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German Pages 360 Year 2014
Ulfert Tschirner Museum, Photographie und Reproduktion
Ulfert Tschirner (Dr. phil.) ist als Kurator der kulturhistorischen Sammlungen für die Museumsstiftung Lüneburg tätig. Zuvor war er Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« (Weimar/Erfurt/Jena).
Ulfert Tschirner
Museum, Photographie und Reproduktion Mediale Konstellationen im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums
Die vorliegende Arbeit wurde im August 2010 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 7 1
Museum und Photographie | 9
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Perspektiven und Projektionen | 21 Latente Bilder – Museale Perspektiven der Daguerreotypie | 21 Sammelkasten – Die unverstandene Medialität des Germanischen Nationalmuseums | 42
2.1 2.2
3
Photographie als Medientechnik am Germanischen Nationalmuseum | 67
3.1
Atelierzeit – Medientechniken im Projekt des Germanischen Nationalmuseums | 67 Faksimile – Visionen optimaler Reproduktion | 92 Licht und Schatten – Die Bedeutung der Photographie als Reproduktionsmedium | 113 Kaulbachs Fresko – Praktiken photographischer Reproduktion | 132 Experimente – Die kurze Geschichte eines » photographischen Unternehmens« | 161
3.2 3.3 3.4 3.5
4
Photographien im Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums | 177
4.1
Sammlungsarchäologie – Annäherung an eine Ruine der Museumsgeschichte | 177 Kästen und Kapseln – Die verschachtelten Medienkonzepte des 19. Jahrhunderts | 192 Doppelgänger – Das Bilderrepertorium und die Genealogie des imaginären Museums | 217 Darstellung des Gewesenen – Abgrenzungen des kulturhistorischen Museums | 244 Fragwürdige Darstellungen – Das Museum als Medium der Medienkritik | 264
4.2 4.3 4.4 4.5
5
Photographien und Reproduktionen als Rückstände der Museumsgeschichte | 299
5.1
Jubiläum – Reflexion eines historischen Museums der Reproduktion | 302 Musealisierung – Die Dynamik musealer Rückstände | 315 Verborgene Bildräume – Museumsphotographie und Selbstreflexion | 322
5.2 5.3
Literatur | 333
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im August 2010 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt angenommen. Mein ausdrücklicher Dank gilt den beiden Gutachtern Alf Lüdtke und Detlef Hoffmann, die bereit waren, ein Projekt zu betreuen, das sich mit der Frage nach dem historischen Verhältnis von Museum und Photographie im Grenzbereich zwischen den Disziplinen Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte bewegte. Mit vielfältigen Anregungen, Zuspruch und konstruktiver Kritik haben sie dazu beigetragen, die Dissertation auf den Weg und zu einem Abschluß zu bringen. Die erste Annäherung an das Thema ergab sich durch ein Praktikum in der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, als ich eher beiläufig auf einen Sammlungskomplex von Zeichnungen, Druckgraphiken und Photographien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stieß, der mir für eine detaillierte Untersuchung der Mediengeschichte dieses Museums von besonderem Interesse schien. Als sich einige Zeit später die Grundzüge eines Dissertationsvorhabens erkennen ließen, gewährte mir der damalige Leiter der Graphischen Sammlung, Rainer Schoch, Zugang zu diesem nicht inventarisierten Material. Ihm und den freundlichen Mitarbeitern des Germanischen Nationalmuseums sei für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung herzlich gedankt. Wesentliche Impulse erfuhr das Projekt durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die damit verbundene Aufnahme in das Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena förderte eine theoretisch breitere Fundierung der Fragestellung und trug durch die Beschäftigung mit medialen Aspekten der Historiographie auch zu einer Reflexion der eigenen Darstellungsweise bei. Neben Alf Lüdtke danke ich auch den übrigen betreuenden Hochschullehrern, Stipendiaten und assoziierten Wissenschaftlern, die ein kollegiales Umfeld boten, in dem Ideen entfaltet und diskutiert, mitunter aber auch mit Blick auf die Verschriftlichung der Dissertation verdichtet werden konnten. Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich insbesondere Berhhardt Siegert, Isabel Kranz, Thorsten Bothe, Philipp Müller, Gregor Kanitz und Alexander Klose.
M USEUM , P HOTOGRAPHIE UND R EPRODUKTION
Die letzte Phase der Verschriftlichung erfolgte parallel zu einer freiberuflichen Tätigkeit für die Lüneburger Museen. Durch die Praxis der Museumsarbeit konnte ich mich noch einmal davon überzeugen, daß die in der Dissertation angewandte und vorgestellte Methode der Sammlungsarchäologie auch auf andere Museen anwendbar ist, um scheinbar vergessene Aspekte der Sammlungs- und Museumsgeschichte zu bergen. Zuwendungen der Ludwig-Sievers-Stiftung und der Fritz- und JohannaBuch-Gedächtnisstiftung ermöglichten die Drucklegung. Für die mühevolle Arbeit des Korrektorats danke ich Jan Kaiser. Abseits aller wissenschaftlichen und finanziellen Unterstützung wäre diese Arbeit aber niemals fertiggestellt worden ohne den bedingungslosen Rückhalt durch meine Familie. Deren engster Kreis hat sich durch die Geburt meiner beiden Kinder während der Erarbeitung der Dissertation vergrößert, was die Zeit umso intensiver und wertvoller gemacht hat. Meiner Frau Kira ist dieses Buch gewidmet. Lüneburg, den 4. September 2011
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Museum und Photographie
Im Juli 1853 photographierte Charles Thurston Thompson einen venezianischen Spiegel und in diesem sein eigenes Spiegelbild als Photograph des Spiegels. Es handelt sich um eines der frühesten Zeugnisse organisierter Photographie im Auftrag eines Museums.1 Mit dem ausgestellten Selbstbewußtsein des Photographen als gleichzeitigem Dokumentar und Künstler irritiert Thompsons Spiegel-Bild jedoch die Vorstellung einer betont sachlichen Objekt- und Museumsphotographie. Indem die Aufnahme die Bedingungen ins Bild spiegelt, in die museale Objekte gestellt werden, um als Objekt der Photographie zur Geltung zu kommen, rückt sie aus heutiger Sicht eher in den Kontext kunstphotographischer Reflexionen des Musealen.2 Man kann in ihr die frühe Visualisierung einer reflexiven Beziehung von Museum und Photographie erkennen, eine gegenseitige Bespiegelung zweier Medien, die jeweils als Rahmen der Wahrnehmung von Objekten fungieren: »framing the frame«.3 Photographiegeschichtlich steht die Aufnahme am Beginn eines Epochenwechsels. Der sich nach 1851 etablierende technische Standard aus Glasnegativ und Albuminpapier ermöglichte eine detailgenaue Wiedergabe in seriellen Abzügen und löste damit den Dualismus von Metall- und Papierphotographie, der die »Pionierphase des Mediums« seit 1839 geprägt hatte (Daguerre vs. Talbot). Die Einführung des »Naßkollodiumverfahrens« bewirkte eine Professionalisierung und Ökonomisierung der zuvor eher experimentell orientierten photographischen Praxis, für die auch noch die hier gezeigte Aufnahme Thompsons steht. Sie lotet die Möglichkeiten der Photographie als 1 | Das Museum of Ornamental Art (das spätere South Kensington Museum, heute Victoria&AlbertMuseum) hatte den Spiegel in einer kunstgewerblichen Ausstellung gezeigt und setzte zur Dokumentation und Publikation der Exponate auf das Medium Photographie. 2 | Vergleichbar den Photographien von Thomas Struth, Louise Lawler oder Candida Höfer (Putnam 2001, S. 114–125). Tatsächlich sind Thompsons Bilder in entsprechenden Ausstellungen gezeigt worden. So stellt der Katalog der MoMA-Ausstellung »The Museum as Muse. Artists Reflect« ein Spiegel-Bild von Charles Thurston Thompson als erste Tafel an den Anfang einer Werkschau museologischer Kunst (McShine 1999, S. 26). 3 | Putnam 2001, S. 114.
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Dokumentations- und Publikationsmedium des Museums aus – und zugleich das Potential musealer Objekte als ästhetisches Experimentierfeld des Photographen. Eine zukunftsoffene Annäherung in einer Phase, in der sich die Darstellungskonventionen der Photographie noch nicht verfestigt hatten und die Funktion von Photographie im Museum noch nicht geklärt war.
Gebrauchsweisen von Photographien im Museum des 19. Jahrhunderts Zum Einsatz der Photographie im Museum des 19. Jahrhunderts (geschweige denn zu den medialen Wechselwirkungen) liegen bislang nur wenige Untersuchungen vor. Die Photogeschichtsschreibung hat zwar zuletzt die »museologische Dimension« in den frühesten photographischen Bildzeugnissen Daguerres und Talbots betont, durch die das neue Medium bereits um 1840 Anschluß an die musealen Praktiken des Sammelns, Ordnens und Ausstellens suchte,4 doch haben sich die in diesen Bildern angedeuteten Beziehungen erst mit einiger Verzögerung in den tatsächlichen Sammlungen bemerkbar gemacht und zu einer Positionsbestimmung des Mediums Photographie im Museum geführt. Obwohl die Photographie vom Moment ihres Erscheinens an als ein prädestiniertes Medium für Sammlungen aller Art auftrat,5 sind Photographien in den 1840er Jahren anscheinend nur wenig gesammelt worden; erst zu Beginn der 1850er Jahre wurden durch die neuen technischen Möglichkeiten des Naßkollodiumverfahrens und aufgrund des verstärkten Umlaufs von Papierabzügen vermehrt private und institutionelle Sammlungen angelegt. Parallel dazu wurde in Forschungseinrichtungen, Bibliotheken und Museen über den systematischen Einsatz von Photographie nachgedacht.6 Ein wichtiger Referenzpunkt für die Beziehungsgeschichte von Museum und Photographie und ein Beleg für das sukzessive Eindringen der Photographie in die Sammlungen des 19. Jahrhunderts ist durch die Vorbildersammlung des Freiherrn Alexander von Minutoli in Liegnitz gegeben.7 Minutolis Sammlung von vorbildlichen Arbeiten historischen Kunsthandwerks wurde durch Auswahl und Ordnung der Stücke für den später in England ausgebildeten Museumstyp des Kunstgewerbemuseums prägend und nahm auch die dortige Nutzung der Photographie als Publikationsmedium vorweg. Die Sammlung entstand um 1845 auch aus der Überzeugung, daß die direkte Anschauung von Originalen eine intensivere Wirkung auf die angestrebte Qualitätsverbesserung der gewerblichen Güterproduktion haben müsse als 4 | Roberts 2003, S. 4; vgl. auch Wolf 1997, S. 37–39. Siehe dazu auch unten, Kapitel 2.1. 5 | Louis Daguerre schrieb bereits Anfang 1839 (ein gutes halbes Jahr vor der öffentlichen Bekanntmachung des Verfahrens der Daguerreotypie): »Es werden Sammlungen jeder Art entstehen, die umso kostbarer sein werden, als sie hinsichtlich der genauen und vollständigen Detailwiedergabe von der Kunst nicht übertroffen werden können«. (Wiegand 1981, S. 17). 6 | Hamber 2008, S. 65f. 7 | Vogelsang 1986, S. 192; Vogelsang 1989.
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die bereits existierenden druckgraphischen Vorbilderwerke. Um dennoch die Reichweite der standortgebundenen Sammlung zu vergrößern, wurden nacheinander zunächst die Originale, zwischenzeitlich sorgfältig handkolorierte Zeichnungen, dann ab etwa 1847 Daguerreotypien in speziellen Rahmen und Kästchen auf Reisen zu den Gewerbevereinen geschickt. Weil aber die leichte Zerstörbarkeit der Daguerreotypien ein Problem blieb, und die Unikate zudem immer nur an einem Ort zu sehen waren, war mit diesem System trotz der damit erzielten Erfolge nur eine begrenzte Verbreitung zu erreichen. Ab 1854 wandte sich Minutoli der Papierphotographie zu – anscheinend zunächst in der Absicht, sie als Grundlage eines gedruckten Katalogs zu verwenden. Als dieses Projekt an finanziellen Hindernissen scheiterte, wurden die Photographien selbst als Tafelwerk zusammengestellt und 1854/55 in mehreren Serien erfolgreich publiziert. Im Deutschen Kunstblatt feierte der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke Minutolis Photographien als »treue Facsimile’s« der gegenständlichen Vorbilder – und somit als das unmittelbare Vorbild für die gewerbliche Produktion.8 Damit hatte die Photographie nach den ersten Andeutungen um 1840 auch in praktischer Hinsicht überzeugend besondere »museale Qualitäten«9 offenbart, die der graphischen Wiedergabe überlegen schienen. Die in den 1850er Jahren einsetzende institutionelle Einbindung des Mediums ist für England am besten erforscht, wo der Photographie nach ihrem Erfolg auf der Londoner Weltausstellung von 1851 ein besonderer Stellenwert zukam.10 Der englische Kunsthistoriker Anthony Hamber hat die Nutzung des neuen Mediums in der National Gallery, dem British Museum und dem South Kensington Museum vergleichend untersucht. Dabei hat er Zusammenhänge zwischen den Museumskonzepten, den möglichen musealen Funktionen und den jeweiligen Gebrauchsweisen der Photographie festgestellt. Während die National Gallery als Kunstmuseum mit ästhetischem Bildungsanspruch zurückhaltend auf die Photographie reagierte, nutzte das South Kensington Museum, mit dem sich der neue Typus des Kunstgewerbemuseums etablierte, die Photographie intensiv als zeitgemäßes Publikationsmedium. Charles Thurston Thompson photographierte bereits 1853 kunstgewerbliche Exponate im Auftrag des späteren South Kensington Museum, dessen offizieller Photograph er 1856 wurde. Die produktive Aufgabe der Photographie bestand darin, die ästhetische Vorbildlichkeit, mit der dieses Museum seine Ausstellungen und Sammlungen kunstgewerblicher Objekte legitimierte, photographisch herauszustellen und breitenwirksam zu vermitteln. Die Verbindung von kunstgewerblichen Sammlungen, didaktischen Zielen und photographischer Vermittlung erwies sich für das Kunstgewerbemuseum als funktional. Das British Museum schließlich stand zwischen diesen beiden Polen. Das Universalmuseum befand sich in einer Transformationsphase, in der das Erscheinungsbild eines elitären Kuriositätenkabinetts zugunsten einer wissenschaftlichen 8 | Lübke 1854, S. 267. 9 | Starl 2004, S. 51. 10 | Hamber 1996; Barnes 2008; Date/Hamber 1990.
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Ausrichtung zurückgedrängt werden sollte. Vor diesem Hintergrund kam die Photographie zunächst als wissenschaftliches Instrument einer standortunabhängigen Erforschung der eigenen Sammlungsobjekte in den Blick. Das Engagement des bekannten Photographen Roger Fenton in einem eigenen photographischen Atelier des British Museum ab 1853 erbrachte jedoch nicht die erhofften Impulse für die Wissenschaft und wurde bereits 1858 beendet. Für den deutschsprachigen Raum gibt es keine vergleichbaren Untersuchungen zum Gebrauch der Photographie im Museum des 19. Jahrhunderts. Das 1864 gegründete Museum für Kunst und Industrie in Wien gilt als erstes kontinentales Museum, das (nach dem Vorbild des South Kensington Museum) die Medientechnik Photographie durch die Einrichtung eines hauseigenen Ateliers konzeptuell integrierte.11 Tatsächlich aber hat sich bereits das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg ab 1855 intensiv um die Einrichtung einer eigenen »photographischen Anstalt« bemüht und eine solche in den Jahren 1859/60 sowie von 1862 bis 1867 betrieben. Anders als in England fällt im deutschsprachigen Raum nicht die Etablierung des Kunstgewerbemuseums, sondern mit der Gründung des Germanischen Nationalmuseums (1852) der Auftritt des kulturhistorischen Museums genau in jene Phase, in der sich die Photographie von einer technischen Kuriosität zu einem vielfältig anwendbaren Bildmedium entwickelte. Diese Arbeit verfolgt die Frage, welche Beziehungen sich zwischen diesem Museum und dem Medium Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergaben.
Die vergessenen Sammlungen der Photographie Im 20. Jahrhundert ist die Frage nach dem Verhältnis von Museum und Photographie häufig auf den Gesichtspunkt konzentriert worden, ob und unter welchen Bedingungen Photographien Kunst sein können. Nachdem sich die Photographie spätestens um 1950 ihren Platz als eigenständige Kunstform im Museum erobert hatte, wurden viele Photographen des 19. Jahrhunderts unter dieser neuen Perspektive als Künstler wiederentdeckt. Die postmodernen Phototheoretiker der 1970er und 1980er Jahre kritisierten diese Engführung auf Kunst, setzte die Betrachtungsweise jedoch unter umgekehrten Vorzeichen fort, indem sie das Museum vor allem als Chiffre für einen diskursiven Raum verstanden, der durch Einschluß oder Ausschluß bestimmter Werke definiert, was als Kunst zu gelten hat.12 Die Beziehung von Photographie und Museum ist aber weder von der einen, noch von der anderen Seite auf Kunst beschränkt; beide stehen in einem komplexen Zusammenhang, der die Bedeutung von Photographie als Sammlungsobjekt des Museums und ihre Wahrnehmung als Kunst einschließt, aber nicht darin aufgeht. Hier hat sich das Diskussionsfeld in den letzten zwanzig Jahren deutlich erweitert. Vor allem für das 19. Jahrhundert ist inzwischen die Vielfalt photographischer Prak11 | Gröning 2001a; Fabiankowitsch 2000. 12 | Z. B. Krauss 2000; Sekula 2003). Kritisch dazu: Batchen 1997, S. 5-12.
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tiken in den Blick gekommen, durch die das Medium in verschiedene soziale, kulturelle und wissenschaftliche Kontexte eingebunden war.13 Gleichwohl läßt sich feststellen, daß gerade der Forschungsstand zum Verhältnis von Photographie und Museum weiterhin vor allem kunsthistorische Perspektiven widerspiegelt – nicht zuletzt deshalb, weil sich sowohl die Theorie und Historiographie des Museums als auch die der Photographie aus der Kunstgeschichte entwickelt haben und an ihr orientierten. So ist etwa die Musealisierung der Photographie als Kunst, die Ende des 19. Jahrhunderts mit der piktoralistischen Photographie einsetzt, inzwischen intensiver erforscht worden14 und ebenso die etwa zeitgleiche Professionalisierung der sachlich-nüchternen Kunstreproduktion, die durch die Vervielfältigung der in den Museen aufbewahrten Kunstwerke als entscheidende Grundlage für den Institutionalisierungsprozeß der Kunstgeschichte erkannt worden ist.15 Durch diese an der Wende zum 20. Jahrhundert gesetzten Forschungsschwerpunkte, die zugleich als Ausgangspunkte eines musealen Interesses an Photographie erscheinen, kann der Eindruck entstehen, die Museen hätten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts grundsätzlich nicht für Photographie interessiert.16 Photographien wurden im 19. Jahrhundert in den Museen zwar kaum als autonome Kunstwerke, aber vielfach als Abbildungs- und Vergleichsmaterial gesammelt und standen dadurch in einer mehr oder weniger intensiven Wechselwirkung zu den jeweiligen Sammlungs- und Forschungsgegenständen. Mit einer »Reise in vergessene Schränke« machte Thomas Theye 1985 auf die vergessenen Photosammlungen der Völkerkundemuseen aufmerksam;17 seitdem haben viele Museen und mit ihnen die aus ihrem Material schöpfenden Disziplinen (v. a. Ethnologie, Volkskunde, Kunstgeschichte, Archäologie)18 ihre jeweiligen historischen Bildarchive erkundet und davon ausgehend den Einfluß photographischer Praktiken auf die fachwissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen untersucht. Weil diese Sammlungen zwischenzeitlich vergessen waren und ihnen keine wissenschaftliche oder museale Relevanz zugesprochen wurde, liegt zwischen ihrer Zusammenstellung und der Wiederentdeckung eine Distanz, die es ermöglicht, sich diese Bildmaterialien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als historische Dokumente der Sammlungs13 | Überblicksdarstellungen: Frizot 1998b; Marien 2002. Eine wichtige (Wieder-) Entdeckung war Hermann Krones »Historisches Lehrmuseum für Photographie« (Krone 1998; Pohlmann 1998). Zu unterschiedlichen Modellen der Photogeschichtsschreibung: Starl 1997. 14 | Pohlmann 1991; Philipp 1994. 15 | Reichle 2002, Tietenberg 1999, Ratzeburg 2002, Matyssek 2009. 16 | So Joachimides 2001, S. 30: »Die photographische Technik, die unter Verzicht auf die Farbe mechanische Reproduktionen erlaubte und an den Universitäten des 19. Jahrhunderts intensiv genutzt wurde, ist von den gleichzeitigen Museumsplanern generell nicht berücksichtigt worden.« 17 | Theye 1985. 18 | Edwards 2006 (Ethnologie); Hägele 1997, Becker 1997 (Volkskunde). Für die Kunstgeschichte neben den oben (Anm. 15) zitierten Arbeiten speziell für das 19. Jahrhundert demnächst: Peters 2011. Zur Archäologie: Alexandridis/Heilmeyer 2004.
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und Wissenschaftsgeschichte wieder anzueignen. In dieser Perspektive tritt die Lesart der Bilder als Dokumentation von Objekten, Bauten oder Personen zurück. Das Interesse gilt nicht nur dem, was darauf in dokumentarischer Absicht festgehalten wurde, sondern gerade auch der Frage, wie es dokumentiert worden ist, d. h. das Interesse richtet sich auf einen mit der Aufnahme dokumentierten (inzwischen historischen) Blick auf einen Forschungsgegenstand. In den Vordergrund tritt zudem die Wahrnehmung des einzelnen Bildes als kulturelles Artefakt. Die heterogene Erscheinungsform dieser meist einzeln auf Karton aufgeklebten und individuell beschrifteten Abzüge, ihr zudem häufig »trostloses Durcheinander«,19 weicht markant von den wissenschaftlichen Bildbänden und Forschungsdatenbanken des 20. und 21. Jahrhunderts ab. In den Depots präsentieren sich die Bilder als materielle Objekte, die an einem konkreten Ort in spezifische Praktiken des Sammelns und Ordnens, in das museale Projekt der Dokumentation und Klassifikation der Dinge, eingebunden waren. Die historisch veränderlichen Umgangsweisen des Museums mit dem Medium Photographie können daher zu einem Schlüssel für das Verständnis der institutionellen Praktiken des Museums werden. 20 Mit dem wachsenden historischen Interesse an diesen Sammlungen, das die gleichzeitige Überführung analoger ›Bilddaten‹ in die digitalen Speichermedien der Gegenwart begleitet, ist aber auch deutlich geworden, wie viele der einstmals anlegten Photosammlungen des 19. Jahrhunderts mit all ihren Aufzeichnungen verloren sind.21 Anthony Hamber kam deshalb 2008 in einem Überblick über den Forschungsstand zu der Einschätzung, daß die Geschichte photographischer Sammlungen im 19. Jahrhundert erst noch erzählt werden muß: »However the scale, scope and impact of such collections is largely an untold story that awaits to be told.«22 Diese Arbeit versucht, eine dieser Geschichten zu erzählen.
Das Germanische Nationalmuseum Mit der Gründung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg verband sich der übermütige Plan, die Gesamtheit der schriftlichen, bildlichen und gegenständlichen Zeugnisse deutscher Geschichte durch die Versammlung von Originalen, Reproduktionen und schriftlichen Repertorien zu erfassen und systematisch zu vernetzen. Als eines der ersten Museen überhaupt wendete sich das Germanische Nationalmuseum dabei dezidiert der Photographie zu und gliederte sie im Verbund mit anderen Medientechniken bereits in den 19 | Theye 1985, S. 3. 20 | In ihrer Untersuchung des Bildarchivs des Nordischen Museums in Stockholm entwickelt Karin Becker drei Betrachtungsweisen von dokumentarischer Photographie im Museum: als Dokument, Artefakt und Schlüssel zu den Dokumentationsverfahren des Museums (Becker 1997, S. 237–239). 21 | Hamber 2008, S. 64. 22 | Ebd., S. 69.
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1850er Jahren in seine Konzeption ein: die Photographie empfahl sich dabei nicht nur als Inventarisierungs-, Reproduktions- und Publikationsmedium der eigenen Sammlungsobjekte, sondern insbesondere als Stellvertreter der nicht verfügbaren Originalgegenstände. Anders als im Kunstgewerbemuseum oder in der Sammlung Minutoli wird der breitenwirksamen Vermittlung der in Nürnberg vorhandenen Bestände zunächst weniger Bedeutung beigemessen als der Möglichkeit, den über zahlreiche Sammlungen und Orte verstreuten Bestand historischer Objekte durch jeweils optimale Reproduktionen im Germanischen Nationalmuseum zu vereinigen. Mit dem sogenannten Bilderrepertorium entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Sammlungskomplex unterschiedlichen Bildmaterials, in dem die Idee eines Musée Imaginaire auf das reale Museum zurückgefaltet scheint: als realisiertes Museum der Abbilder innerhalb eines Museums der Dinge. Dieses Projekt scheiterte im 20. Jahrhundert; das Bilderrepertorium wurde nicht weiter kultiviert, später sporadisch durchstöbert und als Steinbruch anderer Sammlungsabteilungen ausgebeutet. In den Magazinkellern des Museums überdauert es heute als eine Ruine der Museumsgeschichte. Anhand dieser und anderer Untersuchungsgegenstände fragt die Arbeit nach einer heute in Archiv und Depot verborgenen Geschichte musealer Medienpraktiken des Germanischen Nationalmuseums und danach, wie diese Praktiken das Selbstverständnis des Museums jeweils reflektiert und verändert haben. Untersucht werden dabei jene »Rückstände« der Museumsgeschichte, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts emsig gesammelt wurden, bevor sie nach der Jahrhundertwende aus den Schauräumen des Museums verbannt wurden: Photographien, Gipsabgüsse und galvanoplastische Kopien. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie die Begriffe der Originalität und Authentizität im praktischen Umgang mit Reproduktionen für das Museum an Plausibilität gewannen. In den Blick kommen damit insbesondere solche Konstellationen, in denen Verschiebungen im Verhältnis von Original und Reproduktion mit veränderten Praktiken und Diskursen des Museums korrespondieren. Durch einen Ansatz, der Fragen der Museumsgeschichte, der Photogeschichte und der Mediengeschichte miteinander verknüpft, versucht sich die Arbeit damit nicht zuletzt an einer medialen Historiographie des Museums.23
Museumsdinge und MedienObjekte Museen und Medien stehen in einem gebrochenen Verhältnis zueinander. Einer These Gottfried Korffs zufolge gründet sich die anhaltende Attraktion des historischen Museums gerade auf einer »Konträrfaszination des Authentischen«, der unmittelbaren Begegnung mit Relikten der Vergangenheit als auratischem Erlebnis: »Das Museum läßt Authentizitätseffekte in einer Zeit zu, 23 | Zum Forschungsprogramm »medialer Historiographien« siehe die Homepage des DFGGraduiertenkollegs Mediale Historiographien der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena (http://www.mediale-historiographien.de/FORSCH2.html). [Gesehen: 22.08.2011]
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in der Erfahrungen aus zweiter Hand, vermittelte Abbild-Eindrücke die Regel geworden sind. Das Museum hingegen lebt vom historisch Fremden, das uns räumlich nah ist.«24 Diese Stilisierung des Museums als Antimedium hat jedoch teilweise das Potential des Museums verdeckt, die Bedingungen der Mediengesellschaft zu reflektieren.25 Auch Korff sieht den besonderen Reiz der »Museumsdinge« darin, daß sie neben der materiellen immer auch eine mediale Dimension besitzen: sie sind materiell, weil sie als physische Körper im Museum präsent und sichtbar sind; sie sind medial, weil sie als Werkzeuge der musealen Kommunikation eine Verbindung herstellen zwischen der Gegenwart ihres Soseins und der Vergangenheit ihres Geworden- und Gewesenseins.26 Dieser spezifische Blick auf die Medialität des Materiellen, das Potential der Museumsdinge, als Medium des Museums in unterschiedliche epistemische Ordnungen einzurücken, kann aber auch auf die Materialität des Medialen übertragen werden. Dazu zählen auch die Medien im Museum. Diese sogenannten Hilfsmittel, Informationsmedien oder »sekundären Museumsdinge«27 haben ebenfalls eine materielle Dimension, die nicht in ihrer medialen Funktion aufgeht. Modelle, Reproduktionen und Photographien, die im Museum den Blick auf die historischen Objekte ausrichten sollen, verfügen ihrerseits über spezifische materielle Eigenschaften. Selbst die Karteikästen und Zettel der musealen Dokumentation, die Vitrinen und Etiketten können als Museumsdinge wahrgenommen werden. Sie eröffnen aber auch eine Perspektive darauf, was ein »Museumsding« erst als solches erscheinen läßt und mit der Aura eines authentischen Zeitzeugen ausstattet. Ohne dabei den Versuch zu unternehmen, die Ambivalenz zwischen Ding und Zeichen, Artefakt und Information, Materialität und Medialität eindeutig auflösen zu wollen, nutzt diese Arbeit den Blick auf den früheren Einsatz von MedienObjekten, um zu prüfen, wie das Museum des 19. Jahrhunderts mit dieser Ambivalenz umgegangen ist. Der Begriff der »MedienObjekte« wird hier eingeführt, um die Gebrauchsweisen von Abbildungen und Reproduktionen im Germanischen Nationalmuseum zu untersuchen.28 Diese MedienObjekte sind zweiseitig betrachtbar: 24 | Korff 1995, S. 24f. 25 | Kallinich 2003, S. 18; Pazzini 1998, S. 321. 26 | Mit dem Begriff des »Dings« ist eine besondere Unvermitteltheit konnotiert – in Abgrenzung zum Gegenstand oder zum Objekt. Zum Konzept des Dingbegriffs im Museum auch: Fayet 2005. 27 | Fayet 2005, S. 23. 28 | Unter Abbildungen verstehe ich hier Übertragungen, die ein dreidimensionales Objekt in ein zweidimensionales Bild transformieren; unter Reproduktionen Übertragungen, die die Dimensionalität des Objekts nicht verändern (obwohl damit natürlich ebenfalls eine Transformation verbunden ist). Eine Photographie eines Kupferstich wäre demnach hier als Reproduktion, die Photographie einer Skulptur hingegen als Abbildung zu bezeichnen. Die terminologisch nicht immer trennscharfe Abgrenzung zwischen Reproduktion, Kopie, Vervielfältigung, die sich durch die Überlagerung verschiedener Diskursfelder (Urheberrecht, Graphik, Genetik, Photographie) komplex und uneinheitlich darstellen, sollten jeweils vom konkreten For-
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von ihrer materiellen Seite (z. B. als Zeichnung, als Druckgraphik, als Abguß) oder von ihrer medialen Seite (sie stehen dann für das durch sie Vermittelte, das Ab- oder Nachgebildete). MedienObjekte können als Stellvertreter des durch sie repräsentierten Objekts behandelt werden oder als autonomes Objekt des Museums selbst etwas (re)präsentieren. Sie sind aber nicht entweder nur das eine oder das andere, sondern immer beides zugleich; diese Ambiguität soll die Schreibweise (als ein Wort und mit großem O) betonen. Entscheidend für die Fragestellung ist die jeweils unterschiedliche Gewichtung, die das Museum zwischen diesen beiden Aspekten vorgenommen hat. Die Untersuchung der historischen Gebrauchsweisen von MedienObjekten im Germanischen Nationalmuseum richtet sich damit auch auf die Frage, wie sich die Konzepte von Originalität und Reproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Photographie verändert haben. Wolfgang Ullrich hat in seinem Buch »Raffinierte Kunst« den Vorschlag gemacht, Reproduktionen nicht mehr als nachrangigen »Abklatsch« zu verstehen, sondern als »Reprise und zweiten Anlauf, als Differenzierung und Pendant, als Reflexion und Raffinement«.29 Die Idee der Reproduktion als Veredelung und Interpretation des Kunstwerks schließt dabei auch an Wahrnehmungsweisen an, die im Zeitalter vor dem Aufkommen der Photographie üblich und durch den Reproduktionsstich als Leitmedium geprägt waren. Gerade die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dabei als ein Übergangszeitraum auszumachen, in dem die älteren Konzepte der Reproduktion hinter einer neuen normativen Vorstellung vom Original sukzessive in den Hintergrund getreten sind. Das Museum ist – so meine These – ein Ort, an dem diese Übergänge und Veränderungen durch Unklarheiten, Irritationen und paradoxe Konstellationen sichtbar werden. Gerade die Ambivalenz der Photographie, ihr anscheinend spezifisches Potential, ganz unterschiedliche Zuschreibungen zwischen Kunst und Technik, Authentizität und Falschheit, Wirklichkeit und Inszenierung, Originalität und Reproduktion auf sich zu ziehen, macht die Analyse der historischen Gebrauchs- und Wahrnehmungsweisen dieses Mediums zu einem »heuristische[n] Instrument, um kulturelle Veränderungen beschreibbar und implizite theoretische Vorannahmen sehr unterschiedlicher Positionen explizit zu machen«.30 In dieser von dem Photohistoriker Bernd Stiegler beschriebenen Funktion eines »Reflexionsmediums« wird die Photographie auch in dieser Arbeit verstanden.
schungsgegenstand her bestimmt werden. Dafür dient der Begriff »MedienObjekte« hier als eine Brücke. Vgl. Schmidt 2005, S. 149: »Reproduktion, Kopie, Vervielfältigung, Wiederholung sind oft willkürlich gebrauchte oder gesetzte Begriffe. So hilft es wenig, für das späte Mittelalter etwa auf der Unterscheidung zwischen Kopie und Reproduktion, wie sie in der Literatur zur Graphik traditionell geworden ist, zu bestehen. Wichtiger ist es, sich unbelastet von der Terminologie der Vielfalt der Formen und Ziele von Übertragung zu nähern.« 29 | Ullrich 2009, S. 16. 30 | Stiegler 2009, S. 8.
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Inhalt und Gliederung der Dissertation Ausgangspunkt der folgenden Darstellung sind die musealen Perspektiven, die sich bereits um 1840 in den ersten photographischen Bildern Daguerres andeuten: das Zusammenwirken in Projekten der Erfassung und Ordnung der sichtbaren Welt wie auch das subtile Potential des Mediums Photographie, diese Praktiken des Museums zu irritieren und zu verändern (Kapitel 2.1). Sind somit Suchrichtungen vorgegeben, stellt das Kapitel 2.2 gewissermaßen die Projektionsfläche dieser Fragestellung vor, indem darin das besondere Museumskonzept des Germanischen Nationalmuseums thematisiert wird. Das Projekt des Museumsgründers Hans von und zu Aufseß irritierte die zeitgenössischen Vorstellungen von einem Museum und ist in seiner dokumentarischen Ausrichtung in den letzten Jahren von dem Medienarchäologen Wolfgang Ernst als Element einer Vorgeschichte der Datenbanken analysiert worden.31 Wenn man aber neben den Programmschriften des Museums auch die musealen Praktiken untersucht, relativiert sich das Bild des außergewöhnlichen und völlig unzeitgemäßen Museums. Wie Kapitel 3 zeigt, bot das Nürnberger Konzept eine Grundlage für den intensiven Einsatz von Medientechniken. Damit beginnt die Detailstudie zu den Gebrauchsweisen von Reproduktionen und Photographien im Germanischen Nationalmuseum ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. An verschiedenen Konstellationen von Medien wird dargestellt, wie sich das Konzept des historischen Museums in Auseinandersetzung mit einem Medienensemble entwickelte, das sich durch das Aufkommen der Photographie veränderte. Die in den 1850er und 1860er Jahren festzustellenden Verschiebungen der Museumskonzeptionen werden dabei ins Verhältnis gesetzt zu den Medienpraktiken des Museums und den artikulierten Erwartungen an die Photographie als prädestiniertem Medium der Reproduktion. Steht somit zunächst der Diskurs des Mediums Photographie im Germanischen Nationalmuseum im Vordergrund, wird in Kapitel 4 die Frage nach den historischen Umgangsweisen mit konkreten Photographien zentral. Untersucht wird dabei der bis heute erhaltene, aber schon lange nicht mehr aktiv betreute Bestand des Bilderrepertoriums. Die Spuren und Schichten, die diese Ruine der Museumsgeschichte aufweist, spiegeln unterschiedliche Sichtweisen und Veränderungen im Verhältnis von Museum und Photographie. Das von André Malraux Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Konzept des Musée Imaginaire bietet dabei eine Möglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze im medienhistorischen Rückblick zu analysieren. Dabei zeigt sich, daß die zunächst optimistische Einschätzung der Bedeutung von photographischen Abbildungen für das kulturhistorische Museum einer medienkritischen Betrachtung wich, die sehr genau auf die spezifischen Vor- und Nachteile unterschiedlicher Darstellungsweisen von Bildern und Realien einging und in einem (niemals umgesetzten) Entwurf eines historisch-kritisch editierten Tafelwerks für kulturhistorische Forschungen gipfelte. 31 | Ernst 1998, v. a. S. 46f.
K APITEL 1 | E INLEITUNG
Bis in die 1880er Jahre blieb das Germanische Nationalmuseum eine prägende Stimme im Museumsdiskurs: zunächst als außergewöhnliches Museum eigenen Typs, später als Idealtypus des kulturhistorischen Museums. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Einfluß des Germanischen Nationalmuseums auf andere Museen geringer. Kapitel 5 wirft einige Schlaglichter auf die Veränderungen im Spannungsfeld von Museum und Photographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das überkommene Museumsmodell eines Sammelkastens, das im Germanischen Nationalmuseum eine spezifische Ausrichtung auf kulturhistorische Objekte erfahren hatte, im Zuge der Museumsreformbewegung selbst als historisch wahrgenommen wurde. An die Forderungen nach einer selektiveren und hierarchischen Museumspraxis, die die ästhetischen Qualitäten des einzelnen Objekts besser zur Geltung kommen lassen sollte, paßte sich das Nürnberger Museum spätestens ab 1920 an. Die museologische Diskussion des 20. Jahrhunderts stand deutlich im Zeichen der Kunstgeschichte und der Volkskunde, die sich durch die Spezialisierung historischer Wissenschaften als weitgehend unangefochtene Leitdisziplinen der historischen Museen etablierten. Auch dabei kamen Photographien zum Einsatz. Gerade die Kunstgeschichte kam durch die photographischen Kunstreproduktionen erst zu einer empirischen Forschungsbasis, die den Institutionalisierungsprozeß seit den 1870er Jahren begünstigte und prägte. Diese Zusammenhänge von Kunstgeschichte und Photographie, die lange einen »blinden Fleck« der Disziplin ausmachten, werden im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande berührt, da sie in ein anderes Forschungsfeld führen. Darauf ausgerichtet müßten in dieser Untersuchung Fragen nach dem Status der Photographie als Kunst und nach dem Verhältnis von Photographie und Kunstwerk sehr viel stärker in den Vordergrund treten, als sie es hier tun. Das Germanische Nationalmuseum wäre dafür nur ein bedingt geeigneter Forschungsgegenstand. Als Projektionsfläche für das Reflexionsmedium Photographie richtet das Germanische Nationalmuseum stattdessen den Blick auf die Funktion des Mediums als Instrument, Objekt und Modell des Sammelns und Ordnens historischer Fragmente in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
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Perspektiven und Projektionen
2.1 L ATENTE B ILDER – M USEALE P ERSPEKTIVEN DER D AGUERREOTYPIE In technischer Hinsicht beruht das Verfahren der Daguerreotypie auf einem Prozeß, in dem sich Verborgenes allmählich enthüllt: Wenn eine Hand die belichtete Platte aus der Camera Obscura entnimmt, bemerkt das Auge darauf zunächst keine Veränderung; eine leere, spiegelnde Oberfläche wirft den Blick auf den Betrachter zurück – und dennoch hat das Licht die photosensible Schicht des Silberjodids bereits verändert und an den belichteten Stellen eine photochemische Konstellation geschaffen, die noch nicht sichtbar ist, aber sichtbar gemacht werden kann. In der Dunkelheit aufbewahrt, bleibt die potentielle Sichtbarkeit dieser Konstellation für eine gewisse Zeit erhalten; sie kann sich als Bild offenbaren – oder allmählich wieder in Silberjodid aufgehen, so daß keine Spur der Belichtung zurückbleibt. Bevor sich das latente Bild auf der Metallplatte zeigt, bleibt das Vorhandensein einer darauf unsichtbar eingeschriebenen Lichtspur eine Hypothese. Solange ist die augenscheinlich leere Fläche lediglich die Projektionsfläche des erwarteten zukünftigen Bildes.
Auftritt des Mediums Photographie als Daguerreotypie In seiner »Geschichte der Photographie« schreibt Helmut Gernsheim: »Vielleicht hat keine andere Erfindung die Phantasie des Publikums so erregt und die Welt so rasch erobert wie die Daguerreotypie.«1 Die Vermutung des Photohistorikers, die sich auf die zeitgenössischen Berichte stützt, verweist auch auf die Wechselwirkung zwischen latenten und sichtbaren Bildern, zwischen der Medientechnik der Daguerreotypie (wie sie sich den Zeitgenossen darstellte) und dem Imaginationspotential des Mediums Photographie (den Zuschreibungen, die sie damit verbanden). Die Daguerreotypie ist nicht gleichzusetzen mit dem Medium Photographie. Sie gilt vielmehr als eine Sackgasse 1 | Gernsheim 1983, S. 62.
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der Mediengeschichte, weil sich in der Rückschau nicht die verblüffende Spiegelbildlichkeit dieser Metallphotographien (die immer Unikate waren), sondern die Reproduzierbarkeit photographischer Bilder auf Papier (das PositivNegativ-Verfahren Fox Talbots) als der entscheidende revolutionäre Aspekt der Photographie erwiesen habe.2 Aber diese Mediengeschichte ist dennoch entscheidend dadurch geprägt worden, daß das Medium Photographie zuerst als Daguerreotypie erschien.3 Von den Zeitgenossen wurde dieser Auftritt einer neuen Art von Bildproduktion im Jahr 1839 als spektakuläres Ereignis wahrgenommen. Als Datum prägt das Ereignis auch die geschichtliche Auseinandersetzung mit der Photographie. Das Jahr 1839 wurde häufig als historische Zäsur wahrgenommen, als Epochenschwelle zum Zeitalter technischer Bildmedien, in dem sich das Verhältnis von Mensch und Medium radikal veränderte. Doch erfolgen solche Veränderungen nicht schlagartig und aus dem Nichts. Neuartige Medientechniken treten immer in bestehende Medienkonstellationen und Diskursfelder ein, die mögliche Praktiken und Umgangsweisen strukturieren, ihrerseits aber durch den Auftritt des neuen Mediums verändert und allmählich unter neuen Perspektiven betrachtet und bewertet werden. In einem »Halbschatten zwischen Gegenwart und Zukunft«4 situiert, folgen Medienumbrüche einer eigenen Zeitlichkeit.5 Die Entdeckung des latenten Bildes ist das Ereignis, das Louis Daguerre rückblickend als seine eigenständige wissenschaftliche Leistung reklamierte. Spätestens seit 1837 verfügte er über ein praktikables Verfahren, um latente photographische Bilder zu entwickeln und zu fixieren. Bei der Entwicklung von Daguerreotypien schlagen sich aufsteigende Quecksilberdämpfe an den belichteten Stellen der Platte in Verbindung mit dem dort gelösten Silber nach und nach als weißlich-mattes Amalgam nieder. Sobald dieser Vorgang unterbrochen wird und der noch immer lichtempfindliche Rest Silberjodid vollständig ausgewaschen ist, bleibt eine dauerhafte Bildschicht zurück. In einem Rahmen hinter Glas aufbewahrt (um es vor Berührungen zu schützen, die die Schicht zerstören würden), hebt sich diese Schicht unter einem geeigneten Betrachtungswinkel und in Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachtungsumgebung als positives Bild von dem spiegelnden Hintergrund der Metallplatte ab. 2 | Z. B. bei Daniels 2002, S. 46f.; Kempe 1977. Ich konzentriere mich in diesem Kapitel auf die Daguerreotypie. Zu Talbots »Pencil of Nature« und dem spezifischen Einfluß der Papierphotographie auf das Verhältnis von Museum, Photographie und Reproduktion: siehe unten, Kapitel 3.2. 3 | Das Argument wird im folgenden ausgeführt. Vgl. Didi-Huberman 2001, S. 15: »Nur das erscheint, was sich zuvor verbergen konnte. Was schon auf den ersten Blick ersichtlich ist, was sich ungestört erkennen läßt, kann nie erscheinen.« Auf diese Konnotation von »erscheinen« kommt es hier an. 4 | Kubler 1982, S. 112: »Die Erfindungen liegen in jenem Halbschatten zwischen Gegenwart und Zukunft, in dem sich die verschwommenen Formen möglicher Ereignisse abzeichnen.« 5 | Der Begriff des Medienumbruchs (Schnell 2006, S. 7) wendet sich gegen eine Mediengeschichtsschreibung als teleologische Geschichte von Leitmedien.
K APITEL 2.1 | L ATENTE B ILDER
In einer anderen Umgebung oder in einer anderen Perspektive kann das Bild aber – ähnlich einem Hologramm – während der Betrachtung plötzlich in ein negatives Bild umschlagen.6 Der Versuch Daguerres, das als »Daguerreotypie« mit seinem Namen verknüpfte Verfahren an interessierte Subskribenten zu verkaufen, scheiterte7 – nicht zuletzt deshalb, weil der durch das Pariser Diorama bekannte Illusionskünstler zwar einige seiner Lichtbilder zeigte (und damit die Vorstellungskraft der Betrachter ansprach), dabei aber die möglichen Anwendungsbereiche seines Verfahrens weitgehend offen ließ. Handzettel erklärten lediglich, daß es sich um ein Verfahren zur Steuerung eines naturwissenschaftlichen Prozesses handele, »welcher der Natur dabei hilft, sich selbst abzubilden«, wodurch es »für alle Verwendungsmöglichkeiten« geeignet sei.8 Vor allem aber hielt er das neuartige Verfahren dieser Bildproduktion bis auf weiteres geheim, wodurch es den Interessenten offenbar schwerfiel, eine konkrete Perspektive zu einer Bildtechnik einzunehmen, die zwar verblüffte, aber letztlich doch unbestimmt blieb.9 Eine kurze Mitteilung François Aragos vom 7. Januar 1839 markiert einen Umschlag in der Wahrnehmung des noch latenten Mediums: indem der renommierte Pariser Physiker in seiner Funktion als Sekretär der Akademie der Wissenschaften einen kurzen Bericht über die Entdeckung Daguerres erstattete, versetzte er das (auch ihm zu diesem Zeitpunkt) noch undurchsichtige 6 | Falls die in der Platte gespiegelte Fläche heller ist als die Amalgamschicht. Dann erscheint hell als dunkel, dunkel als hell. 7 | Zu diesem regelrechten Werbefeldzug Daguerres: Buddemeier 1970, S. 68 und 73; Gernsheim 1983, S. 58. Schon kurz nach dem Vertragsabschluß zwischen Louis Daguerre und Nicéphore Nièpce Ende 1829 setzte Daguerre entschieden auf einen spektakulären Auftritt: »Meine Ansicht ist, daß wir mit dem Verfahren Aufsehen erregen müssen.« (Baier 1965, S. 63) 8 | Wiegand 1981, S. 17f. Der Handzettel gibt eine kurze Beschreibung der Entdeckung und kündigt die Auslegung einer Subskriptionsliste sowie eine Ausstellung exemplarischer Lichtbilder für den 15. Januar 1839 an; die Ausstellung fand jedoch niemals statt. (Vermutlich infolge der Bekanntschaft Daguerres mit Arago und der daraus resultierenden Idee eines Staatsankaufs der Daguerreotypie, die Arago am 7. Januar 1839 öffentlich machte; Daguerre berichtet in einem Brief vom 2. Januar 1839 von seinem ersten Zusammentreffen mit Arago, vgl. Baier 1965, S. 75f.). Selbst wenn der Handzettel möglicherweise nicht veröffentlicht worden ist, läßt sich daran doch erkennen, welche Informationen über sein Verfahren Daguerre preiszugeben bereit war. 9 | Es fanden wohl auch deshalb keine Subskribenten, weil man glaubte, das Geheimnis werde von einer Vielzahl darin eingeweihter Personen nicht effektiv gewahrt bleiben können. In einem Brief vom 28. April 1838 (vor Auslegung der Subkriptionsliste am 15. Mai) an seinen Kompagnon Isidore Niépce schrieb Daguerre: »Ich bin überzeugt, daß sich hier sehr wenige Subskribenten finden werden, weil ein so vielen bekanntes Geheimnis kein Geheimnis mehr sei, wie als Grund angegeben wird; es würde kein Jahr vergehen, dann wäre es allgemein bekannt.« (Baier 1965, S. 75) Daguerre selbst fürchtete, das Geheimnis werde sich früher oder später einem der anderen Chemiker enthüllen, die sich mit ähnlichen Experimenten beschäftigten (ebd., S. 73).
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Verfahren in ein wissenschaftliches Umfeld. Damit gab er einen Blickpunkt vor, der den nun international einsetzenden Kommentaren und Diskussionen um »Daguerres Geheimnis« als Referenzpunkt diente.10 Arago, der als Mitglied der Deputiertenkammer auch über politischen Einfluß verfügte, stellte zudem einen Ankauf des Verfahrens durch die französische Regierung in Aussicht, um es allgemein verfügbar zu machen. Diese über die internationale Presse verbreiteten Informationen riefen eine gespannte Aufmerksamkeit gegenüber der Daguerreotypie und der bevorstehenden Enthüllung ihrer Grundlagen hervor. Erst nach diesem Bericht Aragos wurde die Daguerreotypie über das Pariser Stadtgespräch hinaus öffentlich wahrgenommen. Mehr noch: durch das Auftauchen der Daguerreotypie im wissenschaftlichen Diskursfeld der Akademie wurde der seit langem gehegte Traum, die Bilder einer Camera Obscura dauerhaft festhalten zu können, bereits als wissenschaftliche Tatsache erachtet. Die Idee war so einfach und einleuchtend zu kommunizieren, daß die Lichtbilder auch in Form ihrer medialen Umschreibungen (als Teil journalistischer Texte oder privater Korrespondenzen) die Phantasie der Rezipienten in Europa und den Vereinigten Staaten anregten.11 Gerade durch diese Einfachheit boten sich aber auch Spielräume für diffuse Vermutungen und Fehlinterpretationen, erzeugte die mediale Resonanz durch Zeitungen und Zeitschriften auch Interferenzen.12 In den Diskurs mischten sich die Stimmen jener Wissenschaftler, Tüftler, Künstler oder Scharlatane, die sich – stimuliert von der Pariser Erfolgsnachricht – mit eigenen photographischen Forschungen befaßten oder durch die Präsentation bisher verborgen gehaltener Ergebnisse eigene Prioritätsansprüche anmeldeten.13 Die Erwartungen einer zeitnahen Enthüllung des Geheimnisses erfüllten sich aber nicht. Das Medium verharrte in der Schwebe, blieb geheimnisvoll, verborgen, unverfügbar – ein Irrlicht, dessen Widerschein durch die internationalen Druckmedien zirkulierte. Ähnlich dem latenten Bild, das nach kurzer Belichtung noch nichts zeigt, aber als Projektionsfläche eines zukünftigen Bildes dienen kann, war die Idee der Photographie zu Beginn des Jahres 1839 kurz ins Licht der Öffentlichkeit geraten; auch wenn die Medientechnik Daguerres vorerst 10 | Im Morgenblatt für gebildete Leser, 19. Januar 1839, S. 65 hieß es, eine »so außerordentliche Entdeckung« habe »des Zeugnisses von Männern, wie Arago, Biot usw.« bedurft, »um daran zu glauben.« [Die Hervorhebungen in diesem wie in allen folgenden direkten Zitaten sind aus der Vorlage übernommen, UT]. 11 | So stimmte etwa der dänische Dichter Hans Christian Andersen bereits im Februar 1839 ein Loblied über das Medium an, dessen Technik ihm völlig unbekannt war und dessen erste Bildzeugnisse er erst im Herbst 1840 zu Gesicht bekommen sollte. (Wiegand 1980, S. 5f.). 12 | Dewitz/Matz 1989, S. 22f. gibt einen Überblick über die Resonanz deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften, die teilweise von »Zeichnungen auf Papier« oder farbigen Lichtbildern berichteten. 13 | Hier wäre ein ganzer Reigen von Wissenschaftlern zu nennen, allen voran natürlich Fox Talbot, aber auch Bayard, Kobell und Steinheil, etc.; siehe für Prioritätsansprüche und -diskussionen im deutschsprachigen Raum: Dewitz/Matz 1989, S. 23–25.
K APITEL 2.1 | L ATENTE B ILDER
verborgen blieb, bildeten sich in dieser Phase aus einem Konglomerat unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Berichte, Korrespondenzen und Spekulationen die Konturen eines imaginären Bildmediums, das nahtlos an die in der abendländischen Kultur verwurzelten Bildmythen und einige ihrer zentralen Dispositive (Spiegel, Schatten, Camera Obscura, Zentralperspektive) anschloß. Noch bevor eine praktikable Medientechnik überhaupt zur Verfügung stand, konnte der photographische Prozeß bereits als prädestiniertes Abbildungsverfahren erscheinen, an dem sich fortan die anderen Bildmedien würden messen lassen müssen.14
Das Medium als versiegeltes Paket Man trifft in der Geschichte des Erscheinens der Photographie als Daguerreotypie auf ein Sinnbild des Schwebezustands, in dem sich das Medium die meiste Zeit des Jahres 1839 befand: Ein im Juni 1839 mit dem französischen Innenministerium geschlossener Vertrag verpflichtete Daguerre zur Übergabe eines versiegelten Pakets, in dem er »das Geschichtliche und die genaueste, ausführlichste Beschreibung« des von ihm entwickelten Verfahrens darzustellen hatte;15 das Siegel sollte erst erbrochen werden, sobald der Gesetzesentwurf zur Zahlung einer jährlichen Staatspension als Gegenleistung für die Rechte an der Daguerreotypie bestätigt sei – anderenfalls unversehrt zurückgegeben werden.16 Ein versiegeltes Paket zeigt, daß es etwas verbirgt. Das Siegel garantiert die Unversehrtheit des Geheimnisses, trägt aber gleichzeitig das Versprechen einer Enthüllung, die das Siegel (und damit das Geheimnis) notwendigerweise zerstört. Die Öffnung des Umschlags (im Sinne einer verbergenden Umhüllung) ist in der Geschichte eines Geheimnisses als dessen Enthüllung damit zugleich der letzte Moment des Umschlags (im Sinne eines plötzlichen Umschwungs). Georg Simmel hat das Verbergen eines Geheimnisses als eine effektive Technik sozialen Handelns charakterisiert, um in einer komplexen gesellschaftlichen Umgebung, deren Funktionieren auf wechselseitigem Wissen 14 | Diese Position formuliert vor allem Jules Janin (siehe unten in diesem Kapitel). Zu diesem Charakter der Photographie als Paradigma auch: Einleitung von Herta Wolf in: Wolf 2002 (v. a. S. 12): Die Indexikalität des photographischen Bildes wird zur Meßlatte anderer Bildmedien. 15 | Haberkorn 1981, S. 193-194. Hier: S. 193 (Vertrag vom 14. Juni 1839, Art. 1) Interessant auch, daß die Erfindung hier zunächst die Darstellung des Geschichtlichen fordert. Daguerres Bilder erscheinen somit nicht in einem völlig unbesetzten Feld des Neuen, sondern treten in eine historische Abfolge ein, die sich aus künstlerischen Prozessen und naturkundlichen Experimenten speist (Wolf 2006, S. 117f.). Im Moment des Auftritts ist die Daguerreotypie bereits Teil einer historischen Reihe. 16 | Die Hinterlegung eines versiegelten Pakets bei einer staatlichen Institution war eine im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts übliche Praxis, um Prioritätsfragen zu klären; mit dem Datum der Übergabe wurde ein Referenzzeitpunkt geschaffen, auf den sich ein Entdecker beziehen konnte.
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basiert, bestimmte Ziele zu erreichen.17 Ein Geheimnis wirkt dann besonders stark auf die Vorstellungskraft, wenn bekannt ist, daß jemand den anderen etwas vorenthält, wenn sich – wie im Fall des versiegelten Pakets – etwas als Geheimnis zeigt und doch verborgen bleibt. Das Geheimnis weist auf seine Enthüllung voraus; es wird vom Versprechen der Entschleierung und der Versuchung des Verrat(en)s begleitet. Gerade durch den paradoxen Modus der offensichtlichen Verborgenheit stimuliert es die »Phantasie, ihre Möglichkeiten darein zu weben«.18 Das Geheimnis wird dadurch sozial ausgestaltet; es bietet eine Möglichkeit aktiver Partizipation, die weder für das enthüllte Geheimnis gilt, noch für ein verborgenes Geheimnis, um das kein anderer weiß. In der Technik des Geheimnisses sieht Simmel die »Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren« geboten, »und diese wird von jener auf das stärkste beeinflußt.«19 Im Moment der Enthüllung, die das Geheimnis zwangsläufig zerstört, treffen diese beiden Sphären aufeinander.20 Der 19. August 1839, an dem Daguerres Geheimnis in einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Künste vor einem informationshungrigen Publikum öffentlich enthüllt werden sollte, wurde zu einem weiteren Wendepunkt im Erscheinen der Photographie. Mit der Bekanntgabe der Medientechnik sollte das zunächst nur latente Bild schlagartig sichtbar werden. Aber wie das Geheimnis mit seiner Enthüllung verloren geht, kann auch ein latentes Bild als solches gar nicht sichtbar werden – es verschwindet, indem das sichtbare Bild hervortritt. Als Diskursinstanz verfügbar bleibt jedoch das imaginäre Bild des Mediums Photographie, dem es zuvor als Projektionsfläche gedient hatte. Aus dieser Perspektive kann das nunmehr sichtbare Bild der Daguerreotypie vergleichend in den Blick genommen werden. Enthüllung ist deshalb häufig mit Enttäuschung und der Auflösung von Illusionen verbunden. Der an diesem Tag in Paris anwesende, spätere Schriftsteller Ludwig Pfau schilderte eindrucksvoll die rauschhafte Begeisterung, die dem Enthüllungsakt vorausging – aber auch den eigenartigen Zustand zwischen Begeisterung, Verwirrung und Ernüchterung, in dem sich die im Bewußtsein »des unendlichen Fortschritts« in Paris zusammengekommene Menschenmenge anschließend wieder zerstreute.21 Wenige Wochen später wunderte sich ein Kommen17 | Hierzu und zum folgenden: Simmel 1983. 18 | Ebd., S. 271. 19 | Ebd. 20 | Zum Moment der Enthüllung: »Dieser bildet die Peripetie in der Entwicklung des Geheimnisses, in ihm sammeln und gipfeln sich noch einmal dessen ganze Reize« (ebd., S. 274). 21 | Pfau 1877: »Eine Aufregung herrschte als ob es sich wenigstens um eine gewonnene Schlacht handelte. Ein Sieg – ein größerer als jene blutigen - war allerdings erfochten worden, ein Sieg des wissenden Geistes. Und gerade diese allgemeine Feier einer solchen Eroberung hatte etwas Berauschendes. Die Menge war wie eine elektrische Batterie die einen Funkenstrom aussendet. Jeder hatte eine Freude an der Freude des Anderen. Im Reiche des unendlichen Fortschritts war wieder eine Grenze gefallen, und die Menschheit fühlte sich im Lande ihrer Heimat. [...] ›Jodsilber!‹ ruft der Eine, ›Quecksilber!‹ schreit der Andere, und ein Dritter
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tator bereits darüber, »daß M. Daguerres Entdeckung, die, als sie noch ein Geheimnis war, so eifrige und nur zu verständliche Neugier beim Publikum geweckt hat, nun so wenig Interesse findet.«22 Dieses Resümee zog ein Redakteur des Londoner Magazins Athenaeum nur wenige Wochen nach dem Pariser Ereignis und brachte damit die Diskrepanz zum Ausdruck, die sich nun zwischen dem Interesse an dem imaginären Medium und dem Interesse an der Medientechnik zeigte. Für viele Kommentatoren erwies sich die Medientechnik der Daguerreotypie letztlich gegenüber dem imaginären Medium, das sich im Laufe des Jahres 1839 konstituiert hatte, als defizitär. 23 Dennoch sollte die Wirksamkeit der durch die Daguerreotypie gebildeten Mythen des photographischen Bildes nicht unterschätzt werden. Die Desiderate, die die Medientechnik zunächst nicht einlösen konnte (Farbphotographie, Momentbild, Papier als Trägermaterial, Reproduzierbarkeit, Portraitaufnahmen) oder grundsätzlich nicht einlösen kann (absoluter Wahrheitsanspruch), blieben als Phantome des imaginären Mediums präsent und fungierten nicht zuletzt als Richtungsweiser der technischen Entwicklung der Photographie.24 Die Photographiegeschichte ist bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durch die Versuche geprägt, diese Desiderate nach und nach technisch einzuholen.25 In bezug auf die Abbildungsqualität war aber durch die Daguerreotypie ein Maßstab gesetzt, dem die folgenden technischen Verfahren lange Zeit nur mehr oder weniger nahekommen konnten. Das suggestive Potential dieser frühen spiegelbildlichen Erscheinungen wirkt – über alle medientechnischen Verän-
behauptet gar, unterschwefligsaures Natron heiße die geheimnißvolle Materie. Jedermann spitzt die Ohren, und Niemand begreift. Dichte Kreise bilden sich um einzelne Sprecher, und die Menge sucht bald dort einzudringen um die Kunde zu erhaschen. Endlich gelingt es auch unserer Gruppe einen der glücklichen Zuhörer am Frackzipfel zu erwischen und zum Beichten zu nöthigen. Das Geheimniß klärt sich allmählig auf; aber noch lange wogt die aufgeregte Menge unter den Arkaden des Instituts und auf dem Pont des Arts hin und her, bevor sie sich entschließen kann in die Grenzen der Alltäglichkeit zurückzukehren.« 22 | Athenaeum, 26. Oktober 1839. Zitiert nach Newhall 1984, S. 29. Die hier kommunizierte Ernüchterung des englischen Kommentators ist auch auf das Patent zurückzuführen, daß sich Daguerre kurz vor der öffentlichen Bekanntgabe speziell für England hatte sichern lassen – den Äußerungen Aragos zum Trotz, der die Daguerreotypie als Geschenk des französischen Staates an die ganze Welt gefeiert hatte. Trotzdem spiegelt sie zugleich die Einschätzung, daß die jetzt verfügbare Medientechnik bestimmte Erwartungen an das neue Medium nicht erfüllte. Newhall nennt in diesem Zusammenhang vor allem die Portraitphotographie. 23 | So auch die Einschätzung von Ludwig Schorn im Kunstblatt: »Nach der Bekanntmachung des Geheimnisses schienen viele in ihren Erwartungen getäuscht.« (Kemp 1999, S. 56). 24 | Vgl. Schanze 2006, S. 198: »Selbst die medialen Unmöglichkeiten verweisen auf mediale Möglichkeiten, und die Materialität der Medien, ihr Widerstand, begründet zugleich, im Umgang mit ihnen, ihre utopische Qualität.« 25 | Die technikorientierte Geschichtsschreibung der Photographie hat ihre Darstellungen an einem solchen Fortschrittsmodell orientiert (vgl. Eder 1932).
