen die beiden entscheidenden Komponenten der neuzeitlichen Konstruktion im Bereich des Sichtbaren dar: Es handelt sich um ein System des Blicks, in das die Register der Narration, der Aktivität und Passivität, des Subjekts und des Objekts, eingelagert werden. Callimaco ist identisch mit dem Blick, von dem aus sich die Konstruktion der Komödie im Ganzen begründet.14 Lukretia, in der dieser Blick verankert ist, betritt die Szene der beobachteten und beobachtenden Gesellschaft als Anblick ohne Rückseite, nahezu sprachlos. Das Trauerspiel der Bürger gründet in denselben neuzeitlichen Einrichtungen und entwickelt sie weiter, indem es den Akzent auf das Schauspiel legt. Es ist daran zu erinnern, dass »Emilia Galotti« mit einem Prolog anhebt, in dem es um die Bilder zweier Frauen geht, die der Hofmaler angefertigt hat. Das Bild Emilias entzündet die Sehnsucht des Prinzen, das Original zu besitzen: 14 | Von daher sind auch die langen Monologe (VI,1; VI,4) möglich, in denen Callimaco von sich selbst wie von einem Dritten spricht und den Schrecken jener Außenseite des Realen, von der die Komödie nicht handelt, während sie doch in ihr fußt, in die Formel fasst: »Ich nehme jede Stunde zehn Pfund ab« (IV,4).
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Er arrangiert jene Begegnung in der Kirche, die im szenischen Off stattfindet. Der Weg, den Emilia zwischen dieser ersten und der zweiten, abschließenden Begegnung mit ihrem Vater zurücklegt, ist – von der Bühne aus definiert – die Zeit der Darstellung und ihres körpersprachlichen Ausdrucks. Zwischen diesen beiden Begegnungen entfaltet sich die dramatische Fabel entlang der Frage nach dem Körper von Emilia: Hat dieser Körper eine Berührung zugelassen oder nicht? Emilia selbst weiß es nicht. Sie ist gespalten zwischen der Szene der Depersonalisation und dem Versuch, eine sozial identifizierbare Identität wiederzuerlangen. Bezeichnen wir den Körper jener eröffnenden Szene, die wir weder hören noch sehen, als ›durchgestrichenen Körper‹ (Leibraum) und den Körper in der abschließenden Szene als den sozial identifizierbaren, sichtbaren Körper, dann thematisiert Emilia auch ein rudimentäres, sozusagen auf das Nötigste reduziertes Modell des modernen Schauspielers. Dieses Modell hebt mit dem ›frei im Raum beweglichen Schauspieler‹ (Diderot) an,15 der sich als leibhaftiges Wesen in ein szenisches Dispositiv einträgt, das als Bild (Tableau) definiert wird. Fortan hadert eine Körperlichkeit, die den Leibraum und sein Unbewusstes einschließt, mit der bedingungslosen Sichtbarkeit der Bühne, die auf Identität und Ausdruck drängt. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Pole geht in das Gründungsparadox des modernen Schauspielers ein, das er in seiner Darstellung ausbalancieren muss, unlösbar schwankend zwischen äußerlichen, der Sichtbarkeit geschuldeten Lösungen oder anderen, von den Körperempfindungen getragenen Passagen. Das ›zu hoch‹ oder ›zu niedrig‹ einer »imaginierten Weiblichkeit« (Bovenschen), die Überhöhung der Frau und ihre Idealisierung im Bild sowie ihre Schmähung und Verteufelung als körperliches, hurendes, sinnliches Wesen wird im Anschluss an dieses Paradox des modernen Schauspielers auf andere Weise lesbar: Als Konsequenz nicht nur einer sozialpolitischen Imaginationskraft, sondern als Konsequenz einer medialen Verwertung der Frau, die sie im Zentrum der neuen Bildmaschinerien als Bild und Anblick installiert.
S CHLUSS ›Die Frau‹ stellt in den beiden erläuterten paradigmatischen Beispielen viel mehr als nur einen szenischen Anlass dar. Sie wird, sobald sie im Umbruch der Neuzeit als Geschlechtswesen thematisiert wird, systematisch verwendet für die Entwicklung eines modernen, erstmals audio-visuellen Formenvokabulars des Theaters. Voraussetzung ist ihre Reduktion auf ein Bild, das zum Teil eines 15 | Diderot, Denis/Lessing, Gotthold Ephraim: Das Theater der Herrn Diderot, Stuttgart: Reclam 1986. Zahlreiche Stellen zum Stellenwert der Pantomime, z.B.: S. 123, S. 145, S. 167ff.; zur Szene als Bild (Tableau) vgl. z.B.: S. 96, S. 122-125.
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Blicksystems wird (Komödie) oder ihre Reduktion auf ein Bild, das in die darstellerisch produktive Auseinandersetzung mit dem ausgeschlossenen Körper tritt – dem eigentlichen Dialog des Guckkastens, für den der verbale Dialog nur den Dienst einer Blicklenkung versieht (bürgerliches Trauerspiel).16 Für beide Theaterformen, die ich hier exemplarisch skizziert habe, trifft zu, dass sie selbst wie Maschinen arbeiten. Im Wort Mechanismus für die Komödienstruktur klingt die Mechanik einer Maschine an, die mit Zug, Gegenzug, Widerlager, Tempo, Zerrungen und Bremsen arbeitet. Für den Guckkasten wirkt die Voraussetzung als Motor, dass alles, was in ihm auftritt, zur Bildwirkung gezwungen wird: Alle Worte dienen als Blicklenkungsmanöver dem Bild und alle visuellen Bilder der Körper, die das Wort konterkarieren, dienen ebenfalls dem Bild. Es gibt gleichsam einen Audiofilm und einen visuellen Film, die beide im Tableau der Bühne des Guckkastens ihren Rahmen haben und ihm dienen. Diese dreistellige Struktur des Guckkastens bildet den modernen Ausgangspunkt für alle auf den Guckkasten folgenden Medien der Bebilderung (wie sie für die Wahrheitsproduktion der späteren Wissenschaften zentral werden): Foto, Film, Fernsehen, Video. Bildmedien spielen am Ort des durchgestrichenen Körpers. Aus diesem Grund gibt es in ihnen keine Körper, sondern Körperbilder, die mit den technischen Bildern ihre vollständige Autonomie erhalten. Im Einzelnen ließe sich zeigen, dass alle technischen Weiterentwicklungen in ihrer Keimzelle von einer Geschichte des Ausschlusses der Frauen bezüglich der apparativen Autorschaft begleitet wurden, während Bild und Anblick der Frau im Zentrum des neuen Bildmediums für dessen Attraktivität und Verbreitung einstehen. Voraussetzung für diesen mediengeschichtlichen Verschleiß ›der Frau‹ ist die Reduktion der Geschlechter auf ihr jeweiliges soziales Geschlecht, das auf der Grundlage der erreichten visuellen Erschlossenheit der Kultur im Bild verankert und festgeschrieben wird: weiblich oder männlich.17 Diese Reduktion 16 | Die Individualisierung des Geschlechts und seine Sexualisierung lassen zunächst an eine radikale Reduktion auf Körperlichkeit denken. Wird diese Tendenz als Einschluss von Körperlichkeit akzentuiert, so wird deutlich, dass sie von einem Ausschluss begleitet ist: Ausgeschlossen wird der bedürftige, kreatürliche, kranke und sterbliche Körper. Im Fall von Emilia der das Begehren empfindende, sinnliche Körper. An der Grenze zwischen eingeschlossenem und ausgeschlossenem Körper steht das Bild. 17 | Der Binarismus selbst ist Folge und Ausdruck davon, dass er sich einer optischen Wahl bzw. einer optischen Konstellation verdankt. Die Frage, warum ›die Frau‹, sobald sie auftritt, als Anblick definiert wird, kann somit einer ersten Antwort zugeführt werden: Ihr Auftritt erfolgt im Rahmen optischer Erschließung der Welt. Es handelt sich um einen Erstauftritt, denn vorher gab es für sie keine Bühne. Sie tritt in die »Welt als Bild« (Heidegger) und wird sogleich zu deren Signum bzw. zu jenem blinden Fleck, anhand dessen sich die »Welt als Bild« als solche selbst nicht in den Blick zu nehmen und nicht
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möchte ich nicht nur mit einer vagen Evolutionsthese, dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes oder der Entstehung des Zwei-Geschlechter-Modells erklären wollen. Stattdessen ist vielmehr die Verschmelzung genealogischer Positionen mit denen des individualisierten Geschlechts in das Zentrum zu rücken – ein Vorgang, an dem die gesamte Neuzeit nachhaltig arbeitet und der mit dem Auftritt des Paares Vater und Tochter um 1772 epochal markiert wird. Mediengeschichtlich hat diese Verschmelzung Auswirkungen auf das Wort, das einmal ›im Namen von‹ gesprochen wurde: Es gerät zum Supplement der Bilder, die in der Sichtbarkeit der Körper auf der Bühne ankern. Im Guckkasten entsteht die Verschränkung von ›Audio‹ und ›Visio‹ in einer komplexen geschlechtlichen Konnotation, die von da an die Formen der Kommunikation durchzieht und die mediale Verfasstheit des Wissens selbst hervorbringt und begleitet. Heute geht es im Theater darum, die Worte aus ihrer audiovisuellen Verschränkung zu lösen, das Sprechen neuerlich als selbständige Handlung zu behaupten und die Bilder aus ihrem Gefängnis zwischen Zwei- und Dreidimensionalität zu lösen – vor allem durch Körper im Zustand des Tanzes, jener Bewegung, die vom Bild ausgeschlossen und negiert wird. Parallel dazu – jedoch nicht zufällig oder additiv, sondern weil diese beiden Entwicklungen ineinander fußen – ist die Reduktion der Geschlechter auf ihr jeweiliges Geschlecht zu erweitern und zu entlasten durch das Gewahrwerden der genealogischen Positionen: Die Kategorie ›Geschlecht‹ ist aus ihrem singulären Zuschnitt zu lösen. Als singuläre Signatur führt sie lediglich in den paradoxen Zirkel bipolarer Konstellationen, dessen durch und durch imaginäre Grundlage nicht zuletzt durch die Arbeiten Judith Butlers deutlich geworden ist. Demgegenüber wäre diese Kategorie erneut mit dem kollektiven, pluralen Terminus des ›Geschlechts‹ in Beziehung zu setzen, der die Frage der Generationen und ihrer prekären Ablösung mit einschließt. In einem berühmten Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet«, Dimiter Gotscheff, schreibt Heiner Müller 1983: »Die Spirale der Geschichte ruiniert die Zentren, indem sie sich durch die Randzonen mahlt.« Wir sind heute in diesen Randzonen, mit der Frage nach den Generationen ebenso wie mit der nach dem Wissen oder dem Theater. Ohne die Möglichkeit oder den Wunsch nach einem Weg zurück. Aber auch ohne die Bereitschaft, dem Versuch der Moderne nachzugeben, »den Gang der Spirale in eine Kreisbahn abzubiegen«18.
zu begreifen vermag. Erst im 20. Jahrhundert werden die visuellen Grundlagen der Kultur nach und nach zum Gegenstand des Wissens. 18 | Müller, Heiner: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet«, in: ders., Herzstück. Texte 7, Berlin: Rotbuch 1983, S. 110.
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Weißsein und die Auffaltung des Immunen Zur notwendigen Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung Isabell Lorey
Durch die Problematisierung von Herrschaftsverhältnissen können diese sichtbar gemacht und neue gesellschaftliche Perspektiven erfunden und erprobt werden, um solche, oft selbstverständlich gewordenen Verhältnisse zu verändern. Das Problematisieren von Herrschaftsverhältnissen ist allerdings nicht davor gefeit, diese zu wiederholen und zu reproduzieren. Erfindung und Veränderung können unbeabsichtigt in ein und demselben diskursiven Gefüge Stabilisierung und undifferenzierte Reproduktion hervorrufen. Die Problematisierung kann zurückfallen auf Kategorisierungen und Denkschemata, die eigentlich gerade durch sie kritisch analysiert werden sollten. In einer solchen Dynamik von Innovation und Reproduktion befindet sich die seit kurzem auch im deutschsprachigen Raum sich entwickelnde Kritische Weißseinsforschung.1 Seit mehreren Jahren gibt es diese herrschaftskritische Perspektivierung auch hierzulande, zwar nicht an den Universitäten institutionalisiert, aber als vielfältigen Diskurs. Die Forschungsperspektive gilt der »Macht und Dauerhaftigkeit eines strukturellen Rassismus«, einer Perspektive, die den kritischen Blick umkehren will: weg von den permanenten rassistischen Konstruktionen des ›Anderen‹, hin zur Konstruktion des »weißen, rassifizierenden Subjekts« selbst. Es soll eine »politisch selbstkritische[n] Rassismusreflexion der eigenen Position« sein, wie die Herausgeberinnen des erstmals 2006 erschienenen Sammelbandes »Weiß – Weißsein – Whiteness« schrei1 | Zu einer Geschichte der Critical Whiteness Studies, die in den USA seit Beginn der 1990er Jahre eine zunehmende Auseinandersetzung erfahren haben, siehe Hacker, Hanna: »Nicht Weiß Weiß Nicht. Übergänge zwischen Critical Whiteness Studies und feministischer Theorie«, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 16/2 (2005), S. 13-27.
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ben.2 Ebenso müssen die gelebten Erfahrungen von Schwarzen unter weißer Vorherrschaft berücksichtigt werden und die frühen Kritiken schwarzer Autor/innen. Das unterstreichen die Herausgeberinnen des bereits 2005 erschienen Bandes »Mythen, Masken und Subjekte« und betonen, dass der »Selbstmarkierung des Markierers[,] der marginalisierte Blick der Markierten« vorausgeht.3 Stellt sich der Diskurs um Kritische Weißseinsforschung heute auch ausdifferenziert dar, so sind sich die unterschiedlichen Positionen dennoch darüber einig, dass ›Weißsein‹ weitgehend unmarkiert bleibt: benannt und sichtbar wird immer das als ›anders‹ Konstruierte. Um dem offensiv entgegen zu treten, werden Selbstkritik und Selbstpositionierung der vermeintlich Normalen (weil nicht als ›anders‹ markierten und so in gewisser Weise unsichtbaren Weißen) gefordert. Ist diese Unsichtbarkeit nun aber Norm oder Normalität? Was soll hier benannt, was dekonstruiert werden: Norm oder Normalisierung? Welche Rolle spielt die Fokussierung auf das weiße Subjekt, das seine eigene Position erkennen und benennen soll? Auffallend häufig wird ein Subjekt vorausgesetzt, das sich »demaskieren«4 soll, sich selbst positionieren (bei jedem Schreiben zum Beispiel), das aber auch »Schuldgefühle«5 und vor allem »weiße Privilegien« thematisieren und bestenfalls ablegen soll. Dies rekurriert auf die Idee eines autonomen und freien Subjekts im Rahmen der Epistemologie der Aufklärung, das sich samt Welt durch Reflexion und Erkenntnis (um-)gestalten kann. Die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse werden im Rahmen Kritischer Weißseinsforschung allerdings oft nicht in einer Weise problematisiert, dass sie durchbrochen und verändert werden können. Eher wird – ohne dies in Betracht zu ziehen – das weiße Herrschaftssubjekt reproduziert und erneut in2 | Weiter geht es in dem Band auch darum, »diese rassistischen Herrschafts- und Machtverhältnisse zu destabilisieren und gar abzuschaffen« (»Vorwort«, in: Martina Tißberger/Gabriele Dietze/Daniela Hrzán et al. (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Berlin et al.: Peter Lang 2006 (2. Aufl. 2009), S. 7-12, hier S. 7). 3 | Peggy Piesche: »Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die kritische Weißseinsforschung?«, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 14-17, hier S. 16. 4 | Arndt, Susan: »Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands«, in: M. Eggers et al. (Hg.), Mythen, S. 24-29, hier S. 28. 5 | »Vorwort«, in: M. Tißberger et al. (Hg.), Weiß, S. 9. Siehe auch Aveling, Nado: »More Than Just Skin Color: Reading Whiteness Across Different Locations«, in: M. Tißberger et al. (Hg.), Weiß, S. 31-42; Kimmel, Michael S.: »Toward a Pedagogy of the Oppressor«, in: Michael S. Kimmel/Abby L. Ferber (Hg.), Privilege. A Reader, Boulder/Colorado/Oxford: Westview 2003, S. 1-10, hier S. 9: »Guilt can politicize us.«
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thronisiert. Reflexion und Erkenntniskritik werden zu einer Strategie weißer Selbst-Immunisierung. Ausgehend von der Thematisierung eines moralischen Imperativs weißer Selbstpositionierung möchte ich im Folgenden zeigen, welche Verbindungen zwischen Weißsein und Immunisierung auszumachen sind, um mithilfe zweier Figuren des Immunen auf politische wie analytische Engführungen und begriffliche Unklarheiten im Diskurs der Kritischen Weißseinsforschung hinzuweisen. Anhand zweier Figuren des Immunen soll offensichtlich werden, weshalb eine Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung notwendig erscheint. Eine solche Differenzierung ist keineswegs nur im Rahmen der Kritischen Weißseinsforschung erforderlich, sondern ein darüber hinausgehendes Instrumentarium, um die unreflektierte Wiederholung spezifischer Herrschaftsverhältnisse vermeiden zu können. Die erste, die normative Figur des Immunen bezeichne ich als juridische Immunität; sie dreht sich um das Privileg als Ausnahme. Die für diese Figur charakteristische Bewegung ist die der Her-Ausnahme. Die zweite Figur, eng verknüpft mit dem Paradigma der Normalisierung, bezeichne ich als biopolitische Immunisierung. Sie dreht sich um die Ambivalenz des phármakon als Gift und Arznei. Die prägnante Bewegung dieser Figur des Immunen ist die der Hereinnahme.6
W EISSE P RIVILEGIEN Peggy McIntosh hat mit ihrem 1988 erschienenen Arbeitspapier »White Privilege and Male Privilege«7 die Diskussion um Privilegien angestoßen. Die gekürzte Fassung von 1990 wurde zum einschlägigen Text, dessen Titel nicht selten als 6 | Der Vortrag »Weißsein und Immunisierung«, den ich im Mai 2007 im Rahmen des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe und auf dem dieser Text basiert, war ein erster Schritt dahin, diese beiden Figuren des Immunen am Beispiel des Diskurses um Weißsein zu entwerfen. Zur weiteren Ausarbeitung und theoretischen Systematisierung der hier genannten herrschaftssichernden Figuren sowie einer widerständigen Immunisierungsfigur siehe Lorey, Isabell: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich/Berlin: diaphanes 2011; siehe auch Lorey, Isabell: »Die Immunität Jesu. ›Lépra‹ und Lepra von der Bibel bis ins Mittelalter«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 187-199. 7 | McIntosh, Peggy: »White Privilege and Male Privilege: A Personal Account of Coming To See Correspondences through Work in Women’s Studies«, Working Paper 189, Wellesley College Center for Research on Women’s Studies 1988. Wieder abgedruckt in: M. Kimmel, A. Ferber (Hg.), Privilege, S. 147-160.
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Metapher im Umgang mit weißen Privilegien verwendet wird: »White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack«8. Weiße Personen sollen erkennen, welche und wie viele Privilegien sie als Weiße haben: einen vollen, aber gewichtslosen Rucksack, den sie mit sich herumtragen, unbemerkt, unwissend und unsichtbar. Weiße lernten, so McIntosh, über ihr Leben als ein moralisch neutrales nachzudenken, als ein normatives und durchschnittliches. Wenn wir uns dafür engagierten, dass es anderen besser gehen soll, führe dies letztlich allein dazu, »ihnen« zu erlauben, wie »wir« zu sein. Dieses »wir« versteht McIntosh als Maßstab, als Norm, der sich die »Anderen« anzugleichen haben.9 Das Ziel von McIntoshs Intervention ist es, sich der eigenen weißen Privilegien nicht nur bewusst zu werden, sondern sie aktiv zu verringern und letztlich aufzugeben: »having described it, what will I do to lessen or end it?«10 Obwohl ein solch einfaches voluntaristisches Aufgeben oder Ablegen weißer Privilegien wiederholt kritisiert worden ist11, stehen McIntoshs Überlegungen noch immer für eine gewisse Tendenz in den US-amerikanischen und deutschsprachigen Kritischen Weißseinsforschungen. Zudem laufen Entgegnungen auf solche weißen Befreiungsphantasien und missverstandenen Möglichkeiten einer dekonstruktiven Analyse Gefahr, wieder in einen rassifizierenden Biologismus zu verfallen. Diese Gefahr besteht dann, wenn von einer historischen und politischen Unauflösbarkeit des Binarismus zwischen Schwarz und Weiß ausgegangen wird.12 8 | Vgl. McIntosh, Peggy: »White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack«, www. case.edu/president/aaction/UnpackingTheKnapsack.pdf (12.02.2009). 9 | Bei McIntosh geht hier genau das durcheinander, was ich im Folgenden differenzieren möchte: Das Normative betrifft die Norm, der Durchschnitt das Normale. Der Maßstab wiederum gehört zu beiden Bereichen. 10 | P. McIntosh: White Privilege. Unpacking. 11 | Vgl. McWhorter, Ladelle: »Where Do White People Come from? A Foucaultian Critique of Whiteness Studies«, in: Philosophy & Social Criticism 31/5-6 (2005), S. 533556. 12 | Das Argument, das Susan Arndt unter anderem solchen Befreiungsphantasien in kritischer Absicht entgegenhält, ist, dass es kein Schwarzwerden von Weißen geben kann, lediglich ein Weniger-weiß-werden, je nach sozialer und ökonomischer Positionierung. Denn das »biologisch geerbte Weißsein« könne historisch nicht verloren gehen (Arndt, Susan: »Mythen des weißen Subjekts: Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus«, in: M. Eggers et al. (Hg.), Mythen, S. 340-362, hier S. 350ff., Hervorhebung im Original). Ein solches Argument ist äußerst problematisch, weil es biologistische Rassekonstruktionen hervorrufen kann. Ein schwarz-weiß Binarismus wird nicht als soziale Konstruktion betrachtet, sondern beständig naturalisierend reproduziert. Auch Eske Wollrad geht davon aus, dass Rassismus an die »Einschreibung unaufhebbarer Differenzen in Körper« gebunden ist (Wollrad, Eske: Weißsein im Widerspruch.
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Ich gehe dagegen davon aus, dass Weißsein eine herrschaftsförmige Subjektivierungsweise darstellt, die – obwohl sedimentiert und materialisiert – weiterhin umkämpft ist und gerade deshalb beständig neu hergestellt werden muss. Darüber hinaus impliziert Weißsein strukturelle Gewalt, deren historisch spezifische Herrschaftsfunktion sich wie jene der Subjektivierungspraxen verändert: ihre Funktion im Kontext von Souveränität ist beispielsweise nicht identisch mit der im Kontext von biopolitischer Gouvernementalität. Eine solche Funktionsunterscheidung ist allerdings mit dem in den Debatten der Kritischen Weißseinsforschung angebotenen Begriffsinstrumentarium nicht möglich. Als einen zentralen Grund dafür betrachte ich die synonyme Verwendung der Begriffe ›Norm‹ und ›Normalisierung‹. Inhaltlich liegt das Gewicht allein auf der ›Norm‹13, was, so meine Vermutung, der Betonung einer bestimmten Idee von Handlungsfähigkeit des weißen Subjekts geschuldet ist. Nicht zufällig sind in der Debatte um Weißsein viele pädagogische Konzepte und Überlegungen zu finden wie etwa der Privilegientest.14 Eine solche ausschließlich an Gesetz oder Norm ausgerichtete Orientierung verbleibt in einem juridischen Paradigma. Das Spannungsverhältnis besteht zwischen dem einzelnen Subjekt und dem Gesetz/der Norm. Der Begriff der ›Normalisierung‹ muss davon allerdings unterschieden werden. Hier stehen nicht primär die einzelnen Subjekte im Mittelpunkt, geht es doch um Subjektivierungsweisen, um die Vielen, um Durchschnitte und Abweichungen. Zunächst jedoch zum Paradigma der Norm, der damit verbundenen Figur der juridischen Immunität und der sie konstituierenden Ausnahme.
J URIDISCHE I MMUNITÄT – D IE A USNAHME Das Wort ›Privileg‹ hatte ursprünglich einen engen juridischen Sinn, also im Kontext des Rechts und der Normen. In welcher Weise diese Konnotation des Privilegs mit jener von Immunität verknüpft ist, wird aus den jeweiligen lateiFeministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Frankfurt a.M.: Helmer 2005, S. 119). Dazu kritisch Dietze, Gabriele: »Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion«, in: M. Tißberger et al. (Hg.), Weiß, S. 219-248, hier S. 230. 13 | Zur Fixierung der Critical Whiteness Studies auf Normen siehe auch L. McWhorter: Where Do White People Come From? 14 | Die ersten Privilegientests im deutschsprachigen Raum wurden an der HumboldtUniversität zu Berlin, am Juristischen Lehrstuhl von Susanne Baer zusammen mit Daniela Hrzán entwickelt, vgl. http://baer.rewi.hu-berlin.de/wissen/genderundrecht/privilegientest/ (12.02.2009). Dieser Test ist angelehnt an die 45 Punkte, die McIntosh in ihrem Text »White Privilege and Male Privilege« (vgl. S. 150-153) entwickelt.
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nischen Etymologien ersichtlich. Das Wort ›Privileg‹ setzt sich aus zwei Teilen zusammen: aus privus, was lateinisch so viel wie ›für sich bestehend‹, ›einzeln‹, auch ›eigen‹ oder ›besonders‹ heißt. Der zweite Teil ›-leg‹ geht zurück auf das lateinische lex für Gesetz oder Verordnung. Das Privileg ist demnach ein besonderes Recht, ein ›Vorrecht‹, letztlich ein ›Ausnahmerecht‹.15 Doch mehr noch – darauf verweist die etymologische Verwandtschaft von privus mit privatus: Von einem eigen-tümlichen Recht, einem ius singularis ist hier die Rede, von einem, das vom allgemeinen, für alle anderen geltenden Recht gesondert ist, denn historisch bedeutet das Privileg das Vorrecht einer einzelnen Person. Die Ausnahme dieses Rechts besteht darin, dass die privilegierte Person zumeist von etwas befreit ist, zum Beispiel davon, Abgaben zu leisten, bestimmte Steuern zu zahlen. Wer ein Privileg genießt, ist dem alten lateinischen Gebrauch des Wortes zufolge von einer Verpflichtung befreit. Und diese Definition, ›von einer Verpflichtung oder einer Abgabe befreit zu sein‹, ist auch diejenige von immun. ›Privileg‹ und ›Immunität‹ überschneiden sich somit in ihren Bedeutungen an einem für die hier geführte Argumentation gewichtigen Punkt. Wie ›Privileg‹ hat ebenfalls das Wort ›Immunität‹, zurückgehend auf das lateinische immunitas, die Bedeutung von ›befreit‹. In der antiken res publica meinte immunitas die Befreiung von Steuern (was in unterschiedlicher Weise freie römische Frauen und Männer betraf) oder einem Amt (das ausschließlich die männlichen Bürger verpflichtet waren zu übernehmen).16 Immunität drückte folglich ein Entheben und Entlasten von Leistungen für und Abgaben an die res publica aus. Für all das, was erlassen werden konnte, von dem befreit wurde, steht im Lateinischen nur ein einziges Wort: munus.17 Die Zusammensetzung immunitas in der Bedeutung eines befreienden Erlasses 15 | Eintrag »Privileg«, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold. 24. durchges.u. erw. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 721; Eintrag »Privileg«, in: Wolfgang Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen H-P, Berlin: Akademie 1989, S. 1320-1321, hier S. 1321. 16 | Zugewiesener Status und Leistungsfähigkeit als römische/r Bürger/-in bildeten in der römischen Republik die Grundlage für die unterschiedlichen Regelungen zur Befreiung von Abgaben. Für römische Männer konnte dies eine Würdigung ihrer Verdienste darstellen, für die römischen Frauen einerseits eine Steuerentlastung andererseits als Ämterbefreiung den grundlegenden Ausschluss von diesen Diensten. Dieser Aspekt des Ausschlusses steht im Weiteren allerdings nicht im Vordergrund, sondern die eher männlich konnotierte Bedeutungslinie von immunitas, aus der sich die Ausnahme ableitet. Zu weiteren Kriterien der Abgabenbefreiung siehe Gizewski, Christian: »Immunitas«, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider, 5. Bd., Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, Sp. 951-952. 17 | Vgl. Corbier, Mireille: »Munus, Munera«, aus dem Französischen von S. Externbrink, in: Der neue Pauly, 8. Bd. (2000), Sp. 483-486.
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von Lasten, repräsentiert im Wort selbst diese Ent-Lastung als Negation. Denn die Vorsilbe in-, bei immunis wird sie zum im-, impliziert im Lateinischen die Negation von munus, von Pflichten oder Leistungen: im-munia bedeutet ›ohne Pflichten‹.18 Wer immun ist, muss oder darf diese Pflichten, diese Abgaben nicht leisten. Werden jemandem Leistungen erlassen, dann ist die Person nicht nur ohne Pflichten, ohne Amt, mithin in der Negation des munus, sondern sie ist in einer weitergehenden Bedeutung auch niemandem etwas schuldig. Von einem sozialen Verhältnis ist die Rede: Wer immun ist, dem wurde etwas entfernt, die Pflicht des munus. Gleichzeitig wurde diese Person dadurch selbst aus etwas herausgenommen, aber nicht in ein Außen, sondern in die Position der Ausnahme. Ihre Ausnahme ist, dass sie ohne Last oder Schuld, ohne Schulden gegenüber den anderen ist. Diese Bedeutung von ›ohne Schulden zu sein‹ wird verstärkt durch die enge Verbindung von immunitas mit excusatio, der Exkusation, der Entschuldung.19 Folgt man dieser Linie der Negation, steht die immune Person bei niemandem in der Schuld, das heißt auch, sie hat sich nichts zu Schulden kommen lassen – etwas, das sich zunächst positiv verstehen lässt, verfügt ›immun‹ doch auch über eine Bedeutungslinie zu »unberührt«, im Sinne von »ohne Schuld« und »rein«.20 Deshalb aber den Fokus auf immune Schuldlosigkeit, gar Reinheit zu lenken, verdeckt das grundlegende soziale Verhältnis, um das es hier geht. Immunität beschreibt in dieser Bedeutungslinie eine Her-Ausnahme, die nicht ohne die Regel, ohne die für alle anderen geltenden Regelungen und Gesetze zu verstehen ist. Roberto Esposito betont, dass genau dieses Verhältnis von Ausnahme und Regel, von Entschuldung und Abgabeschuld, von an das einzelne Subjekt gebundenem Sonderrecht und allgemeinem Recht, den zutiefst »antisoziale[n] und antigemeinschaftliche[n] Charakter« des immunitären Privilegs deutlich macht.21 Denn die exponierte, privilegierte Position existiert nicht ohne die anderen, sondern auf deren Kosten. Das soziale Verhältnis zwischen Ausnahme und Regel, zwischen Immunität und Allgemeinem entspricht demnach einem parasitären Verhältnis der Ungleichheit. Das Rechtssubjekt, dem das Privileg der Immunität zugesprochen wird, ist von der verhältnismäßigen Gleichheit der Nicht-Privilegierten separiert. Die Her-Ausnahme stellt 18 | Vgl. Eintrag »immun«, in: W. Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch, S. 730. 19 | Vgl. Ziegler, Konrat: »Immunitas«, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. v. Georg Wissowa, 17. Halbbd., Stuttgart et al.: Metzler 1914, Sp. 1134-1136, hier Sp. 1134; Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, aus dem Italienischen von Sabine Schulz, Berlin: diaphanes 2004, S. 12. 20 | Vgl. Eintrag »immun«, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch, S. 435. 21 | R. Esposito: Immunitas, S. 13.
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einen Akt der Ungleichheit dar, für den es nicht nur eine Rechtsperson braucht, der das Privileg als persönliches, als eigenes Recht zugesprochen werden kann. Die Her-Ausnahme impliziert auch einen Souverän, der das Privileg erlässt. Das Privileg ist nicht zu trennen von einem juridischen Paradigma. Was es mit der juridischen Norm gemein hat, deren Ausnahme und Entbindung es bezeichnet, ist die Bindung an das (individuelle wie kollektive) Subjekt als Rechtsperson. Immunität wird hier als Status verstanden.22 Wird aber historisch das Privileg von einem Souverän zugesprochen, scheint es sich im Privilegiendiskurs der Critical Whiteness Studies unmittelbar an ein souveränes Subjekt zu knüpfen. Es ist das Rechtssubjekt, das mit der Aufklärung entsteht und als eines gedacht wird, das mit einem Willen ausgestattet ist, intentional handelt und darüber hinaus Eigenschaften und Identität besitzt. Privilegien aufzugeben, sie abzustoßen, hieße in der Weiterführung der lateinischen Konnotationen dann die Selbstbefreiung, die Selbstimmunisierung von der Schuld der Ent-Schuldung. Eine solche umgekehrte Strategie der Herausnahme als Ent-Lastung von der Last des Privilegs stellte eine Art selbst gewährtes Rein-Waschen dar, das die soziale und rechtliche Relationalität des Privilegs ignoriert. Nicht umsonst wird die Frage der Schuld in Diskussionen um Weißsein immer wieder gestellt. Wer die Position der Schuld ausmachen kann, kann entlastende Strategien ausmachen und sich selbst immunisieren. Die Vorstellung eines solchen souveränen Subjekts, das seinem Willen oder auch seinem richtigen Bewusstsein gemäß die Welt umgestaltet, darum Privilegien erkennen und am Ende sogar ablegen kann, reproduziert einen der zentralen Stützpfeiler von herrschaftssichernden Überlegenheits- und Weißseinskonstruktionen. Das Privileg ist nicht die Norm. Es befindet sich als Ausnahme der Norm keineswegs in der Position des Unmarkierten. Will man Weißsein als (vermeintlich) unsichtbare Normalität betrachten, scheint es nicht sinnvoll, die Analyse von Weißsein allein an ein normatives Denken zu binden. Denn Normalisierungsmechanismen entstehen gerade nicht innerhalb des juridischen Paradigmas der Norm. Sie lassen sich eher im Kontext eines biopolitischen Paradigmas als Strategie der Immunisierung beschreiben. Doch zunächst noch eine weitere Begriffsklärung.
N ORMATIVITÄT, N ORMATION UND N ORMALISIERUNG Foucault hat bis Ende der 1970er Jahre – obwohl er seine Analytik der Macht in Abgrenzung zu juridischen Parametern entwickelt hat – durch eine diffuse und 22 | Die Figur der juridischen Her-Ausnahme kennzeichnet bis heute den Status der parlamentarischen wie der diplomatischen Immunität.
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changierende Verwendung der Begriffe von Norm und Normalisierung einige Verwirrung erzeugt, was bis heute zu erheblichen theoretischen Missverständnissen führt. In seiner ersten Vorlesung zur Gouvernementalität mit dem Titel »Sicherheit, Territorium, Bevölkerung« hat er 1978 in einem zentralen Punkt seine bisherigen Forschungen korrigiert und begrifflich systematisiert.23 Er spricht jetzt von zwei juridischen Machtformen: Normativität und Normation. Das Charakteristische einer solch juridischen Logik sind binäre Grenzziehungen. Mit Normativität bezeichnet Foucault ein Gesetzesdenken, das sich auf ein System von Normen bezieht und in erster Linie in Erlaubtes und Verbotenes differenziert. Binäre Grenzziehungen sind hier solche zwischen Souverän und Untertan, zwischen Gesetz und Rechtssubjekt. Die zweite juridische Machtform ist in Foucaults neuer Systematisierung das, was er nun mit dem Neologismus Normation bezeichnet, jene Machtform, die er selbst zuvor nicht deutlich von Normalisierung unterschieden hat. Normation wirkt im Unterschied zur Normativität produktiv und ist an einer binären Unterscheidung in ›normal‹ und ›anormal‹ orientiert. Normation kommt allerdings nicht von der Norm los und verbleibt in der Logik des Gesetzes und des Rechts. Denn in der Normation wird die Norm als Ausgangspunkt gesetzt, von dem eine binäre Spaltung in ›normal‹ und ›anormal‹ abgeleitet wird. Unter den Begriff der Normation fallen alle seit seinem Buch »Überwachen und Strafen« als »disziplinarisch« bezeichneten Formen der Macht. Von diesen beiden juridischen Machtformen unterscheidet Foucault den explizit im biopolitischen Kontext verstandenen Begriff der Normalisierung, ohne ihn – wie noch in seinen ersten Überlegungen zu Biopolitik in Der Wille zum Wissen – mit Disziplin und Norm zu verbinden.24 Unter Normalisierung versteht er kein absolut Anderes eines Normensystems, Normalisierung findet nicht jenseits von Gesetzes- oder Normencodices statt. Normalisierung geht aber auch nicht notwendig aus ihnen hervor, sondern läuft ihnen nicht selten zuwider. Normalisierungstechniken sind Prozeduren und Praktiken, die durch normative Regelungen nicht abgedeckt und gerade in ihren normalisierenden Effekten mit einer Perspektive auf Normen oft nicht erfasst werden.
23 | Vgl. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. v. Michel Sennelart, aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 88-90. 24 | Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, aus dem Französischen von Ulrich Raulff, Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, unter anderem S. 171f.
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B IOPOLITISCHE I MMUNISIERUNG – D IE H EREINNAHME Es gibt eine zweite etymologische Genealogie des Immunen: Diese sekundäre, entlegene Bedeutungslinie leitet sich nicht aus der Negation des munus ab, sondern von immunire. In diesem Verb verweist das Präfix in- nicht wie in der ersten Deutung auf eine Negation, sondern auf eine Hinein-Bewegung. munire kommt von dem alten lateinischen Begriff der munia oder moenia, den Mauern, und heißt soviel wie befestigen im Sinne von ›mit Mauern umgeben‹: Die Zusammensetzung immunire impliziert eine Bewegung des Hereinholens, und in der Bewegung der Hereinnahme zugleich eine Befestigung, einen Schutz.25 Während die juridische Immunität im Privileg eine Figur der Ausnahme konstruiert, basiert die zweite Figur des Immunen auf der Hereinnahme eines phármakon zur Sicherung und zum Schutz und wird damit zu einem wichtigen Aspekt des biopolitischen Paradigmas der Normalisierung.26 In der Bedeutungslinie des Schützens und Sicherns setzt sich im Kontext biopolitischer Steuerungsstrategien am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich auch die medizinische Bezeichnung ›immunisieren‹ durch, was meint: »gegen Krankheitserreger durch Impfen unanfällig machen«27. Die höchst ansteckende Krankheit, gegen die von 1720 an in Europa erstmals in England geimpft wurde, waren die Pocken.28 Die nicht ungefährliche Schutzstrategie gegen das Pockenvirus wurde praktiziert, lange bevor durch Robert Koch 1876 ein Wissen darüber möglich wurde, was im medizinischen Sinne als isolierter ›Erreger‹ verstanden
25 | »im-munio 4. ivi hineinbauen: praesidium T« (einen Schutz hineinbauen). Stowasser, Josef Maria: Lateinisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, umgearb. v. Michael Petschenig, Einl. u. etym. Teil v. Franz Skutsch, Wien: Hölder, Pichler, Tempsky 1930, S. 385; vgl. auch Eintrag »immunio«, in: Thesaurus Linguae Latinae, VII, Lipsiae: Teubner 1979, Sp. 503. Ich danke Gerald Raunig für diesen Hinweis. 26 | Ich beschränke mich hier auf zentrale reproduzierende Dynamiken von Herrschaft, ohne auf Transformations- oder Widerstandsmöglichkeiten einzugehen. Zudem spitze ich das Szenario biopolitischer Immunisierung nicht auf die Problematik von Weißsein zu, sondern entwickle diese Figur des Immunen in einem allgemeinen Kontext von Herrschaftssicherung, in dem Weißsein eine wichtige Funktion einnimmt. 27 | »immun«, in: W. Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch, S. 730. 28 | In Indien wurden Impfverfahren bereits in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung von Brahmanen durchgeführt, bei denen »Pockeneiter von milden Fällen durch leichte Hautschnitte auf Gesunde übertragen wurde« (Winkle, Stefan: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2005, S. 850 und S. 1419, Anm. 76).
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werden konnte, bevor ein solcher dann ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts als ›Virus‹ begriffen wurde.29 In England wurden Versuche unternommen, Menschen durch absichtliche Infektion mit Pocken (Variolation) vor just dieser Krankheit zu immunisieren.30 Das Gift der Krankheit wurde in abgeschwächter Weise in den Körper eingeführt, hereingenommen, um vor den Pocken zu schützen, das heißt vor weiteren Ansteckungen immun zu machen. Nach der künstlichen Infektion sollte die geimpfte Person von der nur schwach ausbrechenden Krankheit schnell wieder geheilt werden, statt der tödlichen Seuche ungeschützt ausgesetzt zu sein. Um potenziell gegen Pocken unverletzbar zu werden, wird also das genau dosierte Gift durch die Haut in den Körper hereingenommen: eine nicht tödliche, bereits abgeschwächte Menge des Bedrohlichen, vor dem man sich schützen will, inkorporiert, um endgültig dagegen zu immunisieren.31 Durch die Hereinnahme sollen Antikörper, soll Abwehr produziert werden, um letztlich die nun immanente Bedrohung zu neutralisieren, ungefährlich zu machen, nicht jedoch zu vernichten. Die biopolitische Steuerungsstrategie basierte hinsichtlich der Pockenepidemie nicht auf medizinischem Wissen, sondern allein auf empirischen Techniken, die sich auf Statistiken stützten, auf Datenerhebungen, Errechnen eines Durchschnitts, eines Mittelmaßes: kurz dessen, was als ›gesund‹ gelten konnte, mithin des Normalen. Heilen und sichern als biopolitisches Normalisierungskonzept hat nicht an erster Stelle die Immunisierung jedes einzelnen Individuums zum Ziel. Die historisch neue Frage war nun, mit welcher Wahrscheinlichkeit möglichst viele in der Bevölkerung immun werden konnten.32 Niemals in der Geschichte der Impfung gab es die absolute Sicherheit darüber, anschließend wirklich immun zu sein. Es blieb lange Zeit ein nicht geringes Risiko bestehen, trotz Impfung an den Pocken zu erkranken und an der künstlichen Infektion zu sterben oder sowieso auf Dauer durch Impfung (Variolation oder Vakzination) nicht immun zu sein. Die einzige Möglichkeit, 29 | Vgl. Hess, Volker: »Vom Miasma zum Virus«, in: Ragnhild Münch (Hg.), Pocken. Zwischen Alltag, Medizin und Politik, Berlin: Verlag der Wissenschafts- und Regionalgeschichte 1994, S. 16-30. Zur Erregertheorie von Louis Pasteur und Robert Koch siehe Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Hänseler, Marianne et al. (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, unter anderem S. 15-26. 30 | Als Variolation bzw. Inokulation wird die Impfung mit Menschenpocken bezeichnet, als Vakzination dagegen die weniger gefährliche Impfung mit Kuhpocken (vgl. Maehle, Andreas-Holger: »Inokulation in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung«, in: R. Münch (Hg.), Pocken, S. 42-52. 31 | Vgl. Esposito: Immunitas, S. 175f. 32 | Vgl. M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, S. 91ff.