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derungen hinweg – bis heute in den Alltagsumgang mit photographischen Bildern hinein.26
Daguerres »Stilleben« Das Medium Photographie formierte sich als wechselseitige Relation von Bildern und den durch sie veranlaßten Diskursen, von Diskursen und den durch sie veranlaßten Bildern. Die ersten Daguerreotypien waren als exemplarische Belege einer neuen Art der Bildproduktion konzipiert und wurden auch als solche wahrgenommen. Wenn die ersten Betrachter zunächst die Tatsache verblüffte, daß überhaupt ein dauerhaftes photographisches Bild entstanden war, wenn sie rätselten, wie es entstanden war, trat die Frage danach, was das Bild zeigte, in den Hintergrund. Sicherlich sollte damit gezeigt werden, was die Kamera alles aufzeichnen konnte; aber das bedeutet nicht, daß die Auswahl und das Arrangement der Objekte im Bild beliebig gewesen wäre. Dem ersten Bildprogramm des Mediums kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu – auch wenn der Kanon der wenigen Bilder, die Louis Daguerre heute zugeschrieben werden, nur punktuelle Einblicke erlaubt.27 Das sogenannte »Stilleben« gilt als die älteste erhaltene Daguerreotypie und wird zumeist auf das Jahr 1837 datiert (Abb. 1).28 Die Szene zeigt einen Fenstersturz, Teile des Raumdekors und sorgfältig arrangierte Gegenstände, vornehmlich künstlerische Objekte, darunter Gipsabgüsse, ein Basrelief und eine gerahmte Graphik an der Wand. Auf der visuellen Ebene ist die Daguerreotypie zunächst eine Leistungsschau des Mediums: die Technik erweist ihr 26 | Roland Barthes hat diese zwischenzeitlich verbannte Alltagserfahrung von Photographien in den Diskurs der Phototheorie (die er als Magie und »Emanation des Referenten« beschreibt) wieder eingebracht (Barthes 1989, S. 90). 27 | Zu Problemen der Benennung, Zuschreibung und Datierung vieler früher Daguerreotypien: Batchen 2004, S. 775 Anm. 29. Nur wenige Daguerreotypien können sicher Daguerre zugeschrieben werden; viele sind nur durch Textbelege bekannt (etwa die mikroskopische Aufnahme einer Spinne oder die teleskopische Aufnahme des Mondes) und als Bild nicht überliefert. Welche Verwirrung es auslöst, wenn ein unbekanntes Bild in diesen Kanon bricht, zeige der 1998 bekannt gewordene Fund eines angeblich von Daguerre im Jahre 1837 angefertigten Portraits, das mit dem bisherigen Kenntnisstand (wonach Portraitphotographien erst 1839 möglich wurden) nicht kompatibel ist. Der bis heute kontroverse Diskurs um die Authentizität des Portraits lenkte den Blick auf den lückenhaften Wissensstand über Daguerres photographische Praxis. 28 | Von Erhaltung zu sprechen, ist in diesem Fall jedoch problematisch, da die Metallplatte zwar noch materiell vorhanden, das darauf einstmals sichtbare Bild aber infolge fehlgeschlagener Konservierungsbemühungen heute nicht mehr zu erkennen ist (Batchen 2004, S. 765). Ähnliche Bildverluste lassen sich auch bei anderen Inkunabeln der Daguerreotypie konstatieren – frühe Blicke, im Zugriff der Chemie verloschen (Geimer 2002, S. 313f.). Zu den paradoxen Konstellationen, die die Bezugnahme auf diese nur noch als Reproduktionen erhaltenen Bilder in der photohistoriographischen Literatur erzeugt: Tschirner 2009.
K APITEL 2.1 | L ATENTE B ILDER
Abb. 1: Louis Daguerre, Stilleben, 1837 Société Francaise de Photographie, Paris Vermögen, unterschiedliche Materialien und Texturen (Gips, Stein, den Stoff der Vorhänge, die Korbflasche) durch ein reiches Spektrum an Halbtönen und Kontrasten wiederzugeben. Über diese Ausstellung des medientechnischen Potentials hinaus lassen sich Auswahl und Arrangement der Dinge im Bildraum als eine programmatische Aussage über das noch latente Medium Photographie verstehen. Das Bild meldet für das zukünftige Medium Ansprüche auf einen Platz im System der Künste an und zeigt zugleich, daß sich dadurch die etablierten Grenzen der Kunst- und Bildproduktion verschieben könnten. Besonders deutlich wird dieser Aspekt an der Kombination der Kunstgegenstände. Vorgeführt werden Übergänge zwischen Drei- und Zweidimensionalität: von den vollplastischen Abgüssen, über das aus der Fläche gearbeitete Basrelief bis zur Druckgraphik.29 Genau diesen Übergang zwischen dreidimensionalen Räumen und zweidimensionalen Bildern macht sich die Daguerreotypie zu eigen. Zur Übertragung des Räumlichen in die Fläche bedarf es fortan nicht mehr zwangsläufig der vermittelnden Instanz eines sehenden und bildenden Künstlers, weil das Bild der Kunst nun durch exakte Technik wieder hervorgebracht (re-produziert) werden kann. Der australische Photohistoriker Geoffrey Batchen hat die besondere Affinität der ersten Daguerreotypien zur zeitgenössischen französischen Reproduktionstechnik herausgestellt.30 In dem Bild »Stilleben« setzt sich die Daguerreotypie in Analogie zu den dreidimensionalen Verfahren exakter Kunstreproduktion, mit denen sich in den 29 | Zur Analyse einzelner Bildelemente: Batchen 1997, S. 129–132. 30 | Batchen 2004, S. 767: »[W]e get, what seems to be a celebration of copying itself, of the ability to own such copies, and of the act of copying those copies.«
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1830er Jahren bereits eine Industrialisierung der Kunst anbahnte. So nimmt Daguerre durch die Auswahl seiner Kunstgegenstände auf das um 1836 von Achille Collas entwickelte Verfahren zur seriellen Reproduktion von Basreliefs und Skulpturen Bezug, das die Verbreitung von Kunstwerken durch maßstabsverkleinerte Kopien bereits merklich gefördert hatte.31 Daguerre sucht also den Anschluß an eine ihrerseits avancierte Reproduktionstechnik. Die Grenzen, die diesen Verfahren plastischer Reproduktion gesetzt blieben, weil dadurch immer nur dreidimensionale Vorbilder kopiert werden konnten, ist aber mit der Daguerreotypie durch die Möglichkeit der gemeinsamen Erfassung zwei- und dreidimensionaler Gegenstände überschritten. In der bildlichen Aneignung unterschiedlicher künstlerischer und technischer Bildwerke, deren Leistungen die Daguerreotypie in sich vereint, verknüpft sie das Potential bildlicher Projektion mit der Exaktheit physischer Reproduktion. Die Daguerreotypie situiert sich damit als hybrides technisches Kunststück – eine Art visueller Abdruck – zwischen Abbild und Abguß. Indem es eine Versammlung von Gegenständen zeigt, verweist das bisweilen auch als »Atelier des Künstlers« oder »Kuriositätenkabinett« titulierte Bild auf Praktiken des Aneignens, Anordnens und Ausstellens. Jede Reproduktion steigert, wenn man sie als Vervielfältigung des Reproduzierten versteht, dessen Verfügbarkeit und bietet damit erweiterte Möglichkeiten der Sammlung von Gegenständen in Form ihrer medialen Stellvertreter. Die Verbesserung der Reproduktionstechniken hatte auf diese Weise bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Kunstwerke durch Kopien in Umlauf gesetzt und den Aufbau privater Sammlungen begünstigt, in denen die bekanntesten Kunstwerke der Museen die begehrtesten Stücke waren (z. B. die »Venus von Milo« aus dem Louvre). Zu den seit einigen Jahrzehnten öffentlich zugänglichen Sammlungen gesellte sich daher nun eine wachsende Zahl privater Sammlungen, die sich an den Ordnungs- und Ausstellungspraktiken der Museen orientieren oder bewußt davon absetzen konnten. Zumindest aber erlaubten es die in Serie hergestellten Reproduktionen, Sammlungen von Kunstwerken anzulegen, deren Originale über Sammlungen in ganz Europa verstreut sein konnten. Der Traum einer Vereinigung der Meisterwerke der Kunstgeschichte, dessen versuchte Realisation mit dem Musée Napoleon 1814 gescheitert war, kehrte nun in kleinerem Format wieder: als Möglichkeit der Vereinigung von Reproduktionen.32 Als Reproduktionsmedium zwei- und dreidimensionaler Vorbilder positionierte sich die Daguerreotypie als prädestinierter Stellvertreter für derartige Sammlungen. Das, was materiell nicht verfügbar ist, kann als Bild angeeignet und Teil einer Sammlung werden. Anders als eine Gipskopie, die als materielle Einheit immer nur eine einzelne Form hervorbringt, kann die Daguerreotypie durch ihre spezifische Verschränkung 31 | Ebd., S. 766. 32 | Das Konzept des Musée Imaginaire (Malraux 1949) werde ich als wiederkehrendes Motiv der Museumsgeschichte an mehreren Stellen der Arbeit aufnehmen und in Kapitel ausführlich diskutieren. Zum Musée Napoleon und seinem Einfluß auf die Museumsgeschichte: Gaehtgens 1997.
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von Reproduktion und Abbildung mehrere Gegenstände zugleich erfassen. Indem diese gemeinsam ins Bild gesetzt werden, wird sie selbst zur Sammlung und zum Schaukasten der Objekte. Damit deutet sich das reflexive Verhältnis zum Museum an.33 Denn gleichzeitig empfiehlt sich diese Daguerreotypie auch als ein Objekt, das in Museen gesammelt und ausgestellt werden kann. Ein Zettel auf der Rückseite der Platte diente Daguerre als Widmung für Alphonse de Cailleux, den Direktor des Louvre.34 Daguerre nutzte offenbar genau dieses Bild »Stilleben« als Vorzeigestück, um das Interesse an der noch geheimgehaltenen Entdeckung zu wecken.35 Cailleux bekam das Bild wahrscheinlich zur selben Zeit zu sehen, als Daguerre über François Arago auch Kontakt zur Akademie der Wissenschaften herstellte. Die Daguerreotypie war eingebunden in eine zweigleisige Strategie, die dem zukünftigen Medium in den Sphären der Wissenschaft und Kunst einen Platz bereiten sollte, indem ausgewählte Persönlichkeiten punktuelle Einblicke in mögliche Einsatzfelder erhielten. Der Illusionskünstler Daguerre zählte dabei auf die assoziative Überzeugungskraft der Bilder: seine Bildkompositionen unterstreichen einerseits ihre Eignung für traditionelle Bildaufgaben, deuten dabei aber das spezifisch Neue des photographischen Bildes an und überlassen es dem Betrachter, veränderte Bildpraktiken in Kunst und Wissenschaft zu imaginieren.
Visionen und Beobachtungen eines zukünftigen Mediums Sieht man auch die Zuschreibungen und imaginären Aspekte als Teil dessen an, was ein Medium ausmacht, dann könnte Jules Janin als einer der Erfinder der Photographie genannt werden.36 Der Pariser Feuilletonist, der Anfang 1839 bereits einige Lichtbilder Daguerres mit eigenen Augen gesehen hatte, erwies sich als idealer Rezipient und Multiplikator einer Präsentationsstrategie, die auf das Imaginationspotential von Bildern setzte. Der gegenwärtige Stand der Daguerreotypie diente ihm als Aussichtspunkt für Spekulationen über die zukünftige Bedeutung der Photographie. Am 27. Januar 1839 veröffentlichte Janin im Magazin L’Artiste einen ausführlichen und enthusiastischen Bericht über die Entdeckung. Obwohl ihm keine der geheimgehaltenen Informationen über das technische Verfahren bekannt waren, feierte Janin die noch bevorstehende Veröffentlichung der Daguerreotypie bereits als revolutionäres Ereignis und reihte die Erfindung neben Dampfmaschine, Eisenbahn, 33 | Pinson 2003, S. 32 sieht in dem Bild die zukünftige Rolle von Photographien und Museen bei der Durchsetzung der kunstgeschichtlichen Methode vergleichender Betrachtung vorgezeichnet. 34 | Beschriftung Daguerres: »épreuve ayant servi à constater la découverte du daguerréotype, offerte à Cailleux par son très dévoué serviteur Daguerre.« (nach Batchen 1997, S. 133) 35 | Batchen 1997, S. 132f.; Hamber 1996, S. 61 hält es für möglich, daß Daguerre mit der Daguerreotypie um Erlaubnis dafür bat, Aufnahmen im Louvre anfertigen zu dürfen. 36 | Die Photohistoriographie hat auf den Suchen nach den Ursprüngen des Mediums sehr viele Entdecker und Erfinder vor und neben Daguerre ausgemacht (dazu: Batchen 1997, S. 24ff).
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Gaslicht und dem Luftschiff in ein allgemeines Fortschrittsszenario ein, in dem technische Innovationen traditionelle Praktiken verbesserten und verdrängten. Janin sieht die Lichtbilder Daguerres mit ihren reproduzierten Kunstreproduktionen aus der Perspektive eines kunstinteressierten Publikums. Eine der wesentlichen Erwartungen, die er mit dem neuen Medium verbindet, ist die Popularisierung von Kunstwerken, genauer: von Meisterwerken der Kunst: »Der Daguerreotyp ist dazu bestimmt, die schönen Seiten der Natur und der Kunst zu reproduzieren, ungefähr so, wie der Buchdruck die Meisterwerke des menschlichen Geistes verbreitet [...]; er ist die unablässige, spontane, unersättliche Reproduktion der hunderttausend Meisterwerke, die die Geschichte auf der Oberfläche der Erde errichtet bzw. umgestürzt hat. [...] Er ist dazu bestimmt, zu geringen Kosten die schönsten Kunstwerke zu popularisieren, von denen wir nur teure und unzulängliche Kopien haben. Wenn man nicht sein eigener Graphiker werden will, dann wird man binnen kurzem sein Kind ins Museum schicken und ihm auftragen: Bringe mir in drei Stunden ein Bild von Murillo oder Raffael.« 37
Die Tatsache, daß es sich bei Daguerreotypien um Unikate handelt, trübt diese Einschätzung nicht, weil Janin von einem kinderleichten Verfahren ausgeht, das bald jedem zur Verfügung stehen und von jedem genutzt werden wird.38 Als Reservoir latenter Daguerreotypien werden die Bestände der Museen in dieser Perspektive für ein breiteres Publikum überhaupt erst zugänglich.39 Mit der Entkopplung der Bildproduktion von Talent und Zeit, verspricht das neue Medium nicht nur einen nahezu universellen Zugang zu den Bildern der Kunst, sondern auch zur bislang einer Minderheit vorbehaltenen Kunst des Bildermachens.40 Janin beschreibt die Daguerreotypie aber nicht nur als »Graphik in der Hand Aller«41 – und damit als quantitative Revolution der Bildproduktion, sondern auch als eine »Universal-Graphik«42 , die durch ihre Abbildungsqualität eine wesentliche Verbesserung gegenüber den Unzulänglichkeiten von
37 | Kemp 1999, S. 49 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 207f.). 38 | Ein späterer Text von Janin (kurz nach der öffentlichen Enthüllung des Verfahrens) hält zwar an der begeisterten Einschätzung der Produkte des Verfahrens fest, artikuliert jedoch Enttäuschung hinsichtlich der Handhabbarkeit des Verfahrens. Gerade in bezug auf die Leichtigkeit, Schnelligkeit und damit Verfügbarkeit für ein breites Publikum sieht Janin seine früheren Erwartungen enttäuscht (Buddemeier 1970, S. 221-226). 39 | Wie selbstverständlich wird das, was Daguerre in seinem »Stilleben« für die Reproduktion von plastischen und graphischen Werken andeutet, auf die Malerei ausgedehnt. Tatsächlich bereiteten aber gerade Gemälde durch die uneinheitliche Farbwiedergabe und das seitenverkehrte Bild besondere Probleme (dazu unten, Kapitel ). 40 | Brunet 2008, S. 665. 41 | Kemp 1999, S. 49 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 207 : »C’est une gravure à la portée de tous et de chacun«.) . 42 | Kemp 1999, S. 50 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 209: »la gravure universelle«) .
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Zeichnungen und Graphiken darstellt.43 Er läßt keinen Zweifel an der Überzeugung, daß die Daguerreotypie die bisher bekannten graphischen Künste ersetzen wird – ja, er spricht diese Erwartung sogar als abgeschlossene Vergangenheit aus, so als wäre die Verdrängung bereits besiegelt: »Und jetzt hat Daguerre durch diesen auf eine Platte aufzutragenden Überzug die Zeichnung und die Graphik ersetzt.«44 Wenn die Daguerreotypie bei Janin als das Abbildungsmedium schlechthin erscheint, so auch deshalb, weil er in seinem Bericht das wirkungsvolle Bild des Spiegels aufnimmt, das sich dem Betrachter von Daguerreotypien aufdrängen mußte.45 Janin differenziert dabei zunächst zwischen Spiegel und Bild: in einem Spiegel zeigten sich die Gegenstände »mit einer Wahrheit ohne Vergleich«, aber der Spiegel könne diese Abbilder nicht festhalten. »Stellen Sie sich jetzt vor«, so Janin weiter, »daß der Spiegel die Eindrücke der Objekte bewahrt hat, die sich in ihm spiegeln, und Sie haben eine beinahe komplette Vorstellung des Daguerreotyp.«46 Janin findet damit nicht nur ein eingängiges Bild, sondern konkretisiert zugleich die spezifische Leistung des neuen Mediums: Die bisher als notwendig flüchtig angenommenen Phänomene optischer Bildprojektion, die die Präsenz eines Objekts, einer optischen Apparatur (Spiegel, Camera Obscura) und eines Beobachters voraussetzten, werden nun dauerhaft als Bild feststellbar. Die Gegenstände selbst prägen dieser Auffassung nach dem Spiegel ihr Abbild ein: »Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ›Werdet Bild!‹ und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben, der sie eines schönen Tages zur Gänze mit sich fortgetragen hat.«47 Durch den besonderen Prozeß ihrer Entstehung – Bildwerdung des Spiegels – unterliefen die Daguerreotypien scheinbar die Differenzen, an denen sich die abendländische Kunsttradition mimetischer Abbildung konstituiert hatte: zwischen Gegenstand und Bild, Präsenz und Repräsentation.48 Janin expliziert damit angesichts der ersten Daguerreotypien ein für 43 | Janin erwähnt ein kürzlich vollendetes Portrait von Ingres und schließt daran folgende Bemerkung an: »Was kümmert es mich, daß dieses Porträt noch nicht als Stich vorliegt. Ich habe etwas Besseres als einen Stich und etwas Besseres sogar als eine Zeichnung von Ingres.« Kemp 1999, S. 49f. (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 208) 44 | Kemp 1999, S. 50 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 209: »Voici maintenant qu’avec cet enduit étendu sur une planche de cuivre, M. Daguerre remplace le dessin et la gravure.«) 45 | Zur Metapher des Spiegels in der Theoriegeschichte der Photographie: Stiegler 2006a, S. 200-203. Vgl. auch Seemann 1992, S. 15: »Der Spiegel als das paradigmatische, archaische Medium bildet ein Wunsch-Bild für alle geschichtlichen Ambitionen in der Entwicklung neuer Medien. Es gilt, möglichst alle Abbildungs-Qualitäten des Spiegels zu bewahren, zugleich aber auch die fehlenden in das jeweilige Medium zu integrieren.« 46 | Kemp 1999, S. 49 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 207: »[...] le miroir a gardé l’empreinte de tous les objets qui s’y sont reflétés [...]«) 47 | Kemp 1999, S. 47 (frz. Text: Buddemeier 1970, S. 207: dort etwas anders akzentuiert: »Placez-vous!«) 48 | Scheinbar deshalb, weil die Apparatur selbst diese Tradition technisch verkörpert, z. B. in der Orientierung an der Zentralperspektive, der Wiedergabe von Farben in tonalen Abstufun-
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die Rezeption der Photographie im gesamten 19. Jahrhundert maßgebliches Verständnis und positioniert das neue Medium (wie den Spiegel) zwischen den Gegenständen und ihren Bildern: Die Daguerreotypie ist nicht der Gegenstand, aber auch nicht dessen Bild, sondern: der Gegenstand als Bild.49 Aufgrund solcher Visionen und Spekulationen über das noch geheimgehaltene Verfahren, die sich an dem imaginären Potential einzelner Bilder Daguerres entzündet hatten, wartete man gespannt auf verläßliche Informationen über das Verfahren sowie den davon zu erwartenden Nutzen.50 Dabei wurde François Arago – im gewissen Sinne auch ein Entdecker der Daguerreotypie – zu der Stimme, von der ein entscheidendes Wort erwartet wurde, zumal Daguerre den Physiker als einzigen Außenstehenden den Prozeß der Entstehung eines Bildes hatte beobachten lassen.51 Trotz der Verpflichtung, nichts von dem ihm damit anvertrauten Geheimnis zu verraten, geht das Gutachten, das Arago am 3. Juli 1839 der Deputiertenkammer vortrug, über die vagen Andeutungen Daguerres hinaus; zugleich hält es Abstand gegenüber feuilletonistischen Spekulationen und ist stattdessen bemüht, einige falsche Vorstellungen zu korrigieren. Die Aufnahmen Daguerres, in denen sich Reproduktionen in den Blick des Betrachters drängten sowie die Voraussagen Janins zur Popularisierung von Kunst, die photographische Bilder in die Nähe der Druckgraphik rückten, hatten Illusionen von der Reproduzierbarkeit der Daguerreotypie geweckt.52 Arago, dem zudem die von anderen Erfindern in der Akademie eingereichten Proben von reproduzierbaren Papierphotographien als Vergleichsobjekte vorlagen, trat diesen Gerüchten entgegen. In seinem Vortrag faßte er die konkurrierenden Methoden auf Metall und Papier zusammen und trennte damit die Entdeckung des Prinzips photographischer Bildproduktion von den jeweiligen Erfindungen technischer Verfahren.53 Arago gab zu, daß Bilder auf Papier durch ihre Reproduzierbarkeit und Handhabbarkeit einen ökonomischen und praktischen Vorteil bedeuteten54 – stellte aber klar, daß der wissenschaftliche gen usw. Mitchell 1996, S. 48: »Und die Erfindung eines Apparates (der Kamera) zum Zwecke der Produktion derartiger [perspektivischer] Bilder hat ironischerweise die Überzeugung nur noch verstärkt, daß es sich hierbei um die natürliche Repräsentationsform handele. Offenbar ist etwas natürlich, wenn wir eine Maschine bauen können, die es für uns erledigt.« 49 | Vgl. dazu Stiegler 2006a, besonders S. 73 und 205. 50 | Für den deutschen Sprachraum wurde dabei Alexander von Humboldt, dessen Mitwirkung in der Pariser Gutachterkommission durch die Presse bekannt geworden war, durch seine Kontakte zu deutschen Fürstenhöfen und Gelehrten zu dem bevorzugten Ansprechpartner. 51 | Humboldt berichtet davon in seinen Briefen: Am 7. Februar 1839 schrieb er: »Daguerre will das Geheimniss nicht einer ganzen Commission, sondern dem berühmten Secretär der Academie allein anvertrauen.« (Photo Antiquaria Special 1987, S. 24); am 25. Februar 1839: »Arago hat jetzt das Geheimnis von Daguerre erhalten und hat in 10 Minuten ein vollendetes Bild unter seinen Augen entstehen sehen.« (Wiegand 1981, S. 20) 52 | Arago: Bericht vom 3. Juli 1839. In: Haberkorn 1981, S. 198. 53 | Ebd., S. 195. 54 | Ebd., S. 197.
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Wert und der öffentliche Nutzen nach seiner Ansicht nur von den Bildern auf Metall ausgehen könne. Dort zeige sich das Licht in einer Schicht auf der Oberfläche unmittelbar als Licht – und nicht als ein undeutliches Negativ im Papier, das durch nachträgliche Operationen in ein positives Bild umgewandelt werden müsse.55 Kritisiert wurden damit die Praktiken und Materialien, die sich bei der Photographie auf Papier zwischen den Gegenstand und sein Bild schieben (Negativ) und die Beobachtung des Gegenstands im Bild stören können (Papierstruktur). Demgegenüber bot die Daguerreotypie nach dieser Ansicht als unmittelbare Einschreibung keinerlei Vermittlungsspielraum und damit einen direkteren Zugang zu den Gegenständen, was durch die nahezu vollendete Abbildungsqualität in der Art eines Spiegelbilds bestätigt schien. Der empirische Wissenschaftler Arago sah in der Daguerreotypie nicht nur ein Bild, das nicht lügen kann, sondern zugleich ein bildgewordenes Fragment der Wirklichkeit, das als solches studiert werden könne wie das Objekt selbst. Wenn das Verfahren selbst die Abbildungstreue verbürgt, kann – so die Einschätzung – jede technisch erfolgreiche Abbildung dem Wissenschaftler das Abgebildete als Studienobjekt ersetzen. Alles, was die Daguerreotypie erfaßt und als Bild hervorbringt, wird der Beobachtung zugänglich und kann (gleichsam durch die Daguerreotypie hindurch) untersucht werden. Mittels der Daguerreotypie können sich diese Objekte der Beobachtung unabhängig von ihrer räumlichen Distanz zum Forscher in das Projekt der wissenschaftlichen Ordnung empirischer Erscheinungen einreihen.
Anordnung von Fossilien mit Gorgonenhaupt Neben den verschiedenen künstlerischen Arrangements und den Pariser Stadtansichten, die von Daguerre erhalten sind, fällt eine Aufnahme, obwohl sie bisweilen auch den Stilleben zugerechnet wird, aus diesem Kanon heraus (Abb. 2). Die Daguerreotypie zeigt eine Anordnung naturgeschichtlicher Objekte, aufgereiht auf drei horizontal versetzten Regalbrettern. Man erkennt versteinerte Ammoniten, Schneckengehäuse und Muschelschalen, die sich dem Betrachter als Studienobjekte darbieten. Das Motiv ruft die Vorstellung eines Naturalienkabinetts auf, von dem ein begrenzter Ausschnitt photographisch festgehalten wurde. Technisch hervorragend ausgeführt, sind selbst kleinste Details der Sammlungsstücke deutlich erkenn- und unterscheidbar abgebildet, so daß sich die Daguerreotypie ihrerseits als Studienobjekt des Naturforschers empfiehlt. Die originale Metallplatte der als »Coquillages« bezeichneten Daguerreotypie ist inzwischen selbst Teil einer Sammlung und befindet sich heute im 55 | Ebd.: »Wäre er [Daguerre, U.T.] auf diesem ersten Wege fortgeschritten, so würden seine Bilder zwar vielleicht in Sammlungen als Erzeugnisse von Versuchen unter den Kuriositäten der Physik gezeigt werden, allein gewiß würde sich die Kammer nie damit zu beschäftigen gehabt haben.«
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Abb. 2: Louis Daguerre, Fossilien, 1839 Musée National des Techniques C. N. A. M., Paris Pariser Musée National des Arts et Metiers Techniques. Photohistoriker haben die Aufnahme auf die Zeit kurz nach der öffentlichen Bekanntgabe des Verfahrens im Herbst 1839 datiert, als Daguerre praktische Einführungen in sein Verfahrens abhielt – unter anderem im Musée des Arts et Metiers.56 In der photohistorischen Literatur wird die Abbildung häufig reproduziert – zumeist als Beleg für die besondere Brillanz und Detailtreue der Daguerreotypie und das technische Versprechen exakter Registrierung.57 Mit dem Bild stellt sich die Daguerreotypie als Abbildungsmedium und Instrument der Beobachtung in den Dienst von Wissenschaft und Museum. Die Objekte werden in einer Auswahl und Aufstellung wiedergegeben, die durch die Ordnungskriterien einer naturhistorischen Sammlung vorgegeben scheint. Beim »Stilleben« von 1837 hatte Daguerre durch ein bewußt künstlerisch-ästhetisches Arrangement von Kunstreproduktionen und Gebrauchsobjekten Alternativen zu den Auswahl- und Ordnungskriterien zeitgenössischer Museen angedeutet und die Daguerreotypie damit als potentielle Herausforderin der etablierten Künste und ihrer Institutionen positioniert. Im Gegensatz dazu reproduziert das Bild »Coquillages« eine scheinbar ›vor-bildliche‹ Ordnung von Objekten. Die Wahrnehmung der Daguerreotypie als neutralem Hilfsmittel der wissenschaftlichen Forschung wird durch die Anlehnung an solche musealen Praktiken verstärkt. Sie kann bildliche Inventare wissenschaftlicher Sammlungen festhalten und erlaubt die Vervielfältigung ihrer Anordnungen im Bild, wodurch sich das Medium auch als Multiplikator der im Museum hergestellten Sinnzusammenhänge empfiehlt. Die Daguerreoty56 | Wolf 1997, S. 37. 57 | Batchen 2004, S. 768.
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pie stellt sich damit – orientiert am Vorbild des Museums – in den Dienst der Erfassung, Ordnung, Bewahrung, Erforschung und Zurschaustellung einer vorgefundenen Wirklichkeit. Über den Aspekt der exakten Registrierung hinaus ist die Auswahl von Fossilien als Motiv dieser Daguerreotypie als eine visuelle Metapher für das mediale Selbstverständnis der frühen Photographie gedeutet worden.58 Fossile Versteinerungen der abgebildeten Art konservieren materielle Körper als Zeugnisse einer lange vergangenen Gegenwart. Fossilien sind materielle Überreste (Körper), erscheinen aber gleichzeitig als Abbild und Spur vergangenen Lebens (Zeichen). Damit können sie die Differenzen zwischen Präsenz und Repräsentation, Abdruck und Abbild in Frage stellen. Ihre Wahrnehmung changiert zwischen dem unvermittelten Eindruck ›der Sache selbst‹ und einer Zeichenwahrnehmung, in der die semiotischen Kategorien der Ikonizität (die auf Ähnlichkeit beruht) und Indexikalität (die auf physikalischer Verursachung beruht) zusammenfallen.59 Eine ähnliche Unbestimmtheit prägte auch den frühen Diskurs der Daguerreotypie.60 Das Fossilienbild reflektiert diese Unbestimmtheit und stellt sie als spezifische Stärke photographischer Bilder heraus. Indem sich der photographische Blick auf eine Sammlung von Versteinerungen richtet, werden die Entstehungsbedingungen photographischer Bilder reflektiert. Sie finden ihr Vorbild nicht nur in den künstlerischen Praktiken und der Reproduktionstechnik, sondern auch in den naturhistorischen Prozessen der Fossilienbildung. Auch wenn sich die Daguerreotypie im Dienst der enzyklopädischen Erfassung der Welt an etablierten Kulturtechniken orientiert und sich diesen (etwa der musealen Sammlung) als Instrument scheinbar unterordnet, beansprucht sie mehr zu sein, als eine besonders exakte graphische Abbildung. Sie tritt vielmehr als eine neue Art von Bild und eine neue Art von Objekt auf, mit dem sich museale Sammlungen zukünftig werden auseinandersetzen müssen. Die Bedeutung der Fossilien als naturhistorische Objekte wurde seit der Entwicklung der Paläontologie als eigenständiger Disziplin um 1800 darin gesehen, daß sie Eindrücke von lange verstorbenen Lebewesen und ausgestorbenen Arten bewahrten, die als Abbild ihres Körpers und als Spur und Be58 | Wolf 1997, S. 36. 59 | In der Art eines visuellen Abdrucks der abgebildeten Objekte hängt das besondere Authentizitätsversprechen des photographischen Bildes an einer Verbindung von Ikonizität und Indexikalität. Diese muß aber – sowohl bei Fossilien wie auch bei der Photographie – durch Authentisierungsdiskurse hergestellt werden. Wortmann 2003 hat in seiner Studie zur authentischen Darstellung festgestellt, daß dabei in medienhistorischer Perspektive das kausale Prinzip der Indexikalität wirkungsmächtiger gewesen ist als die tatsächliche Ähnlichkeit (Ikonizität). Ausgestellt wird in dem Bild »Coquillages« also eine scheinbar unbedingte, kausale Bindung an eine vorgefundene Wirklichkeit. Die Daguerreotypie einer Fossiliensammlung fungiert als Teil einer Authentisierungsstrategie photographischer Bilder. 60 | Stiegler 2006b, S. 15 bezeichnet diese Unbestimmtheit als »eine diskursive Unruhe, die ihren Gegenstand überhaupt erst noch verorten muß«. Siehe dazu auch Geimer 2009b, S. 13-18.
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leg ihrer historischen Existenz angesehen werden konnten.61 Die Entstehung fossiler Objekte ist aber von historisch-geologischen Bedingungen abhängig, die der Mensch in seiner Gegenwart nicht beeinflussen kann. Als Sammlungsobjekte müssen Fossilien gefunden werden; eine gezielte Herstellung ist nicht möglich. Demgegenüber läßt sich das photographische Prinzip durch Daguerres Apparatur in ganz anderer Weise instrumentalisieren. Eine materielle Berührung ist dafür nicht erforderlich – lediglich die gleichzeitige Präsenz von Objekt und Bildträger, vermittelt durch den Blick der Apparatur. Ähnlich den Fossilien werden photographische Bilder diesem Anspruch nach zukünftig von der historischen Präsenz der von ihnen erfaßten Objekte zeugen.62 Inzwischen ist diese Daguerreotypie selbst ein historisches Objekt geworden. Photohistoriker richten ihr Interesse auf die Zuschreibung an Daguerre, auf den im Bildergebnis dokumentierten Stand der photographischen Technik sowie auf die Metaphorizität des abgebildeten Arrangements von Fossilien. Für die angeblich in ihren Details so differenziert wahrnehmbaren naturhistorischen Objekte haben sie sich hingegen wenig interessiert. Eine Ausnahme ist Geoffrey Batchen: Für die Rezension einer Ausstellung, in der die Originalplatte »Coquillages« gezeigt wurde, ließ er einzelne Gattungen und Arten der abgebildeten Objekte von Naturwissenschaftlern des American Museum of Natural History in New York identifizieren. Die Aufstellung charakteristischer Leitfossilien läßt demnach eine umgekehrte Schichtung paläoontologischer Zeitalter als Ordnungsprinzip der drei horizontalen Reihen erkennen, mit einem Trilobiten des Paläozoikums auf dem oberen, einigen Ammoniten des Mesozoikums auf dem mittleren und den Muscheln und Schnecken des Känozoikums auf dem unteren Regal.63 Diese von Batchen als mehr oder weniger akkurat bezeichneten Ordnungszusammenhänge einer zeitgenössischen paläontologischen Sammlung durchbricht in bemerkenswerter aber doch subtiler Weise das in der Mitte des oberen Regals gezeigte Objekt. Es handelt sich dabei vermutlich um ein 61 | Sammlungen von Körperfossilien, insbesondere aus dem in Fortschreibung der Linnéschen Systematik erstmals beschriebenen Tierstamm der Mollusken (Weichtiere), zu denen Ammoniten als Kopffüßer ebenso gehören wie Schnecken und Muscheln, legten um 1800 die Grundlage für die Entwicklung der Paläontologie als eigenständiger Disziplin. Die zuvor bereits als Raritäten gesammelten Fossilien der Naturalienkabinette wurden systematisch ergänzt und vergleichend betrachtet. Mit bedeutenden Paläontologen und Molluskenforschern und deren herausragenden Privatsammlungen sowie den Arbeiten Cuviers am Muséum national d‘histoire naturelle war Paris zur Zeit Daguerres in gewisser Weise die Wiege der Paläontologie (vgl. zur Geschichte der Paläoontologie: Giebel 1846, S. 6-8). 62 | Stiegler 2006a, S. 22: »Sie verwandelt die Gegenstände in Bilder und bewahrt sie als Bilder auf, die selbst nach dem Verschwinden der Dinge von ihrer Existenz zeugen.« 63 | Batchen 2004, S. 768: »The specimens, gathered from all over the world, include a large basket starfish (possibly a dried example), a cyritheum, some ammonites, two gastropods, one bivalve, and a mineral specimen. They are arranged, more or less accurately, on their three shelves in reverse stratigraphic order, with the Cenozoic on the bottom, then the Mesozoic, and finally the Paleozoic on the top.«.
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Abb. 3: Ophiodea/Schlangensterne (in der Mitte: Gorgonocephalida) Aus: Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, 1904 (Tafel 70) getrocknetes Exemplar eines Schlangensterns aus der Familie der Gorgonenhäupter (Gorgonocephalidae) (Abb. 3).64 Batchen übersieht jedoch, daß damit auf der Ebene der ältesten Fossilien ein bezeichnender Anachronismus ins Bild gesetzt wird – denn das Gornogenhaupt ist gar kein durch die Zeit versteinertes Fossil der Erdgeschichte, sondern ein durch Techniken der Präparation zu Sammlungszwecken konserviertes Lebewesen der Gegenwart. Und dieser Anachronismus, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und zukünftige Vergangenheit bündeln, rekurriert vermutlich nicht zufällig mit der Bezeichnung Gorgonenhaupt auf den griechischen Mythos des versteinernden Blickes.65 Der Gorgonenblick der Photographie macht sie zu einem besonders geeigneten Instrument der systematischen Erfassung und Dokumentation der gegenständlichen Welt. Das Medium ermöglicht einen aktiven Prozeß der Versammlung von Gegenständen als Bildern. Das Medium Photographie und die Sammlungen präsentieren sich somit um 1840 als logische Kollaborateu64 | Die taxonomische Stufe: Familie Gorgonenhäupter (Gorgonocephalidae) ist erst 1867 definiert worden. Allerdings geht der Begriff auf die bereits 1758 von Linne beschriebene Art Gorgonocephalus caputmedusae zurück. Im Französischen wird die Familie als Gorgonocéphale bezeichnet. 65 | Batchen entgeht diese Verknüpfung vielleicht auch deshalb, weil ihn der englische Oberbegriff basket star nicht auf diese Fährte führt. Basket stars sind eine Unterordnung aus der Klasse der Schlangensterne, zu der (neben anderen Familien) auch die Gorgonenhäupter zählen.
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re enzyklopädischer Projekte, die auf eine möglichst vollständige Erfassung zielen.66
Spiegelungen und Umkehrungen Die Daguerreotypie der Fossiliensammlung erweckt den Eindruck, als wäre eine Camera Obscura in einem musealen Schauraum aufgestellt worden, um einen Ausschnitt der dort vorgefundenen Ordnung photographisch festzuhalten – vielleicht als schlichte praktische Übung eines noch jungen technischen Verfahrens. Die Herstellung der Daguerreotypie erforderte aber umfangreiche vorbereitende Maßnahmen, die notwendig waren, um den Eindruck einer unmittelbaren Wiedergabe des Vorgefundenen zu erwecken.67 Diese Maßnahmen mußten jedoch im Bildresultat verborgen bleiben, um den gewünschten Effekt nicht zu zerstreuen. Aufnahmen in schlecht beleuchteten Innenräumen waren nach dem damaligen Stand der photographischen Technik schwer zu realisieren. Es wird vermutet, daß die Regalgestelle, auf denen die ersten Photographen Objekte wie in Sammlungsräumen wiedergaben, jeweils eigens für die Aufnahme hergestellte Arrangements unter freiem Himmel waren.68 Der Anschein der unmittelbaren Wiedergabe einer ›vor-bildlich‹ wissenschaftlich geordneten Sammlung mußte also – vor der Aufnahme des Bildes – durch ein temporäres Arrangement ausgewählter Objekte unter günstigen photographischen Bedingungen erst hergestellt werden. Der Eingriff in eine scheinbar bereits vorgegebene Ordnung, die notwendige Ausrichtung der Objekte auf eine bestimmte Präsentationsweise hin – solche Maßnahmen müssen nicht unbedingt als verfälschende Manipulationen einer davon unabhängigen, objektiven Wirklichkeit betrachtet werden, sondern verweisen auch auf grundsätzliche Verfahrensweisen des scheinbar so objektiven Museums. Auch museale Ordnungen richten durch Auswahl und Arrangement der Objekte den Blick darauf in einer spezifischen Weise aus und verknüpfen ihn mit einer bestimmten Wissensordnung. In der Daguerreotypie »Coquillages« wird die ebenfalls nur scheinbar zeitlos gültige Ordnung einer naturhistorischen Sammlung im Blick der Photographie durch das Gorgonenhaupt durchbrochen. Am linken unteren Bildrand ist – im Inneren einer geöffneten Riesenmuschel – eine kleine Tafel mit den Buchstaben »AE« zu sehen. Dieses unscheinbare (und auf Reproduktionen mitunter kaum erkennbare) Detail ist womöglich ein weiterer Beleg für die Zurichtung und die Eingriffe, die den Eindruck einer unmittelbaren Beobachtung der Objekte erst erzeugten. Da die Daguerreotypien das, was sich im Moment der Belichtung vor der Kamera 66 | Vgl. Sontag 1980, S. 9f. »Fotografien sammeln heißt die Welt sammeln. [...] Fotografien, die die Welt zusammenbündeln, scheinen dazu einzuladen, selbst gebündelt zu werden.« 67 | Die Annahme, Daguerre hätte die Aufnahme in den musealen Schauräumen des Musée des arts et metiers gefertigt (Wolf 1997, S. 37) erscheint auch angesichts der dargestellten Exponate unwahrscheinlich. 68 | Frizot 2004, S. 12.
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zeigte, spiegelbildlich wiedergeben, überrascht die kleine Schrifttafel gerade dadurch, daß sie lesbar ist. Eine Erklärung dafür wäre die Verwendung einer speziellen Linse oder eines zusätzlichen Spiegels, wodurch bereits 1839 seitenrichtige Aufnahmen möglich waren; da das Verfahren jedoch die Lichtstärke deutlich reduzierte, ist eine Verwendung bei dieser besonders brillanten Daguerreotypie unwahrscheinlich. Batchen geht deshalb davon aus, daß Daguerre die Tafel spiegelschriftlich anfertigen ließ, damit die Schrift in der seitenverkehrten Wiedergabe der Daguerreotypie lesbar wird, um dem Betrachter dadurch die Möglichkeit der Erfassung von Schrift vorzuspiegeln.69 Der Eindruck einer scheinbar neutralen Registrierung des Vorgegebenen, der im Bildresultat vermittelt werden soll, wirkt auf das Vorgegebene ein und gestaltet die Vorgabe nach den Bedingungen des Mediums neu. Batchen stützt sein Argument auch auf einige Naturwissenschaftler des American Museum of Natural History; sie haben ihm bestätigt, daß sich die auf dem unteren Regal zu erkennenden Schneckengehäuse in die falsche Richtung winden. Sie sind demnach – im Gegensatz zur Tafel »AE« – seitenverkehrt wiedergegeben. Vielleicht unterschätzt Batchen in diesem Fall aber auch die Eigenlogik musealer Sammlungen. Diese stellen ihrerseits kein neutrales Abbild einer vorgefundenen Wirklichkeit dar, sondern sind nach bestimmten Auswahlkriterien zusammengebracht, die dem historischen Wandel unterliegen. Zwar ist der Hinweis auf die Windungsrichtung der Schnecken als Beleg für die Spiegelbildlichkeit der Aufnahme einleuchtend. Aber nur, sofern es sich bei den beiden Exemplaren nicht ausgerechnet um Gehäuse jener seltenen sogenannten Schneckenkönige handelt, deren Windungen nicht arttypisch, sondern genau entgegengesetzt verlaufen. Solche Schneckenkönige (»conchylia sinistralia«) waren seit der Renaissance begehrte Sammelobjekte und sind als Abweichung von der Norm in viele Kabinette von Raritäten- und Naturaliensammlern eingegangen.70 Im Zeitalter der Kunst- und Wunderkammer, deren Bestände in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die systematisch angelegten Sammlungen der naturhistorischen Museen überführt wurden, war die Abweichung von der Norm die Regel des Sammlers.71 Unmittelbar nach dem Auftritt des Mediums eröffnen sich somit in den Bildern Daguerres mögliche Perspektiven eines zukünftigen Beziehungsgefüges von Photographie und Museum. Das neue Medium kann sich einreihen in die musealen Bestrebungen der Erfassung und Ordnung der sichtbaren Welt, 69 | Batchen 2004, S. 768. Nach Batchens Lesart steht die Abkürzung für das lateinische Wort aetate, die sich (allerdings als Ligatur) häufig auf Grabsteinen findet und dann »im Alter von« bedeutet. Ein weiterer Hinweis für das subtile Spiel des Bildes mit Metaphern der Zeitlichkeit, zukünftigen Vergangenheit und Vergänglichkeit. 70 | Kamphuis 2008. 71 | Fossilien spielten als Naturalia in den Kunstkammern eine wichtige Rolle. Sie trugen in besonderer Weise dazu bei, die in der Renaissance noch unveränderlich gedachte Naturgeschichte (im Sinne einer flächigen Beschreibung der gegenwärtigen Natur) zu historisieren und arbeiteten damit der enzyklopädischen Erfassung von Raum und Zeit entgegen, die letztlich zur Auflösung der Kunstkammer führen sollte (Bredekamp 2000).
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birgt aber ein subtiles Potential, die Praktiken des Museums zu irritieren und zu verändern. Denn durch die Evidenz photographischer Bilder deutet sich schon um 1840 an, daß sich die Museen den Fragen nach dem Verhältnis von Gegenstand und Bild, Original und Reproduktion zukünftig neu werden stellen müssen, um ihre Auswahl-, Ordnungs- und Bewertungskriterien an die veränderten Bedingungen medialer Repräsentation anzupassen.
2.2 S AMMELKASTEN – D IE UNVERSTANDENE M EDIALITÄT DES G ERMANISCHEN N ATIONALMUSEUMS Das Projekt des Germanischen Nationalmuseums ist in den ersten Jahren immer wieder mißverstanden und aus Sicht des Museumsgründers und seiner Mitarbeiter ungerecht beurteilt worden. Die frühen Publikationen des Museums, der monatlich erscheinende Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit und die Jahresberichte des germanischen Nationalmuseums sind voller Klagen darüber, daß der Öffentlichkeit die besonderen Ziele und Methoden, die in Nürnberg verfolgt würden, noch nicht hinreichend bewußt geworden seien. Ausdrücklich wurde 1856 festgehalten: »Die Kunde von der Existenz eines germanischen Museums, als des gemeinsamen nationalen Sammelplatzes für historische Quellen deutscher Vergangenheit, ist wohl schon weit verbreitet; aber zu bedauern bleibt noch, daß eine umfassende und richtige Vorstellung von der Sache noch lange nicht gleichen Schritt damit hält, was wohl daher kommen mag, daß der Name der Anstalt bei weitem nicht alles das umfaßt, was diese selbst ist und sein will [...]. Daher kommt es auch, daß der größere Theil glaubt, das germanische Museum sei, in der Art anderer Museen, eine bloße Sammlung zur Belehrung des Publikums, während gerade hier die Sammlungen der Originale nur als Mittel zum Verständnis dessen zu dienen haben, was als Hauptzweck gilt, nämlich der Zusammenstellung aller übrigen, auf Deutschlands historische Zustände bezüglichen Sammlungen in ein wohlgeordnetes Repertorium in schriftlicher und bildlicher Darstellung des Stoffes.«72
Die fortgesetzten Bemühungen, die Unvergleichlichkeit der musealen Aufgabe und die Zweckgebundenheit der Objektsammlung herauszustellen, schlugen nicht an. Das öffentliche Urteil blieb offenbar vorrangig an der Sammlung der in Nürnberg aufbewahrten Gegenstände orientiert – und diese wirkten im Vergleich zu den Schaustücken der großen Kunstmuseen eher unscheinbar. 72 | Dritter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855/1856), S. 1. [Die Hervorhebungen in diesem wie in allen folgenden direkten Zitaten sind aus der Vorlage übernommen, UT]. Vgl. auch Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1856, Sp. 363: Der ungenannte Verfasser wendet sich gegen die widersprüchlichen Vorwürfe »als liege die unerreichbare Idee dem Museum zu Grunde, alle Schätze des deutschen Alterthums zu ›centralisiren‹, während man anderseits dem Museum zum Vorwurf macht, daß seine (erst im Entstehen begriffenen) Sammlungen noch ›unvollständig‹ sind«.
K APITEL 2.2 | S AMMELKASTEN
So musste noch sieben Jahre nach der Gründung des Germanischen Nationalmuseums konstatiert werden, dass »das richtige Verständnis dieses Planes des Museums, der mehr auf Arbeit, als auf Sammlung von Gegenständen gerichtet ist, nicht allgemein durchgedrungen« sei.73 Es war der Begriff des Museums selbst, den man in Nürnberg für die Fehleinschätzungen verantwortlich machte: »Der Name ›Museum‹ bezeichnet allerdings die Sache nicht vollkommen; ein entsprechenderer stand uns nicht zu Gebot, wollte man nicht den für`s Erste wohl zu hochklingenden einer deutsch-historischen National-Academie nehmen. Man würde dabei allerdings richtiger die Arbeiten anstatt die Sammlungen in den Vordergrund gestellt haben, welch letztere dem Institute mehr als Hülfsmittel denn als Selbstzweck beigegeben sind; aber man würde doch – und dieß mit Recht – Anstoß an solcher Bezeichnung nehmen, bevor die materiellen und geistigen Garantien hiefür geboten sind.« 74
Der Befund überrascht: Ausgerechnet das Germanische Nationalmuseum, heute eines der größten Museen Europas und als erstes dezidiert kulturhistorisch ausgerichtetes Museum ein Meilenstein der Museumsgeschichte, verstand sich in seiner Frühzeit gleichsam als Museum im uneigentlichen Sinne – als Projekt, das diesen Namen nur provisorisch trug für das, was es zukünftig einmal sein sollte. Wie gestaltete sich dieses Projekt, das das eingeführte Verständnis von einem Museum als Versammlungsort bedeutender Kunst- und Kulturzeugnisse ganz offensichtlich irritierte?
Gründungsgeschichte des Germanischen Nationalmuseums Das 1852 gegründete Germanische Nationalmuseum war ein außergewöhnliches Museumsprojekt und es kämpfte darum, auch öffentlich als solches wahrgenommen zu werden. Die Gründungsgeschichte dieses uneigentlichen Museums ist unauflösbar mit der Person des Freiherrn Hans von und zu Aufseß verknüpft und deshalb häufig biographisch dargestellt worden.75 Die Ideen, 73 | Fünfter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums, 1859 (für 1858), S. 1. 74 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 289. Ähnlich die Argumentation im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 131: »Nur die Neuheit der Idee, die allerdings durch die Bezeichnung ›Museum‹ nicht ganz ausgesprochen ist, (aber durch ein einzelnes Wort nicht wohl anders angedeutet werden kann), nur der Irrthum, daß es sich lediglich um eine Sammlung handle, gleichwie bei andern Museen, daß es Sache eines Vereines sei, der die ersten Kosten tragen müsse, konnte diese sonst gewiß ungerechten Voraussatzungen rechtfertigen.« 75 | Im ersten Jubiläumsrückblick von 1862 erarbeitet der Museumssekretär Enno Hektor aus den Archivalien des Museums die (fortan häufig wiederholte) Erzählung des aufopferungsvollen Kampfes, mit dem Aufseß seine weitreichende Vision gegen alle Widerstände verteidigt und nach mehrmaligem Scheitern schließlich mit der Gründung des Germanischen
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die sich später auf das Germanische Nationalmuseum übertrugen, erwuchsen allerdings aus einer für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert symptomatischen »Intensivierung des kulturell-historischen Nationalbewußtseins«76, in dem sich im Anschluß an die Befreiungskriege unitaristisch-nationale Ideale mit einer romantischen Begeisterung für das Mittelalter und einer ausgeprägten Sammelleidenschaften für die überkommenen Zeugnisse der Vergangenheit verbanden. Als Privatsammler hatte Aufseß (ausgehend von den ererbten Urkunden, Büchern und Kunstgegenständen aus Familienbesitz) sein Interesse auf alle historischen Dokumente gerichtet, derer er (etwa bei Altpapierhändlern) habhaft werden konnte, um sie als Zeugnisse der einstigen Größe des Reiches vor Verfall und Vergessen zu bewahren. Über diesen Bewahrungsimpuls hinaus hatte sich Aufseß aber bereits Anfang der 1830er Jahre besonders darum bemüht, ein kommunikatives Netzwerk zwischen den Sammlern historischer Objekte und den vielerorts entstehenden Geschichts- und Altertumsvereinen aufzubauen, um eine Übersicht über die verstreuten Fragmente der Vergangenheit zu gewinnen und diese mit einem »Repertorium der gesamten historischen Literatur«77 in Beziehung zu setzen. Genau diese Verknüpfung von historischen Objekten und Informationen war sein zentrales Anliegen. Mit der Gründung einer Monatsschrift (Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters), die dafür als Forum dienen sollte, zielte Aufseß bereits 1832 auf eine Systematisierung der romantisch-antiquarischen Sammlungsbestrebungen und der historischen Literatur im Sinne einer Gesamtschau deutscher Geschichte. Gleichzeitig war er bemüht, seine eigenen Sammlungen in Nürnberg durch die Eingliederung in eine von ihm initiierte Altertumsgesellschaft öffentlich zugänglich zu machen. In den 1833 formulierten Statuten sind wesentliche Aspekte der späteren Konzeption des Germanischen Nationalmuseums bereits enthalten – auch die Zweigleisigkeit von nationalem Repertorium und einer dazu in illustrativer Funktion stehenden lokalen Sammlung.78 Damit war der Grundgedanke des späteren Projekts eines Ger-
Nationalmuseums den Grundstein für die Realisierung dieses Projekts gelegt habe. Hektor 1863, S. 4–14. Vgl. auch Essenwein 1884a; Hampe 1902 (Abschnitt I), Pörtner 1982¸ Veit 1972. Allgemein zur Gründung des Germanischen Nationalmuseums: Ernst 2003 (zur Gründungskonzeption v. a. S. 384-413); Hochreiter 1994, S. 58–85; Vierhaus 1977 (Verhältnis des Germanischen Nationalmuseums zu den Geschichts- und Altertumsvereinen); Deneke 1977; Schleier 2003 (Einbettung in die Kulturgeschichtsschreibung); Korff 1984 (Positionierung in der Museumsgeschichte). 76 | Nipperdey 1998a, S. 305. Insgesamt dazu: ebd., S. 303-308. 77 | Aufseß in der ersten Ausgabe des Anzeigers für Kunde des deutschen Mittelalters (1832), zitiert nach Veit 1978a, S. 14. Ernst 2003, S. 501f. sieht die kommunikative Vernetzung als den zentralen Aspekt der Gründung dieser ersten Version des Anzeigers. Zu kommunikativen Kontakten von Aufseß zu anderen Sammlern: Crane 2000, S. 69–71. 78 | Doosry/Schoch 1998, S. 305, Nr. 239: Statuten der Gesellschaft für Erhaltung der Denkmäler älterer deutscher Geschichte, Literatur und Kunst. Spies 1977, S. 80 spricht deshalb von einer »mit zwanzigjähriger Verspätung erfolgte[n] Gründung« des Germanischen Nationalmuseums.
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manischen Nationalmuseums formuliert – auf den sich die oben dargestellten Mißverständnisse gründeten. Es ging Aufseß gerade nicht um eine zentralisierte Sammlung originaler Objekte, sondern primär um eine zentrale Erfassung aller verstreuten schriftlichen, bildlichen und gegenständlichen Fragmente ›deutscher Vergangenheit‹. Nürnberg sollte damit zum Mittelpunkt der deutschen Geschichtsforschung, die Sammlungen der Gesellschaft zu einer umfassenden Dokumentationsstelle deutscher Geschichte werden. Diese Pläne scheiterten zunächst. Das ehrgeizige Unternehmen wurde von Vertretern der wissenschaftlichen und populären Geschichtsforschung als »babylonischer Thurmbau«79 eines »sonderlichen Sonderlings«80 heftig kritisiert. Auch der zweite Anlauf, Unterstützung für das Projekt zu gewinnen, den Aufseß 1846 anläßlich einer in Frankfurt abgehaltenen Tagung von Rechtshistorikern, Geschichts- und Sprachforschern unternahm, blieb zunächst folgenlos. In einem »Sendschreiben« hatte Aufseß, unter Verweis auf seine früheren Bemühungen, erneut für die Einrichtung einer nationalen Institution geworben, die als Kommunikationsforum und Dokumentationszentrum der Geschichtsforschung fungieren und »in einer ideellen systematischen Zusammenstellung«81 (dem sogenannten Generalrepertorium) aller anderen Sammlungs-, Archiv- und Bibliotheksbestände eine umfassende Übersicht über das Quellenmaterial bieten sollte.82 Obwohl einige der Vorschläge positiv aufgenommen wurden, blieben konkrete Schritte aus – auch aufgrund der politischen Turbulenzen des Jahres 1848.83 Im dritten Anlauf aber stimmte eine Versammlung deutscher Geschichts- und Altertumsforscher in Dresden im August 1852 dem von Aufseß abermals vorgetragenen Vorschlag zu und befürwortete (in Zusammenhang mit der Gründung eines Zentralvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine) auch die Gründung eines »germanischen Museums« nach den Plänen des Freiherrn von Aufseß.84 Das Scheitern der Paulskirchen-Vision einer politisch-staatli79 | Karl Heinrich Ritter von Lang (zitiert nach Pörtner 1982, S.47). 80 | Wilhelm Grimm (zitiert ebd., S.47). 81 | Aufseß 1846, S.21. Wenn er davon spricht, daß durch dieses »Generalrepertorium« die Aufgabe des Museums, »sich vollständige Copien zu verschaffen«, vermieden werden könne, werden die Prioritäten deutlich. Sie liegen bei den schriftlichen Verzeichnissen und nicht bei den gegenständlichen Objektsammlungen. 82 | ›Repertorien‹ wurden in der zeitgenössischen Sprache des Archiv- und Bibliothekswesens Verzeichnisse genannt, die einerseits als Findmittel fungierten, zugleich aber als komplexitätsreduzierende Übersichts- und Ordnungswerke einen Materialbestand zur Benutzung erschlossen. Der Begriff des Generalrepertoriums zielt auf eine vollständige Erschließung eines aus mehreren Einzelarchiven zusammengesetzten Gesamtbestandes nach sachlogischthematischen Gesichtspunkten. 83 | Andrian-Werburg 2002, S. 7. 84 | Diese Namensgebung ist nach dem Scheitern der Revolution auch »auf pragmatischtaktische Überlegungen und letztlich auf die schwierige Situation der deutschen Nationalbewegung in der Zeit der politischen Reaktion zurückzuführen« (Doosry/Schoch 1998, S.302). Ausführlich zum Begriff des Germanischen im Namen des Museums: Burian 1978, S. 131–138.
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chen Nationenbildung erwies sich damit letztlich als günstig für die Vision des Freiherrn von Aufseß, das »Bewußtsein einer deutschen Kulturnation« 85 durch eine ideelle Vereinigung in einer Institution wachzuhalten, die sich explizit als nicht-politisch auswies. Das Germanische Nationalmuseum positionierte sich damit im Zentrum eines Spannungsfeldes aus politischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Diskursen, deren Verflechtung der Historiker Jörn Rüsen als ›Geschichtskultur‹ beschrieben hat.86 Durch die Fundierung der Institution in den populären Geschichts- und Altertumsvereinen trat das Museum in diesem Feld in Opposition zu den dominanten Formen musealer und historischer Repräsentation: zum Kunstmuseum und zur politischen Historiographie. Die ehemals fürstlichen Kunstmuseen hatten sich im Anschluß an die napoleonischen Kriege und den damit verbundenen Kunstraub neu definiert. Gerade in den Diskussionen um die Gründung des Alten Museums in Berlin (1830) war dabei die kulturpolitische Funktion des Museums als öffentlichem Vermittler sittlich-moralischer Werte und damit als eine Art »Transportmittel staatsbürgerlicher Tugenden«87 herausgestellt worden. Dem ästhetisch herausragenden, originalen Kunstwerk wurde dabei als Ausstellungsstück des Museums der höchste Bildungswert zugesprochen.88 Parallel dazu hatte sich (ebenfalls unter dem Einfluß der preußischen Reformen) die Geschichtswissenschaft als universitäre Disziplin etabliert, die sich durch die Verwissenschaftlichung der Quellenkritik als zentraler Forschungsmethode, die Konzentration auf schriftliche Quellen und politische Geschichtsschreibung sowie durch eine Absage an geschichtsphilosophische Entwürfe und Systeme definierte.89 In den Kunstmuseen und an den Lehrstühlen der Geschichtswissenschaft wurde die historische Überlieferung somit jeweils hierarchisiert und selektiv angeeignet. Aufseß lehnte sich hingegen an ein spätaufklärerisches Konzept von Kulturgeschichtsschreibung an, das Anfang des 19. Jahrhunderts in den populären Geschichts- und Altertumsvereinen auf die nationale Vergangen85 | Doosry/Schoch 1998, S. 302. 86 | Rüsen 1988, S. 11f. 87 | Hochreiter 1994, S. 36. 88 | Hochreiter 1994, S. 47 sieht das Alte Museum als »Ursprung des modernen Museums in Deutschland«, weil damit Bestimmung und Gestaltung des Ortes Museum erstmals klar ausformuliert worden seien. 89 | Vgl. Weber 1984, S. 75: »Der Strukturwandel des Faches und im Fache Geschichtswissenschaft, der sich an der Wende zum 19. Jahrhundert anbahnt und aufs Ganze gesehen etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Abschluß steht, ist vielmehr in den Wandel eingebettet, der in dieser Zeit den gesamten Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb erfaßt und von der heutigen Warte aus gesehen erst modernisiert. Nach der einschlägigen Darstellung von Roy Steven Turner handelt es sich dabei im Wesentlich darum, daß der Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten von einem Betrieb zur Erfassung und Weitergabe mehr oder weniger längst erkannten Wissens zu einem Betrieb zur Erarbeitung neuen Wissens durch Forschung wird. Der Wissenschaftler wird von einem Wissensverwalter (= Gelehrter im ursprünglichen Sinn) allmählich zum Forscher.«
K APITEL 2.2 | S AMMELKASTEN
heit zugespitzt worden war. Auf der Basis eines breiteren Quellenverständnisses, in dem historiographische Darstellungen, Archivalien, historische Bildwerke und Gebrauchsgegenstände als Träger historischer Bedeutung in Betracht kamen, waren an verschiedenen Orten umfangreiche, aber insgesamt sehr heterogene Sammlungen entstanden. Der Versuch, diesen verstreuten Bestand zu vereinigen und systematisch zu erfassen, stellte das Projekt des Germanischen Nationalmuseums in eine doppelte Opposition: gegen die universitäre Geschichtswissenschaft mit ihrer Fixierung auf schriftliche Quellen und politische Geschichte, und gegen die Kunstmuseen mit ihrer Fixierung auf Kunstwerke als Grundlage staatsbürgerlicher Bildung. In einer eigenartigen Umkehrung der etablierten Hierarchien sah Aufseß die möglichst vollständige Erfassung und Ordnung von historischen Informationen als vorrangigste Aufgabe wissenschaftlicher Geschichtsforschung und zugleich als »Hauptzweck«90 seines Museums an. Tatsächlich wäre diese Zielsetzung durch den Begriff einer »deutsch-historischen National-Academie«91 klarer zum Ausdruck gebracht worden als durch die Bezeichnung als Nationalmuseum. Zumindest war sich Aufseß sehr bewußt, daß ein solches Institut nicht mit der Prätention auftreten konnte, alle originalen Sammlungsgegenstände an einem Ort zentral zusammenzuführen – schon allein deshalb, weil es auf der Ebene politischer Gebilde keinen deutschen Nationalstaat gab. Das überstaatliche »germanische« Nationalmuseum, das sich auf die gemeinsame historischen Identität als »Kulturnation« berief, mußte sich daher auch strukturell von den großen Museen der europäischen Nationalstaaten, namentlich dem British Museum und dem Musée du Louvre, aber auch von den bedeutenden Sammlungen in den Hauptstädten der deutschen Territorialstaaten (Berlin, München oder Dresden) unterscheiden. Nicht bloß als eine Sammlung von historischen Fragmenten, sondern als eine Sammlung aller Sammlungen, zielte es auf deren ideelle Vereinigung in einem systematischen Gesamtverzeichnis, demgegenüber die eigenen Sammlungen eher als Stellvertreter und als Illustration des dabei verwendeten Ordnungssystems konzipiert waren. Innerhalb der Sammlungen räumte er den Kopien Vorrang gegenüber den Originalen ein. Die »Satzungen des germanischen Nationalmuseums vom 1. August 1852« verdeutlichen die Prioritäten des Museumsgründers.92 Sie sind das Gründungsdokument des Germanischen Nationalmuseums. Die darin definierte Anstalt soll drei Zwecken dienen: erstens, ein Generalrepertorium des gesamten Quellenmaterials der deutschen Geschichte, Literatur und Kunst bis zum Jahr 1650 herzustellen; zweitens, ein Museum zu diesem Bezugsrahmen einzurichten, das aus Archiv, Bibliothek sowie Kunst- und Altertumssammlung bestehen soll; drittens, durch öffentliche Zugänglichkeit der Repertorien und Sammlungen sowie durch Publikationen Kenntnisse über die »vaterländische Vorzeit« zu verbreiten (§1). Die Objektsammlungen sollen »sowohl aus 90 | Aufseß 1852/1978, S. 951 (§4). 91 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 289. 92 | Aufseß 1852/1978.
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Originalien als getreuen Copien archivalischer, literarischer, artistischer und antiquarischer Schätze bestehen« (§5). Als Hauptzweck gilt aber das Generalrepertorium mit seiner universalen Übersicht über archivalische, literarische und monumentale Quellen, Kunst- und Altertumsgegenstände sowie nichtdinglichen Quellen wie Gebräuche und Sagen (§4). Während der Begriff der »Schätze« implizit auf selektive Sammlungsstrategien verweist, zielt das Generalrepertorium explizit auf Universalität. Eine der wesentlichen Aufgaben des Museums wird darin gesehen, das universale Quellenverzeichnis in ein »streng wissenschaftliches System« zu bringen (§6). Das »System der deutschen Geschichts- und Alterthumskunde entworfen zum Zwecke der Anordnung der Sammlungen des germanischen Museums« war der Vorschlag, den Aufseß dazu bis Anfang 1853 erarbeitet hatte. Das detaillierte Gliederungsschema, das für lange Zeit die Grundlage der musealen Klassifikation im Germanischen Nationalmuseum blieb, ist als eine Synthese der verschiedenen Systematisierungsversuche erkannt worden, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der historischen Statistik, den Inventaren der Denkmälerkunde, dem Fortleben einer spätaufklärerischen ›Culturgeschichte‹ sowie den Visionen einer Nationalbibliothek (Karl Benjamin Preusker) entwickelt wurden.93 Aufseß geht von einem breiten Materialbegriff aus, der schriftliche und bildliche Zeugnisse, Archivalien, Literatur, Kunstwerke und sonstige materielle Hinterlassenschaften (»Altherthümer«) als Quellen der historischen Forschung vereint: »Jede Urkunde, jede Chronik, jedes Monument und Bild ist in seiner Art Quelle.«94 Durch eine systematisch-inhaltliche Vernetzung sollen auch die an sich unbedeutenden Einzelquellen für die historische Forschung erschlossen werden. Das System geht von einer Grundunterscheidung in »Geschichte« und »Zustände« aus, wobei Aufseß entgegen dem etablierten Sprachgebrauch als »Geschichte« im engeren Sinne nur die »Thathandlungen« der Menschen verstanden wissen möchte, z. B. in Form von Orts- und Personengeschichten oder Geschichten besonderer Begebenheiten. Alles andere fällt in seinem System in den Bereich der Zustände, welche »gleichsam die Grundlage und Staffage der historischen Begebenheiten der Personen bilden« und ohne die diese »nie in ihrer Reinheit und Wahrheit geschauet und beurtheilt werden können«95. Diese Zustände sind weiter unterteilt in »Allgemeine Cultur- und soziale Zustände« und in »besondere Anstalten für allgemeines Wohl«, wobei letztere vor allem Kirche und Staat betreffen. Die allgemeinen Zustände sind wiederum nach solchen »in geistiger Beziehung« (Sprache, Kunst, Wissenschaft, Erziehung) und solchen »in
93 | Deneke 1974 arbeitet diese Einflüsse auf das System des Freiherrn von Aufseß heraus, das in der Museumshistoriographie in besonderer Weise als eigenständige Leistung hervorgehoben wurde. Vielleicht wird aber in Denekes Lesart nicht deutlich genug, daß auch eben diese Synthese als individuelle Leistung zu würdigen ist. 94 | Aufseß 1853/1978, S. 977. 95 | Ebd., S.978; zu den »Zuständen« als Konzept der Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts: Rieke-Müller/Müller 2000, S. 345–349; Schleier 1997, S.74, Koselleck 1973, S.308.
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materieller Beziehung« (Land und Leute, Leben) untergliedert, die in bis zu elf Gliederungsebenen bis ins Detail ausdifferenziert werden. Zwischen »Satzungen« und »System« deuten sich jedoch die Spannungen an, die sich in der Museumspraxis zwischen dem Generalrepertorium und den Sammlungen, zwischen der Medialität und der Materialität historischer Objekte ergeben konnten. Aufseß entwarf das »System« explizit »zum Zwecke der Anordnung der Sammlungen des germanischen Museums«. Er betonte, das »wir uns nicht freien Lauf lassen durften ein blos ideales System auszuarbeiten, sondern dasselbe in allen Punkten mit den wirklich im Museum vorhandenen selbständigen (nicht aus Sammelwerken entnommenen) Quellen und Materialien übereinstimmen musste und deren Maas nicht überschreiten durfte«.96 Weil aber dieses »System« auch die Zuordnung der Informationen im Generalrepertorium strukturierte, werden die in den Satzungen noch so klaren Hierarchien zwischen der sachlogischen Ordnung des Generalrepertoriums und der illustrativen Funktion der Sammlungen durchbrochen.97
Sammelkasten – Weltkasten – Zettelkasten Nach Ansicht des Medienarchäologen Wolfgang Ernst konnte das Germanische Nationalmuseum die eigene Zielsetzung auch deshalb nicht auf einen Begriff bringen, weil das spezifische Konzept einer Verschaltung von Objekten und Informationen erst im 20. Jahrhundert mit den Begriffen der Informationstheorie und Dokumentationswissenschaft zu fassen sei: »Denn das GNM 96 | Aufseß 1853/1978, S. 978. Ähnlich auch die Erklärung in: Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. VII: »Man sehe daher dieses System als ein aus praktischer Nothwendigkeit hervorgegangenes Provisorium zum Zweck der Anordnung von Sammlungen nach einem gewissen inneren Zusammenhange an. [...] Daß jedoch diese Aufgabe nicht allzu leicht sei, wird bei näherer Prüfung der Sache erst erkannt werden, indem es sich hier keineswegs darum handelt, ein System zuerst zu Papier zu bringen, um es alsdann, wenn es kunstgerecht dasteht, auszufüllen, wie dies etwa bei einem Lehr- oder Handbuch der Geschichts- und Alterthumskunde geschieht, sondern umgekehrt, nach Maaßgabe des bereits vorliegenden und noch zu erwartenden, stückweise einzureihenden Materials, die Gliederung eines Systems einzurichten, wodurch einem freien Schalten und Walten mit wissenschaftlichen Ideen und dem streng logischen Fortschreiten die größten Hindernisse in den Weg gelegt werden.« 97 | Ein davon abweichendes System für das Generalrepertorium wurde nie entwickelt und auch nicht diskutiert. Für die Verknüpfung der Mitteilungen des Anzeigers (also: historischer Informationen) mit dem System wurde ebenfalls auf das System zurückgegriffen, das sich an der materiellen Ordnung historischer Objekte orientierte (vgl. Einleitung zu: Aufseß 1853/1978, S. 964). Aufseß war sich der Vorläufigkeit bewußt, festhalten wollte er an den Hauptrubriken. Vgl. Germanisches Nationalmuseum 1856a, §212: »Da letzteres nur als ein vorläufiges, den vorhandenen Materialien im Museum selbst anpassendes, entworfen wurde, so versteht es sich von selbst, daß durch den Reichthum fremden Materials eine größere und mehr ins Einzelne gehende Gliederung sich als Nothwendigkeit herausstellen wird, wobei jedoch die Unterordnung unter die einmal gegebenen Hauptrubriken möglichst festzuhalten ist.«
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war als Medium sui generis angedacht, d.h. weniger als Versammlung der Originale, sondern als deren data processing. Und so bezeichnet der Name ›Museum‹ die Sache nicht vollkommen.«98 Auch in den historischen Selbstdarstellungen des Museums wurde immer wieder die Vermittlungsabsicht und Vermittlungsleistung sowie die eigene Neutralität betont: So erklärte Sekretär Enno Hektor 1862 als Rechtfertigung der geringen Anzahl eigener Publikationen: »Das germanische Museum ist wesentlich ein vermittelndes Organ, kein producierendes [...]. Das Museum verfolgt kein Parteizwecke, begünstigt keine Richtung, und darf es nicht, wenn es sich selbst nicht untreu werden will. Jede Wissenschaft aber, bis auf die materiellste und beschränkteste herab, geht in verschiedene Richtungen auseinander. Hieraus läßt sich schon abnehmen, daß dem Museum bei seiner neutralen Stellung eine richtige Wahl für seine productive Tätigkeit keine leichte Aufgabe sein kann.« 99
Und dieses Selbstverständnis bezog sich nicht nur auf den Umgang mit historischen Objekten und Informationen (im Sinne einer neutral verstandenen ›Datenverarbeitung‹), sondern auch auf die Funktion des Germanischen Nationalmuseums selbst: »Es will vermitteln auch zwischen der Gelehrsamkeit und der schlichten Bildung des Volkes [...]. Vermitteln will es ferner zwischen allen Parteien, Confessionen, Richtungen, Standesunterschieden, Landesfarben, Provinzial- und Localpatriotismen.«100 Die Idee einer Zusammenführung verstreuter und disparater Elemente zu einem größeren Ganzen durchzieht die konkreten Planungen wie die darüber hinausgehenden Ziele des Germanischen Nationalmuseums: Wie sich Archiv, Bibliothek, Kunst- und Altertumssammlung gegenseitig ergänzen, wie Urkundentexte, Buchwissen, Bildzeugnisse und Altertümer im Zentralverzeichnis deutscher Geschichtsquellen vereinigt werden sollten, so sollten durch den in Nürnberg zu schaffenden Zentralpunkt deutscher Geschichtsforschung auch universitäre Historiker mit Vertretern der Historischen Vereine in Austausch treten, sollten endlich auch Bayern, Österreich, Preußen und andere deutsche Territorialstaaten auf der Basis einer gemeinsamen historischen Tradition zumindest als kulturelle Einheit zusammenfinden. Jedes für sich allein auch unbedeutende Fragment der Geschichte war dafür von Interesse, jeder Einzelne aufgerufen, seinen individuellen Beitrag zu leisten, »indem eben mit solchen einzelnen, oft unscheinbaren Gaben dennoch in ihrem Zusammenfluß auf Einen Punkt eine bedeutende Sammlung interessanter Gegenstände sich bilden müßte«.101 Erst aus der Vereinigung der Schätze, Überreste, Ruinen, Trümmer und Abfälle der Vergangenheit könne sich eines Tages daraus das angestrebte Gesamtbild deutscher Geschichte ergeben:
98 | Ernst 1998, S. 52. 99 | Hektor 1863, S. 48f. 100 | Hektor 1863, S. 57. 101 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 81, Anm. 20.
K APITEL 2.2 | S AMMELKASTEN »Durch Zusammenreihung solcher Bruchstücke entsteht ein wunderbar harmonirendes Ganze und auch der oft anscheinend geringe Beitrag kann in diesem Ganzen eine wesentliche Lücke füllen, welche zuvor gar nicht erkennbar und fühlbar war. Möge daher niemand sein Scherflein für zu gering halten, sondern es getrost in den Sammelkasten werfen!« 102
Der Begriff des Sammelkastens bringt das Selbstverständnis des Museums hier auf einen zeitgenössischen Deutungshorizont. Der Sammelkasten wurde lexikalisch vor allem als ein Reservoir und Wasserspeicher definiert, der sich aus verschiedenen Zuflüssen speist – als ein aufnahmefähiges Behältnis, »worin das Wasser zu irgend einem Behufe aufbewahrt wird.«103 In der Umschreibung des Germanischen Nationalmuseums ist dieser Aspekt aber mit dem Anspruch einer strukturierten Ordnung verknüpft. So kann auch der Sammelkasten (in seiner zweiten Bedeutung) durch eine Binnengliederung in einzelne Fächer zu einem Ordnungsinstrument werden, das die darin aufbewahrten Dinge zueinander in Beziehung setzt und in ein Bedeutungsgefüge eingliedert.104 Dafür hatte Aufseß 1853 das »System der deutschen Geschichtsund Alterthumskunde« entworfen, mit der Begründung, daß es »eigens erfunden werden [musste], indem kein bisher uns bekanntes den Zweck erfüllte, Schriftliches und Bildliches so zu verschmelzen, dass beides vereinigt in ein und dasselbe System und Fachwerk eingepasst werden konnte«.105 Anke te Heesen hat in ihre Untersuchung über den »Weltkasten« (einen enzyklopädisch-pädagogischen Bilderkasten des 18. Jahrhunderts) eine kleine Kulturgeschichte des Kastens eingeschlossen.106 »Alle Kästen haben die gleiche Funktion: ihr Inhalt übernimmt die Rolle eines Vermittlers zwischen der Welt, ihren Objekten und dem Menschen.«107 Als Behältnis aus der anthropologisch bedeutsamen Funktion der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln
102 | Zweiter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1854), S. 12. Vgl. auch Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 46: »Der Anzeiger kann daher auch ferner nur ein offener Sammelkasten für freiwillige Mittheilungen des Gelehrtenausschusses und der Freunde des Museums und dessen Angelegenheiten sein.« Die Beiträge im Anzeiger wurden damals durch Marginalien den einzelnen Abteilungen des Systems zugeordnet, alle Mitteilungen und »Vermischten Nachrichten« numeriert, wodurch eine Verzeichnung der darin enthaltenen Informationen im Generalrepertorium erleichtert wurde. 103 | Pierer 1857-1865, Bd. 14 (1862), S. 839: »Sammelkasten (Sammelbehälter), großes Behältniß, worein Wasser aus verschiedenen Röhren od. Zuflüssen geleitet, od. worin das Wasser zu irgend einem Behufe aufbewahrt wird.« 104 | Müller-Wille 2001: Linnés Herbarschrank ist ein prominentes Beispiel für die »epistemische Funktion eines Sammlungsmöbels«. Müller-Wille betont (in kritischer Auseinandersetzung mit Foucault) gerade die Disponibilität der naturkundlichen Objekte und ihre Bewegung zwischen den adaptierbaren Fächern des Schrankes als entscheidendes Kriterium zur Etablierung der taxonomischen Ordnungen (S. 22-28). 105 | Aufseß 1853/1978, S. 977. 106 | te Heesen 1997, hier v. a. S. 161-163. 107 | Ebd., S. 162.
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entwickelt, habe der Kasten stets nicht nur die darin aufbewahrten Objekte geschützt, sondern ihnen dadurch zugleich Bedeutung zugesprochen. Mit dem Übergang von einer schlichten Aufbewahrung zur qualifizierten Ordnung der Dinge generiere der Kasten jedoch einen Bedeutungsüberschuß, werde zu einer »materiellen Ordnungshilfe« und sei zugleich »ordnendes Medium«.108 Dabei war Aufseß sich durchaus bewußt, daß die Materialität (Anordnung von Objekten im Raum) und die Medialität des Sammelkastens (Zuordnung innerhalb eines Ordnungssystems) nicht unmittelbar miteinander in Übereinstimmung zu bringen waren. Solche Vorstellungen hatten die frühneuzeitliche Phase des Sammelns (Kunst- und Wunderkammern) sowie teilweise noch die enzyklopädischen Sammlungen des Aufklärungszeitalters geprägt, in denen die wissenschaftliche »Aufschreibesysteme« und die materiellen »Auffindesysteme« direkt aufeinander bezogen waren.109 Die naturkundlichen Taxonomien mit ihrer spezifischen Aufgliederung in eindeutig definierte Gruppen und Untergruppen (etwa Linnés System) etablierten sich (wie anhand von Linnés Herbarschrank gezeigt worden ist) durch die praktische Ordnungsarbeit mit einem materiellen Gestell von Schubladen und Fächern, das darauf angelegt war, dem Zustrom des Sammlungsmaterials angepaßt zu werden.110 Veränderungen in der Anordnung der Dinge korrespondierten mit Veränderungen in der wissenschaftlichen Ordnung. Spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts war diese Einheit von Wissen und Sammlung brüchig geworden, was durch die Erfahrung der Französischen Revolution und ihre Wahrnehmung als ein Zeitenbruch noch verstärkt wurde. Historische Gegenstände, die sich im Zuge der Revolution und Säkularisation aus ihren alten funktionalen Ordnungs- und Bedeutungszusammenhängen gelöst hatten und nun als Zeugnisse der Vergangenheit entdeckt wurden, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (etwa in den Geschichts- und Altertumsvereinen) weniger nach einem wissenschaftlichen Plan gesammelt, sondern zunächst in der Art eines unstrukturierten Sammelkastens aufbewahrt.111
108 | Das Musterbeispiel dafür ist der Setzkasten des Buchdruckers (ebd., S. 161). 109 | Ebd., S. 163: »Die historische Phase der Waren- und Naturalienkabinette ist deshalb bedeutsam, weil in diesem Stadium begriffliche Schau und das Objekt im Kasten in ihren Ordnungskategorien zusammenfallen. Das Aufschreibesystem des Kaufmanns oder Naturforschers (Indices, alphabetische Ordnung, Ordnung nach bestimmten Klassifikationen) ist noch identisch mit dem materiellen Auffindesystem (Schubladen, Fächer). Diese Überschneidung der schriftlichen und materiellen Auffindesysteme fällt erst Ende des 18. Jahrhunderts auseinander.« 110 | Müller-Wille 2001, S. 38 macht deutlich, daß der Schrank nicht etwa nur zur Repräsentation einer bereits vorgegebenen, intellektuell gebildeten Wissensordnungen diente: »Was diesen Beschreibungen entgeht, ist die Bewegung, die ihrem Ergebnis, dem scheinbar so starr geordneten Tableau taxonomischer Beziehungen, zugrunde lag«. 111 | te Heesen/Spary 2001, S. 18f.: »Die wissenschaftliche Sammlung erhielt insofern einen Archivcharakter, als die in ihr aufbewahrten Objekte vor dem Vergessen geschützt werden
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Genau hier setzt das Projekt des Generalrepertoriums ein – der Versuch, diese verstreuten und unstrukturierten Sammelkästen durch einen übergeordneten Sammelkasten als historische Quellen wissenschaftlich zu erschließen. An die Idee eines solchen Sammelkastens aller Sammelkästen knüpft sich die Vision, daß ein Aggregat von Bruchstücken der Vergangenheit ab einer bestimmten Menge systematisch verzeichneter Informationen einen historischen Gesamtzusammenhang offenbart, in dem Aufseß die Grundlage zukünftiger Geschichtsschreibung sieht: »Erst bei einer vollständigen Uebersicht des historischen Materials ist es möglich, vollendete historische Werke zu erhalten.«112 Es ging dabei zwar nicht um eine naive Gleichsetzung der materiellen und medialen Ordnungslogiken (in Sammlungen bzw. im Generalrepertorium) – aber vermutlich wurden dabei doch die Unterschiede und Differenzen unterschätzt. Aufseß gab einleitend zu seinem »System« zu bedenken: »[I]n ihrer Zusammenstellung durchdringen und kreuzen sich Kirche und Staat, Kirche und Schule, Wissenschaft und Schule, Kunst und Gewerbe, Handel und Gewerbe u. s. w. Selbst die materiellesten Dinge wie Münzen, Hausrath, Kleidung können die schönsten Zeugnisse der Kunst abgeben.« Er nimmt also darauf bezug, daß die Beziehungen zwischen den Dingen und der Ordnungsstruktur nicht eindeutig sind, obwohl die materielle Anordnung in den Sammlungen zwingend eine eindeutige Zuordnung erfordert. Obschon sich Aufseß dieser Problematik offenbar bewußt war, ging er doch lapidar darüber hinweg: »Sie müssen aber gerade da, wo der Schwerpunkt des Zweckes ihrer Existenz sich hinneigt, eingereiht werden.«113 Mit der Bibliothekstechnik des Zettelkatalogs glaubte er eine theoretische Lösung für dieses museumspraktische Ordnungsproblem gefunden zu haben: »In der allgemeinen systematischen, wie in der alphabetischen Zusammenstellung kommt doch Alles so neben einander, wie es zusammen paßt, mag auch der Gegenstand in dieser oder jener Abtheilung sich befinden.«114 Diese Überschätzung der Ordnungstechnologie ist durchaus typisch für die Kulturgeschichte der Zettelkästen, wie sie Markus Krajewski bearbeitet hat.115 Der Zettelkasten entstand in der Frühen Neuzeit als Werkzeug der gelehrten Textproduktion. Exzerpte und eigene Gedanken wurden darin so zusammengestellt, daß durch die Kombination (und Rekombinierbarkeit) dieser Zettel neue Texte entstehen konnten. Mit dem Zettelkasten verbinden sich nicht nur Projekte einer vollständigen Erfassung, sondern auch die Visionen eines Mehrwerts, der sich durch die Einspeisung und Verknüpfung immer neuer Informationen nahezu selbständig aus der Speichervorrichtung ergibt. Mit Krajewski ist der Zettelkasten in diesem engeren Sinn (als Werkzeug der sollten. Der Akt des Sammelns wurde zu einem permanenten, vielleicht auch vergeblichen Kampf gegen die Vergänglichkeit.« 112 | Aufseß 1846, S. 23. 113 | Aufseß 1853/1978, S. 978. 114 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 175. 115 | Krajewski 2002.
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gelehrten Produktion) vom Zettelkatalog (als Hilfsmittel der Bibliothekare) zu unterscheiden.116 Gemeinsam ist beiden die Praxis des Verzettelns, d. h. die Überführung von Informationen auf den Zettel als disponiblen Informationsträger. Zettelkataloge lösten in den Bibliotheken Ende des 18. Jahrhunderts die Bandkataloge ab, weil sie den Zustrom an Büchern besser kanalisieren konnten. Die alphabetische Ordnung der Zettel braucht daher nicht zwangsläufig mit der Anordnung der Bücher im Regal zu korrespondieren, wenn die Zettel alle Daten enthalten, um das Buch aufzufinden. Mit den standardisierten Zetteln konnte in den Katalogkästen auch die systematische Ordnung wieder hergestellt werden, die bei der Aufstellung der Bücher (als materieller Einheiten) logistisch nicht mehr bewältigt werden konnte.117 Ein Vorteil dieses Ordnungssystems liegt auch darin, daß ein Objekt (sei es in Bibliothek oder Museum) durch mehrere Zettel im Kasten vertreten sein kann und von dort jeweils auf den einen Standort verweist, an dem es sich auffinden läßt. Anders als in der materiellen Einordnung kann das Objekt in einer solchen Zuordnung durch den Zettel als Stellvertreter in nahezu beliebig viele Zusammenhänge einrücken. Für die Idee einer universellen Quellensammlung erschien der Zettelkatalog damit als das prädestinierte Ordnungsinstrument.
Das Generalrepertorium als Idee einer Ordnung und als Ordnungsinstrument In den Satzungen von 1852 (der Gründungsurkunde des Museums) wurde die Ausrichtung des Germanischen Nationalmuseums am »Hauptzweck« des Generalrepertoriums festgeschrieben. Die Satzung nennt (§4) fünf Abteilungen des Generalrepertoriums (»für archivalische Quellen«, »für literarische Quellen«, »für monumentale Quellen«, »für Kunst und Alterthum« sowie »für die noch im Volke lebendig erhaltenen, althergebrachten Sitten, Gebräuche, Sagen und Lieder«) und sieht die Aufgabe des Museums vor allem darin, diese »oben unter §4 bezeichneten Verzeichnisse und Beschreibungen in ein streng wissenschaftliches System zu bringen und mit alphabetischen Namens-, Ortsund Sachregistern zu versehen, so daß augenblicklich jede Anfrage auch über den speciellsten Gegenstand beantwortet werden kann« (§6a). Auf diese Zielsetzung des Generalrepertoriums haben sich dessen Kritiker (z. B. der Historiker Leopold von Ranke) bezogen, wenn sie die Idee als undurchführbar abgelehnt haben.118 Und auch die aktuellen Neubewertungen des Projekts, die Aufseß aus der Rückschau des Datenbank-, Internet- und Google-Zeitalters als Visionär entdecken, beziehen sich zumeist auf 116 | Die Unterscheidung zwischen Zettelkasten und Zettelkatalog wird besonders deutlich in: Krajewski 2007, S. 32–36. 117 | Dazu: Ernst 2003, S. 757–760. 118 | Ranke erstellte im Auftrag des preußischen Kabinetts ein Gutachten über das Nürnberger Unternehmen. Er gestand den Sammlungen ihren Wert zu, lehnte die Idee eines Generalrepertoriums aber als undurchführbar ab (Henz 1972, S. 308f.).
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diese Zielformulierung.119 Wenn man sich nicht auf den programmatischen Diskurs beschränkt, sondern auch die zum Generalrepertorium angelegten Akten heranzieht, zeigt sich jedoch, daß die Arbeiten an diesem Repertorium niemals über Anfangsgründe hinausgekommen sind. Zudem wird bei einer Annäherung an die konkreten Praktiken der Repertorisierung deutlich, daß sich nicht nur das Konzept des Generalrepertoriums zwischen 1852 und 1870 wiederholt verändert hat, sondern mit diesem Begriff Unterschiedliches bezeichnet worden ist. Unverändert und eindeutig ist jeweils nur die Vision einer Gesamtschau des Quellenmaterials geblieben. Steht der Begriff in den Satzungen von 1852 für die Gesamtheit der Repertorisierungarbeiten (als Generalrepertorium), so werden ab 1854/55 parallel dazu die Repertorien einzelner Quellengattungen (also die »Idealkataloge« aller überhaupt bekannten Urkunden, Handschriften, Kupferstiche usw.) als Generalrepertorien bezeichnet. Ab dem Ende der 1850er Jahre, nach einer grundlegenden Revision der bisherigen Arbeiten, wird der Begriff im engeren Sinn für das »die Spitze des ganzen bildende so genannte Generalrepertorium«120 verwendet, das in einem speziellen Raum des Museums »in Repositorien und kleinen Kästchen aufgestellt«121 war. »Dieses gibt von den Repertorien der einzelnen Abtheilungen bloß die Schlagworte wieder und hat einfach den Zweck, anzudeuten, in welcher dieser Abtheilungen über den gesuchten Gegenstand nähere Angaben sich finden.«122 Der Begriff des Generalrepertoriums wird also einmal für die Gesamtheit der Quellenverzeichnisse, einmal für die Verzeichnung einzelner Quellenbereiche in jeweils umfassenden »Idealkatalogen«, schließlich für einen übergeordneten Schlagwortkatalog verwendet, der auf die Repertorienzettel in den ihm untergeordneten Katalogen verweist. Daran zeigt sich, daß der zunächst vage definierte Begriff, der sich mit einer leicht faßbaren Idee verknüpfte, in der praktischen Arbeit der Wissenschaftler am Germanischen Nationalmuseum konkretisiert werden mußte und schließlich mit dem Ordnungsinstrument zusammenfiel, das die Verbindung zwischen den vielen tausend Zetteln herstellen sollte, die inzwischen geschrieben worden waren. Aufseß hatte 1854 die Richtlinien zur Umsetzung seiner Idee in einem allgemeinen Regelwerk zu den inneren Arbeitsabläufen und Strukturen der Nürnberger Anstalt, dem »Organismus des germanischen Museums«, detailliert festgelegt. Dabei orientierte er sich an der bibliothekarischen Technik des
119 | Auch die stellenweise äußerst anregungsreiche »Relektüre« des Germanischen Nationalmuseums in Begriffen der Medien- und Informationstheorie, die Wolfgang Ernst vorgenommen hat (Ernst 2003), konzentriert sich zu sehr auf die Programmschriften und die Handlungsanweisungen aus Satzung, System und Organismus – und blendet die Praktiken (die in den Archivalien aber auch in den laufenden Publikationen des Anzeigers und der Jahresberichte niedergeschlagen haben) meines Erachtens zu häufig aus. 120 | Hektor 1863, S. 44. 121 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. 51. 122 | Hektor 1863, S. 44. Bibliothekslogistisch ist dies ein ›Realkatalog‹.
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Abb. 4: Musterblatt für die Repertorisierung, um 1855 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Zettelkatalogs.123 Eine Arbeitstechnik, wie sie in den Museen des 20. Jahrhunderts bis zur Einführung der Datenbanken nicht wegzudenken war. Für die Mitte des 19. Jahrhunderts stellte die konsequente Anwendung der bibliothekarischen Technik des Zettelkatalogs (mit seiner Verknüpfung alphabetischer und systematischer Ordnungen) auf eine museale Sammlung aber durchaus eine Neuerung dar.124 Form und Formatierung der Repertorienzettel wurden für verschiedene Quellengattungen125genau vorgegeben und durch Musterformulare illustriert: lose Blätter in Groß-Oktavformat, die durch vorgezeichnete Linien in bestimmte Beschriftungsfelder unterteilt waren, in denen die jeweils notwendigen, strukturierenden Schlagworte, Betreffe, Datierungen, Standorthinweise usw. zu verzeichnen waren (Abb. 4). Aus den Bestimmungen des »Organismus« wird der enorme Arbeitsaufwand deutlich, den diese Datenerfassung in den drei Museumsabteilungen 123 | Das bibliothekarische Fachwissen brachte vermutlich Johann Georg Seizinger ein, der im Jahresbericht für 1853/54 als verantwortlicher Mitarbeiter für das »Generalregister« aufgeführt ist. Seizinger veröffentlichte nach seinem Ausscheiden aus dem Museum Anfang 1855 ein Buch über »Bibliothekstechnik« (Seizinger 1855), in dem viele Aspekte der Repertorien des Germanischen Nationalmuseums auftauchen – bis hin zur Größe der Zettel und der Art der Kästen (sowie den auch in Nürnberg verwendeten Musterformularen) (S. 46-54). Die Idee des Generalregisters (das, was später auch als das Herzstück des Generalrepertoriums galt) beschreibt Seizinger bibliothekstechnisch als »Realkatalog«. 124 | Auch Falke 1897, S. 140f. bemerkte rückblickend, die Repertorien- und Katalogzettel »bewährten sich vortrefflich« und seien später vielerorts angewandt worden. 125 | Unterschiedliche Formulare für Urkunden, für Acten, Rechnungen u. Briefe, für Bücherhandschriften, für Bücherdrucke, für alle Gegenstände der Bildnerei und Siegel, für alle Gegenstände der zeichnenden Künste, für Münzen, für Medaillen.
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(Archiv, Bibliothek, Kunst- und Altertumssammlungen)126 erforderte. Das betraf bereits die von Aufseß als selbstverständlich vorausgesetzte Repertorisierung der eigenen Bestände. In jeder Abteilung waren dazu mehrere Kataloge vorgesehen: ein nach den Rubriken des Systems numerierter Hauptkatalog in Listenform und einer oder mehrere zusätzliche Zettelkataloge, die (je nach Quellengattung) systematisch, alphabetisch und/oder chronologisch zu ordnen waren. Um die inhaltliche Erschließung des Materials zu erleichtern, waren zusätzlich jeweils Personen-, Orts- und Sachregister zu führen (ebenfalls in Form von Zettelkatalogen). Die »zweite und größere Aufgabe«127 sah Aufseß jedoch in der Erfassung der fremden Bestände – denn der universale Anspruch des Generalrepertoriums gründete sich ja gerade auf eine vollständige Erfassung aller bekannten Quellen. In Archiv, Bibliothek sowie in den Kunst- und Altertumssammlungen waren deshalb neben den Repertorien (d. h. Katalogen und Register) für die eigenen Bestände nach den gleichen Ordnungskriterien Spezialrepertorien für die einzelnen Quellengattungen anzulegen (Urkunden, Handschriften, Kupferstiche, Siegel usw.). Diese waren ebenfalls durch Personen-, Orts- und Sachregister zu erschließen und diese wiederum mit den jeweiligen Registern der eigenen Bestandsgruppen zu verbinden. Wie in einem Rückblick von 1862 festgestellt wurde, war es zuerst darauf angekommen, die Durchführbarkeit und Nützlichkeit des Generalrepertoriums (die ja öffentlich bezweifelt worden war) zu beweisen.128 Um eine dafür ausreichende Menge an fremden Quellen zu verzetteln (und damit die Besonderheit des Germanischen Nationalmuseums deutlich zu machen), wurden die bereits existierenden, gedruckten Quellenverzeichnisse und Urkundenregesten zerschnitten, die einzelnen Informationen auf Zettel aufgeklebt und in die Kästen der jeweiligen Spezialkataloge (Urkunden, Handschriften usw.) eingegliedert.129 Eine solche Anweisung zielte auf die Aneignung einer großen Menge von Daten in kurzer Zeit. Dadurch konnte – gerade auch im Anzeiger und in den Jahresberichten, mit denen das Germanische Nationalmuseum öffentliche Rechenschaft über den Fortgang seiner Arbeiten ablegte – der Ertrag der Repertorisierungsarbeiten zumindest beziffert werden. Immer wieder wurde dort die aktuellen Zahlen der Zettel genannt – allerdings ohne deutlich zu machen, daß es sich dabei nicht zuletzt um eine Übertragung der in Buch126 | Der Begriff des Museums fungiert hier als Oberbegriff dieser drei Sammlungen. Vgl. Aufseß 1852/1978, S. 951 (§1b): »ein diesem Umfange [des Generalrepertoriums] entsprechendes allgemeines Museum zu errichten, bestehend in Archiv, Bibliothek, Kunst- und Alterthumssammlung«. 127 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, § 139. 128 | Hektor 1863, S. 42. 129 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1853, Sp. 139: »Hierdurch [durch die Übersendung von Urkundenregsten, U.T.] wird dem Museum eine ausserordentliche Erleichterung geschaffen, indem jedes einzelne Urkundenregest, anstatt erst copirt zu werden, vom Druckbogen blos abgeschnitten und auf das dazu bestimmte fliegende Blatt des Zettelrepertoriums aufgeklebt zu werden braucht.«
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form und Listen vorliegenden Verzeichnisse in die disponible Ordnung eines Zettelkataloges handelte. Ende 1855 waren bereits 120.000 Urkunden, 40.000 Literaturwerke, 10.000 Münzen und Siegel, etwa 3000 Gemälde, Kupferstiche und Holzschnitte sowie 36.000 historische Bilder und Gegenstände repertorisiert.130 Auf der Basis dieser bereits beeindrucken Zahl von mehr als 200.000 Zetteln schrieb der damalige 1. Sekretär Johannes Falke (zugleich Inspektor des Generalrepertoriums)131: »Bis jetzt ist zu diesem großartigsten aller Cataloge freilich nur ein kleiner Anfang gemacht worden [...]; doch das gibt keinen Grund, an der Ausführbarkeit eines Unternehmens zu zweifeln, das nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums von wenigen Jahren, noch durch die Kraft einzelner soll vollendet werden. Wenn während eines Jahrzehends dieses Repertorium mit derselben Beharrlichkeit, mit der bis jetzt das junge Museum geleitet ist, fortgeführt und im Verhältniss zu seinen steigenden Mitteln erweitert wird, so besitzt Deutschland am Ende dieser Periode hier ein Quellenverzeichnis seiner Geschichte und einen Vereinigungspunkt für seine Geschichts wissenschaft, wie weder Frankreich noch England dasselbe trotz der glänzendsten Museen aufzuweisen haben.« 132
Deutlich wird hier die Bedeutung des Generalrepertoriums als utopischer Kern eines Projekts, das eine Wissensdynamik versprach, durch die Aufseß in den 1850er Jahren tatsächlich eine Reihe junger Kulturhistoriker (Johannes Falke, Jakob Falke, Johannes Müller) für das Germanische Nationalmuseum begeistern konnte.133 Jakob Falke, der fast seine ganze Nürnberger Zeit (1855-58) hindurch an der Repertorisierung großer Tafelwerke arbeitete und dabei nicht nur die einzelnen Illustrationen und Bildtafeln, sondern zudem jeden darauf abgebildeten historischen Gegenstand für das Repertorium zu verzeichnen hatte, beschrieb diese Arbeit später als »nicht anstrengend, aber geisttötend«.134 1897 auf seine Zeit in Nürnberg zurückblickend, schwang jedoch auch bei ihm die Bewunderung für einen Plan mit, der in der Praxis nicht zu bewältigen war: Hunderte von Jahren hätten dazu nicht ausgereicht
130 | Dritter Jahresbericht des germanischen Museums, 1856, S. 4. 131 | Vgl. Personalverzeichnis in: ebd., S. 44. 132 | Falke o. J. [1856], S. 97. 133 | Es bildete sich in Nürnberg um diese Museumsmitarbeiter ein kleiner Kreis von Kulturhistorikern, die auf der Basis eines breiten Quellenverständnisses nach Möglichkeiten einer Kulturgeschichtsschreibung des ganzen Volkes suchten und damit auch die etablierte politikorientierte Geschichtswissenschaft Berliner Prägung herausforderten (wobei sich die Nürnberger Kulturhistoriker in der von ihnen gegründeten Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte allerdings von der starren Systematik des Museums lösten und den Schwerpunkt auf die Darstellung kulturhistorischer Entwicklungsprozesse und auf die Ausdrucksformen des deutschen »Volksgeistes« legten). Dieser Kreis löste zwischen 1858 und 1862 durch den Fortgang der Beteiligten aus Nürnberg auf. Vgl. Rieke-Müller/Müller 2000. 134 | Falke 1897, S. 144.
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– immer wäre das Repertorium »Bruchstück des großartigen Gedankens« geblieben.135
Bilanz einer Verzettelung Ein solches Fragment aus der Geschichte des Generalrepertoriums ist auch das folgende Fundstück aus einem Faszikel mit Akten zur frühen Museumsgeschichte (Abb. 5). Auf dem kleinen, zu vier Seiten gefalteten Zettel türmen sich dicht an dicht mit Bleistift notierte Buchstaben- und Zahlenkolonnen. Auf den ersten Blick bleibt völlig unverständlich, was da auf so gedrängtem Platz beschrieben wird, in einem Code der Verwaltung. Bei näherer Betrachtung entziffert man eine Folge von Jahreszahlen (von 1862 bis 1870 reichend), Daten und Monaten, alphabetisch geordnete Buchstaben sowie die als Ordnungselemente wiederkehrenden Abkürzungen S/P/O. Vor allem und immer wieder stößt man aber auf Zahlenwerte und Summen. Die Notizen erweisen sich als Spuren von Auszählungsvorgängen, die offenbar über einen längeren Zeitraum fortgesetzt wurden. Anfangs sind diese Auszählungen alphabetisch differenziert, später auf eine Gesamtsumme konzentriert, die zwischen Januar 1864 und Juli 1870 von 20.072 auf 56.467 anwächst. Die Einheit, die hier (als Summe der Teilbereiche S/P/O) ausgezählt wurde, wird durch den Buchstaben »Z.« angedeutet. Wenn »Z.« hier für die Zettel des Generalrepertoriums steht, der jeweils im Sach- (S), Personen- (P) und Ortsregister (O) verzeichneten Einheiten: dann steht der Zettel selbst für die Bilanz einer Verzettelung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Ab 1857, nachdem die zahlreichen praktischen Probleme und Schwierigkeiten hervorgetreten waren und eine erste Revision der Repertorienzettel durchgeführt werden mußte, verlor sich die Anfangseuphorie und Aufbruchstimmung. In der Praxis des Verzettelns von gattungsspezifischen Objektinformationen waren die jeweiligen Kataloge zwar zu einem beeindruckenden Umfang angewachsen, der für die Wirksamkeit des Generalrepertoriums notwendige Zusammenhang war dabei aber offenbar nicht hinreichend im Auge behalten worden. Durch die Orientierung der Repertorien an den bereits publizierten Spezialverzeichnissen und ihren Ordnungskategorien (etwa für Münzen, Siegel, Wappen, Handschriften oder Gemälde) fehlte es an einer verbindlichen und verbindenden Terminologie, um die Register effektiv miteinander in Beziehung zu setzen und damit systematisch zu vernetzen. Externe Gutachten, die Anstellung eines Inspektors für das Generalrepertorium, genaue Absprachen zwischen den Sammlungsvorständen und neuerliche Revisionen der bereits vorhandenen Zettel (die in einer Aufstellung von 1860 auf eine Gesamtzahl von 581.000 Stück beziffert wurden) folgten.136 Eine Kommission zur Prüfung des Generalrepertoriums sah 1859 eine stärkere Selektion der aufgenommenen Zettel als dringendes Erfordernis an: 135 | Ebd., S. 139f. 136 | Veit 1978a, S. 24.
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Abb. 5: Gefalteter Notizzettel mit Auszählungen von Repertorienzetteln, 1862-1870 (Vorder- und Rückseite) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
K APITEL 2.2 | S AMMELKASTEN »Die Hauptschwierigkeit besteht offenbar in der Beantwortung der Frage: Was ist in die Zeddel aufzunehmen & was wegzulassen? Nimmt man zu viel auf, so läuft man Gefahr, eine ungeheure Masse von Arbeitskraft zu verwenden, ohne irgend eine Aussicht auf einen entsprechenden Erfolg & Nutzen. Man verliert sich in einem Meer von Notizen ohne Werth & ohne Vollständigkeit, & erzielt nur Verwirrung nicht Klärung. Berücksichtigt man zu wenig, so wird man überall auf Lücken und Mängel stoßen und auch dann nicht befriedigt. Das richtige Maß ist nur in einer besonnenen Praxis zu finden, welche den Beamten der Anstalt anvertraut werden muß. [...] In die Repertorien einer Nationalanstalt gehört nur, was von nationalem Interesse ist, nicht was eine bloß locale oder particulare Bedeutung hat.« 137
Das Prinzip des Sammelkastens, in dem jedes Fragment aufgehoben sein sollte, war damit als Problem erkannt worden. »So weit wir Gelegenheit hatten, Einsicht in die Fertigung der Zeddel zu gewinnen, so scheint es uns, daß bisher eher zu viel als zu wenig registrirt worden sei & eine schärfere Ausscheidung nach den obigen Grundsätzen & daher eine erhebliche Vereinfachung & Verminderung der Arbeit sehr zu empfehlen.«138 Dennoch galt in Nürnberg weiterhin als Maxime, »daß in zweifelhaften Fällen lieber ein Zettel zu viel, als zu wenig geschrieben werde«.139 Geben die Monatsberichte des 1859 mit der Inspektion des Generalrepertoriums betrauten Kunsthistorikers Andreas Andreßen zu Beginn noch Auskunft über konkrete Probleme einheitlicher Schreibweisen und Verschlagwortung (etwa zu der Frage, ob Personen ohne Eigennamen im Personen- oder Sachregister aufzuführen seien), so reduzieren sie sich gegen Ende des Zeitraums fast auf reine Auflistungen von Zahlen: akribische Auszählungen der monatlichen Neueinträge in die Register. Bei zweifelhaftem wissenschaftlichem Ertrag blieb die Arbeitsleistung des Inspektors damit zumindest quantitativ benennbar. Der langfristige Nutzen dieser zeit- und kostenintensiven Arbeiten wurde nicht nur extern bezweifelt, sondern zunehmend auch intern in Frage gestellt. So wurde 1863 »ein leidiger Zug zur Plusmacherei« darin erkannt, daß die »dilettantische Zettelfabrikation« in den Darstellungen der Museumspublikationen beschönigt würde.140 Aber noch einige Jahre lang wurde – wie der eingangs dieses Abschnitts vorgestellte Zettel zeigt – zumindest in einigen Spezialbereichen an der quantitative Selbstgenügsamkeit des Verzettelns festgehalten.141 Für das Generalrepertorium galt schließlich das, was Markus 137 | GNM-Akten K 251, Faszikel »Monatsbericht des General-Repertoriums des germanischen Museums. 1859« (Gutachten Bluntschi). 138 | Ebd. 139 | GNM-Akten K 251, Faszikel »Acta des germanischen Museums/GR 1859/1861/ü. Repertoien der Bibl. u. d. Archivs)«, II. Verhandlung, die Neubearbeitung der Repertorien betr., 19. Juni 1861 140 | GNM-Akten K 20, Nr. 21: Schreiben Roth von Schreckenstein an Dr. Beckh, Karlsruhe 23. Mai 1863 und 4. Juni 1863. 141 | Wahrscheinlich ist der Zettel dem Literaturrepertorium zuzuordnen, an dem noch zumindest bis 1868 in der alten Form der Sach-, Orts- und Personenregistrierung an der Erschließung der eigenen Bestände weitergearbeitet wurde (Essenwein 1868b, S. 88).
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Krajewski als typisches Problem von Zettelkatalogen bezeichnet, die nicht auf einen produktiven Output zielen, sondern einem zukünftigen Zugriff vorarbeiten wollen: »Wenn der Zettelkasten eine Vorrichtung gegen das gelehrte Vergessen ist, so scheint es ein Zettelkatalog dagegen zu erlauben, die weitergehende Tätigkeit seiner Auswertung seinerseits zu vergessen. [...] Die Vorrichtung scheint lediglich um ihrer selbst willen betrieben zu werden; sie stellt in gewisser Weise ein Informationsgrab dar.« 142
Wiedereingliederung in die Museumsgeschichte Das Scheitern des Generalrepertoriums erklärt aber nur zum Teil, warum das Germanische Nationalmuseum in seiner Frühzeit so oft mißverstanden und scheinbar ungerecht beurteilt worden ist. Während sich das Germanische Nationalmuseum in seinen Repertorisierungsaufgaben buchstäblich verzettelte, entfalteten nämlich parallel dazu die Sammlungen auf museumspraktischer Ebene eine Eigendynamik, die erst nachträglich durch die Programmdebatten Ende der 1860er Jahre eingeholt wurde. Die Sammlungen waren durch Geschenke für diesen materiellen Sammelkasten der Kulturnation kontinuierlich gewachsen. Die Schauräume des Museums hatten durch die Übernahme der Ruine des Nürnberger Kartäuserklosters einen eigenen ästhetischen Reiz entfaltet, der nicht auf den Ordnungskategorien eines abstrakten Systems beruhte, sondern auf den tatsächlichen Konstellationen von Objekten im Raum – und diese boten, wie die Abbildungen einiger Museumsräume zeigen, durchaus Spielräume für Zusammenstellungen nach ästhetischen Gesichtspunkten (Abb. 6).143 Der Besucher mußte sich nicht zwingend mit »System« und Generalrepertorium sowie mit den besonderen Ziele und Methoden des Germanischen Nationalmuseums auseinandersetzen, sondern konnte die Sammlung durchaus als »bloße Sammlung zur Belehrung des Publikums« auf sich wirken lassen – eine Rezeptionshaltung, die dem Verfasser des einleitend zitierten Jahresberichts von 1856 zur Bewertung des auf der Repertorisierung gründenden Museumsganzen noch als unangemessen erschienen war. Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, die historische Analyse des Germanischen Nationalmuseums, die sich lange Zeit auf die Entwicklung der Sammlungen konzentriert hat, nun im Gegenzug zu stark auf die Idee des Generalrepertoriums zuzuspitzen.144 Dabei wird dem Widerstreit von Programmen und Praktiken zu wenig und einer Dichotomie von Samm142 | Krajewski 2007, S. 44f. 143 | So weisen die Abbildungen (4 Holzschnitte) im »Wegweiser« von 1853 (von Eye 1853), aber auch die späteren Beschreibungen in den Ausgaben des »Wegweisers« (1860-65) auf die ästhetischen Spielräume hin, die sich bei der Anordnung der Objekte innerhalb der Hauptrubriken der Systematik ergaben. 144 | Der Jubiläumsband Deneke/Kahsnitz 1978 ist ein typisches Beispiel für eine bestandsorientierte Museumsgeschichtsschreibung. Die Entwicklung der Sammlungen steht hier ein-
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Abb. 6: Sammlungsraum am Thiergärtnerthorturm, 1853 (Kupferstich aus dem »Wegweiser durch die Sammlungen«) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg lungen und Repertorien, Objekt und Information, Ding und Zeichen, Materialität und Medialität zu viel Beachtung geschenkt.145 In der Praxis konzentrierten sich diese Repertorisierungsarbeiten spätestens seit den durchgeführten Revisionen Ende der 1850er Jahre ausschließlich auf die Verzeichnung und Erschließung der eigenen Bestände.146 Die Eingliederung eines Objekts in die Sammlung war deshalb de facto die Vorbedingung für dessen Registrierung im Generalrepertorium. August Essenwein, der als zweiter Nachfolger von Aufseß seit 1866 das Germanische Nationalmuseum leitete, kam deshalb zu dem nüchternen Schluß:
deutig im Vordergrund. Demgegenüber setzt Ernst 2003 einen klaren Schwerpunkt bei den Repertorien und blendet die Entwicklung der Sammlung weitgehend aus. 145 | Ernst 2003, S. 520: »Sobald das Museum nicht mehr Objekte, sondern Information sammelt, wandelt es sich gedächtnismedial zum Archiv.« Die Wahrnehmung des Germanischen Nationalmuseums als Generalrepertorium bindet Ernst an eine Reihe von oppositionellen Begriffspaaren: Gedächtnis (Daten) vs. Geschichte (Diskurs), Monument vs. Dokument, Archäologie vs. Historie, Modularität vs. Linearität, Synchronizität vs. Diachronizität. 146 | Hektor 1863, S. 44.
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P ERSPEKTIVEN UND P ROJEKTIONEN »Es liegt hier eigentlich nichts anderes vor, als was in anderen Sammlungen, Bibliotheken u. s. w. auch geschieht, und dass hier noch etwas mehr ins Detail gegangen und die Sache etwas ausführlicher, freilich auch viel theurer bearbeitet wird als anders wo.« 147
Der Ausnahmestatus des Germanischen Nationalmuseums, der sich auf die Idee des Generalrepertoriums gegründet hatte, war durch die Repertorien praktisch nicht mehr gedeckt. Nach Ansicht von Essenwein konnte das Germanische Nationalmuseum damit immer noch Mißverständnisse auslösen – aber nunmehr dadurch, daß man eben etwas ganz Außergewöhnliches darin sah und es nicht zuerst als eine Sammlung in der Art anderer Museen betrachtete. Nach dem Prinzip des Sammelkastens hatte sich das Museum historische Objekte und Informationen (über anderenorts verwahrte historische Objekte) massenweise angeeignet. Die Hoffnung, daß sich ab einer bestimmten Menge historischer Fragmente ein konsistentes Mosaik würde herstellen lassen, schien sich nun aber nicht zu erfüllen. Vielmehr drohte die Ansammlung von Objekten und Informationen als diffuses Gemenge außer Kontrolle zu geraten, das ganze Projekt des Germanischen Nationalmuseums in einer nicht sinnvoll kanalisierten Flut unterzugehen. Diese Gefahr hatte der Historiker Leopold von Ranke in einer entschiedenen Kritik an der Idee des Generalrepertoriums bereits 1853 vorausgesehen: »Herr von Aufseß hat wohl nie in einem großen deutschen Archiv ernsthaft gearbeitet, sonst würde er wissen, daß zuweilen die Reliquien einzelner Jahre ganze Zimmer erfüllen. Wie soll es möglich sein, diese massenhaften Acten nur so genau zu registriren, daß darüber ein Generalrepertorium angefertigt werden könnte?« 148
Aber Aufseß lehnte es ab, sich an der Realisierung seiner Idee messen zu lassen. Wenn das Generalrepertorium nicht über den Status eines Projektes hinauskam, entspricht Aufseß (auch durch diesen Umgang mit Kritik) dem Typus eines »Projektemachers«149, dem es mehr darauf ankam, zu beweisen, 147 | Essenwein 1868b, S. 88. Essenwein, der der Idee eines Generalrepertoriums selbst kritisch gegenüber stand, stellte die einzelnen Repertorien, ihren Umfang und ihren jeweiligen Wert 1868 deshalb so detailliert vor, »weil theilweise Freunde, theilweise Gegner sich nicht das richtige Bild der Sache machen und theils überschwengliches, theils werthloses erwarten.« 148 | Henz 1972, S. 308. Die Vorstellung, daß sich aus einem Generalrepertorium quasi unmittelbar ein Bild der Geschichte ergeben könnte, die durch die Metaphorik (etwa auch des Sammelkastens, des Organismus etc.) geweckt wurde, stieß bei den Historikern auf Ablehnung Denn historische Forschung sei, wie Johann Gustav Droysen in seiner Historik feststellte, »nicht auf ein zufälliges Finden gestellt, sondern sie sucht etwas. Sie muß wissen, was sie suchen will; erst dann findet sie etwas.« (Droysen 1971, S. 35). Dabei teilte Droysen durchaus den breiten Quellenbegriff, den er allerdings durch seine Scheidung in Quellen, Denkmäler und Überreste anders systematisierte. Mit der konkreten Ausführung der Arbeiten in Nürnberg war Droysen nicht einverstanden. (Rieke-Müller/Müller 2000, S. 373). 149 | Krajewski 2004, S. 11-13.
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daß eine von ihm erdachte Struktur universell anwendbar ist – als darauf, sie wirklich mit allem zu füllen. Wie Thomas Macho beschrieben hat, kehrt dieser für das enzyklopädische Zeitalter des Sammelns charakteristische Ansatz durch neue mediale Dispositionen heute verstärkt zurück: »[W]ie viele Datenbanken wurden bereits programmiert und demonstriert, ohne jemals den gesamten Umfang der Daten selbst aufnehmen zu müssen! Entscheidend blieb bis heute die Vision der Vollständigkeit und der technischen Operabilität von Klassifikationskategorien, nicht von einzelnen Objekten oder spezifischen Datensätzen.«150
Die Museumshistoriographie würdigt Aufseß als Sammler und Gründer des Germanischen Nationalmuseums, dessen Vision eines Generalrepertoriums, mit dem er das Projekt unauflöslich verknüpft hatte, aber schließlich überwunden werden mußte: »Die Umwandlung dieses ersten Programms durch die Verdrängung des Repertoriums vom ersten Platz ist recht eigentlich die Geschichte des Museums selbst während der ersten Jahrzehnte.«151 Aufseß schied planungsgemäß 1862 als Vorstand des Museums aus, nahm aber in der Folge als Ehrenvorstand weiterhin entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Museums. Grundlegende Änderungen an Satzung, »System« und »Organismus«, vor allem aber eine Abkehr von der Idee des Generalrepertoriums, lehnte er strikt ab. Er geriet dadurch mit seinen beiden Nachfolgern Ludwig Michelsen (1862-64) und August Essenwein (1866-1892) in Konflikte, die zunächst intern ausgetragen (und zugunsten Aufseß’ entschieden wurden), am Ende der 1860er Jahre jedoch öffentlich wurden. Während Michelsen in der Historiographie als Übergangsgestalt gilt, der die Repertorien und das System verwarf, »ohne Besseres an seine Stelle zu setzen«,152 wird Essenweins Umgestaltung des Germanischen Nationalmuseums »im Sinne eines Museums der deutschen Kulturgeschichte«153 als zweite Gründung und Beginn einer neuen Ära wahrgenommen. Bis 1870 war das Gründungskonzept in wesentlichen Punkten (Satzung, »System«, »Organismus«) revidiert und der neuen Ausrichtung des Museums angepaßt worden. Von einem Generalrepertorium war darin keine Rede mehr. Indem Essenwein den überdimensionierten Museumsentwurf des Visionärs Aufseß auf das Maß eines Museums deutscher Kunst und Kultur zurechtstutzte, führte er das Germanische Nationalmuseum auf bekannte Pfade der Museumsgeschichte zurück. In dieser Form wurde es zum Vorbild vieler Neugründungen des späten 19. Jahrhunderts und geradezu ein Idealtyp des kulturhistorischen Museums. Das Germanische Nationalmuseum, das sich im Feld der Geschichtskultur ganz bewußt als Ausnahmeerscheinung positio-
150 | Macho 2000. 151 | Burian 1977, S. 15. Sehr deutlich auch schon in Eigenperspektive formuliert bei Essenwein 1884a und auch bei Hampe 1902. 152 | Hampe 1902, S. 73. 153 | Ebd., S. 95.
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niert hatte, scherte Ende des 19. Jahrhunderts als Typus des kulturhistorischen Museums wieder in die Museumsgeschichte ein.
Eine Museumsgeschichte medialer Konstellationen Der Blick auf die Geschichte des Generalrepertoriums zeigt, daß die Schwerpunktverlagerung von den Repertorien zur Sammlung nicht auf die historiographisch klar zu definierende Auseinandersetzung zwischen den beiden Persönlichkeiten Aufseß und Essenwein zu reduzieren ist. Die persönlichen Handlungsspielräume der Vorstände und Direktoren des Germanischen Nationalmuseums sind zwar ein wichtiger Faktor der institutionellen und konzeptionellen Ausrichtung des Museums – sie sind aber auch Indikatoren museumsgeschichtlicher Praktiken und Diskurse. Der Konflikt zwischen Aufseß und seinen Nachfolgern Michelsen und Essenwein reflektiert einen unaufgelösten Widerstreit zwischen der Materialität und der Medialität historischer Objekte, zwischen den eigenen Sammlungen und dem universalen Generalrepertorium, zwischen der Vielfalt historischer Erscheinungen und dem Wunsch nach einem einheitlichen Bezugsrahmen. Unterhalb der Ebene der programmatischen Debatten hatten sich in der musealen Praxis die Gewichte bereits lange vor der Auseinandersetzung um die Zukunft des Museums zugunsten der eigenen Sammlungsobjekte verschoben. Wie ich im folgenden Kapitel zeigen möchte, bot die mediale Konstellation der 1850er Jahre dem Germanischen Nationalmuseum die Bedingungen, um die Idee des Generalrepertoriums auf die Praxis des Sammelns zu übertragen. Das Potential dieser neuen Reproduktionstechnik, das auch in den Bildern Daguerres aufgeschienen war, schien die Verknüpfung einer universalen Zielsetzung mit der Anschaulichkeit einer konkreten Sammlung möglich zu machen. Abgüsse, galvanoplastische Reproduktionen und Photographien fungierten damit als Bindeglied zwischen den ›beiden Gründungen‹ des Museums (1852/1870). So wie das Germanische Nationalmuseum einerseits ein utopisches Projekt und andererseits ein reales Museum war, stand auch das Medium Photographie dem Museum nicht nur als Instrument zur Lösung museumspraktischer Probleme zur Verfügung, sondern fungierte zugleich als Denkmodell der zukünftiger Entwicklung des Museums. Die beiden folgenden Kapitel thematisieren mediale Konstellationen im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums, die zeigen sollen, wie die Photographie – im Verbund mit anderen Medientechniken – bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen hat, die außergewöhnliche Idee des Germanischen Nationalmuseums in der Praxis als kulturhistorisches Museum neu zu definieren.
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Photographie als Medientechnik am Germanischen Nationalmuseum
3.1 ATELIERZEIT – M EDIENTECHNIKEN IM P ROJEKT DES G ERMANISCHEN N ATIONALMUSEUMS Im Sommer 1854, knapp zwei Jahre nach der Museumsgründung und ein Jahr nach der Eröffnung der Schauräume und der Aufnahme eines regulären Museumsbetriebs, installierte das Germanische Nationalmuseum in zusätzlich angemieteten Räumlichkeiten die ersten beiden eigenen Ateliers für künstlerische Arbeiten: ein Atelier für Malerei und Zeichnung sowie eines für Bildhauerei und Gipsabguß.1 Zwar hatte Freiherr von Aufseß schon im Oktober 1852 einen Zeichner für das Museum verpflichtet2 – die Einrichtung eigener künstlerischer Ateliers im Museum war jedoch seit Ende 1853 wiederholt als notwendiger Schritt herausgestellt worden, um die dort (und teilweise nur dort) zu verrichtenden Arbeiten in eigener Regie ausführen zu können.3 Die anlaufende Museumspraxis hatte eine Bündelung der logistischen Voraussetzungen künstlerischer Produktion und Reproduktion (Künstler, Arbeitsinstrumente, Räume, technisches Wissen, Vorlagen und Vorbilder) im Museum wünschenswert erscheinen lassen und zudem eine Erweiterung der Medientechniken nahegelegt, die bisher auf die Zeichnung begrenzt waren. Im Zusammenhang mit der Einrichtung eigener Ateliers wurde deshalb als zweiter 1 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 193. Die dem Museum zunächst in Nürnberg zur Verfügung stehenden Räume (Thiergärtnerthorthurm, Haus am Paniersplatz) galten als eine provisorische Lösung. Verschiedene mögliche endgültige Standorte standen dabei im Raum (Feste Coburg, Wartburg), bevor sich Aufseß schließlich auf das Kartäuserkloster in Nürnberg festlegte, in das die Sammlungen und Arbeitsräume des Museums (natürlich auch die Ateliers) Ende 1857 einzogen. Zur Standortfrage als zentralem Thema der frühen Museumsgeschichte: Hektor 1863, S. 18–35. 2 | GNM-Akten, K. 4, Nr. 16 (lose eingelegt): Vertrag zwischen dem germanischen Museum und Willibald Maurer vom 18.10.1852 3 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1853, Sp. 113; ebd., Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 120.