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die Impfung im 18. und 19. Jahrhundert zu rechtfertigen, war daher nicht medizinisches Wissen, sondern allein die Statistik. Je nach Alter, Wohnort oder Beruf galt es als normal, also in einem bestimmten Maße wahrscheinlich, durch Impfung immun zu werden oder eben nicht. Der Bereich des Anormalen, der Abweichung von dem als normal Errechneten, ist dabei eng verbunden mit dem Tod. Solange dieses Sterben jedoch nicht überhandnimmt, ist es in gewissem Maße der in Kauf genommene Teil von Impfstatistiken und gleichzeitig von Normalisierungen im Allgemeinen. Das Anormale, die Abweichung von dem als normal geltenden Mittelmaß wird in einem doppelten Sinn toleriert: zum einen in der Toleranz seines physischen oder auch sozialen Todes, zum anderen in seiner Existenz, wenn es das als normal Geltende nicht bedroht oder gefährdet. In diesem doppelten Sinn hat das als anormal Konstruierte eine nicht unerhebliche Funktion für das, was als normal gilt.33 Als empirische Praxis ist demnach die Pockenimpfung nicht zu trennen von statistischen Normalisierungsmechanismen. Auch ohne die Isolierung des Pockenvirus und ohne genaues Wissen darüber, wie es aussieht und was es genau bewirkt, bewegt sich die Impfung paradigmatisch in der (medizinischen) Ambivalenz des phármakon, in dem Paradigma der Hereinnahme des Giftes als Arznei. Damit entsteht eine Figur der Immunisierung, die sich über Normalisierung legitimiert, also über eine ›Toleranz‹ des Anormalen, das heißt in letzter Konsequenz des Todes. Die Neutralisierung des nunmehr immanenten Giftes korrespondiert mit der Ausweitung des Bereichs des Normalen und mit dem Bestreben, Ansteckungsrisiken ständig zu minimieren und gleichzeitig die Immunitätschancen fortwährend zu erhöhen, aber eben nie vollständig oder für alle. Versteht man neutralisieren als ungefährlich machen, dann bedeutet das auf eine gewisse Weise auch ›heilen‹: Heilen als Wiedereingliederung in das ›gesunde Normalitätskollektiv‹. Vor dieser Integration, dieser Hereinnahme durch Heilung, ist es notwendig, durch Datenerhebung, Kategorisierungen und Differenzierungen, festzulegen, wo die Übergänge zum Anormalen verlaufen, wer dazugehört und
33 | Das Anormale ist damit nie der Gegensatz des Normalen. Vielmehr ist das Verhältnis des Normalen und des tolerierten Anormalen eines von Abstufungen. Deshalb kann die Vorstellung von Normalität auch nur »in einer statistisch transparenten Gesellschaft« entstehen und »kulturelle Legitimation gewinnen«, ohne dass sie sich mit gesellschaftlichen Normen überschneiden muss. Normalitäten sind daher »eine moderne und okzidentale Besonderheit, die sowohl hochdynamisch-industrielle wie flächendeckend verdatete Gesellschaften voraussetzt« (Link, Jürgen: »Normativität versus Normalität: Kulturelle Aspekte des guten Gewissens im Streit um die Gentechnik«, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 184-205, hier S. 188).
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wer nicht mehr, wo die »Grenzen des Akzeptablen«34 verlaufen. Das Anormale muss erst erzeugt, das heißt als extrem anders markiert werden, bevor es – wohl dosiert – durch neutralisierende Heilung wieder integriert und von neuem reguliert werden kann. Dies entspricht wiederum der bereits erwähnten Doppelfunktion des Anormalen. Die Möglichkeit, das markierte Andere überhaupt wieder einschließen zu können und dadurch das – unmarkierte – Normale auszuweiten und gleichzeitig zu stabilisieren, produziert eine bewegliche Differenzierung zwischen heilbarem und unheilbarem Anderen. Gesunde Normalität konstituiert sich folglich über eine variable Abstufungsskala von ›integrierbar‹ zu ›unheilbar‹. Im Paradigma der Normalisierung ereignet sich eine Dynamik vergleichbar einer Impfung und den damit verbundenen, normalistischen Vorstellungen von Heilung und Immunisierung. Es ist eine Bewegung der permanenten Konstruktion des Anormalen und seiner Inkorporierung in ein ›Inneres‹ herein. Die heilende, unverletzbar machende Immunisierung des Normalen ist ein ständiger, dynamischer Prozess, der nie zu einem Abschluss kommen kann. Sie ist ein unaufhörliches Versprechen auf Heilung und Unverletzbarkeit und damit konstitutiv instabil. Kritische Weißseinsforschung müsste sich, statt die Reproduktion normativer juridischer Herrschaftsparadigmen zu betreiben, viel stärker mit derartigen immunisierend-normalisierenden Subjektivierungsweisen auseinandersetzen. Vor genau diesem Hintergrund wäre die immunisierende Herrschaftsdynamik der neutralisierenden Hereinnahme zur Stärkung der Abwehr des stets umkämpften normalisierten Weißseins zu problematisieren35. Schließlich wäre es demgemäß auch nötig und möglich, kollektive Strategien der Unterschreitung und Verweigerung von rassifizierenden Herrschaftsverhältnissen zu suchen, neu zu erfinden und zu erproben.
34 | M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, S. 20. 35 | Segregation und Isolierung sind andere weiße Immunisierungsstrategien. Zu weißen Fantasien über »racial contagion« und Segregation siehe Kilomba, Grada: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster: Unrast 2008, S. 102-105.
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Endlichkeit und Wiederholung Michel Foucault als Kritiker der Anthropologie Ute Frietsch
Mit seinem Modell der epistemologischen Brüche in »Die Ordnung der Dinge« hat sich Michel Foucault als Denker eingeprägt, der für die Hinterfragung angeblicher Kontinuitäten in der Ordnung des Wissens steht. Während er in »Die Ordnung der Dinge« zwei tiefe Brüche beschreibt, welche die Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, der Aufklärung und der Moderne voneinander trennen sollen, spricht er jedoch zugleich von »unsere[r] tausendjährige[n] Handhabung des Gleichen und des Anderen«, die sich gleich geblieben sei.1 Es liegt nahe, diese tradierte Praktik als abendländische Ordnung des Christentums zu interpretieren.2 Dessen tausendjährige Ordnungen und Praktiken sollten Foucault zufolge insofern zur Disposition gestellt sein, als sie sich bereits in einer Art Rückblick benennen ließen. Foucaults Kritik der modernen Anthropologie ist vor diesem Hintergrund einer Kritik abendländischer Wissensdynamiken zu interpretieren. Foucault hat Anknüpfungspunkte in vormodernen (sowie in außereuropäischen) Wissensmodellen gesucht, um historische Möglichkeiten anderen Wissens aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang erhält die Wiederholung eine Bedeutung: Anderes Wissen aus der Geschichte zurück zu holen und zu vergegenwärtigen, ermöglicht es, Differenzen in die Reproduktionen des Wissens einzutragen, oder anders formuliert: auf historisch bewusste Weise und daher different zu wiederholen.
1 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995 [1966], S. 17. 2 | Vgl. Frietsch, Ute: »Die Ordnung der Dinge«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler 2008, S. 38-50, hier S. 41.
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Foucaults Anthropologie-Kritik wurde zunächst verkürzend als Absage an Humanismus und Aufklärung interpretiert. Erst in den letzten Jahren wird ihre Dimension, eine Kritik der Beziehungen zwischen Metawissenschaften und empirischen Wissenschaften zu sein, deutlicher exponiert, vielfach indem Autor/-innen Foucaults Positionen anzueignen und zu modifizieren beginnen.3 Wenn man Anthropologie mit Foucault als das wissenschaftliche Dispositiv der Moderne betrachtet, lässt sich die Frage stellen, inwiefern dieses Wissen bis heute reproduziert resp. inwiefern differente Positionen eingenommen werden. Im vorliegenden Text wird die These vertreten, dass es die Problematik der Endlichkeit war, die den Philosophen und insbesondere den Psychologen Foucault motivierte, sich in den 1950er und 1960er Jahren so intensiv mit den empirischen Humanwissenschaften und ihrer metawissenschaftlichen Reflexion zu befassen. Foucaults Auffassung zufolge hatte die Anthropologie den Horizont menschlicher Lebensmöglichkeiten verendlicht, indem sie menschliche Endlichkeit empirisch zu erschließen und als spezifisch zu hinterfragen begann. Foucaults Methoden der Archäologie und der Genealogie können als Versuche interpretiert werden, diese Erschließung nicht länger zu reproduzieren, sondern sie mittels einer Epistemologie zu überwinden, welche die Bedeutung von Empirie anhand ihrer historischen Genese überdenkt und modifiziert. Zu diesem Zweck arbeitete Foucault zu Beginn der 1960er Jahre mit der Methode der Wiederholung.
3 | Vgl. exemplarisch: Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750-1850, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991; Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; Vienne, Florence/Brandt, Christina (Hg.): Wissensobjekt Mensch. Humanwissenschaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert, Berlin: Kadmos 2008. Siehe auch unten, Fußnote 9.
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F OUCAULTS »E INFÜHRUNG IN K ANTS A NTHROPOLOGIE « Ein zentraler Text, in dem Foucault seine Kritik an Anthropologie als Kritik an der Verabsolutierung von Endlichkeit entwickelt, ist seine »Einführung in Kants Anthropologie«, die erstmals 2008 in Frankreich und 2010, von mir übertragen, auf Deutsch erschien.4 Foucault stellte sie 1961 seiner Übersetzung von Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« voran.5 Beide Arbeiten entstanden in unmittelbarem Anschluss an »Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique«6. Foucaults Interesse an Kants »Anthropologie« ist das Interesse des klinisch erfahrenen Psychologen, der Psychologie wissenschaftsphilosophisch zu reflektieren beginnt. Die Anthropologie ist in seinen Augen »die Wissenschaft des Normalen par excellence«.7 Sie ist insofern komplementär zur Psychologie als der Wissenschaft des Abnormen. Als auch in Frankreich zunächst unveröffentlichter Archiv-Text wurde Foucaults »Einführung« bis 2008 nur gelegentlich rezipiert.8 Ich habe 2002 eine ausführliche Analyse von Foucaults Studie vorgelegt.9 Diese Analyse wird im Folgenden weiter entwickelt, da sie mit der Veröffentlichung von Foucaults Schrift auf eine neue Grundlage gestellt werden kann. Der Rückbezug auf diesen frühen Text ermöglicht es, die epistemologische Dimension von Foucaults Kritik an Anthropologie genauer herauszuarbeiten und sie zu gegenwärtigen 4 | Foucault, Michel: Einführung in Kants Anthropologie. Aus dem Französischen von Ute Frietsch. Mit einem Nachwort von Andrea Hemminger, Berlin: Suhrkamp 2010 [1961], Hervorhebg. im Original. 5 | Emmanuel Kant: Anthropologie d’un point de vue pragmatique. Traduction de Michel Foucault. Précédé de Michel Foucault. Introduction à l’Anthropologie. Présentation par D. Defert, Fr. Ewald, F. Gros, Paris: Vrin 2008. Foucaults Übersetzung von Kants »Anthropologie« wurde 1964 erstmals verlegt und ist seitdem in Frankreich einschlägig. 6 | Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 [1961]. 7 | M. Foucault, Einführung, S. 108. 8 | Zur Rezeptionsgeschichte von Foucaults »Einführung« vgl. Frietsch, Ute: »Immanuel Kant«, in: C. Kammler et al., Foucault-Handbuch, S. 165-169, hier: S. 165. 9 | Frietsch, Ute: »Michel Foucaults Einführung in die Anthropologie Kants«, in: Dietmar Kamper/Gunter Gebauer/Christoph Wulf (Hg.), Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 11, 11/2 (2002), S. 11-37; sowie: Frietsch, Ute: »Foucaults Introduction à l’Anthropologie de Kant: Resümee und Kritik eines unveröffentlichten Textes«, in: (dies.), Die Abwesenheit des Weiblichen. Epistemologie und Geschlecht von Michel Foucault zu Evelyn Fox Keller, Frankfurt a.M. und New York: Campus 2002, S. 26-57.
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epistemologischen Reflexionen und Entscheidungen in Beziehung zu setzen. Ich diskutiere im Folgenden zunächst den epistemologischen Gehalt von Foucaults Anthropologie-Kritik und komme gegen Ende auf gegenwärtige epistemologische Positionen zur Anthropologie zu sprechen.
D AS ANTHROPOLOGISCHE F ELD Foucault versteht Kants »Anthropologie« als Intervention in das sich im 18. Jahrhundert konstituierende anthropologische Feld. Er kontextualisiert sie, indem er sie zu den Entwürfen von Kants Zeitgenossen ins Verhältnis setzt.10 Kants »Anthropologie« wird dabei in ihrem ephemeren Gestus ausgezeichnet, der sie von den ihr zeitgenössischen wie von späteren Anthropologien auf vorbildliche Weise unterschieden haben soll. Foucaults überraschender Sichtweise zufolge hatte Anthropologie für Kant nur den Stellenwert einer Passage auf dem Weg in eine Transzendentalphilosophie: Kants »Opus postumum« wird von Foucault als vollendete Transzendentalphilosophie gelesen, die vorkritisches Denken und kritische Analyse in einer gegenständlichen Einheit vermittele. Foucault wagt dabei seinerseits die Intervention, die er Kant unterstellt: Er interveniert in das ihm selbst zeitgenössische philosophisch-anthropologische Denkfeld, in dem seiner Auffassung zufolge die Ebenen des Empirischen und des Transzendentalen auf wissenschaftlich unzulässige Weise vermengt werden, und legt den Autor/-innen, auf die er sich – zumeist ohne Namensnennung – bezieht, nahe, eine der Philosophie Kants analoge Bewegung zu wagen und Anthropologie auf eine zu entwickelnde, neue Weise zurückzunehmen.
W ELT ALS K OSMOS UND G ESELLSCHAF T Da sich Foucault zufolge mit der Entstehung der Anthropologie im 18. Jahrhundert ein fundamentaler Bruch in der Ordnung des Wissens vollzieht, bemüht er sich akribisch um eine zeitliche Fixierung der einzelnen Abläufe und so auch der unterschiedlichen Stadien von Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Das Textkorpus, das schließlich 1798 von Kant autorisiert gedruckt wur10 | Foucault diskutiert die Anthropologien von: Johann Gottfried von Berger (1737), Friedrich Christian Cregut (1737), Alexander Gottlieb Baumgarten (1739), Johann Nicolaus Tetens (1777), Ernst Platner (1772, 1790), P. L. Lacretelle (1791), Carl Christian Erhard Schmid (1791), Daniel Voß (1791), Just Christian Loder (1793), Johann Ith (1794/95), Christoph Wilhelm Hufeland (1796), Johannes Köllner (1797), Johann Christian Reil (1797), Johann Christian August Heinroth und Johann Christoph Hoffbauer.
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de, hat sich über eine Zeitspanne von ca. 25 Jahren entwickelt. Es geht u.a. auf Vorlesungen zurück, die Kant von 1772/73 bis 1797 gehalten hat, und weist insofern Züge der präkritischen, der kritischen und einer möglichen post-kritischen Periode auf, die von Foucault jeweils als konzeptionelle Entscheidungen gelesen werden. 40 Jahre lang und zum Teil parallel zu seinen Anthropologie-Vorlesungen hielt Kant Vorlesungen zu Physischer Geographie: Seinen Geographie-Unterricht nahm er 1756 auf. Vom Wintersemester 1772/1773 an stellte er ihm eine sich immer stärker vereigenständigende Anthropologie-Vorlesung zur Seite.11 Kants Schrift »Von den verschiedenen Racen der Menschen« von 1775 kündigt mit der Geographie-Vorlesung erstmals die Anthropologie-Vorlesung an. Foucault vergleicht das Verhältnis von Natur und Mensch in diesem frühen Text mit dem der »Anthropologie«. Während der präkritische Text kosmologisch von »Weltkenntnis« handele, werde diese Perspektive in der »Anthropologie« kosmopolitisch revidiert. Aus der »Weltkenntnis« werde die Idee der »Menschenkenntnis«. Der neuen anthropologischen Programmatik zufolge ist »Welt« nicht gegeben, sondern zu errichten. Da Weltkenntnis mit Menschenkenntnis gleichgesetzt wird, ist »Welt«, die zuvor Kosmos war, nun gleichbedeutend mit Gesellschaft. Die Geographie generiert die Anthropologie, die sich in der Folge von ihr emanzipiert und sich zu einem wissenschaftlichen Feld sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaften entwickelt.12
K ANTS N ORMALITÄT Foucault profiliert in seiner »Einführung« die Begriffe »genetische Perspektive«, eine Vorform von »Genealogie«, »Archäologie«, ein Begriff Kants13, und »strukturelle Methode« sowie darüber hinaus »retour« und »répétition«, Wiederkehr und Wiederholung. Die Unterscheidung einer kosmologischen Perspektive im 11 | Zur Abtrennung der Anthropologie-Vorlesung von der Vorlesung zu Physischer Geographie vgl.: Cohen-Halimi, Michèle: »L’anthropologie dans la géographie physique«, in: Jean Ferrari (Hg.), L’Année 1798. Kant et la naissance de l’Anthropologie au siècle des lumières. Actes du colloque de Dijon, 9-11 Mai 1996, Paris: Vrin 1997, S. 115-128. 12 | Im Hintergrund stehen die Umbrüche in der Kosmologie des 16. bis 18. Jahrhunderts, die Koyré beschrieben hat: vgl.: Koyré, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Aus dem Amerikanischen von Rolf Dornbacher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1957]. Sie ermöglichten die Entstehung der Anthropologie. 13 | Foucault bezieht seinen Begriff der Archäologie aus Kants »Aufzeichnungen über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff«, vgl. Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Band 2: 1970-1975, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 292.
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Frühwerk und einer kosmopolitischen Idee im Späteren ergibt sich etwa aus einer »genetischen« Untersuchung. Die »strukturelle Methode« hingegen trägt insbesondere der Zeitgenossenschaft der »Kritik der reinen Vernunft« und der »Anthropologie« Rechnung. Die »Anthropologie« tritt so im Prozessualen ihrer Konstitution vor Augen. Wie gelingt es Foucault nun aber, Kants »Anthropologie« von der seiner Zeitgenossen und Nachfolger abzugrenzen? Diese Abgrenzung findet in Kants »Anthropologie« selbst einen nur unsicheren Halt. Um den Status der »Anthropologie« in Kants Gesamtsystem zu reflektieren, bezieht sich Foucault nicht lediglich auf ihre unterschiedlichen Fassungen, sondern zieht Kants gesamte Werke heran und zudem die transzendentalen Überlegungen, die sich in einzelnen Briefwechseln finden. Provoziert durch Briefe des Mathematikers Jakob Sigismund Beck, der Kant mit Fichte konfrontierte, problematisierte der Anthropologe Kant seine Disziplin in einem entscheidenden Punkt: Wie kann das Ich sich selbst zum Gegenstand haben?14 Kants diesbezügliche Reflexionen sind zum Teil in Paragraphen und Fußnoten seiner »Anthropologie« eingegangen. Zu großen Teilen hat Kant sie jedoch bei der Drucklegung weggelassen. Die Frage ist für Foucaults Kritik grundlegend. Ich zitiere daher ausführlich. Foucault notiert:
»Im unveröffentlicht gebliebenen Text entwickelt Kant das Problem der Kenntnis seiner selbst detaillierter. Der innere Sinn, definiert als empirisches Bewußtsein, kann das Ich (moi) nicht anders als in seinem Status als Objekt erfassen […]. Die Apperzeption hingegen ist, in einem Verständnis, das der Kritik viel näher ist, durch das intellektuelle Bewußtsein seiner selbst bestimmt. […] insofern zählt sie nicht zur Psychologie oder zur Anthropologie, sondern zur Logik. […] Es gibt da, Kant erkannte es, eine ›große Schwierigkeit‹: Man muß jedoch bedenken, daß es sich nicht um ein ›doppeltes Ich‹*, sondern um ein ›doppeltes Bewußtsein dieses Ich‹* handelt. So bewahrt das Ich (Je) seine Einheit, wenn es jedoch zu Bewußtsein kommt, […] so in dem Maß, als es sich selbst affizieren kann, indem es, in einem einzigen und selben Akt ›das bestimmende Subjekt‹* und ›das sich selbst bestimmende Subjekt‹* ist. […] Diese Debatte, so marginal sie auch gewesen ist, versprach zugleich, den Raum zu definieren, in dem eine Anthropologie im Allgemeinen möglich war: Ein Gebiet, in dem das Beobachten seiner selbst weder auf ein Subjekt in sich noch auf das reine Ich (Je) der Synthese Zugriff hat, sondern auf ein Ich (moi), das Objekt ist und präsent nur in seiner phänomenalen Wahrheit. […] Eine solche Situierung der Anthropologie ist jedoch nur vom Gesichtspunkt einer transzendentalen Reflexion aus möglich. Es war daher normal, daß Kant 14 | Vgl. Kant, Immanuel: Kant’s Briefwechsel 1795-1803, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kant’s gesammelte Schriften, 29 Bände, Berlin und Leipzig: Georg Reimer sowie Walter de Gruyter & Co 1910-1983, hier Bände 11 und 12, Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter & Co 1922.
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darauf verzichtete, einen Text zu veröffentlichen, der, wenn nicht von dem Problem der Anthropologie, so doch von deren Reflexionsniveau, so weit entfernt ist.«15
Foucault analysiert den unveröffentlichten Text Kants, um den Ort zu eruieren, den dieser der Anthropologie systematisch zudachte. Der von Kant umrissene Bereich war für Anthropologie jedoch nicht bindend. Die strikte Unterscheidung zwischen einer physiologischen und einer pragmatischen Anthropologie etwa, die in der Vorrede zur »Anthropologie« unternommen wird,16 war vom Gesichtspunkt einer transzendentalen Reflexion aus zwar möglich, hat sich jedoch historisch nicht halten lassen. Die Auseinandersetzung Foucaults mit Anthropologie trifft insofern auf ein Problem, dessen erster Ausdruck Kants »Anthropologie« selbst ist. Es ist, wie Foucault schreibt, »normal«, dass sich Kant innerhalb der »Anthropologie« auf einem Reflexionsniveau hält, das nicht transzendental ist. Im Licht des Vorwurfs, den Foucault gegen die Anthropologie nach Kant erhebt: dass sie die Kritik »liquidiert« habe,17 wird dieses Normal-Sein jedoch selbst problematisch. Kants »Normal-Sein« gliedert die transzendentale Reflexion bereits aus dem, was Anthropologie sein soll, aus. Die »Anthropologie« bringt ihren eigenen Ort in der Ordnung des Wissens nicht reflektiert zur Darstellung. Sie befindet sich nicht auf der Höhe des Problems, das sie, Foucault zufolge, als Umbruch im wissenschaftlichen Selbstverständnis des Menschen verkörpert. Indem sie sich als empirische Sammlung gibt und die Reflexion auf den Status ihrer Befunde in die Fußnoten oder ganz aus dem gedruckten Text verbannt, bestätigt sie die Möglichkeit einer ohne Rekurs auf »eine Kritik, eine Epistemologie oder eine Erkenntnistheorie«18 empirisch agierenden, Physiologisches und Pragmatisches vermengenden Anthropologie. Dass diese Problematik der Ebenen gerade anlässlich der Thematik des Ichs auftaucht, verweist auf den Stellenwert des Selbstverhältnisses für die Anthropologie: Die empirische Analyse des Menschen wird in der »Anthropologie« nicht mittels des Selbstverhältnisses begründet; sie gerät vielmehr mit ihm in Konflikt. Foucault gesteht Kant zu, dass es sich bei seinem »Ich« nicht um ein »doppeltes Ich« handelt, sondern um ein »Ich«, von dem man ein »doppeltes Bewußtsein« haben kann. Doch ist damit das Problem für ihn noch nicht gelöst. 15 | M. Foucault, Einführung, S. 31-33. Hervorhebg. im Original, mit Asteriskus markierte Wörter sind im Original deutsch. 16 | Vgl.: Immanuel Kant: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Vorrede«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant. Werkausgabe in XII Bänden, Frankfurt a.M. 1977-1995, Band 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 399-402 (BA III-VI). 17 | M. Foucault, Einführung, S. 18. 18 | Ebd., S. 117.
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Die Erhaltung der Einheit des Ich hängt davon ab, ob es dem Subjekt gelingt, das körperlich affizierte Selbst (moi) als bestimmendes Subjekt gelten zu lassen. Paradoxerweise wirkt sich gerade das Bedürfnis, gegen die körperliche Bestimmung selbstbestimmt zu sein, auf die Weise aus, dass der Mensch sich zum Beobachtungsfeld macht. Der Umgang des »Je« mit dem »moi«, das Selbstverhältnis, ist Modell des Umgangs des Ich mit dem Anderen und vice versa. Mit dem »moi-objet«19 werden der Mensch und die Menschheit erfasst. Das AutorenSubjekt der »Anthropologie«, Kant, nimmt den Menschen nicht als souveränes Gegenüber. Insofern es sich selbst und insofern ihm der Mensch Objekt ist, wird ihm jeder Mensch zu einem Lieferanten dessen, was symptomatisch aus ihm/ihr spricht. Foucault, dessen Analyse systematisch und nicht text-chronologisch verfährt, kommt in raschen Schritten und ausführlich auf die Behandlung des »Geschlechts« durch Kant zu sprechen.20
G ESCHLECHT UND K L ASSE Foucault greift die Thematisierung der »Geschlechtscharaktere« literal, wie sie ihm von Kant geboten wird, auf. Er tut dies jedoch, um den »Charakter« zu beschreiben, den sich die pragmatische Anthropologie – in implizitem Widerspruch zu der »Kritik der Praktischen Vernunft« – selbst gibt. Es handelt sich also nicht um eine inhaltliche Wiederholung und Bestätigung dessen, was die »Anthropologie« erzählt, sondern um die kritische Analyse eines Zusammenhangs, der für ihre Struktur, für ihren Status im Gesamtsystem und für ihr Subjekt bezeichnend ist. Über ihre Beschreibung der Geschlechtscharaktere, respektive der Frau, gibt sich die Anthropologie Kants, Foucault zufolge, ihren eigenen pragmatischen Charakter. Vom 16. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, so Foucault, habe das juridische Denken keine Geschlechterzweiheit gekannt, sondern lediglich das Individuum in seinem Verhältnis zu Staat und Besitz.21 Der Theologe und Pädagoge Christian Gottfried Schütz hatte Kant nun in einem Brief an einen Dritten (dennoch oder bereits) dafür kritisiert, dass er in der »Metaphysik der Sitten« die Beziehung des Mannes (oder Menschen) zu Frauen und Dienstboten in der Form des Sachenrechts darstelle. Kant antwortete darauf, Schütz verwechsele die menschliche Person und das Rechtssubjekt.22 Frauen und 19 | Ebd., S. 33. 20 | Ebd., S. 34-38. 21 | Ebd., S. 34. 22 | Vgl. den von Foucault thematisierten Brief Kants an Schütz vom 10. Juli 1797, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kant’s gesammelte Schriften, Band 12, S. 181-183.
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Dienstboten waren zwar moralisch betrachtet für Kant keine »Dinge«, konnten juristisch aber als »Dinge« behandelt werden. Foucault kommentiert: »Der Vorwurf von Schütz traf jedoch ins Herz des anthropologischen Anliegens, das ein gewisser Konvergenz- und Divergenzpunkt des Rechtes und der Moral ist. […][Es ist] an der Anthropologie, zu zeigen, wie eine juridische Beziehung, die der Ordnung des Besitzes angehört […], den moralischen Kern der als freies Subjekt verstandenen Person bewahren kann.« 23
Hier zeigt sich die Antinomie, die in späteren Schriften Foucaults auf geschlechtsindifferente Weise behandelt wird: Die Antinomie zwischen Juridischem und Praktischem, die den Menschen zu einer »empirisch-transzendentalen Dublette« macht.24 In der Anthropologie, die Moral und Recht zu vereinen vorgibt, trifft man auf ihre unvermittelte Divergenz: auf die Herrschaft des Mannes über die Frau sowie der ›Herrschaften‹ über die Bediensteten. Man stößt auf »[…] die Konstitution dieser konkreten Inseln der bürgerlichen Gesellschaft, über die weder das Recht der Leute noch das Recht der Dinge Rechenschaft ablegen können: […] Ausfransungen des Rechts, wo Herrschaft weder Souveränität ist noch Besitz«.25 Dass Frauen und Dienstboten in Deutschland um 1800 keine bürgerlichen Rechte erlangten, war anthropologisch begründungsbedürftig.26 Während der Mensch emphatisch als Rechtssubjekt propagiert wurde, gab es weiterhin Menschen, die nicht als Rechtssubjekte galten. Foucault ermöglicht an dieser Stelle ein intersektionales Verständnis von Klasse und Geschlecht: Indem er Kants Aussagen zum »Charakter des Geschlechts« in der »Anthropologie« mit seinen die »Metaphysik der Sitten« betreffenden Aussagen zu Frauen und Dienstboten im Brief an Schütz zusammenliest, solidarisiert er sich sozusagen mit der »Frau« des Kantschen Textes. Er begreift beide Aussagenkomplexe als juristisch relevant. Foucault setzt dabei Kants Bereitschaft voraus, Frauen zumindest »moralisch« als Freiheitssubjekte anzuerkennen – eine Annahme, die sich aus Kants Gesamtwerk weder mit Eindeutigkeit bestätigen noch bestreiten ließe. Wo Kant von der Freiheit des Subjektes spricht, denkt Foucault sie sich als Freiheit sowohl des Mannes wie der Frauen. Diese Freiheit wird seiner Lektüre gemäß erst relativiert, wo sie eigens problematisiert ist. Kants 23 | M. Foucault, Einführung, S. 36. 24 | Vgl. M. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 384-389. 25 | M. Foucault, Einführung, S. 35. 26 | Dies wird von Hausen und Honegger genauer herausgearbeitet: Hausen, Karin: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976, S. 363393; C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter.
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gesprächige Ausführungen zu Naturzustand, Haushalt, Ehe und Galanterie verknappt Foucault darauf, dass »die Frau« ihre Freiheit anerkannt sehen will, »der Mann« sie aber im so genannten »Naturzustand« als »Haustier« nehme und sie im bürgerlichen Zustand in der nur förmlichen Anerkennung ihres Anspruchs galant überliste. Für »femme« (frz.: Frau) gebraucht Foucault auch das Pronomen »on« (frz.: man), womit er den auf dem Niveau der Kantschen Anthropologie unerfüllten Anspruch von Frauen implizit als Aussage verallgemeinert und bestätigt.27 Die Kategorien Geschlecht und Klasse, die von Foucault nicht benannt, jedoch analytisch verwendet werden, sind exemplarisch für das, was er in »Die Ordnung der Dinge« als »Quasi-Transzendentalia« bezeichnen wird.28 In ihrer modernen Prägung gehören sie in den Horizont von Leben, Sprache und Arbeit.29 Foucault wendet die Ordnungskategorien hier analytisch gegen sie selbst und zeigt auf diese Weise die Unterordnung der Freiheit unter das Gesetz sowie die Vermengung des Empirischen und des Transzendentalen auf, die selbst in Kants »Anthropologie« vorliegen. Die Kategorie der Rasse bleibt in der Analyse ausgeblendet, da Kants »Anthropologie« in den Augen Foucaults tatsächlich pragmatisch argumentiert. Klasse und Geschlecht sind in der »Anthropologie« allerdings auf eine spezifische Weise problematisiert, die den Menschen als Weltbürger generiert.
»Indem sie den Menschen als ›freihandelndes Wesen‹* behandelt, löst die Anthropologie eine ganze Zone des ›Freihandels‹ aus, wo der Mensch seine Freiheiten wie von einer Hand in die andere zirkulieren läßt. Er bindet sich in einem tauben und ununterbrochenen Handel an die anderen, der ihm eine Residenz auf der ganzen Oberfläche der Erde erwirtschaftet. Er wird Weltbürger.« 30
Wie »die Frau« im »Weltbürger« aufgehoben ist, so ist es der Haushalt im Freihandel. Die Freiheit führt einen Handel mit sich selbst, indem der Mann oder Mensch sich als Weltbürger an so genannte »andere« bindet. Im »Weltbürger« 27 | Vgl. M. Foucault, Einführung, S. 37. Dieses Stilmittel setzt Foucault auch in »Wahnsinn und Gesellschaft« ein, wenn er den Ort der Irren in einem »on« stabilisiert. Vgl. die Ausführungen von Deleuze zum »on« in: Deleuze, Gilles: Foucault. Übersetzt von Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 [1986], S. 17. Die rhetorischen Vorteile des französischen »on«, eine Allgemeinheit zu bezeichnen, die zugleich als subindividuell erscheint, kehren sich im deutschen »man« in ihr Gegenteil: in die Inanspruchnahme einer Über-Ich-Position, die sich als partikular erweist. 28 | Vgl. M. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 307. 29 | Vgl. U. Frietsch: »Wonach der Mensch geordnet wird: ›Rasse‹, ›Klasse‹, ›Geschlecht‹«, in: (dies.), Die Abwesenheit des Weiblichen, S. 160-182. 30 | M. Foucault, Einführung, S. 38.
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sind soziale, kulturelle, politische, nationale und ethnische Konflikte angelegt, die im Rahmen der »Anthropologie« weder artikuliert noch gelöst werden können.
K ÜNSTLICHKEIT Foucault zufolge besteht der entscheidende Grundzug von Kants »Anthropologie« allerdings in ihrer Artifizialität. Während das Ich in der »Kritik der reinen Vernunft« eine Instanz ist, welche die Synthesen der Erkenntnis leistet, wird es in der Perspektive der »Anthropologie« selbst merkwürdig: Es ist bereits da und doch niemals ganz gegeben. Foucault spielt hier auf Kants Problematisierung der Erinnerung an die Kinderjahre an.31 Mit ihr öffnet sich der doppelte Boden, auf dem Kants »Anthropologie« steht: Die Zeit der ersten Wahrnehmung und die Zeit der artikulierten Erfahrung sind voneinander uneinholbar getrennt. Diese Uneinholbarkeit verschafft der Anthropologie das ihr eigene Untersuchungsfeld. Kant grenzt es, Foucault zufolge, allerdings bewusst von der entstehenden Psychologie ab.32 Die Zeitlichkeit der Anthropologie habe zwar ein pathologisches, doch zugleich ein artifizielles Moment: »Während die Zeit der Kritik die Einheit des Originären befestigt […] nagt [die Zeit der Anthropologie] die synthetische Aktivität selbst an. Sie affiziert sie indes […] auf die Weise einer wesentlichen Möglichkeit, welche die Hypothese und die Hypothek einer erschöpfenden Determination aufhebt; […] in der Anthropologie verdunkelt die unerbittlich zerstreute Zeit die synthetischen Akte, macht sie undurchdringlich und ersetzt die Souveränität der Bestimmung* durch die geduldige, mürbe und gutwillige Ungewißheit einer Übung, die sich die Kunst* nennt.« 33
Unter »Kunst« versteht Kant, Foucault zufolge, einen spezifischen Kunstgriff: Die Negation der originären Passivität des Gegebenen durch seine Verzeitlichung. Nichts ist so gegeben, dass es nicht zugleich auch gemacht wäre. Die »Anthropologie« Kants nimmt dem Subjekt zwar seine zeitlose Souveränität, sie gibt ihm dafür jedoch die Freiheit, das Gegebene zu negieren, sich und seiner Tätigkeit einen Sinn zu geben und über die Wahrheit, die in der »Kritik« als determiniert erschien, zu kommunizieren.34 Die soziale Einheit, die für Kants »Anthropologie«, Foucault zufolge, Modellcharakter hat, ist daher weder die Familie noch die Nation, sondern die sich plaudernd und reflektierend in 31 | I. Kant, Anthropologie, S. 407-408 (BA 3-6). 32 | Vgl. M. Foucault, Einführung, S. 50-67. 33 | M. Foucault, Einführung, S. 83. 34 | Vgl. ebd., S. 84-85.
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angenehmem Gleichgewicht haltende »Tischgesellschaft«.35 Ungewohnt konziliant bescheinigt Foucault Kants »Anthropologie« demnach Stärken. Er sieht sie allerdings gerade dort, wo seine Gegner eventuell in eine Kulturkritik einstimmen könnten. Die Stärke der »Anthropologie« soll darin zu sehen sein, dass sie das »Originäre« (oder Ursprüngliche) verzeitlicht.
W IEDERHOLUNG Foucault zufolge decken die »Anthropologie« und die »Kritik der reinen Vernunft« denselben Bereich ab: Beide behandeln Endlichkeit. Doch während in der »Kritik« das Erkenntnisvermögen endlich ist, ist es in der »Anthropologie« der Mensch in der körperlichen Verfasstheit seiner Existenz. Die Anthropologie wiederholt daher die Kritik »wie im Negativ«.36 Es ist diese Negativität, die Foucault zufolge aufgefangen und fundiert werden muss. Zu ihrer Fundierung schlägt er die Wiederkehr als Methode vor. Es wird Foucault dabei nicht entgangen sein, dass dieses Konzept sich nicht Nietzsche allein verdankte, sondern darüber hinaus Züge der Psychoanalyse Freuds aufwies.37 Foucault unternimmt die geforderte Wiederkehr, indem er vom »Opus postumum«38 Kants aus neu zu bestimmen versucht, wohin dessen »Anthropologie« auf dem Wege war. Vom Nachlass aus betrachtet, gewinnen drei Begriffe der »Logik« und der »Anthropologie« eine neue Bedeutung: »Gott«, »die Welt« und »Ich der Mensch«.39 Foucault beschreibt sie als transzendentale Korrelate und eruiert so eine angeblich post-anthropologische Bestimmung der Position des Menschen bei Kant. Aus der Warte von »Logik« und »Opus postumum« erscheine der Mensch 1. als »medius terminus«: Gott und Welt denkend und beide so vereinend, 2. als »Kopula« zwischen Subjekt (Gott) und Prädikat (Welt): »wie das Verb ›sein‹ im Urteil über die Welt« und 3. als universelle reale Synthese des Sinnlichen und des Übersinnlichen, von der aus das Absolute gedacht werden könne.40 In Auseinandersetzung mit dem Ersten Konvolut des »Opus 35 | Ebd., S. 94. 36 | Ebd., S. 66. 37 | Vgl. Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: (ders.), Gesammelte Werke, Band 10, Imago Publishing Co.: London 1946 [1914], S. 126-136. Vgl.: Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag 1992 [1968]. 38 | Kant, Immanuel: »Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Opus postumum«, in: Akademie der Wissenschaften, Kant’s gesammelte Schriften, Band 21 und 22, Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter & Co. 1936 und 1938. 39 | M. Foucault, Einführung, S. 70. 40 | Ebd., S. 71.
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postumum« beschreibt Foucault die »transzendentale Korrelation« der Begriffe »Gott«, »Welt«, »Mensch« untereinander und mit den Begriffen »Quelle«, »Umfang« und »Grenze«, welche wiederum den drei Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« korrespondieren sollen. Foucault eröffnet so ein Reflexionsfeld, in dem die systematischen Teilungen der Kritik – die lange als Defizit betrachtet wurden – durch Bezüglichkeiten fundiert und gefügt sein sollen.41 Das System der Bezüglichkeiten, das sich vom Spätwerk Kants aus entfaltet, soll kein anthropologisches System mehr sein. Die »Anthropologie« leistet durch ihre Verzeitlichung des Originären angeblich selbst den Übergang in eine post-anthropologische Dimension. Foucault ist dabei weniger an den Begriffen Mensch und Gott gelegen als am Begriff der Welt. Die Welt des »Opus postumum« ist angeblich nicht länger das Korrelat einer Zeitbestimmung, das sie in der »Kritik« war, sondern Voraussetzung für die sinnliche Bestimmung eines realiter wahrnehmenden Ich. Sie ist »Quelle«, »Umfang« und »Grenze« für das menschliche Wissen. Vom »Opus postumum« aus zeigt sich, Foucault zufolge, eine profundere Zugehörigkeit der Frage nach dem Menschen und der Befragung der Welt als dies im Kosmopolitismus der »Anthropologie« denkbar war. Der späte Kant kannte demnach einen Zusammenhalt, der fundamentaler und realer war als jedes »Vermögen«. Während das »Opus postumum« in der Philosophiegeschichte als Ausdruck der Persönlichkeitsauflösung Kants pathologisiert wurde,42 liest Foucault die unzugänglich redundanten Konvolute als Realisierung der Philosophie Kants in der Gegenstandswelt. In Kants Spätwerk ist die Frage nach dem Menschen demnach transzendentalphilosophisch fundiert. Kant positioniert den Menschen in Beziehung auf die »Welt«, als Weltbewohner, und bindet ihn in Beziehung auf »Gott«, als im Gegensatz zu diesem nur endliches Wesen. Auf diese Weise gelinge es ihm, sowohl den Menschen wie die menschliche Natur auf ihre Bedingungen zurückzufalten und den drohenden unendlichen Regress der modernen Auskundschaftung des Menschen zumindest innerhalb seines eigenen Systems abzuwehren. Foucault wird einen entsprechend konkreten, fundamentalen und gegenständlichen Zusammen41 | Philosophisch stark gemacht wurden diese Teilungen der Kritik erst durch Lyotard. Vgl. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag 1989 [1983]. Lyotard eröffnet damit einen neuen Weg: Anthropologie wird von ihm ebenfalls nicht länger wiederholt. Er sieht sich jedoch auch nicht gezwungen, sie zu fundieren. 42 | Vgl. Lehmann, Gerhard: »Einleitung«, in: Akademie der Wissenschaften, Kant’s gesammelte Schriften, Band 22, Berlin/Leipzig 1938, S. 751-789. Lehmann verteidigt das »Opus postumum« zwar gegen die Einschätzung, sein Autor sei senil gewesen – dies jedoch nur, um dessen »Eigentümlichkeiten« dann seinerseits dem »Psychiater« anheim zu stellen (vgl. ebd., S. 786-789).
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halt in »Die Ordnung der Dinge« ebenfalls herstellen: Dieser Zusammenhalt ermöglicht die Rede von der einen »épistémè«. In der ihm zeitgenössischen Philosophie geschieht hingegen, seiner Auffassung zufolge, eine charakteristische Vermischung:
»Der vermittelnde Charakter […] der anthropologischen Analyse […] wird [die Anthropologie] dazu autorisieren, in der internen Ökonomie der Philosophie als unreines und unreflektiertes Gemisch (mixte) zu fungieren: Man wird ihr zugleich die Privilegien des Apriori und den Sinn des Fundamentalen leihen, den vorgängigen Charakter der Kritik und die vollendete Form der Transzendentalphilosophie; sie wird sich ausbreiten, ohne die Problematik des Notwendigen von jener der Existenz zu unterscheiden; sie wird die Analyse der Bedingungen und die Befragung der Endlichkeit vermischen.« 43
Foucault greift auf die Trias von »Apriori«, »Originärem« und »Fundamentalem« zurück, die er in Auseinandersetzung mit den »Logischen Untersuchungen« von Edmund Husserl (1859-1938) gewonnen hat,44 und hypostasiert sie zu logischen Positionen: Das Apriori Foucaults ist hier als Transzendentales oder Erkenntnisvermögen zu übersetzen, das Originäre als Menschliches und das Fundamentale als das Göttliche oder die Freiheit. Foucault zufolge hat Kant das Originäre zu fundieren versucht, weil er es nicht als Endliches totalisieren wollte. Kants Fundierungen (in Gott-Freiheit der »Kritik« und in Gott-Mensch-Welt des »Opus postumum«) sind für Foucault jedoch keine Lösungen, die sich im 20. Jahrhundert umstandslos reproduzieren ließen. Als gelungen betrachtet er hingegen Nietzsches »Ewige Wiederkehr«. Sie sei eine geeignete Methode, die Teilungen des Denkens mit einem Fundament zu unterlegen und eine Endlichkeit zu konzipieren, die nicht länger linear gedacht wäre.
P HYSISCHE UND PHYSIK ALISCHE K ÖRPER Foucault gräbt historisch jedoch noch etwas tiefer. Um Endlichkeit zu relativieren, skizziert er die Genese des modernen Empirismus. Zu diesem Zweck setzt er bei der Descart’schen Zweiteilung von Metaphysik und Physik an, bei der die menschliche Physis wie jedwede andere in der »Physik« inbegriffen gewesen sei. Der Raum für die Entstehung der Anthropologie wurde Foucault zufolge durch eine Abkoppelung des Physiologischen vom Physikalischen eröffnet. Die43 | M. Foucault, Einführung, S. 99-100. 44 | Husserls Versuch, das Apriorische vom Ursprünglichen zu lösen, wird von Foucault als gescheitert betrachtet, vgl. M. Foucault, Einführung, S. 100. Foucault verdankt Husserl allerdings die Unterscheidung von Apriori, Originärem und Fundamentalem sowie auch den Begriff des »historischen Apriori«.
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se Ausdifferenzierung sei durch das Veralten des Cartesischen Mechanismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts ermöglicht worden. Die Physik löste sich nicht allein von der Gotteshypothese. Sie habe die sich neu konzeptionalisierenden organischen Körper von sich abgespalten, als eine »Schicht der Erkenntnis, wo Mängel, Grenzen und Ohnmachten zur Frage stehen«45, um sich zum Feld exakter Forschung und wahrer Aussagen umzugestalten. Ihr Erfolg dabei wurde ihr von Kant bereits in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« bescheinigt. Der Abschied der Physik von Gott und vom menschlichen Körper hatte demnach eine reine Physik und eine unreine Anthropologie zur Folge.