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künstlerischer Mitarbeiter des Museums ein Gipsgießer angestellt.4 Nunmehr konnten eigene und fremde Kunst- und Altertumsgegenstände im Museum entweder abgezeichnet, graphisch kopiert oder aber in Gips abgegossen werden. Auf einer institutionalisierten Basis verschiedener Medientechniken (zunächst Zeichnung und Gipsabguß) stellten Praktiken der Reproduktion ab der Mitte der 1850er Jahre einen essentiellen Teil der Nürnberger Museumsarbeit dar. Zwischen 1854 und 1867 waren an der »Artistischen Anstalt« des Germanischen Nationalmuseums mindestens zwölf Künstler beschäftigt. Lückenlos standen dabei Zeichner im Dienst des Museums, teilweise drei zur gleichen Zeit.5 Darin zeigt sich, daß das manuelle Medium Zeichnung aufgrund seiner Flexibilität und Praktikabilität seine Bedeutung im Museum behielt – trotz aller technischen Suggestionen, die vom Gipsabguß oder der Photographie ausgingen und in Nürnberg besonders erwartungsvoll aufgenommen wurden. Neben den Zeichnern (Willibald Maurer, 1852-57; Georg Eberlein, 1855-56; Friedrich Unger, ca. 1856-1858; Martin Münz, 1857-1858; August Steinbrüchel, ab 1858) lassen sich im Aktenbestand des Germanischen Nationalmuseums drei Gipsgießer (August Schmidt, 1854-55; Heinrich Reck, 1855-56; Jean Engert, 1857-60), ein Photograph (Josef Pröckl, 1859-60) und ein Restaurator (August Erdmann, um 1859) nachweisen, sowie zwei künstlerische Inspektoren, von denen der eine (Carl Hambuch, 1856-57) zuvor als Lithograph aktiv war, der andere als Historienmaler bekannt geworden war (Jakob Eberhardt, 1859-67).6 Die zweimalige Besetzung der Stelle eines künstlerischen Inspektors, der den einzelnen Ateliers als beaufsichtigende Instanz übergeordnet war, zeugt von einem intensiven Interesse an einer anspruchsvollen, kontrollierten und auf die Zielsetzung des Museums abgestimmten Kunstpraxis – und dies bedeutete vor dem Hintergrund einer Sammlung von Sammlungen vor allem Reproduktionsarbeit, d. h. Ab- und Nachbildung historischer Objekte. Gerade weil Reproduktionspraktiken noch nicht ausschließlich auf ihre technische Dimension reduziert wurden und der darin einbegriffene künstlerische Spielraum durchaus wahrgenommen wurde, ergab sich aus der Verpflichtung der ›arbeitenden Künstler‹ auf diese künstlerische Kärrnerarbeit ein gewisses Konfliktpotential zwischen den Anforderungen des Museums und dem Selbstverständnis der beschäftigten Künstler. In den Akten, »[d]ie arbeitenden Künstler betreffend« finden sich Eingaben über die zu rigide eingeforderten Präsenz- und Arbeitszeiten im Museum, Klagen über Augenbeschwerden, die durch ständige Kopierarbeit verursacht wurden, Forderungen nach besserer Entlohnung oder größeren Kompetenzen innerhalb der muse-
4 | Der Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 169 berichtet von der Anstellung des Augsburger Bildhauers August Schmidt (siehe auch GNM-Akten, K. 3, Nr. 15, fol. 20). 5 | Zur Artistischen Anstalt: siehe unten in diesem Kapitel. 6 | Ich beziehe mich hier vor allem auf: GNM-Akten, K. 3, Nr. 15 sowie auf die Auflistungen des »Personalstatus« in den Jahresberichten des germanischen Nationalmuseums.
K APITEL 3.1 | A TELIERZEIT
alen Personalhierarchie.7 Für viele Künstler blieb das Germanische Nationalmuseum deshalb nur eine Zwischenstation. In der Rückschau erscheint die Geschichte der künstlerischen Werkstätten am Germanischen Nationalmuseum als Episode – als Atelierzeit, die verschiedene Künstler zwischen 1854 und 1867 in das Museum führte und zwischenzeitlich an dieses band.8 Diese Phase endete spätestens im September 1867 mit der Entlassung Jakob Eberhardts. Der frühere Historienmaler hatte als künstlerischer Inspektor seit 1862 ein Photoatelier im Museum betrieben, das mit seiner Entlassung aufgelöst wurde.9 Die museumseigene Gipsgießerei war bereits 1860 aufgegeben worden; der Versuch, eigene druckgraphische Werkstätten einzurichten, war längst eingestellt, die Zahl der am Museum tätigen Künstler radikal reduziert worden. Nach einer zwischenzeitlich intensiven Wechselwirkung von Reproduktionstechniken, Medienpraktiken und dem Museumskonzept wurde das Projekt museumseigener Reproduktionswerkstätten im Zuge der Reorganisation des Germanischen Nationalmuseums unter August Essenwein schließlich aufgegeben. Am Ende der Ateliergeschichte des Germanischen Nationalmuseums steht somit keine Pluralität von spezialisierten Künstlern und Medientechniken, sondern mit dem im Museumsdienst verbleibenden ›Gehilfen‹ Steinbrüchel eher ein Gelegenheitsarbeiter im Bereich der Kunst,10 in dessen Tätigkeitsspektrum sich wie in einer Sammellinse verschiedene Funktionen und Medien musealer Kunstpraktiken bündeln. Ein Bericht vom Dezember 1866 listet dessen monatliches Arbeitspensum auf: »Steinbrüchel bemalte den broncirten Gypsabguß einer vergoldeten Holzscheide, fertigte eine Zeichnung von verschiedenen Ausgrabungen, um nach denselben radiren zu können; schrieb 35 größere Etiketten in gothischer Schrift für die Auslagen, 20 Ehrenkarten und ein Diplom, war eine Woche lang im großen Kreuzgang mit Anstreichen mehrer der Grabmale beschäftigt, fertigte behuf Abdrucks die Zeichnung nach einer Photographie von einer im Anzeiger zu veröffentlichen Glasmalerei, sowie zwei Zeichnungen auf Holz für die Illustrationen der Decembernummer des Anzeigers.« 11 7 | Entnommen den verschiedenen Eingaben der am Museum tätigen Künstler (GNM-Akten, K. 3, Nr. 15 u. K. 4, Nr. 16). 8 | Der Begriff der Atelierzeit deutet auf eine temporäre Aktivität: ein Künstler nutzt Räumlichkeiten, die ihm zeitweise zur Verfügung stehen, zur praktischen Ausübung seiner Kunst. 9 | Zum photographischen Unternehmen des Germanischen Nationalmuseums und zur Rolle Jakob Eberhardts als Museumsphotograph: siehe unten, Kapitel 3.4 u. 3.5. 10 | Steinbrüchel wurde im »Personalstatus« des Museums als »Gehülfe« der Kunst- und Altertumssammlungen sowie »Kolorist« an den Kunstwerkstätten, später auch dort allgemeine als »Gehülfe« und schließlich als »Zeichner« geführt (Jahresberichte des germanischen Nationalmuseums, für 1858, 1863 und 1865 – Weitere Personalaufstellungen wurden nicht veröffentlicht). Steinbrüchel war wesentlich an der Anlage des Wappenrepertoriums beteiligt und beendete seine lange Karriere am Germanischen Nationalmuseum 1905 als Verwaltungsgehilfe (Rothenfelder 1960, S. 25f.). 11 | GNM-Akten K. 733, fol. 15.
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In der Auflistung reihen sich neben den Bild- und Textzeichnungen auch die druckgraphischen Techniken Holzschnitt und Radierung sowie die Medien Gipsabguß und Photographie ein, teilweise als Grundlage (Abgüsse, Photographien), teilweise als Ziel (druckgraphische Vervielfältigung) der Arbeiten des Museumsgehilfen Steinbrüchel. Hatte das Germanische Nationalmuseum in der Phase der Atelierzeit all diese Medien im Verbund seiner Artistischen Anstalt institutionalisieren wollen, waren sie 1866 zum Teil als eigene Medientechniken des Museums wieder verzichtbar geworden. Es ging nicht mehr um die Aneignung ihrer Technik und deren Einbindung in die Praktiken des Museums, sondern um die Aneignung anderenorts gefertigter Abgüsse und Photographien, um diese in die Sammlung einzubinden und eventuell durch Ab- oder Nachbildung für eine gedruckte Veröffentlichung herzurichten. Als Schnittstelle in diesem Mediengeflecht blieb lediglich die Zeichnung unentbehrlich. So steht am Ende der Atelierzeit des Germanischen Nationalmuseums, wie zu Beginn, ein einzelner Zeichner. Der episodische Charakter musealer Atelierpraktiken ist kein Indiz für eine geringe Relevanz für die Geschichte des Museums. Im Gegenteil: die in den Ateliers durchgeführten Reproduktionsarbeiten haben entscheidend dazu beigetragen, das im Ausgangskonzept des Germanischen Nationalmuseums noch vage gehaltene Aufgabenprofil des Museums zu konkretisieren; sie haben damit auch auf das Selbstverständnis des Museums zurückgewirkt, in dem Konzepte der Reproduktion immer deutlicher in Erscheinung traten. An der Aufgabe der Ateliers und Werkstätten (Aufgabe im doppelten Sinn) zeigt sich somit auch die Verwobenheit von medialen Praktiken und musealen Konzeptionen.
Vom Projekt zur Praxis Als ersten und – wie im Nachhinein zu bemerken ist – einzigen Band einer geplanten Reihe von »Denkschriften des germanischen Nationalmuseums« gab die literarisch-artistische Anstalt, der hauseigene Verlag des Nürnberger Museums, im Jahr 1856 das in zwei Teilbänden erscheinende Werk »Das Germanische Nationalmuseum: Organismus und Sammlungen« heraus. Museumsgründer Hans von und zu Aufseß wies dieser ersten selbständigen Publikation des Museums die Aufgabe zu, »dem deutschen Volke vor Allem ein vollständiges Bild von dem zu geben, was das Museum als deutsche Nationalanstalt sein will und wie weit es dieß zur Zeit schon geworden ist, – eine Rechenschaft über sich selbst«.12 In 284 Paragraphen zu den inneren Strukturen (Organismus) sowie durch ein komplettes Bestandsverzeichnis (Sammlungen), dessen Listen sporadisch von kurzen Einleitungstexten und wenigen Holzschnitten unterbrochen wurden, stellte sich das Museum dem Lesepublikum erstmals öffentlich vor.
12 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. VI.
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Friedrich Eggers, der den Gesamtband für das von ihm herausgegebene Deutsche Kunstblatt rezensierte, bezweifelte jedoch, das sich ein Leser durch alle Paragraphen hindurcharbeiten werde. Den öffentlich ausgestellten Willen zur Transparenz empfand er als übertrieben: dies alles sei »zwar nicht zu weitläufig ausgearbeitet, aber zu vollständig mitgetheilt«.13 Gerade im Falle des groß projektierten und sich offenkundig dynamisch entwickelnden Nationalmuseums sah Eggers den Versuch als fragwürdig an, die Dynamik des Museums durch eine frühzeitige Drucklegung und Fixierung der Organisationsstrukturen gleichsam stillzustellen. Tatsächlich überlagern sich in der Denkschrift verschiedene Zeitzustände des Germanischen Nationalmuseums. Der »Organismus« war bereits bis Herbst 1854 schriftlich erarbeitet und bald darauf von einer kleinen Kommission als Grundlage der Museumsarbeit bestätigt worden. Anfang des Jahres 1855 hatte Aufseß für den Druck einige Noten und Anmerkungen verfaßt, den offiziell anerkannten Text aber offenbar nicht mehr verändert. Zum Jahreswechsel 1855/56 wurde dann der erste Teilband veröffentlicht, der neben dem »Organismus« die literarischen Sammlungen behandelte und den Bestand vom Ende 1855 verzeichnete; die Vorrede zum zweiten Teilband datiert vom August 1856 und die darin enthaltenen Bestandskataloge der Kunst- und Altertumssammlungen geben den Stand von Sommer 1856 wieder.14 Aufgrund dieser unterschiedlichen Zeitschichten läßt sich die Denkschrift auch unter dem Gesichtspunkt des allmählichen Übergangs vom Projekt des Germanischen Nationalmuseums zur musealen Praxis betrachten. In der Historiographie des Germanischen Nationalmuseums ist der ausführliche »Organismus« frühzeitig als Ergänzung und Erweiterung der wesentlich kürzeren Satzungen dargestellt worden – mithin als konsequente Fortschreibung und Ausdifferenzierung einer bereits 1852 angelegten Museumskonzeption für die Erfordernisse der musealen Praxis.15 Brüche, Differenzen und Veränderungen zwischen diesen beiden Grundsatztexten sind hingegen kaum wahrgenommen worden. Dabei macht ihr Vergleich – gerade hinsichtlich der Etablierung museumseigener Ateliers und Werkstätten – deutlich, wie die Praktiken musealer Arbeit auf die konzeptionellen Grundsätze zurückwirkten und diese modifizierten. 13 | Deutsches Kunstblatt 8, 1857, S. 70. 14 | Zur Datierung: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1856, Sp. 264 teilt mit, daß die zweite Abteilung des »Organismus« die Druckerpresse noch im Monat August verlassen wird. Das ist also der im Bestandskatalog dokumentierte Stand der Dinge (vgl. auch Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. VIII). Die literarischen Sammlungen werden im Januar 1856 (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1856, Sp. 32) als Separatdruck inseriert, der »Organismus« bereits Ende 1854 während der ausgefallenen Jahreskonferenz von einem kleinen Kreis begutachtet. V. a. die Noten und Anmerkungen zum »Organismus« sind aber auf einem neueren Stand (wohl im Laufe des Jahres 1855 verfaßt, so wir in Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 92, Anm. 39 der »Eintritt wärmerer Jahreszeit« genannt). 15 | So Hektor 1863, S. 16 vor dem Hintergrund der für die Jahreskonferenz von 1862 vorliegenden Aufgabe einer Revision des »Organismus«.
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Das Gründungskonzept des Freiherrn von Aufseß positionierte sich in einem schriftlich fundierten Kosmos historischen Wissens. Den »Satzungen des germanischen Museums« vom August 1852 zufolge bestanden die Aufgaben des Museums vornehmlich in Schreibarbeiten für das Generalrepertorium: Praktiken des Verzeichnens und des Ordnens von Verzeichnissen nach einem schriftlich zu erarbeitenden Ordnungssystem (und dem Repertorienzettel als zentralem Medium).16 Museale Kunstpraktiken, wie sie sich später in der Einrichtung eigener Ateliers ausdrücken, finden sich in den Satzungen von 1852 noch kaum angedeutet. In bezug auf die Sammlungen ist lediglich von einer »Anschaffungen von Originalen und Copien aus den Mitteln des Museums«17 die Rede, nicht von der Herstellung von Kopien durch das Museum selbst. Einzig im Zusammenhang mit den Repertorien findet eine künstlerische Bildpraktik Erwähnung: die Skizze – und zwar als eine Art Zugabe bei der Aufgabe, eine »Aufzeichnung und, wo möglich, leichte Skizzirung aller deutschen Baudenkmale, Grab- und sonstigen Monumente« vorzunehmen.18 Gerade bei diesen monumentalen Zeugnissen der Vergangenheit, die zwar im Generalrepertorium verzeichnet werden sollten, aber kaum durch Originale oder Kopien in den Sammlungen veranschaulicht werden konnten, tritt die Skizze als zusätzliches Hilfsmittel in Erscheinung. Als eine besondere Bildpraktik, die eine Abbildung immer auf bestimmte Aspekte reduziert, bezeichnet die Skizze in konzeptioneller Hinsicht die Mitte zwischen Inventar und Illustration – zwischen den schriftlich-abstrakten Repertorien und den konkreten Bildsammlungen des Museums.19 16 | Siehe oben, Kapitel 2.2. 17 | Aufseß 1852/1978, S. 951 (§5). 18 | Aufseß 1852/1978, S. 951 (§4c): Im Gegensatz zu der Repertorisierung anderenorts gesammelter Objekte, die sich zuerst auf die handschriftlichen und noch nicht veröffentlichten Inventare solcher Sammlungen stützen (diese gleichsam in das Generalrepertorium mit seinen Listen und Verweissystemen überführen sollten), sollte das Museum bei den noch nicht museal erfaßten Quellengattungen selbst inventarisierend aktiv werden: durch »Aufzeichnung« der tradierten »Sitten, Gebräuche, Sagen und Lieder« einerseits (»soweit sie noch nicht durch den Druck bekannt sind«) und andererseits durch »Aufzeichnung und, wo möglich, leichte Skizzirung aller deutschen Baudenkmale, Grab- und sonstigen Monumente, soweit sie in die Periode gehören und noch nicht beschrieben oder abgebildet sind«. Die bereits gedruckten Materialien werden also in der Satzung von 1852 bewußt von der Inventarisierungsarbeit des Museums ausgeklammert. Ein solcher Ausschluß findet sich im »Organismus« von 1854 nicht mehr – dort bildet die Überführung der bereits gedruckten Inventare und Quellenverzeichnisse vielmehr die erste Grundlage der Repertorisierungsaufgabe (vgl. die annähernd gleichlautenden §§141 (Archiv), 174 (Bibliothek) u. 214 (Kunst- und Alterthumssammlung) in: Germanisches Nationalmuseum 1856a). Auch dieser unterschiedliche Umgang mit bereits gedruckten Verzeichnissen reflektiert eine Verschiebung vom Projekt zur Praxis. 19 | Während das Museum auch die Zeichnungen repertorisiert, die Teil seiner Sammlung sind, wird kaum geplant gewesen sein, die vom Museum hergestellten Skizzen noch einmal (als Skizzen) zu repertorisieren.
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Möglicherweise war die Idee einer systematischen Inventarisierung auswärtiger Monumente ein Beweggrund für die sehr frühe Anstellung eines Zeichners am Germanischen Nationalmuseum. Der Vertrag vom 18. Oktober 1852, der den Nürnberger Künstler Willibald Maurer als einen der ersten (wenn nicht den ersten) Mitarbeiter des Freiherrn von Aufseß an das noch nicht einmal eröffnete Museum band, enthielt zumindest genaue Regelungen für künstlerische Arbeiten außerhalb Nürnbergs.20 In der praktischen Arbeit konzentrierte sich die Aufgabe Maurers dann aber auf die eigenen Sammlungsobjekte des Museums. Aufseß resümierte die bisherige Atelierpraxis des Museums 1855 in einer Note zu den künstlerischen Mitarbeitern: »Der bisher allein stehende Zeichner hat mit Geschick und Fleiß die ihm gestellte Aufgabe gelöst, zu dem Katalog der Sammlungen, in einer Auswahl von 200 Stück, theils in ausgeführten und colorirten Zeichnungen, theils in Umrissen, Kunstbeilagen zu liefern, da es Grundsatz des Museums war, vom eigenen Hause auszugehen und mit diesem vorher ins Reine zu kommen, bevor man die volle Thätigkeit nach Außen wenden wollte.« 21
Rasch verband sich diese zunächst auf eigene Objekte gerichtete Abbildungspraxis mit Publikationsinteressen. Im August 1853 berichtete das Deutsche Kunstblatt von der unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichung eines sogenannten Prachtwerks mit Abbildungen ausgewählter Originale aus der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums (auf der Grundlage der ausgeführten Zeichnungen Maurers).22 Das Projekt kam jedoch nicht zur Ausführung, weil man eine solche Zusammenstellung von Abbildungen der mehr oder weniger zufällig zusammengekommenen Originale letztlich nicht als repräsentativ für den dokumentarischen Ansatz des Germanischen Nationalmuseums empfand; stattdessen wurde die dann auch realisierte Veröffentlichung der Organisationsstrukturen und der systematisch aufgelisteten Bestände beschlossen. Friedrich Eggers merkte dazu an, daß es darin wohl eher darum ginge, zu zeigen, wie gesammelt wird, als darum zu zeigen, was die Sammlung bereits enthält.23 Maurers aufwendige Zeichnungen von Museumsobjekten wurden nach der Zurückstellung des »Prachtwerks« schließlich 20 | GNM-Akten, K. 4, Nr. 16 (nicht eingebunden): Vertrag zwischen dem germanischen Museum und Willibald Maurer (18.Oktober 1852). 21 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 92, Anm. 39. 22 | Deutsches Kunstblatt, 4, 1853, S. 283. Die Publikationsabsicht wird in dem Bericht sehr deutlich. Die Zeichnungen, »in ausgeführten, zum Theil colorirten Abbildungen der vorzüglichsten Gegenständen der Museumssammlungen« stammten »von der geschickten Hand des am Museum angestellten Willibald Maurer« und seien inzwischen größtenteils vollendet; sie hätten bereits in Mappen an den Höfen von München und Coburg ausgelegen und dort verdienten Beifall gefunden, ja es kursierten bereits Proben davon in Kupferstich. Die zwischenzeitliche Auslage der Mappen an fürstlichen Residenzen war dabei wohl nur als provisorische Lösung gedacht, um eine druckgraphische Vervielfältigung vorzubereiten, für die man anscheinend zunächst das Medium des Kupferstichs ins Auge faßte. 23 | Deutsches Kunstblatt 8, 1857, S. 70.
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in der Kunstsammlung aufbewahrt, ohne dabei jedoch seitens des Museums ihrerseits als Kunstobjekte wahrgenommen und verzeichnet zu werden. Bis auf weiteres verblieben sie in ihren Mappen und konnten den Besuchern vorgezeigt werden – wodurch ihnen der eigentümliche Status eines Bildkatalogs der Sammlungen innerhalb der Sammlungen zufiel.24 Am unklaren Status dieser Zeichnungen Maurers zeigt sich ein für die frühen Medienpraktiken des Germanischen Nationalmuseums typischer Widerstreit zwischen Sammlungen und Repertorien, Dokumentation und Publikation, zwischen der Aneignung auswärtiger und der medialen Vervielfältigung eigener Originale durch MedienObjekte.
Gipsabguß und Zeichnung Seit Mitte 1854 begann sich aber ein breiteres Nutzungsspektrum künstlerischer Praktiken am Germanischen Nationalmuseum abzuzeichnen. Dabei spielte jedoch nicht das Medium Zeichnung, sondern der Gipsabguß die Hauptrolle. Der Gipsabguß ist zwar weniger flexibel einsetzbar als die Zeichnung, welche die Wiedergabe zwei- und dreidimensionaler Objekte erlaubt und verhältnismäßig weniger logistischer Voraussetzungen bedarf – als technisch fundiertes Reproduktionsmedium zeichnet sich der Gipsabguß jedoch dadurch aus, daß der Differenzspielraum zwischen Original und Kopie bei der Wiedergabe dreidimensionaler Objekte bereits durch das Verfahren beschränkt ist. Zudem entsteht durch die Abformung eines zu reproduzierenden Objekts immer eine Hohlform, die zur Herstellung mehrerer Abgüsse verwendet werden kann. Im Gegensatz zur Zeichnung, die ein Unikat bleibt (sofern sie nicht auf eine Druckform übersetzt wird), ist der Gipsabguß (zumindest potentiell) immer schon Exemplar einer Serie. Abgüsse, insbesondere von klassischen Skulpturen, waren seit der Frühen Neuzeit übliche und durchaus geschätzte Stücke von Kunstsammlungen. Die museumshistorisch bedeutsame Entscheidung gegen die Aufstellung von Abgüssen im Vorfeld der Einrichtung des Alten Museums in Berlin 1830 stellte eher die Ausnahme als die Regel dar.25 Dieser Ausschluß bedeutete jedoch auch in Berlin keine grundsätzliche Ablehnung dieser Medientechnik durch 24 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, §227. 25 | Kammel 2001, S. 49–58. Zur Bedeutung und Konjunktur von Gipsabgüssen im Museum des 19. Jahrhunderts auch: Vahrson 1995 (mit Schwerpunkt Berlin), Cain 1995. Aus amerikanischer Perspektive: Wallach 1998. Darin wird die Plötzlichkeit betont, mit der der Gipsabguß ab etwa 1905 an Bedeutung verliert, weil sich die Kunstmuseen jetzt in Abgrenzung zur Kopie definierten: »Yet the history of the creation and subsequent obliteration of cast collections in American art museums forms an important part of the history of the concept of art itself: for it was only through the institutionalization of the polarity between original and copy, authentic and fake, that art became irrevocably associated with notions of originality and authenticity.« (S. 39)
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das Museum – sondern traf lediglich eine Aussage in bezug auf den Stellenwert von Abgüssen in einer Museumssammlung klassischer Kunst. Im eher kunstund kulturhistorisch orientierten Konzept des Neuen Museums zu Berlin kam den Gipsabgüssen hingegen eine entscheidende Bedeutung zu. Zudem wurde der Abguß seitens der Berliner Museen intensiv als Publikationsmedium zur Veröffentlichung der eigenen Originale eingesetzt. Die Produktivität der dort eingerichteten Gipsgießerei, die regelmäßig Preisverzeichnisse der erhältlichen Abgüsse veröffentlichte, wurde in Nürnberg als vorbildlich wahrgenommen und später explizit als Modell des eigenen Ateliers für Gipsabguß genannt.26 Ein Modellbeispiel des musealen Einsatzes der Abgußtechnik hatte Freiherr von Aufseß durch die Tätigkeit des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz kennengelernt. Das Mainzer Museum war dem Germanischen Nationalmuseum nur wenige Wochen nach dessen Bestätigung im August 1852 in Dresden bei einer zweiten Versammlung des Zentralvereins der Geschichts- und Altertumsvereine in Mainz als »zweite Abteilung« eines allgemeinen Museums an die Seite gestellt worden war.27 Zwischen den Museen in Nürnberg (für das Mittelalter) und Mainz (für die »römisch-germanischen Denkmäler« der früheren Zeit) entstand durch diese Doppelgründung des Jahres 1852 ein Korrespondenz- und Konkurrenzverhältnis.28 Im Vergleich punktete das Mainzer Museum innerhalb des Zentralvereins durch eine größere Anschaulichkeit, denn wo der Nürnberger Ansatz einer lückenlosen Vereinigung verstreuter Geschichtsquellen im Generalrepertorium abstrakt blieb, setzte das Mainzer Konzept auf vollständige Zusammenstellungen der Quellen in den eigenen Sammlungen – und zwar durch systematische Reproduktion der dezentralen Originale. Im Entwurf der Mainzer Statuen wird die besondere Eignung plastischer Kopien für ein solches Unternehmen betont (etwa gegenüber der Zeichnung, aber auch gegenüber einer schriftlichen Erfassung), »weil in ihnen der objektivste Ausdruck, unverfälscht durch etwa mangelhafte Auffassung oder vorgefaßte Idee des Darstellers, gegeben wird«.29 Als Ersatz und Stellvertreter eines nicht verfügbaren Originals eröffnet die plastische Kopie, zumal für die an Schrift- und Bildquellen arme deutsche Frühgeschichte, die Aussicht auf ein nahezu vollständiges Museum:
26 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 291: »Das germanische Museum zu Nürnberg hat, neben dem Atelier für Maler und Zeichner, seit Kurzem auch eine Werkstätte für Bildhauer und Gypsgiesser errichtet, und wird von Zeit zu Zeit, nach dem Beispiel der Gypsgiesserei der kgl. preuss. Museen zu Berlin, die Preise bekannt machen, um welche die Produkte seiner Giesserei zu haben sind. Verpackung wird besonders berechnet.« 27 | Siehe die ausführliche Darstellung in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 1, 1852/53, S. 7ff. 28 | Zur Beziehung zwischen den beiden Museen, v. a. auch zur Überschneidung von Sammlungsbereichen: Menghin 1978, S. 665–671. 29 | Statuten des römisch-germanischen Museums. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 1, 1852/53, S. 26.
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P HOTOGRAPHIE ALS M EDIENTECHNIK »Erwägt man daher, daß bei keiner auch mit den reichsten Mitteln ausgestatteten Sammlung von Original-Alterthümern kaum eine annähernde Vollständigkeit erreichbar ist, so dürfte bei unserm Unternehmen in nicht allzuferner Zeit sich die sichere Aussicht eröffnen, daß statt unzureichender, in zahllosen Kupferwerken zerstreuter Darstellungen, eher ein systematisches Ganze, in plastischen, die Originale ersetzenden Nachbildungen anschaulich sich zusammenstellen läßt.« 30
Spätestens nachdem der Konservator und Leiter des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, der Künstler Ludwig Lindenschmit, während der folgenden Generalversammlung des Zentralvereins der Geschichts- und Altertumsvereine im September 1853 zu Nürnberg einige »als Facsimile colorirte Abgüsse der interessantesten Gegenstände des römisch-germanischen Centralmuseums zu Mainz« ausgestellt hatte und »die Wichtigkeit dieser Vervielfältigungen für die Förderung der deutschen Alterthumskunde« von der Versammlung ausdrücklich betont worden war,31 trat auch im Germanischen Nationalmuseum der Gipsabguß als Medientechnik des Museums stärker in Erscheinung. Hatte man in Nürnberg zunächst noch an eine Zusammenarbeit mit einer örtlichen Gießerei gedacht, machte sich das Interesse an der Einrichtung einer eigenen Gießerei (und weiterer Kunstwerkstätten) erstmals Ende 1853 im Anzeiger bemerkbar.32 Ab dem Sommer 1854 waren durch die Anmietung weiterer Räumlichkeiten die Voraussetzungen für die Einrichtung eigener Ateliers und die Anstellung eines Bildhauers und Gipsgießers gegeben.33 Ein Bericht der Allgemeinen Zeitung, den der Anzeiger im August 1854 wiedergab, belegt die Existenz der »Kunstwerkstätten des Museums für Maler und Bildhauer, wo einige tüchtige Künstler damit beschäftigt sind, sowohl für die Sammlungen des Museums, als auch für Andere, Kunst- und Alterthumsgegenstände zu copiren und in Gyps abzugiessen.«34 Gleichzeitig forcierten diese museumseigenen Ateliers eine konzeptionelle Neuausrichtung der Nürnberger Sammlungen am Mainzer Modell des Ko30 | Ebd., S. 27. 31 | Ebd., S. 26. 32 | In Nürnberg existierte mit der Gipsgießerei von Fleischmann und Rotermundt bereits ein angesehenes Atelier, das nicht zuletzt auf der Londoner Weltausstellung mit Abgüssen historischer Objekte weithin auf sich aufmerksam gemacht hatte. Kammel 2001, S. 55. Bereits in der ersten Ausgabe des Anzeigers wurde mit einem Inserat in eigener Sache »ein junger Mann gesucht, der im Abformen und Gypsabgiessen gute Uebung erlangt hat« (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1853, Sp. 24). Gleichzeitig wurde in einer Personalübersicht des Museums aufgeführt, daß Gipsabgüsse »in den Ateliers von L. Rotermundt u. Fleischmann« hergestellt werden können (ebd., ohne Paginierung). 33 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 169: »Da nun im neuen Locale Ateliers für Maler und Bildhauer eingerichtet sind, so wurde auch ein Bildhauer, August Schmidt von Augsburg, welcher längere Zeit in der Werkstätte Ludwig Schwanenthalers arbeitete, bei dem Museum angestellt. Ein Maler und Zeichner, Wilibald Maurer, ist bekanntlich schon seit Bestehen des Museums beschäftigt.« 34 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 193.
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pienmuseums. Die Sammlungen des Freiherrn von Aufseß hatten letztlich nur als vereinzelte Belege für die systematisch verzeichneten Objektgruppen und damit in ihrer Anordnung als Illustration einer bestimmten Art klassifizierenden Sammelns gedient; erst die gezielte Ergänzung durch Kopien – und vor allem der gezielte Einsatz entsprechender Reproduktionstechniken – eröffnete die Aussicht, diese Systematik auch in den Sammlungen in einer gewissen Vollständigkeit übersichtlich und anschaulich darzustellen. Woldemar Harless, der 1. Sekretär des Germanischen Nationalmuseums, steht als Verfasser des ersten Jahresberichts im August 1854 unter dem Eindruck der soeben eröffneten Ateliers und der gleichzeitigen Neuaufstellung der Sammlungen, wenn er bemerkt, daß »die Kunstwerkstätten des germanischen Museums zunächst die Bestimmung haben, für dessen Sammlungen zu arbeiten«. Originale enthielten diese Sammlungen (ausgenommen die Bibliothek) nämlich nur, »insoweit solche zum Verständniss der in möglichster Reichhaltigkeit daneben befindlichen Copieen, Beschreibungen, Umrisse und Auszüge erforderlich sind«. Die eigenen Originale würden »nur auf eine Allseitigkeit der hier einschlagenden Zweige Anspruch machen, und suchen ihre Ergänzung in Copieen u. s. w. aus fremden Sammlungen.«35 Zwischen die »Allseitigkeit« der Originale (als illustrative Belege einer systematisierten Gesamtheit) und die noch immer projektierte »absolute Vollständigkeit« der Repertorien schiebt sich die »möglichste Reichhaltigkeit« medialer Repräsentationen auswärtiger Objekte. In dieser Zwischenstellung zwischen Aufzeichnungen historischer Objekte und diesen Objekten selbst, verschaffen insbesondere die Praktiken der Reproduktion den Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums in dessen noch immer an der Idee eines Generalrepertoriums ausgerichteten Gesamtkonzept ein stärkeres Gewicht. Das historische Erkenntnispotential der Museumssammlungen beruht also für Harless auf einem spezifischen Mischverhältnis einiger eigener Originalobjekte und vieler MedienObjekte. Denn nur Reproduktionen wurde eine überzeugende Verbindung von Anschaulichkeit und Systematik zugetraut: »Es ist namentlich schon in einzelnen Zweigen durch eine Zusammenstellung zahlreicher Copieen aus verschiedenen fremden Sammlungen der Eindruck hervorgebracht, wie äusserst förderlich eine solche Art der Vereinigung des zerstreuten Materials zur deutschen Kunstund Alterthumsgeschichte werden muss. Das Museum sucht gerade mit der Zeit hierin etwas zu erringen, was bis jetzt noch nicht irgendwo vollkommen durchgeführt worden ist, wenn gleich bedeutende Anfänge hiezu bei verschiedenen Museen gemacht sind. Das germanische Museum hat zur weiteren Durchführung dieser wichtigen Angelegenheit eine eigene Gypsgiesserei, sowie ein Zeichnungsatelier gegründet und hiefür Künstler angestellt, welche bereits eine ziemliche Zahl von Copieen anfertigten, die auch zum Austausche mit anderen Sammlungen bestimmt sind.« 36
35 | Erster Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1854), S. 7f. 36 | Ebd., S. 8.
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Die Möglichkeit des Tauschs mit Abgüssen anderenorts aufbewahrter Originale, markiert die Schnittstelle zwischen den Funktionen der Vervielfältigung eigener Bestände durch Medientechniken und der Aneignung fremder Bestände durch MedienObjekte.37 Auf der Grundlage dieser eigenen Reproduktionstätigkeit konnte Aufseß auf der dritten Generalversammlung der Geschichts- und Altertumsvereine im September 1854 in Münster eine Tauschvereinbarung mit dem RömischGermanischen Zentralmuseum erwirken38, dessen Leistungen auf diesem Gebiet abermals als vorbildliche Arbeitsgrundlage eines Museums gelobt wurden. Neben der Abgußtechnik als solcher wurde dabei vor allem die künstlerische Kolorierung hervorgehoben, die durch materialillusionistische Effekte die Originale geradezu vergessen machte: »Es wurde allseitig anerkannt, wie durch eine so täuschende Nachahmung, oder gleichsam Reproducierung der Originale selbst, sich nach und nach eine systematisch geordnete Sammlung des Besten und Seltensten aus allen Museen bilden lasse, die an einem Orte vereinigt ein Material für das Studium der Archäologie abgiebt, wie es kein Museum der Welt, wäre es auch mit den ungemessensten Mitteln ausgestattet, den Gelehrten darzubieten vermag.« 39
Wo sich die Arbeit in Mainz aufgrund der vorhandenen Materialien zur Geschichte des »römisch-germanischen« Altertums aber im Wesentlichen auf gegenständliche Objekte und damit reproduktionstechnisch auf den Gipsabguß beschränken konnte, benötigte man in Nürnberg eine breitere Basis an Medientechniken. Nicht alle Quellenmaterialien, für die sich das Germanische Nationalmuseum zuständig fühlte, ließen sich durch Gipsabguß reproduzieren. Die Zeichnung blieb deshalb als zweites Standbein der musealen Werkstätten unverzichtbar. Es zeigt sich allerdings, daß diese mediale Konstellation die musealen Gebrauchsweisen des Mediums Zeichnung beeinflußte. Mit der parallelen Einrichtung zweier Ateliers für Zeichnung und Gipsabguß im Sommer 1854 treten Kopierpraktiken (die beim Gipsabguß technisch determiniert sind) auch bei der Zeichnung (wo dies nicht der Fall ist) stärker in den Vordergrund. Zeitgleich mit dem Inserat des ersten Preisverzeichnisses der Gipsabgüsse rief Freiherr von Aufseß im Namen des Germanischen Nationalmuseums im Anzeiger (parallel dazu aber auch im Deutschen Kunstblatt) alle deutschen 37 | Deshalb steht es der im Jahresbericht genannten Ausrichtung der Reproduktionsarbeiten an möglichst reichhaltigen Sammlungen nicht entgegen, wenn ein »Erstes Preisverzeichnis von Gyps-Abgüssen im germanischen Museum« vom November 1854 bei einer Liste von zwölf Abgüssen von Reliefs, Statuetten und Gerätschaften zehnmal das Museum selbst als Besitzer der reproduzierten Objekte aufführt. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 291; die zwei übrigen Objekte stammten aus der Stadtkirche zu Lichtenfels. Manche der aufgeführten Objekte sind nachträglich als Fälschungen entlarvt worden (Kahsnitz 1978, S. 714). 38 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 246. 39 | Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 3, 1854/55, S. 34.
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Künstler und Architekten, die im Besitz genauer Zeichnungen oder flüchtiger Skizzen von Kunst- und Altertumsgegenständen seien, dazu auf, »die von ihnen aufbewahrten Schätze dem german. Museum zum Zwecke des Copirens durch seine eigenen Künstler eine kurze Zeit, die sie selbst bestimmen mögen, anvertrauen zu wollen«.40 Der Aufruf erweitert den in den Satzungen nur angedeuteten Gedanken bildlicher Inventarisierung. Nun heißt es: »Eine der Hauptaufgaben des Museums ist nämlich, ein Generalrepertorium über sämmtliche deutsche Kunst- und Alterthums-Denkmäler, so viel möglich begleitet von ausgeführten oder skizzirten Zeichnungen derselben, anzulegen.«41 Die Zeichnung (und mit ihr die Darstellungstechnik der Skizze) tritt damit noch einmal als ein Medium der Inventarisierung auf, der systematischen Erfassung eines gegebenen Objektbestandes. Aber nicht die Zeichner des Museums sollen diese Erfassungsarbeit leisten, sondern es sollen bereits existierenden Zeichnungen als zeitweise Leihgaben in der eigenen Kopierwerkstatt durch systematische Reproduktion (Durchzeichnungen) dauerhaft für die Sammlungen des Museums gesichert werden. Obwohl der Aufruf angeblich schnell Wirkung zeitigte42 , stellte sich die Reaktion – gemessen an den Vollständigkeitsphantasien, die Freiherr von Aufseß seiner Gründung eingeschrieben hatte – als ein Strohfeuer heraus. Ein gutes Jahr später (der erste Teilband des »Organismus« war soeben veröffentlicht worden) brachte der Anzeiger den Aufruf noch einmal in Erinnerung: »Würden sämmtliche Künstler und Architekten Deutschlands sich in ächt patriotischer Weise bewogen finden, unserm bereits im Kunstblatte ausgesprochenen Wunsche nachzukommen und ihre gesammelten Skizzen deutscher Kunstdenkmäler, die sie nicht selbst zu veröffentlichen beabsichtigen, zum Copiren für die Sammlungen des Museums mitzutheilen, es müßten in Jahresfrist dieselben schon in solcher Fülle dastehen, daß sie jeden Freund deutscher Kunst und Alterthums in Bewunderung versetzen würden. Erst dadurch, daß das Museum von Allem, was in seinen Bereich gehört, durch gute Skizzenzeichnungen Kenntniß erlangt, ist es möglich, daraus das Beste und Wesentlichste für Kunstgeschichte auszusuchen und genau an Ort und Stelle copiren zu lassen.« 43
Die Abbildungen (Skizzen zwei- oder dreidimensionaler Kunstdenkmäler) und die Kopien (Zeichnungen zweidimensionaler Vorlagen oder Abgüsse dreidimensionaler Objekte) stehen in diesen Planungen für zwei unterschiedliche Ebenen musealer Selektion. Während die Skizze als Inventarisierungsmedium dazu dienen soll, einen gegebenen Objektbestand möglichst vollständig zu erfassen, ist die genaue Kopie eines historischen Objekts für das Museum das Instrument einer repräsentativen Auswahl.
40 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 291f.; Deutsches Kunstblatt 5, 1854, S. 410. 41 | Ebd. 42 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1854, Sp. 312. 43 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1856, Sp. 19.
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Die Artistische Anstalt des Museums Im Germanischen Nationalmuseum wird das Potential der Reproduktion nicht nur in der Eingliederung von MedienObjekten (Kopien, Abbildungen) in die Sammlungen gesehen, sondern seit 1854 auch in der gezielten Eingliederungen entsprechender Medientechniken in die Arbeiten (die Hauptaufgabe) des Museums. Die im Paragraphenwerk des »Organismus« 1854 verfaßten Bestimmungen für eine Artistische Anstalt im Museum lassen erkennen, welche Funktionen Medien in der Konzeption des Germanischen Nationalmuseums inzwischen zugeschrieben wurden. Als eine selbständige Abteilung im Organismus des Germanischen Nationalmuseums sind in der Artistischen Anstalt unter der Leitung des Vorstands der Kunst- und Altertumssammlungen die Kunstwerkstätten des Museums gemeinsam organisiert. Ausgehend vom 1854 erreichten status quo (Gipsabguß und Zeichnung) zielt die Abteilung auf eine Integration möglichst vieler unterschiedlicher Medientechniken, für die das Museum zunächst noch auf die Zusammenarbeit mit externen Werkstätten angewiesen war: »Die artistische Anstalt besteht in einem Atelier für Bildhauer und Gießerei, in einem Atelier für Zeichner und Maler und in einer Werkstätte für Restaurationen und Reinigung von älteren Kunstwerken. Daneben bestehen noch außerhalb der Localitäten des Museums die noch nicht zu ausschließlichen Museumsateliers gediehenen fremden Ateliers von Xylographen, Lithographen, Photographen und Graveuren, welche für Rechnung und unter Leitung des Museums die einschlagenden Arbeiten zu fertigen haben.« 44
Die damit in ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Gestalt umrissene Artistische Anstalt soll einem »dreifachen Zweck« dienen. Es geht um die Vervielfältigung eigener Originale für Veröffentlichungen oder Tauschvorgänge, um das Kopieren fremder Objekte zur Eingliederung in die eigenen Sammlungen und schließlich darum, durch Auftragsarbeiten und Verkäufe Einkünfte zu erzielen.45 Der letzte Punkt, so wird später ausgeführt, »findet sich gleichsam von selbst, wenn die beiden ersten Zwecke auf gute Weise verfolgt werden«.46 Die zentralen Funktionen sind also erstens die mediale Streuung der eigenen Originale durch deren Vervielfältigung (Publikation) und zweitens die medi44 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, §225. Auffällig ist das Fehlen des Kupferstichs; hier hegte das Germanische Nationalmuseum offenbar keine eigenen Ambitionen. 45 | Ebd., §226: »Da die artistische Anstalt des Museums den dreifachen Zweck hat, einmal die Originalien der Sammlungen des Museums zu vervielfältigen, um sie dem Publicum zur Anschauung zu bringen und durch Austausch der Copien andere Gegenstände für die Sammlungen zu erwerben, dann diese Sammlungen durch Copirung fremder Kunst- und AlterthumsGegenstände zu bereichern, endlich durch Verkauf der Erzeugnisse der Ateliers und Vollziehung auswärtiger Aufträge die Kosten der Unterhaltung der Anstalt zu decken, wenigstens möglichst zu vermindern, so hat der Vorstand seine Thätigkeit in diesen drei Richtungen zu entfalten und keine derselben außer Augen zu lassen.« 46 | Ebd., §229.
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ale Konzentration eines materiell über verschiedene Sammlungen zerstreuten Bestandes durch dessen Kopien (eine gegenständliche Form der Inventarisierung). Vervielfältigt werden sollen jedoch keine beliebigen Originale, sondern »die hervorragendsten und interessantesten Gegenstände der Kunst- und Alterthums-Sammlungen des Museums«, für die das jeweils geeignete Reproduktionsverfahren auszuwählen sei.47 Für die Herstellung von Kopien anderenorts aufbewahrter Originale soll zunächst versucht werden, solche »für das Museum zum Zwecke des Copirens anvertraut zu erhalten«.48 Eine systematische Inventarisierung auch derjenigen Objekte, die nicht im Museum, sondern nur »durch die Künstler des Museums, als durch hiezu beauftragte Fremde«49 kopiert werden können (inklusive der immobilen größeren Skulpturen und Bauwerke) wird jedoch zurückgestellt, bis eine entsprechende Übersicht über das vorhandene Material im Generalrepertorium erreicht ist. »[I]ndem es nicht im Plane liegt, Alles, was existirt, genau abzeichnen und abformen zu lassen, sondern nur das Wesentliche hievon, wenigstens bezüglich mancher Zweige, die in großen Massen oft unbedeutender Verschiedenheiten bestehen, so sind diese auswärtigen Arbeiten erst dann in vollen Angriff zu nehmen, wenn das Generalrepertorium über dieselben eine ziemliche Vollständigkeit erreicht haben wird.« 50
Aufgeschoben wird damit allerdings lediglich der systematische Zugriff auf das Material. »Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, nach dem Maße der vorhandenen Kräfte vorläufig auswärts diese Arbeiten bei solchen Dingen zu beginnen, welche ohne Zweifel als wesentliche und nothwendige Bestandtheile der Museumssammlungen anzuerkennen sind. Dieß gilt namentlich rücksichtlich der Zeichner und Photographen von den bekannten Seltenheiten der Kupferstiche, Holzschnitte, Handzeichnungen, Gemälde und ausgezeichneter Baudenkmäler, rücksichtlich der Gypsformatoren von den ausgezeichnetsten Stein- und Holzsculpturen, Siegeln, Medaillen, Elfenbeinschnitzwerken u. dgl.« 51
An diesem letzten Abschnitt ist interessant, daß hier neben der Zeichnung erstmals auch die Photographie in einer funktionalen Bestimmung für das Museum in Erscheinung tritt – und zwar nicht als universales Vervielfältigungs- und Publikationsmedium, sondern als Kopier- und Inventarisierungsmedium innerhalb eines medialen Ensembles, das zunächst noch durch die Medien Zeichnung und Gipsabguß dominiert wird. Analog zur Zeichnung wird der Photographie eine Eignung für die Reproduktion von Graphik und Malerei attestiert, sowie für die Abbildung von Baudenkmälern – genau für 47 | Ebd., §227. 48 | Ebd., §228. 49 | Ebd. 50 | Ebd. 51 | Ebd.
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jene Gegenstandsbereiche also, an denen der dreidimensionale Gipsabguß (als das in allen anderen Bereichen noch immer prädestinierte Medium musealer Repräsentation) nicht eingesetzt werden kann.
»Gesammtrepräsentation in effigie« – die medieneuphorische Vision eines Reproduktionsmuseums Das Auftauchen der Photographie als MedienObjekt am Germanischen Nationalmuseum intensivierte die Auseinandersetzung mit dem Potential von Reproduktionen im Museum. Im Verbund mit anderen Techniken und Praktiken, die um 1855 die etablierten Unterschiede von Original und Kopie, Abbildung und Nachbildung, Kunst und Technik zwischenzeitlich ins Wanken brachten, trug die Photographie dazu bei, die Idee des Nationalmuseums als Museum optimaler Kopien neu zu durchdenken. In der Begeisterung für die neueren Reproduktionstechniken, kam der damalige erste Sekretär Johannes Müller im Jahresbericht für 1855 zu einer geradezu euphorischen Einschätzung ihrer Bedeutung für das Museum. Der Text ist ein Lobgesang auf die technische Reproduktion, der es lohnt, als längeres Zitat wiedergegeben zu werden: »Von ebenso großer Bedeutung wie die Gypsabgüsse sind auch die Photographieen für das Museum, insbesondere zur Herstellung von Facsimiles der Handschriften, Holzschnitte und Kupferstiche, theilweise für Sculpturen und Gemälde. Es sind dergleichen, zum Theil vortrefflich ausgeführt, in die Sammlungen aufgenommen worden. Das Museum beabsichtigt, eine eigene photographische Anstalt zu begründen, sobald es Raum dazu hat, und steht bereits mit einem der bedeutendsten Photographen in Unterhandlung. Nicht minder hat das Museum zur Vermehrung seiner Sammlungen sein Augenmerk auf die übrigen Erfindungen unserer Zeit zur getreuen Copirung von Kunst- und Alterthumsgegenständen gerichtet und wird nach dem Maße seiner Mittel und Kräfte solche in Anwendung bringen. So steht es im Begriffe, Einrichtungen für galvanoplastische Apparate und Naturselbstdruck zu machen, auch hat es sich mit dem Erfinder der unübertrefflichen Nachahmung von Webstoffen und Stickereien in Benehmen gesetzt, um aus diesen kostbaren Reliquien unserer Vorzeit einen reichen Schatz sich zu verschaffen. Nehmen wir diese Erfindungen unserer Zeit zusammen, die Abformung in Gyps durch elastische Formen, die Photographie, die Galvanoplastik, den Naturselbstdruck mit der wahrscheinlich verwandten, noch als Geheimnis behandelten Kunst der Nachbildung von Webstoffen und Stickereien, so müssen wir wohl gestehen, daß keine Zeit geeigneter war, ein Museum zu begründen, welches alle Dokumente der Vorzeit in getreuer Copie in sich vereinigen soll, als die unsrige, indem vorzüglich durch diese Erfindungen dies ermöglicht ist, daß es aber gerade hiezu die höchste Zeit war, indem durch die fast zur Wuth gesteigerte Liebhaberei für deutsche Kunst- und Alterthumsschätze kein Winkel verborgen ist, um nicht den letzten Rest derselben hervorzusuchen und in’s Ausland zu verkaufen. Ist Deutschland nicht reich genug, dieser Auswanderung zu steuern, so möge es doch wenigstens dem Nationalmuseum Mittel geben, sich Copieen zu verschaffen, welche durch Vervielfältigung jedem Freunde deutscher Kunst und Geschichte auch wieder zu gut kommen können. Es ist schon oft un-
K APITEL 3.1 | A TELIERZEIT sererseits ausgesprochen worden und kann nicht oft genug wiederholt werden, daß es dem Museum für die Zwecke der Wissenschaft und Erkenntniß der Zustände der Vorzeit genügt, von Allem, was hiezu dient, nur getreue Copieen zu besitzen, Originalien nur in so weit als solche zur Erklärung der Copieen nöthig sind. Dieser Standpunkt ist auch stets fest gehalten worden und muß bei Durchwanderung und Beurtheilung der Sammlungen des Museums im Auge behalten werden, deren Reichthümer nicht nach dem Gewicht des Silbers und Goldes gewogen, nicht durch Schmälerung der Sammlungen von Staaten und Privatbesitzern zusammengehäuft werden sollen, sondern nur im getreuen Abbild der Herrlichkeit und Mannigfaltigkeit deutscher Kunstschöpfung, sowie die noch wenig erkannten Zustände deutschen Lebens in der Vorzeit offenbaren sollen. Deren Gesammtrepräsentation in effigie ist Zweck der Sammlungen des germanischen Museums.« 52
Müller konzentriert sich in diesem Abschnitt seines Jahresberichts zunächst ganz auf die »Erfindungen« der Zeit und damit auf die technische Dimension der Reproduktion. Am Anfang stehen Gipsabgüsse – der Modellfall technischer reproduzierter Objekte im Museum. Hier hatte das Konzept der Eingliederung täuschend echter Ersatzobjekte als »bedeutender Fortschritt«53 der musealen Medienpraktiken zuerst eingeschlagen. Als erstes dieser neuen Medien kommt hier die Photographie in den Blick. Als MedienObjekte waren Photographien bereits in die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums eingegliedert worden; ihr Potential, als Ersatzobjekte nicht verfügbarer Originale zu dienen, hatte sich dabei als vielversprechend erwiesen – insbesondere dort, wo die Annäherung an die Erscheinungsform des Originals besonders weit getrieben werden konnte: bei »Facsimiles der Handschriften, Holzschnitte und Kupferstiche«. Die Eingliederung entsprechender MedienObjekte (sofern sie »vortrefflich ausgeführt« waren) in die Sammlung weckte das Interesse an der Aneignung der dafür notwendigen Medientechnik. Die getreue photographische Kopie erscheint als Resultat aus einem Zusammenspiel von Techniken und Praktiken, das das Germanische Nationalmuseum als Akteur der Reproduktion selbst organisieren möchte (durch die Einrichtung logistischer Voraussetzungen und die Anstellung eines geeigneten Praktikers). Der Photographie werden im folgenden eine Reihe weiterer Reproduktionsverfahren an die Seite gestellt: Naturselbstdruck, Galvanoplastik und eine geheimnisvolle Erfindung zur »unübertrefflichen Nachahmung« von Textilien.54 Gerade der Verbund all dieser Medien wird als kongeniale Ergänzung zum Konzept des Germanischen Nationalmuseums gefeiert, das sich damit auf der Höhe der Zeit präsentiert. Die Gegenwart erscheint dank der zukunftsweisenden Reproduktionstechnik als der prädestinierte Zeitpunkt, um die Vergangenheit wiederzuentdecken. Mediale Konstellationen, Medienpraktiken und museale Konzepte stehen 1855 in einer dynamischen Relation: die besondere Wertschätzung techni52 | Zweiter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855), S. 10f. 53 | Ebd., S. 13. 54 | Gemeint sind hier die Textilkopien Julius Glinskys. Siehe unten, Kapitel 3.2.
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scher Reproduktionsmedien ergibt sich zwar zum Teil aus der Gründungskonzeption des Germanischen Nationalmuseums; das erst allmählich deutlicher erkennbar werdende Potential technischer Reproduktionen trägt aber zur Veränderung dieser Konzeption bei und wird zur zentralen Grundlage einer neu akzentuierten Sammlungsstrategie. Die Sammlungen emanzipierten sich durch diese neue Ausrichtung von ihrer illustrativen Unterordnung unter die Repertorien. Denn mit dem Plan einer »Gesammtrepräsentation in effigie« hatte sich das Ziel der musealen Sammlungen immer mehr dem Ideal der Vollständigkeit angenähert, das anfänglich allein den schriftlichen Repertorien zugedacht war. Die projektierte Reichweite und damit die Bedeutung der musealen Sammlungen innerhalb der Konzeption des Germanischen Nationalmuseums war in wenigen Jahren der Museumspraxis konsequent erweitert worden: von der »Allseitigkeit« illustrativer Belege über die »möglichste Reichhaltigkeit« einer repräsentativen Auswahl bis zur »Gesammtrepräsentation in effigie«. Müllers Jahresbericht enthält damit eine konsequente Ausformulierung der Vision eines Reproduktionsmuseums.
Die Vielfalt der Vervielfältigungen Innerhalb der Medienvielfalt konnte die Auswahl des Verfahrens jeweils auf die Funktion abgestimmt werden, die den MedienObjekten zukam – sei es die Vervielfältigung eigener Originale (mediale Streuung des materiell im Museum konzentrierten Bestandes) oder die Aneignung auswärtiger Originale (mediale Konzentration eines materiell zerstreuten Bestandes). Die Vielfalt von Medientechniken sollte gewährleisten, daß dabei jeweils das besonders geeignete Medium eingesetzt werden konnte. Weit entfernt von einer naiven Indifferenz gegenüber materiellen und medialen Unterscheidungen,55 entsprach diese angestrebte Pluralität einem durchaus differenzierten Verständnis von Medialität. Als Beispiel für diese Vervielfältigungs-Vielfalt soll eine Kleinplastik aus Elfenbein dienen – ein Relief in durchbrochener Arbeit, ein Reitergefecht darstellend.56 Als Teil der Aufseß’schen Sammlungen zählte dieses Objekt zu den frühesten Exponaten des Germanischen Nationalmuseums. Die mehrfache Wiedergabe des Elfenbeinreliefs im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist ein Ausdruck der Bedeutung, die diesem Objekt zugeschrieben wurde. Bis 1857 war das Objekt mehrmals als Holzschnitt abgedruckt, als handkolorierter Kupferstich publiziert und als Gipsabguß reproduziert worden. Die jeweils gewählte Art der Vervielfältigung war dabei von unterschiedlichen Publikationsabsichten abhängig: Für eine Illustration im monatlich gedruckten Anzeiger oder im Bestandskatalog der Sammlungen galten andere Erwägungen 55 | Eine entsprechende Einschätzungen vertritt z. B. Ernst 1998, S. 43. Für die Projekte der Repertorisierung zutreffend, werden damit aber gegenläufige Tendenzen der Reproduktionspraxis vernachlässigt. 56 | Signatur: Pl.-O. 395.
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Abb. 7: Elfenbeinrelief, Holzschnitt, publiziert 1855 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg als bei der Wiedergabe in einem aufwendigen Tafelwerk (sogenanntes Prachtwerk) oder für eine Einzelveröffentlichung, wie sie vor allem bei Abgüssen möglich war. Der Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit erschien im dritten Jahrgang 1855 »in verbessertet Form und ausgestattet mit Holzschnitten«57. Dies erforderte künstlerische und technische Zusammenarbeit: Willibald Maurer zeichnete die Abbildungen der Objekte spiegelverkehrt auf die Holzstöcke, der Holzschneider A. Rühling schnitt daraus die fertigen Hochdruck-Vorlagen, die Sebald’sche Buchdruckerei setzte diese zusammen mit den BuchdruckTypen in eine drucktaugliche Form und druckte den illustrierten Text ab. Diese Illustrationen waren zunächst spärlich: meist enthielt jede monatliche Ausgabe einen Holzschnitt nach einem Objekt des Museums. In der ersten Ausgabe von 1855 wurde (als erster publizierter Holzschnitt des Anzeigers überhaupt) das Elfenbeinrelief mit der Darstellung des Reitergefechts wiedergegeben (Abb. 7).58 Die Wiedergabetechnik des Holzschnitts erforderte schon bei der Vorzeichnung eine Konzentration auf die Umrißlinien, die durch einige Schraffuren ergänzt wurden. Im Zusammenhang des Sammlungsberichts 57 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 17. 58 | Ebd., Sp. 8.
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erschien diese stilisierende Wiedergabe der Objektgestalt völlig ausreichend. Der Text ergänzte das im Bild Fehlende: beschrieb die Plastizität der gewölbten Oberfläche und die am Original sichtbaren Spuren einer früheren Farbfassung. Vor allem aber war die Hochdrucktechnik des Holzschnitts das geeignete Verfahren, um Text und Bild gemeinsam wiederzugeben; Abbildung und Beschreibung konnten sich daher unmittelbar aufeinander beziehen. Das Elfenbeinrelief wurde auch deshalb bildlich und textlich aus dem Bestand hervorgehoben, »weil dasselbe in seiner Erscheinung etwas Rätselhaftes hat, welches bei den anderen sich nicht findet«.59 Das Rätsel beruhte vor allem auf der merkwürdig abgeschrägten Form des Zierreliefs, die nicht erahnen ließ, was dieses Objekt früher einmal verziert haben sollte. Im Zusammenspiel von Abbildung und Beschreibung wurden Leser und Betrachter zur Klärung dieser Frage eingeladen: »Könnte wohl jemand hierüber Aufschluß geben?«60 Die Illustration hebt ein Objekt aus dem Sammlungsbestand hervor. In diesem Fall nicht so sehr, weil das Elfenbeinrelief als eine herausragende künstlerische Arbeit betrachtet worden wäre – sondern weil es eine seltene Erscheinung war, für deren Einordnung das Germanische Nationalmuseum eine größere Öffentlichkeit mobilisieren wollte. Eine solche Veröffentlichung in Bild und Wort generiert aber auch Interesse, schreibt einem Objekt Bedeutung zu und bildet sie ab. Zwar wurde über die aufgeworfene Frage mehr spekuliert als Klarheit geschaffen61 – der Abdruck im Anzeiger verschaffte dem rätselhaften Objekt jedoch eine öffentliche Sichtbarkeit, die (anders als bei den meisten anderen Objekten der Sammlung) über den Raum des Museums hinausreichte. Wenn dieses Elfenbeinrelief »lange Zeit als besonderer Ruhmestitel der Sammlung«62 galt, ist dies wohl nicht nur der Rätselhaftigkeit zuzuschreiben, der Kunstfertigkeit oder der historischen Bedeutung, die diesem später zugeschrieben wurde – sondern auch der frühzeitig einsetzenden Zirkulation von Abbildungen und Nachbildungen. Die mediale Präsenz bestimmter Objekte stimuliert weitere mediale Repräsentationen, die den herausgehobenen Status verfestigen. Die hergestellten Druckvorlagen verblieben in Museumsbesitz und konnten bei verschiedenen Publikationen wiederverwertet werden. Im Bestandskatalog von 1856 wurde der Holzschnitt erneut als einzige Illustration der Sammlungsabteilung der Auflistung von Zierarbeiten in Elfenbein, Bein und Horn vorangestellt.63 Auch später wurde immer wieder auf den vorrätigen Holzstock zurückgegriffen, wenn eine Auswahl von Sammlungsobjekten präsentiert werden sollte: so unter anderem in den verschiedenen Auflagen des »Wegweisers durch die Sammlungen« (1860-1865)64, in Essenweins Bilderatlas »Kunst- und kultur-
59 | Ebd. 60 | Ebd., Sp. 9. 61 | Vgl. Bösch/Leitschuh 1890, S. 20: »irgend einen Gerätes, etwa einer Schwertscheide«. 62 | Kahsnitz 1978, S. 713. 63 | Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. 88. 64 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. 36.