»Im allgemeinen kann man sagen, daß die Nachforschungen über das Funktionieren des menschlichen Körpers [zu Beginn des 18. Jahrhunderts] die Gelegenheit für eine entscheidende konzeptuelle Verdoppelung boten: In der Einheit der Physis […] beginnt sich das, was für den Körper das Physische (le physique) ist, abzulösen von dem, was für die Körper das Physikalische (la physique) ist. […] wenn eine Wissenschaft von der Natur jetzt in Bezug auf eine Wissenschaft von der Physik verschoben scheint, so ist das in dem Maß, als diese den Bereich des menschlichen Körpers nicht mehr bedecken kann.« 46 Die Unterscheidung der menschlichen Körperlichkeit von der aller anderen Körper verdankt sich Foucault zufolge einer Entwicklung innerhalb der Naturwissenschaften. Sie habe sich jedoch an dem Ort vollzogen, der ihr durch die metaphysischen Reflexionen über die Seele und durch die medizinisch-technischen Entwicklungen bereitet worden sei. Daher konstituierte sich noch vor der Biologie die Anthropologie.47 Foucault verteidigt den Cartesischen Mechanismus implizit und wertet den Bruch zwischen dem, was Physis ist/sein soll und dem, was nicht Physis ist/ sein soll, im Vergleich zur anthropologischen Vermittlung als das Wahrere auf. Die Spaltung zwischen Geist und Körper wurde durch eine Anthropologie gefüllt, die beide Pole ersetzte.48 Anthropologie zeigt sich in den Augen Foucaults daher als Totaldisziplin: Sie umspannt Metaphysik, Moral und Religion – und
45 | M. Foucault, Einführung, S. 112. 46 | Ebd., S. 106. 47 | Vgl. ebd., S. 106-107. 48 | Eine ähnliche Diagnose stellt Hannah Arendt. Während Foucault die Selbstherstellung des Menschen aus der Warte der Theorie kritisiert, kritisiert Arendt sie aus der Warte des politischen Vermögens der Menschen. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich: Piper 2001 [1958].
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jedes zukünftige Gebiet, »in dem Maß, als etwas über den Menschen in ihm impliziert ist«.49
E NDLICHKEIT Diese Bewegung der Totalisierung von Anthropologie komplettiert sich, indem Physis und Metaphysik in der Endlichkeit menschlichen Objektbezugs aufgelöst werden. Dies ist der Kern von Foucaults philosophischer Kritik an Anthropologie:
»Der notwendige Charakter des transzendentalen Scheins wurde immer häufiger nicht mehr als eine Struktur der Wahrheit, der Erscheinung und der Erfahrung interpretiert, sondern als eines der konkreten Stigmata der Endlichkeit. Was Kant an ihr auf recht zweideutige Weise als ›natürlich‹ bezeichnete, wurde als Grundform des Gegenstandsbezugs vergessen und als ›Natur‹ der menschlichen Natur wieder eingeholt.« 50 Kants Aussage, dass menschliche Erkenntnis Dinge notwendig zu Objekten macht und sie so zwar erkennt, jedoch nicht so, wie sie an sich sind, wurde außerhalb der Kantschen Philosophie zu einem Ansich des Menschseins verabsolutiert. Foucault betont die Unselbstverständlichkeit des angeblich Selbstverständlichen, dass der Objektbezug dem Menschen als »Natur« unterstellt wird. Indem Natur generell als Objekt aufgefasst und Sinnlichkeit als Natur am Menschen interpretiert wird, geraten nicht-objektivierbare Verhältnisse (wie etwa das Fühlen) und transzendentale Untersuchungen aus dem Fokus des Forschungsinteresses. Eine ihrer selbst bewusste Philosophie müsste Foucault zufolge jedoch einen eigenen Begriff von Erfahrung geltend machen:
»Alle Philosophie gibt sich, als könne sie mit den Wissenschaften vom Menschen oder den empirischen Reflexionen über den Menschen ohne Umweg über eine Kritik, eine Epistemologie oder eine Erkenntnistheorie kommunizieren. Die Anthropologie ist dieser Geheimweg, der – mit dem Ziel der Fundierung unseres Wissens – die Erfahrung des Menschen und die Philosophie durch eine nicht-reflektierte Vermittlung verbindet.« 51 Foucault sieht die Aufgabe der Metawissenschaften darin, Endlichkeit in der Reflexion zu fundieren.52 Was er ablehnt, ist nicht die empirische Forschung, sondern die Dialektisierungsbewegung der Philosophie. Er fordert dazu auf, 49 | M. Foucault, Einführung, S. 108. 50 | M. Foucault, Einführung, S. 115. 51 | Ebd., S. 116-117. 52 | Ebd., S. 113.
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»eine Kritik der Endlichkeit zu konzipieren, die […] zeigte, daß die Endlichkeit nicht Frist ist, sondern diese Kurve und dieser Knoten der Zeit, wo das Ende Anfang ist«.53 Die Bahn (trajectoire) der wissenschaftlichen Befragung des Menschen solle gebogen werden. Foucaults Trajektorie ist eine Bahn der Beschleunigung, die sich aus unterschiedlichen Faktoren zusammensetzt: So wird die Reise der Philosophie zu sich selbst, die Foucault daraufhin befragt, ob sie über die Humanwissenschaften verlaufen muss oder nicht, von ihm bereits als »trajet« bezeichnet, als »Wegstrecke«.54 Von einem Gesprächsteilnehmer der Tischgesellschaft zum anderen verläuft ebenfalls ein »trajet«.55 Diese Wegstrecken werden zu einer Trajektorie der Endlichkeit als Sterblichkeit, wenn es die Frage »Was ist der Mensch?« ist, die auf ihnen – ohne Umweg über eine Kritik und ohne weitere Perspektive – transportiert wird. Nietzsches »Übermensch« sollte in Foucaults Augen die Befragung des Menschen insofern entwaffnen können, als sich ihre Bahn in seiner Figur noch einmal nachvollzog;56 – wobei der Überbietungsgestus des »Über« noch der Logik einer einfachen Entgegensetzung des Endlichen und des Unendlichen folgte. Die »Ewige Wiederkehr« sollte jedoch Reflexion und Beugung werden, indem sie Methode wurde. In Foucaults Konzept erweisen sich »Wiederkehr« und Wiederholung so als Modi einer Reproduktion, in die historische Differenz eingeschrieben ist: Wiederholt wird ein wissensgeschichtlich entscheidender Moment, um ihn zu einer neuen Wendung zu nutzen. Foucault geht dabei, indem er die Zeitspanne des 16. bis 19. Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum wählt, bis auf die kosmologischen Grundlagen neuzeitlichen Wissens zurück: Er erläutert die Genese der Anthropologie aus einer Verschiebung innerhalb der Physik des 16. und 17. Jahrhunderts und verfolgt sie in »Die Ordnung der Dinge« schließlich über ihre Entstehung im 18. Jahrhundert hinaus bis in die disziplinären Ausdifferenzierungen des 20. Jahrhunderts. Dass Foucault den Übergang von der Transzendentalphilosophie in die Anthropologie vor dem Hintergrund des Umbruchs vom Kosmologischen zum Kosmopolitischen verhandelt, hat seinen Grund in der gemeinsamen geschichtlichen Basis von Natur- und Geisteswissenschaften. Es lässt sich im Rückblick darüber hinaus methodologisch und zeitgeschichtlich interpretieren: Während man vor der anthropologischen Wende kosmologisch gedacht haben mochte, dachte man nach ihr programmatisch strukturell. Mit Blick auf die Absage an Anthropologie ergab sich eine gewisse Affinität der semiotischen oder post/ strukturalistischen zu den vergangenen kosmologischen Denksystemen. 53 | Ebd., S. 117. 54 | Ebd., S. 102. 55 | Ebd., S. 95-96. 56 | Vgl. M. Foucault, Einführung, S. 118.
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Foucault hat seine Konzepte der Archäologie und der genealogischen Herleitung von Praktiken als Alternativen zur Kantschen Kritik ausgearbeitet.57 Dies waren zugleich seine Vorschläge zur Neukonzeption von Kulturgeschichte, Ideengeschichte und Wissenschaftsgeschichte, die er – wie die empirischen Wissenschaften Soziologie und Psychologie – als Humanwissenschaften bezeichnete.58
E PISTEMOLOGIE IM A NSCHLUSS AN F OUCAULT Mit Foucaults Wende gegen eine Reproduktion des anthropologischen Denkens hat sich Epistemologie entscheidend verändert. Heute wird u.a. anerkannt, dass Foucault »Impulse für eine disziplinübergreifende Wissenschaftsgeschichtsschreibung gegeben« hat.59 Die historische Erforschung der Geisteswissenschaften und die der Naturwissenschaften sind allerdings nach wie vor stark getrennt, was sich nicht zuletzt an ihren zeitlichen Schwerpunktsetzungen zeigt: Während für die geisteswissenschaftliche Wissenschaftsforschung die so genannte Sattelzeit, von ca. 1750 bis ca. 1850, im Zentrum des Interesses steht,60 ist die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts ein entscheidender Bezugspunkt der Selbstvergewisserung für die Historiographie der Naturwissenschaften. Die lange Dauer (longue durée) des 16. bis 20. Jahrhunderts wird selten integriert betrachtet.61 Die Naturwissenschafts- und Technikforschung, die sich seit den 1980er Jahren insbesondere für materielle Praktiken interessiert, richtet ihren Blick zudem zunehmend auf Zeitgeschichte. Beides kann als Signal dafür interpretiert werden, dass eine Fundierung von Empirie nicht 57 | Die Textstelle Kants, auf die er sich dabei originär bezog (siehe oben, Fußnote 13), stellt selbst eine kritische Reflexion des Empirismus dar, vgl. Akademie der Wissenschaften, Kant’s handschriftlicher Nachlass, Band 20, S. 341. 58 | Vgl. M. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 425; Psychoanalyse und Ethnologie bezeichnete Foucault als »Gegenwissenschaften«, ebd. S. 454. 59 | So F. Vienne und Ch. Brandt: »Einleitung: Die Geschichte des Wissens vom Menschen – historiografische Anmerkungen«, in: (dies.), Wissensobjekt Mensch, S. 10. 60 | Vgl. Koselleck, Reinhard: »Einleitung«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1972, S. XIIIXXVII. 61 | Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Lorraine Daston dar, die oftmals bei Mittelalter und Früher Neuzeit ansetzen und bis in die Aufklärung und Moderne reichen, vgl. Daston, Lorraine/Park, Katharine: Wonders and the Order of Nature. 1150-1750, New York: Zone Books 1998; Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.
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länger von einer geschichtlich übergreifenden Reflexion erwartet wird. Die wissenschaftsgeschichtlich analysierten Zeiträume sind in der Regel zu kurz, als dass sich mit ihnen ein ganzes Zeitalter auf den Begriff bringen ließe; dies ist insofern bedauerlich, als für den Ansatz der longue durée einiges spricht: so nicht zuletzt, dass sich evolutive Prozesse heute ihrerseits in historischer Geschwindigkeit vollziehen.62 Es lag dabei bereits im Horizont von Foucaults Archäologie, näher an die Prozesse der Erforschung des Menschen heranzugehen: In der Wissenschaftsphilosophie Foucaults kehren seine empirischen Erfahrungen als Psychologe wieder, um metawissenschaftlich reflektiert zu werden. Dies zeigen u.a. seine Bild gewordenen Erinnerungen an die Diagnoseverfahren der klinischen Psychologie, so etwa: die Figur des Aphasikers, dem es nicht gelingt, Wollstränge von unterschiedlicher Farbe, Konsistenz und Länge nach einem einheitlichen Kriterium zu ordnen.63 Foucaults Einsicht, dass in der »Kritik der reinen Vernunft« – plausiblerweise – das Erkenntnisvermögen als endlich gedacht werde, während in der Anthropologie – verheerenderweise – die menschliche Existenz als solche verendlicht werde, lässt sich m.E. heute auf neue Weise nutzen: Die Auffassung des Erkenntnisvermögens als endlich, die (u.a. bei Foucault) zur Historisierung des Apriori führte, lässt sich auf den Forschungsprozess beziehen und so möglicherweise begrenzen. Wenn die Temporalität von Forschung im Mittelpunkt der epistemologischen Neugier steht, rückt die Endlichkeit des Menschen aus dem Fokus zumindest des metawissenschaftlichen Interesses. In dieser Hinsicht bedeutet die Methodologie von Bruno Latour eine interessante Wende: Während Anthropologie in der direkten Nachfolge Foucaults »anathematisch« wurde, entwickelte Latour eine »historische Anthropologie der Wissenschaften«, so Hans-Jörg Rheinberger.64 Rheinberger wirft die Frage auf, wie sich diese Anthropologie zur Anthropologie- respektive Anthropozentrismus- und Subjekt-Kritik Foucaults verhalte und konstatiert mit dieser Frage eine gewisse Abweichung, wenn auch keine Rückkehr zur alten Affirmation von Anthropologie.65 62 | Naturhistorische und weitere historische Prozesse ließen sich insofern integriert analysieren. Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: »Natur, NATUR«, in: (ders.), Iterationen, Berlin: Merve 2005, S. 30-50, hier S. 41-42. 63 | Vgl. M. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 20-21. 64 | Rheinberger, Hans-Jörg: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 119-130. Als weiteren Exponenten einer historischen Anthropologie der Wissenschaften nennt Rheinberger Ian Hacking (ebd.). Während sich bei Hacking historiographische Aussagen finden, lässt sich Latours gegenwartsfokussierter Ansatz m.E. jedoch zutreffender als Anthropologie der Wissenschaften bezeichnen. 65 | Ebd., S. 119.
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Die zeitgeschichtliche Arbeitsweise der Wissenschaftssoziologie kann m.E. eher eine »Ontologie der Gegenwart«66 als eine fundamentale Historisierung leisten. Endlichkeit wird von ihr weder begründet noch fundiert. Ihre konkreten Formen werden so jedoch, was mit Foucaults übergreifendem Ansatz nicht möglich war, im Detail analysierbar: Die Trajektorie wird in zahllose Knoten zerlegt. Das Menschliche wird an den Dingen nachvollzogen.67 Latours Wissenschaftssoziologie kann daher als paradoxe und zugleich konsequente Zuspitzung von Foucaults Anthropologie-Kritik verstanden werden. Sie negiert Anthropologie zwar nicht länger, wendet sie jedoch auf die anthropologisierten Wissenschaften an und kehrt sie insofern um.68 Dies entspricht insofern Foucaults Ansatz, als dieser vorgeschlagen hatte, Ethnologie als »Ethnologie der eigenen Gesellschaft«69 zu praktizieren. Die Anthropologie der Wissenschaften ist demgemäß eine Anthropologisierung der anthropologisierenden Instanz; wobei die laboratory studies implizit der These Rechnung tragen, dass sich jede Wissenschaft im Modus der Humanwissenschaft und Anthropologie entwickeln kann.70 Eine grundsätzliche Differenz zu Foucaults Anthropologie-Kritik weist diese wissenschaftsanalytische Bewegung m.E. allerdings auf: Die »unreine« Vermengung der Analyseebenen, gegen die Foucault argumentierte, wird mit dieser neuen Anthropologie der Wissenschaften zwar reflektiert, sie wird jedoch als epistemisch stichhaltig gehandhabt und insofern reproduziert. Wo die Dinge als Hybride konzeptionalisiert werden, gilt es auch für die Analyse nicht länger als erstrebenswert, die Ebenen des Empirischen und des Metawissenschaftlichen (oder Transzendentalen) auseinander zu halten.
66 | Zu diesem Konzept Foucaults aus den 1980er Jahren vgl. Sellhoff, Michael: »Ontologie der Gegenwart«, in: C. Kammler et al., Foucault-Handbuch, S. 277-279. 67 | Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 [1991]; Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Beverley Hills CA: Sage Publication 1979. 68 | Ähnliches gilt vermutlich für die britische Sozialanthropologie der Gegenwart. Vgl. hierzu den Beitrag von Shahanah Schmid in diesem Band. 69 | Foucault, Michel: »Die Maschen der Macht« [1981/1985], in: (ders.), Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Band 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 224-244, hier S. 225-226. 70 | Zur Humanwissenschaft kann demnach jede Disziplin werden: Ausschlaggebend ist, ob das Kriterium, dass es der Mensch ist, der sich die jeweiligen Fragen stellt, in die Fragestellungen der Disziplin integriert wird, vgl. M. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 426-439.
Der Selbstversuch im Labor: Animalische Elektrizität als Experimentierfeld einer bürgerlichen Geschlechterordnung Volker Hess
»Nirgends häufen sich alle Erscheinungen des Galvanismus so an einander als bei diesem Versuche. Ich ließ mir, um eine recht grosse entblößte Hautfläche zu erhalten, zwei Canthariden von der Größe eines Laubthalers [ franz. Münze mit knapp 45 mm Durchmesser] in die Gegend der beiden Schulterblätter legen. Sie bedeckten genau den Musculus cucullaris und deltoides. Die Wunde der rechten Seit lag mehr auf dem Deltamuskel, denn die Zuckungen, welche beim Galvanisiren entstanden, waren fast allein in diesem Muskel zu sehen. Als beide Blasen aufgeschnitten waren, quoll, wie gewöhnlich, die lymphatisch-seröse Feuchtigkeit ungefärbt herab. Wo sie den Rücken berührte und antrocknete, liess sie nichts, als einen schwachen Glanz zurück […]. Meine rechte Wunde ließ ich nun mit einer Silberplatte bedecken; kaum war der Conductor von Zink genähert, so wurde, unter schmerzhaften Brennen, neue Feuchtigkeit hervorgelockt. Diese Feuchtigkeit erschien aber, zum Erstaunen aller Umstehenden, nicht weiss und gutartig; nein sie war in wenigen Secunden roth gefärbt und entzündete, wo sie herablief, den Rücken mit blaurothen Striemen. […] Diese Erscheinung war zu auffallend, um sie nicht näher zu prüfen. Die Wunde meiner linken Schulter war noch mit ungefärbter Flüssigkeit gefüllt. Herr von Schallern, der die Mühe unternahm, auf meinem Rücken zu experimentieren, fing das Galvanisieren auch hier an. In vier Minuten waren heftiger Schmerz, Entzündung, Röthe und Striemen ebenfalls vorhanden. Ich sah, so sorgfältig ich auch alles abwaschen ließ, mehrere Stunden lang wie ein Gassenläufer aus.«1
1 | Humboldt, Alexander von: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, Berlin: Decker/H.A. Rottmann: Posen 1797, I, S. 314f. Im Folgenden wird der erste Band der Versuche im Text zitiert.
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Selbstversuche sind prekär: Erstens sind sie schmerzhaft. Sich mit einer hautreizenden Masse aus zerstoßenen spanischen Fliegen (Cantharis vesicatoria) die Haut aufzulösen,2 ist äußerst schmerzhaft. Die blanken Muskeln darüber hinaus mit dem elektrischen Strom einer primitiven Batterie zu traktieren, grenzt an Selbstverletzung. Die galvanischen Reizexperimente, die Alexander von Humboldt (1769-1859) und andere Naturforscher zwischen 1790 und 1810 am eigenen Körper durchführten, waren mit dem Einsatz des ganzen Körpers verbunden. Zweitens sind solche Selbstversuche als wissenschaftliches Experiment prekär. Sie stellen nicht nur die Leidensfähigkeit des Subjekts auf die Probe, sondern die Objektivität des Experiments in Frage. Den Experimentator zum Objekt seines Versuchs zu machen, ist epistemologisch problematisch. Der kurze Bericht verweist auf die zentrale Stellung des Gehilfen als Zeugen der erlittenen Pein. Drittens sind solche Selbstversuche sozial prekär: Auch wenn man wie Alexander von Humboldt ein Mann von adeliger Geburt und bürgerlichem Geiste ist, läuft man Gefahr, nach dem Versuch einem Gassenläufer zu gleichen, den Striemen als Menschen des gemeinen Volkes kennzeichnen. Alle drei Aspekte markieren eine Grenzüberschreitung, die diese Form des Experimentierens mit der animalischen Elektrizität als romantischen Selbstversuch charakterisieren, nämlich indem das Objekt und Subjekt des Versuchs in eins fallen; soziale bzw. gesellschaftliche Grenzen überschritten und Körpergrenzen unter Infragestellung konventioneller Geschlechtsidentität verletzt werden. Jeder dieser drei Aspekte ist für sich bereits mehr oder weniger ausführlich dargestellt worden.3 So sind in den vergangenen Jahren einige Anstrengungen unternommen worden, sowohl die Wissenschaftlichkeit als auch die Bedeutung dieser Selbstversuche der Humboldt-Brüder und anderer frühromantischer Naturforscher herauszuarbeiten. Ihre Bedeutung als ein ernsthaftes und folgenschweres Unternehmen ist heute unumstritten, ebenso ist die zentrale Stellung der Selbstversuche für die Herausbildung der Elektrophysiologie und Neurophysiologie weitgehend anerkannt. Daher möchte ich nicht erneut auf die Rolle des Galvanismus bei der Entwicklung einer Theorie der Nervenleitung eingehen und auf eine breite Darstellung der experimentellen Praxis verzichten.4 Auch 2 | Spanische Fliege wird seit dem Altertum als Heilmittel benutzt und ist heute noch als Aphrodisiakum in Gebrauch. 3 | Strickland, Stuart Walker: »Galvanic Disciplines: The Boundaries, Objects, and Identities of Experimental Science in the Era of Romanticism«, in: History of Science 33 (1995), S. 449-468; Strickland, Stuart Walker: The Ideology of Self-Knowledge and the Practice of Self-Experimentation (Preprint, 65), Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 1997. 4 | Kümmel, Werner F.: »Alexander von Humboldt und Soemmering: Das galvanische Phänomen und das Problem des Lebendigen«, in: Gunther Mann/Franz Dumont (Hg.),
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die epistemologische Figuration dieses Selbstexperimentierens ist – zumindest in Ansätzen – mehrfach angeschnitten worden.5 Selbst der Praxis dieses Experimentierens – gerade der Praxis des Selbstversuchs – ist einige Aufmerksamkeit geschenkt worden – einschließlich der eingesetzten Körpertechniken und ihrer vielfältigen Assoziationen zum Experimentieren mit der galvanischen Säule. Weniger Beachtung hat allerdings die soziale Funktion dieses meist geselligen Experimentierens gefunden. Wenn ich die epistemologischen Voraussetzungen dieser romantischen Selbstexperimente näher beleuchte, möchte ich sie – der vorliegenden Forschungsliteratur folgend – explizit mit anderen Wissenspraktiken der Frühromantik eng zusammen führen. Dabei werde ich die experimentelle Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt mit der poetischen Konstruktion des dichterischen Selbst parallelisieren, nicht um das »Romantische« dieser Selbstversuche herauszuarbeiten. Ganz im Gegenteil möchte ich versuchen, zumindest thesenhaft die epistemologische Figuration des Selbstversuches über den frühromantischen Diskurs hinaus als eine methodologische Grundlage modernen Experimentierens zu verallgemeinern. Bevor die verschiedenen Facetten dieser dreifachen Prekarität thematisiert werden, ist ein kurzer Überblick über die Tradition dieser Experimentalanordnung notwendig. Anschließend werde ich mich in drei Schritten der zentralen Frage dieses Sammelbandes nähern. So soll zunächst die Wissensform des Experimentierens beleuchtet werden, die in der epistemologischen Figuration des Selbstversuchs selbst auf die Probe gestellt wird. Im nächsten Schritt soll der Einsatz des Körpers thematisiert werden, mit dem das Objekt und Subjekt des Experiments zusammengebracht werden. Und in einem letzten Schritt möchte ich versuchen, diese experimentelle Praxis mit einer neuen Geselligkeit historisch zu kontextualisieren. Ich werde behaupten, dass mit der elektrophysioSamuel Thomas Soemmering und die Gelehrten der Goethezeit, Stuttgart/New York: Fischer 1985, S. 73-87; Strickland, Stuart Walker: Circumscribing Science: Johann Wilhelm Ritter and the Physics of Sidereal Man. Dissertationsschrift, Harvard University 1992; Strickland, Stuart Walker: »The Ideology of Self-Knowledge and the Practice of Self-Experimentation«, in: Eighteenth-Century Studies 31 (1998), S. 453-471; Strickland, Stuart Walker: »Galvanic Disciplines: The Boundaries, Objects, and Identities of Experimental Science in the Era of Romanticism«, History of Science 33 (1995), S. 449-468; Schwarzkopf, Stefan: »Experimental Body – Experimenter’s Body: Alexander von Humboldt’s ›Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser‹ (1797)«, unveröff. Manuskript, 2001. 5 | Daiber, Jürgen: »Selbstexperimentation. Von der empirisch-aufklärerischen zu einer spezifisch romantischen Versuchspraxis«, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassich-romantische Zeit 58 (1998), S. 49-68; Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes – Novalis als Experimentator an Außen- und Innenwelt, Stuttgart: Steiner 2000.
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logischen Exploration der menschlichen Reaktionsweisen im Selbstversuch zugleich die Form einer geselligen Praxis ausgelotet und erprobt wurde, die sich deutlich von der des gelehrten Salons des 18. Jahrhunderts absetzt. Die bei der Durchführung dieser Selbstversuche praktizierte innerliche Öffentlichkeit, das ist meine These, kann selbst im doppelten Sinne als soziales Experimentierfeld verstanden werden, nämlich als Versuchsfeld, auf dem experimentell eine die moderne Wissenschaft kennzeichnende Scheidung zwischen subjektiv und objektiv in der epistemologisch fragilen Konstellation des Selbstversuchs zugespitzt, überhöht und mit dem Einsatz des eigenen Körpers abgesichert wird.
1. L AUDATIO R ANAE 6 Die Selbstversuche Alexander von Humboldts haben ihre Wurzeln in der Göttinger Anatomie Mitte des 18. Jahrhunderts. Dort war es Albrecht von Haller und seinen Schülern aufgefallen,7 dass ein dekapitierter (also geköpfter) Frosch wesentliche Phänomene des Lebens zeigt. Trotz Verlust seiner Cartesianischen Schaltzentrale war der Frosch in der Lage, komplexe Bewegungsmuster auszuführen (wie etwa Hüpfen oder ähnliche). Besonders fasziniert waren die Naturforscher von der Möglichkeit, einzelne Organe des Frosches durch gezielte Provokation mit chemischen und physikalischen Reizen zu spezifischen Antworten anzuregen. Die Unterscheidung dieser beiden Eigenschaften des lebendigen Gewebes, nämlich auf einen Reiz hin erregbar zu sein und/oder mit Kontraktion zu reagieren, zählt zu den fruchtbarsten und folgenreichsten Beobachtungen dieses frühmodernen Experimentierens: Sie erlaubte eine funktionelle Klassifikation der verschiedenen Teile eines Organismus; darüber hinaus begründete sie die Annahme von spezifischen Lebenskräften, von denen man sich – vergleichbar mit Grundprinzipien der Newtonschen Physik – die Grundlegung einer Physik des Organischen versprach. Zudem trug sie dazu bei, den Fokus des medizinischen Interesses von den Säften auf die festen Bestandteile des Körpers zu verschieben, und schließlich in Form eines Reiz-Erregungsmodells auch für die praktische Medizin und therapeutische Anwendung nutzbar zu machen. Mit einem Wort: Die Reiz-Erregungsversuche hatten einen hohen Impact für die medizinische Theoriebildung und stellten zugleich ein stabiles Experimentalsystem dar, mit dem sich die Physiologie von der Anatomie zu 6 | Rothschuh, Karl E.: »Laudatio ranae exploratae«, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 57 (1973), S. 231-244; Holmes, Frederic L./Olesko, Kathryn M.: »The Images of Precision: Helmholtz and the Graphical Method in Physiology«, in: M. Norton Wise (Hg.), The Values of Precision, Princeton 1995, S. 198-221. 7 | Pera, Marcello: The Ambiguous Frog. The Galvani-Volta Controversy on Animal Electricity, Princeton: Princeton University Press 1992.
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unterscheiden begann. Weit mehr als 500 Reiz-Erregungsversuche am lebenden Frosch publizierte Haller – was einen Eindruck von dem Umfang dieser experimentellen Praxis vermitteln mag. Einen unerwarteten Aufschwung erhielt dieses Experimentalsystem, als 1780 der italienische Arzt und Anatom Luigi Galvani (1737-1798) mehr durch Zufall beobachtete, dass der Kontakt zwischen zwei Metallen einen frischpräparierten Froschmuskel zum Zucken bringt. Die systematische Evaluation dieses Phänomens elektrisierte auch die gelehrte Welt: Es schien, als habe man mit der sogenannten animalischen Elektrizität endlich das gesuchte Nervenfluidum gefunden, also jenen Stoff, der über die Nerven den Reiz vermittelt und die Kontraktion des muskulären Gewebes auslöst, jenes Elixier des Lebens, das vom zentralen Nervensystem ausgehend den Körper durchzieht und seine Tätigkeiten unterhält. Die Experimente am frisch präparierten Froschschenkel begründeten eine zweite Etappe der Reiz-Erregungsexperimente. Galvanis Beobachtungen – und vor allem seine Schlussfolgerungen – stießen auf breites Interesse. Seine Versuche wurden schnell wiederholt, abgewandelt und weiterentwickelt. Vor allem die hartnäckige Kritik des italienischen Physikers Alessandro Volta zwang zu einer beständigen Revision der ursprünglichen Versuchsanordnung. Volta hatte behauptet, Galvanis Froschschenkelpräparat sei im Prinzip nichts anderes als eine Spannungskette verschiedener Metalle – und die beobachteten elektrischen Phänomene unterschieden sich in Nichts von der mineralischen Elektrizität einer primitiven Batterie. Galvani wiederum modifizierte seine Experimentalanordnung, bis er schließlich das Muskelzucken an einem reinen Nerv-MuskelPräparat auslösen konnte – ohne Metall zwischen Nerv und Muskel.8 Sind die Muskelzuckungen mit einem physikalischen oder einem spezifisch organischen Prinzip erklärbar? Lässt sich mit den Reiz-Erregungsexperimenten eine dem Leben eigene Form elektrischen Stroms, eine animalische Elektrizität nachweisen, oder sind diese Versuche ein weiterer Schritt auf dem Weg, den physikalischen Grundlagen des Lebens auf die Spur zu kommen? Das war die Streitfrage, an der die Experimente Humboldts und anderer deutscher Naturforscher einsetzten. Zusätzliche Sprengkraft erhielten diese Versuche durch die naturphilosophischen Bemühungen, die zusammengetragenen Erkenntnisse der verschiedenen Wissensbereiche auf der Suche nach einer formalen Struktur im Hinblick auf gemeinsame »Prinzipien« zu klassifizieren und zu systematisieren. Sie sind damit Teil einer breiten Debatte über eine (wenn nicht die) zentrale Frage der Lebenswissenschaften, die sowohl theoretisch als auch praktisch auf hohem Niveau geführt wurde. Erst durch die »maschinelle Übersetzung« der Experimentalanordnung in die frühe Elektrophysiologie bei Hermann von 8 | Die Physiologie erklärt dieses Phänomen heute als Verletzungsstrom zwischen der unterschiedlichen intra- und extrazellulären Ionenkonzentration.
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Helmholtz (1821-1894), Emil du Bois-Reymond (1818-1896) und Emil Brücke (1819-1892) kam diese Experimentalanordnung zu einem formalen Abschluss.9
2. D ER V ERSUCH ALS V ERMIT TLER VON O BJEK T UND S UBJEK T Die Versuche zur Erforschung der animalischen Elektrizität führte Alexander von Humboldt neben und während seiner steilen Karriere als Bergbaufachmann zur Mitte der 1790er Jahre durch.10 In einer fast monotonen und stupiden Variation wiederholte er die Versuche Galvanis und anderer Forscher.11 Ein guter Teil seines 1796/97 publizierten zweibändigen Werkes »über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« beschäftigte sich allein mit der Frage, wie sich die bekannten Versuche systematisieren und auf ein allgemeineres Prinzip zurückführen lassen. Humboldt nahm Galvanis Konzept einer spezifischen Lebenskraft zwar auf und führte die Reiz-auslösende Elektrizität auf ein im Organismus selbst erzeugtes Phänomen zurück. Im Zuge der langen Experimentalreihen versuchte er dieses physiologische Prinzip jedoch als »vitale Chemie« dahingehend näher zu bestimmen, dass diese »eigene Kraft […] vielleicht blos durch das Zusammenwirken der, im einzelnen längst bekannten, materiellen Kräfte bewirkt« werde.12 Humboldt experimentierte wie Galvani zunächst am Frosch: Dem gehäuteten und ausgeweideten Frosch wurde fast das gesamte Rückgrat weggeschnitten, so dass die unteren Extremitäten nur über den Ischiasnerv mit den oberen Extremitäten verbunden waren. Anschließend wurde zwischen dem Nerv und der Froschschenkelmuskulatur respektive zwischen den Muskeln der oberen und unteren Muskulatur ein Kontakt hergestellt, indem verschiedene Metalle – alternativ oder in Kombination – oder organische Gewebe dazwischen ›geschaltet‹ wurden. Variiert wurde die Reizbarkeit des Nerv-Muskel-Präparates durch 9 | Du Bois-Reymond, Emil: Ueber die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Weltraetsel: zwei Vortraege, Leipzig: Veit 1882. Vgl. Dierig, Sven: Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen: Wallstein-Verlag 2006. 10 | 1792 zum Assessor ernannt, führte Humboldt innerhalb weniger Jahre aufsehenerregende Neuerungen in den preußischen Bergbau ein – von einer neuen Grubenlampe über die Gründung einer Bergschule bis hin zur Reorganisation der Abbauverfahren. 1796 schied er als Oberbergrat aus dem Staatsdienst, um sich ausschließlich seinen Forschungen widmen zu können. 11 | Viele Versuche wurden gemeinsam mit anderen Naturforschern unternommen – mit dem Bruder Wilhelm, mit dem Weimarer Geheimrat Goethe, dem jungen Ritter oder dem Jenenser Anatom Loder. 12 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, II, S. 433.
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ein vorheriges Bad in verschiedenen Salz- oder Laugenlösungen oder durch Veränderung der Umgebung (Temperatur, Luftfeuchtigkeit etc). Eine der wesentlichen Beobachtungen der Experimentalanordnung war, dass der Experimentator selbst zum Glied der galvanischen Kette wurde: Es war durchaus entscheidend, was man in der einen Hand hielt oder berührte, während man mit der anderen dem Froschschenkel nahe kam. Da mag es nur ein kleiner Schritt gewesen sein, den Körper des Experimentators gänzlich in die Versuchsanordnung einzuspannen.13 Was sind aber die Folgen, wenn der Wissenschaftler statt des Frosches Gegenstand seiner eigenen Neugier wird?14 Der Selbstversuch ist sicherlich so alt wie die Lebenswissenschaften.15 Dennoch zählt er trotz seiner Omnipräsenz aus gutem Grund heute nicht mehr zum methodischen Repertoire der Laborwissenschaften: Erstens entzieht sich der Selbstversuch jeder experimentellen 13 | Vergleichbare Versuche waren bekannt – ob in Form der »geschmacklichen« Unterscheidung von Metallen und Metallkombinationen (Lammel, Hans-Uwe: »Kielmeyer und die frühromantische Bewegung«, in: Kai Thorsten Kanz (Hg.), Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765-1844), Stuttgart: Steiner 1994, S. 211-231) oder in Form der elektrischen Reizung des Augapfels für die Hervorrufung von Lichtblitzen (Achard, Hunter, Pfaff). 14 | Kutschmann, Werner: »Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Naturwissenschaftsgeschichte aus anthropologischer Perspektive«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 14 (1991), S. 137-146. 15 | Glaser, Hugo: »Selbstversuche von Ärztinnen«, in: Die Waage (Grünenthal) 3 (1963/64), S. 219-222; Winau, Rolf: Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie im 18. Jahrhundert, Habilitationsschrift: Mainz 1971; Karger-Decker, Bernt: Ärzte im Selbstversuch. Ein Kapitel heroischer Medizin, Leipzig: Koehler & Amenland 1975; Altmann, Lawrence: Who Goes First? The Story of Self-Experimentation in Medicine, New York: Random House 1985; Decker, Natalija: »Selbstversuche in der russischen Bakteriologie des 19. Jahrhunderts«, in: Nachrichtenblatt der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 44 (1994), S. 70; Schmidt, Josef M.: »Die Selbstversuche Robert Kochs (1890) und Samuel Hahnemanns (1790) und ihre Folgen – ein kritischer Vergleich«, in: Nachrichtenblatt der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 44 (1994), S. 69; Maehle, Andreas-Holger: »Selbstversuche und subjektive Erfahrung in der Opiumforschung des 18. Jahrhundert«, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 13 (1995), S. 287297; Niels, Franke: Geheilt im Selbstversuch. Hoffnung für Millionen, München/Essen/ Ebene Reichenau: Bettendorf 1996; Solhdju, Katrin: »Self-Experience as an Epistemic Practice: William James and Gustav Theodor Fechner«, in: Katrin Solhdju (Hg.), SelfRapports. Shaping Ethical and Aesthetic Concepts 1800-2006 (Preprint, 322), Berlin: Max Planck Institute for the History of Science 2006, S. 46-58.
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Methodik, die auf eine strenge Kontrolle des Untersuchungsgegenstandes und der strikten Trennung zwischen Erhebung und Interpretation der Daten abhebt. Zweitens sind die Genauigkeit, Präzision und Gewähr der Datenerhebung im Selbstversuch von der Subjektivität eines Körpers abhängig, der gleichermaßen als Gegenstand und als Messinstrument der Versuchsanordnung fungiert. Drittens fallen im Selbstversuch schließlich Subjekt und Objekt des Versuchs zusammen, womit jene epistemologische Trennung aufgehoben wird, mit der sich der moderne Anspruch auf Objektivität wissenschaftlicher Kenntnisse legitimiert und begründet. Man könnte natürlich behaupten, den Naturforschern jener Zeit seien solche methodologischen Spitzfindigkeiten fremd gewesen. Ein Blick in die zeitgenössische Debatte zeigt jedoch, dass just zu dieser Zeit die Epistemologie des Experiments breit diskutiert wurde: Die Fragen, was ein Experiment sei und worauf sein Wahrheitsanspruch gründe, wurden einer eingehenden Reflexion unterzogen.16 Diese in der gebotenen Ausführlichkeit auszubreiten, ist hier nicht der Raum. Stellvertretend soll ein Repräsentant dieser epistemologischen Debatte herangezogen werden: Johann Wolfgang Goethe (1749-1832). Der Weimarer Architekt eines wissenschaftlichen Netzwerkes hatte zu jener Zeit sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich Gewicht. Sein kleiner, 1792 verfasster Aufsatz über den Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt verhandelte die grundsätzlichen Kautelen des Experimentierens: So zeichne sich das Experiment durch einen manipulierenden Zugriff aus, nämlich die geschickte Verwendung von Apparaten. Es unterscheide sich zudem der Versuch von der Beobachtung durch die Möglichkeit der Wiederholung. Nicht die Artifizialität der Datenerhebung, sondern deren Reproduzierbarkeit galt als Kennzeichen des Experiments. Zuguterletzt erhält das Experiment seinen Wert erst in der Serie, durch Vereinigung und Verbindung mit andern: Ist ein Versuch gemacht, »so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt [ ] Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist [ ] die eigentliche Pflicht eines Naturforschers. Er hat gerade die umgekehrte Pflicht eines Schriftstellers, der unterhalten will« – nämlich durch Wiederholungen »Langeweile [zu] erregen«.17 Damit waren wesentliche Elemente benannt, die den Versuch als Experiment im modernen Sinne charakterisieren.
16 | Lohff, Brigitte: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik: ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin, Stuttgart/New York: Gustav Fischer 1990. 17 | Goethe, Johann Wolfgang: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1793) (Goethes Werke, Sophien-Ausgabe, II.11) Weimar 1893, S. 32f. Vgl. Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2001.
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Die größte epistemologische Herausforderung war für Goethe jedoch der Beobachter oder Experimentator selbst, an den besondere Anforderungen der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung gestellt wurden: Wir werden uns erst einen »ziemlich deutlichen Begriff« von einem Gegenstand machen, wenn wir ihn »nicht unmittelbar begehren oder verabscheuen«, sondern mit »ruhige[r] Aufmerksamkeit uns […] von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen« ein nüchternes Bild machen, befand der Weimarer Naturforscher.18 Explizit wurde gefordert, dass der Naturforscher »in einer Welt, in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte achten, sich vor jeder Übertreibung hüten [ ] soll, wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst misstrauisch sein soll«.19 Zentrales Problem des Experimentierens war um 1800 folglich nicht die apparative Anordnung und das möglicherweise fragile Arrangement der Geräte, sondern die Person des Experimentators. Dessen Subjektivität war es, die für Naturforscher wie Goethe im Zentrum der methodologischen Reflexionen stand. Diese Wendung bereitete gewissermaßen jenem Ideal einer mechanischen Objektivität den Boden, die im 19. Jahrhundert mit der Genauigkeit, Präzision und Unermüdbarkeit graphischer Aufzeichnungsverfahren das Subjekt schließlich unter Generalverdacht stellte.20 Der Übergang von der Erfahrung zum Urteil sei die gefährliche Stelle, so Goethe, wo dem Experimentator »gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern: Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefasste Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsein, Veränderlichkeit« – alle liegen hier im Hinterhalte und »überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter«.21 Nicht nur am Chimborazo, so ließe sich mit Blick auf Humboldt ergänzen, sondern auch in der stillen Kammer am Labortisch lauerten Gefahren auf den mutigen Forscher. Die Subjektivität des Experimentators war somit für Zeitgenossen der entscheidende Faktor, den es bei der Durchführung von Experimenten auszuschalten galt. Auch an die Selbstversuche mit der animalischen Elektrizität stellten sich jene Fragen, mit denen das Experiment einer methodischen Selbstvergewisserung unterworfen wurde: Wie wird der wissenschaftliche Wert eines Experiments abgesichert? Unter welchen Voraussetzungen darf man subjektiven Beobachtungen trauen? Welche Aussagekraft haben experimentelle Beobach18 | Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1793), S. 22. 19 | Ebd., S. 23. 20 | Daston, Lorraine/Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations 40 (1992), S. 81-128. 21 | Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1793), S. 28.
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tungen, ja mehr noch: Welchen Wahrheitsanspruch dürfen sie stellen? Folgen wir dem galvanischen Experimentieren ins Labor.
3. D ER K ÖRPER IM V ERSUCH Betrachtet man die langen und ausgedehnten Versuchsreihen, die Alexander von Humboldt Mitte der 1790er Jahre und ihm folgend Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) weitere zehn Jahre zur Reizung der Nerven und Muskelfaser anstellten, so imponiert auf den ersten Blick der breite Zugriff: Konsequent wurde der menschliche Organismus in die galvanische Versuchsanordnung eingespannt. Jede, aber auch wirklich jede erdenkliche Stelle des eigenen Körpers wurde auf die ihr eigene Reaktionsweise hin befragt. Ob Auge, Zunge oder Handflächen: Alle Sinne wurden mit elektrischem Strom traktiert. In gleicher Weise wurde jede Öffnung des menschlichen Körpers mit dem galvanischen Element erkundet: Mund, Nase, Ohren, After und Genitalien. Keine Möglichkeit wurde verpasst, eine mit Zink oder Silber belegte Sonde in den Körper einzuführen. Selbst die Erfahrung, dass sich helle Blitze vor beiden Augen zeigten, »wenn man sich das Silber etwas tief in den After hinauf schiebt«,22 fand in den Veröffentlichungen ausreichend Erwähnung. Es wäre leicht, dieses wilde Experimentieren als spielerisches Austesten körperlicher Grenzen zu desavouieren.23 Nichts wäre falscher als das. Hinter diesen scheinbar ungerichteten Suchbewegungen stand vielmehr eine systematische Exploration. Sie war erkennbar auf die Kartierung und Ergänzung eines naturhistorischen Tableaus ausgerichtet, mit dessen Hilfe die organischen Eigenschaften der Reiz-Erregung vergleichend zusammengestellt wurden: »Eine blitzartige Erscheinung«, so Humboldt, könne beispielsweise »auf vierfache Art erregt [werden], indem man entweder beide Augen, oder die Nasenhöhle und ein Auge, oder Zunge und Auge, oder Zunge und spongiöse Substanz der Oberzähne armirt«.24 Mehr Möglichkeiten fanden die eifrigen Naturforscher trotz ihrer vielen Versuche nicht: Nur diese vier Organe in der benannten Kombination waren bei Reizung in der Lage, jenes Phänomen zu erzeugen. Ebenso systematisch wurde das jeweilige Reaktionsspektrum der einzelnen Gewebe und Organe ausgelotet. Die Erfindung der Voltaschen Säule, also die Koppelung mehrerer galvanischer Elemente durch die Schichtung von durch elektrolytgetränkte Pappen getrennten Zink und Silber- bzw. Kupferplatten, vergrößerte 22 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 334. 23 | Zur Bricolage in den laboratory sciences als Form des tinkering s. Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 24 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 308.