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geschichtliche Denkmale des Germanischen National-Museums« (1877)65 sowie im »Katalog der im germanischen Museum befindlichen Originalskulpturen« (1890)66. Aber auch beim Einsatz anderer Vervielfältigungsmethoden bediente sich man sich innerhalb und außerhalb des Museums besonders gerne des Vorrats an Objekten, die bereits durch MedienObjekte öffentlich repräsentiert waren.67 Die Bedeutungsspirale aus medialer Vervielfältigung und musealer Wertschätzung wurde auch intermedial vorangetrieben. 1857 erschien der zweite Band des aufwendig produzierten Tafelwerks »Kunstwerke und Geräthschaften des Mittelalters und der Renaissance«, dem mit Recht der Ehrentitel eines »Prachtwerks« zugeschrieben wurde68. Unter den handkolorierten Kupferstichen, die Objekte aus unterschiedlichen öffentlichen und privaten Sammlungen wiedergaben, befand sich auch eine Abbildung des rätselhaften Elfenbeinreliefs (Abb. 8).69 Die Miniaturmalerei, die als manuelle Vorlage diente, stammte wiederum vom Museumszeichner Willibald Maurer aus dessen Vorarbeiten für das 1853 zwischenzeitlich vom Germanischen Nationalmuseum selbst geplante »Prachtwerk«.70 Der Kupferstecher Johann Klipphahn übertrug Maurers Miniaturmalerei des Elfenbeinreliefs auf die Kupferplatte, stach und druckte die Druckvorlage. Die Bildtafel wurde anschließend von einem unbekannten Koloristen handbemalt – eine zeitaufwendige Arbeit, die bei jedem Exemplar von neuem auszuführen und deshalb nur bei einer relativ kleinen Auflage möglich war. Eine solche Wiedergabe ermöglichte eine informativere und detailreichere Abbildung als ein auf Umrisse und Schraffuren beschränkter Holzschnitt. Die farbige Gestaltung brachte aber im Vergleich zum Holzschnitt etwa die durchbrochene Form des Reliefs viel deutlicher zum Ausdruck. Bei den textgebundenen Illustrationen im Holzschnittverfahren stand die Quantität der Vervielfältigung und die Möglichkeit der Kontextualisierung von Text und Bild im Vordergrund – in einem Tafelwerk hingegen kam der Qualität der einzelnen Abbildung eine wesentlich größere Bedeutung zu. Die Bildtafeln, die meist nur ein einzelnes 65 | Essenwein 1877, Tafel 26. 66 | Bösch/Leitschuh 1890, S. 20. Auch externe Publikationen benutzten den Holzschnitt zu Illustrationszwecken, z. B. Bergner 1906, S. 464. 67 | Vgl. die Holzschnitte in den Publikationen des Germanischen Nationalmuseums (und deren selektive Zusammenstellung in Essenwein 1877), die Preisverzeichnisse der Gipsabgüsse und das Publikationsunternehmen der »Photographieen aus dem germanischen Museum«. 68 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. 48. 69 | Becker/von Hefner-Alteneck 1857. Abbildung des Elfenbeinreliefs als Tafel 10 (Signiert: »I. K. sc.«). 70 | Deutsches Kunstblatt 4, 1853, S. 283. Dort werden auch Proben in Kupferstich erwähnt. Parallel suchte das Museum nach einem Druckgraphiker, der mit der neuen Technik der Farblithographie (Buntdruck) vertraut war. In Verhandlungen mit dem Lithographen Valentin Schertle, der dem Germanischen Nationalmuseum 1853 seine Dienste anbot, wurde auf die Erfahrungen mit Buntdruck besonderer Wert gelegt (vgl. GNM-Akten, K. 5, Nr. 13, fol. 5-6 und 10-11.)
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Abb. 8: Elfenbeinrelief, kolorierter Kupferstich, Johann Klipphahn, publiziert 1857 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Objekt wiedergaben, wurden als separater Teil des Buches meist mit einem kurzen Textteil zusammengebunden. Im Gegensatz zur illustrierten Zeitschrift oder zum Katalog lag der Schwerpunkt allerdings auf den Bildbeigaben. Die Tafeln betonten die ästhetische Wirkung der abgebildeten Objekte, indem die Bilder isoliert präsentiert wurden. Die Druckränder der Tief- und Flachdruckverfahren bildeten eine Rahmung inmitten der Buchseite, die den Blick zusätzlich fokussierte. Auch Gebrauchsgegenstände (»Geräthschaften«) erschienen in diesem Kontext der Präsentation kunstförmig.71 Auch bei der Serie der »Photographieen aus dem germanischen Museum«, die 1865/66 von Museumsphotograph Jakob Eberhardt in Anknüpfung 71 | Ähnlich einem Effekt moderner Kunstmuseen. Svetlana Alpers beschreibt das Museum aufgrund seiner Geschichte, Tradition und kulturellen Bedeutung in der westlichen Welt als ein Ort, an dem Dinge auf eine bestimmte Art und Weise gesehen werden – als Objekte visuellen Interesses (»objects of visual interest«). Der Museumseffekt (»the museum effect«) isoliert Dinge aus ihrem Kontext und präsentiert sie als visuelle Objekte für aufmerksame Betrachtung. Da diese Betrachtung unserem traditionellen Umgang mit Werken der Kunst entspricht, kann man sagen: Der Museumseffekt transformiert Dinge in Kunstwerke, bzw. macht Dinge kunstförmig und wie Kunstwerke betrachtbar (Alpers 1991, S. 26f.).
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an die Publikationsform der Tafelwerke angefertigt wurde, zählte das bereits durch unterschiedliche Veröffentlichungen bekannte Elfenbeinrelief zu den ausgewählten Objekten (Abb. 9)72. Ebenso bei der ersten photomechanischen Wiedergabe (durch Autotypie) in Walter Josephis Katalog der plastischen Sammlung von 1910 (Abb. 10).73 Für dieses Objekt bot sich auch der Gipsabguß als geeignetes Medium der Vervielfältigung an. Bald nach der Einrichtung einer eigenen Gipsformerei am Germanischen Nationalmuseum wurde das Relief abgeformt, die Hohlform ausgegossen und die daraus resultierenden Abgüsse zum Verkauf oder zum Tausch angeboten.74 Auch unter den Gipsabgüssen des Germanischen Nationalmuseums sind vor allem Reproduktionen derjenigen Objekte zu finden, die bereits (zum Beispiel durch Illustrationen) medial präsent waren. Im Vergleich zu den graphischen und photographischen Verfahren der Vervielfältigung boten Gipsabgüsse zwar kaum Möglichkeiten für eine gezielte Verknüpfung mit anderen MedienObjekten und erläuternden Texten – andererseits erübrigte der Abguß als formale Nachbildung der Oberfläche des Objekts manche Erläuterungen durch seine besonders anschauliche und (im Wortsinn) begreifbare Erscheinung. Für einen Käufer ergab sich durch die Anschaffung eines Abgusses von Museumsobjekten sogar ein gewisser Mehrwert gegenüber dem Original – am selbst erworbenen MedienObjekt durfte das »Berührungstabu«75 gebrochen werden, über dessen Einhaltung auch im Germanischen Nationalmuseum sorgsam gewacht wurde.76 An der Vervielfältigung des Elfenbeinreliefs wird deutlich, daß bei der Wiedergabe der eigenen Sammlungsobjekte eine Vielfalt von Medientechniken zum Einsatz kommen konnte, je nachdem, ob für den Publikationszweck quantitative oder qualitative Aspekte im Vordergrund standen. Bei der medialen Aneignung von anderenorts aufbewahrten Objekten spielten hingegen Fragen der Quantität nur insofern eine Rolle, als damit auch die Verfügbarkeit und der Preis reguliert wurde. Vorrangig war die Frage nach der Qualität der Abbildung, denn für ein Ersatzobjekt, das in den Sammlungen als Stellvertre72 | Zu dieser Serie: siehe unten, Kapitel 3.5. 73 | Josephi 1910, S. 357 und Abb. LXI. 74 | Vgl. Drittes Preisverzeichniß von im germanischen Museum zu Nürnberg gefertigten Gypsabgüssen (1857), Nr. 36. (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1857, Beilage zur Märzausgabe). 75 | Diese Form der Disziplinierung des Umgangs mit Dingen ist ein Grundprinzip der Institutionalisierung des öffentlichen Museums. Vgl. Grasskamp 2000, S. 152. 76 | Das Recht auf Berührung ist das Privileg einiger Museumsangestellten. Vgl. die Anweisung für die Konservator der Kunstsammlungen (Germanisches Nationalmuseum 1856a, §243}): »Vor allen Dingen ist ein scharfes Augenmerk darauf zu richten, daß von den Gegenständen der Sammlungen Nichts in Unordnung gebracht, beschädigt oder gar entfremdet werde. Es ist daher das Berühren oder Wegnehmen von Gegenständen durch Fremde auf das Entschiedenste zu verhindern. Falls Jemand ein besonderes Interesse für einen leicht wegzunehmenden Gegenstand hätte, ist solcher vom Führer selbst mit der nöthigen Vorsicht näher vorzuzeigen, sogleich aber wieder an seinen Ort zu setzen.«
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Abb. 9: Elfenbeinrelief, Photographie, Jakob Eberhardt, publiziert 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg ter eines abwesenden Originals dienen sollte, genügte eine gelungene Wiedergabe. Da das Germanische Nationalmuseum jedoch bei der Ergänzung seiner Sammlungen überwiegend auf Geschenke angewiesen blieb, war hier nur eine bedingte Einflußnahme möglich – zum Beispiel, indem bestimmte Medienpraktiken in Anzeiger und Jahresbericht als besonders geeignet herausgestellt wurden. So wurden Gipsabgüsse gerade nach Objekten aus Elfenbein als besonders überzeugende Ersatzobjekte angesehen.77 Denn die visuelle Annäherung an die Erscheinungsform der Originale konnte in der Konstellation Gips-Elfenbein mit relativ einfachen Mitteln überzeugend realisiert werden. Die Behandlung der Gipsmasse mit der Chemikalie Stearin erzeugte einen materialillusionistischen Oberflächeneffekt: Gips erschien dem Betrachter wie Elfenbein. Deshalb war die visuelle Annäherung »bis zur täuschendsten Nachahmung des Originals«78 bei vielen Elfenbeinarbeiten bereits mit dem Ende des tech77 | Die Abteilung der »Zierarbeiten in Elfenbein, Bein und Holz«, in der auch das Elfenbeinrelief mit der Darstellung eines Reitergefechts abgebildet und aufgelistet wurde, verzeichnet 64 Einträge: 18 Originale, 44 Gipsabgüsse und zwei Bronceabgüsse (Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. 86-88). 78 | Zweiter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855), S. 13.
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Abb. 10: Elfenbeinrelief, Autotypie, publiziert 1910 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg nischen Gußvorgangs erreicht. Eine manuelle Kolorierung des einzelnen Exemplars (vergleichbar der Handkolorierung im »Prachtwerk« von 1857), war damit nicht zwingend notwendig. Diese Form der individuellen Behandlung bedeutete allerdings ein Surplus, das die Reproduktion nicht nur einem Objekt- und Materialtyp, sondern der konkreten Erscheinung eines einzigartigen historischen Unikats annäherte. Diese visuellen Vollendung hatte den ausgezeichneten Ruf der Gipskopien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz begründet, die als »Facsimile«79 firmierten – Technik und Kunst der Reproduktion, die auch für das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg ein Vorbild darstellte.80 79 | Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine, 2 ,1853/54, S. 26. 80 | Das Germanische Nationalmuseum hatte sich diese Techniken inzwischen ebenfalls zu eigen gemacht und konnte ab 1855 durch eine besondere Technik des Abformens und Praktiken des Kolorierens ebenfalls täuschend echte Faksimiles herstellen: »Durch die besondere Güte und Liberalität des Bildhauers und Gypsformators, Herrn J. W. Sommer in Frankfurt a/M., und des Malers und Professors, Herrn L. Lindenschmit zu Mainz, wurde einer unserer angestellten Künstler, W. Maurer, mit den Vortheilen der Gypsgießerei in elastischen Formen für kleinere Gegenstände, sowie mit deren Colorirung bis zur täuschendsten Nachahmung des Originals
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Ist das optimale Ersatzobjekt also jene Kopie, die keinerlei sichtbare Differenzen mehr zum Original erkennen läßt? Ein vollkommenes Faksimile, das selbst die unscheinbaren Farbspuren und die altersbedingten Verfärbungen eines Originals in der Reproduktion nachahmt? Wenn die Reproduktion bereits mit den Spuren des Alters erscheint, wird sie rätselhaft.81 Faksimile und Fälschung zeigen sich als nahe Verwandte in einer Genealogie der Originalität – als treuer und als falscher Bruder. Ein Teil des Rätsels aber, dem die erste Abbildung des Elfenbeinreliefs im Anzeiger von 1855 gegolten hatte, kann schließlich doch noch gelüftet werden. Ein späterer Bearbeiter schrieb das entlarvende Wort mit Bleistift neben den Katalogeintrag von 1856: »Fälschung«. Es handelte sich bei dem Objekt, das so oft als eines der bedeutendsten Originale des Museums vervielfältigt worden war, um gar kein Original; Freiherr von und zu Aufseß war einer Fälschung aufgesessen.82
3.2 FAKSIMILE – V ISIONEN OPTIMALER R EPRODUKTION Museumsgründer Aufseß brachte zwar eine umfangreiche Sammlung mit einigen bedeutenden Originalen in den Bestand des Museums ein – die besondere Anlage des Nationalmuseums als Meta-Museum aller Sammlungen zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte erforderte aber einen intensiven Einsatz von MedienObjekten als Ersatz nicht verfügbarer Originale. Als logisches Ideal der Medienpraktiken des Germanischen Nationalmuseums erscheint demnach die Kopie, die von seinem Original augenscheinlich nicht mehr zu unterscheiden ist. Eine in dieser Hinsicht »perfekte Nachahmung des Originals«83 wird häufig als Faksimile bezeichnet.84 Dabei ist eine vollkommene Identität aber allenfalls als ein mögliches Ideal zu denken, das in diesem absoluten Anspruch praktisch nicht realisiert werden kann. Auch wenn es Beispiele des Rückgriffs auf möglichst originalgetreue Materialien und Handwerkspraktiken gibt, konzentrieren sich Techniken vertraut gemacht und hat es durch länger fortgesetzte Uebung in dieser Kunst zu einer solchen Stufe gebracht, daß seine wohlgelungenen colorirten Abgüsse kaum etwas weiteres zu wünschen übrig lassen, ja, daß sie ohne Anstand denen seiner Lehrer an die Seite gestellt werden dürften. Es wurden von ihm die verschiedensten Kunst- und Alterthumsgegenstände aus Bronce, Eisen, Stein, Holz, Elfenbein, Leder abgeformt und ihr natürliches Colorit nachgeahmt.« (Zweiter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums 1855, S. 13f.) 81 | Siehe dazu in Kapitel 3.2 den Abschnitt zu den fadenscheinigen Textilkopien Julius Glinskys. 82 | Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. 87. Bleistiftnotiz im Bibliotheksexemplar des Germanischen Nationalmuseums (Signatur LS: GNM 2). Stafski 1965 führte das Objekt in seinem Katalog von 1965 nicht mehr auf. Von einer Fälschung spricht Kahsnitz 1978, S. 713. 83 | Fischer 2003, S. 272. 84 | Allgemein zum Faksimile: Rebel 1981, Gröning 1998, Hamber 1996, S. 35–91.
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der Faksimilierung vielfach auf illusionistische Effekte der Augentäuschung: modernes Papier soll wie Pergament aussehen, muß sich aber nicht so anfühlen. Vielleicht macht gerade diese Widersprüchlichkeit einen besonderen Reiz des Faksimiles aus: der Betrachter kann sich einem »subjektiv bewußten Täuschungsgenuß«85 hingeben und so tun, als ob er in der Reproduktion das Original selbst vor sich sähe.86 Im Gegensatz zur Fälschung, die bis zu ihrer Entlarvung als Original auftritt, gibt das Faksimile nicht vor, das Original zu sein – sein Anspruch zielt vielmehr darauf, den Blick auf das als vorbildlich ausgewiesene Original zu ersetzen. Gerade indem es als Ersatz und Stellvertreter auftritt, stellt es sein besonderes Treueverhältnis zum Original heraus, welches durch das Zurücktreten hinter sein Faksimile (materiell) geschützt und gleichzeitig (medial) zugänglich gemacht werden kann. Fühlt sich ein Betrachter jedoch im Nachhinein durch ein Ersatzobjekt getäuscht, das ihm als Original vor Augen geführt wurde, wird der zunächst unbewußt gebliebene Trugschluß zumeist negativ bewertet. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern im 19. Jahrhundert raten Museologen heute an, auf eine gemeinsame Präsentation von Originalen und Faksimiles nach Möglichkeit zu verzichten, zumindest jedoch alle ausgestellten Ersatzobjekte offensichtlich als solche zu kennzeichnen.87 Diese Forderung nach einer offensichtlichen Diskriminierung (im Sinne einer differenzierenden Herabsetzung) des Faksimiles reflektiert auch die Erfahrung, daß in einem Zeitalter elaborierter Reproduktionstechniken auf einer visuellen Ebene häufig keinerlei Differenzen zwischen Original und Faksimile mehr ersichtlich bleiben. Die vielbeschworene Aura des Originals ist nach heutiger Auffassung keine Objekteigenschaft, sondern die Widerspiegelung einer bestimmten Rezeptionshaltung; diese kann durch jeweilige Zuschreibungen und Präsentationsweisen befördert oder gehemmt werden, wie ja die musealen Karrieren entlarvter Fälschungen deutlich zeigen.88 Demzufolge ist die Betonung einer weitgehend unsichtbar gewordenen Rest-Differenz zwischen Original und Faksimile als eine kulturelle Verabredung zwischen den Museen und ihrer Öffentlichkeit zu verstehen. Das museale Bekenntnis zu Originalität und Authentizität beschränkt die Museumsarbeit auf ein reduziertes Angebot möglicher Sammlungsobjekte. Vielleicht hat aber gerade diese Selbstbeschränkung den kulturellen Stellenwert des Museums in der Industrie- und Mediengesellschaft gesichert. Nach Ansicht des Museumshistorikers Gottfried Korff habe das 85 | Rebel 1981, S. 29. Einen ähnlichen Täuschungsgenuß bietet die künstlerische Bildgattung des Trompe l‘œil. Zusammenhänge von Reproduktion, Trompe l‘œil, Ersatz und einem Kult der Oberfläche: Schwartz 2000, S. 175–217. 86 | Die Frage nach der Produktivität solcher logisch widersprüchlicher Fiktionen hat Hans Vaihinger in den 1870er Jahren philosophisch entwickelt – in seiner »Philosophie des Als Ob« (Vaihinger 1911). Michael Fehr zeigte das Museum 1989 in der Ausstellung »Imitationen« als einen Ort des »Als Ob«, als Ort einer fiktionalen Aufhebung der Differenzen echt/unecht, Original/Kopie (Fehr 1991). 87 | Z. B. Waidacher 1999, S. 176. 88 | So z. B. Geimer 2005, S. 110–114.
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Museum dadurch eine »Konträrfaszination des Authentischen«89 entfaltet: »Das Museum läßt Authentizitätseffekte in einer Zeit zu, in der Erfahrungen aus zweiter Hand, vermittelte Abbild-Eindrücke die Regel geworden sind.«90 Stilisiert sich das Museum damit als Anti-Medium – oder kann das Museum stattdessen ein Ort medialer Reflektion sein, in dem über die dynamisierenden Dichotomien einer Mediengesellschaft (materiell/medial, echt/falsch, einmalig/reproduzierbar, real/virtuell, Original/Kopie) nachgedacht werden kann?91 In einer früheren Phase der Museums- und Mediengeschichte zumindest kamen die Potentiale künstlerischer und technischer Reproduktion durchaus als eine zentrale Grundlage der Museumsarbeit in Betracht. Dafür stehen die Praktiken, Konzepte und Visionen des frühen Germanischen Nationalmuseums. Die Zeit um das Jahr 1855 erscheint dabei als eine besonders verdichtete medienhistorische Konstellation. Technische Innovationen und veränderte Reproduktionspraktiken stellten für immer mehr traditionelle Sammlungsobjekte überzeugende Ersatzobjekte zur Verfügung; das ursprünglich an graphischen Reproduktionen entwickelte Konzept des Faksimiles tauchte auf breiter Front auf und wurde bis an die Schwelle der Ununterscheidbarkeit realisiert. So erschienen die Mainzer Gipsabgüsse Ludwig Lindenschmits deshalb als Faksimile, weil sie nicht nur die Form des Vorbilds, sondern auch dessen Erscheinungsbild wiedergaben.92 Insofern sich das Optimum (als das beste erreichbare Resultat) an einem Ideal orientiert (als bestes Denkbare), ist das Faksimile als optimaler Ersatz nicht zuletzt durch die jeweils verfügbaren Medientechniken bedingt. Medien wirken sich (als Instrumente) nicht nur darauf aus, was erreicht werden kann – sie eröffnen (als Modelle und Konzepte) auch neue Denkräume. Das Ideal entzieht sich damit immer wieder dem erreichten Optimum und bestimmt dieses neu. Der Mechanismus solcher Verschiebungen zwischen dem 89 | Korff 1995, S. 24. Korffs theoretische Auseinandersetzung mit den »Museumsdingen« tendiert dazu, den Objekten eine intrinsische »Anmutungsqualität« zuzuschreiben (die er mit Benjamins Aurabegriff gleichsetzt), auf der ihre historische Authentizität gründet. Kritisch dazu: Fehr 2000, S. 149f.; Hoffmann 2000, S. 34–37. Beide betonten die Konstruiertheit von Authentizitätseffekten und Auratisierung im Museum. Vielleicht handelt es sich aber auch bei der »Konträrfaszination des Authentischen« um eine ›nützliche Fiktion‹ im Sinne von Vaihingers Philosophie des »Als Ob«. 90 | Korff 1995, S. 24. 91 | Kallinich 2003, S. 18. Ähnlich Fehr 2000, S. 163, die die Zukunft des Museums in einem Ort für (solche) Beobachtungen zweiter Ordnung sieht. 92 | Ganz anders hatte noch Goethe in den 1820er Jahren »gute Gipsabgüsse als die eigentlichsten Faksimiles« bezeichnet – und zwar gerade deshalb, weil im Weiß des Materials die reine Form der künstlerisch gestalteten Idee mitunter noch anschaulicher hervortrat als bei einem gealterten und verfärbten Original aus Marmor (Goethe 1950, S. 545). Kammel 2001, S. 61f. sieht die Forderung nach imitativer und illusionistischer Annäherung deshalb als Symptom des Niedergangs des Gipsabgusses, der in der Klassik als »bloßes Abbild der reinen Form« besondere Wertschätzung genoß.
K APITEL 3.2 | F AKSI MILE
Denkbaren und dem Erreichbaren wirkte sich auch auf die zeitgenössischen Projekte und Visionen von Museen aus. Dabei forcierte das Auftauchen der Photographie als MedienObjekt und Medientechnik eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Faksimiles, das Fragen zum Verhältnis von Original und Reproduktion und zu deren musealer Hierarchie aufwarf.
Julius Glinsky und das Geheimnis der fadenscheinigen Reproduktion Im August 1855 feierte das Deutsche Kunstblatt etwas, was es gemäß den Kategorien der Zeit eigentlich gar nicht geben konnte: »ein imitatives Genie in des Wortes verwegenster Bedeutung.«93 Gemäß der zeitgenössischen Ästhetik wurde der Geniebegriff in scharfer Abgrenzung zur Nachahmung definiert.94 Doch in Berlin zeigte ein Lithograph und Glasmaler namens Julius Glinsky eigenartige Bilder, welche die scheinbar festgefügten Gegensätze von Genie und Imitation, Original und Reproduktion in Frage stellten. Neben Friedrich Eggers (für das Deutsche Kunstblatt) berichtete auch der am Germanischen Nationalmuseum beschäftigte Kulturhistoriker Jakob Falke für den Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit von dieser »noch namenlosen Kunst«,95 für deren Beschreibung beide Berichterstatter mit den passenden Worten rangen: »[A]lte, mehrere Jahrhundert alte Stickereien in Seide, Goldbrokat, Perlen u. s. w. so nachzumalen – doch das ist ein falscher Ausdruck – so nachzuthun, und zwar mit dem Rest der Farbe, den die Zeit gelassen, mit der Spur jeder Kraft, die an seiner Herstellung und seiner Zerstörung gearbeitet hat, mit der Lage der Fäden bei den verschiedenen Sticharten mit dem Schimmer und der Textur jedes Stoffes, kurz mit jedem, jedem charakteristischen Merkmal der äußeren Erscheinung und dann vor allen Dingen mit der Gefangennehmung auch des Geistes, der im Original steckt, und das Alles ohne Seide, ohne Stoffe, bloß mit – Gott weiß womit – auf Papier das ist das Geheimnis, das sind die Arbeiten von Julius Glinski.« 96
93 | Eggers 1855, S. 268. 94 | Zum Einfluß der »Genieästhetik« auf die Konnotation von Original und Originalität: Häseler 2002, S. 643. 95 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 157. Jakob Falke (1825-1897) war von 1855-1858 am Germanischen Nationalmuseum tätig. Er wurde 1864 Mitbegründer des Wiener Museums für Kunst und Industrie, fungierte als Stellvertreter Rudolf Eitelbergers und war von 1885-1895 Direktor dieses Kunstgewerbemuseums. August Essenwein, der spätere Direktor des Germanischen Nationalmuseums, kam auf seine Empfehlung hin nach Nürnberg. Nicht zu verwechseln mit Johannes Falke, seinem Bruder. Biographische Daten zu Falke: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1119f. 96 | Eggers 1855, S. 268.
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Wo herkömmliche Malereien und auch die auf Augentäuschung zielenden Trompe-l’œil-Gemälde bei näherer Inspektion stets ihre künstlerische Konstruktion offenbarten, gaben Glinskys Bilder textiler Werkstücke anscheinend noch unter der Lupe allein die kunsthandwerkliche Konstruktion der Originale zu erkennen. Weil keine Bildspuren künstlerischer Vermittlung sichtbar wurden, schienen die Bilder einen unmittelbaren Durchblick auf die Werkund Zeitspuren des abgebildeten Originals zu ermöglichen: »Jeder Faden war zu unterscheiden und zeigte selbst das Gefaser und Zerzupfte alter Stoffe.«97 Falke kommt deshalb zu dem Schluß: »der Stoff selbst wird kopiert«.98 Und Eggers schreibt: »Es ist und bleibt, als ob der Künstler jahrelang seinen Gegenstand mit den Augen hätte und nun vermöchte, ihn gewissermaaßen wieder von sich zu blicken.«99 Nicht nur durch diese Umschreibung werden Assoziationen zwischen der Arbeit Julius Glinskys und der Daguerreotypie aufgerufen, jenes zugleich technisch wie magisch anmutende Auge der frühen Photographie, mit dem der Blick festgehalten und ins Bild gesetzt werden konnte. Auch im Diskurs der Daguerreotypie war der spektakuläre Auftritt des neuen Mediums nicht zuletzt dem Geheimnis geschuldet, das die ersten Bildzeugnisse Daguerres umgab. Auch dort stand zunächst kein gesichertes begriffliches Instrumentarium zur Verfügung, um die völlig neuartigen Bilder zu beschreiben. Auch dort verwies das Fehlen einer sichtbaren künstlerischen Handschrift den Blick anscheinend unmittelbar auf die detailliert wiedergegebenen Spuren der abgebildeten Gegenstände. Daguerreotypien wurden als bildliche Materialisationen dieser Gegenstände wahrgenommen; sie statuierten eine bisher unbekannte Form der Ebenbildlichkeit, derer man sich durch die Lupe versicherte.100 Glinskys Bilder setzten auf dieses visuelle Paradigma der Objektwahrnehmung. Ganz ähnlich den ersten Daguerreotypien verblüfften Glinskys Bilder gerade dadurch, daß sie nicht als Bild einer Sache, sondern wie die Sache selbst angesehen wurden.101 Sie irritierten das visuelle Paradigma aber zugleich, weil die Augentäuschung nicht durchschaut, sondern erst durch das Aufnehmen und Anfassen, die Prüfung durch eine zweite Sinnesinstanz, aufgehoben werden konnte. Eggers stellt fest: »man betastet es, indem man wenigstens in der Mitte, wo sich das Gewebe wirft, wirklichen Seidenstoff vermuthet – auch dies ist Täuschung, es ist die glatte Papierfläche.«102 In den Museen aber, jenen »Augenhäusern«103, in denen der Betrachter die ausgestellten Objekt nicht be97 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 158. 98 | Ebd., Sp. 157. 99 | Eggers 1855, S. 268. 100 | Siehe oben, Kapitel 2.1. 101 | Eggers 1855, S. 269: »Bisher konnte man einen gewissen Kreis von Alterthümern nur durch das Bild für die Vorstellung der Zukunft aufbewahren, Glinksi besitzt das Geheimnis, sie gleichsam selber für die Anschauung der Fortdauer zu überliefern.« 102 | Ebd. 103 | Grasskamp 2000, S. 144.
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rühren darf, wird die verbleibende Differenz zwischen Original und Reproduktion, Abbild und Gegenstand damit augenscheinlich irrelevant. So sieht Eggers den zukünftigen Nutzen von Glinskys merkwürdigen Werken auch im Bereich der »Vervielfältigung kunstgeschichtlicher Unica oder äußerster Seltenheiten«104 – und somit im Feld des Museums. Sie stünden den Originalen »so ununterscheidbar gleich, wie die Ringe des weisen Nathan einander«.105 Und Falke richtet diesen Gedanken sogleich auf das Interesse des Germanischen Nationalmuseums an optimalen Reproduktionen nicht verfügbarer Originalobjekte aus: Webereien und Stickereien würden »aufs Getreueste und allseitig copirt, so daß diese Nachbildungen die Originale vollständig zu ersetzen im Stande sind.«106 Die von beiden Berichterstattern entwickelte Phantasie der vollendeten Reproduktion, die sich durch Julius Glinsky einen neuen Objektbereich erschließt, stieß im Germanischen Nationalmuseum erwartungsgemäß auf positive Resonanz. Ein am Ende des Jahres erschienener Artikel über »Die Sammlung von Webereien und Stickereien im germanischen Museum« eröffnete mit der Verkündung, bei der zukünftigen Vergrößerung der Sammlung »die von Herrn Glinski in Berlin erfundene Kunst der täuschenden Nachahmung derselben möglichst zu Hülfe zu nehmen«.107 Die Begeisterung für Julius Glinskys Textilkopien ist ein Beleg für das besondere Interesse des Germanischen Nationalmuseums an der Einbindung von Medien der Reproduktion in das Museumsprojekt. Auf der Suche nach der jeweils optimalen Reproduktion zielte man auf die Aneignung eines vielfältigen Medienensembles, in dem die Photographie noch keine dominante Rolle spielte. Für die Geschichte der Photographie im Germanischen Nationalmuseum ist das Interesse an Glinskys Geheimnis aber trotzdem bedeutsam, weil hier erstmals Abbildungen (und nicht Faksimiles) als vollgültiger Ersatz der Originalgegenstände erscheinen. Für das Museum generieren Bilder, die sich visuell nicht mehr von den abgebildeten Gegenständen unterscheiden (und daher als ›die Sache selbst‹ betrachtet werden können), sogar einen Mehrwert gegenüber dem einzigartigen Original. Nicht nur, weil sie wiederholbar, leichter zu bekommen und zu bezahlen sind, sondern auch, weil sie spätestens durch die Berührung eindeutig unterscheidbar bleiben und damit berechenbarer sind als täuschend echte Faksimiles, die immer in die gefährliche Nähe zur Fälschung rücken können. Es bleibt demnach ein wichtiger Rest an Unterscheidbarkeit vorhanden, der für den Betrachter irrelevant erscheint, aber die Arbeit des Museums entscheidend erleichtert. Dieser Rest unterscheidet die Arbeiten von Julius Glinsky dann doch von den Ringen Nathans, die Eggers als Vergleich zitierte. In Lessings Ringparabel kann sich ein reicher Mann nicht entscheiden, welchem seiner drei Söhne er seinen kostbarsten Besitz vererben soll: einen Ring, dem 104 | Eggers 1855, S. 269. 105 | Ebd. 106 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 158. 107 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 315.
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besondere (aber subtil wirkende) Kräfte zugesprochen werden. So läßt er zwei vollendete Kopien erstellen und vererbt den drei Söhnen jeweils einen Ring, ohne sie darüber aufzuklären, welches das Original ist. Die Parabel auf religiöse Toleranz endet schließlich mit der Belehrung eines weisen Richters, jeder solle seinen Ring so ansehen, als ob er der echte sei.108 Ist die Annahme einer sinnlich zugänglichen Differenz zwischen Originalen und Faksimiles ab einem gewissen Grad der technischen Vollendung nur noch eine Einstellungs- oder Glaubensfrage? Man kann Reproduktionen ansehen, als ob sie die Originale selbst wären, man kann aber auch daran festhalten, daß sich die dem Original zugeschriebenen Aspekte wie Alter, Historizität oder Aura dem Betrachter subtil vermitteln. Museen sind Orte, an denen diese kulturell veränderlichen Wahrnehmungen und Zuschreibungen von Originalität und Authentizität – implizit oder explizit – immer wieder auf die Probe gestellt werden. Was aber war das Geheimnis von Julius Glinsky? Warum nahmen bekannte Kunstkenner wie Eggers und Falke die Arbeiten eines Künstlers als technische Sensation wahr, dessen Name auf lange Sicht weitgehend unbekannt geblieben ist? »Fadenscheinig« bedeutet nicht nur »alt und abgewetzt«, sondern auch »leicht durchschaubar«. Gerade weil sie den Fadenschein ins Bild setzten und scheinbar einen Durchblick auf das fadenscheinige Original gewährten, waren aber die Reproduktionen Julius Glinskys schwer zu durchschauen. Bemerkenswert ist, daß es sich bei Glinskys Bildproben vermutlich gar nicht um Reproduktionen existierender textiler Originale handelte, sondern um Imitationen fiktiver Originale. Eggers und Falke berichten davon, daß Glinsky die Darstellung einer Himmelskönigin nach einem alten Holzschnitt »in die Weise der damaligen Stickerei«109 (des 15. Jahrhunderts) übertragen hatte. Ein zweidimensionales Bild wurde demnach in einen besonderen Stil übersetzt, der das Ergebnis als Kopie eines textilen Objekts erscheinen ließ. Obwohl sie diesen Vorgang schildern, gehen beide wie selbstverständlich davon aus, daß mit dem Verfahren auch eine Wiedergabe textiler Originale möglich sein müßte. Wahrscheinlich war dies aber nicht der Fall. Das von Falke als besonderes Qualitätsmerkmal der Reproduktionstreue herausgestellte »Gefaser und Zerzupfte alter Stoffe« war vermutlich nicht der getreuen Nachahmung der Werk- und Altersspuren einer konkreten Vorlage geschuldet, sondern Effekt einer spezifischen Bildtechnik, deren Spur sich in das Bildresultat einschrieb. 1856 wurde der Aufsatz von Eggers in den Preußischen Provinzialblättern nachgedruckt und dort um einen Nachsatz ergänzt. Diesem ist zu entnehmen, daß bei der Verlesung des Aufsatzes in Elbing ein Bild aus dem Besitz des Elbinger Photographen Glinski vorgezeigt wurde (bei dem es sich um einen Verwandten des in Danzig geborenen Julius Glinsky handeln könnte). Wo die
108 | Lessing 1779. 109 | Eggers 1855, S. 269.
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Konstruktionsbedingungen ein Jahr zuvor in Berlin ein undurchschaubares Geheimnis blieben, wurden sie nun in Elbing erstaunlich nüchtern enthüllt: »Auf einer alten Leinwand ist eine altbyzantinische Madonna mit dem Kinde in Oelfarbe gemalt, deren Gesichter und Hände durch das Alter kastanienbraun geworden sind. Das Ganze macht den Eindruck, als wenn ein Damastgewirk als Zierde und Schirm über die scheinbar auf Holz gemalte Heiligenfigur gelegt ist, welches durch das Ausschneiden der erforderlichen Oeffnungen und durch rohe Zeichnung mit dunklen Strichen, die die Gliedmaaßen angeben, dazu eingerichtet ist. Das Ansehn des Gewebes mit den hoch liegenden Fäden ist dadurch zuwege gebracht, daß mit einem gekerbten Stäbchen in die Oelfarbe, bevor sie trocknete, allerlei Schwingungen dicht an dicht gezogen wurden. Es wurde gefunden, daß Alles mit Kunst und Geschick behandelt dennoch nicht geeignet sey, eine Täuschung hervorzurufen, selbst wenn die Leinwand aufgespannt in einen Rahmen unter Glas gesetzt würde.« 110
Vielleicht hatte Eggers’ Artikel eine besondere Erwartungshaltung geschürt und zugleich eine kritische Wahrnehmung hervorgerufen, die sich im Vergleich zu den Beschreibungen von 1855 als Ernüchterung niederschlug. Dies wäre durchaus vergleichbar mit dem Unterschied zwischen den ersten euphorischen und den späteren Reaktionen auf die Daguerreotypie. Auch die neue Medientechnik lenkte mit ihren ersten Bildzeugnissen den Blick auf Zukunft und Potential des Mediums, bevor die tatsächlich aktuellen Möglichkeiten ausgelotet und kritisch bewertet wurden. Doch auch, wenn es sich bei Julius Glinsky nicht um den Erfinder einer neuartigen Medientechnik, sondern nur um einen Trompe’l-œuil-Spezialisten handelte, bleiben seine Bilder irritierend. Knapp zwanzig Jahre nach der nüchternen Entlarvung der Täuschung in Elbing schenkte der Photograph Glinksi der Altertumsgesellschaft vermutlich genau dieses Bild. Die imitierten Altersspuren wurden nun offenbar nicht mehr durchschaut. Die Gesellschaft verzeichnete das Geschenk 1874 in der Altpreußischen Monatsschrift als »eigenthümlich colorirtes, anscheinend sehr altes Madonnenbild«.111 Tatsache ist, daß der Ruhm Julius Glinskys als Genie der Imitation mit dem Bericht im Deutschen Kunstblatt und dem Interesse des Germanischen Nationalmuseums nur kurzfristig aufflackerte. In den biographischen Künstlerlexika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde der merkwürdigen Textilkopien Glinskys beiläufig gedacht, in der neuesten biographischen Darstellung aus dem Jahr 2007 findet die Episode keine Erwähnung mehr – vielleicht weil sie sich in Ermangelung verfügbarer Belegstücke der methodisch-kritischen Überprüfung entzieht.112 110 | Eggers 1856. Die im Vergleich zum Deutschen Kunstblatt kritischere Haltung äußert sich auch in der Neuformulierung der Überschrift: »Kunstwerk oder Kunststück«. Der ›originale‹ Aufsatz von Eggers war schlicht mit dem Namen »Julius Glinski« überschrieben, womit das Paradoxon eines ›Originalgenies‹ der Reproduktionstechnik betont worden war. 111 | Altpreußische Monatsschrift 11, 1874, S. 176. 112 | Müller/Klunzinger 1860, S. 252; Thieme-Becker, Bd. 14, 1921, S. 286; AKL Bd. 56, 2007, S. 170.
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Abb. 11: Karteikarte der Graphischen Sammlung Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Auch im Germanischen Nationalmuseum hat sich kein einziges Belegstück erhalten. Der Plan, Glinskys Reproduktionen für den Aufbau der textilen Sammlungen einzusetzen, wurde verständlicherweise nicht umgesetzt. Die vermeintlichen Textilkopien verwiesen auf keine authentischen Objekte, als deren Stellvertreter sie hätten fungieren können. So verweist die einzige Spur des Reproduktionskünstlers auch nicht auf die textilen Sammlungen des Museums, sondern in das Graphische Kabinett. Dorthin gelangte ein eher konventionelles Faksimile, das Glinsky dem Museum 1855 (vermutlich anläßlich seiner Bekanntschaft mit Falke in Berlin) geschenkt hatte.113 Die Lithographie imitierte einen Holzschnitt des 16. Jahrhunderts. Die Karteikarte zeigt, daß im Museum die mit dem Faksimile mögliche Durchsicht auf die historische Stadtansicht von Köln die Eingliederung des Objekts bestimmte (Abb. 11). Die mediale Eigengesetzlichkeit des Faksimiles als Lithographie (Steindruck) wurde erst nachträglich vermerkt. Vielleicht haben die Wirren der Ordnung und Verortung, die ein gutes Faksimile auslösen kann, dazu geführt, das auch dieses Objekt bei meiner Anfrage im Oktober 2007 nicht mehr auffindbar war. Die Spur des außerordentlichen Reproduktionskünstlers Julius Glinsky führt zurück auf seine Tätigkeit als Lithograph und endet an einer Leerstelle im Museumsdepot.
113 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1855, Sp. 182: Geschenkregister Nr. 802; Signatur (der Graphischen Sammlung): S. P. 1623.
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Faksimile und Photographie – Einschluß und Überlagerung in Talbots »The Pencil of Nature« Die Lithographie hatte sich als druckgraphische Technik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt dank ihrer besonderen Eignung für Faksimiles von Handschriften und Handzeichnungen durchgesetzt.114 Das Flachdruckverfahren kombinierte Praktiken des Zeichnens (mit fetthaltiger Kreide auf den Stein) mit der Funktionalität eines wiederholbaren Abdrucks und bot damit der druckgraphischen Vervielfältigungen von Zeichnungen in deren spezifischer Erscheinungsform wesentlich bessere Voraussetzungen als die früheren Versuche in Hoch- und Tiefdruck.115 Anders als der Holzschneider oder Kupferstecher (die Erhöhungen oder Vertiefungen in ihr Material hineinarbeiten) konnte der Lithograph die gezeichneten Linien der Vorlage auf den abdruckenden Stein als Linien nachzeichnen; er war nicht gezwungen, die Materialität des eigenen Bildmediums illusionistisch zu verschleiern.116 Im Bildresultat erschienen die lithographischen Kopien von Zeichnungen bekannter Künstler den Zeitgenossen als »vollkommene Faksimiles«.117 Stärker als alle anderen Bilddrucke machten Lithographien nach Handzeichnungen »die Tatsache ihrer druckgraphischen Vermitteltheit im Bildresultat vergessen« – sie erschienen als unmittelbare Vervielfältigungen der originalen Bildgestalt.118 Die Vorstellung einer »Vervielfältigung des Originals als Original«119 steigerte die Wertschätzung originaler Zeichnungen bekannter Künstler, verhalf dem Medium der Lithographie zum Durchbruch und verschaffte dem zuvor randständigen Genre des Faksimile-Bilddrucks Popularität.120 Der Begriff des Faksimiles schärfte sich dabei im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber der Kopie am Ideal einer visuellen Ununterscheidbarkeit. In
114 | Hamber 1996, S. 38–39. 115 | Zur Vorgeschichte des Faksimile-Bilddrucks vor 1800 (als einer gegenläufigen Tendenz zur dominanten druckgraphischen Tradition der interpretierenden und übersetzenden Reproduktionsgraphik): Rebel 1981. 116 | Beim Holzschnitt-Faksimile einer Zeichnung mußten hingegen die aus dem Druckstock herausgeschnittenen Höhen, beim Kupferstich-Faksimile die in die Druckplatte getriebenen Tiefen wie gezeichnete Linien erscheinen. Trotz aller technischen Schwierigkeiten gibt es dafür Beispiele aus dem 16. Jahrhundert (Rebel 1981, S. 18). 117 | Krause 2007, S. 24 u. 28. 118 | Für Rebel gründet sich darauf die besondere »mimetische Leistung« des FaksimileBilddrucks: »Sie bestand darin, daß im Multiplikat des Abdrucks prinzipiell der authentische Charakter einer handschriftlichen Form dinglich vergegenwärtigt wurde: Originalität, die die Tatsache ihrer druckgraphischen Vermitteltheit im Bildresultat vergessen machen sollte.« (Rebel 1981, S. 1). 119 | Rebel 1981, S. 132: »Vervielfältigung des Originals als Original« als Ideal des Faksimile-Bilddrucks. 120 | Hamber 1996, S. 38–39; Rebel 1981, S. 133.
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diese mediale Konstellation trat Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Photographie ein. Eine Inkunabel der Photographiegeschichte, William Henry Fox Talbots Buch »The Pencil of Nature«, ist inzwischen fast ausschließlich durch Faksimile-Ausgaben zugänglich. Nur eine Handvoll vollständiger Originalexemplare der seinerseits wenig erfolgreichen Publikation sind erhalten, die darin eingeklebten Photographien aus den Jahren 1844 bis 1846 zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verblaßt; Bibliotheken verwahren diese empfindlichen und kostbaren Sammlungsstücke in ihren Depots, setzen sie kaum mehr öffentlicher Sichtbarkeit aus.121 Faksimile-Editionen versuchen, diesem Bildverlust122 der lichtempfindlichen Papierabzüge mit der dauerhaften Verfügbarkeit eines vervielfältigten Idealexemplars zu begegnen: 1989 gab der Photohistoriker und Talbot-Experte Larry J. Schaaf eine Faksimile-Ausgabe heraus, in der die jeweils am besten erhaltenen Abzüge der 24 Tafeln miteinander kombiniert und im Sinne einer »idealized copy«123 reproduziert wurden. Wiedergegeben wird also kein bestimmtes Originalexemplar, sondern ein in dieser Form nicht erhaltenes Idealexemplar,124 das seinerseits in einer limitierten Auflage von 250 Exemplaren erschien und als Bibliotheksobjekt vielerorts besondere Wertschätzung genießt.125 Jedes Exemplar der Faksimile-Edition tritt somit gegenüber den einzelnen historischen Exemplaren als Ersatzobjekt mit visuellem Mehrwert auf. Weil sich die historischen Abzüge der Originalexemplare im Laufe der Zeit in jeweils unterschiedlicher Weise verändert haben, erscheint erst die Faksimile-Ausgabe durch die Kombination der besten Abzüge als eine optimale Annäherung an das originale Werk Talbots. Genau damit werden aber die Variationen und Abweichungen überformt, die Talbot als wesentliches Charakteristikum seines Mediums präsentierte und die aus den originalen Exemplaren des »Pencil of Nature« schon im Moment ihrer Ausgabe individuelle Einheiten machten. In der Einleitung zum Tafelteil gestand er den verschiedenen Abzügen seiner Negative einen ästhetischen Spielraum zu: »As far as respects the design, the copies are almost facsimiles of each other, but there is some variety in the tint which they present. [...] These tints, however, might undoubtedly be 121 | Bezogen auf das Exemplar der New York Public Library: Armstrong 1998, S. 441, zitiert nach Geimer 2002, S. 314. 122 | Geimer 2002, S. 315 spricht in diesem Zusammenhang von »Auto-Ikononoklasmus eines Bildmediums« (gemeint sind selbstzerstörerische Prozesse bei Photographien, die durch die Zeit und durch das Licht unaufhaltsam fortschreiten). 123 | Talbot/Schaaf 1989, S. 3 (Einleitungsband). 124 | Idealexemplaren waren auch die klassischen Archäologen auf der Spur, indem sie aus einer Kombination von Elementen römischer Kopien griechische Idealplastiken (re-)konstruierten. Zu dieser Methode der sogenannten Kopienkritik: siehe unten, Kapitel 3.4. 125 | In der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die das einzige deutsche Bibliotheksexemplar verwahrt, wird es bei den »Handschriften u. Seltenen Drucken« aufbewahrt (Signatur: Xf 980 = 94 B 10593).
K APITEL 3.2 | F AKSI MILE brought nearer to uniformity, if any great advantage appeared likely to result: but, several persons of taste having been consulted on the point, viz. which tint in the whole deserved a preference, it was found that their opinions offered nothing approaching to unanimity, and therefore, as the process presents us spontaneously with a variety of shades of colour, it was thought best to admit whichever appeared pleasing to the eye, without aiming at an uniformity which is hardly attainable.« 126
Talbots Modell photographischer Reproduktion orientiert sich nicht an binären Oppositionen von Serie und Unikat, Transformation und Transparenz. So hindert ihn das Eingeständnis visueller Differenzen zwischen Vorlage, Negativ und Abzug nicht daran, seine photographischen Reproduktionen von Graphik als Faksimiles zu beschreiben. Im Rahmen der 24 kommentierten Tafeln, in denen die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten der Papierphotographie geradezu mustergültig vorgeführt werden, präsentiert er die Herstellung von Faksimiles vielmehr als eine prädestinierte Aufgabe seines photographischen Verfahrens.127 Talbot setzte bei dieser Form der Bekanntmachung seiner Erfindung auf die Synergieeffekte sorgfältig ausgewählter Abzüge, kurzer kommentierender Textseiten und der materiellen Einheit eines Buches. Durch die öffentliche Zurschaustellung dieser medialen Konstellation positionierte sich Talbots »photographische Kunst« gegenüber der konkurrierenden Technik der Daguerreotypie. Die spiegelnden Kupferplatten Daguerres hatten die Zeitgenossen zwar durch ihre unübertreffliche Exaktheit und Detailtreue verblüfft – als Unikate auf Metall waren diese Bilder jedoch Außenseiter der Buchkultur geblieben.128 Demgegenüber näherte sich die Erscheinungsform der Papierabzüge in »The Pencil of Nature« der Optik und Funktionalität graphischer Blätter an: die Photographie tritt als Faksimile traditioneller Bildmedien auf.129 Die vorletzte Tafel des Buches treibt diese visuelle Annäherung bis ins Extrem einer kaum noch unterscheidbaren Überlagerung (Abb. 12). 126 | Talbot 1844-46/1969: Einleitung (ohne Paginierung). 127 | Tafel IX wird explizit als »Fac-simile of an old printed page« überschrieben und behandelt die photographische Möglichkeit, Texte nicht nur ihrem Inhalt nach zu übertragen (wie der Buchdruck das Manuskript überträgt) – sondern auch in ihrer konkreten Erscheinungsform zu vervielfältigen; Tafel XI (»Copy of a lithographic print«) widmet den Kommentar den Möglichkeiten, vom Ideal des Faksimiles in der photographischen Reproduktion abzuweichen und die Größen und Ausschnitte der Vorlage in der Kopie nach Belieben zu variieren – ohne dabei an Wiedergabetreue zu verlieren. Die intensivste Auseinandersetzung mit Begriff und Konzept des Faksimile erfolgt jedoch in Tafel XXIII (»Hagar in the Desert«). 128 | Nicht umsonst zählt Talbots Tafel Nr. VIII (»A Scene in the Library«) zu den bekanntesten Bildern der Photographiegeschichte. Die Daguerreotypie eignet sich durch ihre spezifische Materialität nicht zur Herstellung von Faksimiles. Die Herausstellung dieses Anwendungsbereichs im »Pencil of Nature« betont somit den praktischen Nutzen der Papierphotographie gegenüber der Metallphotographie. 129 | Darin lag ein eigenes Irritationspotential für einen Bildbetrachter, der Papierbilder bisher ausschließlich als von Künstlerhand vermittelte kannte: Talbot legte einigen Exemplaren
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Abb. 12: Fox Talbot, Hagar in the Desert, Kalotypie, um 1845 The Pencil of Nature (Faksimile der Universiätsbibliothek Göttingen) Talbots Tafel Nr. XXIII zeigt – als photographische Kopie einer graphischen Vorlage – die Federskizze einer biblischen Szene: ein Engel erscheint einer Frau und ihrem Kind in karger Landschaft. Talbots Überschrift benennt das alttestamentarische Motiv als »Hagar in the desert« und behandelt die Möglichkeit, Handzeichnungen bedeutender Künstler photographisch zu faksimilieren und damit einem drohenden Bildverlust vorzubeugen: »This plate is intended to show another important application of the photographic art. Facsimiles can be made from original sketches of the old masters, and thus they may be preserved from loss, and multiplied to any extent. This sketch of Hagar, by Francesco Mola, has been selected as a specimen. It is taken from a fac-simile executed in Munich. The photographic copying process here offers no difficulty, being done of the natural size, by the method of superposition.« 130
Der Kommentar zu Tafel XXIII bietet demnach eine Lesart photographischer Bilder an, als ob diese einen Durchblick auf die wiedergegebenen Originale böten. Die Papierphotographie rückt in die graphische Tradition des Faksimile-Bilddrucks ein. Bild und Text führen vor, daß das dort ausgebileine »Notice to the Reader« bei, die der Ansicht widersprach, es handle sich lediglich um druckgraphische Imitationen photographischer Bilder – wie im Fall der bereits bekannten Drucke nach Daguerreotypien bei den Excursions Daguerriennes. (Amelunxen 1988, S. 42). 130 | Talbot 1844-46/1969: Kommentar zu Tafel XXIII (ohne Paginierung).
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dete Wiedergabe-Ideal (visuelle Ununterscheidbarkeit) mit den Mitteln der Photographie auf besonders einfache Weise realisiert werden kann. Ein optimales Bildresultat werde durch den photographischen Kopierprozeß ohne jede Schwierigkeit erreicht – ungeachtet des künstlerischen Geschicks eines Photographen. Und durch die »method of superposition« sei dazu nicht einmal die optische Apparatur einer Kamera vonnöten. Die genannte Methode bezeichnet Kontaktabzüge, die durch direkte Überlagerung entstehen: auf das lichtempfindliche Papier wird die Vorlage gelegt; beides zusammen in einem Kopierrahmen dem Licht ausgesetzt. Das auf dem unteren Papier entstehende Negativ kann anschließend wiederum als Vor- und Auflage für einen zweiten Kopiervorgang dienen. Dieser bringt ein Positiv hervor, das sich schließlich als Faksimile der ursprünglichen Vorlage präsentiert. Die Bildtafel, die Talbot dem Betrachter und Leser präsentiert, erscheint dabei nicht als eine deutliche qualitative Verbesserung der bekannten Faksimile-Bilddrucke – sie verblüfft vielmehr im Kontext des »Pencil of Nature« gerade dadurch, daß es seine ähnliche Erscheinung fundamental anderen Bedingungen verdankt, einem naturgesetzlich determinierten Prozeß. Nicht eine sichtbar größere Akkuratesse der Wiedergabe, sondern der Prozeß der Wiedergabe selbst wird als spezifischer Vorzug der photographischen Reproduktion herausgestellt.131 Die Photographie auf Papier, die in ihrer Erscheinung dem graphischen Blatt so ähnlich ist, entfaltet diese besondere Suggestion der Unmittelbarkeit aber nur, wenn der Betrachter um die außergewöhnliche Entstehung dieses Bildes weiß.132 Einen exzeptionellen Status behauptet die Photographie selbst dort, wo sich das optische Resultat als ein gewöhnliches graphisches Bild präsentiert (wie auf der Tafel XXIII). Für die Wahrnehmung der Besonderheiten ist deshalb Verfahrenswissen konstitutiv. Setzt man den von Talbot beschriebenen Kopierprozeß nämlich in Analogie zu druckgraphischen Abdruckverfahren, dann bringt die Papierphotographie tatsächlich eine entscheidende Neuerung gegenüber allen bisher bekannten Hoch-, Tief- oder 131 | Eine andere Ansicht vertritt Hamber 1995, S. 94f. Er wertet das Bild als Beispiel für die neuartige Akkuratesse der photographischen Reproduktion gegenüber graphisch übersetzenden Verfahren. Gegen diese Auffassung spricht jedoch die Beobachtung, daß sich die einzelnen Abzüge in den verschiedenen Exemplaren der Auflage des »Pencil of Nature« in ihren Tonwerten und Bildausschnitten teilweise merklich unterschieden. Vgl. den deutlich kleineren Bildausschnitt der Tafel XXIII im Reprint von 1969 (Talbot 1844-46/1969) mit dem Faksimile eines anderen Abzugs in der Edition von 1989 (Talbot/Schaaf 1989). Dem suggestiven Potential der besonderen Bildentstehung taten solche Abweichungen keinen entscheidenden Abbruch. 132 | Man kann dies mit semiotischen Begriffen als Ausweis der Indexikalität des Bildes verstehen. Volker Wortmann schreibt dazu in seiner Untersuchung der authentischen Darstellung: »Ein Bild – gleich wie es entstanden sein mag – ist indifferent, zu keiner Aussage fähig, weder authentisch noch inauthentisch. Erst der Kontext, in dem es erscheint, ist in der Lage, das Bild mit einer Behauptung, einer Legende zu konfrontieren, die authentisieren mag, wenn man ihr Glauben schenkt. Die authentisierende Spur, die man auf den Bildträgern zu erkennen meint, sie muss zuvorderst kulturell (und nicht technisch) generiert werden, um lesbar zu erscheinen.« (Wortmann 2003, S. 222).
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Flachdrucken: erstmals kann die originale Zeichnung eines längst verstorbener Künstlers (wie Pier Francesco Mola) als direkte Bildvorlage für einen wiederholbaren Abzug dienen. Die Übertragung der künstlerischen Handschrift in eine abdruckbare Form (Holzstock, Kupferplatte, Lithographie-Stein), die eine zweite Bearbeitung erforderte, ist nicht notwendig; durch die Möglichkeit des unmittelbaren Kontaktabzugs scheint das Original damit als Original reproduzierbar geworden zu sein. Hinsichtlich dieser Berührung steht die Kontaktkopie in größerer Nähe zu plastischen Abformungen als zu den Druckformen der Reproduktionsgraphik. Auch beim Abgußverfahren steht das Original selbst als materielle Grundlage für die Reproduktion ein: die Berührung mit einer formbaren Masse erzeugt eine Hohlform – eine Spur der materiellen Präsenz des Originals. Der Abguß solcher Hohlformen bildet demnach nicht nur eine Form nach, sondern ist die Wiedererzeugung einer Form: Reproduktion.133 Dieses Zwischenschritts der Spurensicherung bedarf auch Talbots Kontaktkopie. Damit der photographische Abzug überhaupt als Faksimile eines Originals gesehen werden kann, muß als eine Art ›Zwischenkopie‹ das photographische Negativ-Bild als vermittelnde Instanz dazwischentreten. Die Negativ-Kopie kann durch einen direkten Kontakt mit dem Original entstehen, bleibt diesem aber durch die Umkehrung der Tonwerte in visueller Hinsicht fremd. Im Kommentar zu Tafel XX (»Lace«) reflektiert Talbot darüber, daß sich die schon zwischen den Abzügen einer ›Generation‹ auftretenden Differenzen mit jedem weiteren Schritt vermehren.134 So sieht er zwischen der negativen Kontaktkopie eines textilen Spitzenstoffs (»directly taken from the lace itself«) und deren positivem Abzug eine Degeneration der Bilddetails (»owing to its not being taken directly from the original«).135 Allerdings sei der zusätzliche Reproduktionsschritt zumeist unumgänglich, da erst im sekundären, positiven Bild die Ordnung von Licht und Schatten wieder hergestellt wird, die der natürlichen Wahrnehmung des Gegenstands entspricht. Für den Betrachter kommt die unmittelbarste Wiedergabe dem Wahrnehmungsbild der Vorlage demnach nicht unbedingt am nächsten. Auf dem Weg zum photographischen Faksimile ist also aus technischen Gründen ein Um133 | Zur »Bedeutung des Abdrucks als anthropologisches Paradigma« (S. 48), das auf der magischen Vorstellung von einer »Macht der Berührung« (S. 49) beruht: Didi-Huberman 1999, S. 43–56. 134 | Talbot 1844-46/1969: Kommentar zu Tafel XX: »This is exemplified by the lace depicted in this plate; each copy of it being an original or negative image: that is to say, directly taken from the lace itself. Now, if instead of copying the lace we were to copy one of these negative images of it, the result would be a positive image of the lace: that is to say, the lace would be represented black upon a white ground. But in this secondary or positive image the representation of the small delicate threads which compose the lace would not be quite so sharp and distinct, owing to its not being taken directly from the original. In taking views of buildings, statues, portraits & c. it is necessary to obtain a positive image, because the negative images of such objects are hardly intelligible, substituting light for shade, and vice versâ.« 135 | Talbot 1844-46/1969: Kommentar zu Tafel XX (ohne Paginierung).
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weg über das Negativ notwendig. Das positiv sichtbare Bildresultat ist dadurch keine unmittelbare Spur des Originals mehr; dessen Spuren werden mit jedem Kopierprozeß undeutlicher – wenn auch (aus ebenfalls technischen Gründen) nur in gradueller Weise . Da aber zugleich jeder einzelne Schritt dieser sukzessiven Distanzierung eine fundamentale Umkehrung der Tonwerte bewirkt, stellt das photographische Bild für einen Betrachter erst in der Distanz des ersten positiven Bildes eine optimale Annäherung an die Erscheinungsform des Originals dar. Die (ikonische) Nähe stellt sich erst in einer gewissen (indexikalischen) Distanz ein. Das photographische Faksimile Talbots schließt somit einen subtilen Restbestand an Differenz ein,136 von dem man absehen kann, um sich dem paradoxen »Täuschungsgenuß« hinzugeben, man sähe durch Vermittlung des Faksimiles unvermittelt auf das Original.137 Das Konzept des graphischen Faksimiles und der besondere Reiz einer Betrachtung »Als Ob« bleibt dem photographischen Faksimile eingeschlossen – auch wenn es von den Suggestionen technisch verbürgter Unmittelbarkeit überblendet ist. Photohistoriker haben bemerkt, daß es zu Talbots rhetorischer Strategie gehörte, eine spielerische und hintergründige Relation zwischen Bild und Kommentar herzustellen.138 So findet sich auch in Talbots Kommentar zu Tafel XXIII ein Einschluß, der durch die Rede von Faksimiles originaler Zeichnungen und die Betonung der Handhabbarkeit des technischen Verfahrens leicht übersehen bzw. überlesen werden kann. Eher lapidar vermittelt der zweite Absatz des Kommentars die Information, daß der photographische Abzug gar keine Reproduktion einer handgezeichneten Vorlage ist, sondern das Faksimile eines Faksimiles: »This sketch of Hagar, by Francesco Mola, has been selected as a specimen. It is taken from a fac-simile executed in Munich.« Ein zweites Faksimile ist in den Reproduktionsprozeß eingeschaltet worden. Talbot griff dazu auf eine in München hergestellte lithographische Kopie der Mola-Zeichnung zurück. Es handelt sich um eine Arbeit des Lithographen Johann Nepomuk Strixner, der um 1810 durch die Faksimilierung wertvoller Handzeichnungen nicht nur selbst bekannt geworden war, sondern auch dem Medium der Lithographie zu internationaler Bekanntheit und Wertschätzung verholfen hatte.139 136 | Amelunxen 1988, S. 39f. zur Differenz der Photographien in Talbots »The Pencil of Nature«: »Wenn hier die massenhafte Reproduktion des Gleichen die Auszeichnung der Differenz erhält, so scheint diese noch ein letztes Mal, bevor die Photographie der industriellen Produktion überantwortet wird, dem Subjekt die Möglichkeit einer individuellen, auf ein – nur ihm vorliegendes – Ursprüngliches konzentrierten Wahrnehmung zuzubilligen.« 137 | Die Wahrnehmung von Bildern als authentische Darstellungen basiert auf Paradoxien. Vgl. dazu die Arbeit: Wortmann 2003. 138 | Amelunxen 1988, S. 42. 139 | Hamber 1999, S. 217. Die Lithographie nach einer Skizze Pier Francesco Molas (16121666) wurde im Rahmen eines größeren Werks von Faksimiles originaler Handzeichnungen zwischen 1810 und 1816 in München publiziert (»Les Oeuvres lithographiques, Choix de dessins d’apres les grands maîtres de toutes les écoles, tiré du Musée de S. M. le roi de Bavière
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Ein solcher Rückgriff auf eine bereits existierende Kopie hatte sicher technisch-materielle Gründe: die Bildvorlage mußte im photographischen Kopierprozeß durch einen Firnis lichtdurchlässig gemacht werden. Nur so konnte das lichtempfindliche untere Papier an den hellen (und damit lichtdurchlassenden) Stellen der darüberliegenden Vorlage geschwärzt werden. Dem historischen Unikat einer originalen Handzeichnung mutete Talbot – obwohl sein Text zunächst etwas anderes suggeriert – diesen manipulativen Eingriff in die materielle Substanz nicht zu. Im Rahmen von Talbots hintergründiger Rhetorik macht aber erst dieser Umweg über die im Bild verborgene Lithographie Strixners Talbots Bildauswahl zu einer medienhistorisch bezeichnenden Selektion. Reproduziert wurde keine beliebige Handzeichnung (wie der erste Blick glauben macht), sondern ein Meilenstein der Geschichte der Reproduktionstechnik und der Differenzierung graphischer Medien. Als Zwischenschritt einer Reproduktionskette ist der Einschluß des lithographischen Faksimiles auf der visuellen Bildebene praktisch nicht zu erkennen – ebensowenig wie der zwingend notwendige Zwischenschritt über das Negativ. Die Überlagerung von Positivabzug, photographischem Negativ, lithographischem Papierabdruck, lithographischem Stein und historischer Handzeichnung bleibt im Bildergebnis anscheinend unsichtbar. Erst der begleitende Kommentar spiegelt die Verwirrung zeitlicher und kausaler Abfolgen in den Blick und eröffnet damit eine andere Betrachtsweise. Das, was zunächst durch den Anschein der Unmittelbarkeit überlagert war, kann nun Teil des Wahrnehmungsprozesses werden. Aber dem Betrachter bleibt auch die andere Option: wenn selbst die Kopie einer Kopie einer Kopie einer Kopie im Bildresultat als Faksimile erscheint, dann kann von der Vermitteltheit direkterer photographischer Faksimiles um so leichter abgesehen werden.
Museum, Faksimile und die Frage nach der Originalität des Originals Die Faksimilierung kann zu den »Praktiken des Sekundären«140 gezählt werden; diese zeichnen sich dadurch aus, das sie die eigene Abhängigkeit von par Strixner«, München 1811). Es handelte sich nach einem Katalog von 1865 um das einzige bis dahin hergestellte Faksimile dieser Federzeichnung Molas (Weigel 1865, S. 57). Talbots Faksimile eines Faksimiles führt Weigel nicht in seiner Auflistung auf. 140 | Fehrmann u.a. 2004, S. 7f.: »Als ›Praktiken des Sekundären‹ sollen hier jene kulturellen und medialen Verfahren verstanden werden, die gezielt auf den Status des Vorgefundenen, des Nicht-Authentischen oder des Abgeleiteten ihres Gegenstands bzw. Materials setzen – oder aber derartige Zuschreibungen bewußt problematisieren. Es ist diese dezidierte Aneignung, die Praktiken des Sekundären von Produktionsweisen unterscheidet, die zwar notwendig auch auf Traditionsbestände zurückgreifen, dies jedoch – häufig unter den Vorzeichen von Originalität und Authentizität – unterschlagen, verdrängen oder zumindest nicht explizit ausweisen.«
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Vorbildern nicht verschleiern oder verbergen – sie im Gegenteil offensiv herauszustellen. Es handelt sich um Praktiken der Aneignung, die kulturell etablierte Wahrnehmungsmuster der Relation von Original und Kopie reflektieren, aber auch irritieren können.141 Faksimiles bewegen sich dabei im Grenzbereich zwischen Kopie und Original ganz bewußt auf einem Grat zwischen Ähnlichkeit und Identität. Neue Stufen einer solchen Annäherung führen mitunter in eine Grauzone, in die die bisherigen Kriterien der Unterscheidung nicht reichen. Wenn das Original scheinbar als Original vervielfältigt werden kann – was zeichnet dann noch die Originalität des Originals aus?142 Historisch betrachtet sind in der Auseinandersetzung mit dieser Frage jedoch immer wieder kontrastierende Aspekte ausgemacht worden, mit denen die Demarkationslinie mittelfristig neu kartiert wurde. Dieses Wechselspiel zählt zum dialektischen Fundament des modernen Begriffs der Originalität. Auch Museen haben daran mitgewirkt. Viele theoretische Positionen und Praktiken der Museen des 20. Jahrhunderts bauen auf der Überzeugung auf, daß auch im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit Unterschiede zwischen einem originalen und einem reproduzierten Kunstwerk bemerkbar und bedeutsam bleiben – anders, als es Walter Benjamin Ende der 1930er Jahre in seinem »Kunstwerk«-Aufsatz vorhergesehen hatte, als er (halb wehmütig, halb hoffnungsfroh) feststellte: »was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, ist seine Aura.«143 Benjamin sah den Verfall der Aura aber keineswegs als rein technisch determinierten Prozeß, sondern als Resultat einer bestimmten Wahrnehmungshaltung: »[D]ie Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«144 Benjamins Behandlung dieses Themas läßt sich medien- und museumshistorisch einordnen.145 Im Verlauf der 1920er Jahre hatte die Reproduktionstechnik einen Stand erreicht, an dem die Differenzen von Originalen und Reproduktionen bei den meisten klassischen Kunstwerken nicht mehr sichtbar waren. Für den Betrachter stellte sich demnach nicht mehr die Frage (die noch 141 | Als Beispiel für die Irritation kultureller Wahrnehmungsmuster, aber auch für deren Integrations- und Assimilationsvermägen, nennen die Herausgeber des Sammelbandes die photographischen Nach-Bilder der amerikanischen Künstlerin Sherry Levine (z.B. »Untitled (after Walker Evans)«). Darauf zielend, die etablierten Unterscheidungen von Original und Kopie durch dezidierte Sekundarität zu unterlaufen, ist diesen Photographien als Ikonen der sogenannten Appropriation Art retrospektiv selbst der Status von Originalen zugeschrieben worden. Vgl. Fehrmann u.a. 2004, S. 13. 142 | Vgl. auch Umberto Ecos Zweifel am europäischen Konzept der Originalität angesichts eines freieren und zum Teil spielerischen (häufig aber auch verstörenden) Umgangs mit Reproduktionen in den Vereinigten Staaten der 1970er Jahre (Eco 2002, S. 72 u. 77). 143 | Benjamin 2007, S. 14. 144 | Ebd., S. 17. 145 | Vgl. auch die historische Einführung Detlev Schöttkers in: Benjamin 2007, S. 108–118.
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bei Talbot mitschwang): von welchen Differenzen müssen wir absehen, um die Reproduktion als visuell gleichartig anzusehen, sondern die Frage: sollte das allem Anschein nach Gleichartige überhaupt noch als different betrachtet werden? Die damals populären »Albertina-Facsimiles« zum Beispiel reproduzierten ausgewählte Altmeisterzeichnungen der Wiener Graphiksammlung Albertina durch farbige Mehrplattenlichtdrucke in einer Qualität, die sich praktisch nur noch durch zusätzliche Kennzeichnungen (Stempel) von den Originalen unterscheiden ließ.146 Auf solchen Erfahrungen aufbauend, hatte 1929 die umstrittene Ausstellung »Original und Reproduktion« gezeigt, das selbst anerkannte Kunstexperten bei einer gleichwertigen Ausstellung von originalen Kunstwerken und Faksimiles (die nicht als dieses oder jenes ausgewiesen wurden) die vielbeschworene »Aura« eines Originals nicht wahrnehmen konnten. Manche gaben zu, über keine sicheren Unterscheidungskriterien zu verfügen: vielfach hielten sie die Reproduktion fälschlicherweise für das Original.147 Das museale Experiment des innovativen Hannoveraner Museumsdirektors Alexander Dorner warf Fragen auf: War das Reproduktionsideal vollkommener Ununterscheidbarkeit inzwischen praktisch realisierbar? Und wenn ja, welche Konsequenzen folgten daraus für die museale Sammlungsund Ausstellungspraxis? Oder waren andererseits die Experten aufgefordert, ihre traditionellen Differenzkriterien zu optimieren? Der Streit um die Faksimiles, den die Ausstellung heraufbeschwor, war ein Konflikt um die Deutungshoheit der offenbar gewordenen Unsicherheit über die Originalität des Originals. Diese Kontroverse betraf ganz direkt den Status von Reproduktionen im Kunstmuseum: Dorner etwa sah in der rezeptionsästhetischen Indifferenz das Potential für ein erstmals tatsächlich breitenwirksames Kunstverständnis, das sich von der elitären Vorstellung des singulären Werks und seiner Aufgehobenheit im Museum emanzipierte.148 Diese Position kritisierte besonders energisch der Kunsthistoriker Max Sauerlandt, der als Leiter des Hamburger Museums für Kunst und Gewebe und als gewichtige Stimme der deutschen Museumslandschaft wahrgenommen wurde. Sauerlandt begründete seine Ablehnung des Faksimiles werk- und materialästhetisch.149 Seinem Kunstbegriff zufolge beruhte die Originalität auf der Verschmelzung einer Formidee und eines Werkstoff im einzigartigen Kunst146 | Gröning 2001b, S. 16f. 147 | Zur Ausstellung »Original und Reproduktion« und zum sogenannten Faksimilestreit: Flacke-Knoch 1985, S. 100–110, Ullrich 2009, S. 13–16, Birkholz 2004, S. 4–8 sowie die Aufsätze der Diskursteilnehmer in: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur, 6, 1929 u. 7, 1930. Das Ausstellungsprinzip ist auch heute noch effektvoll – hat aber den Überraschungseffekt von 1929 verloren. Etwa: »Wa(h)re Lügen – Original und Fälschung im Dialog«, Ausstellung im Graphikmuseum Pablo Picasso in Münster vom September 2007 bis zum Januar 2008. 148 | Flacke-Knoch 1985, S. 102. 149 | Diese Unterscheidung von Werk- und Rezeptionsästhetik als Differenzkriterium der Bewertung des Musealen findet sich mit den Protagonisten Paul Valéry und Marcel Proust auch bei: Adorno 1953/1998.
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werk; dieses stehe vom Moment dieser Verschmelzung an unter dem Gesetz der Zeit und sei damit prinzipiell unwiederholbar.150 Keine noch so genaue Reproduktion (und arbeite sie auch mit dem gleichen Werkstoff) könne diese historische Existenz kopieren. Zudem sei ja auch jede Reproduktion selbst, vom Moment ihrer Entstehung an, der Alterung und Veränderung unterworfen. Selbst bei einer momentanen visuellen Ununterscheidbarkeit müßten sich Original und Reproduktion daher auf Dauer »mit Naturnotwendigkeit immer stärker, bis zur völligen Unvergleichbarkeit auseinanderleben«.151 Aber auch im sichtbaren Bereich seien nach Ansicht von Sauerlandt nicht alle Unterschiede zwischen Original und Faksimile nivelliert. Durch eine interessante Umkehrung der Perspektive wertete Max Sauerlandt das Ergebnis der experimentellen Ausstellung »Original und Reproduktion« – die beobachteten Fehleinschätzungen vieler Experten – gerade als Beleg für die noch immer mögliche Wahrnehmung subtiler Differenzen. Offenbar hätten die Sachverständigen besonders häufig die Reproduktion für das Original gehalten; bei völliger Unterschiedslosigkeit hätte es (statistisch gesehen) aber viel mehr Zufallstreffer und damit eine ausgeglichenere Verteilung geben müssen. So aber hätten die Sachverständigen vermutlich schlicht die falsche Schlußfolgerung aus ihrer durchaus differenzierten Wahrnehmung gezogen. »Zum Mindesten läßt es erkennen, daß selbst diese vollkommenste Art ›täuschender‹ Reproduktion für ein feinfühliges Auge noch ein spürbares Anderes gibt als das Kunstwerk selbst«.152 Sauerlandt liefert auch eine Erklärung für dieses Phänomen: Nicht anders als Fälschungen hätten Faksimiles etwas »Entgegenkommendes«, das den Erwartungen des Betrachters entspricht und diesen zu ihren Gunsten einnehme; erst der kunstkritisch geschulte Kenner könne schließlich aber gerade in der »Strenge und Herbigkeit« den originalen Wert des Kunstwerks erkennen.153 Kunsthistoriker bedürften daher einer teils noch sensibleren, vor allem aber 150 | Sauerlandt 1929, S. 501f. 151 | Sauerlandt 1929, S. 503. In dieser Formulierung steckt allerdings auch bereits das Potential für eine Wiederentdeckung einer spezifischen historischen Authentizität der Reproduktion – nicht als Ersatz eines Originals, sondern als Zeuge einer historisch bestimmten Sichtweise des Originals. Vgl. Seemann 1992, S. 77: »Jedes Ding hat eben seine Aura. Aber auch Kopien haben ihre Geschichte, d. h., sie können eine Aura erwerben. Die Aura ist kein aristokratisches Privileg, sondern nichts anderes als die Substanz der Geschichtlichkeit.« Daß diese Wahrnehmung einer Aura auch an Reproduktionen herangetragen werden könnte, damit hatte Walter Benjamin offenbar nicht gerechnet. Könnte man die oben zitierte Passage Benjamins also als Frage re-formulieren: Ist die Wiederentdeckung der Aura die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sehnsucht nach dem Authentischen so gewachsen ist, daß sie es mittels des Museums auch der Reproduktion abgewinnt? 152 | Sauerlandt 1929, S. 498. 153 | Sauerlandt 1929, S. 499. Das Wort des »Entgegenkommenden« entlehnt Sauerlandt bei Jacob Burckhardt. Peter Geimer hat ähnliches an den Vermeer-Fälschungen Hans van Megerens (insbesondere dessen »Jünger von Emmaus«) herausgearbeitet: Bestimmte Züge, die ein Original charakterisieren, werden in der Fälschung so übersteigert, daß diese Fälschungen
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reflektierteren Wahrnehmungsweise, um das Original auch als Original (und in seiner Originalität) zu erkennen. Auch hinsichtlich der musealen Konsequenzen der Ausstellung kam Sauerlandt zu einem völlig anderen Schluß als Dorner. Als Studienmaterial geschulter Kunsthistoriker seien Faksimiles akzeptabel, deren Massenproduktion aber stelle eine doppelte Gefahr dar – für die Wertschätzung des Originals, wie für das allgemeine Kunstverständnis des Laien: »Die Reproduktion mit ihrem nuancierten Anderssein, ihrer ›pikanten‹ und ›entgegenkommenden‹ Form wird ihn in der gefährlichen Überzeugung bestärken, daß das in seinem Sinne Schönere auch das in wahrem künstlerischen Sinne Höhere sei. Die ›schönere‹ Reproduktion wird sich ganz unvermerkt vor das Kunstwerk schieben und den Eindruck des Originals schließlich ganz verdrängen. Ein Leben in falschen Gefühlen – das Schlimmste, was es gibt! – ist die unausbleibliche Folge.« 154
Ohne den Begriff explizit zu nennen, klingt in Sauerlandts Ablehnung von Surrogaten, Ersatzobjekten und falschen Gefühlen bereits der Begriff der Authentizität an. Authentizität, verstanden als materiell verbürgte historische Existenz, wurde im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem Schlüsselbegriff der Museumsarbeit und ihrer theoretischen Einfassungen. Als auratische Einzigartigkeit des originalen Kunstwerks zunächst am Kunstmuseum entwickelt, wurde der Begriff im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nachdrücklich auch zur wichtigsten Arbeitsgrundlage historisch orientierter Museums- und Sammlungskonzepte erklärt.155 Vereinzelte Vorschläge, das Geschichtsmuseum im Rückgriff auf die historischen Museumsprojekte des Römisch-Germanischen Zentralmuseums (Mainz) und des Germanischen Nationalmuseums (Nürnberg) vom »Echtheitsfetischismus« und »Originalitäts-Snobismus« der kunstorientierten Museen abzusetzen,156 wur-
(solange sie als solche unentdeckt sind) als besonders charakteristische Originale erscheinen (Geimer 2010, S. 56f.). 154 | Sauerlandt 1929, S. 499. Ähnlich Siegfried Kracauer (aber mit Betonung der schieren Masse): »Für das vervielfältigte Original gilt der Satz: mitgefangen, mitgehangen; statt hinter den Reproduktionen zu erscheinen, neigt es dazu, in ihrer Mannigfaltigkeit zu verschwinden und als Kunstfotografie weiterzuleben.« (Kracauer 1977, S. 34). 155 | In Deutschland seit den 1980er Jahren vor allem im Zusammenhang mit den Planungen eines Deutschen Historischen Museums in Berlin, z. B.: Korff 1984, S. 90–92. Rückblickend kritisch zu der damit verbundenen Ästhetisierung: Fehr 2000, S. 149–151. Auch im internationalen Museumsdiskurs war die Frage in den zentralen Fokus geraten. 1985 fand in Zagreb ein ICOM-Symposium »Original and Substitutes in Museums« statt. 156 | So der Sachverständige Stephan Waetzoldt (zitiert nach Korff 1984, S. 84). Der Begriff der Replik bzw. des Replikats steht dabei für eine noch über das Faksimile hinausgetriebene, in visueller und materieller Hinsicht perfekte Kopie. Er steht nicht für massenwirksame Verfügbarkeit, sondern für individuellen Ersatz.
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den in der deutschen museologischen Debatte der 1980er Jahre als Aufgüsse überholter Repliken-Phantasien des 19. Jahrhunderts zurückgewiesen.157
3.3 L ICHT UND S CHATTEN – D IE B EDEUTUNG DER P HOTOGRAPHIE ALS R EPRODUKTIONSMEDIUM Ob um 1855, 1930 oder 1985 – die jeweils avanciertesten Reproduktionstechniken haben die Museen zu einem bestimmten Verhalten gegenüber Kopien, Faksimiles und Replikaten herausgefordert; sie ermöglichten Positionsbestimmungen im kulturellen Feld des Musealen. Um den Prozeß nachzuvollziehen, in dessen Verlauf die Photographie als MedienObjekt und Medientechnik an Bedeutung für das Germanische Nationalmuseum gewann, lassen sich bestimmte Intervalle von Medienkonzepten gegeneinander abgrenzen. In der Gründungsphase 1852/53 war die Photographie noch nicht als Medium des Museums in den Blick geraten; während der Etablierung erster eigener Museumsateliers tauchte die Photographie 1854/55 als alternative Form der Aneignung in funktionaler Analogie zur Zeichnung auf – aber erst 1855/56 trat der Mehrwert des technisch fundierten Bildverfahrens in den Vordergrund der Diskurse um das Medium Photographie. Dabei zeigt sich, daß der Gewinn, den sich das Museum von der Photographie versprach, nicht so sehr in dem Potential gesehen wurde, unterschiedlichste zwei- und dreidimensionale Objekte abbilden zu können (wie es Daguerre in seinen frühesten Bildern vorgeführt hatte), sondern in einer überlegenen Reproduktionsleistung bei Kopien von graphischen Vorlagen (wie sie Talbot neben anderen Anwendungsmöglichkeiten in »The Pencil of Nature« aufgezeigt hatte). Nicht als Abbildungsmedium, sondern als Reproduktionsmedium trat die Photographie im Germanischen Nationalmuseum aus dem Schatten der manuellen Kopie des Zeichners.
Der Mehrwert der photographischen Reproduktion Der Bestandskatalog der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums führte 1856 im Verzeichnis der Handschriften neben den Originalmanuskripten eine Reihe weiterer Titel auf, die sich das Museum durch zeichnerische Kopien angeeignet hatte. Dabei handelte es sich um Bilderhandschriften aus Bibliotheken in Nürnberg, Erlangen, Würzburg, Stuttgart und München. Das Interesse des Germanischen Nationalmuseums an diesen Werken richtete sich auf die darin enthaltenen Miniaturen und Handzeichnungen, die als Bildquellen der Kunst- und Kulturgeschichte noch kaum vergleichend erforscht waren. Auf Transparentpapier wurden Bildseiten, einzelne Szenen oder Einzelfiguren der Manuskripte mit der Feder durchgezeichnet, diese Pausen dann auf 157 | Boockmann 1987, S. 25.
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stärkeres Papier geklebt, die dadurch entstandenen Seiten zu Heften gebunden und diese schließlich unter dem Titel der Originalhandschrift und mit Verweis auf deren Standort als »Abbildungen ohne Text« in den Bibliothekskatalog aufgenommen.158 Mit dieser Aneignungspraxis reagierte das Germanische Nationalmuseum auf die ungleichgewichtige Verfügbarkeit von Texten und Bildern mittelalterlicher Manuskripte für historische Forschungen: die Texte lagen vielfach gedruckt vor, während die Bilder nur am Aufbewahrungsort des Originals studiert werden konnten. Die kunst- und kulturhistorische Bearbeitung dieser Bildquellen stand daher vor einem grundsätzlichen Dilemma: was »unmittelbare Vergleichung« erfordere, sei durch »weite Entfernung der Orte voneinander getrennt«.159 Dieses Problem nahm August von Eye als Ausgangspunkt seines Aufsatzes »Ueber Copieen von Miniaturen und Federzeichnungen in alten Handschriften«, mit dem das im Museum bereits begonnene Projekt bildlicher Reproduktion den Lesern des Anzeigers Anfang 1854 erstmals vorgestellt wurde. Weder das Gedächtnis noch die beschreibende Sprache des Kunstkenners könne der vergleichenden Betrachtung eine sichere Grundlage bieten. »Ein Mittel, diesem Uebelstande abzuhelfen, wäre die Anfertigung von möglichst getreuen Copieen. Aber welchem Künstler möchte es gelingen, so vollständig in den Geist seines oft so fremdartigen Vorbildes einzudringen, so objectiv seinen Gegenstand zu erfassen, dass er nicht durch Hinweglassen oder Zufügen denselben veränderte? Und wiederum wird es grade das Wesentlichste, der eigentliche Geist der Kunst sein, den wir in der Copie vermissen werden.« 160
Eye bewegt sich hier noch im Denkraum eines Zeitalters graphisch-manueller Reproduzierbarkeit, in dem jede Kopie als eine mehr oder weniger verfehlte Annäherung an ein prinzipiell unerreichbares Original gedacht wird. Eine tatsächlich unverfälschte Kopie erscheint praktisch kaum realisierbar und zudem tendenziell als geistlos: denn gerade eine absolut exakte Nachahmung der künstlerischen Originalität eines anderen Künstlers würde den autonomen Charakter vermissen lassen, der ein originales Kunstwerk als ästhetisches An158 | Vgl. die entsprechenden Einträge im Handschriftenverzeichnis: Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 177–198. Beispiel für die Bezeichnungspraxis: »Die Herzoge von Bayern. Abbildungen ohne Text in 21 Federzeichnungen. Pap. 11 Bl. kl. Fol. (Nr. 302). Nach einer Papier-Handschrift der kgl. Hof- und Staatsbibliothek zu München. 4°.« (S. 178). In einigen Fällen gab es kurze Textauszüge, seltener den vollen Text; manchmal wurden einige der Federzeichnungen koloriert, seltener »blattgroße Malereien« ausgeführt (»Landawerbuch«, S. 187). Ein »charakteristisches Blatt«: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 558 (Abb. 326). 159 | Eye 1854, Sp. 9. Der Kulturhistoriker August von Eye (1825-1896) stand damals den Kunstund Altertumssammlungen des Museums vor und beaufsichtigte in dieser Funktion bis zur Einstellung eines künstlerischen Inspektors (erstmals 1856) auch die künstlerischen Arbeiten des Museums. Biographische Daten: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1119. 160 | Ebd.
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schauungsobjekt auszeichne.161 Diese ästhetischen Vorbehalte eines Kunstliebhabers stellt Eye jedoch als Kunst- und Kulturhistoriker aus forschungspragmatischen Gründen zurück. Auch wenn die Kopie niemals den »Geist der Kunst« wiedergeben könne und damit als Ersatzobjekt für die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks ausscheide, sei sie für die im Germanischen Nationalmuseum verfolgten historischen Fragen »bis jetzt das einzige Mittel, um hier, wenn auch unvollständig, Abhülfe zu schaffen«.162 Das Projekt wird also einerseits gegenüber forschungspraktischen Alternativen vergleichender Betrachtung abgesetzt (Gedächtnis, Sprache) – und andererseits gegenüber unerreichbaren Idealen kunst- und kulturhistorischer Forschung: einer Vereinigung aller wichtigen Bilderhandschriften an einem Ort sowie einer Vervielfältigung der Miniaturen und Handzeichnungen durch vollendete Reproduktionen. Weil aber der eigentliche Kunstcharakter dieser Kunstwerke nicht kopiert werden könne, erscheint Eye eine hinreichende Wiedergabe der »Auesserlichkeiten« eines Kunstwerks als ausreichend. Der Umgang des Germanischen Nationalmuseums mit Kunstwerken zielte ja nicht primär darauf, dem Betrachter Kunstgenuß zu ermöglichen (Modell des Kunstmuseums), sondern darauf, diese Objekte als Bildquellen der Kunstund Kulturgeschichte zu erschließen. Quantitative Aspekte der Reproduktion traten dabei in den Vordergrund. In der musealen Reproduktionspraxis von 1853/54 dominierten Umrißzeichnungen auf Transparentpapier. Die Ansprüche an eine optimale Wiedergabequalität »möglichst treuer Copieen« wurden zugunsten einer für historisch-ikonographische Fragestellungen hinreichenden Wiedergabequalität durchgezeichneter Umrisse reduziert. Auf eine künstlerisch intensive Auseinandersetzung mit dem inneren Gehalt des Kunstwerks, die im Zeitalter graphisch-manueller Reproduzierbarkeit als Voraussetzung für eine täuschend ähnliche Kopie angesehen wurde, konnte verzichtet werden. Die reduzierte Kopie ermöglichte eine beschleunigte Reproduktionsweise und erschien dadurch als forschungspragmatisch optimale Lösung für die besondere Aufgabenstellung des Germanischen Nationalmuseums. Zum Abschluß skizziert Eyes Text den Erkenntnisgewinn, der bereits durch die bisherige Zusammenstellung möglich ist: »Obgleich die copirten Handschriften grösstentheils nur aus Umrissen bestehen, lässt sich doch ziemlich genau nachweisen, wo jeder einzelne Künstler der Tradition, wo wer dem eigenen Eingebungen folgt«.163 Und auch das zukünftige Erkenntnispotential, das Eye abschließend beschwört, gründet auf der Quantität und 161 | Eye bezieht sich hier offenbar auf den Originalitätsbegriff der klassischen Ästhetik, demzufolge das Bemühen eines Künstlers um die möglichst exakte Nachahmung der Originalität eines anderen dem autonomen Charakter jedes originalen Kunstwerks grundsätzlich entgegensteht – und damit den nur am Original erfahrbaren »Geist der Kunst« notwendig verfehlt. Vgl. Sulzer 1771: Einträge »Copey« und »Originalwerk«; zum Originalitätsbegriff auch: Häseler 2002. 162 | Eye 1854, Sp. 9. 163 | Ebd., Sp. 10.
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nicht auf der Qualität bildlicher Reproduktion: »[E]s ist indessen ersichtlich, welchen Erfolg die Zusammenstellung vieler, wo möglich aller dieser Kunstdenkmäler haben würde, wenn schon die Vergleichung weniger so fruchtbar sich erweist.«164 Auffällig ist, daß Eye die Photographie bei der Erörterung der medialen Voraussetzungen für eine »unmittelbare Vergleichung« von Miniaturen und Handzeichnungen nicht in seine Betrachtung einbezog. Schließlich entsprach die Forderung nach einer absolut unveränderten Wiedergabe (ohne etwas wegzulassen oder hinzuzufügen) einem bereits seit der Erfindung des Mediums kursierenden Topos des photographischen Bildes.165 Die Diskrepanz zwischen dieser Auslassung in Eyes Aufsatz vom Januar 1854 und dem musealen Stellenwert der Photographie im Jahresbericht von 1855 kann als ein Indiz für den relativ plötzlichen Bedeutungszuwachs des Mediums im Germanischen Nationalmuseum betrachtet werden.166 Es bietet sich an, Eyes Text »Ueber Copieen von Miniaturen und Federzeichnungen in alten Handschriften« mit einem Beitrag Jakob Falkes zu kontrastieren, der das Thema der bildlichen Reproduktion in der Anzeiger-Ausgabe vom Juni 1855 aufnahm, darin aber angesichts des Mediums Photographie zu einer völlig anderen Einschätzung kam, was eine für das Museum optimale Wiedergabe auszeichnen sollte. Falke, der etwa zeitgleich über die erstaunlichen Textilkopien Julius Glinskys berichtet hatte, stand den technischen Medien bereits deutlich positiver gegenüber. Der pragmatische Ausweg Eyes aus dem Problem der künstlerisch vermittelnden Kopie war die Durchzeichnung gewesen: der künstlerisch disziplinierte Nachvollzug von Linien, die sich auf einem transparenten Papier abzeichneten. Die Aneignung der Konturen durch die Kopie sollte eine vergleichende Bearbeitung von Bildquellen ermöglichen. Durch diese reduzierte Wiedergabe konnten jedoch bestimmte Fragen zum Kunstwerk wiederum nur anhand der Originale untersucht werden: nach der künstlerischen 164 | Ebd. 165 | Siehe oben, Kapitel 2.1. 166 | Man könnte auch an eine individuelle Skepsis August von Eyes gegenüber dem Medium denken. Dem steht jedoch entgegen, daß auch Eye in späteren Rezensionen gerade die »unparteiische Strenge« der Photographie als ein überlegenes Merkmal gegenüber allen künstlerisch vermittelten Formen der Wiedergabe lobte; z. B. in einer Rezension des photographischen Werks zum Mainzer Dom von Hermann Emden (1857): »Wir sahen vor einiger Zeit einen der ersten Kupferstecher Deutschlands vergeblich sich mühen, den Löwen eines alten böhmischen Bracteaten stilgetreu wieder zu geben. Eine Photographie vollbrachte dies mit der unparteiischsten Strenge. Es dürfte die Zeit nicht fern sein, wo die bisher erschienenen Kupferwerke, welche in der bekannten modernisirenden Manier die alten Denkmäler darstellen, so daß weder Gelehrter noch Kunstfreund rechten Genuß haben, bloß als Anhaltspunkte dienen, um dieselben Gegenstände in mehr entsprechender Weise der Verbreitung zu übergeben. Die Photographie, vielleicht in noch erhöhter Vervollkommnung, ist die eigentliche künstlerische Darstellungsweise der Wissenschaft, ohne Haß und Liebe, wie diese es fordert.« (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1857, Sp. 135).
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Ausführung von Bildflächen etwa oder nach den individuellen Zügen einer künstlerischen Handschrift.167 Gerade solche im engeren Sinn kunsthistorische Fragen standen jedoch für den jüngeren Kulturhistoriker Jakob Falke im Vordergrund, der seit Mai 1855 als Konservator der Kunstsammlungen für das Germanische Nationalmuseum tätig war. Unter anderem war er damit für die Sammlung von künstlerisch interessanten Handzeichnungen zuständig, über die er im Juni-Anzeiger von 1855 einen Bericht publizierte. Der Text verweist auf die besonderen Schwierigkeiten der künstlerischen Reproduktion von Handzeichnungen: »In diesem Fall, wo gerade die freiste Individualität das Bedeutende ist, können Copieen, mit je ängstlicherer Genauigkeit sie gemacht werden, gerade um so weniger dem Studium genügen, da sich ja die Angst und die Sklaverei nicht mit der Sicherheit und der Freiheit vertragen.« 168
Gerade beim Versuch der Wiedergabe freier Handzeichnungen verstrickt sich demnach jeder Kopist in einer Aporie manueller Kunstreproduktion: je skrupulöser er die Erscheinung des Originals nachzuzeichnen versucht, desto weniger läßt seine Kopie von der souveränen Originalität der Zeichnung erkennen. Mit den Mitteln graphischer Reproduktion sind die »möglichst getreuen Copieen« nicht realisierbar, auf welche die vergleichende kunsthistorische Forschung gerade am Germanischen Nationalmuseum in Ermangelung einer ausreichenden Zahl guter Originale besonders angewiesen ist. Anders als Eye ein Jahr zuvor, bezog Falke 1855 aber (von einem kunsttheoretisch vergleichbaren Standpunkt aus) bereits die Möglichkeit technischer Reproduktion in seine Überlegungen ein: »Und dennoch hat die jüngste Zeit ein Mittel gefunden, welches, wenn auch nicht dem Liebhaber, doch dem wissenschaftlichen und künstlerischen Studium fast genügenden Ersatz zu geben vermag. Das ist die Photographie.«169 Der Vergleich beider Texte zeigt, daß mit dem Auftreten der Photographie im Blickfeld des Museums die Voraussetzungen für eine Herstellung von »möglichst getreuen Copieen« neu bewertet werden. Die photographische Reproduktion wird als eine effektivere Annäherung an das Ideal einer ununterscheidbaren Kopie angesehen, die das Original weitestgehend ersetzen kann. Zwar bleiben Differenzen zwischen dem Original und seiner optimalen Kopie bewußt (als Objekt ästhetischer Betrachtung kann die Kopie dem Liebhaber das Original nicht ersetzen) – aber für fast alle vorstellbaren Arten wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung ermöglicht die photographische Reproduktion erstmals einen »fast genügenden Ersatz«. 167 | Dieser bei Eye nicht thematisierte Mangel der Umrisse resultierte insbesondere für die Miniaturen später in der Maßgabe, diesen reduzierten Zeichnungen jeweils ein ausgeführtes Musterblatt beizugeben. »Der Sachkundige wird sich darnach wohl zurecht finden können.« (Germanisches Nationalmuseum 1856a, S. 174). 168 | Falke 1855, Sp. 144. 169 | Ebd.
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Diese letzte Einschränkung bezieht sich offenbar auf unterschiedliche Beispiele von Photographien nach Zeichnungen, die Falke dabei vor Augen hatte. So würden Feder- und Stiftzeichnungen durch Photographie besser wiedergegeben als Arbeiten mit Pinsel oder Wischer, »und es zeigt sich, daß, je klarer der Contour, je reiner die Strichlagen gehalten sind, um so schöner und zweckdienlicher das Abbild wird.«170 Als Medium der Reproduktion zeigt sich die Photographie in dieser differenzierten Betrachtungsweise für verschiedene Objektbereiche des Museums unterschiedlich geeignet; zumindest im Bereich der klar konturierten Handzeichnung definierten photographische Kopien aber einen neuen Standard für ein überzeugendes Faksimile. Aus einem Museum, das es sich zur Aufgabe machte, die ihm nicht verfügbaren Originale in »möglichst getreuen Copieen« zu sammeln, war die Photographie damit nicht mehr wegzudenken.
Verhandlungen des Germanischen Nationalmuseums mit Joseph Albert Jakob Falke war es auch, der im Spätsommer 1855 den Kontakt zu Photographen suchte, die für die Einbindung eines Photoateliers in die Artistische Anstalt des Germanischen Nationalmuseums in Frage kamen. Im kurz darauf veröffentlichten Jahresbericht würde innerhalb eines allgemeinen Lobliedes auf die Reproduktionstechnik mitgeteilt werden, daß das Museum bereits »mit einem der bedeutendsten Photographen in Unterhandlung« stünde, um ein eigenes photographisches Atelier einzurichten.171 Die Anspielung, die den Namen dieses Photographen ungenannt ließ, bezog sich – wie ein Fundstück aus dem Archiv des Museums belegt – auf Joseph Albert, den späteren Münchner Hofphotographen und einen der erfolgreichsten photographischen Unternehmer der 19. Jahrhunderts.172 Der Plan zur Einrichtung einer museumsphotographischen Anstalt nahm damit erstmals konkrete Züge an. Zusammen mit Falkes Aufsatz zur Bedeutung der Photographie als Ersatzobjekt, mit der Begeisterung für die Textilkopien Julius Glinskys und mit dem medieneuphorischen Jahresbericht von 1855 steht er für den Höhepunkt eines sich artikulierenden Interesses an der systematischen Einbindung des Mediums Photographie in das Konzept des Germanischen Nationalmuseums. Falke hatte das Atelier Alberts in Augsburg besucht. Ergebnis der Reise war ein »Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum«. Das achtseitige Papier ist auf den 22. August 1855 datiert. Das Dokument liegt heute, lose ein-
170 | Ebd. 171 | Zweiter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855), S. 10f. Ausführlich: siehe oben, Kapitel 3.1. 172 | Ranke 1977. Albert zog 1858 nach München. Aus seiner Augsburger Zeit ist nur eine einzige Photographie überliefert (vgl. Häußler 2004, S. 173).
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gelegt zwischen den gebundenen Seiten des Aktenfaszikels »Die arbeitenden Künstler betreffend« im Archiv des Museums.173 Das Gutachten stellt gleich zu Beginn die Einbindung der inzwischen technisch fortgeschrittenen Photographie in die Arbeiten des Museums als eine Notwendigkeit heraus: »Die Photographie ist für das german. Museum unter den gegenwärtigen Verhältnissen desselben, bei der Seltenheit und den theuren Preisen der Originale, und andererseits um der hohen Stufe der Vollendung willen, welche sie erreicht hat, nicht nur eine nützliche, sondern auch höchst nothwendige Kunst. Die Fälle selbst, in denen sie Anwendung finden kann, sind so unendlich viele, daß es wohl vortheilhaft erscheinen möchte, wenn das Museum ein eigenes Atelier gründete.« 174
Obwohl er hier ein breites Anwendungsspektrum des Mediums andeutet, konzentriert sich Falkes Gutachten im folgenden auf die photographische Reproduktion von Handzeichnungen, Druckgraphiken und Malereien. Die Abbildung plastischer Kunstwerke oder historischer Gegenstände (Altertümer) durch das Medium Photographie kommt dagegen im Gutachten nicht in Betracht. Mehr noch: die Kunstreproduktion wird in bezug auf die qualitativen Anforderungen und die künstlerische Leistung des Photographen wesentlich höher eingeschätzt als die abbildende Photographie. Und gerade in diesem Anwendungsbereich genügen nach Ansicht von Falke nur wenige Ateliers den besonderen Qualitätsanforderungen, die das Museum an die Anwendung der photographischen Technik stellt: »Zwar existiren am hiesigen Orte photographische Anstalten, allein ihre Arbeiten, wie Proben beweisen, wenn sie auch vielleicht für Architektur genügend sein mögen, haben beiweitem nicht die ausreichende Vollkommenheit erlangt, wie sie in diesem Falle, wo es sich um Kunstsachen der feinsten Arbeit, Kupferstiche, Holzschnitte, Handzeichnungen, Miniaturen, Oelbilder u. s. w. handelt, durchaus erforderlich ist; nur die höchste und getreuste Wiedergabe kann hier genügen.« 175
Im Vergleich zur heutigen Wahrnehmung von künstlerischer Bildphotographie und Reproduktionstechnik erscheint das Verhältnis hier geradezu umgekehrt. Vor dem Hintergrund der um 1855 deutlich werdenden Ausrichtung der Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums am Konzept der optimalen Reproduktion (nach dem Modell des Faksimiles) ist diese Bewertung unterschiedlicher photographischer Praktiken aber durchaus folgerichtig. Von zentraler Bedeutung für den angestrebten Medieneinsatz im Museum ist nicht die ›Reichweite‹ des photographischen Verfahrens (das Spektrum zwei173 | GNM-Akten K 3, Nr. 15: Jakob Falke, Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum, 22. August 1855 (nach fol. 60). 174 | Ebd., S. 1-2. 175 | Ebd., S. 2.
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oder dreidimensionaler Objekte, die photographisch abgebildet werden können), sondern die Qualität der photographischen Wiedergabe in einem ganz bestimmten Segment: der Reproduktion bildlicher, zweidimensionaler Kunstwerke (Handzeichnung, Druckgraphik, Malerei). Hier scheint die Photographie eine im Vergleich zu anderen Medientechniken optimale Annäherung an das Original zu gewährleisten. Allerdings ist dabei nicht schon allein die Photographie (als Medientechnik) der Garant für ein hinreichendes Resultat – es bedarf einer gelungenen Anwendung der Technik durch einen photographischen Künstler. Das Ziel, eine eigene photographische Anstalt einzurichten, ergibt sich aus dieser Einsicht in die Qualitätsunterschiede zwischen photographischen Arbeiten. »Eine eigene Prüfung« hätte Falke davon überzeugt, »daß die Arbeiten des Photographen Albert in Augsburg gerade auf dem hier in Frage kommenden Gebiete alles leisten, was diese Kunst überhaupt in gegenwärtiger Zeit vermag.«176 Tatsächlich war Albert als Photograph seit 1854 gerade durch seine Reproduktionen von Handzeichnungen hervorgetreten;177 sein Spezialgebiet lag genau in dem Anwendungsbereich, in dem Falke die besondere Eignung von Photographie für das Museum herausgestellt hatte. Er lobt an Alberts Arbeiten insbesondere die photographische Wiedergabe von Druckgraphik. So würde etwa »[d]ie größten Kupferstiche, wie z. B. der bekannte der Sixtinischen Madonna, [...] in jedem Strich mit solcher Schärfe und Genauigkeit wiedergegeben, daß die Unterscheidung vom Original schwer gewesen wäre, wenn nicht der bräunliche Ton in Papier und Zeichnung die Photographie verrathen hätte«.178 Die Wiedergabe erreicht demnach die Qualität eines gelungenen Faksimiles, das kaum vom Original unterscheidbar ist. Falke bemerkt bewundernd, wie deutlich »selbst die Güte und Beschaffenheit des Papieres der Originale zu erkennen« sei: »Das grobe und rauhe unterschied sich leicht vom feinen durch die kleinen leichten Schatten, welche von den geringfügigen Erhöhungen geworfen waren.«179 In dieser Bewertung zeichnet sich auch der technische Fortschritt der Papierphotographie ab. Die Einführung von Glasnegativ und Albuminpapier in den photographischen Reproduktionsprozeß zu Beginn der 1850er Jahre erzielte nicht nur eine größere Detailschärfe als dies etwa Talbot mit seinen Kalotypien (Salzpapierabzügen von Salzpapiernegativen) möglich gewesen war – das Bildsilber trat zudem auf einer glatten Oberfläche in Erscheinung, die 176 | Ebd., S. 2. Konsequent bezeichnet Falke die Arbeiten Alberts im folgenden Teil des Gutachtens jeweils als Kunst. 177 | Alberts erste selbstverlegte Photographien nach Handzeichnungen des Augsburger Künstlers Rugendas wurden bei ihrer Präsentation auf der »Allgemeinen deutschen IndustrieAusstellung« (München, 1854) als Meilenstein der photographischen Kunstreproduktion gefeiert (Ranke 1977, S. 10; von Dewitz/Matz 1989, S. 193). 178 | GNM-Akten K 3, Nr. 15: Jakob Falke, Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum, 22. August 1855 (nach fol. 60), S. 2f. 179 | Ebd., S. 4.
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keine eigene Struktur, sondern nur die Oberflächenstruktur der graphischen Vorlage zu erkennen gab. Dies verstärkte die Wahrnehmung der Photographie als ein Medium der Transparenz.180 Als Spur des vermittelnden Mediums bleibt in diesem Fall lediglich die gelb-bräunliche Tönung des belichteten Albuminpapiers sichtbar, die von Falke aber offenbar nicht als entscheidender Eingriff in das Erscheinungsbild des Originals gewertet wird. Ausgeschaltet wird in der photographischen Reproduktion somit scheinbar die Transformationsleistung eines vermittelnden Künstlers, mithin die entscheidende Komponente in der Tradition der Kupferstichreproduktionen von Gemälden. Solche Reproduktionsstiche verstanden sich nämlich als künstlerische Übersetzungen eines Gemäldes in ein druckgraphisches Bild – nicht als bloße Wiedergabe, sondern als eine zweite Erscheinungsform des Kunstwerks. Somit folgt der von Falke als Original bezeichnete Kupferstich (die Vorlage der photographischen Reproduktion Alberts) aber einer ganz anderen Philosophie der Reproduktion. Falke kann sich mit dem als besonders groß und bekannt charakterisierten Kupferstich der Sixtinischen Madonna nur auf den 1816 veröffentlichten Kupferstich Friedrich Wilhelm Müllers beziehen, der im 19. Jahrhundert als ein Meisterwerk der Reproduktionsgraphik galt.181 Die mediale Konstellation, die im Gutachten beschrieben ist, erinnert dadurch an den Einschluß von Strixners Lithographie in Talbots photographischem Faksimile einer Handzeichnung.182 Denn gerade Müllers Reproduktionsstich steht für einen besonders intensiven Prozeß der künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Original, der sich in diesem Fall über zehn Jahre erstreckte, bevor Müller das Gemälde Raffaels in eine adäquate graphische Form übersetzt hatte (Abb. 13). Unmittelbar vor dem Eintreffen der ersten endgültigen Abzüge seiner Platte aus Paris war er in einer psychiatrischen Anstalt in Pirna verstorben. Der Kupferstich, um dem sich nicht zuletzt durch diese Entstehungslegende eine Art Aura gebildet hatte, wurde als die gelungenste Annäherung an den künstlerischen Ausdruck Raffaels im Original angesehen und behauptete damit zugleich seinen Stellenwert als eigenständiges Kunstwerk. Daß Falke den Reproduktionsstich als Original bezeichnet, entspricht somit durchaus der dominanten Wahrnehmungsweise im 180 | Zur Verbindung der technischen Voraussetzungen mit diesem Wahrnehmungswandel: Frizot 1998a, S. 95: »Entstand mit dem Wechsel zum Glasnegativ auch eine eigene Ästhetik? Der neue Schichtträger hatte ohne Zweifel Folgen für die fotografische Praxis, die sich nicht auf die Technik und die Regeln einer handwerklichen Zunft beschränkten. Auch die geistige Einstellung des Fotografen zur Realität, die Frage, was er tun kann und soll, um ein Bild zu machen, änderte sich. Der praktischen Philosophie der Kalotypie erschien das Papiernegativ als ein Schirm, der das einfallende Licht auffängt und festhält, um ein Abbild zu liefern, das intuitiv als semiopaker Abdruck aufgefaßt wurde. Die neue Fotografie brachte dagegen mit ihren Glasplatten eine Transparenz des Mediums mit sich (sicherlich, ohne daß es den Protagonisten bewußt war), die sowohl im materiellen als auch im übertragenen Sinne verstanden werden konnte.« 181 | Dazu und zum folgenden: Höper 2001, S. 92–94; Ullrich 2009, S. 19–33. 182 | Siehe oben, Kapitel 3.2.
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Abb. 13: Kupferstiche nach Raffaels »Sixtinischer Madonna«, Gegenüberstellung und Plattenzustände Ausstellungskatalog »Raffael und die Folgen«, Stuttgart 2001
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Zeitalter graphischer Reproduzierbarkeit. Damit ist eine Auffassung von Reproduktion zum Ausdruck gebracht, die noch nicht scharf zwischen Original, Meisterwerk und Künstler auf der einen, Kopie, Massenbild und Technik auf der anderen Seite trennte. Das Original hinter dem Original (des Kupferstichs), das Gemälde Raffaels, zeigte sich 1855 übrigens nicht mehr in dem Zustand, der Müllers Reproduktionsstich von 1816 zugrunde gelegen hatte. Das Gemälde war 1827 restauriert worden; als bisher verborgenes Element der Komposition war dabei am oberen Rand eine Vorhangstange (wieder) ins Bild gesetzt worden.183 Original und Reproduktion bestimmen sich in ihrem relationalen Verhältnis durch einen Prozeß der Aneignung, sind von da an jedoch einer individuellen Zeitlichkeit unterworfen. Photographie und Kupferstich stehen hier für zwei unterschiedliche Philosophien von Reproduktion, deren zukünftiger Gegensatz sich andeutet, die aber in der praktischen Reproduktionstätigkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch lange koexistierten und teilweise ineinander verwoben blieben. Insbesondere Photographien nach Gemälden konnten noch bis zum Ende des 19. Jahrhundert nur durch eine graphische Vermittlungsarbeit überzeugen, durch die die photographische Aufzeichnung an den Wahrnehmungseindruck des originalen Gemäldes angenähert wurde.184 In seinem Gutachten lobt Falke aber auch explizit die »Photographien nach Oelgemälden«, bei denen er »die sonst so störenden Wirkungen der verschiedenen Farben gänzlich beseitigt« sieht. Stattdessen stimme alles – die Verteilung von Licht und Schatten, die Modellierung der Figuren, die gleichmäßige Behandlung der gesamten Bildfläche – genau so zusammen, »wie auf dem Original selbst«.185 Alberts Photographien überzeugen im Vergleich mit ungenügenden Beispielen photographischer Gemäldereproduktion, auf die sich Falke offenbar berufen konnte. Erst in der von Albert vorgeführten Wiedergabequalität erscheint das Medium Photographie als eine ernstzunehmende Alternative zur traditionellen Übersetzung des Gemäldes in den Kupferstich. Der Besuch Jakob Falkes bei Joseph Albert in Augsburg korrespondiert durchaus mit seinem Bericht über die Textilkopien Julius Glinskys in Berlin (und erinnert zugleich an die ersten Andeutungen über den zukünftigen Nutzen der Bilder Daguerres durch den Pariser Feuilletonisten Jules Janin):186 die Vorstellung der zukünftigen Bedeutung einer Medientechnik entwickelt sich jeweils am Suggestionspotential überzeugender Bildbeispiele. Die konkreten Produktionsbedingungen, die praktischen Prozesse der Reproduktion, die 183 | Diese Vorhangstange wurde erstmals 1841 in einem allerdings weniger bekannten Stich von Auguste Desnoyers wiedergegeben (Höper 2001, S. 94). 184 | Bann 2003, S. 21f. 185 | GNM-Akten K 3, Nr. 15: Jakob Falke, Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum, 22. August 1855 (nach fol. 60), S. 3. 186 | Siehe oben, Kapitel 2.1.
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hinter diesen beeindruckenden Bildleistungen standen, blieben jeweils ausgeblendet. Als Modell und innovatives Konzept exakter Reproduktion ließ sich die Photographie relativ einfach in das ebenfalls auf die Zukunft gerichtete Projekt des Germanischen Nationalmuseums integrieren; die tatsächliche Einbindung der Photographie in die praktische Arbeit des Museums erwies sich jedoch als wesentlich problematischer. Später sollte sich bei der Reproduktion eines programmatischen Freskos des Germanischen Nationalmuseums (unter Mitwirkung von Joseph Albert) zeigen, welchen zeitlichen und logistischen Aufwand die photographische Reproduktion eines Kunstwerks erfordern konnte und welche vermittelnden Eingriffe und Manipulationen für ein überzeugendes Bildergebnis mitunter notwendig waren.187 Trotz des positiven Gutachtens kam die 1855 in Aussicht stehende institutionelle Verbindung des Germanischen Nationalmuseums mit Joseph Albert nicht zustande. Und dies, obwohl auch Albert – nach der Darstellung von Falke – aufgrund seines besonderen Interesses an Kunstreproduktionen »einer Verbindung mit dem germanischen Museum persönlich nicht abgeneigt« gewesen sei.188 Tatsächlich zeigt ja das zeitgleiche museale Engagement der englischen Photographen Roger Fenton (Bristih Museum) und Charles Thurston Thompson (South Kensington Museum), daß Museen den Photographen in den 1850er Jahren ein durchaus interessantes Betätigungsfeld innerhalb einer noch zwischen Kunst und Technik, Experiment und Geschäft oszillierenden Medienpraxis boten.189 Letztlich gaben wohl vor allem logistische und finanzielle Hindernisse den Ausschlag. Da Albert sein mit hohem Kostenaufwand in Augsburg etabliertes Atelier nicht dauerhaft nach Nürnberg verlegen wolle (bzw. nur zu einen Preis, den das Museum nicht bezahlen könne), diskutiert Falke folgende Alternative: entweder müsse Albert »mit seinen Maschinen« zeitweilig nach Nürnberg kommen oder einer der Beamten müsse mit den Kunstwerken nach Augsburg und wieder zurück reisen. Aus Kostengründen plädiert Falke für die Variante des begleiteten Transfers der Originale. Eine Lieferung der Originale von Nürnberg nach Augsburg mit der Post sei das Einfachste, scheide aber aus, weil »[d]ie Kunstwerke nämlich, welche das Museum photographieren lassen
187 | Siehe dazu ausführlich unten, Kapitel 3.4. Falke ging in seinem Gutachten optimistisch davon aus, daß »im Laufe eines Tages wenigstens 20-25 negative Platten angefertigt werden könnten«. GNM-Akten K 3, Nr. 15: Jakob Falke, Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum, 22. August 1855 (nach fol. 60), S. 7. 188 | Ebd., S. 4: »Da ihm von seiner Kunst der liebste Theil die Wiedergabe von Kunstwerken ist, da dieselbe ihm auch Gelegenheit verschafft, zu einigem Nachdenken und Sinnen auf Verbesserung und Vervollkommnung seiner Arbeiten, so ist er einer Verbindung mit dem germanischen Museum persönlich nicht abgeneigt.« 189 | Siehe oben, Kapitel 1.
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will, [...] in fast allen Fällen nicht seine eigenen, sondern ihm von den fremden Besitzern zum Copiren anvertraut [sind]«.190 Deutlich wird damit noch einmal die Einbettung der Gespräche mit Joseph Albert in das museale Konzept eines Reproduktionsmuseums. Das Germanische Nationalmuseum zielte mit der Photographie nicht auf die Vervielfältigung und Veröffentlichung der eigenen Bestände, sondern auf die Aneignung auswärtiger Originale durch eine vom Museum systematisch organisierte Reproduktion zweidimensionaler Kunstwerke.
Der Diskurs der Photographie am Germanischen Nationalmuseum Nachdem ein Vertrag mit Joseph Albert nicht abgeschlossen worden war, plante das Museum 1856, den als Inspektor der Artistischen Anstalt angestellten Holzschneider und Lithographen Karl Hambuch zukünftig auch als Photographen einzusetzen – was anscheinend nicht gelang.191 Die Photographie blieb eine museale Medientechnik im Wartestand. Mit dem Umzug des Germanischen Nationalmuseums in das ehemalige Nürnberger Kartäuserkloster im Jahr 1857 wurden Räumlichkeiten für die Photographie eingeplant, doch blieb die »sehr nothwendige photographische Anstalt« als »das nächste Bedürfniß« des Museums zunächst weiterhin lediglich im Diskurs des Museums präsent.192 1857 setzte sich auch der Gelehrtenausschuß des Museums mit der Bedeutung der Photographie für das Museum auseinander.193 Zunächst wurde noch einmal die Grundsatzfrage der Sammlungskonzeption erörtert: »Zu wie weit sind Originale nöthig, wie weit reichen Copien?« Im Protokoll wurde dazu festgehalten: »Dem Zwecke des Museums dürften in der Regel Copi190 | GNM-Akten K 3, Nr. 15: Jakob Falke, Gutachten über eine Benützung der photographischen Anstalt des Herrn Albert in Augsburg durch das germanische Museum, 22. August 1855 (nach fol. 60), S. 5. 191 | In der Instruction für den Inspector der Artistischen Anstalten (Nürnberg, 7. Mai 1856) Karl Hambuch aus Stuttgart heißt es unter §1, er habe den Auftrag »künstlerische und technische Arbeiten zu fertigen, insbesondere Holzschnitte, Steindrücke, Photographien, sobald er deren Anfertigung erlernt hat, sowie Zeichnungen und Malereien in Wasserfarben. Er wird sich auch neben der Photographie in Galvanoplastik und Naturselbstdruck üben und dergleichen Arbeiten für das Museum fertigen.« (GNM-Archiv K 35, »Varia«). Hambuch schied bereits im Oktober 1857 aus dem Museum aus (GNM-Akten, K 3, Nr. 15, fol. 114) – im Streit mit etlichen Künstlern und Beamten, die ihm »böswillige Angebereien, Verleumdungen u. s. w.« und ein »eingestandenes Vergehen gegen Zucht und Sitte« vorwarfen und seine Entlassung gefordert hatten (GNM-Akten, K 3, Nr. 15, fol. 116). 192 | Vierter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1857), S. 5; Fünfter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1858), S.4. Plan der Kartause mit Photographie-Atelier (Stand 1858): Veit 1978a, S. 22. 193 | GNM-Akten K 729, fol.118f.: Protokoll der Sitzung des Gelehrtenausschusses vom 11. September 1857.
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en völlig genügend seyn und da dasselbe Universalität anstrebt, so ist solche in der That nur auf dem Wege der Copierung zu erreichen.« Nachdem der universale Anspruch der Sammlungen festgestellt worden war, kam die Frage nach der Reichweite der Photographie zur Sprache: »Ist Photographie bei Allem anwendbar, z.B. bei Architektur?« Die Gelehrten bestätigten dabei die differenzierte und auf die jeweils optimale Annäherung an das Original abgestimmte Reproduktionspraxis, erteilten also dem in der Frage anklingenden universalen Anspruch des Mediums Photographie eine Absage: »Photographien sind in solchen Fällen, wo es sich um Details eines Individuums handelt, vorzüglich anwendbar und auch bei Architekturgegenständen zu benützen; wo jedoch die Charakterisierung eines Gegenstandes vorzugsweise durch die Farbe gegeben wird, dürften Zeichnungen den Photogr. vorzuziehen seyn, da letztere leichte falsche Vorstellungen erwecken; der gleiche Fall ist auch für manche Reliefs u.s.w. möglich. Es dürfte also für die Copierung neben der Photographie die Anwendung von Zeichnung beibehalten bleiben, und in jedem einzelnen Fall den Sammlungsvorständen anheimgestellt seyn, welche Art der Copierung angemessen sey.« 194
Ebenso stehen die Rezensionen photographisch illustrierter Publikationen im Anzeiger für eine ausgesprochen differenzierte (wenn auch überwiegend deutlich positive) Wahrnehmung des Mediums. Die Beurteilung ist im Einzelfall immer auf bestimmte Anwendungsgebiete und den intermedialen Vergleich mit anderen Bildmedien bezogen.195 Zwischen 1855 und 1865 erscheinen einige Rezensionen, in denen der Bildinhalt und thematische Zusammenhang der Photographien gegenüber einer expliziten Medienreflexion fast völlig in den Hintergrund rückt, wie z. B. in der (hier vollständig wiedergegebenen) Besprechung eines Tafelwerks württembergischer Fest- und Ehrenpokale, der fast nichts über die abgebildeten Gefäße aber sehr viel über die Art der Abbildung verrät: »Wenn auch die Photographie als eins der hervorragendsten Mittel technischer Vervielfältigung auf dem engeren Gebiete der Kunst erwachsen ist, hat man doch ihre weit größere Wichtigkeit, ihre Unentbehrlichkeit für die Wissenschaft längst erkannt und auch in Deutschland zur Geltung zu bringen begonnen. Dem Forscher, welche nicht im Stande ist, das Original einzuschauen, vermag einen Ersatz nur die Photographie zu gewähren, die allein die wahre Physiognomie des Dinges, den hinter den eigenthümlichen Formen versteckten Geist 194 | Ebd., fol. 118 (revers) 195 | In diesem Vergleich wird teilweise auch die graphische Wiedergabe als Mittel der Wahl bezeichnet – interessanterweise gerade, weil sie bei Abbildungen die Details besser zu erkennen gibt. So in einer Rezension zu: Die vorzüglichsten Rüstungen und Waffen der k.k. Ambraser Sammlung in Original-Photographien von And. Groll. (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1857, Sp. 235): »Die Abbildungen sind von großer Schönheit; doch drängt sich die Frage auf, ob bei Gegenständen von vorwiegendem technischen Gehalte nicht besser der Kupferstich als die Photographie, die mehr eine malerische Wirkung gewährt und immer einzelne Teile im Dunkeln läßt, angewendet wäre.«
K APITEL 3.3 | L ICHT UND S CHATTEN mit vollkommener Treue wiedergibt, während jede andere Art der Nachbildung an jener Abschwächung und Fälschung des wahren Charakters leidet, die ihre Erzeugnisse für das Studium stets sehr zweifelhaft macht. Zu bedauern ist nur, daß die Kostbarkeit photographischer Vervielfältigung den Vortheil, den sie gewährt, andererseits gar zu sehr beschränkt, und darum doppelt lobwürdig jedes Unternehmen, das mit Entschiedenheit, die entgegenstehenden Schwierigkeiten übersehend, den Nutzen der Wissenschaft nöthigenfalls auch mit Opfern fördert. Ein solches Unternehmen liegt in dem oben genannten Werke vor und empfiehlt sich dem Kenner nicht nur durch die Vorzüglichkeit seiner Leistungen, sondern in namhafter Weise auch durch die massenhafte Zusammenstellung gleichartigen Materials, das erst dadurch als selbständige Macht auftritt und sich als berechtigt für die eingehendere wissenschaftliche Würdigung ankündigt. – Das ganze Werk, zu welchem noch sechs Supplementblätter kommen, kostet 50 fl.« 196
Daß die Photographie als Modell der Originaltreue auch die Wahrnehmung und Praktiken der etablierten Bildmedien verändert, wird auch in der unmittelbar daran anschließenden Rezension deutlich.197 Zeichnungen, die früher als Dokumente einer »selbstverläugnendsten Treue« gelten durften, erscheinen dem Rezensenten nunmehr als zeitgebundene und teilweise willkürliche Adaptionen. Im Gegensatz zur vorherigen Besprechung wird die Originaltreue hier aber nicht ausschließlich der Photographie, sondern auch der Zeichnung zugestanden. Die Treue wird weniger als technischer Effekt, sondern als künstlerische (Ent-)Haltung charakterisiert, gegebene Objekte »in schlichtester, doch um so wirksamer und brauchbarer Weise, getreu nach dem Originale abzubilden«.198 Diese grundsätzlich positive aber noch nicht endgültig festgelegte Einstellung gegenüber dem Medium Photographie spiegelt sich auch in den eigenen Publikationen des Museums bzw. in denen seines leitenden wissenschaftlichen Beamten August von Eye. Für die Herausgabe einer »Gallerie der Meisterwerke altdeutscher Holzschneidekunst« (in mehreren Lieferungen ab 1856) wurden lithographische Faksimiles,199 für »Die Meisterwerke der Kupferstecherkunst« (ab 1861) Photographien verwendet. In der dazu 1862 im Anzeiger publizierten Rezension wird noch einmal die besondere Eignung der Photographie für Reproduktionen von Graphik konstatiert. Kritisiert wird hingegen »die in neuerer Zeit fast überhandnehmende Industrie, Denkmäler der alten Kunst auf photographischem Wege nachzubilden [...], da z. B. ein Gemälde, wenn es erst aus freier Hand gezeichnet wird, um photographiert zu werden, leicht seinen ursprünglichen Charakter und die feinste Weihe des
196 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1863, Sp. 112. 197 | Zur Auswirkung der Photographie auf die Vorstellungen der bildlichen ›Treue‹: Daston/ Galison 2002. 198 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1863, Sp. 112. (Rezension zu G. Bunz: Der Altar in der Herrgottskirche bei Creglingen an der Tauber). 199 | Diese wurden in einer Kurzbesprechung im Deutschen Kunstblatt 8, 1857, S. 114 in ihrer täuschend echten Qualität gewürdigt.