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das Repertoire der experimentellen Möglichkeiten und erlaubte, noch stärkere Ströme am eigenen Leib auszuprobieren. Am weitgehendsten stellte Ritter das menschliche Sensorium auf die Probe. Der junge Forscher beschrieb eingehend den Farbeindruck, wenn man das Auge in die galvanische Kette »am positiven Pole einer ziemlich starken Säule von 100, 150 oder 200 Lagen« einbringt, dann »die Hand, welche [den Kreis] schließt, recht gut mit Kochsalz- oder Salmiaklösung« befeuchtet: Man »armire sie gut mit Metall, und schließe nun zuerst bey wenig Lagen, dann fortgehend, immer bey mehreren, bis endlich die ganze Säule im Kreis ist. Anfangs habe ich das nämlich Blau, wie sonst, es nimmt immer weiter zu, je weiter ich gehe; endlich aber steht es still, trübt sich, es wird eine gemischte Farbe grüner Art daraus, doch nicht so bestimmt grün, als das vorige Licht blau war, dann entwickelt es sich zu Gelb, u.s.w. bis es endlich das herrlichste Roth und von einer Intensität ist, wie ich es bisher selbst am negativen Pole noch nie gesehen habe«. 25
In dieser Systematik weisen die galvanischen Selbstversuche die typischen Merkmale einer bricolage auf: Ob es ein gezogener Backenzahn war, in dessen Wurzelhöhle sich Humboldt einen Silberdraht versenkte, oder ob es eine zufällige Verletzung durch einen schweren Sturz war, bei dem die Haut am Handgelenk über den Gefäßen freigelegt wurde – umgehend wurden die offenen Stellen mit Metall belegt und daran experimentiert.26 Sowohl der manipulative Zugriff der Experimentalanordnung als auch die manchmal ermüdende Serialität der Versuche kennzeichnen die galvanischen Selbstversuche als modernes Experiment. Methodische Reflexionen über den prekären epistemologischen Status finden sich hingegen kaum – und zwar weder bei Humboldt, noch bei Ritter oder einem der anderen frühromantischen Naturforscher. Präziser: Explizite Überlegungen finden sich nicht. Natürlich gibt es zahlreiche Hinweise auf die methodischen Schwierigkeiten des Selbstversuchs. Diese reichen vom Verweis auf die Wiederholung der Versuche vor »erfahrenen, alle Nebenumstände sorgsam prüfenden Zeugen«27 bis hin zu dezidierten Handlungsanweisungen, in denen der problematische Status des Untersuchungsobjekts zumindest aufscheint. So stellte Humboldt fest, dass »die Art, wie ich diese Versuche angestellt habe, mich, wie ich mir schmeichle, vor dem Verdachte der Selbsttäuschung […] vollkommen sichern« müsse.28 An anderer Stellte wurde sehr deutlich artikuliert, dass für den Erfolg des Experiments entscheidend sei, dass 25 | Ritter, Johann Wilhelm: »Neue Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus. Zweiter Brief«, in: Annalen der Physik 19/1 (1805), S. 1-44, hier S. 6-7. 26 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 323. 27 | Ebd., I, S. 13. 28 | Ebd., I, S. 219.
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»die leidende Person dem Galvanisiren nicht selbst zusehe. Annäherung der Metalle, Vorrichtungen zum Versuche, spannen die Phantasie, setzen innere Reize in Thätigkeit, welche das Urtheil über die Wirkung äußerer Reize unsicher machen«.29 Die Versuche am eigenen Körper konstituierten ein Paradox der experimentellen Praxis: Einerseits wurde der eigene Körper in vielen dieser Versuchsreihen im wahrsten Sinne des Wortes zum Objekt gemacht. Bei Humboldt mutierte der Körper des Wissenschaftlers quasi zur Arbeitsgrundlage des galvanischen Experiments: Schultern und Rückenmuskeln »bieten eine große, ebene und bequeme Fläche dar auf welcher man die Metalle sicher appliciren (und wenn der Körper waagrecht liegt) Stunden lang, wie auf einem Tische, ruhig experimentiren kann«.30 Andererseits wurde alles unternommen, um die Subjektivität dieses Körpers zu erhalten. Der Wissenschaftler sollte nicht müde sein, durfte nicht erschöpft werden oder von den drohenden Schmerzen eingenommen werden (hierzu unten mehr). Der Grund für diese besondere Vorsicht lag wesentlich in der besonderen Anlage des Selbstversuchs begründet. Ein Beispiel vermittelt die folgende Beschreibung einer elektrischen Reizung: »Es ist ein Schmerz sui generis, der nicht das knipsend-stechende, abgesetzte, durchdringende hat, was das elektrische Fluidum erwecket«.31 Allein die präzise Beschreibung der besonderen Schmerzqualitäten unterschied jene Empfindung, die das Metall durch seine physische Präsenz in der bloßen Wunde erzeugt, von dem »Ausströmen« des elektrischen Fluidums. Die Sensibilität des Körpers avancierte zum entscheidenden Kriterium, um die Eignung des Versuchsobjekts und zugleich die Lauterkeit des Experimentators zu beurteilen: »Bis zum Abstumpfen meiner gereizten Nerven durch fortgesetzte Stimulation habe ich es nie bringen können. Wenn das Galvanisieren auch über ¾ Stunden lang wiederholt wurde, so blieb der Schmerz doch immer noch im Zunehmen«.32 Der Schmerz war folglich konstitutiv für diese Experimentalanordnung – allerdings in einer anderen Weise, als man vielleicht auf den ersten Blick vermuten mag. Es ging beileibe nicht um das Austesten physischer Grenzen, um eine Erprobung der körperlichen Duldungs- und Leistungsfähigkeit. Nicht das heroische Ertragen des Schmerzes zeichnete den wissenschaftlich guten Experimentator aus, sondern eine objektive Empfindsamkeit. Allein sie sicherte die Wissenschaftlichkeit der Experimente ab und stand für das verantwortliche und gewissenhafte Handeln des Experimentators ein. Der Schmerz war gewissermaßen Indikator für die Funktionsfähigkeit des Experimentalsystems und garantierte die Empfindlichkeit der Messapparatur. Erst in der schmerzhaften 29 | Ebd., I, S. 326. 30 | Ebd. 31 | Ebd., I, S. 329. 32 | Ebd., I, S. 318.
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Kombination stellte der Experimentator die Einhaltung der Kautelen sicher, unter denen der galvanische Selbstversuch objektive und wahre Resultate lieferte. Man könnte fast von dem zweifachen Körper des Naturforschers sprechen, der in seiner physischen Präsenz und intellektuellen Repräsentation den galvanischen Selbstversuch konstituierte.33 Wie Alexander von Humboldt feststellte, war er »vielleicht mehr als irgendeiner im Stande die Empfindung zu schildern, welche diese Art der Reizung in entblössten Teilen hervorlocket. Schmerzhaft ist sie allerdings zu nennen, und um so schmerzhafter, je erregbarer der Theil ist, welcher galvanisirt wird.«34 Die Leidensfähigkeit, die für den Experimentator nötig war, um sich selbst ein geeignetes Objekt zu sein, bringen die ausführlichen Darstellungen der Versuchsberichte bei Humboldt oder Ritter zur Genüge zum Ausdruck. Es wäre naheliegend, das Ertragen dieser Schmerzen als weitere Form eines Männlichkeitsrituals zu brandmarken, nämlich als typisch männliches Rollenverhalten, bei dem die Naturforscher ihren Mut in immer verwegeneren Versuchsanordnungen unter Beweis stellten. In der Tat: Wer hätte das Leiden des jungen Ritters überbieten wollen? Wer hätte gleich dem unerschrockenen Physiker seinen Körper beständig steigenden Stromstärken immer größerer Volta-Säulen ausgesetzt? Und wer wäre in der Lage gewesen, diese selbstzerstörerischen Versuche mit der gleichen Konsequenz nachzuahmen oder gar zu wiederholen? Es wäre aber vorschnell, diese auf den ersten Blick merkwürdigen Körperpraktiken unter das Klischee eines Männlichkeitsrituals zu subsumieren. Wie bereits angedeutet, war es nicht das Negieren von Schmerzen, sondern im Gegenteil die besondere Empfindlich- und Empfänglichkeit, was die beteiligten Forscher in den Mittelpunkt ihrer Versuchsanordnung stellten. Das galvanische Selbstexperiment replizierte und negierte damit gleichermaßen jene Kultur der Empfindsamkeit, die in der reichen Briefkorrespondenz ebenso wie in den literarischen Ausdeutungen der Zeit eine zentrale Rolle spielte. Indem man die ›Stimme des Körpers‹ in eine laborexperimentelle Anordnung überführte, wurde ihre Subjektivität instrumentalisiert und verobjektiviert. Die Eignung als galvanisches Versuchsobjekt korrespondierte bei Alexander von Humboldt, dem jungen Christoph Heinrich Pfaff (1773-1852) oder Johann Wilhelm Ritter mit einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die Bedeutung der Subjektivität, mit deren Hilfe die Gefühle und Regungen der eigenen Befindlichkeit ebenso ausgelotet wurden wie in den emphatischen Freundschaftsbeziehungen der jun33 | Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton: Princeton University Press 1997. Vgl. die Zweiheit des Ich (als ›je‹ und ›moi‹) in Foucaults Lesart von Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, die ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts entstand, im Beitrag von Ute Frietsch im vorliegenden Band. 34 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 329.
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gen Naturforscher. Die Sensibilität des eigenen Körpers lag in doppelter Weise sowohl der Experimentalkultur des galvanischen Selbstversuches als auch dem sozialen Netzwerk der Frühromantik zugrunde.
4. DAS ICH ALS E XPERIMENT Mir erscheint es aus drei Gründen als notwendig, den galvanischen Selbstversuch mit dem naturphilosophischen Diskurs der Frühromantik eng zu führen: Erstens wurden die meisten Experimente nicht alleine durchgeführt. Sie waren vielmehr in eine soziale oder gesellschaftliche Praxis eingebunden, die für die frühromantische Bewegung charakteristisch war. Zweitens nahm die experimentelle Anordnung des Selbstversuches eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt des Experimentators vor, die in dieser Form auch in anderen Diskursen der Zeit thematisiert wurde. Drittens ist weitergehend zu überlegen, wieweit dieses Experimentieren damit nicht Element einer umfassenden Erprobung jener neuen Form bürgerlicher Geselligkeit darstellte, die dem romantischen Symphilosophieren erwuchs. Selbstversuche werden gewöhnlich allein in der einsamen Experimentierstube durchgeführt: Der Experimentator und sein Versuch sind sich genug. Das lässt sich von den galvanischen Selbstversuchen nicht sagen. Auch wenn dieser Umstand in vielen Versuchsbeschreibungen nur beiläufig erwähnt wird, so wurde meist doch eine dritte oder vierte Hand gebraucht. Ein Helfer setzte die Elektroden auf die offenen Hautstellen am Rücken, während der Experimentator geduldig wartend auf dem Bauch lag. Nur ausnahmsweise erfährt man den Namen dessen, der den Versuch eigentlich durchführte, aber als Ersatz des Experimentators anonym blieb. Dies ist erstaunlich, da die systematische Trennung zwischen einem menschlichen Messgerät und Untersuchungsobjekt einerseits und der Person des manipulierenden Experimentators andererseits einigen methodologischen Problemen aus dem Wege gegangen wäre. Stattdessen wird lediglich mitgeteilt, dass bei allen Versuchen sorgsam prüfende Zeugen zugegen waren. Neben den anonymen Helfern waren weitere Teilnehmer in die Versuche involviert (nicht nur als Zeugen). Die Liste, die sich bei Durchsicht der publizierten Versuchsberichte zusammentragen lässt, ist beachtlich. Sie reicht im Falle der Humboldtschen Selbstversuche vom Bruder Wilhelm über den wissenschaftlichen Freundeskreis bis hin zu gesellschaftlichen Förderern und Patrons, die – insbesondere im Falle von Ritter – die experimentelle Praxis und den täglichen Lebensunterhalt finanzierten. Die Selbstversuche fanden in Freiheit, nicht aber in Einsamkeit statt.35 Ganze »Gesellschaften haben sich zusammengethan«, wie 35 | Schubring, Gert (Hg.): ›Einsamkeit und Freiheit‹ neu besichtigt: Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa
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Humboldt schrieb, wenn »ich experimentirt habe«.36 Als Gastgeber fungierten der Leibarzt Gottlieb Selle (1748-1800), der Berliner Aufklärer und Experimentator Marcus Herz (1747-1803), der Apotheker und Chemiker Friedrich Hermbstedt (1760-1833) oder der Naturforscher Heinrich Klaproth (1743-1817), also die etablierte scientific community Preußens. Mit Marcus Herz benannte Humboldt auch den Berliner Repräsentanten der Salonkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts – und markierte zugleich die Unterscheidung, die dessen Salon einer alten Gelehrsamkeit von einer neuen Geselligkeit trennte: Während Marcus im Salon seine berühmten Experimentalvorlesungen hielt, nahm Humboldt an der schöngeistigen Gesellschaft Teil, deren Mittelpunkt Herzens Frau Henriette bildete. Dort reichte man sich die Hände zu einer Gemeinschaft neuer Art. Oft ließen sich galvanische Effekte nur beobachten, wenn »eines der Glieder aus der Kette heraustrat« und damit den neuen Unterschied »zwischen Galvanischen und Ungalvanischen Menschen« evident machte.37 Auch bei Ritter finden sich Anklänge einer alten Salonkultur, wenn ihn der Herzog von Gotha gegen Kost und Logis zum intellektuellen Mittelpunkt seiner Abendveranstaltungen erhob. Doch viele Berichte artikulieren einen anderen geselligen Umgang: So gestand Ritter seinem Freund und Verleger, dass selbst der »Geheime Rath von Thümmel […] jetzt mit [ihm] galvanisiert. Er hat sich eine schöne Batterie machen lassen und experimentiert mit in der That mehr Sinn und Geist, als man von einem solchen Geschäftsmann erwarten würde«.38 Es ist überhaupt erstaunlich, wer mit wem bei welcher Gelegenheit galvanisierte: Da experimentierte Alexander mit seinem Bruder gemeinschaftlich mit Geheimrat Goethe,39 dann wurden auf der Geburtstagsgesellschaft zwischen zwei Tagen Feier »sehr fleißig«, wie Humboldt seinem Jugendfreund berichtete, Versuche gemacht,40 und schließlich traf man sich mit Ritter zum gemeinsamen Galvanisieren in Jena: »Ich habe jetzt die Freude, dass hier in des 19. Jahrhunderts; proceedings of the Symposium of the 18th International Congress of History of Science at Hamburg-Munich, 1-9 August 1989, Stuttgart: Steiner 1991. 36 | Alexander von Humboldt an Samuel Thomas von Soemmering, 9. April 1796, in: Jahn, Ilse/Lange, Fritz G. (Hg.): Die Jugendbriefe von Alexander von Humboldt, 17871799, Berlin: Akademie-Verlag 1973, S. 504. 37 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 158f., vgl. hier die Briefe an Henriette Herz, I. Jahn/F. G. Lange (Hg.): Die Jugendbriefe von Alexander von Humboldt, 1787-1799. 38 | Schreiben Ritters an Fromann vom 19. Februar 1802, Briefe, S. 129. 39 | I. Jahn/F. G. Lange (Hg.): Die Jugendbriefe von Alexander von Humboldt, 17871799, S. 76. 40 | Schreiben Alexander von Humboldts an Carl Freiesleben vom 14. Dezember 1795, ebd., S. 473-475.
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Jena sehr viele Menschen mit meinen Versuchen über Stimmung der Lebenskraft durch chem[ische] Mittel, über das Geben und Vernichten der Reizbarkeit, mit Glükke beschäftigt sind.«41 Ritter wiederum brachte seine »Braut«, wie er die Voltasche Säule gelegentlich selbst ironisch nannte, mit zu den Versammlungen der »ganzen Kirche«, wie Dorothea Veit den Kreis in der Schlegelschen Wohnung charakterisierte.42 Das gegenseitige Anlegen galvanischer Elemente bildete die Praxis einer neuen Form sozialer Interaktion. Bei seiner Durchreise durch Leipzig traf Humboldt, »Herrn Fischer, de[n] vortrefflichen Beschreiber der Schwimmblase«. Mit ihm zergliederte er »den Cyprinus carpio« und statt der gelehrten Unterhaltung beim Bier oder Weine wurde flugs der Sehnerv des Karpfens mit Silber »armirt«.43 Diese Form des gemeinschaftlichen Experimentierens unterscheidet sich durch die aktive Teilnahme der Anwesenden deutlich von der traditionellen Form der gelehrten Demonstration. Mehr noch: Sie band alle Anwesenden in eine große galvanische Kette ein. Hierzu zählte der oben beschriebene Versuch eines Kreises von 12 bis 14 Personen, die Hände reichend eine lange Kette organischer Leiter bildeten. Aber es gab auch diffizilere Versuche, in denen der galvanische Strom neue Formen geselliger Bindungen schuf: »Die rechte Wunde mit Silber, die linke mit Zink belegt, beide Metalle mit einem Eisendraht berührt, den 1 Mensch unter die Zunge, ein anderer an die […] Zähne anlegte, fühlte ich ein heftiges Brennen an der Schulter, […] der eine Mensch sah Licht, und der andere schmekte die Säure«.44 Hier werden nicht nur Versuchsobjekt und Experimentator eins. Der performative Akt der Wissensproduktion hob die Trennung zwischen Zuschauer, Versuchsobjekt und Versuchsleiter vollständig auf. Diese Form des gemeinschaftlichen Experimentierens lässt sich mit jenem geselligen Umgang vergleichen, der als Symphilosophieren bekannt geworden ist. Diese von herkömmlichen Formen unberührte Gemeinschaftlichkeit galt den Freundeskreisen um die Schlegel-Brüder sowie Stephan August Winkelmann, Ritter oder Friedrich Carl von Savigny als Weg zu einer allgemeinen und absoluten Wahrheit.45 Beim Symphilosophieren bildete das gesprochene 41 | Schreiben Alexander von Humboldts an Carl Freiesleben vom 18. April 1797, ebd., S. 573. 42 | Ritter, Johann Wilhelm: Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie, in: Herrmann Berg/Klaus Richter (Hg.), Ritters Leben und Werk (= Ostwalds Klassiker, 271), Thun: Verlag Harri Deutsch 1986, S. 6-40, hier S. 17. 43 | Humboldt: Versuche uber die gereizte Muskel- und Nervenfaser, I, S. 315. 44 | Humboldt: Circular an Professores Herz, Hermbstadt, Klaproth, in: I. Jahn/F. G. Lange (Hg.): Die Jugendbriefe von Alexander von Humboldt, 1787-1799, S. 471. 45 | Lammel, Hans-Uwe: »Stephan August Winkelmann e il movimento romantico«, in: Anali – Sez. Germanica, Nuova serie III/3 (1993), S. 71-93.
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Wort den archimedischen Punkt, über den in tiefer Freundschaft der Einzelne lernte, den anderen wahrzunehmen wie sich selbst. Das gemeinschaftliche Experimentieren schuf über die galvanische Verkettung die Grundlage für eine gedoppelte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Wenn das frühromantische Symphilosophieren als Erprobung einer bislang unbekannten Umgangsweise bürgerlicher Geselligkeit verstanden wird, dann sollte der galvanische Selbstversuch erst recht als eben solches Experimentierfeld verstanden werden. Aber wie lässt sich diese Form geselligen Experimentierens charakterisieren? Erstens gab sie dem Begriff der Wechselwirkung eine neue Bedeutung. Gerade die zeitgenössischen Überlegungen zu den Möglichkeiten geselligen Verhaltens verwiesen auf eine Analogie, die den Einsatz »kommunikativer Medien« betrifft. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) benannte drei Modi, die auch das experimentelle Setting charakterisieren. So kenne Geselligkeit weder passive Zeugen noch die Unterscheidung zwischen einem tätigen Subjekt und einem unterworfenen Objekt: Erstens solle »alles […] in Wechselwirkung seyn«, zweitens sollen »alle […] zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden«, und drittens entstünde der Charakter der Geselligkeit aus dem »Wirken jedes einzelnen Mitglieds«.46 Die Form der geselligen Wechselwirkung galt als Bedingung jener »Selbstbildung«, die den Kern eines bürgerlichen Bildungsideals darstellt. So habe, wie Gaus postuliert, die romantische Geselligkeit mit einer Form der wechselseitigen Abhängigkeit in Verbindung mit einer erkenntniskritischen Selbstrelativierung experimentiert.47 Nicht die Gewinnung von Erkenntnissen, sondern der Vorgang selbst in der ihm eigenen Prozessualität in einer SubjektObjekt-Relation (im Sinne von »Ich erkläre Dir die Welt«) und einer SubjektSubjekt-Relation (»Du und ich, wir erleben die Welt«) stand im Mittelpunkt der neuen Geselligkeit. Aus dieser Perspektive schien die Figuration des galvanischen Selbstexperiments das Grundproblem eines idealistischen Identitätsbegriffs zu verwirklichen: Das Ich ist eine im Experiment vermittelte Kategorie, die zugleich die Nicht-Teilbarkeit der konstituierenden Bestandteile dieses Ichs deutlich macht. Die romantische Zerstückelung oder Pluralisierung des Ichs fand gewissermaßen in der Vervielfältigung des Experimentators als Ich und Nicht-Ich des Versuchs seine performative Entsprechung. Ohne Frage muss diese Parallelisierung zwischen einer Gesellschafts- und Experimentalkultur noch systematisch, d.h. auf biographischer, historischer und epistemologischer Ebene, untermauert werden. Eines jedoch ist klar: Den geselligen Selbstversuch mit einem öffentlichen Raum (gleich einem Hörsaal) gleichzusetzen, würde den bewussten Bruch mit bestehenden gesellschaftli46 | Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Entwürfe, Berlin: De Gruyter 1980-2005, Bd. 1.2, S. 168 47 | Gaus, Detlef: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 84.
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chen Konventionen ignorieren, der das Symphilosophieren als innige Freundschaft und wechselseitig vermittelten Erkenntnisgewinn charakterisierte. Ihn hingegen als privates Unternehmen zu begreifen, würde das soziale Element der wissenschaftlichen Vergesellschaftung der Unternehmungen unterschätzen, das sie in den Bereich des Öffentlichen rückt. Daher plädiere ich dafür, den experimentellen Charakter dieser Veranstaltung nicht nur auf das gegenseitige Anlegen galvanischer Elemente zu reduzieren. Vielmehr scheint der fragile und zugleich passagere Raum des galvanischen Selbstexperimentes ein Versuch im größeren Maßstab zu sein, bei dem es auch um das Ausprobieren der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den an diesem Versuch Beteiligten ging. Auf der Probe stand dabei auch der Körper in einer objektiven Empfindsamkeit, die sich als Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung verstand und das Ideal einer bürgerlichen Selbstbildung realisierte.
5. C ONCLUSIO Abschließend möchte ich versuchen, einige allgemeinere Aspekte herauszuheben, um die Eigenart oder den besonderen epistemologischen Status des Selbstversuchs im Labor zu beschreiben: Dem explorativen Charakter der galvanischen Selbstversuche entsprach der Einsatz des eigenen Körpers. Der Körper des Wissenschaftlers fungierte als multimodales Instrument, das im Gegensatz zu den späteren den Galvanometern und anderen Apparaturen der Elektrophysiologie weit mehr »Kanäle« bereit stellte. Zugleich wurde das unbekannte Reich der innerlichen Reaktionen exploriert: In gleicher Weise, wie der Amerikareisende die bekannten Grenzen der geographischen Welt auf seinen Expeditionen überschritt, wurde über den Weg des Selbstversuchs die physische Subjektivität in die Exploration unbekannter Lebenskräfte eingebracht und durch die Objektivität dieses Körpers abgesichert. Die galvanischen Selbstversuche figurierten dabei ein neues Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Versuchs. Der Humboldtsche Experimentator war kein Souverän seines Versuchs. Ganz im Gegenteil wurde die prekäre epistemologische Figuration des Selbstversuchs durch die Schwäche des Subjekts stabilisiert. Es war die Leidensfähigkeit und die Subjektivität des Versuchsobjekts, die das Experiment produktiv werden ließen. Das unterscheidet die romantischen Experimente von der bekannten Rhetorik des heldenhaften Selbstversuchs. Der romantische Experimentator war nicht heroisch, sondern erfuhr erst in der Unterordnung die Kontrolle über das Experiment. Der Selbstversuch war zudem auch ein soziales Experiment, in dem ein bürgerliches Rollenverständnis und geselliger Umgang eingeübt wurden. Dass auf diesem Experimentierfeld Geschlechtsvorstellungen verhandelt wurden, die
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ebenso in soziale Praxen eingeschrieben wurden wie in die Epistemologie der wissenschaftlichen Objektivität und in die Methodik des Experimentierens, lag nicht daran, dass es Männer waren, die ihren Körper als Labortisch zur Verfügung stellten. Vielmehr wurde im Selbstversuch ein Umgang mit dem Körper erprobt, Disziplin als Element des gesellschaftlichen Fortschritts verkörpert, zugleich eine Form der sozialen Geselligkeit erfahren und nicht zuletzt ein bürgerliches Selbstverständnis eingeübt, die im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der zunehmenden Trennung zwischen öffentlich und privat schließlich als männlich verstanden werden sollten. Die Selbstexperimente stellen gewissermaßen die praktische Seite einer theoretischen und philosophischen Reflektion über den Status eines männlichen Selbst in einer entstehenden bürgerlichen Gesellschaft dar. In diesem Sinne war der galvanische Selbstversuch in seiner romantischen Variante auch das Experimentierfeld einer neuen Geschlechterordnung.
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Zur Spezifität von Diskursen Die Rede von Identität in Sozialwissenschaften und sozialen Bewegungen Ingrid Jungwirth
In der »Archäologie des Wissens« postuliert Foucault, dass die Reproduktion von Wissen in Diskontinuitäten erfolge. Foucault grenzt seine archäologische Untersuchung von der Ideengeschichte ab, die Kontinuitäten über historische Transformationen hinweg konstruiere: Gegen diese Homogenisierung von Wissen zugunsten einer einheitlichen Entwicklung setzt Foucault die »Archäologie«. Brüche verweisen demnach auf Änderungen, die es nicht unsichtbar zu machen, sondern zu begreifen gilt. Foucaults »Archäologie« hat sich trotz gegenteiliger Auffassungen kaum als diskursanalytisches Instrumentarium durchgesetzt. Es gibt insbesondere in den Sozialwissenschaften Ansätze, die als besser umsetzbar gelten.1 Ich werde im Folgenden am Beispiel des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses aufzeigen, dass eine Analyse der Reproduktion von Diskursen in und durch Diskontinuitäten entsprechend der »Archäologie« es allerdings ermöglicht, die Spezifität von Diskursen zu rekonstruieren, indem die Entstehung von Wissen entsprechend von »Schwellen« analysiert wird. Die Rede von Identität eignet sich besonders gut, um vereinheitlichende Wirkungen von Diskursen zu rekonstruieren. Ein Ergebnis von solchen Homogenisierungen ist, dass andere Zusammenhänge unsichtbar gemacht werden. 1 | Besonders Siegfried Jägers Ansatz wird oft verwendet, vgl. Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg: DISS-Studien 1991; ders.: »Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse«, in: Rainer Keller/Andreas Hirseland et al. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 81-112; vgl. auch die anderen Beiträge in: R. Keller et al. (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse.
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Zielsetzung von Diskursanalysen ist es, eben diese vereinheitlichenden Wirkungen aufzuzeigen. Allerdings ist es irreführend, wenn die vereinheitlichende Wirkungsweise von Diskursen auf die Konzeption des Diskurses selbst übertragen wird. Denn die Transformationsfähigkeit von Diskursen ist ein Grund dafür, dass sie über längere Zeiträume hinweg wirkungsmächtig sind. Sie können gerade dadurch reproduziert werden, dass sie eben nicht einheitlich und ein für allemal festgelegt sind. Unter der »Rede von Identität« verstehe ich einen Diskurs, der dazu beiträgt, dass die Aussage »die Frage der Identität ist unausweichlich« »akzeptabel« wird.2 Mit anderen Worten ist es ein Ergebnis eines Diskurses und seiner Machtwirkungen, wenn uns die Aussage »die Frage der Identität ist unausweichlich« als »wahr« erscheint. Diese Analyse möchte ich gegen die Annahme einbringen, die »Frage der Identität« sei eine anthropologische Notwendigkeit, wie sie in manchen sozialen Theorien vertreten wird.3 Diese Auffassung wurde (und wird) auch in den Neuen Sozialen Bewegungen oft vertreten, um die Legitimität der politischen Forderungen nach gleichen Rechten zu begründen. So berechtigt die Forderungen nach gleichen Rechten unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Religion, Sexualität, Rassenkonstruktionen (um nur einige Zuschreibungen zu nennen) zweifelsohne sind, hatte Identitätspolitik allerdings auch einige unbeabsichtigte Folgen, so etwa den Ausschluss von ebenso berechtigten Forderungen anderer sozialer Gruppen oder auch die Selbstzuschreibung eines Ursprungs, die gerade überwunden werden sollte. Insofern ist die Behauptung, die »Frage der Identität« sei anthropologisch begründet, möglicherweise dem emanzipativen Anliegen eher abträglich. Aktuell ist diese kritische Perspektive auf die Rede von Identität wieder und immer noch angebracht. In manchen neueren Ansätzen, wie etwa dem theore2 | Foucault definiert »Wissen« als Bezeichnung für »alle Erkenntnisverfahren und -wirkungen […], die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind«. Foucault, Michel: Was ist Kritik, Berlin: Merve 1992, S. 32ff. 3 | Vgl. zu dieser Analyse: Jungwirth, Ingrid: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften. Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman, Bielefeld: transcript 2007 und Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt 2000. Zu den aktuelleren Vertretern dieser Position gehören z.B. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation. Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, und Honneth in: Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, zu den früheren z.B. Habermas, Jürgen: »Moralentwicklung und Ich-Identität«, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 63-91, und »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?«, ebd., S. 92-126.
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tischen Ansatz der Intersektionalität, wird die Analyse von Identitätskonstruktionen oft unproblematisiert aufgegriffen.4 Darüber hinaus wird oft nicht unterschieden zwischen Alltagshandeln und dem Agieren politischer Bewegungen und ihrer Organisationen. Es soll hier nicht die Legitimität von Solidaritäten oder Gemeinschaftsbildungen in Frage gestellt werden. Es soll auch nicht bestritten werden, dass die Schaffung von Zugehörigkeiten und Solidaritäten (und möglicherweise damit einhergehende Abgrenzungen) für manche soziale Akteure auch in ihrem Alltagshandeln eine Bedeutung haben mag. Allerdings ist damit noch nicht eine sozialtheoretische Begründung für die Bedeutung oder gar anthropologische Notwendigkeit von Identitätskonstruktionen gegeben. Aktuell wird auch in der gemeinsamen Debatte von Nancy Fraser und Axel Honneth um »Umverteilung oder Anerkennung?« der Topos von Identitätsfragen als anthropologischer Konstante erneuert. Axel Honneth vertritt darin die Auffassung, dass die Anerkennung von »Identitätsansprüchen« allgemein von Subjekten »an die gesellschaftliche Ordnung« gerichtet würde und den Kern jeglicher sozialer Unzufriedenheit darstelle. Nancy Fraser weist diese Annahme
4 | Dies ist z.B. bei Winker/Degele der Fall, die postulieren, Identitätskonstruktionen seien zentral. Die Begründung, dass in der Spätmoderne mit ihren Unsicherheiten verstärkt auf »traditionelle und/oder neuartige Differenzierungslinien« zur »Abgrenzung von Anderen« zurückgegriffen werde, ist allerdings eher eine Hypothese, die es zu untersuchen gilt. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript 2009: S. 59ff. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass der Rückgriff sozialer Akteur/-innen auf Differenzen nicht ohne weiteres mit einer Abgrenzung oder gar mit Identitäts konstruktionen gleichzusetzen ist. Yuval-Davies, und im Anschluss daran Lutz, machen Identitätskonstruktionen zu einer der Analysedimensionen von Intersektionalitätsanalysen. Yuval-Davis, Nira: »Intersectionality and Feminist Politics«, in: European Journal of Women’s Studies 13 (2006), S. 193-209. Lutz, Helma: »›Die 24-Stunden-Polin‹ – Eine intersektionelle Analyse transnationaler Dienstleistungen«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 210-234. Yuval-Davies weist allerdings als einzige auf die Problematik hin, politische Zielsetzungen von Identitätspolitiken auf die sozialanalytische Ebene zu übertragen. Sind schon auf der politischen Ebene die Vereinheitlichungen von Identitätsbehauptungen nicht ohne die oben genannten Schwierigkeiten zu haben, können solche Homogenisierungen auf der analytischen Ebene einen Erkenntnisgewinn eher behindern, wenn nicht sogar verhindern. Vgl. zu dieser Kritik auch Lenz, Ilse: »Power People, Working People, Shadow People. Gender, Migration, Class and Practices of (In)Equality«, in: dies./Charlotte Ullrich et al. (Hg), Gender Orders Unbound? Globalisation, Restructuring and Reciprocity, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich 2007, S. 99-119.
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als ahistorisch zurück.5 Frasers Analyse unterstützt die hier entfaltete Analyse eines Identitätsdiskurses versus »Frage der Identität« als anthropologische Notwendigkeit insofern, als sie aufzeigt, dass mit den Neuen Sozialen Bewegungen Politiken der Anerkennung bzw. Identitätspolitiken in den Vordergrund getreten seien, wodurch sie sie als historisch spezifische Phänomene ausweist. Es gibt demnach aktuell genug Anlässe, die Annahme, die »Frage der Identität« sei »unausweichlich« als Diskurs zu rekonstruieren, der historisch verortet ist und unterschiedlich geformt sein kann. Foucaults Schwellen des Wissens, die in der »Archäologie« entworfen wurden, sind für diese Analyse insofern weiterführend, als so gezeigt werden kann, dass es eine spezifische Formation des sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurses ist, die Wahrheitswirkungen entfaltete. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren mit der Formierung des Identitätsdiskurses auf der »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« die Identitätsfrage als »unausweichlich« hervorgebracht wurde. Sie hat also ihren historischen und geographischen Ort innerhalb von spezifischen disziplinengeschichtlichen und sozialpolitischen Entwicklungen.
F OUCAULTS D ISKURSBEGRIFF Folgende Prinzipien der Archäologie möchte ich für eine diskursanalytische Untersuchung herausstellen. Es geht erstens darum, die Regeln zu rekonstruieren, die die Praktiken eines Diskurses bestimmen.6 Im Unterschied zu anderen wissenschaftstheoretischen Modellen, etwa Kuhns oder Bachelards, zeigt die Analyse von Diskursen und deren Schwellen, also von Diskontinuitäten, nicht den Fortschritt von Wissenschaftlichkeit oder von Rationalität auf, sondern benennt die Regeln, nach denen ein Diskurs funktioniert.7 Zweitens 5 | A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 154ff.; N. Fraser: ebd., S. 232ff. In einem jüngeren Text erneuerte Fraser ihre Analyse und begründet darin ihre Kritik an der Frauenbewegung. Deren Orientierung an Identitätspolitik sei mit einer Ausblendung von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit einhergegangen und habe auf diese Weise auch einer »Legitimation eines strukturellen Umbaus der kapitalistischen Gesellschaft« gedient. Fraser, Nancy: »Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8 (2009), S. 43-57, hier S. 44. 6 | Foucault definiert Diskurse »als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken«. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 198. Die Diskursanalyse muss demnach diese Regeln rekonstruieren. 7 | Kammler, Clemens: Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks, Bonn: Bouvier 1986, S. 113ff.
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gilt es, die Spezifität von Diskursen zu untersuchen, indem von der Beschreibung von Diskontinuitäten ausgegangen wird. Allerdings geht es um die Beschreibung von mehreren »Transformationstypen«, etwa den Elementen eines Formationssystems sowie deren gegenseitigen Beziehungen und Formationsregeln, so Foucault.8 Drittens bezieht sich die Diskursanalyse nicht ausschließlich auf bestimmte Werke, sondern auf diskursive Praktiken, die die Entstehung eines Werks ermöglichen. Nicht zuletzt kann die Diskursanalyse viertens auch zur »regulierte[n] Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist« beitragen.9 Mit anderen Worten, mit der Diskursanalyse verbindet sich explizit der Anspruch auf eine Veränderung von Diskursen, indem auf der Ebene des Gesagten eingegriffen wird. In der »Archäologie« definiert Foucault Elemente, die für die Diskursanalyse von Bedeutung sind. Dazu gehört etwa die »Aussage«, die den Diskurs oder die diskursive Formation konstituiert.10 Als diskursive Praxis definiert Foucault die historisch verorteten Formationsregeln für Aussagen.11 Mit dem Begriff der »diskursiven Praxis« verbindet er die Forderung, Diskurse »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«.12 Diskursive Praktiken werden in diskursiven Beziehungen konstituiert. Außerdem verweist der Begriff »diskursive Praxis« auf die Produktivität von Diskursen. Bublitz zufolge fungieren Diskurse als »Ordnungsfunktionen«, indem sie als »Instrumente gesellschaftlicher Differenzierungen« die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse bedingen. Dabei ist sowohl der dynamische als auch der statische Charakter von Diskursformationen zu betonen.13 Auch der Begriff der »Problematisierung«, den Foucault in »Der Gebrauch der Lüste« aufbringt, bezieht sich auf die Produktivität von Diskursen.14 Der Begriff der Problematisierung ist geeignet, als Auseinandersetzungen zu begreifen 8 | M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 245. 9 | Vgl. ebd., S. 200. 10 | Diskursive Formation bzw. Diskurs wird von Foucault als »eine Menge von Aussagen, die dem gleichen Formationssystem zugehören«, definiert, vgl. ebd., S. 156. 11 | Vgl. ebd., S. 171. 12 | Vgl. ebd., S. 74. 13 | Bublitz, Hannelore: »Diskursanalyse – (k)ein Mythos? Eine Einleitung«, in: dies./ Andrea D. Bührmann et al. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M. 1999, S. 10-21, hier S. 12. Vgl. auch dies.: »Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit«, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland et al. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. I: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 225-260; hier 226f.; dies.: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003, S. 79ff. 14 | Vgl. auch Klöppel, Ulrike: »›Störfall‹ Hermaphroditismus und Trans-Formationen der Kategorie ›Geschlecht‹. Überlegungen zur Analyse der medizinischen Diskussionen
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und zu untersuchen, was seit den 1950er Jahren (zunächst in den Vereinigten Staaten) als »Problem der Identität«, »Frage der Identität«, und dem verwandt als »Geschlechterfrage« oder »race question«, Verbreitung findet und im Folgenden analysiert wird. Foucault postuliert, dass diskursive Praktiken nichtdiskursive bedingen.15 Diese Unterscheidung ist problematisch, da es Foucault nicht gelingt, sie genauer zu definieren. Die Priorität des Diskursiven vor dem Nichtdiskursiven wurde von vielen Seiten kritisiert.16 Insbesondere bleiben »Machtwirkungen« von Diskursen und der Kontext der Entstehung von Diskursen in spezifischen, historischen Machtverhältnissen unterbeleuchtet. Foucault erkannte dieses Problem selbst und bezog mit der »Genealogie« die sozialhistorische Verortung der Wissensproduktion ein.17 Die Analyse von gegenseitigen Bezügen, Verkettungen und zirkulären Bewegungen soll dabei jenes »Kausalnetz« offen legen, als dessen Effekte die Positivitäten des Diskurses erscheinen, im Gegensatz zu der Annahme eines einzigen Ursprungs.18 »Wahrheit« ist in Foucaults Auffassung nicht eine objektive Tatsache und Ergebnis von Erkenntnisprozessen, vielmehr gibt es eine »Ordnung der Wahrheit, die für die Struktur und das Funktionieren unserer Gesellschaft fundamental ist«.19 Die Untersuchung jener Prozesse, die »Wahrheit« produzieren, bezieht sich dabei auf die jeweiligen historischen Entstehungsbedingungen von wissenschaftlichen Theorien und Modellen, auf die gegenseitigen Beziehungen,
über Hermaphroditismus um 1900 mit Deleuze, Guattari und Foucault«, in: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung, Jg. 6 (2002), S. 137-150. 15 | M. Foucault: Die Archäologie des Wissens, S. 80. 16 | Kammler kritisiert, dass es Foucault nicht gelänge, auf »Beispiele und metaphorisch-theoretische Schemata« zu verzichten, mit denen sein Unternehmen dem logozentrischen Denken verhaftet bleibe, gegen das es sich richte. C. Kammler: Michel Foucault, S. 109f. Dreyfus/Rabinow kritisieren, dass Foucault nicht erfassen könne, wie diskursive Praktiken von nichtdiskursiven Praktiken abhängen. Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim: Beltz Athenäum 1994, S. 92f. Auch Jäger weist auf die Unterthematisierung nichtdiskursiver Praktiken hin. S. Jäger: Diskurs und Wissen. 17 | Die genealogische Untersuchung ist »perspektivisches Wissen«, so Foucault, »dieser Blick [weiß], von wo aus er blickt und worauf er blickt«. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 69-90, hier S. 82. 18 | M. Foucault: Was ist Kritik?, S. 36f. 19 | Foucault, Michel: »Wahrheit und Macht«, Interview von A. Fontana und P. Pasquino, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 21-54, hier S. 51ff.
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in denen wissenschaftliche Felder, die verschiedenen Theorien und Modelle zueinander stehen, und die Regeln, die manche als »wahr« definieren.
S CHWELLEN DES W ISSENS Zielsetzung der Diskursanalyse im Sinne der »Archäologie« ist demnach, die Produktion von Wissen zu rekonstruieren. Dabei ist Wissen umfassender als Wissenschaft, Disziplinen oder »Positivitäten«.20 Foucault nennt vier »Fälle« der diskursiven Formation: die Schwellen der Positivität, der Epistemologisierung, der Wissenschaftlichkeit und der Formalisierung.21 Auf der »Schwelle der Positivität« wird die Autonomie einer diskursiven Praxis erreicht, »dasselbe Formationssystem der Aussagen angewendet«, bzw. es erfolgt seine Transformation. Mit der »Schwelle der Epistemologisierung« entstehen »Verifikations- und Kohärenznormen« und eine »beherrschende Funktion« einer diskursiven Formation »als Modell, als Kritik oder als Verifikation«. Die »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« wird erlangt, wenn eine »epistemologische Figur« »bestimmten Konstruktionsgesetzen der Propositionen« entspricht, d.h. formalen Kriterien folgt. Von einer »Schwelle der Formalisierung« schließlich ist die Rede, wenn ein wissenschaftlicher Diskurs »von sich aus das formale Gebäude, das er konstituiert« entfaltet, d.h. »Axiome […] propositionelle[n] Strukture[n]« und weitere »benutzte Elemente«. Dementsprechend unterscheidet Foucault verschiedene Arten der Analyse auf den jeweiligen Schwellen.22
S OZIALWISSENSCHAF TLICHER I DENTITÄTSDISKURS UND D ISZIPLINENGESCHICHTE Meine These lautet, dass der Identitätsdiskurs als wissenschaftlicher Diskurs im Zeitraum der 1950er bis 1960er Jahre in den USA hervorgebracht und etabliert wurde. Mit Bezug auf Foucaults Chronologie ist zu seiner Analyse demnach die »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« ausschlaggebend. Es gilt aufzuzeigen, 20 | M. Foucault: Die Archäologie des Wissens, S. 253ff. 21 | Er schränkt jedoch ein, dass die von ihm aufgestellte Chronologie nicht notwendigerweise von allen diskursiven Formationen durchlaufen werden muss, bzw. dass Bedeutung und Dauer der jeweiligen Phasen variieren. Vor allem lehnt er die Vorstellung einer »evolutiven« Abfolge ab: »Es handelt sich tatsächlich um Ereignisse, deren Streuung nicht evolutiv ist: ihre besondere Ordnung ist eines der Merkmale jeder diskursiven Formation«. Vgl. ebd., S. 266f. 22 | Vgl. ebd., S. 266.
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wie der Begriff Identität zu einem wissenschaftlichen Begriff werden konnte, indem er z.B. der »Metaphern und imaginären Inhalte« entledigt wurde, indem eine Unterscheidung in »wissenschaftlich« und »unwissenschaftlich« an Bedeutung gewann.23 Diese Analyse möchte ich gegen die Behauptung einbringen, »Fragen der Identität« seien für den langen Zeitraum seit den Anfängen der Moderne oder gar für die conditio humana kennzeichnend.24 In einer umfangreicheren Analyse kann die »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« innerhalb des umfassenderen sozialwissenschaftlichen Diskurses vom »autonomen Subjekt« verortet werden. Problematisiert wurde auf unterschiedliche Weise die Abhängigkeit sozialer Akteur/-innen von anderen sozialen Akteur/-innen sowie von gesellschaftlichen Ordnungen und Wertesystemen. Zur »Frage der Identität« wurden diese Problematisierungsweisen jedoch unter den spezifischen sozialhistorischen Bedingungen, die im Folgenden ausgeführt werden.25 Auffällig ist, dass in der – wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen – Literatur der Bezug zur Identitätsfrage im Zusammenhang mit »Verunsicherung«, mit dem »Verlust traditionaler Werte und Ordnungen« hergestellt wird. Ich schlage deshalb vor, die Rede von Identität als eine Problematisierungsweise sozialer Ordnung zu analysieren. Die Aussage »Die Frage der Identität ist unausweichlich« lässt sich dabei historisch verorten: Sie wird seit den 1950er Jahren »akzeptabel«. Kennzeichnend dafür sind disziplinengeschichtliche Entwicklungen sowie Ereignisse, die zur Entstehung sozialer Bewegungen führten. Zu diesem Zeitpunkt begann zugleich eine populäre Problematisierung von »Identität« in Literatur und Film. Entscheidend ist die Prägung von Identitätsmodellen durch Erik H. Erikson gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, die für unser heutiges Verständnis von Identität leitend sind. Dieser Identitätsbegriff unterscheidet sich von philosophischen Identitätstheorien, indem er sich auf sozialpolitische Probleme bezieht und diese als Problem des Individuums konzeptualisiert. Es ist der Versuch einer wissenschaftlichen Problemdefinition, der den Entwurf von wissenschaftlichen Modellen begründet. 23 | Vgl. ebd., S. 270f. 24 | Als conditio humana kennzeichnet Keupp die »Frage der Identität«, die gegen die Verunsicherungen der Moderne gestellt würde. Keupp, Heiner et al. (Hg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten der Spätmoderne, Reinbek: Rowohlt 1999. Giesen lässt die »Frage der Identität« mit der Romantik einsetzen, die ebenfalls durch starke Verunsicherungen und die »Auflösung traditionaler Ordnungen« charakterisiert wird. B. Giesen: Kollektive Identität, S. 11. 25 | Aus Platzgründen kann diese Analyse, in der auch andere Schwellen des sozialwissenschaftlichen Diskurses vom »autonomen Subjekt« herausgearbeitet werden, an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Vgl. I. Jungwirth: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften.
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Die Entstehung dieser sozialwissenschaftlichen Problematisierungsweise ist zum einen disziplinengeschichtlich und zum anderen in der Formierung sozialer Bewegungen begründet. So hat die Prägung eines sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs entscheidend damit zu tun, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Disziplinengrenzen durchlässiger wurden, nachdem sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert worden waren. Verschiedene Trennlinien waren bis zu dem Zeitpunkt gezogen worden. Die erste bezieht sich auf die Differenz von nomothetischen Wissenschaften (u.a. Sozialwissenschaften) versus idiographischen Wissenschaften (Geisteswissenschaften) sowie nomothetisch verfahrenden Naturwissenschaften, die sich auf nichtmenschliche Systeme bezogen.26 Es wurde eine Trennlinie zwischen der Erforschung der »modernen/zivilisierten Welt« (Geschichtswissenschaft sowie die drei nomothetischen Sozialwissenschaften Ökonomie, Soziologie und Politik) und dem Studium der »nicht-modernen Welt« (Anthropologie, Orientalistik) gezogen. Eine weitere Differenz bezieht sich auf die Erforschung von Vergangenheit (Geschichtswissenschaft) und Gegenwart (nomothetische Sozialwissenschaften) innerhalb der Erforschung der sog. modernen Welt. Schließlich wurden auch zwischen den nomothetischen Sozialwissenschaften Trennlinien etabliert, zwischen dem Studium des Marktes (Ökonomie), des Staats (Politologie) und der bürgerlichen Gesellschaft (Soziologie).27 Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zu einer zunehmenden Spezialisierung einerseits sowie zu einem gegenseitigen »Eindringen in Domänen der Nachbardisziplinen« andererseits gekommen.28 In diesem Zusammenhang entstehen multidisziplinäre Kooperationen über die Disziplinengrenzen hinweg, wie etwa in der Schaffung der Feldstudien (area studies), die sich auf ein abgestecktes geographisches Gebiet mit einer »vermuteten kulturellen, historischen und oftmals linguistischen Kohärenz« beziehen.29 Es wurden neue wissenschaftliche Kooperationen und neue wissenschaftliche Gebiete geschaffen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Gründung des »Department of Social Relations« an der Harvard Universität 1946, dessen erster Vorsitzender Talcott Parsons wurde. Ein Ergebnis dieser Neugründung war die Herausgabe des Buchs »Toward a General Theory of Action« 1951 durch 26 | Wallerstein, Immanuel et al. (Hg.): Die Sozialwissenschaften öffnen. Ein Bericht der Gulbenkian-Kommission zur Neustrukturierung der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus 1996, S. 38. Die Sozialwissenschaften hatten sich in ihrem Streben nach Wissenschaftlichkeit an den Naturwissenschaften orientiert, indem der Analyse von Gesetzmäßigkeiten Vorrang gegeben wurde – in Abgrenzung von den eher am Einzelfall orientierten Geisteswissenschaften. 27 | Vgl. ebd., S. 43. 28 | Vgl. ebd., S. 41. 29 | Vgl. ebd., S. 43.
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Parsons und Edward Shils, das nicht nur einen Höhepunkt »strukturfunktionaler Analyse« markiert,30 sondern auch den Anspruch, eine universale Theorie der Sozialwissenschaften zu begründen, eine Einheit der Wissenschaft durch Synthese von Soziologie, Anthropologie und Psychologie. Dies sind die Fächer, die in dem neugegründeten Fachbereich für »Social Relations« vertreten waren und für die Entwicklung der Handlungstheorie in »Toward a General Theory of Action« ihren Beitrag leisteten. Eine weitere organisatorische Folge der Infragestellung der Trennlinien zwischen den Disziplinen war, Wallerstein et al. zufolge, eine Zunahme disziplinärer Bezeichnungen, nachdem sie bis 1945 beständig auf eine »relativ kleine Liste akzeptierter Bezeichnungen für die Disziplinen« reduziert worden waren.31 Die Entwicklung von Identitätsmodellen durch Erikson, nämlich von Modellen der persönlichen Identität, der kollektiven Identität sowie der Identitätsentwicklung, erfolgt mit der Entstehung eines solchen neuen wissenschaftlichen Feldes, den »national character studies«. Zu den Vertretern dieses multidisziplinären Feldes gehörten neben Erikson Margaret Mead und Gregory Bateson. Außer Psychologie und Anthropologie waren Politologie und Soziologie beteiligt. Zum Feld der »national-character studies« gehörten demnach sozialwissenschaftliche Disziplinen, ohne dass es auf sie beschränkt war. Organisatorisch waren diese Kooperationen in Kommissionen verankert (»Committee for National Morale«, New York), bzw. direkt am Verteidigungsministerium angebunden (»Office of War Information and Office of Strategic Services«, Washington),32 die teilweise universitär verortet, und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von der Regierung einberufen worden waren mit der Zielsetzung der Mobilisierung der US-amerikanischen Bevölkerung wie auch der Erforschung des »Nationalcharakters« der Kriegsgegner. Durch die Kombination der Methoden aus den unterschiedlichen Disziplinen wollte man Charakteristika ganzer Bevölkerungen erforschen. Erikson selbst beschäftigte sich mit der angenommenen Beschaffenheit der »Nationalcharaktere« von Indigenen in den USA. Auch in den »national cha30 | Smelser, Neil J.: »Introduction to the Transaction Edition«, in: Talcott Parsons/Edward A. Shils (Hg.), Toward a General Theory of Action. Theoretical Foundations for the Social Sciences, New Brunswick: Transaction Publishers 2001, S. VII-XX, hier S. VII. 31 | Wallerstein et al.: Die Sozialwissenschaften öffnen, S. 54. In diesem Zusammenhang kam es zu einer neuen Blütezeit von Entwicklungstheorien, nachdem nun z.B. die Instrumente der Anthropologie auch für die Erforschung der sog. westlichen Gesellschaften aufgegriffen wurden. Es wurden neue Gebiete wie Entwicklungssoziologie und Entwicklungspolitik innerhalb den bestehenden Disziplinen geschaffen. Vgl. ebd. 32 | Mead, Margaret: »National Character and the Science of Anthropology«, in: Seymour Martin Lipset/Leo Lowenthal (Hg.), Culture and Social Character, New York: The Free Press of Glencoe 1961, S. 15-26.
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racter studies« hatte man demnach einen umfassenden und weitreichenden Erkenntnisanspruch, der durch multidisziplinäre Kooperation verwirklicht werden sollte. Anders als bei Parsons et al. bezog sich dieser universale Anspruch allerdings nicht auf die Konzeption des Handelns, sondern auf Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen, deren Eigentümlichkeiten und Vielfalt in die Form von wissenschaftlich überprüfbaren Regelmäßigkeiten oder gar Gesetzmäßigkeiten gebracht werden sollten. Neben der multidisziplinären Zusammenarbeit war die Abgrenzung von biologischen und anderen Theorien der Erblichkeit eine weitere wissenschaftliche Strategie, die dabei eingesetzt wurde, wie Margaret Mead in ihrem Werk über den amerikanischen Nationalcharakter betont.33 Die Debatte, ob menschliches Verhalten angeboren oder anerzogen sei, bestimmte dabei nicht nur die »national-character studies«, sondern auch ein weiteres Feld, das in den 1950er Jahren im Entstehen war. Es handelt sich dabei um die Untersuchungen an Menschen mit uneindeutigem Geschlecht, die zunächst von dem Forscher/-innenteam John Money, Joan und John Hampson am Johns Hopkins Hospital in Baltimore durchgeführt wurden. Sie prägten den Begriff »gender role« als Begriff des Lernens, im Unterschied zu Theorien über die biologisch bedingte Geschlechtsdifferenz. Spätere Protagonisten in diesem Feld waren Milton Diamond, der davon ausging, die Geschlechterdifferenz bestehe von Geburt an, und Robert Stoller, der den Begriff »core gender identity« entwickelte.34 Die Begriffe »national character« und »gender role« wurden demnach vor dem Hintergrund der Öffnung institutionalisierter Disziplinengrenzen entwickelt, wobei die Debatte, ob menschliches Verhalten angeboren oder anerzogen 33 | Mead, Margaret: And Keep Your Powder Dry, New York: Morrow 1943. 34 | Money, John/Hampson, Joan G./Hampson, John L.: »The Syndrome of Gonadal Agenesis (Ovarian Agenesis) and Male Chromosomal Pattern in Girls and Women: Psychologic Studies«, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 3, September (1955a), S. 207-226. Money, John/Hampson, Joan G./Hampson, John L.: »Hermaphroditism: Recommendations Concerning Assignment of Sex, Change of Sex, and Psychologic Management«, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 4, Oktober (1955b), S. 284300. Money, John/Hampson, Joan G./Hampson, John L.: »An Examination of Some Basic Sexual Concepts: The Evidence of Hermaphroditism«, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 4, Oktober (1955c), S. 301-319. Money, John/Hampson, Joan G./ Hampson, John L.: »Sexual Incongruities and Psychopathology: The Evidence of Human Hermaphroditism«, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 1, Januar (1956), S. 43-57. Diamond, Milton: »A Critical Evaluation of the Ontogeny of Human Sexual Behavior«, in: The Quarterly Review of Biology. 40, 2, Juni (1965), S. 147-175. Stoller, Robert J.: »A Contribution to the Study of Gender Identity«, in: The International Journal of Psycho-Analysis. Bulletin of the International Psycho-Analytical Association 45, Januar (1964), S. 220-226.
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sei, mit dem Erwerb wissenschaftlicher Legitimation für die neu entstehenden wissenschaftlichen Felder in Zusammenhang stand. Dass die Prägung dieser Begriffe mit der Auffassung gerechtfertigt wurde, menschliches Verhalten sei anerzogen, bedeutet allerdings nicht, dass damit keine vereinfachenden Zuschreibungen verbunden worden wären. Die Problemstellungen und Zielsetzungen der beiden Felder zeigen vielmehr, dass die Möglichkeit des Lernens von sozialen Rollen mit der Zielsetzung verknüpft waren, sozial erwünschtes Verhalten herzustellen. So vertraten Money/Hampson/Hampson nicht nur die These, dass die Geschlechtsrolle im Kleinkindalter gefestigt werde, sondern entwickelten auch Therapien für das Antrainieren von eindeutigem geschlechtlichem Verhalten, wenn denn die Biologie uneindeutig geraten war.35 Im Feld der »national-character studies« ging es insofern um das Ziel, sozial erwünschtes Verhalten zu erreichen, als die Motivation der US-Amerikaner für den Zweiten Weltkrieg durch Identifikation mit einem angeblich kollektiven Nationalcharakter gesteigert werden sollte. Auf diese Weise wurden Idealvorstellungen von einem sog. amerikanischen Nationalcharakter geschaffen, die Orientierungsfunktion hatten. Auch wenn es politisch nachvollziehbar ist, dass der Krieg gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa außerordentlicher Anstrengungen bedurfte und die Mobilisierung der amerikanischen Bevölkerung dabei einen hohen Stellenwert hatte, ist damit über den wissenschaftlichen Ertrag der Erforschung von Nationalcharakteren noch nichts gesagt. Erikson verband die Entwicklung von Identitätsmodellen durch Beschäftigung mit dem Erziehungsverhalten indigener Gruppen in den USA explizit mit der Zielsetzung, einen Beitrag zu ihrer »Re-education« leisten zu können.36 Es soll hier nicht bestritten werden, dass menschliches Verhalten die Folge von Erziehung ist. Allerdings zeigt eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion, dass bei der Prägung dieser Konzepte die »nature-nurture« Debatte die Funktion hatte, Wissenschaftlichkeit in neu entstehenden wissenschaftlichen Feldern zu begründen. Darüber hinaus wurde mit dem Aufstieg des Funktionalismus in der Soziologie seit dem Zweiten Weltkrieg der Begriff der sozialen Rolle im Sinne eines Bündels von Normen als Verhaltenserwartung prominent. Dabei besteht die Funktion von sozialen Rollen in der Schaffung von Erwartbarkeit und Regelmäßigkeit für das menschliche Handeln. Die Vorstellung, mit einem Begriff des sozialen Lernens, z.B. von geschlechtlichem Verhalten in dem Konzept der sozialen Rolle, sei im Vergleich zu biologisch bedingtem
35 | Z. B. J. Money et al.: Hermaphroditism; dies.: An Examination of Some Basic Sexual Concepts. 36 | Erikson, Erik H.: »Childhood and Tradition in two American Indian Tribes. A Comparative Abstract, with Conclusions«, in: The Psychoanalytic Study of the Child 1 (1945), S. 319-350, hier S. 319.
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geschlechtlichem Verhalten ein geringeres Maß an Reduktionismus und Festlegung verbunden, ist daher kaum begründet.
S OZIALWISSENSCHAF TLICHER I DENTITÄTSDISKURS UND DIE E NTSTEHUNG N EUER S OZIALER B E WEGUNGEN Auch in den Neuen Sozialen Bewegungen wurde der sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurs hervorgebracht. Aus einer anderen Perspektive ging es hier ebenfalls um die Problematisierung sozialer Ordnung. Offensichtlich waren mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis dahin als stabil wahrgenommene soziale Ordnungen ins Wanken geraten. In den USA hatten Frauen Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden und man diskutierte z.B. in der Psychologie, ob sie die Beschränkung auf den Haushalt klaglos hinnehmen würden.37 Viele Afroamerikaner waren in der Armee gewesen und hatten dort gegenüber dem zivilen Leben eine vergleichsweise Besserstellung erfahren. Mit dem wachsenden öffentlichen Widerstand gegen rassistische Segregation wurden festgefügte Ordnungen nachhaltig in Frage gestellt. Unterstützt wurden diese Entwicklungen durch die weltweit einsetzenden Dekolonisierungen. Außerdem war mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die UNO gegründet und die Menschenrechtserklärung verabschiedet worden. Die entstehende Bürgerrechtsbewegung und später auch die Frauenbewegung in den USA orientierten sich in ihren Inhalten wie auch in den Formen des Protests an diesen weltpolitischen Ereignissen. So wurden Rassismus und Sexismus als »Entmenschlichung« problematisiert und die Einforderung des Status des Menschen mit einem Anspruch auf Identität verknüpft.38 37 | Seward, Georgene H.: »Sex Roles in Postwar Planning«, in: The Journal of Social Psychology, S.P.S.S.I. Bulletin, 19 (1944), S. 163-185. 38 | Vgl. ausführlicher Jungwirth 2007: 245ff.; z.B. in der Zeitschrift »Freedomways«, einem der damaligen Medien der Bürgerrechtsbewegung in den USA, vgl. Crocket, George W. Jr.: »The United Nations, the American Negro and His Government«, in: Freedomways, Spring (1965), S. 245ff.; vgl. a. Baldwin, James (1998): »Many Thousands Gone«, in: ders., Collected Essays, New York: The Library of America, S. 19-34. [1951]. Dabei hatte die Aberkennung des Status des Menschen für Schwarze in der Geschichte der USA eine reale Grundlage, insofern Sklaven rechtlich als Ware und als Besitz definiert worden waren, vgl. Kramer, Helgard: »Nationalismus in den USA«, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 3 (1993), S. 27-40, hier S. 30. 1857 waren sie von dem Obersten Gerichtshof zu »three-fifths of a man« erklärt worden. Für die Frauenbewegung vgl. Friedan, Betty (1971): The Feminine Mystique, London: Victor Gollancz Ltd, S. 9; 342ff. [1963], sowie in »Freedomways« z.B. Wright, Sarah E.: »The Negro Woman in American Literature«, in: Freedomways 6.1, Winter (1966), S. 8-10.; Marshall, Paule: »The Negro
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Die Aussage, »die Frage der Identität ist unausweichlich« wird in diesem Zusammenhang akzeptabel, d.h. sie wird eine weitverbreitete Problematisierungsweise sozialer Realitäten: in sozialen Bewegungen, in der Alltagssprache und nicht zuletzt in den wissenschaftlichen Thematisierungen. Zeitnah zu Eriksons erstem Entwurf der Identitätsmodelle 1945 erscheint James Baldwins Essay »Many Thousands Gone« 1951, in dem die Erfahrung von Rassismus als fehlende oder unvollständige Identität problematisiert wird – allerdings nicht als unvollständige Identität der Schwarzen, sondern als unvollständige nationale Identität, die durch den Ausschluss der Schwarzen durch die Weiße Mehrheit bewirkt werde.39 Die Erfahrung von Rassismus und Sexismus wird als Suche nach Identität problematisiert.40 So greifen u.a. Betty Friedan und Ann Oakley als Autorinnen, die der Frauenbewegung zugerechnet werden können, das Konzept der Identität auf, um die Benachteiligung von Frauen zu problematisieren. Auch hier wird die Aussage »Die Frage der Identität ist unausweichlich« hervorgebracht, und damit der sozialwissenschaftliche Diskurs von Identität.41 Sowohl Oakley als auch Friedan greifen den Identitätsbegriff auf, um Zuschreibungen aufgrund einer weiblichen Biologie zurückzuweisen. Dabei ist dies sowohl im journalistischen Woman in American Literature«, in: Freedomways 6.1, Winter (1966), S. 20-25; in der von Toni Cade Bambarra herausgegebenen Anthologie »The Black Woman«, New York 1970, z.B. Robinson, Pat and Group: »A Historical and Critical Essay for Black Women in the Cities«, S. 198-210; Cade, Toni Bambara: »On the Issue of Roles«, S. 101-110. 39 | Baldwin war einer der ersten Autoren, der den Identitätsbegriff als »sozialwissenschaftlichen« Begriff verwendete, wie er oben definiert wurde. Erikson entwickelte zunächst 1945 die Begriffe »group-ego« und »individual ego« bzw. »personal ego«, Erikson, Erik H.: »Childhood and Tradition in two American Indian Tribes. A Comparative Abstract, with Conclusions«, in: The Psychoanalytic Study of the Child 1 (1945), S. 319-350, hier S. 330; S. 341. In den späteren Büchern wurden daraus die Begriffe »group identity« und »ego identity«; ders.: »Childhood and Society«, New York: Norton 1950; ders.: »Identity and the Life Cycle«, New York: International Universities Press 1959. 40 | Baldwin, James: »Nobody Knows My Name: A Letter from the South«, in: ders., Collected Essays, New York: The Library of America 1998, S. 197-208, [1959]; B. Friedan: The Feminine Mystique (1963). Emerson, Rupert/Kilson, Martin: »The Rise of Africa and the Negro American«, in: Talcott Parsons/Kenneth B. Clark (Hg.), The Negro American, Boston: Houghton Miflin Company 1966, S. 626-655, hier S. 651; Blauner, Robert: »Internal Colonialism and Ghetto Revolt«, in: Social Problems 16.4, Frühling (1969), S. 393-408, hier S. 400; O’Dell, J. H.: »Colonialism and the Negro American Experience«, in: Freedomways 6.4, Herbst (1966), S. 296-308, hier S. 296. 41 | B. Friedan: The Feminine Mystique; Oakley, Ann: Sex Gender and Society, London: Temple Smith 1972.
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bzw. populärwissenschaftlichen Text von Friedan als auch in dem sozialwissenschaftlichen Text von Oakley eine »wissenschaftliche« Strategie: Damit möchte ich eine Strategie kennzeichnen, durch die ein Verfahren als wissenschaftliches begründet werden soll. Gleichzeitig wird so die biologische wie biologisierende Zuschreibung als unwissenschaftlich gekennzeichnet. Friedan bezieht sich auf Eriksons Identitätstheorie, um ihrer Kritik an der Beschränkung von Frauen auf den Haushalt als Wirkungsbereich eine wissenschaftliche Begründung zu unterlegen. Oakley stützt ihre Unterscheidung von »sex« und »gender« auf den Begriff »gender identity« von Robert Stoller und auf die Konzeption der »psychosexuellen Orientierung« des Forscher/-innenteams Money/Hampson/Hampson, durch die der Begriff »gender role« als Begriff des sozialen Lernens in den 1950er Jahren eingeführt worden war.42 Sowohl für die wissenschaftliche als auch für die populärwissenschaftliche Problematisierung der Geschlechterdifferenz (bzw. für die Problematisierung in der später sich formierenden Frauenbewegung) geht es um das schwierige Unterfangen, Geschlechterdifferenz gegen die Auffassung der Selbstverständlichkeit der Geschlechterungleichheit, die in der Regel an der Gebärfähigkeit von Frauen festgemacht wurde, als relevant herauszustellen und die Begründung der Ungleichheit gleichzeitig gegen common sense Vorstellungen der Geschlechterdifferenz im Alltag wie in der Wissenschaft abzugrenzen. Der Bezug zu den sexualwissenschaftlichen Arbeiten von Stoller wie Money/Hampson/ Hampson und der entwicklungspsychologischen Theorie von Erikson sollte Wissenschaftlichkeit gewährleisten. Dabei wurde die Unterscheidung zwischen wissenschaftlich und unwissenschaftlich mit der zu jener Zeit virulent werdenden Debatte um die Frage, ob menschliches Verhalten angeboren oder anerzogen sei, verknüpft. Diese Debatte organisierte mehrere wissenschaftliche Felder, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA herauszubilden begannen, wie oben dargelegt wurde, und bildet den Hintergrund, vor dem die feministischen und frauenpolitischen Thematisierungen durch Oakley und Friedan möglich wurden. Eriksons entwicklungspsychologische Theorie ermöglichte dabei die Problematisierung sozialpolitischer Phänomene als Entwicklungsstörung der Einzelnen aufgrund unvollständiger Verinnerlichung sozialer Normen. Unterschiedliche soziale und politische Realitäten werden auf diese Weise als Mangel sozialer Ordnung diskursiviert. Zu diesem Diskurs trägt auch jene andere Variante bei, die sich auf die unvollständige kollektive Identitätsentwicklung der Nation bezieht – wie etwa Baldwins Rassismuskritik, bei der Rassismus als unvollständige nationale Identität gefasst wird. 42 | J. Money et al.: Hermaphroditism; dies.: An Examination of Some Basic Sexual Concepts.
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Z USAMMENFASSUNG : D IE S PE ZIFITÄT DES SOZIALWISSENSCHAF TLICHEN I DENTITÄTS DISKURSES Die Problematisierung von Identität bzw. fehlender Identität kann historisch innerhalb disziplinengeschichtlicher sowie sozialpolitischer Entwicklungen verortet werden. Dieser Diskurs ebenso wie die Begriffe, die auf diese Weise geprägt wurden, formen soziale Phänomene und Realitäten. Der Rückgriff auf den Diskursbegriff ermöglicht es, als Ergebnis von Auseinandersetzungen zu begreifen, was sich als selbstverständlich oder »wahr« durchsetzt. So wurde die Orientierung an Identitätspolitik in der Herausbildung der sozialen Bewegungen bereits früh auch in Frage gestellt. Dies konnte sich aber nicht als dominante Sichtweise etablieren. Wahrheitswirkungen konnte der Identitätsdiskurs entfalten, da er sowohl als wissenschaftliche als auch als umfassendere Problematisierungsweise hervorgebracht wurde, d.h. in sozialen Bewegungskämpfen, in den daraus entstehenden neuen wissenschaftlichen Feldern mit ihren theoretischen Ansätzen, und nicht zuletzt in Literatur und Film.43 Er wurde unterstützt durch spezifische historische Ereignisse, wie die Gründung der UNO, die Erklärung der Menschenrechte, die Dekolonisationskämpfe u.a. Foucaults Diktum, Wissen sei umfassender als Wissenschaft, ist für diese Analyse hilfreich. So kann der Beitrag disziplinengeschichtlicher Entwicklungen ebenso wie der Beitrag gesellschaftlicher Gruppen zu der Herausbildung von Diskursen als dominanten Sichtweisen aufgezeigt werden. Der sozialwissenschaftliche Diskurs von Identität umfasst demnach sowohl die wissenschaftliche wie auch die außerwissenschaftliche Rede von Identität. Als Problematisierungsweise sozialer Ordnung trägt er zur Hervorbringung sozialer Normen bei – sei es in den jeweiligen wissenschaftlichen Feldern als Normen des Geschlechts, des »Nationalcharakters« und der Persönlichkeitsentwicklung, sei es in den sozialen Bewegungen, die ihrerseits andere Normen z.B. von Weiblichkeit prägten. Insbesondere wurde auf diese Weise eine neue Norm installiert, die die Identitätssuche normativ machte, indem sie als wissenschaftlich begründet und politisch geboten hervorgebracht wurde. Diese Problematisierungsweise sozialer Ordnung ist, so lautet meine These, charakteristisch für diesen sozialpolitischen Zeitraum. Selbst wenn soziale Ordnung auch zu anderen Zeitpunkten in der Moderne und an anderen Orten problematisiert wurde: Die »Frage der Identität« stellte man sich erst ab diesem Zeitpunkt. Die Romantik mag ebenfalls eine Zeit der Verunsicherung gewesen 43 | So wird in dem Spielfilm »The Strawberry Statement« (USA 1970, Regie: Stuart Hagman), der von Studentenrevolten handelt, ironisch auf den hier rekonstruierten Identitätsdiskurs zurückgegriffen, wenn der Protagonist Simon seiner Mutter abwiegelnd versichert, sich mit seinem Identitätsproblem beschäftigt zu haben.
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sein, aber es gab keine Rede von Identität im Sinne des hier herausgearbeiteten sozialwissenschaftlichen Diskurses, um z.B. Giesens Hypothese von der kollektiven Identitätssuche in der Romantik aufzugreifen.44 Schwer begründbar erscheint vor diesem Hintergrund auch die Hypothese, dass soziale Akteur/-innen immer schon »Identitätsansprüche« an soziale Ordnungen stellten, wie sie von Honneth vertreten wird.45 Ich habe vorgeschlagen, verschiedene Schwellen der Problematisierung sozialer Ordnung und des »autonomen Subjekts« in der Moderne zu unterscheiden. Für die Rede von Identität, wie sie vorangehend herausgearbeitet wurde, lässt sich das Erreichen einer »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« annehmen. Die »Schwelle der Epistemologisierung« habe ich an anderer Stelle am Beispiel von George Herbert Meads Arbeiten zur Konzeption einer Theorie des Selbst und des Bewusstseins durch soziale Kontrolle in Zusammenhang mit der Institutionalisierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA analysiert. Eine »Schwelle der Formalisierung« dieses Diskurses wird erreicht, sobald gesellschaftliche Verhältnisse und Beziehungen im Unterschied zu Substanzen zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Diese Verschiebung in der Problemstellung wurde von mir anhand der Arbeiten Erving Goffmans analysiert.46 Ein Rückgriff auf Foucaults Differenzierung der Herausbildung von Diskursen in Schwellen ermöglicht es, die Spezifität von Diskursen näher zu bestimmen. Für den hier analysierten sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurs lässt sich eine spezifische Formation als entscheidend analysieren, nämlich eine »Schwelle der Wissenschaftlichkeit«, die durch disziplinengeschichtliche und sozialpolitische Entwicklungen bedingt wurde. Eine solche Spezifizierung kann gegen Analysen, die in der »Rede von Identität« eine allgemein menschliche Notwendigkeit ausmachen, eingebracht werden und trägt zur Historisierung sozialer Phänomene bei.
44 | B. Giesen: Kollektive Identität, S. 11. 45 | A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 154ff. 46 | I. Jungwirth: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften.
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Zur Re-Produktion von Differenz in der neurowissenschaftlichen Bildgebung 1 Katrin Nikoleyczik
In den gegenwärtigen kognitiven Neurowissenschaften wird menschliches Denken und Verhalten in Bezug auf physiologische Prozesse im Gehirn untersucht. Dabei setzen Forschende zunehmend das Verfahren der funktionellen Magnetresonanztomographie2 (functional magnetic resonance imaging, fMRI) ein, das gemäß herkömmlichem Verständnis eine nicht-invasive Technik zur Lokalisierung von Gehirnaktivität ist. So beschreibt z.B. der Neurowissenschaftler Nikos Logothetis das fMRI als »excellent tool for the noninvasive imaging of the human brain«3 . Seit der Etablierung in den 1990er Jahren haben diese Methode und ihre visuellen Ergebnisse Hochkonjunktur – innerhalb der Neurowissenschaften, aber auch in Medien, die sich an ein breites Publikum wenden. Auf den ersten Blick scheinen die mittels fMRI produzierten Bilder für Betrachtende intuitiv verständlich und als unmittelbare Sichtbarmachung von an1 | Ich danke Silvia Berger, Andrea Blunck, Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch, Susanne Men zel, Susanne Offen, Nicole Scheifhacken und Sigrid Schmitz für konstruktive Rückmeldungen zu früheren Fassungen dieses Beitrags. Meine Arbeit wurde finanziell und infrastrukturell unterstützt durch ein Stipendium der Universität Hamburg und das Kompetenzforum [gin] Gender forschung in Informatik und Naturwissenschaften der Universität Freiburg. 2 | Magnetresonanztomographie (von altgr. tomós Schnitt, gráphein schreiben) wurde zu Beginn auch als Kernspintomographie bezeichnet. ›Kernspin‹ steht für den Eigendrehimpuls der Atomkerne. Da Lai/-innen diesen Begriff fälschlicherweise leicht mit ›Kernkraft‹ assoziieren, wird heute über wiegend er stere Bezeichnung verwendet, um eine Assoziation mit Radioaktivität zu vermeiden und so die Un bedenklichkeit der Methode zu verdeutlichen. 3 | Logothetis, Nikos K.: »The Underpinnings of the BOLD Functional Magnetic Resonance Imaging Signal«, in: The Journal of Neuroscience 23/10 (2003), S. 3963-3971, hier S. 3963.
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sonsten der Ansicht verschlossenen Gehirnvorgängen. Jedes einzelne Bild hat jedoch eine Produktionsgeschichte: Beim fMRI handelt es sich um ein Bildgebungsverfahren, bei dem große Datenmengen in Bilder transformiert werden. Bis ein Bild endgültig etabliert ist, erfordert die technowissenschaftliche Konstruktion eine Vielzahl an Schritten, welche im Bildergebnis nicht mehr ersichtlich sind. Mit ihrer zwei- oder dreidimensionalen, häufig in schwarz-weiß gehaltenen Darstellung des Gehirns und den in brillanten Farben hervorgehobenen ›aktivierten Arealen‹ laden die Bilder Betrachtende dazu ein, sie nicht als visuelle Modelle anzusehen, sondern sie als direkte Abbildungen natürlicher Vorgänge zu lesen. Sie machen den Eindruck, man habe Fotografien des Gehirns während des Denkvorganges vor sich, und lassen den Prozess ihrer Produktion verschwinden. Auf welche Weise entsteht die »Suggestion objektiver Unmittelbarkeit«4 , also der verlustfreien Reproduktion von Vorgängen im Gehirn, und welche epistemisch bedeutsamen Entscheidungen werden in der Verbildlichung unsichtbar? Ein umfassenderes Verständnis dieser Hirnbilder erfordert eine Erläuterung des Kontextes ihrer Produktion und Rezeption. Studien der Wissenschafts- und Geschlechterforschung zum brain imaging betonen die Konstruiertheit des neurowissenschaftlichen Wissens und analysieren Fragen von Objektivität, Standardisierung und Generalisierung. Sie kritisieren zudem die Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen im Denken und Verhalten, d.h. ihre Konstruktion als ›natürliche‹ Tatsache.5
4 | Gugerli, David: »Soziotechnische Evidenzen. Der ›pictural turn‹ als Chance für die Ge schichtswissenschaft«, in: Traverse 3 (1999), S. 131-159. 5 | Vgl. z.B. Beaulieu, Anne: »Brains, Maps and the New Territory of Psychology«, in: Theory & Psychology 13/4 (2003), S. 561-568; dies.: »Images Are Not the (Only) Truth: Brain Mapping, Visu al Knowledge, and Iconoclasm«, in: Science, Technology, & Human Values 27/1 (2002), S. 53-86; Burri, Regula V.: »Digitalisieren, disziplinieren. Soziotechnische Anatomie und die Konstitution des Körpers in medizinischen Bildgebungsverfahren«, in: Technical University Technology Studies Working Papers 3 (2003), S. 3-14; Nikoleyczik, Katrin: »NormKörper: ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ in biomedizinischen Bildern«, in: Sigrid Schmitz/Britta Schinzel (Hg.), Grenzgänge. Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften, Königstein: Ulrike Helmer 2004, S. 133-148; Schinzel, Brit ta: »The Body in Medical Imaging Between Reality and Construction«, in: Poiesis & Praxis 4/3 (2006), S. 185-198; Schmitz, Sigrid: »Neue Körper, neue Normen? Der veränderte Blick durch bio-medizini sche Körperbilder«, in: Jutta Weber/ Corinna Bath (Hg.), Turbulente Körper und soziale Maschinen. Transdisziplinäre Studien feministischer TechnoWissenschaftsforschung, Opladen: Les ke & Budrich 2004, S. 217-233.
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Vor diesem Hintergrund untersuche ich im Folgenden, durch Analyse der Bilder und des sie produzierenden Apparates6, die materiell-diskursiven Bedingungen der neurowissenschaftlichen Erkenntnisproduktion. Dabei beziehe ich mich auf den Ansatz des agential realism der Wissenschaftsphilosophin und theoretischen Physikerin Karen Barad. Differenz wird hierbei im zweifachen Sinne relevant: Zum einen lebt fMRI von der Ausblendung der Differenz zwischen dem aufwändig erstellten Bild und dem vermeintlichen Ab-Bild eines objektiv zugänglichen, ›biotischen Vor-Bildes‹ im Gehirn. Zum anderen gehe ich der Frage nach, wo und auf welche Weise in experimentellen Studien mit fMRI Differenz produziert und reproduziert wird und wie sich dies in der Festschreibung von Geschlecht niederschlägt. Abschließend diskutiere ich alternative Ansätze, mit Differenzen wissenschaftlich umzugehen.
F UNK TIONELLES MRI Funktionelles MRI dient dazu, physiologische Prozesse im Gehirn zu untersuchen und zu visualisieren. Die Methode basiert auf dem neuronalen Stoffwechsel und seiner Beziehung zur Blutsauerstoffversorgung des Gehirns – dem so genannten BOLD (blood oxygen level dependent) effect.7 Der erhöhte Energieverbrauch der Nervenzellen während höherer Aktivität des Gehirns führt, so die Theorie, zu einem erhöhten Sauerstoffbedarf, welchen Hämoglobinmoleküle durch eine lokale Überversorgung ausgleichen (die so genannte hämodynamische Reaktion). Dies machen sich Neurowissenschaftler/-innen beim fMRI zu Nutze. Die unterschiedliche Signalstärke von Hämoglobinmolekülen mit und ohne Sauerstoff im starken Magnetfeld des Scanners8 wird von Detektoren als so genanntes BOLD-Signal messtechnisch erfasst, in Zahlenwerte transfor6 | Den Begriff ›Apparat‹ verwende ich hier in Karen Barads Sinne, was ich im Folgenden näher erläu tere. ›Technische Apparaturen‹ bezeichne ich der besseren Verständlichkeit halber als ›Instrumente‹. Diese können, Barad folgend, Komponenten von Apparaten sein. 7 | Ogawa, Seiji/Lee, Tatia M./Kay, Alan R./Tank, David W.: »Brain Magnetic Resonance Imaging with Contrast Dependent on Blood Oxygenation«, in: Proceedings of the National Academy of Sci ences USA 87 (1990), S. 9868-9872. 8 | Die ansonsten ungeordneten Spins der Atomkerne im Gehirn (inklusive des Hämoglobins) richten sich parallel zum starken Magnetfeld des Scanners aus. Angeregt durch zusätzlich applizierte hoch frequente, elektromagnetische Impulse orientieren sie sich dann in einem bestimmten Winkel zur Richtung des Magnet feldes und geben beim Zurückschwingen in die vorherige Position Energie ab (Kernspinresonanz). Häufig werden Scanner mit 1,5 bis 4,5 Tesla eingesetzt, aktuell sind aber Geräte mit bis zu 7 Tesla im Einsatz.
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miert, mit einem Computer aufgezeichnet und bestimmten Hirnarealen9 zugeordnet. Es wird beim fMRI also indirekt von Änderungen in Blutfluss und -oxigenierung auf neuronalen Stoffwechsel und darüber auf ›neuronale Aktivität‹ geschlossen.10 Während Versuchspersonen Reize verarbeiten (z.B. visuelle oder auditive) oder kognitive Aufgaben bearbeiten (z.B. räumliche oder sprachliche), werden die BOLD-Signale als Daten aufgenommen. Von diesen Aktivierungen (task state) werden dann jene in einer Ruhephase erhobenen (control state) subtrahiert, um die für die jeweilige kognitive Aufgabe relevante Aktivierung zu berechnen.11 Das Ergebnis der statistischen Analyse der Differenz (überwiegend mittels Nullhypothesen-Signifikanztests12) zwischen beiden Phasen lässt sich als Grauwert- oder Farbabstufung darstellen (difference image). Auf diese Weise werden als ›aktiv‹ erkannte Bereiche in den Bildern markiert. Die so entstehenden individuellen Differenz-Bilder werden anschließend mit Hilfe von Transformationsalgorithmen über die Versuchspersonen gemittelt, für eine Gruppenanalyse mit zusätzlichen Informationen über die Versuchspersonen (z.B. Mehrsprachigkeit, Händigkeit, Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand, hormonellem Status usw.) kombiniert und mit statistischen Modellen weiter analysiert.13 Die Ergebnisse dieser Analysen werden wiederum visuell dargestellt, häufig als so genannte statistical parametric maps. 9 | Entsprechend den Pixeln bei zweidimensionalen Computerbildern werden die Einheiten von dreidi mensionalen Hirnbildern als Voxel bezeichnet. 10 | Die genauen neurophysiologischen Zusammenhänge sind derzeit noch Gegenstand von Debatten und Untersuchungen, vgl. z.B. Logothetis, Nikos K.: »What We Can Do and What We Cannot Do With fMRI«, in: Nature 453 (2008), S. 869-878; Sirotin, Yevgeniy B./Das, Aniruddha: »Anticipatory Hae modynamic Signals in Sensory Cortex Not Predicted By Local Neuronal Activity«, in: Nature 457 (2009): S. 475479. 11 | Alternativ können auch zwei unterschiedliche kognitive Aufgaben miteinander verglichen werden. 12 | Ziel dieses statistischen Verfahrens ist basierend auf einem Wahrscheinlichkeitsmodell die Über prüfung einer Ablehnung der Nullhypothese (›Es liegt kein Effekt vor‹) über die Verteilung einer Variablen anhand einer Stichprobe. Ein signifikantes Ergebnis liegt vor, wenn der Test eine sehr ge ringe Irrtumswahrscheinlichkeit ermittelt, dass die Nullhypothese falsch ist. So wird die Alternativ hypothese (›Es liegt ein Effekt vor‹) indirekt über die Ablehnung der Nullhypothese bestätigt. Daher darf ein nicht signifikantes Ergebnis nicht als Bestätigung der Nullhypothese interpretiert werden (vgl. Bortz, Jürgen/Döring, Nicola: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozial wissenschaftler, Heidelberg: Springer 2006, hier S. 23ff.). 13 | Dies sind oft Varianzanalysen, die auf dem allgemeinen linearen Modell basieren. Das Software-Paket SPM kommt dabei häufig zum Einsatz, vgl. www.fil.ion.ucl.ac.uk/
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Laut den Neurowissenschaftlern Arthur Toga und John Mazziotta erfolgt beim fMRI die Umwandlung von Rohdaten in etwas Verständliches durch die computergestützte Visualisierung bereits während des Experiments. Dies ermöglicht den Ablauf der Messung in Reaktion auf die Ergebnisse schon während der Datenaufnahme zu verändern.14
I NTR A -A K TIONEN VON A PPAR ATEN UND P HÄNOMENEN Da technowissenschaftliche Praktiken eine Rolle bei der Produktion genau jener Phänomene spielen, die zu beschreiben ihr Ziel ist, lässt sich dieser Prozess als performativ verstehen.15 In ihrer Theorie des agential realism hebt Karen Barad die Bedeutung von Apparaten bei der Produktion von Phänomenen hervor.16 Ihrem Verständnis nach sind Apparate dabei nicht als bloße Laborinstrumente bzw. »statische instrumentelle Verkörperungen menschlicher Konzepte« zu verstehen, sondern als offene und »dynamische materiell-diskursive Praktiken, durch die sich spezifische ›Konzepte‹ und ›Dinge‹ ausdrücken«17. Apparate sind demnach selbst »materiell-diskursive Phänomene, die in Intra-Aktion mit anderen materiell-diskursiven Apparaten materialisieren«18. Mit dem Begriff IntraAktion macht Barad deutlich, dass keine voneinander unabhängigen Entitäten vorgängig existieren und anschließend interagieren. Vielmehr intra-agieren
spm (7.11.2009). Siehe auch Friston, K. J./Holmes, A. P./Worsley, K. J. et al.: »Statistical Parametric Maps in Functional Imaging: A General Linear Approach«, in: Hu man Brain Mapping 2 (1995), S. 189-210. 14 | Toga, Arthur W./Mazziotta, John C. (Hg.), Brain Mapping: The Methods, San Diego: Academic Press 1996, hier S. 5. 15 | Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham: Duke University Press 2007, hier S. 207. 16 | Barad entwickelt ihren »ethico-onto-epistem-ologischen« (vgl. ebd., S. 185) Ansatz des agential realism unter anderem bezugnehmend auf Niels Bohrs PhilosophiePhysik. Darin begreift sie Phänomene, nicht unabhängige Objekte, als »primäre ontologische Einheit« (S. 333, Übersetzung K. N.). 17 | Vgl. ebd., S. 334 (Übersetzung K. N.). 18 | Barad, Karen: »Performing Culture/Performing Nature: Using the Piezoelectric Crystal of Ul tra sound Technologies as a Transducer Between Science Studies and Queer Theories«, in: Christina Lammer (Hg.), Digital Anatomies, Wien: Turia & Kant 2001, S. 98-114, hier S. 108.