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Genius verliert, die dem Originale seinen Wert verleiht.«200 Der Mehrwert der photographischen Reproduktion wird im unverfälschten Blick auf das Original gesehen. Sobald jedoch Zwischeninstanzen und Vermittlungsschritte notwendig wurden, um eine überzeugende Reproduktion zu erzielen (wie es vor allem in der photographischen Gemäldereproduktion bereits üblich geworden war), wurde die dank der Photographie mögliche Durchsicht auf den »ursprünglichen Charakter« des Originals getrübt.
Die Ambivalenz der photographischen Reproduktion Die Bewertung des Mediums Photographie im Museum ging von konkreten photographischen Praktiken aus. Diese veränderten sich seit der Mitte der 1850er Jahre, indem die Ökonomisierung der Photographie an Dynamik gewann. Der Übergang vom Experiment zum Geschäft photographischer Kunstreproduktion zeichnete sich ab.201 Die Wahrnehmung des Mediums orientierte sich in der Folge seltener an der einzelnen Bildleistung als Beleg für das Potential der Photographie (wie in Falkes Gutachten über Joseph Alberts Arbeiten) und stattdessen häufiger am typischen Bildergebnis serieller Großauflagen. Diese industriell betriebene Massenproduktion photographischer Bilder erforderte eine Standardisierung und die Suche nach effizienten Produktions- und Vertriebsformen, bei der nicht immer die Qualität der einzelnen Kunstreproduktionen im Vordergrund stand.202 Blieb die Bewertung der Photographie im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit aber grundsätzlich positiv, artikulierte sich im Archiv für die zeichnenden Künste seit Ende der 1850er Jahre vermehrt Kritik an der photographischen Reproduktion. Besonders deutlich liest sich diese im 1859 veröffentlichten Beitrag eines »C. L.« über »Die Photographie als Mittel der Reproduktion«. Er bietet in seinem Urteil ein Gegenbild der Positionen, die Falke 1855 bezogen hatte. C. L. lehnt die Photographie als Medium der Kunstreproduktion ab – und zwar sowohl für Gemälde als auch für Druckgraphiken und Handzeichnungen. Neben den primär technischen Problemen (Fehlfarben und zu harte Kontraste bei der Wiedergabe von Malerei, ineinanderfließende Linien bei Druckgraphiken, fehlende Details der zarten und nur angedeuteten Linien von Handzeichnungen) erkennt er aber auch einen grundsätzlichen Mangel in der spezifischen Medialität der Photographie: 200 | Rezension zu: August von Eye (Hg.): Die Meisterwerke der Kupferstecherkunst (Nürnberg 1861). In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1862, Sp. 174. 201 | Pohlmann 1989, S. 499. 202 | Beispielhaft für diese Entwicklung hin zur professionalisierten Berufsphotographie steht der Name des französischen Photographen André Adolphe Eugene Disdéri, der durch die Erfindung des Visitkartenformats (unter Verwendung einer Kamera mit mehreren Linsen) die Effizienz der photographischen Vervielfältigung merklich steigerte. Gleichzeitig wurde die mit Disdéri beginnende Kommerzialisierung seitens der Photohistoriographie immer wieder für den ästhetischen Niedergang der frühen Photographie verantwortlich gemacht (vgl. Philipp 1992, S. 38f).
K APITEL 3.3 | L ICHT UND S CHATTEN »Ein dritter Uebelstand liegt eben in der mechanischen Genauigkeit der Wiedergabe, da eben so gut, wie die Eigentümlichkeit der Zeichnung meistens wiedergegeben wird, auch alle äusseren Mängel der Bilder, wie Risse oder Sprünge im Firniss, Retouchen u. dgl., wie sie ja so häufig bei alten Bildern vorkommen, aufs Genaueste hervortreten, was höchst störend auf den Beschauer wirkt. Wie ganz anders sieht dagegen ein von einem tüchtigen Künstler gefertigter Kupferstich aus! Hier ist bei sonst guter Zeichnung jeder, auch der schwächste Ton in seiner richtigen Stärke wiedergegeben, alles Fremdartige, was das Original vielleicht besitzt, vermieden, und das Helldunkel in seiner ursprünglichen Schönheit dargestellt.« 203
Die optimale Reproduktion ist nach dieser Auffassung nicht eine Annäherung an das gegenwärtige Erscheinungsbild eines Originals, sondern eine Annäherung an die ›ursprüngliche‹ Erscheinungsform des Originals. Im Jahr 1865 publizierte der Herausgeber des Archivs für die zeichnenden Künste, der Leipziger Kunsthändler Rudolph Weigel ein »Beschreibendes Verzeichnis der in Kupfer gestochenen, lithographierten und photographierten Facsimiles von Originalzeichnungen großer Meister«.204 Die Einleitung zu diesem Katalog ist bis heute eine der »eine der ausführlichsten und genauesten Bestimmungen zum Prinzip Faksimile« geblieben.205 In ihr stellte Weigel zwei gegensätzliche Philosophien des Faksimiles einander gegenüber, in denen sich auch die Ambivalenz der Photographie spiegelt. Weigel setzte diese Art der Kunstpraxis sowohl von der schöpferischen Originalgraphik als auch von der übersetzenden Reproduktionsgraphik ab: Faksimiles seien »genaue Nachahmungen der von den Künstlern in ihren Zeichnungen angewendeten Manier, mit der ausschließlichen Absicht, das Original in möglichster Treue wiederzugeben«206 Die entscheidende Neuerung der Photographie sei es gewesen, das mühevolle Unterfangen künstlerischer Enthaltsamkeit durch einen technisch bedingten Prozeß ersetzt zu haben.207 Im Gegensatz etwa zu Talbots Sichtweise von einer photographischen 203 | C. L. 1859, S. 137. Ähnliches sei auch bei photographischen Kopien von Handzeichnungen zu konstatieren, »denn auch bei diesen spielen noch mehr als bei Gemälden Beschädigungen aller Art, das oft vorkommende gerippte Papier, sowie Retouchen, eine grosse Rolle.« Die Kritik von C. L. ist konkreter und medienspezifischer formuliert als die ablehnende Haltung Henri Delabordes (1856), die Wolfgang Kemp in seiner Kompilation zur »Theorie der Fotografie« als erste negative Äußerung gegenüber der Reproduktionsleistung der Photographie zitiert (Kemp 1999, S. 128–133). Ähnlich sind hingegen die 1866 vorgetragenen Kritikpunkte des Wiener Kunsthistorikers Moritz Thausing (ebd., S. 136-138): neben technischen Problemen ist es die fehlende Selektion zwischen den »Zufälligkeiten des Materials« und den »Intentionen der Meisterhand«. 204 | Weigel 1865. Weigel war seit 1854 als Experte für Handzeichnungs-, Kupferstich- und Holzschnittkunde auch Mitglied im Gelehrtenausschuß des Germanischen Nationalmuseums (Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1104). 205 | Rebel 1981, S. 4. 206 | Weigel 1865, S. XI 207 | Ebd., S. XIV-XV: »Alle Arbeit des Stechers und Zeichners, welcher einer Handzeichnung gegenüber nur exacter Copist, nicht geistvoller Übersetzer sein darf, schien jedoch überflüssig
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Kunst ist das Medium Photographie Mitte der 1860er Jahre unter Kunstkennern wie Rudolph Weigel bereits auf eine ausschließlich technische Dimension festgelegt, die einen eigenen Kunstwert geradezu ausschließt.208 Das unkünstlerische Medium wird aber andererseits erst dadurch zum Garanten der künstlerischen Enthaltsamkeit, die das Faksimile auszeichnet: »Die Photographie leistet allerdings durch diejenige Eigenthümlichkeit, um derentwillen sie der Natur gegenüber nicht als Kunst gelten kann, in der Wiedergabe von vorhandenen Kunstwerken und ganz speciell von Handzeichnungen einzig und allein die volle Garantie der Treue«.209 Das photographische Faksimile stellt somit als ein neuer Maßstab größtmöglicher Annäherung nicht nur die bisherige Praxis der Faksimilierung in Frage, sondern veränderte auch die Rezeption aller bisher als Faksimile angesehenen Bilddrucke. »Niemand vermag sich der Ueberzeugung zu verschließen, dass die ganze Facsimile-Nachbildung von Zeichnungen durch diese Erfindung in ein neues Stadium getreten ist. Erst jetzt hat sich der Blick der Kunstfreunde soweit geschärft, um gegenüber der unbedingten Treue der photographischen Copien die subjektiven Verschiedenheiten in den Arbeiten früherer Nachbildner wahrzunehmen, und allerdings sind bei der Wiedergabe oder Wiederholungen von Zeichnungen die früheren Stiche oder Lithographien in den namhaftesten Handzeichnungswerken ungeniessbar geworden für diejenigen, welche vor Allem in der Vervielfältigung einer Zeichnung den unveränderten Zug der Urheber-Hand nachgeniessen wollen, denn auch dem besten Stecher oder Stein-Zeichner kann es nicht gelingen, während er sorgsam Strich für Strich und Punkt für Punkt auf seiner Platte hervorruft, die volle Unbefangenheit, mit welcher der Maler seinen Stift oder Pinsel führte, sich zu erhalten und wo wir jetzt im Facsimilestich die Eigenthümlichkeit auch des rühmlichst bekanntesten Copisten erkennen, glauben Viele das entsprechende photographische Abbild vorziehen zu müssen, auf welchem der Meister des Urbildes thatsächlich selbst gearbeitet hat.«210
Die photographische Reproduktion von Handzeichnungen, die sich schon bei Talbot als zukünftiges Anwendungsgebiet des Mediums angedeutet hatte, wurde mittels der neuen Technik des Naßkollodiumverfahrens um 1854/55 intensiviert (unter anderem durch die Arbeiten Joseph Alberts). 1865 konnte Weigel in seiner Sammlung von Faksimilereproduktionen bereits eine umzu werden, seitdem in der wunderbaren Erfindung Daguerre’s der Fortschritt geschehen war, das Spiegelbild der Camera Obscura in Schatten und Licht auf dem vorbereiteten Papier zu befestigen.« – Im medienhistorischen Rückblick von 1865 aus sind die Differenzen disparater photographischer Verfahren (auf Metall bzw. auf Papier) bereits im Schmelztiegel des Mediums Photographie zusammengeworfen. Eine ontologische Sichtweise auf die Photographie als ausschließlich technisches Bildmedium kündigt sich an. 208 | Die Photographie wurde unter dem Einfluß einer neuromantischen Kunsttheorie seit dem Ende der 1850er Jahre zunehmend auf eine dienende Funktion gegenüber der Kunst festgelegt (vgl. Kemp 1999, S. 121 und passim). 209 | Weigel 1865, S. XV. 210 | Ebd.
K APITEL 3.3 | L ICHT UND S CHATTEN
fangreiche Menge photographischer Bildresultate zum Vergleich mit den traditionellen Faksimile-Bilddrucken heranziehen. Neben den Vorteilen der technisch bedingten Objektivität kamen bei einer solchen Betrachtung aber auch medienspezifische Nachteile in den Blick. Weigel folgt hier der bereits von C. L. formulierten Kritik: »Aber freilich ist es immer nur ein getrübtes Abbild, welches die Photographie theils in Folge ihrer bisherigen Unvollkommenheit, theils um ihrer wesentlichen Eigenschaften willen, uns vorzuführen im Stande ist, und bei aller Anerkennung ist es unmöglich, sich der Wahrnehmung ihrer Mängel zu verschliessen. Abgesehen nämlich von dem praktisch und finanziell sehr wesentlichen Bedenken über die Haltbarkeit der Photographie, für welche auf Jahrzehnte hinaus zu garantiren immer noch sehr gewagt ist, vermag die Photographie einmal die Farbenwirkung der Originale nicht wiederzugeben, sondern verändert dieselbe vielmehr vermittelst ihrer Eigenschaft die Farbenscala vom Blau nach dem Gelb unverhältnismässig stark zu verdunkeln, in einer oft störenden Weise, und andererseits giebt sie alle zufälligen Beschädigungen des Originals, die Papierflecke und Risse ebenso treu wieder als das Wesentliche der Zeichnung selbst.« 211
Eine Trübung erfährt die Wertschätzung des so transparenten Mediums also nicht zuletzt durch den Charakter der Transparenz selbst. Der photographische Prozeß selektiert nicht zwischen wesentlichen und unwesentlichen Elementen der Vorlage, sondern gibt alle sichtbaren Bildspuren ohne jede kunstbewußte Hierarchisierung wieder. Der Effekt der Wiedergabe kontingenter Gebrauchs- und Altersspuren, die sich im Laufe der Zeit in der Materialität eines einzigartigen Kunstwerks ablagern, hatte noch 1855 (etwa bei den Textilkopien Julius Glinskys)212 positives Aufsehen erregt – er war im Germanischen Nationalmuseum als ein Mehrwert technischer Wiedergabe dechiffriert worden. Das Museum suchte damit nach Ersatzobjekten textiler Unikate; die Spuren ihrer historischen Existenz waren damit auch ein Ausweis der besonderen Nähe der Kopie zum Original. Eine idealistische Betrachtungsweise von Kunstwerken wurde jedoch getrübt, wenn im Faksimile etwas anderes als die originale Werkspur213 des Künstlers erscheint. In dieser medienhistorischen Konstellation eröffnen sich unter dem Einfluß der Photographie unterschiedliche Philosophien des Faksimiles: Bezeichnet die radikale Orientierung an der sichtbaren Oberfläche einer Vorlage (inklusive der kontingenten Spuren und Beschädigungen) eine optimale Reproduktion? Oder sollte sich ein Faksimile gleichsam am Idealbild des Kunstwerks im Zustand seiner ursprünglichen Originalität orientieren? Weigels Text entscheidet sich weder für die eine noch für die andere Betrachtungsweise, sondern akzeptiert ihre Ambivalenz. Im Vergleich zu der Bewertung der photographischen Reproduktion durch Jakob Falke 1855 macht sich zehn Jahre später bei Rudolph Weigel jedoch eine leichte Ernüchterung in 211 | Ebd., S. XV-XVI. 212 | Siehe oben, Kapitel 3.2. 213 | Den Begriff der Werkspur entnehme ich Rebel 1981, S. 144, Anm. 62.
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bezug auf das Potential der Photographie als Reproduktionsmedium bemerkbar. In vielen Fällen trübt gerade der technische Prozeß selbst das photographische Ideal der Transparenz – das wiederum seinerseits zum Problem der Reproduktion werden konnte.
3.4 K AULBACHS F RESKO – P RAKTIKEN PHOTOGRAPHISCHER R EPRODUKTION Sieht man die Aufgabe des Photographen vor allem in der Auswahl von Zeitpunkt und Bildausschnitt (und vielleicht noch im Arrangement der Bildelemente), dann gelten Reproduktionsphotographien, z. B. Aufnahmen von Gemälden, als wenig anspruchsvoll, da der zu wählende Bildausschnitt dabei durch das Motiv bereits vorgegeben scheint.214 Durch die Verengung kreativer Spielräume stellt sich die Gemäldephotographie als scheinbar rein technischer und wiederholbarer Akt und damit als komplementäres Gegenstück zum Kunstwerk dar.215 Selbst die Praktiker eines zur »Reprographie« verkürzten Gewerbes grenzen ihr Metier in ihren Handbüchern und Ratgebern bisweilen von einer grundsätzlich freieren photographischen »Bildproduktion« ab – so als würde durch die photographische Reproduktion nicht auch immer ein Bild produziert.216 Bereits in der Morgendämmerung des Mediums – noch bevor Daguerre die praktischen Anweisungen zur Herstellung seiner Bilder enthüllte – träumte der Pariser Feuilletonist Jules Janin von einer schnellen, kinderleichten und stets gelingenden Vervielfältigung der bedeutendsten Gemälde durch die neue Technik.217 Ende des 19. Jahrhunderts legte der bekannte Werbeslogan der Eastman Kodak Company (»You press the button, we do the rest«) den Photographen ganz auf den Moment fest, in dem er den Knopf der Apparatur betätigte und nahm ihm alle anderen, bis dahin fast unweigerlich mit der Photographie verbundenen Arbeiten ab.218 Die von dieser neuen Möglichkeit 214 | Tatsächlich gibt es aber auch hier einen Spielraum, der allerdings durch die Konventionen der Reproduktionsphotographie fast niemals ausgenutzt wird. So ist in den wenigsten Fällen der Photographien von Gemälden der Rahmen ins Bild gesetzt, der ja z. B. im Museum als wesentlicher Aspekt der Bildwahrnehmung fungiert. Frühe Aufnahmen einer aus heutigen Sicht unbeholfen wirkenden Gemäldewiedergabe zeigen aber nicht nur die Bildränder und -rahmen, sondern auch die Gestelle, mit deren Hilfe die Kunstwerke dem photographischen Objektiv ausgesetzt werden mußten (so z. B.: Dewitz/Matz 1989, S. 517). 215 | Vgl. Ullrich 2009, S. 31 (hier gerade in Abgrenzung zur älteren Reproduktionsgraphik). 216 | Vgl. die Definition der Reproduktionsphotographie bei: Hamann 1990, S. 9. 217 | Siehe dazu oben, Kapitel 2.1. 218 | Allerdings erweist sich die in photohistorischen Darstellungen bisweilen verbreitete Ansicht, die Rollfilmphotographie der 1888 erstmals vorgestellten Kodak-Kamera habe die Amateurphotographie erst ermöglicht und deren ästhetisches Potential freigesetzt, bei näherer Betrachtung als geschickt kolportierte Firmenlegende (Starl 1995, S. 45-50).
K APITEL 3.4 | K AULBACHS F RESKO
beeinflußte Bewegung der Amateur- und Kunstphotographie leistete der Dichotomie von Kreation und Reproduktion Vorschub, indem sie Photographien vor allem nach der Wahl eines bestimmten Zeitpunkts, Standpunkts und Bildausschnitts bewertete. In der öffentlichen Wahrnehmung des Mediums trat damit um die Jahrhundertwende ein klar umgrenzter Aspekt des photographischen Verfahrens (der Moment der Aufnahme) gegenüber den anderen Faktoren in den Vordergrund, die für ein gelungenes Bildresultat ebenfalls notwendig waren (Sensibilisierung des lichtempfindlichen Materials, Entwicklung des Negativs, Auskopieren des Positivs). Photographische Praktiken wurden in der Folge verstärkt in den scheinbar grundsätzlich verschiedenen Kategorien einer künstlerisch-bildenden und technisch-reproduktiven Mediennutzung wahrgenommen.219 Wer aber einmal, etwa in Archiven, Bibliotheken oder Museen, versucht hat, zweidimensionale Vorlagen zu photographieren, wird die Differenz bemerkt haben, die zwischen solchen Bildern und professionellen Reproduktionsphotographien liegt, wie man sie beispielsweise für Ausstellungskataloge oder Urkundeneditionen benutzt. Sofern man nicht ausschließlich den funktionalen Aspekt der Informationssicherung im Auge hat (dies mag bei Urkunden und Akten häufiger, bei Gemälden seltener der Fall sein),220 stellt sich die scheinbar selbstverständliche Reproduktionsaufnahme noch im Zeitalter der Digitalphotographie als ästhetisches Problem und anspruchsvolle Aufgabe dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – nachdem Janins Träume an der Realität einer komplexen Medientechnik zerplatzt waren und bevor die photographischen Strömungen der Jahrhundertwende die Wahl des Aufnahmemoments und -ausschnitts zum überragenden ästhetischen Kriterium erhoben – waren Reproduktionsphotographien durchaus als künstlerische Herausforderungen begriffen worden. Die photographische Wiedergabe von Gemälden galt als eine prestigeträchtige Aufgabe, deren überzeugende Lösung auf Kunst- und Gewerbeausstellungen durchaus mit Preismedaillen für herausragende künstlerische Leistungen ausgezeichnet werden konnte.221 Photographen wie Joseph Albert verstanden sich nicht als Künstler oder Techniker, sondern als Unternehmer, in deren Tätigkeit beide Aspekte unauflösbar ineinander verschlungen waren. Vielfach galten – wie auch der Diskurs der Photographie im Germanischen Nationalmuseum zeigt – die unterschiedlichen Spielarten der Kunstreproduktion geradezu als die künstlerisch anspruchsvollsten Aufgaben des Photographen.222 219 | Vgl. Gröning 2001b, S. 17. 220 | Bei Hamann 1990, S. 35f. wird ein gestuftes System der »Reproduktionstreue« vorgestellt, das von der reinen Faktenwiedergabe bis zum Faksimile reicht. Vgl. auch Fischer 2003, S. 272. 221 | Keller 1998, S. 190. 222 | Ausführlich dazu: Hamber 1996. Der Titel der Monographie »A Higher Branch of the Art« geht auf eine Aussage Roger Fentons zurück, der die photographischen Arten der Kunstreproduktion als »the higher branches« bezeichnete (ebd., S. 22). Siehe auch oben, Kapitel 3.3.
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Für die Photographen lag eine differenzierte Betrachtung ihrer Medienpraktiken nahe, weil die technisch noch nicht ausgereifte Photographie besondere Maßnahmen erforderte, um überhaupt überzeugende Reproduktionen präsentieren zu können. Photographische Aufnahmen von Gemälden bereiteten besondere Schwierigkeiten. Ausgerechnet die Malerei, mit der die Photographie seit 1839 so oft verglichen wurde, trat nur zögerlich ins Feld des Photographierbaren, blieb zunächst ein blinder Fleck des Mediums. Während Skulpturen schon für Daguerre, Talbot und Bayard zu den besonders bevorzugten Motiven zählten223 und Reproduktionen von Zeichnungen und Graphiken die besonderen Faksimile-Qualitäten des Mediums herausstellten, blieb die Wiedergabe von Malerei fast das ganze 19. Jahrhundert ein technisches Problem.224 Dies betraf insbesondere das Phänomen der »Falschfarben«:225 die photosensible Schicht reagierte im Vergleich zur menschlichen Wahrnehmung von Farbtönen auf einige Farben zu stark und auf andere zu schwach; Gelb und Rot wurden zu dunkel, Blau zu hell wiedergegeben. Die Tonwerte farbiger Vorlagen wurden deshalb in der photographischen Wiedergabe häufig als falsch empfunden. Bis in die 1870er Jahre blieben manuelle Modifikationen und Eingriffe in die photochemischen Prozesse deshalb unverzichtbar, um die farbige Oberfläche eines Gemäldes adäquat in die Tonwertskala der Photographie zu übersetzen. Entsprechende Hilfsmittel konnten dabei an unterschiedlichen Stellen des photographischen Prozesses ansetzen: bei der Vorlage, bei der Aufnahme oder bei der Nachbearbeitung. Experimentelle Maßnahmen zielten darauf, die Wirkungen des Lichtes auf das photosensible Material durch Filter, Beleuchtungen oder auf das Gemälde aufzutragende Tinkturen (!) zu verändern.226 Es war auch nicht unüblich, anstelle des Originals eine bereits existierende graphische Reproduktion227 (etwa einen Kupferstich) oder eine spezielle Reproduktionsvorlage in Grisaille zu reproduzieren,228 ohne die reproduktive Vereinnahmung (in der Art einer 223 | Billeter 1997, v.a. S. 16-20. Allerdings handelte es sich dabei zumeist um Gipsabgüsse, die leichter zugänglich waren und gleichzeitig durch ihre Materialität und Farbe dem photographischen Verfahren besonders entgegenkamen. 224 | Bei der Daguerreotypie trat zudem das Problem der seitenverkehrten Wiedergabe auf. Entsprechende Bildbeispiele einer Gemäldereproduktion durch Daguerreotypien: Marien 2002, S.77; Krone 1998, S. 318f.; Dewitz/Matz 1989, S. 517. 225 | Schmidt 2001. 226 | Schmidt 2001, S. 220ff. 227 | Daß dies gängige Praxis war und offenbar nicht als qualitatives Problem angesehen wurde, zeigen viele Beispiele von Photographien von Stichen nach Gemälden, die als photographische Gemäldereproduktionen wahrgenommen und besprochen wurden. Z. B. Bann 2003, S. 21f.. 228 | Z. B. fertigte der französische Photograph Gustave le Gray in den 1850er Jahren Albuminabzüge nach Grau-in-Grau ausgeführten Kopien von Leonardos »Mona Lisa«, auf denen im Stil der Reproduktionsgraphik Leonardo als Maler (»([...]ONARD de VINCI, pinxit«), der Verfertiger der Vorlage als Zeichner (»MF MILLET, del 1838«) ausgewiesen war. Zudem ist der Albuminabzug mit der Signatur des Photographen »Gustave le Gray« versehen (Hamber 1996, Abb. 241).
K APITEL 3.4 | K AULBACHS F RESKO
Abb. 14: Hermann Krone, Zwei Photographien der »Sixtinischen Madonna«, frühestens 1873 Historisches Lehrmuseum für Photographie, Tafel 65 im Endergebnis unsichtbaren Zwischenkopie) eigens auszuweisen. Schließlich boten die Verfahren der Negativ- und Positivretusche vielfältige Möglichkeiten der nachträglichen Bearbeitung. Durch das generative Prinzip konnten retuschierte Negative erneut aufgenommen und abermals modifiziert werden – bis endlich ein Bild hergestellt war, das möglichst keine Spuren dieser vielfachen Vermittlung mehr zeigte.229 Diese Vermittlungs- und Übersetzungspraktiken, die sich fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch zwangsläufig zwischen das Gemälde und seine photographische Reproduktion schoben, sollten aber nicht nur als Reaktion auf einen medientechnischen Mangel aufgefaßt werden, der rückblickend als eine überwundene Stufe der Photographiegeschichte aufgefaßt werden konnte – wie es eine Tafel aus Hermann Krones um 1900 zusammengestellten »Historischen Lehrmuseum für Photographie« durch die Gegenüberstellung zweier Photographien der Sixtinischen Madonna vorführte (Abb. 14). Sie sind vielmehr auch als Effekt der Eingliederung des Mediums Photographie in ein bestehendes Ensemble von Reproduktionstechniken zu werten. Stephen Bann hat das Ideal der zeitgenössischen Reproduktionsgraphik als ÜbersetTrotz dieser Überlagerungen wurde die Photographie im Salon von 1856 als Reproduktion von Leonardos Kunstwerk begeistert aufgenommen (Belting 1998, S. 314). 229 | Die Methode der Negativretusche wurde 1855 durch den Münchner Photographen Franz Hanfstängl international bekannt, der auf der Pariser Weltausstellung Abzüge retuschierter und nicht retuschierter Negative im Vergleich präsentierte (Freund 1977, S. 76). Freund sah die Retusche (ähnlich wie Walter Benjamin) als entscheidenden Faktor für den künstlerischen Verfall der Photographie an.
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zung beschrieben und am Beispiel Frankreichs gezeigt, wie sich die Photographie zunächst geschmeidig in die »visuelle Ökonomie« des 19. Jahrhunderts einfügte.230 Die Möglichkeit photographischer Kunstreproduktionen stellt sich demnach zunächst als ein Faktor eines sich kontinuierlich wandelnden Geflechts von Reproduktionskonzepten, -techniken und -praktiken dar, in dem zunächst noch der Reproduktionsstich das Ideal vorgab. Er wurde als Übersetzung des künstlerischen Ausdrucks eines Gemäldes in eine spezifische graphische Erscheinungsform verstanden – als transformativer Prozeß vermittelnder Übersetzung. Über eine möglichst treue Wiedergabe der Linienführung hinaus, kam es dabei auf medienspezifische Anpassungen an, welche die künstlerische Wirkung des Originals im kleineren Format und im Schwarzweiß der Graphik widerzuspiegeln vermochten.231 Die jeweils gefundene Lösung des Reproduktionsgraphikers war deshalb ein wichtiger Aspekt der Bildkritik. In Rezensionen – wie etwa in Goethes Auseinandersetzung mit Friedrich Wilhelm Müllers Reproduktionsstich nach Raffaels »Sixtinischer Madonna« – gingen die Besprechung des reproduzierten Gemäldes und die Besprechung der Reproduktion Hand in Hand.232 Dieses durchaus medienkritische Bewußtsein, das dem graphisch geprägten Verständnis von Reproduktion eingeschrieben war, wurde zunächst auch auf die Photographie übertragen. Von einer scharfen Zäsur zwischen einem graphischen und einem photographischen Zeitalter der Kunstreproduktion kann für die Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rede sein. Vielmehr zeigt sich eine Koexistenz traditioneller Praktiken graphischer Vermittlung und medialer Suggestionen photographischer Unmittelbarkeit. Diese Ambivalenz drückt sich auch in den konkreten Praktiken der photographischen Reproduktion aus, wie das Beispiel des zwischen 1860 und 1863 vervielfältigten Freskos »Otto III. an der Gruft Karls des Großen« im Germanischen Nationalmuseum zeigen soll. 230 | Bann 2003, S. 9: »Unter ›visueller Ökonomie‹ verstehe ich im wesentlichen die Summe aller Mittel visueller Reproduktion, die zu einer Zeit verfügbar sind, nicht nur unter Berücksichtigung der spezifischen Herstellungsverfahren, ihrer Kosten und Dauer, sondern auch der verfügbaren Mittel der Veröffentlichung und Verbreitung.«; siehe auch: Bann 2002; Ullrich 2009, S. 19–33. 231 | Die augenscheinliche Differenz zwischen dem farbigem Vorbild und der schwarzweißen Graphik machte die mediale Übersetzung zu einer eigenständigen Leistung des Reproduktionsgraphikers. Adam Bartsch bezeichnete deshalb 1821 in seiner Kupferstichkunde nicht nur denjenigen Stich als Original, der nach der Natur oder aus dem Kopf auf die Platte übertragen wurde, sondern auch denjenigen, »welcher nach einem Gemälde oder einer Zeichnung gestochen worden ist« (S. 100, zitiert nach Koschatzky 1975, S. 31). Den Gegenbegriff der Kopie reservierte Bartsch dagegen für Stiche nach Stichen. Diese Unterscheidung, wird auch heute noch häufig für eine begriffliche Differenzierung von Reproduktion und Kopie verwendet (z. B. Giesecke 2007, S. 351f.). Mit Schmidt 2005, S. 149 ist dafür zu plädieren, »sich unbelastet von der Terminologie der Vielfalt und Formen der Übertragung zu nähern«. Siehe dazu auch oben, Kapitel 1, Anm. 28. 232 | Höper 2001, S. 92–94 (dort auch Goethes Rezension von 1817).
K APITEL 3.4 | K AULBACHS F RESKO
Ein Sinnbild des Museums Am 18. August 1859 wurde in den neuen musealen Räumlichkeiten der ehemaligen Nürnberger Kartäuserkirche ein monumentales Fresko feierlich enthüllt. Es stellte den Besuch Kaiser Ottos III. in der Gruft Karls des Großen dar (Abb. 15). Freiherr Hans von und zu Aufseß erklärte das Fresko zum Sinnbild des Germanischen Nationalmuseums: »Denn auch wir sind berufen, hinabzusteigen in die lang verborgenen Tiefen der Vorzeit, um aufzusuchen des alten Reiches Herrlichkeit, sie, die längst abgestorbene, wieder hell zu beleuchten mit dem Fackelscheine der Wissenschaft, auf daß sich jedermann daran erfreue und stärke, ja, wie Kaiser Otto wollte, zu neuen Thaten der Ehre und des Ruhmes der deutschen Nation sich ermanne.« 233
Bereits 1856 hatte der renommierte Historienmaler Wilhelm Kaulbach dem Museumsgründer Aufseß eine künstlerische Ausschmückung der Nürnberger Kartause durch ein Wandgemälde zugesagt.234 Im Sommer 1859 war das Projekt in wenigen Wochen realisiert worden.235 Es war keine Einzelleistung Kaulbachs, sondern ein arbeitsteiliges Gemeinschaftsprojekt, an dem mehrere Personen beteiligt waren. Der Prozeß des Kunstschaffens gab offenbar zu einigem selbstironischen Reflexionen Anlaß, wie zwei Karikaturen der daran beteiligten Künstler (die eine von Kaulbach selbst, die andere von August Kreling) und ein damit verbundenes Spottgedicht dokumentieren (Abb. 16 u. Abb. 17).236 Die historische Szene, die Kaulbach für das Germanische Nationalmuseum ausgewählt hatte, beruht auf einem Ereignis der deutschen Geschichte, das bereits eine Rückwendung zur Vergangenheit einschließt: Am Pfingstsonntag des symbolträchtigen Jahres 1000 stieg Kaiser Otto III. im Dom zu Aachen hinab in die vergessene Gruft, in der Karl der Große bestattet worden war. Das Ereignis wird von verschiedenen Geschichtsschreibern des 11. Jahrhunderts erwähnt, der anschaulichste Bericht entstammt der Chronik der Abtei Novalese (um 1050). Es handelt sich um die Wiedergabe einer Schilderung des angeblich selbst als Augenzeuge am Ereignis beteiligten Pfalzgrafen Otto von Lomello: »Wir traten bei Karl ein. Er lag nämlich nicht, wie üblicherweise die Leiber anderer Verstorbener, sondern er saß wie lebendig auf einem Thron, war mit einer goldenen Krone gekrönt, hielt das Szepter in den Händen mit angezogenen Handschuhen, durch die bereits die Fingernägel durchbohrend herausgewachsen waren. Über ihm war ein aus Kalk und Marmor ziemlich gut gebautes Gewölbe. Wir beschädigten es beim Hinkommen, indem wir ein Loch 233 | Deneke/Kahsnitz 1978, S. 367. 234 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1856, Sp. 177. Thema und Entwurf standen anscheinend bereits 1857 fest (Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1857, Sp. 262). 235 | Bahns 1978b, S. 366f. 236 | Vgl. dazu auch einen Brief Kaulbachs (in: Dürck-Kaulbach 1917, S. 340f.).
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Abb. 15: Wilhelm von Kaulbach, Otto III. in der Gruft Karls des Großen, Fresko, 1859 (zerstört) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Abb. 16: Wilhelm von Kaulbach, Spottblatt, 1859 Hauschronik Burg Aufseß (nach Ostini 1906, S. 54)
Abb. 17: August Kreling, Spottblatt, 1860 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (nach Veit 1972, Abb. 6)
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P HOTOGRAPHIE ALS M EDIENTECHNIK hineinbrachen. Als wir dann zu ihm eintraten, nahmen wir einen sehr starken Geruch wahr. Mit gebeugten Knien richteten wir sofort ein Gebet an ihn. Kaiser Otto bekleidete ihn dann mit weißen Gewändern, beschnitt ihm die Nägel und stellte alles Abgefallene um ihn wieder her. Nichts von seinen Gliedern war bis dahin durch Verwesung vernichtet, nur von seiner Nasenspitze fehlte ein wenig. Sie ließ der Kaiser sogleich aus Gold ergänzen und ging dann weg, nachdem er aus (Karls) Mund einen Zahn gezogen und das Gewölbe wieder hatte herstellen lassen.« 237
Im Geschichtsbewußtsein war das Ereignis in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus präsent. Gerade um 1850 erfuhr die Episode besondere Aufmerksamkeit, sowohl in der historistischen Geschichtsschreibung als auch in der Historienmalerei. Nur wenige Jahre vor der Entstehung des Nürnberger Freskos hatte der Berliner Historiker und Rankeschüler Wilhelm Giesebrecht die Politik Ottos III kritisch bewertet. Er sah in Otto einen übermütigen Phantasten, der die nationale Fundierung des Reiches zugunsten des übernationalen römischen Imperiums aufgeben wollte – und stellte auch die Aachener Graböffnung in diesen Kontext.238 Trotz dieser Kritik korrespondierte die durch das historische Ereignis symbolisch ausgedrückte Erneuerung der Reichsidee (in weihevoller Annäherung an die Geschichte) aber sehr wohl mit dem Konzept einer Kulturnation, das eine zukünftige staatliche Vereinigung intellektuell vorwegnehmen sollte.239 Durch die ehrfürchtige Haltung gegenüber der Vergangenheit und durch die Betonung der aktuellen Dimensionen des Historischen spiegelt das Motiv tatsächlich sinnbildlich die Intention der Nürnberger Museumsgründung wider. Erst im Nachhinein läßt sich feststellen, daß die Berufung auf Kaiser Ottos III. groß angelegte (aber praktisch kaum realisierbare) Renovatio-Politik auch als Sinnbild der gescheiterten Projekte und Visionen des Freiherrn von Aufseß aufgefaßt werden kann. Kaulbachs Darstellung der Graböffnung konnte sich auf ein wichtiges künstlerisches Vorbild berufen. Alfred Rethels Darstellung des Kaisers Otto III. in der Gruft Karls des Großen gilt als Schlüsselwerk seines Aachener Zyklus’ von Karlsfresken (konzipiert 1840, ausgeführt um 1847).240 Trotz der dramatischen Lichtgestaltung in der Gruft steht bei Rethel der innerliche Moment des Gebets, der Sammlung und Kontemplation vor dem Verstorbenen im Vordergrund. Kaulbachs Fassung setzt etwas früher ein und inszeniert die Entdeckung des unverwesten Leichnams als spektakulären Moment. Die unterschiedlichen Bildlösungen Rethels und Kaulbachs deuten auf das Spannungsfeld von Idealismus und Realismus in der Kunst, in dem sich
237 | Chronicon Novaliciense, ed. Ludwig Bethmann, MGH SS 7 (1846), 3. Buch, S. 32. 238 | Althoff 1996, S. 2f. 239 | Zum Konzept der Kulturnation und seiner Bedeutung für das Germanische Nationalmuseum: siehe oben, Kapitel 2.2. 240 | Büttner/Gottdang 2006, S. 229 sehen dieses Bild Rethels als Schlüsselbild der Aachener Karlsfresken und der monumentalen Geschichtsdarstellung im Zeitalter des Historismus: die Darstellung ist das Symbol der Erneuerung durch Rückwendung zur Vergangenheit.
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Mitte des 19. Jahrhunderts die Historienmalerei neu positionierte.241 Da sich die Diskussion schon vor dem Hintergrund der 1839 in Paris vorgestellten Medieninnovation der Daguerreotypie entfaltete, verweist dieser Diskurs bereits auf den Einfluß, den die Photographie auf Geschichtsbilder (äußere und innere) hatte.242 Rethel stand der Stilrichtung der ›Nazarener‹ nahe, einer Schule, die sich im Rückgriff auf historische künstlerische Vorbilder um eine romantisch-religiöse Kunst der Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit bemühte. Der künstlerische Ausdruck beruhte auf dem Primat der Zeichnung (disegnio), um den intellektuellen Gedanken der Darstellung durch die Ausarbeitung der Form (intensive Vorstudien) deutlich zu fassen. Dieses nazarenische Kunstideal bildete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu das Dogma der akademischen Maltradition in Deutschland. Zu Beginn der 1840er Jahre – also bereits im Zeitalter der Photographie – wurde diese Darstellungstradition herausgefordert durch eine realistischere, farbigere Auffassung des Historienbildes. Der spektakuläre Erfolg zweier in der Kunstgeschichte als ›belgische Bilder‹ bekannt gewordenen Gemälde, die 1842/43 durch Deutschland reisten, wirkte auf die Konzepte der akademischen Historienmalerei ein.243 Als charakteristische Merkmale dieses Kunststils sehen Kunsthistoriker die betonte Farbigkeit an, sowie eine veristische Authentizität (auch in der Anordnung der Figuren), die sich insbesondere in einem dezidierten »Kostümhistorismus« ausdrückt.244 In der kunstkritischen Diskussion, die diese populären Geschichtsbilder anstießen, trafen die beiden Positionen einer idealistischen und realistischen Historienmalerei aufeinander. Dabei wendete der Kritiker Ernst Förster die Anlehnung der belgischen Künstler an das Prinzip der Photographie gegen diese realistische Darstellungsweise: »Der Künstler hat, wie es auf den ersten Anblick scheint, gesucht, sich seinen Gegenstand so wirklich zu denken, als möglich; er hat sich (nicht nur auf dem Bilde) in den Moment versetzt, und seine Imagination man möchte sagen als Daguerreotyp benutzt.« 245 Förster vermißt in der Fokussierung auf einen naturalistisch wiedergegebenen Moment den symbolischen und allegorischen Ausdruck einer Idee. 246
241 | Schasler 1982. 242 | Zum Verhältnis von inneren Geschichtsbildern der Historiographie und den Visualisierungstechniken: Daniel 1996. 243 | Es handelt sich um folgende Gemälde: Louis Gaillat: »Die Abdankung Karls V. zugunsten seines Sohnes Philipp II. zu Brüssel am 25. Oktober 1555«, (1841) und Edouard de Bièfve: »Kompromiß der flandrischen Edlen am 16. Februar 1866« (1841). Dazu: Dussel 2004, S. 418–423; Hoffmann 1985, S. 3f. 244 | Gaehtgens 2008, S. 37. 245 | Förster 1982. 246 | Hoffmann 1985, S. 4 arbeitet die Kontroverse zwischen Jacob Burckhardt bzw. Franz Kugler auf der Seite des Realismus und Ernst Förster auf der Seite des Idealismus heraus.
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Wilhelm Kaulbach ist nicht eindeutig zwischen diesen Positionen der idealistischen und realistischen Historienmalerei zu verorten. Seine Monumentalfresken (etwa der zwischen 1847 und 1866 geschaffene Zyklus für das Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin) sind historisch-symbolische Kompositionen, die sich aber in der Gestaltung der einzelnen Figuren und Bildelemente durchaus den populären realistischen Tendenzen der Historienmalerei annähern. Der zu seiner Zeit als Münchner Akademieleiter als bedeutendster Künstler Deutschlands gefeierte Maler ist von Künstlern und Kunsthistorikern schon bald nach seinem Tod (1874) ausgesprochen kritisch bewertet worden. Diese fast völlige Umkehrung des Urteils ist bereits von den Zeitgenossen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen worden: »Man würde sich heute wundern, daß diese, weder großes malerisches Geschick in der Anordnung noch besonders frappante Schärfe der Naturbeobachtung verrathende Zeichnung einst so gewaltiges Aufsehen machen konnte, wenn man sich nicht alsbald sagen müßte, daß es trotz alledem doch ein für jene Zeit bewunderungswürdig kühner Griff mitten in die schauerlichste Wirklichkeit hinein war, inmitten einer Gesellschaft, die ihr sonst wie allem Unmittelbaren, Grellen und Grausamen durchaus aus dem Wege ging, die Gemüthserschütterungen lieber in die graue Vorzeit verlegte.« 247
Möglicherweise beruhen sowohl Ruhm als auch Kritik Kaulbachs auf seinem Status als Übergangsgestalt, die einen allmählichen Wahrnehmungswandel begleitet. Die Historienmalerei konzentrierte sich nunmehr auf die realistische Darstellung »fruchtbarer Momente«, in denen geschichtliche Abläufe gleichsam kondensierten. Angesichts dieses neuen Paradigmas wurden Kaulbachs Bildkompositionen nun kritisch bewertet. Der populäre Kunstschriftsteller Fritz von Ostini brachte dies 1906 auf die Formel: »Der ganze epische Zug der Kaulbachschen Kunst ist uns heute fremd, und auch in der Geschichtsmalerei wollen wir immer nur einen Moment dargestellt haben, nicht ein ganzes Heldengedicht mit Anmerkungen.«248 Ostini verband die Kritik (etwa Kaulbachs »fast abnormen Mangel an koloristischem Gefühl«249) in seiner Künstlermonographie jedoch mit einer Ehrenrettung der schlichteren Arbeiten des Künstlers. Dazu zählte er auch das Fresko im Germanischen Nationalmuseum – »weil es einfach ist, einfacher als jedes andere Geschichtsbild Kaulbachs«.250 Auf historische Authentizität im Sinne einer akribischen Illustration der schriftlich-historischen Quellen kam es bei der Gestaltung des Nürnberger Freskos offenbar nicht an, auch wenn Freiherr von Aufseß – wie Kaulbachs 247 | Pecht, S. 479 (mit Bezug auf die um 1830 entstandene Zeichnung »Narrenhaus«). 248 | Ostini 1906, S. 80. 249 | Ebd., S. 81. 250 | Ebd., S. 117: »Eines der gelungensten Monumentalwerke des Meisters, das nur leider einen unglaublich ungünstigen Platz hat, ist das Fresko in der Kunsthalle der alten Kartäuserkirche des Germanischen Nationalmuseums. Das 1859 gemalte Bild stellt den Moment dar, wie Kaiser Otto III. in die Gruft Karls des Großen zu Aachen eindringt. Es ist von besonders eindringlicher Wirkung, weil es einfach ist, einfacher als jedes andere Geschichtsbild Kaulbachs.«
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Spottgedicht festhält – auf eine korrekte Darstellung der Kostüme besonderen Wert legte.251 Auf die Details des 1846 edierten Augenzeugenberichts (vermoderte Gewänder, Fingernägel, die durch Handschuhe brechen, die fehlende Nasenspitze) wird keine Rücksicht genommen; anstelle des schriftlich vermerkten Szepters hält Kaulbachs Karl Schwert und Evangelienbuch in den Händen. Es geht Kaulbach nicht um die Darstellung des Ereignisses aufgrund historisch-kritischen Quellenstudiums, sondern um eine affektive Bildwirkung – um die Darstellung von unterschiedlichen Erregungszuständen im Kontakt mit dem Erhabenen, dessen Träger Karl der Große ist. Der englische Kunsthistoriker Francis Haskell hat einen Widerspruch darin entdeckt, daß der artifizielle Charakter des Freskos das Prinzip der Authentizität unterlaufe, das im Germanischen Nationalmuseum gegenüber allen übrigen Artefakten (seien es Originale oder Nachbildungen) angelegt werde.252 Und der Medienarchäologe Wolfgang Ernst hat, daran anschließend, in »Kaulbachs Allegorie« den Wunsch des Museums nach einer diskursiven Einbindung in den nationalen Erinnerungsimperativ erkannt.253 Das Fresko führe die Diskrepanz vor Augen zwischen dem diskursiven Anspruch auf Verlebendigung der Vergangenheit und der nicht-diskursiven Praxis der Speicherung von Vergangenheit – zwischen dem Anspruch, ein Agent der Historiographie zu sein und der Praxis, eine Gedächtnisagentur zu sein. Aber war im Gegenteil in den 1850er Jahren nicht vielmehr immer wieder der Anspruch des Germanischen Nationalmuseums artikuliert worden, primär als Generalrepertorium historischer Quellen wahrgenommen zu werden? Und stand dies nicht einer musealen Praxis gegenüber, die dennoch dazu tendierte, anschauliche Bilder der Geschichte zu präsentieren? Das programmatische Bild nahm zwar auf eine Besonderheit des Germanischen Nationalmuseums Bezug, die es von den großen fürstlichen Kunstsammlungen der deutschen Territorialstaaten unterschied (nämlich die explizite Konzentration auf Geschichtszeugnisse statt auf Kunstwerke), konterkarierte diese Differenz aber zugleich, weil es damit ein Kunstwerk zum Kristallisationspunkt der öffentlichen Wahrnehmung des Museums machte. Mit dem Umzug in die Kartause, der Restaurierung der Räume zu musealen Zwecken, der Ausgestaltung der Kirche als Kunsthalle und der Enthüllung von Kaulbachs Fresko näherte sich das Germanische Nationalmuseum dem zeitgenössischen Erscheinungsbild der Kunstmuseen an, die durch ihre künstlerische Ausstattung als »Kunstwerk für Kunstwerke« konzipiert waren.254 Das monumentale Wandgemälde war demgemäß mehr ein Element der musealen Ausstattung als ein Sammlungsobjekt. Als zeitgenössisches Original eines bedeutenden Künstlers stand es eigentümlich quer zu einer Sammlungskonzeption, die ansonsten explizit auf die zeitgenössische Reproduktion historischer 251 | »s’ist brav, mit welchem Ungestüm/Ihr haut hie Oelgoetzen (?)/s’ist alles gut, auch das Kostüm,/Fürwahr ich lern’ euch schätzen.« (zitiert nach Ostini 1906, S. 55). 252 | Haskell 1995. 253 | Ernst 2003, S. 455–458. 254 | Plagemann 1967, S. 10 u. 196-198; Joachimides 2001, S. 41–43.
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(und gerade auch unbedeutender historischer) Objekte setzte. In gewisser Weise trägt damit die Bedeutung, die dem Fresko auch innerhalb des Germanischen Nationalmuseums zugesprochen wurde, dazu bei, die Fragwürdigkeit der noch immer am Generalrepertorium orientierten Museumskonzeption offenzulegen. Laut dem »Wegweiser« von 1860 erhielten die Besucher nach dem Eintritt in das Museum eine schriftliche Erklärung des Wandgemäldes und wurden anschließend in die Kunsthalle geführt, bevor sie von dort in die Schauräume der Sammlungen gelangten.255 Obwohl die Besucher damit auf eine ehrfurchtsvolle Annäherung an die Hinterlassenschaften deutscher Geschichte eingestimmt waren, wurde für die Sammlungen des Museums an dem nüchternen Anspruch festgehalten, »als zweckmässige Belege für die einzelnen Zweige des Repertoriums, sowie auch als Beispiele zum Verständnis des geschichtlichen Materials« zu dienen.256 Kaulbachs Fresko ist somit auch ein Sinnbild für eine Übergangsphase in der Geschichte des Germanischen Nationalmuseums, die durch unaufgelöste Spannungen zwischen Projekt und Praxis, Sammlung und Repertorium, ästhetischem und historischem Wert, Original und Reproduktion geprägt war.
Photographische Reproduktion als mehrstufiger Vermittlungsprozeß Nunmehr einen echten Kaulbach präsentieren zu können, bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Prestigeerfolg für ein Museum, dessen Sammlungen zumeist als zweitrangig eingestuft wurden. Als Sinnbild und künstlerisches Prestigeobjekt zugleich, sollte Kaulbachs Fresko nicht zuletzt dazu dienen, das öffentliche Bild des Germanischen Nationalmuseums positiv zu prägen. So wundert es nicht, daß schon bald über eine Vervielfältigung 255 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. II. 256 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. 4. Stellenweise lesen sich die Erklärungen in den Ausgaben des Wegweisers so, als würde hier gegen eine vom Kunstwerk dominierte Erwartungshaltung angeschrieben, sehr deutlich z. B. in der Beschreibung der dem häuslichen Leben gewidmeten ›Frauhalle‹ aus dem Jahr 1865: »Innerhalb der darin befindlichen Sammlungen dürfte Manches gering und dessen Hegung kleinlich erscheinen; doch – und wir haben absichtlich die Berührung dieser Frage bis zu diesem Punkte verspart, wo die Eigenthümlichkeiten der Sammlungen des germanischen Museums am deutlichsten in’s Auge fällt – weder Absicht, noch Mittel derselben gehen dahin, wie die Tendenz in unsern königl. Galerieen vorherrscht, die Spitzen der Kunst in entsprechenden Werken vorzuführen, oder durch Reihen seltener Prachtstücke den Augen einen Reiz zu gewähren. Die Sammlungen des Museums bezwecken vorzugsweise kulturgeschichtliche Belehrung, die Herstellung eines Bildes vom ganzen Leben unserer Vorfahren, in welchem natürlich der gewöhnliche Verlauf desselben, statt davon ausgeschlossen zu sein, sogar vorherrschen muß, in welches jeder Zug, der irgendwie aufzuhellen oder zu unterrichten im Stande ist, aufgenommen zu werden Berechtigung hat, worin auch das geringste Stück eine Lücke füllen und neben dem ergänzenden Bedeutung erlangen kann.« (Germanisches Nationalmuseum 1865, S. 33f.)
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nachgedacht wurde. Schien es zunächst noch eine offene Frage, ob eine lithographische Reproduktion dem Gemälde angemessener sei,257 konzentrierten sich die Bemühungen des künstlerischen Inspektors Jakob Eberhardt spätestens ab Sommer 1860 auf eine Vervielfältigung im Medium Photographie. Es dauerte jedoch bis zur Märzausgabe des Jahres 1862, bis der monatliche Anzeiger des Museums von den Reproduktionsarbeiten berichtete. Es wurde mitgeteilt, daß der Hofphotograph Joseph Albert diese Arbeit inzwischen »unter specieller Aufsicht des Meisters Kaulbach« begonnen habe.258 Albert, mit dem das Germanische Nationalmuseum ja bereits 1855 in Kontrakt getreten war,259 hatte sich inzwischen in München niedergelassen. Neben seinem einträglichen Portraitstudio betrieb er ein spezielles Atelier für »Reproductions- oder Kunstzwecke«260 und hatte sich als der Fachmann auf dem Gebiet der photographischen Kunstreproduktion um das Jahr 1860 geradezu eine Monopolstellung erarbeitet.261 Die kurze Mitteilung im Anzeiger betont die Aufsicht Kaulbachs. Kann der Verweis auf die Autorität des künstlerischen Schöpfers als ein wirkungsästhetisches Argument verstanden werden? Sollte sein überwachender Blick gewährleisten, daß die Wirkung der Photographie der Idee seines Freskos entsprach? Gerade weil der Status der Photographie zwischen Kunst und Technik noch ungeklärt war, konnte ein Anschluß an das etablierte Konzept graphischer Kunstreproduktion die Gemäldephotographie als künstlerische Schöpfung ausweisen – als Fortpflanzung der künstlerischen Idee in einem anderen Medium. Fast folgerichtig vergingen daher knapp neun Monate, bis der Anzeiger vermeldete, daß das Kunstwerk »nunmehr aus dem Atelier des Hofphotographen Albert zu München mit voller Wirkung des Originals vervielfältigt hervorgegangen« sei.262 Es lohnt sich, diese Wortwahl genauer zu betrachten. Die Reproduktion wird hier nicht als etwas dem Kunstwerk Entgegengesetztes beschrieben, sondern als dessen Transformation. Das Kunstwerk selbst ist durch die Reproduktion ein anderes geworden, es ist aus dem Atelier des Photographen »vervielfältigt hervorgegangen«, ist also nicht mehr singuläres Objekt, sondern artikuliert sich nunmehr gleichzeitig in einem Original und in vielen Reproduktionen, die aber ihrerseits ebenfalls eine Erscheinungsform des Kunstwerks sind – eine weitere Manifestation der künstlerischen Idee. Im Prozeß und in der Folge der Reproduktion eröffnete sich dadurch die Möglichkeit des Vergleichs verschiedener Artikulationen eines Kunstwerks. Dies kann die 257 | GNM-Akten, K. 731, fol. 180: Punkt 6 der Vorlage für den Gelehrtenausschuß stellte die Frage, ob das Kaulbach-Fresko durch Lithographie oder Photographie zu reproduzieren sei. Der Punkt kam aber anscheinend in der folgenden Sitzung nicht zur Verhandlung. Im Protokoll vom 14. September 1860 wird darauf nicht Bezug genommen (fol.185ff). 258 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1862, Sp. 89. 259 | Siehe oben, Kapitel 3.3. 260 | Ranke 1977, S. 16f. 261 | Ranke 1977, S. 41f. 262 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1862, Sp. 431f.
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Aufmerksamkeit auf die materiellen und medialen Differenzen zwischen Original und Reproduktion lenken. Reproduktionsprozesse können somit auch als Grundlage von Originalitätsdiskursen betrachtet werden – gewinnt doch die Rede vom Original erst angesichts einer Reproduktion an Relevanz.263 Eng verbunden mit der Frage der Originalität ist die Autorschaft. So wie auch das Fresko selbst nicht durch den singulären Akt eines künstlerischen Schöpfers entstand, war auf die photographische Reproduktion um 1860 häufig ein langwieriger und arbeitsteiliger Prozeß – zumal in den florierenden Unternehmen, die sich das Signet eines »Hofphotographen« auf die Fahnen schreiben durften. So ist bekannt, daß in Joseph Alberts Münchner Atelier durchschnittlich 70-75 Personen mit den laufenden Aufträgen beschäftigt waren.264 Wenn Joseph Albert für die Photographien aus seinem Atelier verantwortlich zeichnete, so bedeutete dies keineswegs, daß er auch der Urheber jeder einzelnen dort produzierten Photographie war. Aber: wer gilt überhaupt als Urheber einer Photographie? Wird nicht die Frage nach der Urheberschaft selbst in diesem arbeitsteiligen und mehrstufigen Reproduktionsprozeß ausgehöhlt, der aus einer Konstellation von Personen, technischen Vorrichtungen, Kommunikationswegen und medialen Praktiken besteht? Auch läßt sich die photographische Vervielfältigung von Kaulbachs Fresko nicht als zeitlich scharf umgrenzter Akt verstehen. Sie geschah nicht auf Knopfdruck, war nicht das Resultat der einmaligen Exposition des Wandgemäldes vor der Kamera eines Photographen, sondern ein langwieriger und komplexer, vielfach unterbrochener und wieder aufgenommener Prozeß, der sich wahrscheinlich überhaupt nur deshalb als Aktenvorgang im Archiv des Museums niedergeschlagen hat. Heute befinden sich im Archivfaszikel K 28/13 (»das Kaulbach’sche Wandgemälde u. dessen Vervielfältigung durch Photographie betr.«) 38 lose Aktenstücke, die – chronologisch etwas in Unordnung geraten – ein zeitliches Spektrum von Juli 1860 bis Januar 1863 umspannen. Es handelt sich um ein- und auslaufende Korrespondenz des Inspektors der Artistischen Anstalt zur Frage der Reproduktion des Freskos. Die Archivalien lassen die verschiedenen Bemühungen, Fehlschläge und erneuten Anläufe erkennen, die der Historienmaler Jakob Eberhardt koordinierte, um das Gemälde des ihm befreundeten Kaulbach vervielfältigen zu können. Eberhardt, der erst kurz zuvor zum künstlerischen Inspektor des Germanischen Nationalmuseums ernannt worden war, hatte im Juli 1859 an der Herstellung des Freskos mitgewirkt.265 Die Archivalien des Faszikels lassen sich grob in drei thematische und zeitliche Komplexe gliedern: zunächst ein (mehrere vergebliche Anläufe einschließender) Vorlauf der photographischen Vervielfältigung, dann die Durchführung der Reproduktionsarbeiten in Nürnberg und im Münchner Atelier von Joseph Albert, schließlich die Vermarktung der Photographien 263 | Fehrmann u.a. 2004, S. 9–11. 264 | Ranke 1977, S. 17. 265 | Die Karikaturen charakterisieren ihn allerdings – im Gewand eines Kartäusers – als dienstbaren Geist, der die Künstler mit Essen und Getränken versorgt.
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über Nürnberger Kunsthandlungen. Dazwischen öffnen sich Leerstellen, von denen meist unklar bleibt, ob Eberhardt in diesem Zeitraum keine weitere Korrespondenz in der Sache führte, oder ob es weitere Schriftstücke gab, die nicht in den Archivbestand eingegangen sind. Trotz dieser Lücken vermitteln die versammelten Materialien zur photographischen Reproduktion des Kaulbach-Freskos – trotz der darin thematisierten Schwierigkeiten, Brüche und Neuanläufe – den Eindruck eines kohärenten und historisch aufzuschlüsselnden Vorgangs. Lediglich am Anfang und am Ende der einzelnen Komplexe fallen die diffusen Ränder und Übergangsschwellen zu den nicht durch Akten erschließbaren Vorgängen stärker ins Auge. So verlieren sich die ersten Bemühungen um eine photographische Vervielfältigung des Freskos im Nebulösen. Das älteste Schreiben des Bestands vom August 1860 nimmt bereits Bezug auf eine Klage des Freiherrn von Aufseß, daß man – ein Jahr nach der Enthüllung des Freskos – noch immer nicht zu photographischen Aufnahmen desselben gekommen sei.266 Zu diesem Zeitpunkt korrespondierte Eberhardt bereits mit einem Nürnberger Photographen, der eine pyrotechnische Illumination des dunklen Kirchenraums vorgeschlagen hatte, um mittels Kunstlicht eine taugliche Aufnahme des Wandgemäldes zu erhalten. Das museale Feuerwerk kam jedoch nicht zustande – die Kosten der entsprechenden Apparatur waren zu hoch.267 Parallel dazu stand Inspektor Eberhardt mit mindestens zwei weiteren Nürnberger Photographen in Kontakt, die Interesse an einer photographischen Vervielfältigung des Freskos bekundet hatten. Dabei bemühte sich Eberhardt, die Eigentumsrechte des Museums an dem Fresko und allen seinen Reproduktionen zu wahren: am 27. Oktober unterzeichnete der Photograph Christian Koenig eine von Inspektor Eberhardt aufgesetzte Verpflichtung, »keinerlei Gebrauch von der photographischen Aufnahme des Kaulbach’schen Bildes in der Karthause zu machen« und diese zu zerstören, um die Rechte des Museums nicht zu beeinträchtigen. Obwohl Koenig die im Entwurf vorgesehene »Zerstörung« noch in eine »Versiegelung« umänderte, vermerkte Eberhardt später die Vernichtung des Negativs.268 Auch die fast zeitgleich angefertigten Aufnahmen, die aus einer Zusammenarbeit des Photographen Kühn und eines gewissen Oberstleutnants Stark hervorgegangen waren, entsprachen nicht den vom Museum an die Reproduktion gestellten Ansprüchen. In einer ähnlichen Erklärung verpflichteten sich beide »mit Wort und Unterschrift, weder mit dieser Aufnahme (welche Eigenthum des Museums ist und bleibt) irgend wie in die Öffentlichkeit zu treten, noch jemals damit das Eigenthumsrecht des Museums (an diesem seinem Bilde) beeinträchtigen zu wollen«.269 Stark wurde aber zumindest in Aussicht gestellt, daß das Museum einen neuen Vertrag 266 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an Johann Maar, 17. August 1860. 267 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Photographie-Instituts Ed. Liesegang an Johann Maar, 6. August 1860 (mit Notizen von Jakob Eberhardt). 268 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Erklärung, unterzeichnet von Chr. Koenig, 27. Oktober 1860. 269 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Erklärung, unterzeichnet von A. Stark, 1860.