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Phänomene – »Relationen ohne vorexistierende Relata«19 – und produzieren so andere Phänomene.20 Eine Messung eines bestimmten theoretischen Konzeptes – sei es Gehirnaktivität oder Geschlechterdifferenz in kognitiven Fähigkeiten – mittels eines bestimmten Apparates lässt sich dem Ansatz des agential realism folgend nicht auf »irgendein losgelöstes, unabhängig existierendes ›Objekt‹ zurückführen, sondern ist vielmehr eine Eigenschaft des Phänomens«21 . Barad bezeichnet diesen Sachverhalt mit Verweis auf Niels Bohr als »inseparability of ›observed object‹ and ›agencies of observation‹«22 . Durch die Messung wird nicht etwas Vorgängiges reproduziert, d.h. als etwas Identisches wieder hergestellt, oder etwas repräsentiert. Sondern eine Messung ist eine spezifische Intra-Aktion eines Phänomens mit einem spezifischen Apparat und damit immer durch dessen Zusammensetzung und somit auch durch die Forschenden beeinflusst.23
D ER F MRI-A PPAR AT Ich verstehe fMRI vor dem Hintergrund des agential realism als einen Grenzen ziehenden »materiell-diskursiven Apparat«24 , der Phänomene produziert – nämlich Bilder von Gehirnfunktionen und auch Geschlechterdifferenzen in kognitiven Fähigkeiten oder Strategien.25 Im fMRI intra-agieren Diskurse, Praktiken, biotische Materie und technische Artefakte (wie etwa Hard- und Software). Der Bilder produzierende Apparat des fMRI setzt sich demnach aus unzähligen
19 | K. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 139. 20 | Vgl. ebd., S. 33; dies.: »Getting Real: Technoscientific Practices and the Materialization of Reality«, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 10/2 (1998), S. 87-128, hier S. 112. 21 | Barad, Karen: »Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28/3 (2003), S. 801-831, hier S. 814 (Übersetzung K. N.). 22 | Vgl. ebd. 23 | Im agential realism beschränkt Barad den Begriff ›Messung‹ nicht auf Intra-Aktionen, die Men schen in Laboren nützlich erscheinen (vgl. K. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 338). Im Folgenden betrachte ich mit fMRI jedoch genau solche Intra-Aktionen eingehender. 24 | K. Barad: Getting Real, S. 105 (Übersetzung K. N.). 25 | Für eine ausführlichere Betrachtung von fMRI als Apparat im Sinne Barads vgl. Nikoleyczik, Kat rin: »Imaging Matters: An Agential Realist Account of Functional Neuroimaging« (i. Vorb.).
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Komponenten zusammen,26 wie z.B.: den Forschenden, dem technischen Personal und den Versuchspersonen, menschlichen Körpern und Gehirnen, den technischen Instrumenten (Scanner, Computer usw.), den Sauerstoff- und Hämoglobin-Molekülen, deren Kernspins, neurowissenschaftlichen Theorien und Praktiken, den experimentellen Stimuli, Computeralgorithmen und graphischen Prozeduren sowie statistischen Modellen und Methoden; aber auch aus den Hersteller/-innen von Hard- und Software, Beschränkungen des Designs (inklusive juristischer, ökonomischer, biomedizinischer, physikalischer und ingenieurwissenschaftlicher Aspekte), den disziplinären Normen visueller Darstellung und der räumlichen Architektur des Labors. Weiterhin intra-agieren im fMRI soziale Wechselwirkungen, Marktfaktoren, politische Fragen, die Rezeptivität der scientific community und der Gesellschaft im Allgemeinen gegenüber der Methode. Soziokulturell und (wissenschafts-)historisch geprägte Bildkonventionen sowie Konnotationen von Farben, aber auch Überzeugungen über und Praxen von Geschlecht kommen hinzu. Die Kennzeichnung von fMRI als nicht-invasive Technik für die Visualisierung von Gehirnaktivität bezieht sich darauf, dass keine Instrumente oder Substanzen in den Körper von Versuchspersonen oder Patient/-innen eingeführt werden.27 Allerdings liegen die Personen selbst im Scanner und sind so Teil des fMRI-Apparates. Der Herstellungsprozess der biomedizinischen Bilder benötigt spezifisch geformte und sich spezifisch verhaltende – und damit temporär disziplinierte – Körper.28 Die verwendeten Scanner stellen Anforderungen psychischer (z.B. Überwindung von Angst, Klaustrophobie) und physischer (z.B. Schulter-, Kopfumfang) Art an die zu untersuchenden Personen, welche die Bildproduktion beeinflussen oder ganz verhindern können. Die technische Hardware »akzeptiert nur bestimmte Körper, die hinsichtlich Größe und Umfang nicht allzu sehr vom Durchschnitt abweichen«29 . Spezifisch genormte Körper sind damit Voraussetzung für die Konstruktion des resultierenden Bildes.30
26 | Ich beziehe mich hier auf Barads Analyse des piezoelektrischen Kristalls und folge teilweise ihrer Aufzählung möglicher relevanter Komponenten, vgl. K. Barad: Performing Culture. 27 | Im Gegensatz dazu werden beispielsweise für zelluläre Ableitungen in Tier ver suchen mit Mäusen oder Menschenaffen Elektroden in das Gehirn eingebracht. Bei der Positronen-Emissions-Tomo graphie (PET), einem anderen Bildgebungsverfahren, müssen die Versuchspersonen ein radioaktives Kontrastmittel einnehmen. Im Vergleich zu diesen am lebenden Organismus anwendbaren Methoden ist fMRI ›weniger inva siv‹. 28 | Vgl. auch R. Burri: Digitalisieren, disziplinieren. 29 | Vgl. ebd., S. 7, über das (strukturelle) MRI. 30 | Vgl. ebd.
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Die Versuchspersonen mit ihren Körpern sind, Barads Ansatz des agential realism folgend, Komponenten des fMRI-Apparates und nehmen in Intra-Aktion mit anderen Komponenten an der visuellen Materialisierung von Gehirnaktivität teil. Darüber hinaus braucht es auch molekulare Intra-Aktionen, damit das Phänomen ›Gehirnaktivität‹ im fMRI-Bild produziert werden kann. Moleküle im Blut agieren als wichtige Komponenten des fMRI-Apparates. Das Biotische ist somit im fMRI an der Produktion des Phänomens beteiligt. Die Hämoglobin- und Sauerstoffmoleküle sind partielle Akteure, die ihre eigene Darstellung beeinflussen und damit diskursive Bedeutungsmöglichkeiten einschränken, denn die Blutmoleküle bzw. deren Atomkerne intra-agieren mit dem Magnetfeld des Scanners und anderen Komponenten des Apparates. Sie nehmen an der Produktion der fMRI-Bilder teil und sind dadurch für den Materialisierungsprozess von Bedeutung.31 Funktionelles MRI ist demnach keinesfalls ›nicht-invasiv‹, sondern intraaktiv und zwar sowohl körperlich und molekular als auch diskursiv. Intra-Aktionen von biotischen Komponenten, technischer Hardware, mathematischen Algorithmen, statistischen Modellen, naturwissenschaftlichen Forschungspraxen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen sind als Teile des fMRI-Apparates in die Produktion von fMRI-Bildern eingebunden.
M ESSUNGSVISUALISIERUNG UND STATISTICAL POWER Da der Prozess des Messens beim fMRI immer zugleich ein Prozess der Visualisierung ist, verwischt die Unterscheidung zwischen Datenaufnahme, Modellierung, Datenanalyse, Interpretation und Präsentation. Dies bezeichne ich als Messungsvisualisierung, bei der die als normativer Anspruch in den Naturwissenschaften zumindest angestrebte Trennung zwischen Messen und Interpretieren aufgelöst ist. Wissenschaftler/-innen intra-agieren im Labor mit fMRI-Bildern auf dem Computer-Bildschirm. So hat beispielsweise die Kommunikations- und Wissenschaftsforscherin Morana Alač in einer ethnographischen Studie in fMRI-Laboren gezeigt, wie Handgesten von Forschenden an der Wissensproduktion teilhaben.32 Während sie Hirnbilder auf dem Bildschirm betrachten, gestikulieren Forschende und verändern die digitale Datenanzeige, um ihre experimentell erzeugten Daten zu verstehen. Auf diese Weise entfalten die produzierten Bilder ihre Wirkung während des Forschungsprozesses. Aber auch nach der Publikation der Ergebnisse in Fachzeitschriften und populären Medien wirken sie fort. 31 | Vgl. auch K. Barad: Posthumanist Performativity, S. 809. 32 | Alač, Morana: »Working with Brain Scans: Digital Images and Gestural Interaction in fMRI La bo ratory«, in: Social Studies of Science 38/4 (2008), S. 483-508.
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Die fMRI-Bilder kombinieren die Vorteile verschiedener visueller Darstellungsmittel oder »inscriptions«33 . Zum einen bezieht sich fMRI, wie Fotografie, auf eine »Ideologie des Sichtbaren als Beweismittel«34 . Ähnlich wie Fotografien, sind fMRI-Bilder zwar kodiert, aber eben derart, dass sie als unkodiert erscheinen.35 Daher werden sie oft nicht als auf komplexe Weise kodierte kulturelle Artefakte behandelt, sondern als Quelle objektiver Fakten. Durch das Verbergen ihrer Entstehung und die scheinbare technische Neutralität ihrer Herstellung sind fMRI-Bilder besonders wirkmächtig.36 Sie erlangen die rhetorische Stärke von Fotografien, welche mit Wahrheit und Authentizität konnotiert sind.37 Somit lassen sie sich einer Kategorie von »expert images«38 zuordnen, die visuell überzeugend sind, obgleich sie von Lai/-innen schwer zu interpretieren und zu verstehen sind. Auch wenn fMRI-Bilder anfällig dafür sind, als ›Fotografien von Hirnaktivität‹ angesehen zu werden und sie in ihrer Wirkung Ähnlichkeiten mit Fotografien aufweisen, unterscheidet sich gleichzeitig der Prozess ihrer Produktion, wie oben dargelegt, von dem der Fotografie. Letzterer funktioniert physikalisch ähnlich wie das menschliche Auge, d.h. über Reaktionen auf Licht unterschiedlicher Wellenlängen, und produziert entsprechend vertraute Bilder.39 Beim fMRI wird hingegen, wie oben ausgeführt, nicht etwas abgebildet, was vom Menschen visuell wahrnehmbar wäre40: neuronale Reaktionen auf bestimmte Reize oder kognitive Aufgaben, auf die über den Umweg der hämodynamischen Reaktion
33 | Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steven Woolgar (Hg.), Represen tation in Scientific Practice, Cambridge, MA: MIT Press 1990, S. 19-68. 34 | Vgl. Kuhn, Annette: The Power of the Image, London: Routledge 1985, hier S. 27 (Übersetzung K. N.). 35 | Vgl. ebd., S. 27. 36 | Vgl. B. Schinzel: The Body in Medical Imaging; S. Schmitz: Neue Körper, neue Normen? 37 | Lister, Martin/Wells, Liz: »Seeing Beyond Belief: Cultural Studies as an Approach to Analysing the Visual«, in: Theo van Leeuwen/Carey Jewitt (Hg.), Handbook of Visual Analysis, London: Sage 2001, S. 61-91, hier S. 89. 38 | Vgl. Dumit, Joseph: »Objective Brains, Prejudicial Images«, in: Science in Context 12/1 (1999), S. 173-201. 39 | Dies ist selbst dann der Fall, wenn wie heutzutage auch in der Fotografie zunehmend digitale Transfor mationsprozesse stattfinden. 40 | Vgl. auch Hagner, Michael: »Der Geist bei der Arbeit: Überlegungen zur visuellen Repräsentation cerebraler Prozesse«, in: Cornelius Borck (Hg.), Anatomien medizinischen Wissens. Medizin – Macht – Moleküle, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 259-286.
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rückgeschlossen wird. Die fotografische Analogie wird somit in Frage gestellt.41 Dennoch profitiert das fMRI-Bild gerade davon, dass wir eine Fotografie erwarten und es entsprechend dieser Sehgewohnheit interpretieren. Das Verfahren folgt außerdem einem Kartierungsparadigma. Die fMRI-Bilder sind statistische Karten, die quantitative Daten (Ergebnisse von statistischen Signifikanztests) visuell präsentieren und diese in Beziehung zum physischen Raum des Gehirns setzen. Sie lassen sich somit als Graphen einordnen, welche Phänomene durch Mathematisierung und Visualisierung in eine kompakte, transportierbare und überzeugende Form bringen. Die Wissenschaftsforscherin Anne Beaulieu wies darauf hin, dass brain mapping die Aufmerksamkeit verschoben hat von geistigen Prozessen in der Zeit hin zu räumlichen Mustern im Raum des Gehirns.42 Diese Verschiebung ist bedeutend, weil räumliche Karten politisch sind: Genauso wie die geographische Vermessung der Welt oder die Ziehung politischer Grenzen als Linien in Karten, sind auch Karten des Gehirns in Machtdiskurse verwickelt.43 Beispielsweise wenn geschlechterstereotype Zuschreibungen von kognitiven Fähigkeiten herangezogen werden, um Ausschlüsse von Frauen aus wissenschaftlichen Institutionen zu rechtfertigen.44 Neben Visualität spielen Statistik und Modellierung eine wichtige Rolle in der funktionellen Hirnbildgebung. Beide sind machtvolle Beweismittel in der Argumentation und lassen sich als »undisputed instrument of proof«45 charakterisieren. Mathematiknahe Argumentationen stellen ›Fakten‹ zur Verfügung, welchen eine außerordentliche Reliabilität und Validität zugeschrieben wird. Erst durch die Integration der Statistik in die Bilder werden diese im naturwissenschaftlichen Kontext überzeugend.46 ›Statistical power‹ – im Sinne der statistischen Härte signifikanter Differenzen – ist wichtig für die Akzeptanz der Ergebnisse in der scientific community. Aufgrund des publication bias weisen Studien, die Geschlechterdifferenzen zeigen, eine höhere Publikations-
41 | Vgl. auch Roskies, Adina L.: »Are Neuroimages Like Photographs of the Brain?«, in: Philosophy of Science 74/5 (2007), S. 860-872. 42 | Vgl. auch A. Beaulieu: Images Are Not the (Only) Truth. 43 | Vgl. ebd., S. 565. 44 | Wie z.B. in der durch die Äußerungen des ehemaligen Präsidenten der Universität Harvard, Law rence H. Summers, im Januar 2005 ausgelösten Debatte. 45 | Desrosière, Alain: The Politics of Large Numbers: A History of Statistical Reasoning, Cambridge MA: Harvard University Press 1998. 46 | Aber siehe auch Klein, Colin: »Images Are Not the Evidence in Neuroimaging«, in: British Journal for the Philosophy of Science (2009), Druckfassung i. Ersch., digital als: doi:10.1093/bjps/axp035, unter: http://bjps.oxfordjournals.org/cgi/content/abstract/axp035, zuletzt gesehen 20.5.2010.
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wahrscheinlichkeit auf als solche, die keine Geschlechtereffekte fanden.47 Die a priori-Kategorisierung in zwei Geschlechter (s.u.) und die ›statistical power‹ der Datenanalyse – im Sinne der Überzeugungskraft der statistischen Argumentation – dienen auf diese Weise der Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen. Statistische Normen werden so zu Normen der wissenschaftlichen Praxis.48 Die visuellen Mittel beim fMRI fokussieren, basierend auf einem statistischen Differenzparadigma, auf das Zeigen von Differenzen. Beispielsweise werden gemittelte Differenzbilder von Männern und von Frauen nebeneinander gestellt oder in contrast analyses nur diejenigen Areale farblich markiert, die bei jeweils einer der Geschlechtergruppen eine höhere Aktivierung aufweisen.
G ESCHLECHTER -K ODIERUNG – G ESCHLECHTER -W ISSEN Innerhalb der Neurowissenschaften scheint die Kategorie Geschlecht49 so ›natürlich‹, dass sie nicht erklärt, definiert oder gerechtfertigt werden muss. Es gibt auch keine Erläuterung dazu, warum Geschlecht eine dichotome Kategorie sein sollte.50 Anhand welcher Kriterien erfolgt die Zuordnung individueller Teilnehmer/-innen zu einer der als ›F‹ oder ›M‹ bezeichneten Gruppen? Wie werden die Grenzen gezogen? Auf diese Fragen geben die publizierten Studien keine Antwort.
47 | Vgl. z.B. Dickersin, Kay/Min, Yuan-I: »Publication Bias: The Problem That Won’t Go Away«, in: Annals of the New York Academy of Science 703 (1993), S. 135-148; Kaiser, Anelis/Haller, Sven/Schmitz, Sigrid et al.: »On Sex/gender Related Similarities and Differences in fMRI Lan guage Research«, in: Brain Research Reviews 61 (2009), S. 4959, siehe auch Fußnote 12. 48 | K. Nikoleyczik: NormKörper. 49 | Innerhalb der Neurowissenschaften werden die Begriffe ›sex‹ und ›gender‹ austauschbar verwen det und nicht genauer geklärt, vgl. Nikoleyczik, Katrin: »Imaging Gender: On the Re-Production of Difference in Functional Neuroimaging«, in: Robyn Bluhm/ Anne Jacobson/Heide Maibom (Hg.), Neurofeminism, (i. Ersch.). Für eine quantitative Analyse und Diskussion der Verwendung dieser Begriffe in wissenschaftlichen Publikationen vgl. Haig, David: »The Inexorable Rise of Gender and the Decline of Sex: Social Change in Academic Titles, 1945-2001«, in: Archives of Sexual Behavior 33 (2004), S. 87-96. 50 | Für eine kritische biomedizinische Perspektive auf die vermeintliche Eindeutigkeit des sexuellen Dimorphismus beim Menschen vgl. Blackless, Melanie/Charuvastra, Anthony/Derryck, Amanda et al.: »How Sexually Dimorphic Are We? Review and Synthesis«, in: American Journal of Human Biology 12 (2000), S. 151-166.
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Die Geschlechterforscherinnen Gabriela Imboden, Anelis Kaiser und Christina Ratmoko beschreiben die a priori-Geschlechterdifferenzierung im herkömmlichen Setting der neuropsychologischen Wissensproduktion folgendermaßen: Experimentierende treffen zum ersten Mal eine Entscheidung bezüglich des Geschlechts, wenn sie ›Frauen‹ und ›Männern‹ in vivo begegnen. Sie erfragen das Geschlecht nicht, sondern stellen es aufgrund des Namens und der körperlichen Erscheinung fest und nehmen dann entsprechend gesellschaftlicher Konvention gemäß dem binären Geschlechtercode eine Einteilung vor. Die selbstverständlich vorgenommene Klassifikation bestimmt auch den weiteren Verlauf der Datenanalyse.51 Viele fMRI-Scanner ermöglichen es nicht, die Rubrik des Geschlechts offen zu lassen und ohne diese Angabe eine Messung durchzuführen. Geschlecht ist bereits in der Software zur Datenaufnahme als dichotome Kategorie eingeschrieben.52 Die technische Konfiguration des Gerätes macht Geschlecht zu einer leicht bestimmbaren und auswertbaren, binär codierten Variable. Die Imaging-Technologien enthalten also Einschreibungen und Vorannahmen.53 Dasselbe trifft auch für die statistischen Modelle zu, die fast ausschließlich nach Differenzen suchen. Diese Art von Forschung etabliert meines Erachtens wenig ›Wissen über Geschlecht‹ – also darüber, was Geschlecht ist, wie es entsteht und was seine Auswirkungen sind. Vielmehr wird Geschlechterdifferenz re-produziert. Die Wissensproduktion beschränkt sich auf ›Geschlechterdifferenzforschung‹, die in Bildern kondensiert wird, anstatt sich um ›Geschlecht-er-forschung‹ zu bemühen. Laut Imboden et al. ist, um geschlechtsspezifisches Wissen zu erzeugen, in der experimentellen Hirnforschung nur Differenzforschung möglich, Alternativen würden nicht zugelassen. Eine Anpassung der zeitlichen und räumlichen Installation des Experiments, um ein erweitertes Geschlechtskonzept zu integrieren, sei nicht möglich.54 Dies mag auf den ersten Blick nachvollziehbar sein. Meines Erachtens gibt es dafür aber weder wesentliche technische noch epistemische Gründe. Durchaus denkbar sind Möglichkeiten in einem experimentellen Paradigma bewusster und damit auch differenzierter mit der Kategorie Geschlecht umzugehen – z.B. bei der Konstruktion der eingesetzten technischen Artefakte und auch in der 51 | Imboden, Gabriela/Kaiser, Anelis/Ratmoko, Christina: »Das ›bewegte‹ Geschlecht«, in: Dominique Grisard/Jana Häberlin/Anelis Kaiser et al. (Hg.), Gender in Motion: Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung, Frankfurt a.M.: Campus 2007, S. 104-127, hier S. 116. 52 | Vgl. ebd. 53 | Vgl. ebd.; B. Schinzel: The Body in Medical Imaging; S. Schmitz: Neue Körper, neue Normen? 54 | G. Imboden et al.: Das ›bewegte‹ Geschlecht, S. 114-116.
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statistischen Auswertung. Forschende können so Verantwortung für diejenigen Komponenten des Apparates übernehmen, auf die sie Einfluss haben.55
R E -P RODUK TION VON D IFFERENZ Die Strategie des brain imaging basiert also auf der Re-Produktion von Differenzen in Differenzierungsprozessen. Der Begriff der ›Re-Produktion‹ meint im Sinne des agential realism nicht etwa eine ›Reproduktion von etwas Vorgängigem‹. Re-Produktion von Geschlechterdifferenz bedeutet also nicht, dass diese vorgängig im Material existiert. Vielmehr ist Geschlechterdifferenz als ein Konzept von Geschlecht, welches Geschlecht mit Geschlechterdifferenz gleichsetzt, Teil des fMRI-Apparates, der das Phänomen ›Geschlechterdifferenz in kognitiven Fähigkeiten‹ produziert. Somit wird Geschlechterdifferenz einerseits produziert. Andererseits wird sie aber als Konzept fortgeschrieben, also re-produziert. Dabei erfolgt im Produktionsprozess eine Transformation von einer ›Differenz zwischen Menschen‹ hin zu einer ›Differenz zwischen Hirnarealen‹. Diese Differenzierungen zwischen Gruppen von Versuchspersonen und zwischen Räumen im Gehirn basieren auf Differenzierungen auf anderen Ebenen. Differenz wird in dem Sinne re-produziert, dass andere Differenzen als Teil des Apparates vorausgesetzt werden, wie z.B. Aufgabe/Kontrolle, Aktivität/ Passivität, Mann/Frau, signifikant/nicht-signifikant, Oxyhämoglobin/Desoxyhämoglobin, wie die strukturelle oder funktionelle Abgrenzung von Hirnarealen oder die Subtraktion von zwei Aktivierungen im individuellen Differenz-Bild. Unter Re-Produktion von Differenz verstehe ich also, dass Differenz in einem Prozess hergestellt wird, in den weitere Differenzierungen eingegangen sind. Differenz ist als Konzept Teil des fMRI-Apparates, oder anders ausgedrückt: der fMRI-Apparat mit mehreren ›Differenz-Komponenten‹ ist eine materialisierte Form des Konzepts der Differenz.56
55 | Zu den Möglichkeiten einer subversiv-essentialistischen Perspektive innerhalb der Biologie vgl. auch Palm, Kerstin: »Gender – eine unbekannte Kategorie in den Naturwissenschaften?«, in: Therese Frey Steffen/Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hg.), Gender Studies: Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 97-109. 56 | Eine solche Re-Produktion von Differenz findet nicht nur im fMRI statt, sondern ist als Leitgedan ke westlicher Wissenschaft grundlegend für die Produktion von Wissen.
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V ON D IFFERENZEN ZU D IFFERENZIERUNGEN Funktionelles MRI ist auf verschiedenen Ebenen in Grenzziehungsprozesse verwickelt. Die Durchsetzung von Grenzen bewirkt Ausschlüsse und erfordert Verantwortung. Indem materiell-diskursive Apparate einschränken, was produziert wird, produzieren sie immer auch bestimmte Ausschlüsse. Daher sind Intra-Aktionen beschränkend, aber nicht determinierend.57 Hier scheint sowohl aus epistemologischer Perspektive als auch für die neurowissenschaftliche Praxis die Unterscheidung zwischen Differenz und Differenzierung sinnvoll. Für das Produzieren von Wissen und das Erkennen sind Unterscheidungen notwendig. Allerdings sollte zwischen Differenz als essentialistischer Festlegung und Differenzierung als Voraussetzung und Möglichkeit für das Erkennen unterschieden werden.58 Meine Unterscheidung soll deutlich machen, dass es sich um einen Prozess handelt: einen Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess. In der Praxis empirischer Forschung sind immer Entscheidungen notwendig, z.B. zur Relevanz von Kategorien oder Konzepten und ihrer Operationalisierung.59 Forschende haben hier jedoch immer Möglichkeiten zur Veränderung (z.B. des Versuchsaufbaus, der technischen Instrumente oder der verwendeten Kategorien und Konzepte), also zur »Rekonfiguration materiell-diskursiver Apparate«60 und damit verbunden auch der Grenzziehungen und Ausschlüsse, die diese Praktiken vollziehen. Der Zusammenhang von Epistemologie und Differenz lässt sich insofern als forschungspraktisches Problem begreifen. Denn die Dimensionen gender in science (d.h. Mechanismen des Gendering in wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, Theoriebildungen, Methoden und Interpretationen) und science of gender (d.h. die naturwissenschaftliche Konstruktion von Geschlechterdifferenzen) sind miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig.61 Wenn wir Epistemologie als Reflexion der Forschungspraxis ansehen, gelangen Frage57 | Vgl. K. Barad: Getting Real, S. 112. 58 | Für ein ähnliches Argument vgl. Janich, Peter/Weingarten, Michael: Wissenschaftstheorie der Biologie. Methodische Wissenschaftstheorie und die Begründung der Wissenschaften, München: Fink 1999, hier S. 78. 59 | Dies ist insbesondere im experimentellen und quantitativen Paradigma der Naturwissenschaften der Fall, aber auch im Rahmen eines qualitativen Paradigmas, wie es bspw. in der empirischen Sozialforschung Anwendung findet. 60 | K. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 178. 61 | Für das Themenfeld ›Geschlecht und Wissenschaft‹ hat Keller drei Analysedimensionen dif fe ren ziert: women in science, science of gender und gender in science; vgl. Keller, Evelyn Fox: »Origin, His tory, And Politics of the Subject Called ›Gender and Science‹ – A first person account«, in: Sheila Jasanoff/Gerald E. Markle/James C. Pe-
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stellungen und Methoden unserer Forschung in den Fokus. In Bezug auf das brain imaging bedeutet dies, auch zu ergründen, welche Gemeinsamkeiten Gruppen haben. Anhand welcher Kriterien erfolgt die Bildung von verschiedenen Gruppen? Was für ein Verständnis von Geschlecht wird zugrunde gelegt? Wie kann ein Forschungsdesign in den Neurowissenschaften aussehen, welches Geschlecht(er) nicht a priori kategorisiert?62 Wie oben ausgeführt, ist Statistik ein wichtiger Aspekt bei der Produktion von Differenz im brain imaging. Statistik könnte also als Ansatzpunkt dienen, um über Alternativen zur fortwährenden Re-Produktion von Differenz nachzudenken und so zu einer differenzierteren Vorstellung beispielsweise über Geschlecht zu gelangen. Sinnvoll scheinen beispielsweise statistische Überlegungen zur Suche nach Ähnlichkeiten und die vertiefte Reflexion darüber, was statistische Differenzen eigentlich konkret bedeuten (dies betrifft etwa die Aussagekraft statistischer Testergebnisse oder, wie solche Forschungsergebnisse textlich formuliert werden). Ich habe argumentiert, dass der fMRI-Apparat Differenzen als Phänomene produziert (›Geschlechterdifferenzen in kognitiven Fähigkeiten‹, ›Aktivitätsdifferenzen zwischen Hirnarealen‹ usw.). Differenz ist aber auch schon als Konzept Teil des Apparates, so ist sie in den technischen Artefakten materialisiert und im Forschungsdesign angelegt. Sie wird in den Forschungsergebnissen als Phänomen re-produziert, also fortgeschrieben. Deren visuelle Form, die verwendeten bildlichen Mittel sowie die vermeintliche technowissenschaftliche Neutralität der Bildproduktion machen den zugrunde liegenden Differenzierungsprozess unsichtbar. Die funktionellen Hirnbilder werden produziert und sind selbst nicht passiv sondern produktiv: Sie sind Barad folgend Apparate und daher Phänomene.63 Diese fMRI-Bilder lassen sich als »performative Repräsentationen«64 ansehen, die durch die Re-Produktion (im oben beschriebenen Sinne) und das Zur-Schau-Stellen von Differenzen wirken. Sie beeinflussen unsere Vorstellungen über Gehirne, Kognition und das Menschsein (inklusive dem Geschlecht).
tersen et al. (Hg.), Handbook of Science and Tech no logy Studies, Thousand Oaks: Sage 1995, S. 80-95. 62 | Für vertiefte methodologische Überlegungen hierzu vgl. Nikoleyczik, Katrin: »Transdisciplinizing Diffractively. Methodological Considerations for the Inclusion of Gender Knowledge in Neuroscientific Research Practice«, in: Isabelle Dussauge/Anelis Kaiser (Hg.), NeuroGenderings: Critical Studies of the Sexed Brain (i. Ersch.). 63 | Vgl. K. Barad: Posthumanist Performativity, S. 816f. 64 | Wenk, Silke: »Repräsentation in Theorie und Kritik: Zur Kontroverse um den ›Mythos des ganzen Körpers‹«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender: Eine Einführung, Berlin: Rei mer 2006, S. 99-113, hier S. 100f.
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Mit den zahlreichen Abstraktions-, Differenzierungs-, Übersetzungs- und Entscheidungsvorgängen, auf die das Bildgebungsverfahren angewiesen ist, stellt das fMRI bisher nicht wahrgenommene Anforderungen an Forschende. Die wissenschaftliche Relevanz der kognitiven Neurowissenschaften hat seit den 1990er Jahren zugenommen. Mit der damit einhergehenden Zunahme an gesellschaftlicher Relevanz, welche durch die ansprechenden Bilder der Differenz unterstützt wird, geht auch eine verstärkte Verantwortung einher. Über der Betonung von Differenzen zwischen Menschen sollten sowohl der Differenzierungsprozess selbst als auch die Gemeinsamkeiten nicht aus dem Blick geraten.
Epistem-onto-logische Konstruktionen »sozialer« Maschinen Verschiebungen in der Reproduktion von Geschlecht Corinna Bath »Above all, the human animal is social. For an artificially intelligent system, how could it be otherwise?«1
Das Soziale, Emotionale und Kommunikative galt bis vor kurzem als das spezifisch Humane. Erst in jüngster Zeit ist diese Grenze überschritten und Sozialität auch den Maschinen zugestanden worden. Gegenwärtig wird die traditionelle Trennung von Technischem und Sozialem bzw. zwischen Mensch und Maschine besonders dort unterlaufen, wo die Informatik das Soziale selbst zu ihrem Gegenstand macht – d.h. dort, wo es formal gefasst, modelliert und in die Maschine eingeschrieben werden soll. Diesen Trend zur Informatisierung des Sozialen haben wir im Forschungsprojekt »Sozialität mit Maschinen« mittels Textanalysen, Expert/-inneninterviews und Feldforschungen empirisch untersucht sowie geschlechtertheoretisch analysiert.2 Im Zentrum standen anthropomorphe Softwareagenten, die menschenähnlich auf dem Bildschirm verkörpert sind und mit sozialen und emotionalen Eigenschaften ausgestattet werden. Sie ›sprechen‹ mit ihrem menschlichen Gegenüber bzw. ›chatten‹ textbasiert. Dabei werden neben textuellen bzw. verbalen Äußerungen der virtuellen Menschen auch graphische Aspekte von Interaktionen wie Gesichtsausdruck, Handgesten, Körpersprache, Blickverhalten und Bewegung implementiert.
1 | Dautenhahn, Kerstin: The AISB Convention – Social Intelligence and Interaction in Animals, Robots and Agents, Hertfortshire 2005, hier S. i. 2 | Das Projekt wurde 2004-2006 vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst (Pilotprogramm »Gender IT!«) gefördert und am Institut für Wissenschaftstheorie der Universität Wien von Jutta Weber und mir unter der Leitung von Prof. Mona Singer durchgeführt.
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Es liegt auf der Hand, dass die Konstruktion solcher sozialer Maschinen eng mit Geschlechterkonstruktionen verbunden ist. Denn jeder Versuch, technische Artefakte als menschenähnlich verkörpert und insbesondere als sozial zu kreieren, beruht notwendigerweise auf ontologischen bzw. anthropologischen Setzungen – und damit zugleich auf Annahmen über Geschlecht. Die Vergeschlechtlichung virtueller Menschen beschränkt sich damit jedoch nicht allein auf die fertigen Repräsentationen auf dem Bildschirm, etwa auf die dargestellten Körperformen oder auf Antworten, die die Maschine gibt. Vielmehr findet die Konstruktion von Differenz – so eine der Hauptthesen dieses Beitrags – bereits bei der theoretischen Konzeption des Sozialen und Humanen, die in die Maschinen eingeschrieben werden soll, statt. Um diese Prozesse der Vergeschlechtlichung in den Blick nehmen zu können, genügt es nicht, den Fokus wie so häufig allein auf die Nutzung der Technologie zu richten. Er ist vielmehr auf die Entwicklung der Artefakte selbst zu verschieben, insbesondere auf die frühen Phasen ihrer technischen Gestaltung und Konzeption. Den interaktiven, menschenähnlichen Figuren auf dem Bildschirm liegt ein aktuell florierendes interdisziplinäres Forschungsgebiet zugrunde, das zwar verspricht, die Mensch-Computer-Interaktion so zu gestalten, dass sich die Maschine an menschliche Verhaltensweisen anpasst. Wie mittels des Skript-Konzepts von der sozialwissenschaftlichen Technikforschung anhand zahlreicher Beispiele aufgezeigt,3 werden es letztendlich allerdings doch die Nutzer/-innen sein, die große Anpassungsleistungen an die in die Maschinen eingeschriebenen Sozialitäts- und Interaktionskonzepte erbringen müssen, um die Technologie sinnvoll gebrauchen zu können. In unserer empirischen Untersuchung4 zeigte sich eine erstaunliche Bandbreite unterschiedlicher Konzeptionen des Sozialen, auf die in der Softwareagentenforschung Bezug genommen wird. Herangezogen werden je nach disziplinärer Herkunft, institutioneller Einbindung und fachlicher Zielsetzung der jeweiligen Forscher/-innen psychologisch-deskriptive, kognitionswissenschaftliche, evolutionsbiologische und medienwissenschaftliche Ansätze. Diese vier Sozialitätskonzeptionen stelle ich im Folgenden genauer vor und diskutiere die damit verknüpften anthropologischen Setzungen, insbesondere auch die zugrunde liegenden Subjektverständnisse.5 Ziel meines Beitrags ist es, auf dieser Grundlage herauszuarbeiten, auf welche je spezifischen Weisen Geschlecht technisch fortgesetzt oder verschoben, mithin reproduziert wird. Diese 3 | Vgl. etwa Rommes, Els: Gender Scripts and the Internet, Enschede: Twente University 2002 sowie Oudshoorn, Nelly/Pinch, Trevor (Hg.), How Users Matter. The Co-Construction of Users and Technology, Cambridge/London: MIT Press 2003. 4 | Vgl. Fußnote 2. 5 | Vgl. zu Identität als »anthropologischer Konstante« den Beitrag von Ingrid Jungwirth im vorliegenden Band.
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Geschlechteranalyse ist gleichzeitig auf Brüche mit der bestehenden strukturellsymbolischen Geschlechterordnung gerichtet, die als Ansatzpunkte für eine feministische Intervention dienen können. Im Ergebnis wird sich zeigen, wie eng die jeweiligen ontologischen Annahmen der Softwareagentenforscher/-innen darüber, was das Humane, Soziale und Geschlecht ›ist‹, mit bestimmten epistemologischen Annahmen verbunden sind. Die feministische TechnoscienceForscherin Karen Barad spricht dementsprechend von »Epistem-onto-logien«.6 Sie betont damit einen Aspekt der feministischen Forschung, der in den letzten Jahren eher vernachlässigt wurde. Diese epistemologie- und ontologiekritische Perspektive, die erst durch einen Blick auf die theoretische Konzeption und technische Gestaltung der Artefakte, d.h. hinter die Kulissen des Bildschirms möglich wird, möchte auch ich in diesem Beitrag stark machen.
1. D ESKRIP TIVE S OZIALITÄTSKONZEP TION : W IE L ÄSST SICH SOZIALE I NTER AK TION BESCHREIBEN UND NACHBILDEN ? Die in der Softwareagentenforschung am weitesten verbreitete Sozialitätskonzeption ist der deskriptive Ansatz, der darauf zielt, menschliche soziale Interaktion in ihrer äußerlichen Erscheinung zu beschreiben, um deren Modell der Maschine einschreiben zu können. Im Ergebnis sollen die technischen Agenten verbale und non-verbale Äußerungen der Nutzer/-in erkennen und auf diese mit passenden Antworten bzw. eigenen Gesprächsinhalten reagieren können. Dabei spielen Funktionen wie Feedback, Sprecherwechsel und die Fähigkeit Zeichen, die den Status und Zustand des laufenden Gesprächs signalisieren, zu deuten und zu setzen, eine wesentliche Rolle.7 Der deskriptive Ansatz basiert in der Regel auf Mikroanalysen verbalen und nonverbalen Verhaltens von realen Gesprächssituationen, die per Video und Tonband aufgezeichnet und später untersucht werden: »traditionally we have looked – in addition to speech content – at perverbal cues, so intonation rhythm, and those things in a speech channel, but then there is a full range of nonverbal cues, so hand gestures, facial display, 6 | Barad, Karen: »Getting Real: Technoscientific Practices and the Materialization of Reality«, in: Differences. Journal of Feminist Cultural Studies 10/2 (1998), S. 87-128; hier S. 120, Fußnote 1. Siehe auch Barad, Karen: »Posthumanist Performativity. Towards an Understanding of How Matter Comes to Matter«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28 (2003), S. 801-831, hier S. 829. 7 | Cassell, Justine: »Mehr als nur ein nettes Gesicht. Embodied Conversational Interface Agents«, in: Christian Lindner (Hg.), Avatare, Berlin: Springer 2003, S. 249-265; Cassell, Justine/Sullivan, John/Prevost, Scott et al. (Hg.): Embodied Conversational Agents, Cambridge/Massachusetts: MIT Press 2000.
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body posture, all of those kinds of things«,8 beschreibt einer unserer Interviewpartner/-innen die Verschiebung des Fokus von der gesprochenen Sprache zur Körpersprache.9 Ein Problem der technischen Herstellung überzeugend sozialer und menschenähnlicher Softwareagenten besteht darin, Sprache, Körpersprache und Gesprächstrategien aufeinander abzustimmen. Dazu versuchen die Forscher/innen den technischen Gesprächspartner/-innen eine Persönlichkeit zu verleihen. Im Rückgriff auf wissenschaftlich-theoretische Erkenntnisse aus der (Organisations-)Psychologie und Personalführung konzipieren sie die Persönlichkeit der künstlichen Figuren anhand weniger Faktoren, beispielsweise Extrovertiertheit, Offenheit, Zustimmungsfähigkeit, Bewusstsein und Neurotizismus,10 die bei der prototypischen Implementierung der Agenten oft nochmals reduziert werden.11 Insgesamt rekurriert der deskriptive Ansatz damit primär auf empirisch ermittelte Beschreibungen und psychologische Erklärungsmodelle menschlicher Sozialität. Er basiert auf der Annahme, dass soziales Verhalten formal beschrieben, d.h. eindeutig kausal und deterministisch charakterisiert und dieses Modell in die Technik hinein abgebildet werden kann. Epistemologisch betrachtet gründet der Ansatz somit auf dem Bestreben, zwischenmenschliches verbales und non-verbales Interaktionsverhalten zwischen zwei Gesprächspartner/-innen so gut wie nur möglich nachzubilden. Daher tendiert er zu einem naiven
8 | IP4, 70-75, Zitate aus den Expert/-inneninterviews führe ich hier in der jeweiligen Originalsprache (englisch oder deutsch) an. 9 | Für die Implementierung non-verbalen Verhaltens werden häufig Techniken wie das Motion Capture eingesetzt. Dabei werden Personen mit magnetischen oder reflektierenden Markern ausgestattet, die ihre Bewegungen am Computer leichter verfolgbar machen. Sensoren identifizieren die Positionen und Winkel der Marker, deren Geschwindigkeit, Beschleunigung und Impulse, um letztendlich eine möglichst akkurate digitale Repräsentation der Bewegung herstellen zu können. Anthropomorphe Softwareagenten sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sie gerade nicht in Form von vorgefertigten Film- bzw. Animationssequenzen dargestellt werden, sondern ihre jeweiligen Reaktionsweisen und ihr ›Verhalten‹ in Echtzeit im Rechner erzeugt wird. 10 | Mit Bezug auf McCrae, Robert/John, Oliver: »An Introduction to the Five-Factor Model and its Applications«, in: Journal of Personality 60 (1992), S. 175-215. 11 | Beispielsweise werden die normalerweise kontinuierlich variierenden Grade auf fest vorgegebene, diskrete Werte beschränkt – beim Faktor Extrovertiertheit etwa auf die drei Werte extrovertiert, neutral, introvertiert, vgl. André, Elisabeth/Rist, Thomas/ Susanne van Mulken et al.: »The Automated Design of Believable Dialogues for Animated Presentation Teams«, in: Justine Cassell et al. (Hg.), Embodied Conversational Agents, S. 220-255.
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Realismus, demzufolge es eine und nur eine Welt gibt, die sich unabhängig von der Betrachter/-in stets gleich darstellt. Wissenschaftstheoretiker/-innen weisen seit langem darauf hin, dass ein solches Verständnis Gefahr läuft, eine hegemoniale Weltsicht festzuschreiben und zu verobjektivieren. Speziell die feministische Technikforschung hat mit dem Konzept der »I-methodology«12 darauf aufmerksam gemacht, dass die in Technologien repräsentierte Weltsicht eher die Selbstverständnisse der Technikgestalter/-innen spiegelt, die oft eine sozial homogen und männlich geprägte Gruppe bildeten. Diese gingen häufig implizit davon aus, dass die Nutzer/-innen ihrer Produkte ähnliche technologische Kompetenzen, Vorlieben und Interessen hätten wie sie selbst – ohne dies zu untersuchen. Im Fall der menschenähnlichen Softwareagenten schlagen sich die impliziten Vorannahmen technischer Konstruktion u.a. nieder im Blick, der den Nutzer/-innen unterstellt wird, und damit in der Modellierung der Figuren selbst. Die Agenten werden weniger als Subjekte konzipiert denn als ideales Gegenüber eines hegemonialen (Designer-)Blicks. Tatsächlich demonstrieren viele der virtuellen Menschen strikt binäre Geschlechtermodelle, etwa in Form stark sexualisierter Körper oder geschlechtsstereotyper Ausdrucksweisen, die überzogener ausgeformt sind als die Körper und Ausdrucksweisen realer Personen. Sara John konnte etwa in einer Computerspiele-Firma den Aushandlungsprozess um die vom Design-Team angestrebte wirklichkeitsgetreue Darstellung der Spielfiguren beobachten. Dort wurde versucht, die männliche Figur so getreu wie möglich nachzubilden, während über die Implementierung der weiblichen Spielfigur ein Disput entstand, der letztendlich darin resultierte, dass sie relativ längere Beine erhielt als das reale Vorbild.13 Andere Ansätze, den Softwareagenten Sozialität einzuschreiben, gründen ebenfalls auf der Prämisse Realität abzubilden, berufen sich jedoch stärker auf theoretische Modelle. Dabei werden epistemologische, ontologische und vergeschlechtlichende Annahmen auf neue Weise verknüpft und spezifische Subjektverständnisse etabliert.
12 | Vgl. Rommes, Els: Gender Scripts and the Internet, Enschede: Twente University 2002, die sich auf Akrich, Madeleine: »User Representations: Practices, Methods and Sociology«, in: Arie Rip/Thomas Misa/Johan Schot (Hg.), Managing Technology in Society, London/New York: Pinter 1995, S. 167-184 bezieht. 13 | Vgl. John, Sara: »Un/realistically Embodied: The Gendered Conceptions of Realistic Game Design«, in: Proceedings of the Workshop »Gender and Interaction. Real and Virtual Women in a Male World« der AVI 2006 (23-26 May, 2006 – Venice, Italy).
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2. D ER KOGNITIONSWISSENSCHAF TLICHE A NSAT Z : W IE FUNK TIONIERT SOZIALES V ERHALTEN ? Als Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz ist in der Softwareagentenforschung der Bezug auf die Kognitionswissenschaften weit verbreitet, insbesondere auf die sogenannte »Theory of Mind (ToM)«.14 Theory of Mind bezeichnet die kognitive Fähigkeit, andere Menschen als intentional Handelnde aufzufassen, d.h. ihr Bewusstsein im Sinne intentionaler Zustände zu begreifen. »You can’t understand how you are relating to someone else unless you know what their state is, what they think of you, what you think of them«15, fasst eine/-r unserer Interviewpartner/-innen diesen Ansatz zusammen. »How does the virtual human see himself, see the user, see the other virtual humans in its world? And how do those users, those other entities inform its behaviour. And vice versa: what is the human’s model of these different humans in this environment? […] if you start with that basic model, a lot of questions about social relationships can be recast […] in terms of how people are viewing each other, how these entities and persons are viewing each other«16, wurde uns das zugrunde gelegte Sozialitätsverständnis erläutert, das häufig auch als Intentionalität zweiter Ordnung bezeichnet wird.17 Rekurriert wird dabei auf die Entwicklungspsychologie, derzufolge ToM eine angeborene Fähigkeit ist, die Kinder normalerweise in ihrem dritten Lebensjahr entwickeln. Dort wird diese Fähigkeit anhand sogenannter False-Belief-Aufgaben getestet. Beispielsweise wird das Kind gefragt, was sich in der vor ihm stehenden Keksdose befinde. Anschließend wird die Dose geöffnet, in der jedoch nicht – wie erwartet – Kekse liegen, sondern etwas anderes, z.B. Buntstifte. Nun wird das Kind gefragt, was eine andere Person in dieser Dose vermuten würde. 14 | Vgl. etwa Baron-Cohen, Simon: »Precursors to a Theory of Mind: Understanding Attention in Others«, in: Andrew Whiten (Hg.), Natural Theories of Mind: Evolution, Development and Simulation of Everyday Mindreading, Oxford: Basil Blackwell 1991, S. 233-251. Für den Begriff Theory of Mind gibt es im Deutschen keine einheitliche Übersetzung. Wörtlich wäre er mit »Theorie des Geistes« oder »Theorie des Seelischen« zu übersetzen, bedeutet aber eher »Annahmen über das Verstehen«. Gelegentlich wird auch »Mentalisierungstheorie« benutzt. 15 | IP 1, 173-175. 16 | IP 1, 156-163. 17 | Arstington, Janet: The Child’s Discovery of the Mind, Cambridge: Cambridge University Press 1993. Siehe hierzu auch das Konzept der Erwartungs-Erwartungen bei Lindemann, Gesa: »Person, Bewußtsein, Leben und nur-technische Artefakte«, in: Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 79-100.
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Kinder, die noch keine Theory of Mind entwickelt haben, würden ›Buntstifte‹ antworten, ToM-fähige Kinder hingegen ›Kekse‹. Um dieses kognitionswissenschaftliche Sozialitätsverständnis technisch zu implementieren, machen die Softwareagentenforscher/-innen theoretische Anleihen bei der analytischen Philosophie, der Sprache als ein Medium gilt, um Bedeutung und Intention zu repräsentieren.18 Obwohl bereits frühere Experimente gezeigt hätten, dass Intentionalität Sprache nicht notwendig voraussetze,19 beschreiben sie im Anschluss an diese Tradition eigene intentionale Handlungen sowie die anderer Personen durch Aussagen der Form »X glaubt, dass Y beabsichtigt, dass sie/er Z von p überzeugt«. Anders ausgedrückt, nehmen Vertreter/-innen der kognitionswissenschaftlich orientierten Softwareagentenforschung an, dass sich Intentionalität mathematisch formalisieren lässt. Dies ermöglicht, den Ansatz computertechnisch mit Hilfe der sogenannten BDIArchitektur zu realisieren.20 Diese Software-Architektur ist ein in der Künstlichen-Intelligenzforschung weit verbreitetes Modell zur formalen Beschreibung mentaler Komponenten künstlicher Agenten. Dabei steht BDI für Beliefs, Desires und Intentions (Glauben/Wissen, Wünsche/Ziele, Absichten). Beliefs repräsentieren das Wissen des Agenten, dessen Inhalte beliebig, wie z.B. Wissen über die unmittelbare Umgebung oder die eigene Geschichte, sein können. Desires beinhalten ein langfristiges Ziel, welches typischerweise durch einen angestrebten Zustand beschrieben wird. Die ›Motivation zu handeln‹ beziehe der Agent aus diesem übergreifenden Ziel. Mit Intentions wird der Weg zum langfristigen Ziel geplant, indem alle Zwischenziele definiert, arrangiert und ein zeitlicher Ablauf festgelegt werden. Widersprüchliche Ziele werden dabei nach ihrer Dringlichkeit gewertet. Mittels der BDI-Architektur lassen sich die mentalen Modelle des Agenten sowie Annahmen über die Interaktionspartner/-in in Form formaler Aussagen beschreiben und Abläufe modellieren. Darüber hinaus ist jedoch für die technische Implementierung ein Rahmen nötig, anhand dessen entschieden werden kann, ob eine repräsentierte Situation positiv oder negativ in Bezug auf die zuvor gesetzten sozialen Ziele beurteilt werden kann. Dazu werden häufig sogenannte Einschätzungstheorien aus der Psychologie herangezogen, die eine Beurteilung des Eigenen und des Anderen anhand zuvor festgelegter Regeln
18 | Vgl. etwa Dennett, Daniel C.: The Intentional Stance, Cambridge: MIT Press 1987. 19 | Vgl. Premack, David. G./Woodruff, Guy: »Does the Chimpanzee Have a Theory of Mind?«, in: Behavioral and Brain Sciences 1 (1978), S. 515-526. 20 | Vgl. etwa Torres, Jorge/Nedel, Luciana P./Bordini, Rafael H.: »Using the BDI Architecture to Produce Autonomous Characters in Virtual Worlds«, in: Thomas Rist/Ruth Aylett/Daniel Ballin/Jeff Rickel (Hg.), Intelligent Virtual Agents. International Workshop No. 4, Berlin: Springer 2003, S. 197-201.
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ermöglichen. Insgesamt lässt sich damit soziales Verhalten zwar formalisieren und simulieren, es wird dabei jedoch höchst reduktionistisch gefasst.21 Während Geschlechtseinschreibungen beim deskriptiven Ansatz primär auf der Ebene der äußerlichen Repräsentation der Figuren (Körper, Bewegung, Wortwahl, Intonation etc.) erfolgen, reproduziert der kognitionswissenschaftliche Ansatz Geschlecht stärker durch das zugrunde gelegte Menschenbild. Künstliche Menschen werden auf dieser Grundlage als intentionale Agenten mit formalen Wissensvorstellungen, Zielen und Wünschen konzipiert. Ein solches, für die sprachbasierten Ansätze der klassischen symbolorientierten Künstlichen Intelligenz typisches Subjektverständnis steht seit langem in der feministischen Kritik. In ihrem Buch »Plans and Situated Actions« zeigte die Anthropologin und Technikforscherin Lucy Suchman bereits 1987 auf, dass Menschen nicht in dem Sinne zielgerichtet und planvoll handeln wie es die KI mit ihren Modellen annimmt. Vielmehr gingen wir stets situiert, d.h. in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation vor. Menschliche Handlung müsse fortlaufend und in dynamischen Interaktionen mit der materiellen und sozialen Welt rekonstruiert werden. Dass die technischen Expertensysteme der 1980er Jahre nicht wie intendiert funktionierten, führt Suchman auch darauf zurück, dass jene auf dem Konzept regelbasierten, zielorientierten und planvollen Handelns basierten.22 Aktuelle technische Modelle berücksichtigen dies. So wird bereits mit der Definition von Softwareagenten versucht, der Problematik mangelnder Situierung zu entkommen.23 Anstatt ›Reaktionen‹ und ›Handlungsoptionen‹ der Agenten quasi fest verdrahtet in die Maschine einzuschreiben, werden sie durch kontinuierlich via Sensoren erhobene Messwerte von der (technischen, räumlich-materiellen oder sozialen) Umwelt abhängig gemacht. Damit können die Technologiegestalter/-innen zwar behaupten, dass sie nun das Soziale in die Interaktion situativ mit einbeziehen. Doch Suchmans Verständnis von Situierung ist ein sowohl konstruktivistisches wie politisches. Es unterscheidet sich grundlegend von dem der Künstlichen Intelligenz und kann damit auch von den gegenwärtigen Ansätzen der Softwareagentenforschung, die den Menschen als in erster Linie sprachbasiertes Wesen konzipieren, nicht eingeholt werden.
21 | Vgl. hierzu auch Bath, Corinna: »Emotionskonzepte in der neueren Softwareagentenforschung. Von grundlegender Kritik zur feministischen Technologiegestaltung?«, in: Mechthild Koreuber (Hg.), Geschlechterforschung in Mathematik und Informatik. Eine (inter-)disziplinäre Herausforderung, Baden-Baden: Nomos 2010, S. 171-185. 22 | Suchman, Lucy: Plans and Situated Action. The Problem of Human-Machine Communication, Cambridge: Cambridge University Press 1987. 23 | Vgl. etwa Bradshaw, Jeffrey (Hg.), Software Agents. Menlo Park, Calif.: AAAI Press 1997.
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Dies hat weitreichende Konsequenzen, auch für die Frage nach der Fortsetzung von Geschlechtszuschreibungen. Denn Suchman kritisiert primär, dass mit der epistem-onto-logischen Annahme eines autonomen Subjekts, das planvoll und zielgerichtet handelt und vernunftorientiert kommuniziert, letztendlich das traditionell männlich konzipierte Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft vorausgesetzt werde, das von gesellschaftlichen Verhältnissen unbeeinflusst bleibe und von jenen unabhängig agiere. Ein solches Subjekt konstituiere sich in Abgrenzung von gesellschaftlich verworfenen Bereichen, die häufig mit Frauen assoziiert werden. Insofern kann es nicht im Sinne der Geschlechter- und feministischen Technikforschung sein, dieses Subjektmodell aufrechtzuerhalten. Noch weniger ist es anzustreben, diese Vorstellungen gar technisch zu reproduzieren. Daher muss festgehalten werden, dass die kognitionswissenschaftliche Konzeption der sozialen, menschenähnlichen Maschine strukturell-symbolische Ungleichheitsverhältnisse bislang über das dem BDI-Ansatz zugrunde gelegte Subjektmodell insbesondere entlang der Linie von Geschlechterdifferenz perpetuiert.
3. E VOLUTIONSBIOLOGISCHE Z UGRIFFE : W IE ENTSTEHT SOZIALES V ERHALTEN ? Eine dritte Fraktion von Softwareagentenforscher/-innen beruft sich auf evolutionsbiologische Ansätze, um Maschinen sozial werden zu lassen. Sozialität wird dabei umfassend als ein Imitationsprozess in Gruppen im Sinne sozialevolutionären Lernens verstanden, das sich auf bereits vorhandene subjektive Erfahrungen des Agenten beruft, die jeweilige Umwelt berücksichtigt und taktisch-strategisches Handeln umfasst. Zentral ist in diesem Kontext die Hypothese der »Sozialen Intelligenz« (oder auch Machiavellischen Intelligenz,24) die zunächst im Kontext der biologischen Wissenschaften entwickelt wurde, um das komplexe Verhalten von Primaten zu erklären: Beobachtbare Fähigkeiten wie das Bilden und Brechen von Allianzen, Versprechungen machen und aufheben, Regeln aufstellen und brechen, Lügen oder die Wahrheit sagen, Anklagen und Vergeben sowie Irreführungen und taktische Täuschungen würden nur in komplexen sozialen Umgebungen entwickelt. »The social intelligence hypothesis suggests that primate intelligence primarily evolved in adaption to social complexity, i.e. in order to interpret, 24 | Damit wird Machiavellis Werk dahingehend interpretiert, dass die Strategien und Techniken, die zu einem erfolgreichen politischen Handeln führen, auch in kleineren sozialen Gruppen erfolgreich anwendbar seien. In der Hirnforschung selbst wird dafür allerdings der Terminus »Social Brain Hypothesis« bevorzugt, vgl. etwa Dunbar, Robin: »The Social Brain Hypothesis«, in: Evolutionary Anthropology 6 (1998), S. 178-190.
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predict and manipulate conspecifics«.25 Softwareagentenforscher/-innen haben dieses Verständnis von Sozialität aufgegriffen und gestehen die angeführten Charakteristika nicht nur biologischen Entitäten, sondern auch technischen Akteuren zu. Der evolutionsbiologische Ansatz der Softwareagentenforschung gründet auf dem kognitionswissenschaftlichen Ansatz. Im Unterschied zur Theory of Mind wird der Zweck sozialer Interaktion jedoch nicht allein in der bestmöglichen Verständigung gesehen, sondern darin, die eigenen Ziele und Vorteile so gut wie nur möglich durchzusetzen. Soziale Intelligenz helfe den Individuen – seien es Primaten, Menschen oder Softwareagenten – in einer komplexen sozialen Welt, deren Entwicklung unvorhersehbar ist, zu überleben: »The social intelligence hypothesis is that intelligence as we know it is a result of evolution in an environment where cooperation is key to survival«.26 Ferner wird nicht davon ausgegangen, dass Verhalten als eine Menge spezieller Regeln verstanden werden kann, die sich – kodiert in formal-sprachlichen Aussagen – speichern, abfragen und auf die soziale Welt anwenden lassen. Vielmehr unterliege soziales Verhalten historischen und biografischen Wandlungen und müsse mit Bezug auf eigene Erinnerungen erlernt werden.27 Damit wird Sozialität komplexer konzipiert als beim kognitionswissenschaftlichen Ansatz: sie wird als ein dynamischer Prozess begriffen, der historische und historiographische Kontexte berücksichtigt und auf das Überleben der Einzelnen zielt. Während Computerprogramme normalerweise stets nach demselben Schema ausgeführt werden, können die auf den evolutionsbiologischen Ansatz basierenden Algorithmen ›lernen‹, d.h. ihre eigenen Regeln, nach denen sie funktionieren, während der Laufzeit modifizieren. Im Gebiet des »Maschinenlernens« wird ›Lernen‹ als eine Änderung derjenigen dem Softwareagenten eingeschriebenen formalen Regeln verstanden, welche seine ›Handlungen‹ in Abhängigkeit von ›wahrgenommenen‹ relevanten Ereignissen der Systemumwelt steuern. Dabei wird diese Änderung quasi ›von der Maschine selbst‹ vorgenom25 | Dautenhahn, Kerstin: »Socially Intelligent Robots: Dimensions of Human-Robot Interaction«, in: Nathan Emery/Nicola Clayton/Christopher D. Frith (Hg.), Social Intelligence. From Brain to Culture, Oxford: Oxford University Press, S. 313-352, hier S. 316. 26 | Wallis, Peter/Pelachaud, Catherine: »Symposium Preface«, in: Proceedings of the Joint Symposium on Virtual Social Agents, 12-15 April 2005, AISB 2005, Hatfield: University of Hertfortshire, S. iv-v, hier S. iv. 27 | Vgl. Dautenhahn, Kerstin/Christaller, Thomas: »Remembering, Rehearsal and Empathy: Towards a Social and Embodied Cognitive Psychology for Artifacts«, in: Sean O’Nuallain/Paul McKevitt/Eoghan MacAogain (Hg.), Two Sciences of Mind. Readings in Cognitive Science and Consciousness. Advances in Consciousness Research, Amsterdam: John Benjamins 1997, S. 257-282.
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men. Bei einem solchen so genannt adaptiven Ansatz hängt die spezifische Entwicklung des technischen Systems von seiner – in diesem Fall ›sozialen‹ – Umgebung ab: »Ich kann mein eingebettetes System einmal aussetzen in […] einem lockeren Szenario, wie […] unter Jugendlichen. Und ein anderes Mal könnte ich genau dasselbe System noch instantiieren28 in einem sehr formalen Kontext, an einem Hof oder in einem diplomatischen Szenario. Und wenn dieses System sich dann dort entwickelt, wird es sich ganz anders ausprägen«,29 beschreibt eine unserer Interviewpartner/-innen den möglichen Effekt verschiedener Umgebungen. Die Entitäten sollen sich dynamisch ›evolutionär‹ entwickeln, indem sie im Sinne einer Optimierung durch Interaktionen mit ihrem sozialen Umfeld ›lernen‹, d.h. sich anpassen und neue Verhaltensweisen annehmen. Epistemologisch betrachtet lassen sich hier gegenüber den zuvor betrachteten Ansätzen nur leichte Verschiebungen erkennen, denn auch beim evolutionstheoretischen Ansatz wird Sozialität ›nach dem Vorbild menschlicher Natur‹ modelliert. Dabei wird jedoch nicht primär – wie beim deskriptiven Ansatz – die äußere Erscheinung kodiert oder – wie beim kognitionswissenschaftlichen Ansatz – Regeln sozialen Verhaltens festgeschrieben, sondern evolutionsbiologische und entwicklungspsychologische Modelle der Entstehung von Sozialität in die technischen Artefakte eingeschrieben. Soziale Regeln, nach denen sie bisher ›gehandelt‹ haben, können hier aufgrund von Interaktionen mit der physischen Umwelt und mit menschlichen Nutzer/-innen verworfen, modifiziert oder neu hinzugenommen werden. Dieses neue Set formaler Regeln bestimmt in der Zukunft das Verhalten, bis es zu weiteren Änderungen (›Lernen‹) kommt. Insofern unterscheiden sich die ontologischen Annahmen von deskriptiven und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen in der Softwareagentenforschung – und damit zugleich auch meine immanente Kritik an diesem Modell: Das Subjekt sozialen Handelns, das nachgebildet werden soll, wird als verkörpert und sozial situiert konzipiert, womit die langjährigen feministischen Technikkritiken, die das fehlende Embodiment fokussierten, auf den ersten Blick berücksichtigt scheinen. Jedoch zeigt die genauere Analyse, dass das soziale, verkörperte Subjekt in diesem Strang der Softwareagentenforschung strikt biologisch verstanden wird. Das ›Subjekt in seiner konkreten Ausprägung‹ wird als Produkt evolutionärer Prozesse begriffen. Dies steht nicht nur im Gegensatz zu den in den feministischen Technikkritiken zugrunde gelegten Verständnissen des Embodiment, die in der Regel epistemologisch konstruktivistisch sowie gesellschaftspolitisch
28 | »Instantiieren« ist ein informatischer Begriff, der soviel bedeutet wie Instanzen bzw. konkrete Beispiele für eine allgemeine Struktur, z.B. ein formales Modell, herzustellen. 29 | IP 3, 170-176.
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kritisch argumentieren.30 Vielmehr wird deutlich, dass das Subjektverständnis dieser Ausrichtung der Softwareagentenforschung genau genommen auf soziobiologischen Prämissen basiert und damit eine Reihe höchst fragwürdiger Annahmen, die Gegenstand langjähriger feministischer Kritiken waren und sind, mittransportiert. So wird etwa mit der »Sozialen Intelligenz«-Hypothese die gesellschaftspolitische und ökonomische Privilegierung bestimmter Menschen und Verhaltensweisen einschließlich der damit verknüpften Geschlechterordnung auf biologische Ursachen zurückgeführt. Der betrachtete Ansatz tendiert damit zur Naturalisierung sozialer Ungleichheit. Gleichzeitig wird das Soziale auf der Basis soziobiologischer Konzepte entsprechend derzeit vorherrschender Wirtschaftsmodelle im Sinne von Kosten-Nutzen-Relationen gedeutet. Darüber hinaus finden sich in den Konzepten technischer Lern- und Anpassungsprozesse neoliberale Tendenzen, die mit der Flexibilisierung von Körpern und Subjekten verbunden sind. Mit der »Sozialen Intelligenz«-Hypothese der Softwareagentenforschung werden diese Ökonomien in die technologischen Artefakte eingeschrieben und zugleich die bestehende Geschlechterordnung technisch zementiert.
4. M EDIENWISSENSCHAF TLICHER A NSAT Z : W IE ERSCHEINEN A RTEFAK TE SO , »ALS OB « SIE SOZIAL WÄREN ? Der vierte, hier als medienwissenschaftlich bezeichnete Ansatz der Softwareagentenforscher/-innen, Sozialität zu konzipieren, unterscheidet sich grundlegend von den vorangegangen, denn er verschiebt die Aufmerksamkeit von dem Versuch, der Maschine Sozialität einzuschreiben, hin zu einer konstruktivistischen Auffassung. Sozialität wird als etwas betrachtet, das während der Interaktion zwischen technischem Artefakt und Nutzer/-in entsteht. Im Vergleich zu den ersten drei Ansätzen folgen die Vertreter/-innen des medienwissenschaftlichen Ansatzes der Aussage des frühen Softwareagentenforschers Joseph Bates 30 | An dieser Stelle lässt sich ähnlich argumentieren wie in Bezug auf das Verständnis von Situierheit im kognitionswissenschaftlichen Ansatz, das sich grundlegend von entsprechenden feministischen Verständnissen unterscheidet. Zum Körperverständnis in Feminismus (etwa bei Haraway) und Robotik vgl. auch Weber, Jutta: »Die Produktion des Unerwarteten. Materialität und Körperpolitik in der Künstlichen Intelligenz«, in: Corinna Bath/Yvonne Bauer/Bettina Bock v. Wülfingen et al. (Hg.), Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung, Bielefeld: transcript 2005, S. 59-83, die mit Bezug auf die rhetorischen Versprechungen der Technowissenschaften jedoch stärker auf Konvergenzen zwischen feministischen und technologischen Konzepten verweist.
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(1994): »believability will not arise from copying reality.«31 Es bedürfe nur einiger weniger Zeichen, um den Eindruck erwecken, dass es sich um eine soziale Interaktion handelt, wie eine unserer InterviewpartnerInnen zusammenfasst: »So, it’s often possible to cheat, to act as if you have this deeper model without really doing it.«32 Der medienwissenschaftliche Ansatz geht davon aus, dass Menschen – auch ohne die Bemühungen von Softwareagentenforscher/-innen, die Artefakte möglichst menschenähnlich zu gestalten – bereits alltäglich soziale Beziehungen zu Maschinen aufbauen. Dazu berufen sich viele Vertreter/-innen auf sozialpsychologische Wirkungsstudien, denen zufolge Menschen in der Regel mit Computern so interagieren, »als ob« sie menschlich wären.33 Sie sprächen mit dem Artefakt, versuchten es zu überzeugen, bestimmte Reaktionen zu zeigen, oder schlügen sogar wütend auf es ein. Empirische Studien zeigten ferner, dass menschenähnliche Figuren, die auf dem Bildschirm auftauchen, diesen Effekt der Anthropomorphisierung technischer Artefakte verstärkten. Sie verbesserten die Interaktion mit der Maschine und stärkten das Vertrauen in sie.34 Weitere Wirkungen künstlicher Figuren bestünden in ihrer »Beobachtungsfunktion«, die dazu führe, dass soziale Konventionen eher eingehalten würden, die Nutzer/-innen stärker zur Selbstdarstellung tendierten, aber auch das Gedächtnis und die Fähigkeit zur Problemlösung verbessert würde.35 Solche Verhaltensweisen wurden in frühen Reflexionen über Technik als Defizit der Nutzer/-innen interpretiert, denen Mangel an Wissen, persönliche Unreife oder sogar psychische Krankheit unterstellt wurden.36 Andere Autor/innen vermuteten, dass die NutzerInnen auf diese Weise implizit mit den De-
31 | Maldonado, Heidy/Hayes-Roth, Barbara: »Toward Cross-Cultural Believability in Character Design«, in: Sabine Payr/Robert Trappl (Hg.), Agent Culture. Human-Agent Interaction in a Multicultural World. Mahwah/New Jersey: Lawrence Erlbaum 2004, S. 143-175, hier S. 143. 32 | Hervorhebung C. B. 33 | Diese These wurde erstmals von und in Reeves, Byron/Nass, Clifford: The Media Equation. How People Treat Computers, Television, and New Media like Real People and Places, Cambridge: Cambridge University Press 1996 in Diskussion gebracht. 34 | Für einen Überblick vgl. etwa Krämer, Nicole: Soziale Wirkungen virtueller Helfer. Gestaltung und Evaluation von Mensch-Computer-Interaktion, Stuttgart: Kohlhammer 2007. 35 | Ebd. 36 | Vgl. Turkle, Sherry: The Second Self: Computers and the Human Spirit, New York: Simon and Schuster 1984 und Winograd, Terry/Flores, Fernando: Understanding Computers and Cognition. A New Foundation for Design, Reading, MA: Addison-Wesley 1987.
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signer/-innen kommunizierten.37 Heutzutage gilt ein anthropomorphisierender Umgang mit dem Computer dagegen eher als normal denn als erklärungsbedürftig. So nehmen Sozialpsycholog/-innen an, dass Menschen implizit soziale Regeln auf die Interaktion mit der Maschine anwenden, selbst wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber ein künstliches Wesen ist.38 Auf Basis dieser Erkenntnisse sollen glaubwürdige virtuelle Charaktere entworfen werden. Dazu wird vielfach auf aus Schauspiel, Film und insbesondere Disney-Animationen entlehnte künstlerische Praktiken rekurriert. Künstler/innen wüssten eher, worauf es bei der Kreation einer virtuellen Figur ankäme, erklärte uns eine Interviewpartner/-in: »Artists are these sort [of ] aesthetic empiricists that take advantage of the fact that that’s part of what’s going on with your eyes […] you are sensing silhouettes and you are sensing lines. And there’s a different part of your eyes that are picking up the color patterns, so that you can lift up that piece and exaggerate, because that’s an extension of how your senses work […] I think the same is true for social patterns, for social sensing patterns.«39 Der medienwissenschaftliche Ansatz zielt darauf, die Artefakte so zu konzipieren, dass eine komplexe soziale Interaktion zwischen Nutzer/-nnen und Softwaresystemen entstehen kann. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Ansätzen, die auf die Einschreibung des Sozialen in die technischen Artefakte gerichtet sind, werden Erfahrungen hier in dem Sinne begriffen, dass sie sich während der Interaktion mit dem System entwickeln: »Rather than experience as something to be poured out into passive users, we argue that users actively and individually construct human experiences around technology. They do so through a complex process of interpretation, in which users make sense of the system in the full context of their everyday experience.«40 Der herkömmlichen Vorstellung, user experience sei »an attribute of systems themselves, it can and should be directly designed and controlled by the authors of the system and passively received by users«41 wird die Komplexität und Vielfalt gelebter Erfahrung 37 | Vgl. Dennett: The Intentional Stance und Searle, John: »Minds, Brains, and Programs«, in: Douglas Hofstadter/Daniel Dennett (Hg.), The Minds I, Toronto: Bantam 1981, S. 353-372. 38 | Vgl. Nass, Clifford/Moon, Youngme/Morkes, John et al.: Computers Are Social Actors. A Review of Current Research, in: Batya Friedman (Hg.), Moral and Ethical Issues in Human-Computer Interaction, Stanford, CA: CSLI Press 1997, S. 137-162. 39 | IP 6, 124-130. 40 | Sengers, Phoebe/Boehner, Kirsten/Gay, Geri et al.: »Experience as Interpretation«, Paper at the CHI 2004 Workshop »Cross-Dressing and Border Crossing: Exploring Experience Methods across Disciplines«, zitiert nach www.sfu.ca/~rwakkary/ chi2004_workshop/, S. 1 (13.6.2008, Hervorh. im Orig.). 41 | Ebd.
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entgegengestellt. Mit dieser breiten Auffassung subjektiver Nutzungserfahrung wendet sich der medienwissenschaftliche Ansatz gegen Verständnisse von Objektivität wie sie sowohl in der traditionellen Softwareentwicklung als auch in den zuvor dargestellten Ansätzen vertreten werden. Aus einer epistemologischen Perspektive erscheint der medienwissenschaftliche Ansatz zwar zunächst als Fortschritt. Ontologisch betrachtet ist jedoch auch diese Richtung der Softwareagentenforschung nicht prinzipiell davor gefeit, bestehende soziale Muster aufzurufen und fortzusetzen. Denn häufig stehen hier ausschließlich stereotype Beziehungsmuster im Zentrum der Modellierung: »In drama and theatre and the arts they use stereotypes as a mechanism, it’s a shortcut, right, it allows you, if you want to get the character a very quick back-story or allow a member of the audience to very quickly understand the persona of a character, then you clearly label them as a stereotype and then people automatically have a full set of attributes for that character. So there’s […] that argument, that it helps people quickly recognize familiar characters and reason about them«42, wurde uns im Interview erklärt. Viele Vertreter/-innen dieser Ausrichtung modellieren primär Rollen, die mit ganz bestimmten Erwartungen an das Verhalten und Interaktionen verbunden sind – wie etwa »die Freundin«, »der Ehepartner«, »die Angestellte« oder »der Ratgeber«. Darunter finden sich oft auch stark geschlechtskodierte Beziehungsmodelle wie die der Mutter-Kind- oder Meister-Schüler-Beziehung, die dann stereotyp ausgedeutet werden.43 Damit werden hierarchische Ordnungen eher reproduziert als unterlaufen. Selbst auf der Basis konstruktivistischer Annahmen kann Ungleichheit somit technisch wieder hergestellt werden. Eine zweite Variante des medienwissenschaftlichen Ansatzes der Softwareagentenforschung überschreitet dagegen die Annahme, dass die vorherrschende »Realität« und ihre sozialen Strukturen Referenzpunkt der Modellierung sein müssen. Die Vertreter/-innen nutzen die Offenheit des konstruktivistischen Zugangs für den Versuch gesellschaftskritischer Intervention durch Technik. So sollen die Figuren so konzipiert werden, dass sie gesellschaftskritisches Denken anstoßen und Selbstreflektionsprozesse bei den Nutzer/-innen auslösen. Eine Interviewpartner/-in schlägt beispielsweise vor, die Technologie so zu gestalten, dass die Nutzer/-innen mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert werden oder den Umgang mit ihnen unangenehmen Menschen üben und aus solchen Situationen lernen: »You can push people to explore certain preconceptions they have, so for example, you know, in novels you can get someone to identify with the protagonist, that’s extremely different from themselves because they’re not 42 | IP 4, 121-127. 43 | Vgl. hierzu auch Weber, Jutta: »Helpless Machines and True Loving Caregivers. A Feminist Critique of Recent Trends in Human-Robot Interaction«, in: Journal of Information, Communication and Ethics in Society 3/4 (2005), S. 209-218.
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visually reminded all the time of that difference. So you could do the same thing with characters, so we force people into confronting their own prejudices or how we can deal with somebody pressuring on the way that’s unpleasant and so on and so forth. Yeah, I think it’s a good direction to go.«44 Auf der Grundlage eines in dieser Weise politisch verstandenen medienwissenschaftlichen Ansatzes lassen sich virtuelle Menschen auch so konstruieren, dass sie reproduktive Einschreibungen durchbrechen und so gesellschaftskritische Impulse geben. Sie könnten somit z.B. für die interkulturelle Kommunikation eingesetzt werden oder die Nutzer/-innen für Rassismus und Geschlechterverhältnisse sensibilisieren. Wie die Artefakte dafür jedoch konkret auszusehen hätten und wann wir sagen würden, dass sie die gewünschten Effekte erzielen, ist noch zu klären. Die Frage nach einer gesellschaftskritischen und feministischen Technikgestaltung verweist auf ein eklatantes Forschungsdesiderat.
R ESÜMEE : W IEDERKEHRENDE TECHNISCHE R EPRODUK TION VON G ESCHLECHT ODER V ERSCHIEBUNGEN GEGENÜBER DEM B ESTEHENDEN ? Die differenzierte empirische Analyse hat nicht nur gezeigt, dass in der Forschung zu anthropomorphen Softwareagenten derzeit kontinuierlich ausgehandelt wird, was als Sozialität verstanden, wie sie formalisiert und technisch implementiert werden soll. Sie hat darüber hinaus dargelegt, dass aus einem technischen Feld heraus eine Vielfalt unterschiedlicher Sozialitätsmodellierungen entstehen kann, die mit je spezifischen Auffassungen von Geschlecht korrelieren – darunter auch epistemologisch kritische Ansätze, die Verschiebungen gegenüber dem Bestehenden ermöglichen. Während sich der deskriptive ebenso wie der kognitionswissenschaftliche Ansatz am Original des Humanen orientieren, indem die äußerlichen Erscheinungsformen menschlichen sozialen Verhaltens oder dessen Prinzipien in Regeln gefasst kopiert werden sollen, lassen die beiden weiteren Modelle die Möglichkeit für die Entwicklung von Neuem offen. So birgt der im Hinblick auf das Subjektverständnis kritikwürdige evolutionsbiologische Ansatz den Vorteil offener Systeme: Würde eine Softwareagent/-in in eine utopisch queere Gemeinschaft technischer und nichttechnischer Akteur/-innen gebracht, in denen vielfältige Geschlechts- und Sexualitätskonzeptionen gelebt werden, so bestünde die Chance, dass das Artefakt auch diese nicht vorherrschenden Selbst- und Gemeinschaftsverständnisse mit der Zeit adaptierte. Angesichts der bestehenden techno-kulturellen Verhältnisse ist dieses Szenario jedoch unrealistisch.
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E PISTEM - ONTO - LOGISCHE K ONSTRUK TIONEN » SOZIALER « M ASCHINEN
Mehr Hoffnung auf Verschiebungen der strukturell-symbolischen Geschlechterordnung bieten demgegenüber medienwissenschaftliche Ansätze, welche die zuvor diskutierten Zugriffe, das Soziale nach dem Vorbild der Natur bzw. des Menschen zu modellieren und in die Maschine hinein abzubilden, mittels einer konstruktivistischen Auffassung der Mensch-Maschine-Interaktion grundlegend durchkreuzen. Dabei gibt es zwar Vertreter/-innen, die ihre technischen Modelle letztendlich an der vorherrschenden gesellschaftlich-sozialen Ordnung orientieren, indem sie soziale Konventionen stereotyp implementieren. Einzelne Forscher/-innen stellen sich jedoch gegen die hegemoniale Sicht und versuchen, die Artefakte selbst als gesellschaftskritische Akteur/-innen zu konzipieren – ein Strang der Forschung, der auch für eine Gestaltung der Softwareagenten, die aus der Position aktueller dekonstruktivistischer Geschlechterforschung formuliert ist, anschlussfähig scheint. Dass mit dem politisch motivierten medienwissenschaftlichen Ansatz eine solche antihegemoniale Bewegung tatsächlich innerhalb eines technischen Felds selbst aufzufinden ist, erscheint äußerst erstaunlich. Die bisherigen Ergebnisse der feministischen Technikforschung hätten eher nicht erwarten lassen, dass Technolog/-innen einen Gestaltungsansatz hervorbringen, der problematische Geschlechtseinschreibungen vermeidet.45 Dieses Phänomen ist weitergehend zu untersuchen und zu analysieren, wie und aufgrund welcher Bedingungen ein solcher Ansatz im Forschungsfeld der Softwareagenten hat entstehen können. Meine These hierzu ist, dass das Zusammentreffen unterschiedlichster Disziplinen und Fachrichtungen für die Herausbildung kritischer Ansätze generell sehr förderlich ist. So kooperieren im Gebiet der sozialen Softwareagenten Forscher/-innen höchst unterschiedlicher technischer und nicht-technischer Herkunft, etwa aus den Bereichen Agentenarchitekturen, synthetische Sprachgenerierung, natürlichsprachige Systeme, Grafik, Interface-Gestaltung, aber auch Emotionsforschung, Psychologie, Soziologie, Kunst, Schauspiel und Animation.46 Die an der Technikgestaltung beteiligten Wissenschaftler/-innen gehen damit von unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Grundverständnissen aus, die mitunter auch aufeinander prallen. So hatte ich während der Feldforschungen Widerstände und Unverständnisse bei den Vertreter/-innen der ersten drei hier vorgestellten Ansätze beobachtet, die den medienwissenschaftlichen An45 | Vgl. hierzu etwa Bath, Corinna: De-Gendering informatischer Artefakte. Grundlagen einer kritisch-feministischen Technikgestaltung, Dissertationsschrift, Universität Bremen 2009. 46 | Vgl. Isbister, Katherine/Doyle, Patrick: »The Blind Man and the Elephant revisited. Evaluating interdisciplinary ECA Research«, in: Zsófia Ruttkay/Catherine Pelachaud (Hg.), From Brows to Trust. Evaluating Embodied Conversational Agents, Dordrecht/ Boston/London: Kluwer 2004, S. 3-26.
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satz allenfalls für ergänzende Informationen über das Nutzer/-innenverhalten nutzten, nicht aber als einen technischen und partizipativen Gestaltungsansatz akzeptierten. Die vorgebrachten Argumente gegen den für sie unverständlichen Zugang bezogen sich vor allem darauf, dass dieser den Technikentwickler/-innen keine »klare, schrittweise Vorgehensweise« an die Hand gebe und kein »sicheres Wissen« zu produzieren vermöge. Der konstruktivistische Ansatz wurde als eine zu radikale Kontextualisierung verstanden, die mit dem eigenen traditionellen Wissenschaftsverständnis objektiver bzw. quantitativ empirischer Forschung, die auf eine technische Abbildung der Realität zielt, nicht vereinbar schien. Dies deutet darauf hin, dass es die wissenschaftstheoretischen Grundpositionen sind, welche die gesellschaftspolitischen Ansätze der Technikgestaltung für die meisten Technikgestalter/-innen so schwer verständlich machen. Die epistemologische Rezeptionssperre verhindert zugleich deren praktische Umsetzung. So betrachtet ist auch die eher konservative Variante des medienwissenschaftlichen Ansatzes der Softwareagentenforschung aus der Perspektive feministischer Technikforschung zu würdigen. Denn die dort vertretene konstruktivistische Position eröffnet die Möglichkeit, Geschlecht und andere Kategorien jenseits vermeintlich bestehender Strukturen zu denken, auch wenn der Ansatz selbst bislang primär auf Stereotype rekurriert und damit die vorherrschenden Ungleichheitsverhältnisse technisch eher reproduziert. Sie bereitet damit letztendlich den Boden für eine Verschiebung der epistemologischen Grundlagen in den Technikwissenschaften von tendenziell positivistischen hin zu konstruktivistischen Auffassungen, die eine Voraussetzung dafür darstellt, dass das Potential technischer Konstruktion, nicht vollständig an das Bestehende gebunden zu sein, in Zukunft ausgeschöpft wird. Neue wissenschaftstheoretische Grundlagen für die Technikgestaltung wären jedoch nur ein erster Schritt in Richtung technokulturell »lebbarer Welten« im Sinne Haraways. Um jene tatsächlich zu konzipieren und zu konstruieren bedarf es von feministischer Seite noch vielfältiger und umfassender theoretischer, empirischer und intervenierender Anstrengungen.
Reproduktion als interpersonelle und konzeptionelle Relation Überlegungen nach Marilyn Strathern Shahanah Schmid
R EPRODUK TIVE R EL ATIONEN Der Begriff ›Reproduktion‹ trägt je nach Kontext ganz unterschiedliche Bedeutungen. In diesem Band ist er primär epistemologisch gemeint; in den verschiedenen Beiträgen geht es um die Herstellung und Festigung von Wissen im Zusammenhang mit mehr oder weniger beständiger Ungleichheit. Als ein mögliches Fachgebiet, worin eine solche ›Reproduktion des Wissens‹ untersucht werden kann, bietet sich die menschliche, biologische Reproduktion an. Damit hat Reproduktion in diesem Beitrag eine zweifache Bedeutung. Beide Bedeutungen verdienen besondere Aufmerksamkeit. Aber nicht nur die zwei verschiedenen Bedeutungen von Reproduktion, je einzeln, sind von Interesse, sondern auch ihr Verhältnis zueinander. Abstrakt betrachtet, kann Reproduktion als ein relationaler Begriff verstanden werden. Er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen zwei ›Dingen‹: ein Zuvorgehendes, welches sich reproduziert oder reproduziert wird, und ein Nachfolgendes, welches aus dem Prozess der Reproduktion des Zuvorgehenden heraus entsteht bzw. entstanden ist. Die durch Reproduktion konstituierte Relation determiniert die zwei Dinge als voneinander unterschiedlich, als zwei Dinge eben, nicht eins. Aber während die Reproduktion als Relation die zwei Dinge trennt und unterscheidet, stellt sie gleichzeitig auch eine Verbindung zwischen ihnen her. Diese Beschreibung von Reproduktion ist nicht nur für die epistemologische, sondern auch für die ›biologische‹ Bedeutung des Begriffs sinnhaft. Menschen reproduzieren, es entstehen daraus neue Menschen – die alten und die neuen Menschen sind unterschiedlich, die einen sind Eltern, die anderen ihre Kinder; und zugleich sind sie verbunden, sie stehen in einer Beziehung zueinander, als Eltern und Kinder.
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Diese Überlegungen beruhen auf Ausführungen der Sozialanthropologin1 Marilyn Strathern. Für Strathern liegt Kultur darin, wie wir denken und wissen. »Culture consists in the way analogies are drawn between things, in the way certain thoughts are used to think others. Culture consists in the images which make imagination possible, in the media with which we mediate experience«.2 Anthropologische Forschung ist demnach daran interessiert, Wissenspraktiken zu untersuchen und zu beschreiben. In ihrem Buch »Kinship, Law and the Unexpected. Relatives Are Always a Surprise«3 versucht sie aufzuzeigen, wie sehr in der Art und Weise, wie Euro-Amerikaner/-innen4 »wissen«, relationales Denken verankert ist.5 Relationen, so argumentiert sie, sind durch mehrere Doppelungen oder Dualitäten charakterisiert. Ganz grundsätzlich sind Relationen sowohl trennend wie auch verbindend, wie oben bereits ausgeführt. Ungefähr seit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts hätten Relationen nun einen besonderen epistemologischen Status erhalten. Relationen können als bestehend entdeckt werden, und neue Relationen können hergestellt werden; dies ist bekannt von der klassischen Unterscheidung zwischen Entdeckung und Erfindung, und in der Fortführung, zwischen Natur und Kultur. Diese Doppelung des Status von Relationen nennt Strathern die »Relation der Wissenschaft«.6 Das Bild, das sie zeichnet, und das hier nur ganz oberflächlich zusammengefasst ist, erscheint vertraut. Lediglich das Argument, das sie damit zu machen versucht, ist vielleicht etwas ungewohnt. Es geht ihr nämlich keineswegs um etwa eine wissenschaftshistorische Abhandlung, sondern die Formen, Wandlungen und Konstanzen wissenschaftlichen Denkens dienen ihr als gut 1 | In diesem Beitrag verwende ich den Begriff Sozialanthropologie, und als Kurzform schlicht Anthropologie, im britischen Sinn. Somit bezieht er sich auf die so benannte Disziplin und umfasst generell gesagt das Studium eigener und fremder menschlicher Kulturen. Zur Problematisierung von Anthropologie durch Foucault vgl. den Beitrag von Ute Frietsch in diesem Band. 2 | Strathern, Marilyn: After Nature. English Kinship in the Late Twentieth Century, Cambridge: Cambridge University Press 1992. 3 | Strathern, Marilyn: Kinship, Law and the Unexpected. Relatives Are Always a Surprise, Cambridge: Cambridge University Press 2005. 4 | Strathern benutzt selber den Begriff »Euro-Americans«, den ich hier übernehme. Natürlich ist die darin angelegte Verallgemeinerung und Implikation eines homogenen Kulturraumes problematisch. Strathern diskutiert denn auch an verschiedenen Stellen die Problematik des Schreibens zwischen Spezifischem und Allgemeinem. Der »unbeholfene« Begriff soll sich auf diejenigen beziehen, deren Kosmologien sich durch die religiösen und rationalistischen Umbrüche des 17. und 18. Jahrhunderts in Nordeuropa gebildet haben (M. Strathern: Kinship, Law and the Unexpected, S. 3, Fußnote 1). 5 | M. Strathern: Kinship, Law and the Unexpected, S. xiii. 6 | Vgl. ebd., S. 11-12, 33-49.
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zugängliche Untersuchungsobjekte zur Erforschung der verschiedenen möglichen Denk- bzw. Wissensweisen im westeuropäisch-angloamerikanischen kulturellen Repertoire. Vor diesem Hintergrund ist auch die dritte Doppelung zu verstehen, die Strathern in der Folge erörtert. Relationen, so schreibt sie, sind nicht nur bedeutsam indem sie sowohl trennen als verbinden; oder indem sie erfunden oder entdeckt werden können; sondern Relationen haben noch in einem anderen Sinn eine doppelte Bedeutung, nämlich indem sie konzeptionell oder interpersonell sein können. Interpersonelle Relationen sind Beziehungen zwischen Menschen, etwa zwischen Käufer und Verkäuferin, zwischen Mutter und Sohn, oder zwischen Wächterin und Gefangenem. Konzeptionelle Relationen, die Strathern teils auch kategorische Relationen nennt, verweisen auf Beziehungen zwischen Konzepten oder Kategorien: zwischen Teil und Ganzem, Mutterschaft und Vaterschaft, oder zwischen Produkt und Produktion. Darüber hinaus stehen die beiden Seiten der Doppelung auch zueinander in Beziehung. Diese letzte Beziehung, also jene zwischen interpersonellen und konzeptionellen Relationen, nennt Strathern die »Relation der Anthropologie«7 und sie sieht es als besondere Stärke, gar ein Werkzeug der Sozialanthropologie, aber auch als beständige Herausforderung an die Disziplin, in Beschreibungen des Sozialen zwischen diesen beiden Formen von Relationen hin- und her zu wandeln. Formuliere ich also die epistemologische Bedeutung von Reproduktion um in eine konzeptionelle oder kategorische Bedeutung, und die biologische Reproduktion in eine interpersonelle, so offenbart sich die Bemühung dieses Beitrags als ein anthropologisches Unterfangen. Die beiden reproduktiven Relationen die im Folgenden untersucht werden sollen, stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind sich gegenseitig Modell, Abstrahierung, Analogie, wie auch Konkretisierung. So ist es kein Zufall, argumentiert Strathern, dass manche Begriffe Doppelbedeutungen haben, indem sie sich sowohl auf die menschliche Fortpflanzung wie auch auf Wissensleistungen beziehen – etwa die Konzeption,8 Zeugung von Nachwuchs oder Erzeugung einer Idee; eine Idee kann mit Assoziationen schwanger gehen; geboren werden kann nicht nur ein Kind, sondern auch zum Beispiel eine Ära.9 Solche Doppelbedeutungen lassen sich in ihrer historischen Entstehung untersuchen; oft hat sich ein Bereich den Begriff aus dem anderen Bereich geliehen, die Bedeutung hat sich etwas verschoben, später hat sich der andere Bereich den geänderten Begriff zurückgeholt. Heute 7 | Vgl. ebd., S. 12-13, 50-78. 8 | Während das englische conception problemlos beide Ebenen umfasst, verwende ich im Folgenden den deutschen Begriff Konzeption der einfacheren Verständlichkeit halber nur im üblichen konzeptionellen Sinn, also als Wissensleistung und nicht im Sinne von Zeugung. 9 | Vgl. ebd., S. 57ff.
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nun sind solche Doppelbedeutungen Ausdruck davon, dass nicht nur die Sozialanthropologie, sondern auch die untersuchte euro-amerikanische Bevölkerung in ihrem Denken/Wissen mit Leichtigkeit interpersonelle mit konzeptionellen Relationen verbindet. So werden etwa obskure Verwandtschaftsverhältnisse geklärt, indem auf konzeptionelle Verbindungen zurückgegriffen wird: Bei Eizellspenden ist die so genannte Empfängerin die Mutter, da sie durch ihre ursprüngliche Konzeption von Mutterschaft den Prozess ins Rollen gebracht hat; sie hat sozusagen das konzeptionelle Patent inne. Die Idee von Mutterschaft, nicht die Empfängnis – im Englischen beides conception – macht in diesem Fall aus der Beziehung eine Mutter-Kind Beziehung. Andererseits werden Relationen wie etwa die zwischen einem Urheber eines Konzepts und dessen Realisation, zum Beispiel in Form eines Buches, illustriert und verstanden mit Verweis auf die Beziehung zwischen Vater und Kind.10 Die Reproduktion des Wissens um die menschliche Reproduktion (konzeptionelle Relation) und die menschliche Reproduktion an sich (interpersonelle Relation) bieten somit getrennt, aber besonders in ihrer Relation zueinander, Einblick in euro-amerikanische Wissensweisen. Bevor ich nun zu sich wandelnden Vorstellungen über die menschliche Reproduktion übergehe, ist eine kurze Präzisierung zur Art des Wissens, die hier verhandelt wird, angebracht. Wie bereits angesprochen, sind heutige euro-amerikanische Wissensweisen eng verwandt mit sozialanthropologischen Wissenspraktiken, indem beide interpersonelle und konzeptionelle Relationen unter einen Hut bringen. Dies ist wohl zumindest teilweise damit zu erklären, dass Sozialanthropologen/-innen eben meist auch Euro-Amerikaner/-innen einer bestimmten, auf besondere Weise gebildeten Klasse sind, und das Fachgebiet Sozialanthropologie aus derselben Zeit hervorgegangen ist, wie die Verknüpfungen zwischen konzeptionellen und prokreativen Vorstellungen.11 Wenn also Wissenspraktiken untersucht werden sollen, so bieten sich nicht nur Materialien aus dem Alltag als Quellen an, sondern auch anthropologische Ausführungen – nicht zuletzt dieser Text selbst. Aber auch naturwissenschaftliches bzw. biologisches Wissen ist eng verknüpft mit Alltagswissen über Reproduktion. So hat etwa Schneider12 schon früh argumentiert, dass im Alltagsverständnis Verwandtschaft biogenetische Beziehung ist. Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, so ist Verwandtschaft nun das Neue und war es schon immer, man hat es nur nicht gewusst. Dadurch wird nicht nur deutlich, dass Verwandt10 | Vgl. ebd., S. 56. 11 | Strathern (vgl. ebd., S. 65) lokalisiert solche Verknüpfungen in der Frühmoderne, weist aber darauf hin, dass ihre Untersuchungen dazu nicht umfassend sind und weitere, historische Forschung von Interesse wäre. 12 | Schneider, David M.: American Kinship. A Cultural Account, Chicago/London: University of Chicago Press 1980 [1968], S. 23.
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schaft und Prokreation dem Bereich der Natur zugeordnet werden und die Naturwissenschaften die entsprechende Autorität bilden; sondern auch, dass Verwandtschaft und Wissen über Verwandtschaft nicht zu trennen sind. Nun sind auch Naturwissenschaftler/-innen Menschen und in ihren Denk- und Wissensweisen von ihrer Kultur geprägt. Viele Untersuchungen haben aufgezeigt, wie sehr Alltagsvorstellungen den wissenschaftlichen Blick prägen, etwa Emily Martins Arbeit zu den Geschlechtsrollen von Eizellen und Spermien.13 Somit lässt sich naturwissenschaftliches, sozialwissenschaftliches und Alltagswissen um menschliche Reproduktion kaum mehr sinnvoll trennen. Aus diesen Gründen betrachte ich im folgenden wissenschaftliches und Alltagswissen als gleichwertig in Bezug darauf, wie es euro-amerikanische Denkweisen illustriert und repräsentiert.
D AS W ISSEN UM DIE MENSCHLICHE R EPRODUK TION Wie menschliche Fortpflanzung über die Zeit verstanden wurde, und wie sie jetzt gedacht wird, unterliegt vielerlei Wandlungen. In den meisten Begriffen, die für die Reproduktion verwendet werden, schwingen zudem weit reichende Assoziationen mit. Als möglichst neutralen Begriff möchte ich daher in diesem Teil »Prokreation« verwenden, analog zu Caroline Arnis auf Walentowitz zurückgeführte Argumentation.14 Prokreation soll demgemäß ein konzeptioneller Begriff sein, »der die immer historisch und kulturell spezifisch gedeutete und in soziale Fakten übersetzte biologische Erzeugung neuer Menschen meint und dabei die Frage nach diesen spezifischen Deutungen und Übersetzungen als empirische Frage offenhält«.15 Wie bereits diskutiert, können solche »Deutungen und Übersetzungen« nicht nur im Alltagswissen, sondern auch im naturwie sozialwissenschaftlichen akademischen Wissen erkundet werden. Zum Alltagswissen gehören nicht nur spezifische Ideen zur Prokreation, sondern auch Vorstellungen über Verwandtschaft und Geschlecht, die von Prokreation abgeleitet sind.16 Ideen darüber, was eine Person zum Vater oder zur Mutter macht, sind sozialanthropologisch ebenso aufschlussreich wie spezifischere 13 | Martin, Emily: »The egg and the sperm«, in: Signs 16/3, (1991), S. 485-501. 14 | Arni, Caroline: »Menschen machen aus Akt und Substanz. Prokreation und Vaterschaft im reproduktionsmedizinischen und im literarischen Experiment«, in: Gesnerus 65, (2008), S. 196-224. 15 | Vgl. ebd., S. 198. 16 | Vgl. Yanagisako, Sylvia Junko/Collier, Jane Fishburne: »Toward a Unified Analysis of Gender and Kinship«, in: Sylvia Junko Yanagisako/Jane Fishburne Collier (Hg.), Gender and Kinship: Essays toward a Unified Analysis, Stanford: Stanford University Press 1987, S. 14-50.
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Vorstellungen zu den Prokreationsvorgängen. In modernen Gesellschaften finden solche Ideen meist Niederschlag im Gesetz und in der Rechtsprechung, weshalb auch hier Erkundungen viel versprechend sind. Die Ideen zur Prokreation zu untersuchen, ist nicht als einfaches objektivneutrales Unterfangen zu verstehen, sondern hat durchaus auch politische Bedeutung. Ludmilla Jordanova etwa diskutiert den Übergang im Sprachgebrauch vom Begriff »Generation« zum Begriff »Reproduktion« und zeigt auf, dass in dem sprachlichen Wandel vieles von politischer Wichtigkeit mitschwingt.17 Im Unterschied zu Generation, die eine Verbundenheit der Menschen mit Gott, dem ersten Generator, impliziert, positioniert Reproduktion auf den Menschen angewandt diesen deutlich im Reich der Natur und verneint Ansprüche auf eine spirituelle Sonderstellung. Menschen sind damit Tieren oder Pflanzen gleichgestellt. Indem Reproduktion eine Distanz zu Geistlichem herstellt und Prokreation als rein natürlichen Vorgang impliziert, entsteht ein Mensch demnach nicht länger dank göttlicher Vorsehung, sondern wird von den Eltern durch natürliche Vorgänge »gemacht«. Damit ist auch eine Basis gelegt, Menschen als Produkte bzw. Waren zu verstehen. Die mit dem Begriff Reproduktion einhergehenden neuen Ideen über die Familie liegen des weiteren, wie Jordanova aufzeigt, zeitgenössischen Entwürfen von politischer Theorie in ihrem Verständnis des Verhältnisses von Natur und Zivilisation bzw. Staat zugrunde.18 Nicht zuletzt argumentiert sie, dass mit dem Begriff Reproduktion eine Verschiebung der familiären Assoziationen stattfand. Vorher generierte der Vater seine Erben in der Fortführung der ultimativ göttlichen väterlichen Linie (Frauen und Töchter waren nur Statistinnen), und somit waren Väter und Söhne eng assoziiert. Nachher reproduzierte sich der Vater, Frauen und Kinder bildeten seinen Haushalt. Frauen haben damit einen ähnlichen Status wie Kinder, illustriert etwa im Ausdruck »Frauen und Kinder zuerst«; und die Bedeutung von Vaterschaft, vorher gegeben im Sinne von Fortführung der göttlichen Linie, ist gebrochen.19 Letzteres ist heute noch prägend, wenn etwa behauptet wird, Mutterschaft sei für Frauen von höherer Bedeutung als Vaterschaft für Männer. Da Prokreationsvorstellungen als identitätsstiftende Kraft Zugehörigkeiten definieren, haben Vorstellungen über Prokreation weitreichende Wirkung in Fragen nicht nur der Verwandtschaftszugehörigkeit, sondern auch bezüglich
17 | Jordanova, Ludmilla: »Interrogating the Concept of Reproduction in the Eighteenth Century«, in: Faye Ginsburg/Rayna Rapp (Hg.), Conceiving the New World Order: The Global Politics of Reproduction, Berkeley: University of California Press 1995, S. 369386. 18 | Vgl. ebd., S. 374ff. 19 | Vgl. ebd., S. 373. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Ulrike Haß in diesem Band.
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Nationalität und Religion.20 Geschlechternormen und das Primat der Heterosexualität sind weitere politische Dimensionen, die direkt mit Vorstellungen über Prokreation zusammenhängen.21 Es ist also festzustellen, dass Wissen um Reproduktion äußerst politisch ist. Die gängigsten gegenwärtigen westlichen Vorstellungen über Prokreation lassen sich grob so skizzieren, dass aus der genetischen Substanz zweier Elternteile ein neues Wesen zusammengesetzt und sodann von der Mutter ausgetragen und geboren wird. Die grundsätzliche Identität des neuen Menschen ist mit der genetischen Kombination zum Zeitpunkt der Befruchtung festgelegt, und das Kind ist mit beiden Elternteilen gleichermaßen verwandt. Diese Vorstellungen sind aus früheren Ideen hervorgegangen, wobei sich andere Arten über Prokreation zu denken ebenfalls erhalten haben und parallel zu den dominanten Vorstellungen existieren. Zwei entscheidende Verschiebungen bespreche ich nun als nächstes, nämlich zum einen in Bezug auf den duogenetischen Aspekt und zum anderen auf das Prinzip der Generativität von Substanzen. Die heute im bewussten Diskurs vermittelte Vorstellung, bei der Prokreation trage sowohl die Mutter wie auch der Vater zu gleichen Teilen zur Identität des neuen Menschen bei, hat laut Carol Delaney wahrscheinlich Wurzeln in einem früheren monogenetischen Prokreationsverständnis.22 Dieses sei nicht nur bei Aristoteles auszumachen, sondern finde sich in den drei großen monotheistischen Religionen und habe sich so über die ganze Welt verbreitet. In dieser Vorstellung liegt die gesamte formgebende und identitätsstiftende Kraft in der männlichen Linie, die ultimativ auf einen Schöpfergott zurückgeht; der mütterliche Beitrag zur Prokreation besteht dagegen in Ernährung und Behütung. Die Frau ist das Gefäß, worin der neue Mensch heranreift, ähnlich wie die Erde den Getreidesamen nährt und schützt, aber ohne einen entscheidenden Beitrag zur Identität des neuen Wesens zu leisten – in der gleichen Erde kann sowohl Getreide wie auch Gemüse wachsen, bestimmt wird dies alleine durch den Samen. Obwohl heute der generative und auch genetische Beitrag beider Eltern nicht in Frage gestellt wird, so ist doch die ältere monogenetische Vorstellung mancherorts noch erkennbar. Deutlich wird sie da, wo ein männliches Kind einem weiblichen vorgezogen wird, weil nur ein Knabe die Familienlinie weiterführen kann. Der Familienname – im westeuropäischen Kulturraum in 20 | Schneider, David M.: »Kinship, Nationality, and Religion in American Culture: Toward a Definition of Kinship«, in: Janet L. Dolgin/David S. Kemnitzer/David M. Schneider (Hg.), Symbolic Anthropology: A Reader in the Study of Symbols and Meanings, New York: Columbia University Press 1977, S. 63-71. 21 | Vgl. z.B. Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York: Routledge 1990. 22 | Delaney, Carol: The Seed and the Soil: Gender and Cosmology in Turkish Village Society, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1991.
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der Regel der Name des Vaters – ist ein weiteres Indiz für die Persistenz monogenetischer Vorstellungen knapp unter der Oberfläche des bewussten Diskurses. In der deutschen Sprache hat der männliche prokreative Akt des Zeugens kein adäquates weibliches Pendant, während im Englischen to conceive zwar ein aktives Verb ist, aber dennoch auf die untergeordnete Bedeutung des weiblichen Parts in der Identitätsbildung verweist. Ähnlich illustrierend wirkt der Gegensatz der Bedeutungen der Verben to father und to mother – Vaterschaft wird durch Zeugung konstituiert, während Mutterschaft via umsorgendes, behütendes Verhalten performiert wird. Das heutige duogenetische Verständnis von Prokreation wurzelt deshalb im früheren monogenetischen, weil jenes die Basis liefert, Prokreation auf eine formgebende und identitätsstiftende Kraft zurückzuführen. Diese Vorstellung von der Funktion der generativen Kraft wurde lediglich auf beide Geschlechter erweitert, wobei monogenetische Vorstellungen vor allem implizit noch weiterbestehen. Natürlich meint »genetisch« hier nicht »durch Gene«, sondern bezieht sich auf die ältere Bedeutung des Begriffs als »generierend«. Obschon also argumentiert werden kann, dass eine genetische Vorstellung von Prokreation in der westlichen Kultur tief verwurzelt ist, so bleibt doch die Frage, inwiefern sich die Ideen von Generation, über die Erweiterung auf beide Elternteile hinausgehend, über die Zeit gewandelt und angepasst haben. Interessant sind da etwa die Arbeiten von Caroline Arni, die in historischer Detailarbeit aufgezeigt hat, wie in Frankreich im 19. Jahrhundert ein Übergang stattgefunden hat von der Vorstellung, die generative Kraft liege im Akt des Zeugens, hin zur Idee der generativen Kraft der Substanz (primär der Samenflüssigkeit).23 Diese Verschiebung brachte weitgehende Veränderungen in den prokreativen Vorstellungen mit sich. Beispielsweise hat dies den Effekt, dass die Agency von der Person zur Keimbahnsubstanz verschoben wird. Es ist nicht mehr der Mann, der einer Frau ein Kind »macht«, sondern es ist sein Samen, welcher eine Eizelle befruchtet. Ähnlich wie bei Jordanovas oben beschriebenem Übergang von Generation zu Reproduktion positioniert dieser Übergang von Akt zu Substanz die Prokreation fest im Reich der Natur. Es wird damit die Vorstellung ermöglicht, dass nicht der Mensch, der etwa bei einer künstlichen Insemination die Befruchtung durchführt, qua Akt zum Vater wird, sondern derjenige, von dem die befruchtende Substanz stammt. Der Übergang zur Vorstellung von Prokreation qua Substanz bot sicherlich eine wichtige Grundlage zum heutigen Denken, bei dem sich Gene als entscheidende Substanz herausgebildet haben. Allerdings haben Gene eine Art 23 | C. Arni: Menschen machen aus Akt und Substanz, und Arni, Caroline: »Reproduktion und Genealogie: Zum Diskurs über die biologische Substanz«, in: Nicolas Pethes/ Silke Schicktanz (Hg.), Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, Frankfurt/New York: Campus 2008, S. 293-309.
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Zwischenposition inne. Sie bestehen zwar aus Materie; für die Prokreation entscheidend ist aber eher die Information, die von dieser Materie getragen wird. Die unklare Trennung zwischen Substanz und Information mag teilweise den Blick auf die Frage trüben, welche Substanz denn genau gemeint ist. So ließe sich etwa der substanzielle Beitrag beider Geschlechter an der Prokreation als überhaupt nicht gleichmäßig verteilt verstehen, wenn die prokreative Kraft als in den Keimbahnzellen liegend verstanden würde; dies bereits insofern, als Eizellen viel größer sind als Spermien. Es scheint mir wichtig auch hier festzuhalten, dass die Ideen von Prokreation durch Substanz – und heute Prokreation durch Information – die älteren Ideen von Prokreation durch Akt nicht abgelöst und ersetzt, sondern sich als alternative Vorstellungen dazu gesellt haben. Gewiss ist die Vorstellung von der Bedeutung der Gene dominant, aber der Akt als generative Kraft hat keineswegs ausgedient. Deutlich wird dies in der Gesetzgebung zur Vaterschaftsbestimmung. In vielen europäischen Gesetzen ist der Vater eines Kindes grundsätzlich derjenige Mann, der mit der Mutter des Kindes verheiratet ist und von dem daher angenommen werden kann, dass er das Kind in einem sexuellen Akt gezeugt hat. Die Tatsache, dass er mit der Kindsmutter gesetzlich legitimierten sexuellen Verkehr haben kann, macht einen Mann in den Augen des Gesetzes zum Vater des Kindes. Die Möglichkeiten, diese Vaterschaftsbeziehung zu bestreiten, sind zwar per genetischer Untersuchung gegeben, aber sie bleiben eingeschränkt; hat ein Mann etwa gewusst, dass sein Kind nicht genetisch sein Kind ist, aber nichts unternommen, so verfällt sein Anfechtungsrecht. In der heutigen Zeit der modernen Reproduktionsmedizin lassen sich neue Probleme oft mit Rückgriff auf ältere Prokreationsvorstellungen angehen. Exemplarisch sind da etwa die Situationen der Leihmutterschaft und der Eizellspende. Obwohl monogenetische Vorstellungen im Bezug auf die Geschlechter durchaus nicht als wertneutral zu verstehen sind, greifen, wie Helena Ragoné gezeigt hat, in der Gegenwart gerade Frauen manchmal bewusst auf diese Vorstellung zu.24 In diesen Situationen ist eine Frau beispielsweise nicht genetische, wohl aber austragende und soziale Mutter eines Kindes; oder umgekehrt, ist sie genetische und eventuell auch austragende Mutter, aber nicht die soziale. Wenn keine genetische Verbindung gegeben ist, können Frauen ihren Status als ›richtige‹ Mütter festigen, indem sie ihre Rolle als nährende Fürsorgerinnen betonen. Im Grunde leisten sie das, was schon immer Mutterschaft ausgemacht hat und auch heute noch als Stereotyp mütterlichen Handelns gilt. Umgekehrt kann die Frau, welche ihr Genmaterial zur Verfügung gestellt hat, durch die in
24 | Ragoné, Helena: »Chasing the Blood Tie. Surrogate Mothers, Adoptive Mothers, and Fathers«, in: Louise Lamphere/Helena Ragoné/Patricia Zavella (Hg.), Situated Lives: Gender and Culture in Everyday Life, New York: Routledge 1997, S. 111-127.
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Kollaboration mit der sozialen Mutter hergestellte Abwertung der generativen Kraft der Gene ihre Bindung zum Kind negieren. Fehlt die genetische Relation eines oder beider Elternteile zum Kind, so ist das Kind im biogenetischen Sinn nicht ein ›eigenes‹. In der sozialen Lebenswelt jedoch können Frauen ihre ›wahre‹ Mutterschaft bekräftigen, indem sie auf die Vorstellung zurückgreifen, es sei das Nähren und Umsorgen, was eine Mutter ausmacht. Frauen haben dadurch, dass ihnen die früher exklusiv männliche Generativität heute ebenfalls zugestanden wird, wobei die ältere weibliche Aktivität des ›Bemutterns‹ ziemlich exklusiv erhalten blieb, eine Auswahl an Optionen, um wahre Mütter zu sein; dies kann sich aber auch als eine Art Doppelverpflichtung manifestieren, da im Grunde beides gegeben sein muss, um vollständige Mutterschaft zu begründen. Im Lichte der vorangegangenen Ausführungen kann der Rückgriff auf das ›Bemuttern‹ und Umsorgen auf verschiedene Arten interpretiert werden: einerseits als Verweis auf ein monogenetisches Verständnis, dem zufolge keine generative Kraft bei der Frau liegt: Anstelle der Generativität wird die Funktion des Nährens als eigentliche mütterliche und Mutterschaft konstituierende Rolle hervorgehoben. Andererseits kann es auch als eine Aufwertung des Aktes im Gegensatz zur Substanz interpretiert werden, wobei hier zunächst der Akt des Bemutterns beziehungsweise des Nährens als prokreativer Akt definiert werden muss. Und schließlich ließe sich hier eventuell eine Aufwertung nicht-genetischer Substanzen, wie etwa Muttermilch im Kontrast zur genetischen Information, annehmen. Was bei diesem Beispiel deutlich wird, ist dass eine Pluralität an Vorstellungen über Prokreation zur Verfügung steht, mit der Menschen in verschiedenen Umständen ihre wahre Elternschaft konstituieren können. Interessant ist des Weiteren, dass Elternschaft, obwohl sie im dominanten Verständnis geschlechtssymmetrisch verstanden wird, durchaus geschlechtliche Ungleichheiten aufweist. Weder ist der Akt der Vaterschaft gleich zu verstehen oder gleich gewertet wie der Akt der Mutterschaft, noch werden die Beitrage zur Prokreation qua Substanz gleich geschätzt. Das einzige, was in der dominanten Vorstellung effektiv von beiden Elternteilen zu gleichen Teilen beigetragen wird, ist die genetische Information.
K ONTINUITÄT UND W ANDEL Im vorangegangenen Teil habe ich beispielhaft erläutert, wie sich Ideen von menschlicher Reproduktion über die Zeit gewandelt haben, von archaisch anmutenden Vorstellungen hin zu geläufigen gegenwärtigen Konfigurationen. Ähnlich wie Relationen, wie eingangs ausgeführt, immer zugleich verbinden und trennen, so kann Wandel immer auch im Zusammenhang mit Kontinuität
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gesehen werden. Ich denke, aus meinen Ausführungen wird deutlich, dass bei allem Wandel auch von Kontinuität gesprochen werden kann; so habe ich etwa gezeigt, wie heutige Konzeptionen von Prokreation in früheren bereits angelegt waren. In »After Nature« argumentiert Marilyn Strathern, dass sich Wandel nur in Bezug auf etwas Konstantes quantifizieren und vergleichen lässt.25 Gleiches ließe sich zur Frage nach Wandel oder Konstanz in Reproduktionsvorstellungen feststellen. Schließlich habe ich oben den Begriff Prokreation verwendet, um neutral auf den biologischen Prozess der Herstellung von Menschen zu verweisen, während die sich wandelnden sozialen und kulturellen Bedeutungen dieses Prozesses erläutert wurden. Was ich dabei nicht hinterfragt habe, ist die Natürlichkeit, die Gegebenheit und Konstanz der Prokreation. In der obigen Beschreibung kommen Konstanz und Wandel in den Vorstellungen über Prokreation ›nach‹ dem natürlichen Fakt der Prokreation; Natur ist grundlegend und Vorstellungen, Ideen darüber sind nach der Natur geformte soziale bzw. kulturelle Artefakte. Nun beobachtet Strathern aber gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen epochalen Wandel.26 Während Jahrzehnten habe der epistemologische Modus der Wissensgeneration – das Kontextualisieren und Aufdecken impliziter Annahmen – zu immer neuen impliziten Annahmen geführt, womit ständig neue Perspektiven entstanden seien. Daraus resultierte eine komplexe, plurale Welt. Rückblickend lässt sich nun feststellen, so Strathern, dass dieser Modus der Wissensproduktion schlussendlich reflexiv sich selbst kontextualisiert und die in der Wissenspraxis selbst liegenden impliziten Mechanismen aufgedeckt habe. Der Gegensatz zwischen Kultur und Natur habe sich je länger desto stärker Richtung Kultur aufgelöst, bis am Ende die Idee von Natur überhaupt als kulturelle Konstruktion »entlarvt« worden sei.27 Aber mit der Abflachung von Natur verschwinde auch die Kultur, denn beide Pole konstituierten sich gegenseitig: »Culture exceeds itself (Nature vanishes), and, outcultivated, Culture is manifest as style. And an excess of individualism? Does Society also vanish; will the Individual become visible only in the exercise of an agency where all is choice?«28 25 | M. Strathern: After Nature, S. 2. 26 | Vgl. ebd., S. 7. 27 | Hiermit gesellt sich Strathern zu einer Reihe von Denker/-innen, die Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre den Natur-Kultur-Dualismus radikal in Frage gestellt haben; darunter beispielsweise Donna Haraway (Haraway, Donna: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991), Judith Butler (J. Butler: Gender Trouble, und Butler, Judith: Bodies that matter. On the discursive limits of »sex«, New York: Routledge 1993) und Bruno Latour (Latour, Bruno: We have never been modern., Hemel Hempstead: Harvester Wheatsheaf 1993). 28 | M. Strathern: After Nature, S. 5-6.
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Wenden wir uns vor diesem Hintergrund wieder der ›Reproduktion‹ zu. Im Sinne der anthropologischen Relation, die sowohl interpersonelle wie auch konzeptionelle Reproduktion umfasst: Was wird hier reproduziert – und was heißt Reproduktion? Reproduktion impliziert sowohl Wandel wie auch Kontinuität. Das Resultat von Reproduktion kann nicht gleich sein wie das Original, es muss sich unterscheiden, sonst wäre es ein Klon – und selbst ein Klon würde sich unterscheiden. Und dennoch ist ein Kind in einem gewissen Sinn die Kontinuierung seiner Eltern. Wenn wir von Reproduktion von Wissen sprechen, verhält es sich genauso: Das reproduzierte Wissen ist eine Fortführung des originalen Wissens, und es unterscheidet sich davon. Reproduktion ist also eine Relation, die zugleich Andersheit und Gleichheit, Kontinuität und Wandel umfasst. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts war eine unhinterfragte Natur der stabile Referenzpunkt dieser Relation. Was aber passiert nun mit Reproduktion, wenn ihr Natur als Fakt entzogen wird? Strathern beantwortet diese Frage nicht, regt aber mit ihren eigenen Fragen, wie im obigen Zitat beispielsweise, zu möglichen Überlegungen an. Sie verweist primär auf ausgeprägten Individualismus und Wahl sowie auf Kommerzialisierung. Im Zusammenhang mit Wahl drängt sich auch Intention auf. Wenn sich die reproduktive Relation nicht mehr ultimativ auf eine biologische Prokreation bezieht, sich aufgrund des abgeflachten Natur-Kultur Dualismus auch nicht auf die sozialen Interpretationen beziehen kann, was macht dann genau Reproduktion aus? Was unterscheidet diese Relation von anderen? Was macht zum Beispiel aus verschiedenen Menschen ›Eltern‹ und ›ihre Kinder‹? Eine mögliche Antwort könnte im frühen 21. Jahrhundert in der Intention liegen. Die Mutter des Kindes, beispielsweise, ist diejenige Person, die am Prozess teilgenommen hat mit der Absicht, Mutter des Kindes zu werden. Diese Denkweise hat sich mancherorts bereits etabliert. In der US-amerikanischen Rechtsprechung etwa wird bei der Klärung von Elternschaft, gerade aber nicht nur im Kontext moderner Reproduktionsmedizin, vermehrt auf Intention als »primus movens« verwiesen.29 Es ist in diesem Fall demnach die Absicht, eine reproduktive Beziehung herzustellen, die aus einer Beziehung eine reproduktive macht. Es ließe sich also sagen, dass der Intention eine konzeptionelle Rolle im doppelten Sinn zugesprochen wird. Angesichts dessen, dass wie oben ausgeführt, interpersonelle und konzeptionelle Begriffe sich gegenseitig beeinflussen und Bedeutung geben, stellt sich die Frage, ob mit der Verschiebung in der Vorstellung von interpersoneller Reproduktion auch eine Änderung der konzeptionellen Reproduktion einher geht. Bei der Herstellung eines Kindes mit IVF-Technologie und Leihmutterschaft können ebenso viele Personen beteiligt sein wie bei der Re-/Produktion von Wissen. Wer hat nun welche Rechte an dem Ergebnis? Wer ist ›Vater‹ der Idee, 29 | M. Strathern: Kinship, Law and the Unexpected, S. 56.
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Urheber/-in des Produkts? Hier verweist Strathern auf neuere Entwicklungen im Bereich Urheberrecht.30 Schon lange wurde zwischen dem Recht, etwas zu publizieren, und dem Urheberrecht unterschieden – ersteres liegt etwa beim Verlag oder Buchdruck, also dort, wo das Buch hergestellt wird, letzteres dagegen beim Autor/bei der Autorin, also dem Hersteller eines Textes. Neu wird vorgeschlagen, zwischen den Inhaber/-innen des allgemeinen Rechtes, eine Information oder Wissen zu nutzen, und denjenigen Personen, die ein spezielles moralisches Recht auf Wissen haben, zu unterscheiden. Letzteres wird etwa dadurch konstituiert, dass die Information via Gene oder Stammzellen grundsätzlich über und von dieser Person ist. Dieses moralische Recht konstituiert die Möglichkeit, über die ökonomische oder wissenschaftliche Nutzung der Information zu entscheiden. In diesem Fall bleiben die moralischen Rechte bei der Person, die körperliche, informationelle Substanz beigetragen hat; die Nutzungsrechte hingegen liegen bei der Person oder Institution, welche absichtsvoll aus diesem Material nutzbares Wissen herstellt. Die Vorstellung, die Absicht als generierende Kraft ins Zentrum stellt, steht in einem Gegensatz zur Idee, dass Gene Verwandtschaft konstituieren. Gene erlauben keine Wahl und keine Absicht; bei der Vorstellung einer genetischen Familie wird Verwandtschaft – das Wissen um eine Beziehung – durch Gene konstituiert, die selber als Information gefasst werden können. Strathern argumentiert, dass mit Verschiebungen von Bedeutungen im Bereich Reproduktion – interpersonell wie auch konzeptionell – eine Annäherung der Bereiche stattfinden könnte: »[T]he genes that carry the data informing you what you are at the very same time comprise the mechanisms that have the potential to bring about what you are. This looks like a reworking of an old theme, the constitutive nature of kinship knowledge. But to find kinship knowledge in the gene is, so to speak, to find it in itself. Knowledge and kinship become momentarily inseparable.« 31
Nachdem der Reproduktion die Natur als Fakt entzogen wurde, sich ihre Bedeutung also nicht mehr durch Analogien zwischen Natur und Kultur konstituieren konnte: Verschwinden durch die Idee der generativen Kraft der Gene auch die Analogien zwischen interpersonell und konzeptionell? Wenn interpersonelle und konzeptionelle Relationen zusammenfallen, kann keine Analogie zwischen ihnen bestehen. Strathern argumentiert, dass, um weiterhin in der »anthropologischen Relation« denken und wissen zu können, ein neuer Referenzpunkt eingeführt werden könnte. Als Beispiel erläutert sie Besitzrechte.32 30 | Vgl. ebd., S. 75. 31 | Vgl. ebd., S. 74. 32 | Vgl. ebd., S. 55ff.
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Aus der Perspektive von Besitztum ist die interpersonelle Beziehung zwischen Eltern und Kind unterscheidbar von der konzeptionellen Beziehung zwischen Urheber/-in und Idee, denn ein Denken über Menschen als Besitz widerstrebt Euro-Amerikanern/-innen. Die Beziehung zwischen Urheber/-in und Idee ist somit vergleichbar mit, aber nicht gleich, wie die Beziehung zwischen Eltern und Kind, denn erstere enthält einen Besitzanspruch, letztere nicht. In diesem Sinne unterscheidet sich auch die Intention, mit Hilfe einer Leihmutterschaft Mutter zu werden, von der Absicht, mit Hilfe von Stammzellen Wissen zu produzieren. Diesseits des Natur-Kultur Dualismus kann so mit Hilfe der Perspektive Besitztum weiterhin in konzeptionellen Analogien zwischen interpersoneller und konzeptioneller Reproduktion gedacht werden. Sollten sich aber die Vorstellungen weiter verschieben, und sich der Besitz-Aspekt der Reproduktion auch auf die interpersonelle Bedeutung erstrecken, so würde ein neuer Referenzpunkt notwendig, oder die Unterscheidung von und Analogie zwischen interpersoneller und konzeptioneller Reproduktion würde zusammenfallen. Die »anthropologische Relation«, jene Denk- und Wissensweise, die Strathern zufolge sozialanthropologische Analysen genauso auszeichnet wie die alltäglichen Wissenspraktiken moderner Euro-Amerikaner/-innen, würde weder als Wissenspraxis noch als Analysewerkzeug weiter bestehen; und da bei Strathern Kultur daraus besteht, wie wir wissen, wäre demzufolge von einem grundlegenden kulturellen Wandel zu sprechen.
Autorinnen und Autoren
Corinna Bath. Postdoktorandin am Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion zum »De-Gendering informatischer Artefakte. Grundlagen einer kritisch-feministischen Technikgestaltung« an der Universität Bremen (Informatik), 2006-2009 Research Fellow am »Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society« Graz und am Centrum für Sozialforschung der Universität Graz, 1993-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Mathematik, Informatik, Geschlechterforschung und Wissenschaftstheorie (TU Berlin, HS Anhalt, Universität Bremen, Universität Wien). Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung in der Informatik, feministische Technoscience-Forschung, speziell: ›intelligente‹, ›emotionale‹ und ›semantische‹ Technologien. Bettina Bock v. Wülfingen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin; Mitgründerin und co-manager der EU-COST Aktion »Bio-objects and Their Boundaries« (2010-14) und des DFG-Netzwerks »Ökonomien der Reproduktion« (www.economies-of-reproduction.org; 2010-12). Publikationen (Auswahl): »Extrakorporale Reproduktion als Emanzipation – Feminismus im biomedizinischen Populärdiskurs«, in: Femina Politica 1/18 (2009), S. 72-83; »Der Kern des Unbewussten in Freuds Mikroskop – Apparatur und Vorverständnis in der Wissensgenese« in: Christina von Braun et al. (Hg.) Das Unbewusste. Über das Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 62-79; »Zeugung«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen (2. üb. Auflg.), Köln: UTB 2009, S. 82-103; »Is There a Turn to Systems Approaches in Life Sciences?«, in: European Molecular Biology Organisation (EMBO) Reports 10 (2009), S. 37-42; Genetisierung der Zeugung, Bielefeld: transcript 2007. Arianna Borrelli. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal im interdisziplinären Projekt »Epistemology of the Large Hadron Collider«. Studium und mehrjährige Forschungstätigkeit in theoretischer Physik, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in Rom (IT), am CERN
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(CH), am Paul-Scherrer-Institut (CH), an der TU Braunschweig (Promotion in Wissenschaftsgeschichte) sowie am MPI für Wissenschaftsgeschichte. Publikationen (Auswahl): Aspects of the Astrolabe: ›Architectonica ratio‹ in Tenth- and Eleventh-Century Europe, Stuttgart: Franz Steiner 2008; »Pneumatics and the Alchemy of Weather: What Is Wind and Why Does It Blow?«, in: Siegfried Zielinski/Eckhard Fürlus (Hg.), Variantology 3, Köln: König 2008, S. 27-72; »The Emergence of Selection Rules and Their Encounter With Group Theory: 1913-1927« in: SHPMP 40 (2009), S. 327-337. Ute Frietsch. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes GutenbergUniversität Mainz, FSP Historische Kulturwissenschaften: Leiterin des Handbuch-Projekts Praxeologische Begriffe. Habilitation und Venia docendi im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin; Promotion in Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Université de Paris 8. Publikationen (Auswahl): »Häresie und ›pseudo-scientia‹. Zur Problematisierung von Alchemie, Chymiatrie und Physik in der Frühen Neuzeit«, in: Dirk Rupnow et al. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 51-76; »Die Ordnung der Dinge«, in: Clemens Kammler et al. (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, S. 38-50. Michel Foucault: Einführung in Kants Anthropologie. Aus dem Französischen von Ute Frietsch, Berlin: Suhrkamp 2010. Ellen Harlizius-Klück. Kulturwissenschaftlerin. Studium der Mathematik, Kunst, Kunstgeschichte und Philosophie in Siegen und Düsseldorf, Promotion an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Vertretung der Professur für Textil- und Bekleidungswissenschaften an der Universität Osnabrück, Stipendium am Institut für Technik- und Wissenschaftsgeschichte des Deutschen Museums in München, Förderpreis »Kopf und Zahl« für das Projekt »Dyadische Arithmetik in Philosophie und Weberei«. Publikationen (Auswahl): Weberei als episteme und die Genese der deduktiven Mathematik, Berlin: edition ebersbach 2004; Saum & Zeit. Ein Wörter-und-Sachen-Buch, Berlin: edition ebersbach 2005; »Weben, Spinnen«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch philosophischer Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 498518. Ulrike Haß. Theaterwissenschaftlerin. Studium der Germanistik, Politik und Psychologie an der FU Berlin. Ab 1981 Verlagslektorin, Autorin, Dramaturgin. 1990 Promotion. Postgraduierte im Graduiertenkolleg »Theater als Paradigma der Moderne« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1992-1998 Assistentin an der FU Berlin. 1999 Habilitation: »Bühnenform und Wahrnehmung 1500-1800«. Seit 2000 Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Uni-
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versität Bochum. Publikationen (Auswahl): Militante Pastorale. Antimoderne Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert, München: Fink 1993; Haß, U. (Hg.): Heiner Müller – Bildbeschreibung: Ende der Vorstellung, Berlin 2005; Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Fink 2006; Haß, U./ Müller-Schöll, N. (Hg.): Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution, Bielefeld: transcript 2009. Volker Hess. Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Habil. 2000 mit der Monografie »Der wohltemperierte Mensch«. Forschungsschwerpunkte: medizinische Praktiken des 18. bis 20. Jahrhunderts, Kulturgeschichte der Psychiatrie, Arzneimittelgeschichte. Sprecher der DFG Forschergruppe Kulturen des Wahnsinns, Chair des ESF Research Networking Program »DRUGS«. Jüngste Publikation: Hess, Volker/Mendelsohn, Andrew: Cases and Series. Medical Knowledge and Paper Technology, 1600-1900, History of Science (i. Ersch.). Ingrid Jungwirth. Dr. phil., Projektleiterin am Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Migration und Wandel der Arbeit, Kultursoziologie. Publikationen: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften – eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman, Bielefeld: transcript 2007, »The Change of Normative Gender Orders in the Process of Migration: A Transnational Perspective«, in: COMCAD Working Papers 48, Bielefeld: Centre of Migration, Citizenship and Development 2008, www.unibielefeld.de/(de)/tdrc/ag_comcad/publications/wp.html; Jungwirth, Ingrid/ Scherschel, Karin: »Ungleich prekär – zum Verhältnis von Arbeit, Migration und Geschlecht«, in: Alexandra Manske/Katharina Pühl (Hg.), Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung? Geschlechtertheoretische Bestimmungsversuche, Münster: Westfälisches Dampfboot 2010, S. 110-132. Isabell Lorey. Venia docendi für das Fach Politikwissenschaft an der Universität Wien. Gastprofessorin an der Universität Wien und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Kulturanthropologie und Afrikanischen Ethnologie in Frankfurt a.M. und Mainz, Promotion am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a.M., Mitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG). Publikationen (Auswahl): »Die Immunität Jesu. ›Lépra‹ und Lepra von der Bibel bis ins Mittelalter«, in: Gabriele Dietze et al. (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 187-199; »Prekarisierung als Verunsicherung und Entsetzen. Immunisierung, Normalisierung und neue Furcht erregende Subjektivierungsweisen«, in: Alexandra Manske/Katharina Pühl (Hg.), Prekarisierung zwischen Anomie
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und Normalisierung? Geschlechtertheoretische Bestimmungsversuche, Münster: Westfälisches Dampfboot 2010, S. 48-81; Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich/Berlin: diaphanes 2011. Katrin Nikoleyczik. Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie Lehrbeauftragte am Zentrum für Anthropologie und Gender Studies der Universität Freiburg. Studium der Biologie und Women’s Studies in Marburg und Aberdeen; 2002-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Informatik und Gesellschaft, Universität Freiburg; Promotionsprojekt »Biomedizinische Bilder des Gehirns als Elemente der Wissensproduktion«. Publikationen (Auswahl): Schmitz, Sigrid/ Nikoleyczik, Katrin: »Transdisciplinary and Gender-Sensitive Teaching: Didactical Concepts and Technical Support«, in: International Journal of Innovation in Education 1/1 (2009), S. 81-95; »NormKörper: ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ in biomedizinischen Bildern«, in: Sigrid Schmitz/Britta Schinzel (Hg.), Grenzgänge. Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften, Königstein: Ulrike Helmer 2004, S. 133-148. Shahanah Schmid. Doktorandin am BIOS centre, London School of Economics; Dissertationsprojekt »Reproductive Medicine in Context. Knowledge Cultures of IVF in German Speaking Switzerland«; Mitglied des DFG-Netzwerks »Ökonomien der Reproduktion« und des SNF-Scopes Projekts »Making Bodies, Persons and Families. ART in Switzerland and Russia«. Studium der Soziologie und Sozialanthropologie in Zürich. Publikationen (Auswahl): »Assisted Reproduction in Switzerland and Germany: Regulative and Social Contexts«, in: Willemijn de Jong/Olga Tkach (Hg.), Making Bodies, Persons and Families. Normalising Reproductive Technologies in Russia, Switzerland and Germany, Zürich: Lit-Verlag 2009, S. 57-71; »Fertility Science-as-Culture: Ambiguous Nature, Quantified Abstractions and the Making of Normality«, ebd., S. 201-219. Eugene Thacker. Associate Professor in the Media Studies Program at the New School University in New York, USA. Publications: After Life, Chicago: University of Chicago Press 2010; »The Shadows of Atheology: Epidemics, Power, and Life after Foucault«, in: Theory, Culture & Society 26/6 (2009), 134-52; »Swarming: Number vs. Animal?« in: David Savat (ed.), Deleuze and New Technology, Edinburgh: University of Edinburgh Press 2009; »Netzwerke – Schwärme – Multitudes«, in: Eva Horn/Marcus Marco Gisi (eds.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum, Bielefeld: transcript 2009; »Nine Disputations on Theology and Horror«, in: Collapse vol. IV (2008), p. 119-56; Thacker, Eugene/Galloway, Alexander: The Exploit: A Theory of Networks, Minneapolis: University of Minnesota Press 2007.
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