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mit ihm schließen würde, sollte Kaulbach als »Stifter u. Urheber des Bildes« mit den vorgelegten Proben zufrieden sein; anderenfalls jedoch sollten alle Originalblätter und Probeaufnahmen zerstört werden – ohne daß dem Photographen damit ein Recht auf Entschädigung durch das Museum entstünde. Nachdem der Winter für weitere photographische Versuche nicht in Betracht gekommen war, trat Eberhardt im Frühjahr 1861 erneut sowohl mit Koenig als auch mit Stark in Kontakt. Oberstleutnant Stark gab sich mit Verweis auf die vergeblichen Bemühungen des Vorjahrs nunmehr zuversichtlich, bei idealen Witterungsbedingungen (»Bedingungen, welche ich der Witterung ablauern muß«) ein »tadelloses Bild« zu erhalten, »welches keine Retouche bedarf«.270 Aber auch diese – vom Stand der photographischen Technik her betrachtet – unrealistischen Hoffnungen zerschlugen sich. Vier Monate später empfahl Stark dem Museum einen erfahrenen Retoucher, der sein Handwerk »bei Albert in München« gelernt habe.271 Zwischen diesen beiden Schreiben ging dem Museum wahrscheinlich die undatierte Mitteilung zu, in der Stark von fruchtlosen Versuchen berichtet, die ihn »fast an einer brauchbaren Copie« verzweifeln ließen. Er schlug deshalb als Alternative vor, nicht das Fresko als Ganzes zu photographieren, sondern »probeweise jede einzelne Figur auf kleine präparirte Papierschnitzeln für sich zu copiren u. so lange decken bis nach u. nach die Platte zum Abdruck fertig erklärt werden kann«.272 Für ein solches Kompositnegativ wären freilich umfangreiche Retuschierarbeiten durch einen erfahrenen Fachmann unvermeidlich gewesen. Wenn diese Zusammenarbeit nicht mehr zustande kam, dann vielleicht auch deshalb, weil unterdessen Joseph Albert selbst dem Museum seine Dienste in dieser Sache angeboten hatte. Albert photographierte das Fresko jedoch keineswegs selbst; vielmehr bot er dem Museum (neben seinem Namen) eine kostenlose Nutzung seines auf Kunstreproduktionen spezialisierten Ateliers an. Albert verfügte in München unter anderem über Vergrößerungsapparaturen, um von kleinen Glaspositiven Negative in unterschiedlichen Größen herzustellen.273 Als Vermittlungsinstanz zwischen dem Nürnberger Fresko und dem Münchner Photoatelier wurde deshalb ab Winter 1861 erneut der Photograph Koenig eingeschaltet. Er sollte laut Vertrag ein kleinformatiges Negativ (»behufs einer Vergrößerung
270 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt, 15. März 1861. 271 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt, 15. Juli 1861. Im alten Zugangsregister des Germanischen Nationalmuseums ist unter ZR 1861/3636 (S. 290) am 20. April 1861 als Geschenk des königlich bayerischen Artillerie-Oberlieutenants A. Stark der Zugang von »8 photographischen Aufnahmen aus der Karthause zu Nürnberg« verzeichnet worden. Wahrscheinlich waren die erfolglosen Bemühungen des Frühjahrs darunter. Über den Verbleib der Photographien in den Sammlungen des Museums ist nichts bekannt. 272 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt (undatiert). 273 | Ranke 1977, S. 17 u. 24f.
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durch Herrn Albert in München«) und ein Glaspositiv des Freskos fertigen.274 Zur Jahreswende übergab Koenig die in Auftrag gegebenen Platten, mußte aber, um seine vertragliche Bezahlung zu erhalten, einen Beleg aus München beibringen, daß die Aufnahmen für diesen Zweck brauchbar waren, was von der Geschäftsleitung des Ateliers Albert auch quittiert wurde.275 Auf diesen Aufnahmen sollten die weiteren Arbeiten in Alberts Atelier basieren. Aus den Briefen, die Eberhardt im Januar 1862 an Joseph Albert aufsetzte, spricht Freude und Erleichterung darüber, daß sich nach den Fehlschlägen der Jahre 1860 und 1861 nun der Experte für photographische Kunstreproduktionen des Kaulbach’schen Freskos angenommen hatte.276 Zudem hatte Albert dem Museum seine Dienste (analog zu Kaulbach selbst, der dem Museum sein Fresko geschenkt hatte) anscheinend als unentgeltliche Gefälligkeit zugesichert. Im Namen von Aufseß versicherte Eberhardt dem Münchner Photographen überschwenglich dafür den »Dank der germanischen Nation, ja den Dank aller civilisirten Völker«.277 Die Euphorie über das Engagement Joseph Alberts legte sich jedoch, als die Probeabzüge aus München zunächst auf sich warten ließen und schließlich den hoch gesteckten Erwartungen nicht entsprachen. Der Ton der Nürnberger Schreiben wurde sachlicher und kritischer. Eberhardt adressierte nun meist den Geschäftsleiter des Ateliers und wandte sich nur dann direkt an Joseph Albert, wenn es Verzögerungen zu beklagen gab oder unter persönlicher Ansprache an die früheren Zusagen erinnert werden mußte.278 Antwort erhielt der Inspektor des Germanischen Nationalmuseums aber stets nur von der Geschäftsleitung des Hofphotographen. Eberhardt klagte nicht nur über die organisatorischen Verzögerungen, sondern übte an den verschiedenen Abzügen eine teils detaillierte Kritik, die sich mehrmals auf die »Vergleichung mit dem Original«279 berief – also auf eine nur im Museum selbst (als Stand-
274 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzepte von Schreiben Jakob Eberhardts an Chr. Koenig (9. März 1861 und 4. Juni 1861). 275 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Geschäftsleiters Hummel (Atelier Albert) an Jakob Eberhardt, 4. Januar 1862 mit einer Notiz von Jakob Eberhardt, 7. Januar 1862. 276 | Joseph Albert war nicht nur bereits mit überzeugenden Gemäldereproduktionen hervorgetreten, sondern hatte auch schon mit Wilhelm von Kaulbach zusammengearbeitet. Zur (nicht immer reibungslosen) Zusammenarbeit von Joseph Albert und Wilhelm von Kaulbach: Ranke 1977, S. 37-40. Fast zeitgleich mit der Auftragsarbeit zur Reproduktion des Museumsfreskos gab Albert in eigener Regie im Jahr 1863 12 Photographien nach den Kaulbach-Fresken aus der Neuen Pinakothek heraus (ebd., S. 102). 277 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an Josef Albert (undatiert, wohl Anfang Januar 1862) und desgleichen (20. Januar 1862). Daneben verfaßte Eberhardt ein in deutlich sachlicherem Ton gehaltenes Schreiben an Alberts Geschäftsleiter Hummel. 278 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an Josef Albert, 1. August 1862 und desgleichen, 9. September 1862. 279 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an Josef Albert,
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ort des Freskos) gebotene Möglichkeit der vergleichenden Betrachtung von Original und Reproduktion. Der Zugang zum Fresko wurde als Standortvorteil ausgespielt, auf den sich die Autorität gründet, über die Richtigkeit der Reproduktion zu entscheiden. Als unrichtig empfand Inspektor Eberhardt in seiner Bildkritik insbesondere den Kontrast: So sei »die Gruppe Otto u. seine Begleitung zu hell gekommen« und es sollte »der Arm welcher den Schild hält, [...] mehr Ton im ganzen haben«.280 Noch im Januar 1863, als die Photographien längst im Handel hätten erscheinen sollen, schickte Eberhardt Probeabzüge an das Atelier Albert zurück, mit genauen Anweisungen notwendiger Verbesserungen und der Bitte, die Positivretusche – sofern sie notwendig werden sollte – ihm zu überlassen.281 Entgegen der Mitteilung im Anzeiger war in der Praxis der Reproduktion somit letztlich nicht der Blick des künstlerischen Schöpfers die entscheidende Instanz, sondern der Blick eines Museumsinspektors, der die ihm vorgelegten photographischen Abzüge vor Ort mit dem Bildeindruck des Originals vergleichen konnte. Die Öffentlichkeit wurde über diese Komplexität des Reproduktionsvorgangs natürlich nicht informiert. Im März 1862 berichtete der Anzeiger von dem Beginn der Reproduktionsarbeiten in München – im November 1862 vermeldete er deren Abschluß und warb für die in drei Größen erhältlichen Abzüge.282 Beide Mitteilungen benennen Joseph Albert bzw. dessen Atelier als den Produzenten der Photographie. Erst der Anfang 1863 verfaßte zehnte Jahresbericht, stellte – auf das Jahr 1862 rückblickend – die Mitwirkung weiterer Akteure heraus: »Wir versäumen nicht, bei dieser Gelegenheit das große Geschick anzuerkennen, mit welcher der hiesige Photograph König das Negativ und Inspector Eberhardt die Retouche der Photographie hergestellt haben.«283 Schließlich übergab Joseph Albert dem Germanischen Nationalmuseum drei Negative in unterschiedlichen Formaten. Das Auskopieren sollte in dem eigenen Atelier erfolgen, das Jakob Eberhardt inzwischen in den Räumlichkeiten des Kartäuserklosters eingerichtet hatte – sicher auch, um künftig die Probleme zu vermeiden, die bei der Zusammenarbeit mit Albert aufgetreten waren. Sowohl in organisatorischer Hinsicht als auch hinsichtlich der ästhetisch-künstlerischen Auffassung einer gelungenen Kunstreproduktion erschien es vorteilhaft, die Arbeitsschritte der Aufnahme, der Herstellung von reproduktionsfähigen Negativen, des kritischen Vergleichs mit der Vorlage und der Retuschen in eigener Regie innerhalb des Museums zu bündeln. Die Reproduktion von Kaulbachs Fresko darf somit als wichtiger Wegbereiter für 2. August 1862 und Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an die Geschäftsleitung des Ateliers von Josef Albert, 23. September 1862. 280 | Ebd. 281 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Konzept eines Schreibens von Jakob Eberhardt an an die Geschäftsleitung des Ateliers von Josef Albert, 19. Januar 1863. 282 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1862, Sp. 89 u. 431f. 283 | Neunter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1862), S. 7.
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die Einrichtung einer photographischen Anstalt im Germanischen Nationalmuseum gelten – und somit auch als ein Meilenstein in der Geschichte des Umgangs dieses Museums mit dem Medium Photographie.
Photographische Reproduktion zwischen Übersetzungspraktiken und Phantasien unvermittelter Vermittlung Nach Durchsicht des Aktenfaszikels stellt sich die photographische Reproduktion von Kaulbachs Fresko als komplexer Vorgang dar, der den Akt der Aufnahme ein- und umschließt, ihn aber in die weiteren Arbeitsschritte der Reproduktion einbettet. Es wäre daher auch verfehlt, den Photographen Christian Koenig als Urheber dieser Photographie gegenüber den anderen Beteiligten herauszustellen. Vielmehr läßt sich am Beispiel dieser Gemäldereproduktion zeigen, wie die Frage nach der Urheberschaft einer Photographie teilweise in der Frage nach der medialen Konstellation aufgeht, durch die ein Bild hervorgebracht wird. Innerhalb dieser Konstellation versetzte der Besitz des zu reproduzierenden Kunstwerks das Museum an die Schaltstelle des Vorgangs: von Nürnberg aus wurde der Zugriff der Photographen auf das Fresko reglementiert, die Qualität einzelner Aufnahmen beurteilt, über die Erhaltung oder Vernichtung von Negativen entschieden und Anweisungen zur Veränderung der Negative ausgegeben. Das Museum war zugleich der Ort, an dem die dabei entstandenen Abzüge mit dem Original verglichen und an dieses angepaßt wurden. Im Namen des Germanischen Nationalmuseums kontrollierte Jakob Eberhardt den gesamten Reproduktionsvorgang. Auch wenn der Inspektor des Museums kurz darauf ein eigenes photographisches Atelier begründen und als Photograph tätig werden sollte, ist die Reproduktion von Kaulbachs Fresko aber nicht als sein photographisches Werk zu verstehen. Sie ist überhaupt nicht als das Werk eines Photographen oder als Resultat einer konkreten Aufnahmesituation anzusehen, sondern beschreibbar als Resultat der Inspektion von Reproduktionsvorgängen. Einerseits entspricht der hier skizzierte Fall der bereits beschriebenen, um 1860 allgemein üblichen Praxis photographischer Gemäldereproduktion, die noch mit einem Bein in der Tradition des graphischen Zeitalters stand. Die Notwendigkeit mehrerer Bearbeitungsschritte, die Beschreibung der Reproduktion als Transformation des Kunstwerks sowie die Dauer des gesamten Vorgangs sind als charakteristische Aspekte einer Tradition übersetzender Reproduktion zu bewerten. Andererseits fällt doch auf, wie viel Wert in Nürnberg von Anfang an auf eine gelungene Aufnahme vor Ort gelegt wurde. Dies überrascht um so mehr, als daß sich das monumentale und unbewegliche Fresko offenbar an einem für photographische Aufnahmen denkbar ungeeigneten Platz befand. An einer Seitenwand des schmalen Kirchenraumes plaziert, konnte die Distanz, die für die Herstellung großformatiger Negative notwendig war, nicht erreicht werden (deshalb schlug Stark ein Kompositnegativ vor, deshalb fertigte Koenig ein Glaspositiv für Alberts Vergrößerungsapparat). Und auch die Licht-
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verhältnisse der gotischen Kirche dürften eine gleichmäßige Ausleuchtung der Wandmalerei erschwert haben (deshalb wurde der Einsatz von Kunstlicht vorgeschlagen). Es ist sicher kein Zufall, daß das Wandgemälde auf keiner der photographischen Aufnahmen zu sehen ist, die zwischen 1860 und 1920 vom Innenraum der Kirche angefertigt wurden; stets blieb das Fresko außerhalb des photographischen Blickfelds.284 Trotz dieser Hindernisse wird in Eberhardts Korrespondenz nirgends eine Alternative zur photographischen Aufnahme des Bildes vor Ort erwähnt. Die Vervielfältigung einer speziell hergestellten graphischen Reproduktionsvorlage etwa wäre ja eine durchaus gängige Option gewesen, die in anderen Fällen gerade auch Wilhelm von Kaulbach praktizierte.285 In Nürnberg aber wurde an der weitaus schwierigeren Aufgabe einer direkten Aufnahme festgehalten. Vielleicht weil das Versprechen photographischer Unmittelbarkeit der dokumentarischen Konzeption des Germanischen Nationalmuseums besonders entgegenkam?286 Diese Haltung kulminierte in der durchaus verwegenen Hoffnung des Photographen Stark, der Witterung ein Bild »ablauern« 287 zu können, das keiner weiteren Retusche mehr bedürfe. Das Scheitern dieser Hoffnung markiert aber zugleich den Wendepunkt, in dessen Folge sich das Museum dem bereits bewährten »Arsenal der fotografischen Illusionsmaschinerie«288 bediente, für das der Name Joseph Albert stand. Dessen Kunstreproduktionen waren gerade deshalb so hoch geschätzt, weil sich die an ihnen vorgenommenen Manipulationen im Endergebnis nicht mehr zu erkennen gaben und einen suggestiven ›Transparenzeffekt‹ erzeugten, der von einem unvermittelten Kamerablick träumen ließ. Als Medium der Kunstreproduktion fügte sich die Photographie somit zwar in die »visuelle Ökonomie« des 19. Jahrhunderts ein, besetzte darin aber eine potentielle Bruchstelle, indem sie eine paradoxe Phantasie unvermittelter Vermittlung beförderte, auf die sich später der besondere Authentizitätsanspruch des photographischen Bildes stützen sollte.289 Die Techniken, Praktiken und Konzepte der Reproduktion verlagerten sich unter diesem Einfluß allmählich vom Ideal einer vermittelnden Übersetzung zwischen Original und Kopie zur Vorstellung einer unmittelbaren Versetzung des Originals in eine Kopie; der Prozeßcharakter jeder Reproduktion (das Dazwischen) trat zugunsten einer binären Opposition der Eckpunkte – Original und Kopie – in den Hintergrund. 284 | Das Problem erweist sich als medienspezifisch: denn eine Federzeichnung des Jahres 1868 (Louis Braun) stellt das Fresko als Besucherattraktion des Kirchenraumes dar (Graphische Sammlung des GNM: Hz 1034, Kapsel 1442a). 285 | Kartonage. In: Meyers Konversationslexikon von 1889, Band 9, S. 577. 286 | Ernst 2003, S. 547-552. 287 | GNM-Akten K 28, Nr. 13: Schreiben des Obl. Stark an Jakob Eberhardt, 15. März 1861. 288 | Busch 1989, S. 236. 289 | Authentisierungsstrategien arbeiten mit dem Paradox unvermittelter Vermittlung und behaupten die Möglichkeit einer Darstellung, die »den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert« (Wortmann 2003, S. 14).
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Gerade weil sich Original und Kopie im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit anscheinend immer weiter annäherten, gewann der Rest, der zwischen ihnen blieb, an Bedeutung. Zwischen der Wahrnehmung des Originals als künstlerischer Schöpfung und der Wahrnehmung der Kopie als dessen technischer Übermittlung eröffnete sich eine Kluft. Für die Praxis der Kunstreproduktion, die als Reproduktionskunst immer die graduellen Unterschiede zwischen Originalen und Kopien betont hatte, bedeutete dies eine kritische Gradwanderung: der graphischen Reproduktionskunst trat die photographische Kunstreproduktion als scharfer Gegensatz entgegen. Die Möglichkeit photographischer Reproduktionen steigerte seit der Mitte des 19. Jahrhundert den Stellenwert der originalen künstlerischen Handschrift, die nun (wie schon Talbot gezeigt hatte) scheinbar unvermittelt übermittelt werden konnte. Dieses Potential der Photographie als Reproduktionsmedium wurde in den 1850er Jahren positiv bewertet. Andererseits formierte sich um 1860 eine Gegenbewegung, die die Reproduktionsgraphik als Kunst eigenen Rechts ästhetisch überhöhte und der photographischen Kunstreproduktion jede ästhetische Qualität absprach.290 Wilhelm von Kaulbach gehörte zu jenen Künstlern des 19. Jahrhunderts, die an der Photographie genau diese mediale Differenz zu den traditionellen graphischen Reproduktionsverfahren wahrnahmen und schätzten. Inwieweit Kaulbach selbst auf die Reproduktion seines Nürnberger Freskos Einfluß genommen hat, ist dem Aktenbestand des Germanischen Nationalmuseums nicht zu entnehmen. Daß Kaulbach den Möglichkeiten des Mediums Photographie grundsätzlich positiv gegenüberstand, ist allerdings bekannt – ebenso seine Skepsis gegenüber einer Beteiligung von Reproduktionsgraphikern an der Publikation seiner Werke: In einem Brief an seinen damaligen Verleger Parthey sprach er sich beispielsweise 1858 für einen Einsatz der Photographie zur Reproduktion und Publikation seiner Zeichnungen aus, vor allem deshalb, weil sie »mich der Noth mit den Kupferstechern überheben, meinen Freunden aber meine eigene Handschrift ohne die Übersetzerzuthat bieten«.291 Angeblich war Kaulbach auch einer der ersten Künstler, der zu seinen monumentalen Fresken spezielle Kartons für die photographische Reproduktion anfertigte292 – damit also eigenhändige Übersetzungen vornahm, durch die Reproduktionsgraphiker aus dem Prozeß der Vervielfältigung ausgeschlossen werden konnten. Die technischen und ästhetischen Eingriffe, die im Atelier für Reproduktionsphotographie notwendig waren, nahm Kaulbach anscheinend als weniger problematisch wahr. Der Blick auf die komplexen Prozesse der photographischen Reproduktion von Kaulbachs Fresko weckt Skepsis gegenüber einer in solchen Gegenüberstellungen von technischen und künstlerischen Reproduktionsverfahren anklingenden Schwarzweißmalerei. Es sei daran erinnert, daß die Photogra290 | Gröning 2001b, S. 6-9. Siehe zu diesem Umschwung auch oben, Kapitel 3.3. 291 | Brief von Wilhelm von Kaulbach an Georg Parthey, 22. März 1858 (Kaulbach-Archiv VI/17), zitiert nach Ranke 1977, S. 38. 292 | Kartonage. In: Meyers Konversationslexikon von 1889, Band 9, S. 577.
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phie bereits bei ihrem ersten Auftreten durch die Vielfalt der Zwischentöne verblüffte und nicht durch einen binären Kontrast. In diesem Sinne möchte auch diese Untersuchung von Reproduktionsverfahren an der Schwelle des photographischen Zeitalters die Graustufen und Übergänge, die Vermittlungen innerhalb eines Medienensembles nicht aus dem Auge lassen – und gleichzeitig die Prozesse in den Blick nehmen, die den Kontrast verstärkt und in Richtung einer zweipoligen Dichotomie verschoben haben.
Kopienkritik Eine Übergangserscheinung des späten 19. Jahrhunderts, die erkennen läßt, in welchem Zeitraum die feineren Abstufungen im Feld der Reproduktionsphotographie allmählich durch harte Kontraste überblendet wurden, ist in der Etablierung der so genannten Kopienkritik als Methode der Klassischen Archäologie zu sehen. Eingeführt wurde diese spezielle Art vergleichender Betrachtung durch Adolf Furtwängler in seinem Buch »Meisterwerke der griechischen Plastik« (1893). Die Bezeichnung steht für den Versuch einer Rekonstruktion nicht mehr vorhandener Originale anhand der von ihnen noch erhaltenen Kopien. Durch den Vergleich römischer Skulpturen, die (nicht immer zu Recht) als Kopien verlorener griechischer Meisterwerke betrachtet wurden, zielte die Kopienkritik auf die Rekonstruktion eines imaginären Vorbilds. Aus einem Korpus römischer Reproduktionen, denen ein gemeinsames Vorbild zugeschrieben wurde, sollte (ähnlich der Idee des photographischen Kompositnegativs) die ,ideale‹ Kopie synthetisiert werden und damit gleichsam ein Doppelgänger des verlorenen griechischen Meisterwerks erschaffen werden. Dieses sollte der Gesamtheit der Kopien vorausgegangen sein – ging aber im Forschungsprozeß andererseits erst aus diesen hervor. Ellen Perry hat gezeigt, wie der auf die griechische Kunst gerichtete ›Tunnelblick‹ der Kopienkritiker eine spezifisch römische Kunstpraxis unsichtbar machte, die gerade nicht auf exakte Kopien ausgerichtet war, sondern auf eine kreative Aneignung griechischer Kunst, auf ihre Einpassung in einen dekorativen Kontext.293 Für die Kopienkritiker war die römische Reproduktionspraxis aber ausschließlich als epistemische Sehhilfe zur Erkenntnis des verlorenen Meisterwerks von Interesse: Die durch vergleichende Betrachtung römischer Kopien erschlossene Summe von Abweichungen und Übereinstimmungen sollte eine Durchsicht ermöglichen auf das nicht mehr vorhandene griechische Original. Im Idealfall einer überzeugenden Kopienkritik fungieren die in jedem Einzelfall ›fehlerhaften‹ römischen Kopien somit in ihrer Gesamtheit als transparentes Medium griechischer Kunst. Mit dem Ideal der Transparenz schiebt sich aber ein ganz bestimmtes und durchaus historisch bedingtes Konzept von Reproduktion in den blinden Fleck der Kopienkritik. Das um 1900 offenbar etablierte und am technischen Medium Photographie orientierte Ideal einer exakten Kopie, die auch im Einzelfall verläßlich sei, fungierte darin 293 | Perry 2005 kennzeichnet diese römische Kunstpraxis als Emulation.
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als überhistorisches Modell und Maßstab jeder Reproduktion.294 Damit wird die Historizität von Idealen, Konzepten und Praktiken der Reproduktion ausgeblendet. Während also auf der Ebene der Forschungsobjekte (der römischen Kopien) mit geradezu philologischer Sensibilität die Differenzen zwischen verschiedenen Reproduktionen wahrgenommen wurden, schienen sich auf der Ebene der eigenen Forschungsinstrumente (modernde Gipsabgüsse und Photographien) medienkritische Bedenken zu erübrigen, da ja die Exaktheit, Neutralität und Transparenz der Wiedergabe in diesen Fällen bereits maßgeblich durch die eingesetzten Medien selbst verbürgt schien. Der Initiator der kopienkritischen Methode, Adolf Furtwängler, bezeichnete den Vergleich von Photographien als wesentliche Stütze dieser kunsthistorischen Erkenntnis: »Wer immer nur es versteht, an den Denkmälern zu beobachten und mit nie ermüdender Lust alle Formen neu zu prüfen und zu vergleichen, der wird mit Hilfe der Photographie, die das Einzelne festhält, zu Resultaten gelangen, die an die Stelle der bisherigen blassen und mageren Gestalt bald ein ganz anderes farbenprächtiges Bild der griechischen Kunstgeschichte werden erstehen lassen.«295 Wenn er betont, nur solche Bildwerke benutzt zu haben, deren Original er selbst in Augenschein genommen habe, argumentiert er zwar noch vor dem Hintergrund eines graphischen Zeitalters, das Reproduktionen grundsätzlich skeptisch – und eben kritisch – gegenüberstand. Bei den feineren Abstufungen zwischen graphischen und photographischen Bildern zeigen sich aber bereits die Spuren einer zunehmenden Überblendung: Gute Photographien könnten einen hinreichenden Ersatz zur »Autopsie« der Originale liefern – graphische Abbildungswerke seien dafür jedoch grundsätzlich ungeeignet.296 Zurück zu Kaulbachs Fresko. Bedenkt man den programmatischen Stellenwert, den der Museumsgründer Aufseß diesem Bild zugesprochen hatte, wundert es nicht, daß es gerne zur Illustration museumshistorischer Darstellungen herangezogen wird.297 Der in Museumspublikationen übliche Verweis auf die Signatur und den Standort des Originals zielt in diesem Fall aber ins Leere; Kaulbachs Fresko ist nicht im Original erhalten. Zwischen der frühen Wertschätzung als Prestigeobjekt des Museums und der späten Wiederentdeckung als museumshistorisches Zeugnis ist die Objektbiographie von Verfall und Verlust gekennzeichnet. Bereits im 19. Jahrhundert merklich nachgedunkelt, um 1920 aus den Schauräumen entfernt und in einen Vortragssaal gebracht, dort zeitweise hinter einem Vorhang verborgen, überdauerte das einstige Sinnbild als inzwischen ungeliebtes Inventarstück beide Weltkriege, bis es 1962 aus Unachtsamkeit bei Umbauarbeiten zerstört wurde.298 294 | Vgl. zur Veränderung der Konzepte von Objektivität unter dem Einfluß der Photographie Daston/Galison 2002, S. 78. 295 | Furtwängler 1893, S. VII-VIII. 296 | Ebd. S. X. 297 | Andrian-Werburg 2002, S. 17. 298 | Deneke/Kahsnitz 1978, S. 26; Schulz 1927, S. 72 begründet die Versetzung des Freskos einerseits mit konservatorischen Erwägungen; gleichzeitig nennt er jedoch ein anderes Raum-
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Bei der Entstehung des Freskos im Jahr 1859 war der Versuch gemacht worden, die Materialität des Bildes besonders dauerhaft zu sichern, um dadurch – wie der Museumssekretär Enno Hektor in seinem Jubiläumsrückblick von 1862 schrieb – »[d]as unsterbliche Werk um so mehr vor der Vergänglichkeit zu wahren«.299 Der Münchner Chemiker Max Pettenkofer hatte dafür einen speziellen Überzug des Malgrundes entwickelt, um die aufgetragenen Schichten dauerhafter zu sichern. Doch das technische Experiment zeitigte nicht die erhoffte Wirkung, sondern ist vermutlich mitverantwortlich für das besonders dramatische »Schwinden und Zerbröckeln des Freskos«, das – wie es 1921 in einer Erläuterung der Versetzungsmaßnahme hieß – »unverständigerweise auf Zementgrund« gemalt worden sei.300 Was sich hingegen bis heute gegen das Vergessen dieses Kunstwerks stellt, ist dessen mediale Aneignung durch Reproduktionen. Mit dem Verlust eines Originals können die davon angefertigten Reproduktionen an Relevanz gewinnen, weil das hinter ihnen und durch sie gesehene Original nicht mehr als gemeinsamer Referenzpunkt zur Verfügung steht. Die Methode der Kopienkritik sucht in Ermangelung dieses Fixpunktes nach möglichst allen erhaltenen Kopien und betrachtet die Unterschiede der (manuellen) Reproduktionen im Vergleich. Solch ein kritischer Vergleich scheint sich aber zu erübrigen, wenn Photographien eines verlorenen Kunstwerks verfügbar sind – wie im Fall von Kaulbachs Fresko. Das Ideal der exakten Reproduktion scheint dann bereits bei jeder technisch gelungenen Photographie eines Gemäldes erfüllt, das Nachleben der Bilder, die in ihrer originalen Materialität beständig bedroht sind, durch die photographische Vervielfältigung hinreichend gesichert.301 Kann man sich eine andere Art von Kopienkritik vorstellen? Eine Methode vergleichenden Sehens, die den Verlust des Originals zum Ansatzpunkt eines Perspektivwechsels macht und die Eigengesetzlichkeit von Reprodukideal, dem das historistische Großexponat im Wege gestanden haben dürfte: »Noch im Jahre 1920 wurde mit der Reorganisation der Sammlungen im Altbau begonnen. Zunächst wurde die alte Kartäuserklosterkirche von der Überfülle von Bildern, Skulpturen und Ausstellungsvitrinen befreit. Das altehrwürdige Bild des mächtigen, durch edle Verhältnisse ausgezeichneten Einraums des Gotteshauses sollte wiederhergestellt und die Kirche in ihrer architektonischen Reinheit wieder freigelegt werden. Es wurde zu einem Zwang, das Kaulbach-Fresko ›Kaiser Otto III. in der Gruft Karls des Großen im Münster zu Aachen‹, das an der südlichen Kirchenwand seinem sicheren Verderben entgegenging, in einen anderen Raum zu übertragen, in dem seine Erhaltung gewährleistet war.« 299 | Hektor 1863, S. 33. 300 | GNM-Akten K 770 (»Verschiedenes«): »Das Germanische Museum und die Oeffentlichkeit«. Beilage zur Fränkischen Tagespost (Samstag, 3. Dezember 1921, Nr. 283, 51. Jahrgang). Nach Bernhard 1893, S. 78 geht eben diese Verwendung von Zementgrund auf einen Vorschlag Max Pettenkofers zurück. 301 | So sah etwa Jacob Burckhardt im Einsatz von Photographie eine entscheidende Sicherungsmaßnahme gegen den vollständigen Verlust der Bilder (Burckhardt 1963: 287f.); siehe dazu auch: Tietenberg 1999, S. 74.
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tionen in ihrer spezifischen Medialität und Materialität in den Blick rückt? Gemäldephotographien, die seit dem späten 19. Jahrhundert als Hilfsmittel zum Vergleich der reproduzierten Originale eingesetzt wurden, könnten darin zum Gegenstand einer vergleichenden Betrachtung werden, die an ihnen nach Spuren historischer Praktiken, Techniken und Konzepte von Reproduktion sucht. Nicht die Differenzen zwischen photographierten Gemälden, sondern die Unterschiede zwischen den verschiedenen Photographien und Abzügen eines Gemäldes träten damit in den Mittelpunkt des Interesses. Vielleicht bietet gerade der Verlust des Originals die Chance, den Spuren der medialen Übertragungs- und Vermittlungsprozesse nachzugehen, die ein Bild als Reproduktion erscheinen lassen. Dabei ginge es um subtile Differenzen, die wir im pragmatischen Umgang mit Reproduktionen und Abbildungen meist übersehen, weil wir durch sie hindurch sehen (wollen) auf das reproduzierte Original – wie durch die Überlagerungen transparenter Oberflächen in mehrfach verglasten Fensterscheiben.302 Erst wenn mehrere Reproduktionen eines einzigen Kunstwerks in den Blick kommen (und sei es durch Zufall), offenbart die vergleichende Betrachtung Differenzen, welche die Durchsicht trüben und das implizite Verständnis von Reproduktion irritieren können.303 Im Vergleich zweier publizierter Abbildungen des Freskos zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Skalierung, des jeweils abgebildeten Ausschnitts sowie der Helligkeits- und Kontrastwerte. Die in einer Jubiläumsschrift von 1978 veröffentlichte Illustration (Abb. 18) zeigt sich zwar (insbesondere in den helleren Bildteilen des Zentrums) äußerst detailreich, erzielt durch einen dunkleren Ton und harte Kontraste (gerade in den dunkleren Bildteilen der Ränder) aber eine andere Wirkung als die Abbildung aus dem Ausstellungskatalog von 2002 (Abb. 19), in der die mittleren Tonwerte feiner abgestuft sind. Neben dem etwas kleineren Bildausschnitt in der Abbildung von 1978 sind Helligkeit und Kontrast die entscheidenden Parameter für die unterschiedliche Bildwirkung.304 Im älteren Druck zieht die dunkle Silhouette des Schildes den Blick auf sich, während die Figur Kaiser Ottos III. in die dunkle Peripherie des Bildes gedrängt ist. Die jüngere Wiedergabe von 2002 lenkt den Blick hingegen auf die Lichterscheinung im Zentrum und stellt die Hauptfiguren besser heraus. Auch wenn sich diese Differenzen teilweise durch die Bildbearbeitung der Verlage erklären lassen, gehen die beiden Abbildun302 | Dabei handelt es sich bei der Phantasie einer unvermittelten Durchsicht auf das Original um eine durchaus ›nützliche Fiktion‹ im Sinne einer Philosophie des ›Als Ob‹ – ohne die bestimmte Bezugnahme in wissenschaftlichen Diskursen nicht möglich wären. Die Frage, wie unter diesen Bedingungen dennoch wissenschaftliche Kohärenz erzeugt wird, stellt sich bei: Latour 2000. 303 | Diese Abweichungen sind heute ein Thema künstlerischer Reflexionen. Jonathan Monks Installation »Selfportrait #6 (10x15 glossy)« (2003) führt diese Illusion vor Augen. Monk ließ 50 Abzüge ein und derselben Portraitphotographie in 50 verschiedenen Photolaboren entwickeln und zeigt diese 50 Bilder nun gerahmt und nebeneiander als Kunstwerk. In dieser Anordnung offenbaren die Abzüge zum Teil erhebliche Unterschiede in Kontrast, Helligkeit und Farbigkeit. 304 | Deneke/Kahsnitz 1978, S. 26; Andrian-Werburg 2002, S. 21.
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Abb. 18: Wilhelm von Kaulbach, Fresko, 1859, Reproduktion publiziert 1978 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
Abb. 19: Wilhelm von Kaulbach, Fresko, 1859, Reproduktion publiziert 2002 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
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Abb. 20: Wilhelm von Kaulbach, Fresko, 1859, Verschiedene Aufnahmen Bildarchiv Foto Marburg gen doch mit großer Wahrscheinlichkeit auf unterschiedliche photographische Vorlagen zurück. Das Bildarchiv Foto Marburg, in dem unter anderem das Photoarchiv des Germanischen Nationalmuseums erfaßt ist, hält drei Bilder von Kaulbachs Fresko bereit (Abb. 20).305 Eines wird Jakob Eberhardt zugeschrieben und auf das Jahr 1863 datiert. Es handelt sich wahrscheinlich um eine derjenigen Aufnahmen, die Eberhardt anfertigte, nachdem er am Germanischen Nationalmuseum (womöglich aufgrund der Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Joseph Albert) ein eigenes Atelier für Museumsphotographie eingerichtet hat305 | Bildarchiv Foto Marburg, Objektnummer 21909, unter: http://www.bildindex.de [16.04.08].
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te.306 Bei der zweiten Aufnahme des 19. Jahrhunderts sind Photograph und Aufnahmedatum nicht bekannt. Nicht zuletzt aufgrund der im Bildresultat als Qualitätsmerkmal erkennbaren Sorgfalt, die vor allem bei der Erstveröffentlichung zu erwarten ist, dürfte dieses Bild auf einen der erhaltenen Abzüge zurückgehen, an denen neben Inspektor Eberhardt und dem Nürnberger Photographen Koenig auch das professionell organisierte Atelier von Joseph Albert beteiligt war. Das dritte Bild wird im Bestand von Foto Marburg als eine um 1906/1908 gefertigte Aufnahme ausgewiesen. Auch im Vergleich dieser Bilder sind Bildausschnitt, Tonwertumfang, Schatten und Lichter die entscheidenden Differenzkriterien. In der Aufnahme Eberhardts erscheinen die Kontraste sogar ein wenig zu weich. Es handelt sich um das Bild mit den hellsten Lichtern und den schwächsten Schatten. Der Fackelschein im Zentrum des Bildes wird dadurch stark betont, die Details in diesem Bildteil verschwinden; dafür bleiben die Details der dunkleren Bildteile erkennbar. Dies gilt insbesondere für die Elemente der Bildgestaltung, auf die Eberhardt in seinem Briefwechsel mit dem Atelier Albert besonders hingewiesen hatte: »die Gruppe Otto u. seine Begleitung«, »der Arm, welcher den Schild hält«. Im scharfen Kontrast dazu zeigt sich die Aufnahme von 1906/1908 gerade für diese Bildelemente wenig sensibel: Der kleinere Bildausschnitt schneidet die Krone Kaiser Ottos III. am Bildrand an, während die Silhouette des Knechts mit dem Schild durch den scharfen Kontrast zum Lichtschein besonders hervortritt. Die im Vergleich deutlich abfallende Reproduktionsleistung könnte zwar teilweise auf die Nachdunklung des Originals zurückzuführen sein, dokumentiert durch den sorglosen Anschnitt wichtiger Bildelemente auch eine veränderte Haltung gegenüber der Reproduktionsphotographie. Steht die Aufnahme von 1906/1908 somit symptomatisch für eine Praxis photographischer Aneignung, die die Differenzen und Freiräume im Bereich der Reproduktion bereits zugunsten der Suggestion technisch-verbürgter Authentizität aus dem Auge verlor? Im Germanischen Nationalmuseum jedenfalls nahm man um 1860 eine gelungene Gemäldereproduktion durch das Medium Photographie zumindest noch nicht als eine Selbstverständlichkeit hin. Das überzeugende Gelingen einer photographischen Reproduktion war ungewiß und eine positive Einschätzung damit durchaus der Erwähnung wert. Der Anzeiger wies seine Leser im November 1863 darauf hin, daß Jakob Eberhardt im photographischen Atelier des Museums Photographien nach Kaulbachs Wandgemälde in »der beliebten Visitenkartengröße zu 24 kr., und in der doppelten Größe dieses Formates zu 45 kr. angefertigt« habe und teilte mit »daß vorzüglich die letzteren besonders gelungen sind und die Wirkung des prachtvollen Bildes in überraschender Weise wiedergeben.«307
306 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1863, Sp. 424. 307 | Ebd.
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3.5 E XPERIMENTE – D IE KURZE G ESCHICHTE EINES » PHOTOGRAPHISCHEN U NTERNEHMENS « Es ist weitgehend unbekannt, daß im Germanischen Nationalmuseum das erste Photoatelier in einem deutschsprachigen Museum errichtet wurde.308 Der Wunsch, neben den bereits existierenden Ateliers für Zeichnungen und Gipsabgüsse auch eine photographische Anstalt zu etablieren, war bereits seit 1854 wiederholt artikuliert worden. 1855 waren Verhandlungen mit dem Reproduktionsspezialisten Joseph Albert geführt worden, doch konnte der erfolgreiche Photograph (auch aufgrund der damit verbundenen Kosten) nicht an das Museum gebunden werden. Im August 1859, kurze Zeit nach der Fertigstellung des Kaulbach’schen Freskos, war endlich ein Photograph eingestellt worden – doch der Vertrag mit dem jungen Photographen Joseph Pröckl aus Franzensbad bei Eger, der dem Germanischen Nationalmuseum aufgrund seiner Reproduktionen von Urkunden empfohlen worden war, wurde bereits im April 1860 wieder aufgelöst.309 Über seine Tätigkeit im Museum ist kein klares Bild zu gewinnen. Einige Archivstücke deuten jedoch an, daß in den Räumen der Kartause keine hinreichenden Bedingungen für photographische Arbeiten im Museum gegeben waren und Pröckl deshalb überwiegend als Zeichner eingesetzt wurde. Noch im April wurde beklagt, daß »zum Bau eines Glashauses noch lange kein Anfang vorhanden« sei und Pröckl stattdessen seit Monaten für einen geringen Nebenverdienst durch tägliches und nächtliches Zeichnen seine Augen überanstrengt und seine Gesundheit gefährdet habe.310 308 | In den wenigen Untersuchungen zur Museumsphotographie gilt das 1864 mit der Gründung des Wiener Museums für Kunst und Industrie eingerichtete Photoatelier als eine zu diesem frühen Zeitpunkt einmalige Erscheinung auf dem Kontinent (Gröning 2001b, S. 125). Die Wiener Gründung wird auf das englische Vorbild des South Kensington Museums bezogen, wo Charles Thurston Thompson bereits 1856 ein Atelier für Photographie etablierte. Möglicherweise lehnte sich das Wiener »Vermittlungsprogramm« (Fabiankowitsch 2000) aber über die Person Jakob Falkes auch an das frühere Konzept der Artistischen Anstalt des Germanischen Nationalmuseums an. 309 | GNM-Akten K 3, Nr. 15, fol. 155f.: Schreiben von Joseph Pröckl an Baron von Aufseß, Franzensbad, 14. Juni 1859; ebd., fol. 167: Urlaubsgesuch Pröckls vom 22. März 1860; ebd., fol. 168: Schreiben von Vincenz Pröckl (Vater von Joseph Pröckl), Franzensbad, 12. April 1860; ebd., Schreiben von Vincenz Pröckl, Franzensbad, 20. April 1860; ebd., fol. 174: Konzept eines Zeugnisses für Joseph Pröckl, ausgestellt August von Eye, Nürnberg, 30. Mai 1860: »Pünktlich, zu allem willig, ernst und still verrichtete derselbe seine Arbeiten, leistete nicht selten unter schwierigen Umständen Vorzügliches«. 310 | Diese Vorwürfe formulierte sein Vater, Vincenz Pröckl, in einem Schreiben an Aufseß (GNM-Akten K 3, Nr. 15, fol. 170f.): »Erst gestern konnte mein Sohn das Bett wieder verlassen; er ist sehr auf das Haupt angegriffen, und macht mir viele Sorge. Eben sein Brustleiden war die einzige Ursache, daß ich denselben nicht länger in der Münchner Akademie belassen konnte; nun hat derselbe abermals 7 Monate ununterbrochen durch Tag und Nächtliche Anstrengung der Augen sitzende Arbeiten im Museum verbracht und sein Brustübel so verschlimmert, daß ihm der hier behandelnde Arzt die Fortsetzung sitzender Arbeit verbiethet und auch das Zeug-
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Nachdem es also 1859/60 zu keiner erfolgreichen Einrichtung eines photographischen Ateliers gekommen war, wurde ein eigenes Atelier im Museum schließlich im Zusammenhang mit den Arbeiten zur Reproduktion von Kaulbachs Fresko eingerichtet. Ab Ende 1862 betrieb Jakob Eberhardt neben seiner Tätigkeit als »künstlerischer Inspector« ein Photoatelier in den Räumlichkeiten des Kartäuserklosters. Bereits 1867 wurde dieses photographische Unternehmen eingestellt. Das Experiment einer institutionell gebundenen Museumsphotographie war damit in Nürnberg vorerst gescheitert. Erst um 1920 richtete das Germanische Nationalmuseum – dann allerdings einem allgemeinen museumspraktischen Trend folgend – wieder ein eigenes Atelier für Museumsphotographie ein.311 Um 1860 markiert die versuchte Institutionalisierung der Museumsphotographie am Germanischen Nationalmuseum einen Einschnitt im Verhältnis zum Medium Photographie: waren unterschiedliche Photographien, die als Geschenke ins Museum kamen, von Beginn an (als MedienObjekte) in die Sammlungssystematik eingeordnet worden, war nun die Möglichkeit gegeben, die Medientechnik Photographie systematisch in die eigenen Arbeitspraktiken einzubinden. Genau dies kam ja dem programmatischen Anspruch des Germanischen Nationalmuseums an eine systematische Erfassung historischer Objekte (Inventarisierungsfunktion) durch jeweils optimale Ersatzobjekte (Reproduktionsfunktion) entgegen. Unabhängiger von den Entscheidungen externer Photographen und Geschenkgeber, war das Museum nun in die Lage versetzt, die photographische Aneignung der Objekte zu kontrollieren und Auswahl, Arrangement und Bearbeitung der Aufnahmen zu bestimmen. Zudem konnte es die Aufnahmen durch den Zugriff auf die Negative vervielfältigen und damit öffentlich wirken (Publikationsfunktion). Aber schon um 1859/60 hatte sich abgezeichnet, daß entweder keine geeigneten Bedingungen oder keine klaren Konzepte zum Gebrauch der Photographie im Museum gegeben waren. Auch zwischen 1862 und 1867 ist die Praxis der Museumsphotographie deutlich hinter dem Potential zurückgeblieben, das der Medientechnik Photographie im Diskurs der 1850er Jahre gerade für die spezifische Zielsetzung des Germanischen Nationalmuseums immer nis darüber auszustellen erbiethet, sofern es nöthig ist. Ich habe mit großen Auslagen die nöthigen Apparate schon im Monath August angeschafft, meinen Sohn während dieser Zeit mit Geld und Kleidung unterstützt und würde gerne noch mehr Opfer gebracht haben, wenn ich bei meiner Anwesenheit dort das Atelier in Thätigkeit getroffen hätte; allein da zum Bau eines Glashauses noch lange kein Anfang vorhanden ist, so habe ich meinen Sohn in Nürnberg in einer photographischen Anstalt gegen jährlichen 500 fl. Gehalt, 10 pz Geschäftsantheil und Ablösung aller Apparate gegen Barzahlung unterbracht, dabei in weniger Tagesarbeitszeit, und nicht mehr nöthig hat, für geringen Nebenverdienst ganze Nächte zu verwenden. Ich muß nun recht sehr um gefällige Entlassung meines Sohnes aus dortiger Anstalt bitten.« 311 | Siehe unten, Kapitel 5.3. Auch in Wien wurde die Museumsphotographie in den 1880er Jahren eingestellt und dann erst im 20. Jahrhundert wieder aufgenommen (Gröning 2001b, S. 143). Ähnliches gilt für das British Museum, das nach der Trennung von Roger Fenton 1858 erst 1927 wieder einen Museumsphotographen einstellte (Hamber 1996, S. 384–388).
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wieder attestiert worden war, nämlich: die besondere Eignung als Medium der Inventarisierung und Reproduktion historischer Objekte. Stattdessen wurde die Photographie in den 1860er Jahren vorrangig über ihre Funktion als Publikationsmedium definiert und dementsprechend bewertet. Vor dem Hintergrund dieser Verschiebung medialer Funktionen konnte die Photographie nicht gewinnbringend im musealen Konzept des Germanischen Nationalmuseums verankert werden. Jakob Eberhardt schied im Streit mit dem neuen Museumsvorstand Essenwein zum 1. Oktober 1867 aus dem Dienst des Museums aus. Seine praktische Arbeit als Photograph hat in der Historiographie des Germanischen Nationalmuseums (abgesehen von der illustrativen Verwendung einiger Portraitphotographien) wenig Spuren hinterlassen; die Episode fällt in den schlecht ausgeleuchteten Winkel einer Museumsgeschichtsschreibung, die sich an den Hauptfiguren Aufseß (1852-1862) und Essenwein (1866-1892) orientiert und die Zwischenzeit als krisenhaften Übergang beschreibt.312
Die spontane Begründung des photographischen Unternehmens Im Dezember 1864 wurde angekündigt, »daß das germanische Museum in Folge eines mit dem Inspektor seiner Ateliers, Maler J. Eberhardt, (der, wie schon früher erwähnt, innerhalb der Mauern unserer Anstalt ein photographisches Atelier errichtete) abgeschlossenen Vertrages bald in der Lage sein wird, nicht nur die hervorragendsten Nummern seiner Sammlungen in guten photographischen Nachbildungen zu billigen Preisen abzugeben, sondern auf etwaige Bestellung auch jeden andern in seinem Besitze befindlichen Gegenstand in photographischer Abbildung zu liefern«.313 Zwischen Juni 1865 und Mai 1866 wurden unter dem Titel »Photographieen aus dem germanischen Museum« vier Hefte mit jeweils 36 Tafeln herausgegeben. In den Sitzungen des Lokalausschusses, der in dieser Phase die praktischen und organisatorischen Fragen der Museumsarbeit koordinierte, war das »photographische Unternehmen«314 von Ende 1864 bis Anfang 1867 ein wichtiges, teilweise das zentrale Thema.315 312 | Spätestens mit dem Jubiläumsrückblick Theodor Hampes (Hampe 1902) wird dieses historiographische Muster festgeschrieben. Leitschuh 1890, S. 27 charakterisiert den 1. Vorstand Michelsen (1862-1864) hingegen als einen gescheiterten Reformer und legt die Erstarrung und Krise des Museums in die Jahre 1861/62. Michelsen war 1863/64 1. Vorstand, wurde jedoch durch den Widerstand einiger Beamter des Museums und durch eine hartnäckige Opposition des Ehrenvorstandes Aufseß zum baldigen Rücktritt gedrängt; ihm folgte als interimistischer Vorstand bis zur Wahl Essenweins der Germanist Frommann (1864-1866). 313 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1864, Sp. 450. 314 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1866, Sp. 131f. 315 | GNM-Archiv, K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 - Febr. 1866«; K 733, Faszikel »Localausschußprotokolle 1867 Januar December«. Protokolle für die Monate März bis Dezember 1866 fehlen.
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Es ist zu prüfen, inwieweit das Projekt der »Photographieen aus dem germanischen Museum« noch an die Ziele und Funktionen anschloß, die sich im ersten Jahrzehnt des Museums mit dem Medium verknüpft hatten. Für eine Auswertung stehen die im Anzeiger veröffentlichten Informationen zu dem photographischen Unternehmen des Museums, die archivierten Protokolle des Lokalausschusses und (erst seit kurzem) auch eine komplette Serie der Aufnahmen Jakob Eberhardts zur Verfügung. Denn diese 144 Bildtafeln waren im 19. Jahrhundert nicht in den Bestand des Museums aufgenommen worden; lediglich einige Einzelstücke waren im unverzeichneten Sammlungskomplex des Bilderrepertoriums auffindbar. Erst 2006 konnte vor dem Hintergrund eines gesteigerten Interesses für Mediengeschichte und Photographie eine vollständige Folge der 144 Tafeln aus dem Kunsthandel erworben werden, die heute in der Bibliothek des Museums einsehbar ist. Zunächst aber stellt sich die Frage, welche photographischen Arbeiten Eberhardt im Zeitraum zwischen der Einrichtung des Ateliers im Museum (Ende 1862) und der Ankündigung jenes photographischen Unternehmens (Ende 1864) ausgeführt hat. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit dürfte die Reproduktion von Kaulbachs Fresko gewesen sein, d. h. das Auskopieren der Negative auf Albuminpapier, deren Montage auf Karton und die dabei notwendigen Retuschierarbeiten. Auf Anfragen von außen hin photographierte er aber offenbar auch einzelne Gegenstände des Museums; entsprechende Abzüge gelangten als Geschenke Eberhardts in die Sammlungen.316 Demnach wird man sich die Stellung Eberhardts eher als die eines selbständigen Photographen im Museum vorstellen dürfen.317 Schließlich betätigte sich Eberhardt in den Jahren 1863 und 1864 auch als Portraitphotograph.318 1863 fertigte er Portraits von Aufseß und Kaulbach; 1864 entstand eine Aufnahme von Hans von und 316 | Einige Einträge im alten Zugangsregister nennen Eberhardt als Geschenkgeber von photographischen Abzügen. 317 | Dies entspricht auch der Stellung der Photographen Ludwig und Victor Angerer am Wiener Museum für Kunst und Industrie (Gröning 2001a, S. 129).. 318 | Vgl. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1863, Sp. 258: Fräulein Allwine Frommann, Künstlerin aus Berlin, hatte dem Museum ein leeres Album geschenkt: »Diesem Album konnten wir keine bessere Bestimmung geben, als, eine Sammlung von Bildnissen derjenigen Männer und Frauen aufzunehmen, die sich um das german. Museum vorzugsweise verdient gemacht haben. Nichts konnte uns daher erwünschter sein als diese Sammlung mit den Bildnissen zweier Männer eröffnen zu können, deren Namen in unserm Museum von Allen stets mit Dank werden genannt werden, dem Bilde des Freiherrn Hans von und zu Aufseß, des Stifters, vormaligen Leiters und nunmehrigen Ehrenvorstandes unserer Anstalt, und dem Bilde Wilhelm von Kaulbach’s, der seinem Patriotismus in unserm Museum durch sein großes, prachtvolles Wandgemälde ein herrliches Denkmal gesetzt hat. In wohlgelungenen Photographieen wurden uns diese Bildnisse von Herrn J. Eberhardt, Inspektor unserer artistischen Ateliers, zum Geschenk gemacht, wobei uns derselbst zugleich weitere deratige Gaben aus seiner artist.-photograph. Anstalt für jenes Album in Aussicht stellte, was wir dankbarst anzuerkennen haben.« Vermutlich handelt es sich dabei um das sogenannte »Fotoalbum des Enno Hektor« (GNM-Bibliothek, Signatur 8° Hs 172 364).
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zu Aufseß in Ritterrüstung – in genau der Phase, in der sich der streitlustige Freiherr ebenso energisch wie erfolgreich gegen die von seinem Nachfolger Michelsen vorgesehenen Änderungen an den Organisationsstrukturen des Museums zur Wehr setzte. Eberhardt stellte auch Reproduktionen graphischer Blätter her. Entsprechende Abzüge nach Radierungen Rembrandts und Handzeichnungen von Dürer sind 1864 im Zugangsregister des Museums verzeichnet worden.319 Doch stand eine systematische Aneignung von Graphiken durch Photographie (wie sie bei den Verhandlungen von Jakob Falke mit Joseph Albert 1855 angedacht waren)320 keineswegs im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Für das Konzept eines Reproduktionsmuseums mit jeweils optimalen Ersatzobjekten fehlte dem Germanischen Nationalmuseum inzwischen ohnedies die dafür notwendige Breite künstlerischer Werkstätten. Der bei Einsetzung von Eberhardt als künstlerischem Inspektor im Jahr 1859 angestrebte Ausbau der Artistischen Anstalt war ausgeblieben.321 Ein gezielter Einsatz der Photographie für die Aufgaben des Museums ist bis zur ersten Ankündigung des geplanten photographischen Unternehmens im Dezember 1864 nicht erkennbar. Dieser Ankündigung waren, wie die Akten zeigen, interne Diskussionen um die Stellung Eberhardts und die Funktion der Photographie vorausgegangen. Anlaß dazu gab eine Auseinandersetzung mit August von Eye, in der sich erneut das Konfliktpotential zwischen den Wissenschaftlern und Künstlern des Museums ausdrückte.322 Offenbar ging es dabei um eine Begrenzung der Kompetenzen des Inspektors in bezug auf den Zugriff auf die Sammlungsgegenstände. Eberhardt hatte anscheinend bereits angekündigt, seine Stellung am Museum aufzugeben, weshalb der Verwaltungsausschuß in der Sitzung vom 4. Oktober 1864 über einen möglichen Ankauf von Photographien und photographischer Einrichtung diskutierte.323 Ganz deutlich wird der Grund des Konfliktes in den Protokollen der Sitzungen von Gesamtverwaltungsausschuß und Lokalausschuß (14. November 1864) jedoch nicht, da zwar jeweilige Eingaben beider Beteiligten erwähnt, diese aber nicht hinreichend wiedergegeben sind. Im Lokalausschuß wird jedoch die Meinung vertreten, »[d] 319 | Altes Zugangsregister des GNM, S. 399 (ZR 1864/4619) u. S. 402 (ZR 1864/4650). 320 | Siehe oben, Kapitel 3.3. 321 | Neben Inspektor Eberhardt war seit 1860 nur noch der Gehilfe August Steinbrüchel (u. a. als Zeichner) tätig. 322 | Vgl. GNM-Akten K 3, Nr. 15, fol. 163 ff.: Schreiben von Georg Eberlein an Aufseß, 13.Januar 1860: »Denn aufrichtig gesagt, sind Ihre spröden Herrn Gelehrten wirklich Conservatoren? Sind es nicht vielmehr die Künstler, an deren Spitze sogar ein Kaulbach Ihnen und dem Museum in der ehrlichsten aufopferndsten Weise diente?! Mit der Weise, wie Künstler im Museum betrachtet werden, kann ich nie einverstanden sein, es macht meinerseits den Unwillen über alle Kunstschreiberei und Archäologische[?] noch größer; besonders wenn noch ein Herr von Eye in schonungsloser Art, aber nicht ungestraft, sich über den niederen Bildungsgrad der Künstler auszusprechen gewagt hat. [...] Mit größerem Recht dürfte sich Herr Eberhard einen Vorstand der Kunst- und Alterthumssammlung nennen lassen, als die Herren von der Feder.« 323 | GNM-Akten K 732, Faszikel »Generalconferenz 1864«, fol. 22.
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er Vorschlag des H. Dr. v. Eye führe für Eberhardt zu einem bodenlosen Verhältnisse. Das Museum müsse suchen, sich einen Mann, der den Namen des Künstlers in der That verdiene und einen deutschen Ruf habe, zu erhalten.«324 Die Diskussion schwenkte nun unvermittelt von diesem Konflikt um die Person Eberhardts zur Frage nach der Bedeutung der Photographie für das Museum (die auf der Tagesordnung nicht vorgesehen war). Dabei kam das anderenorts intensivierte Verhältnis von Museum und Photographie zur Sprache. So wird auf die Vorteile aufmerksam gemacht, »die das Museum durch Einrichtung von photogr. Tauschblättern aus der photogr. Anstalt Eberhardt ziehen könne«325 und es wird gewünscht, »in dieser Hinsicht das germ. Museum hinter anderen Anstalten nicht zurückbleiben zu sehen«326. Es wird eine dreiköpfige Kommission eingesetzt, die dem Lokalausschuß in der Sitzung vom 15. Dezember 1864 den Vorschlag zur Begründung einer photographischen Publikationsreihe unterbreitet.327 Anschließend »wird in Gegenwart des H. Inspectors Eberhard [sic], der hinzu gerufen wird, von einer Anzahl seiner, im Direktorialzimmer ausgelegten Photographieen Einsicht genommen. [...] Dr. v. Eye hatte sich indessen entfernt, da er häuslichen Verhältnissen halber verhindert ist, der Sitzung weiter beizuwohnen«.328 Jakob Eberhardt ging in seiner Stellung als Künstler und Photograph gestärkt aus der Diskussion hervor. Es scheint fast so, als habe der Konflikt den Blick auf das noch unausgeschöpfte Potential des Mediums Photographie gelenkt. In den folgenden monatlich abgehaltenen Sitzungen des Lokalauschusses, an denen Eberhardt nun regelmäßig teilnahm, war das photographische Unternehmen das beherrschende Thema.
Vorbild kunstgewerbliche Museumsphotographie Es zeigt sich, daß für den Einsatz der Photographie das spezifische Nürnberger Konzept eines meta-musealen Museums der Repertorien und Reproduktionen (an dem offiziell noch immer festgehalten wurde) 1865 keine entscheidende Rolle mehr spielte. Einzig Jakob Eberhardt selbst schloß an die frühere Idee einer zentralen photographischen Erfassung anderenorts aufbewahrter Objekte an, indem er ein Verzeichnis der Nürnberger Zünfte vorlegte und vorschlug, »diese zu ersuchen, ihre Innungszeichen etc. im Museum photographiren zu lassen«.329 Die Mitglieder der für das photographische Unter324 | GNM-Akten K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 – Febr. 1866«, fol. 76: Protokoll des Lokalausschusses, 14. November 1864 (Aussage von Johann Dietz). 325 | Ebd., (Aussage von Heinrich Zehler). 326 | Ebd., (Aussage von August Kreling). 327 | GNM-Akten K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 – Febr. 1866«, fol. 80: Protokoll des Lokalausschusses, 15. Dezember 1864. 328 | Ebd. 329 | GNM-Akten K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 – Febr. 1866«, fol. 84: Protokoll vom 16. Januar 1865. In der späteren Folge der 144 Tafeln »Photographieen aus dem germani-
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nehmen eingesetzten Kommission setzten jedoch andere Schwerpunkte. Im März 1865 wurden die Grundzüge der Produktion, des Vertriebs, der Gliederung sowie der Bildauswahl geklärt.330 Der anwesende Nürnberger Fabrikant Johannes Zeltner wollte »nicht nur immer nach dem Schönen, sondern vorzugsweise nach dem Nützlichen gegriffen sehen« und verwies damit auf die Bedeutung von Photographien für die Gewerbeförderung.331 Im Ende März veröffentlichten Prospekt (»Die Herausgabe photographischer Abbildungen kunstgewerblich wichtiger Gegenstände durch das germanische Museum zu Nürnberg«) 332 wurde explizit auf das Vorbild der Kunstgewerbemuseen Bezug genommen: »Kunstmuseen und kunstgewerbliche Ausstellungen konnten früher nur vorzugsweise örtlich wirken; um davon zu profitieren, mußte man sie persönlich besuchen; neuerlich aber bietet die Photographie ein vortreffliches Mittel, dieselben in weiteren Kreisen nutzbringend zu machen. Verschiedene Kunstmuseen, unter andern das Wiener, haben bereits begonnen, ihre Schätze auf diese Weise darzustellen und sie dadurch zu einem wertvollen Gemeingut zu machen. Das germanische Nationalmuseum zu Nürnberg glaubt, sich diesen Bestrebungen energisch anschließen zu müssen.« 333
Der Prospekt nennt vier Ziele des photographischen Unternehmens: Material für historische Studien zu bieten, Ersatzobjekte für Kunstsammlungen zu liefern, Muster für Kunstgewerbe bereitzustellen, belehrende Unterhaltung zu schaffen. Doch in der Gliederung der »Photographieen« in 12 Serien stehen die Erfordernisse des Kunstgewerbes eindeutig im Vordergrund: »Namentlich bieten die Serien 1-9 für Gold- und Silberschmiede, Gürtler, Zinngießer, Rothgießer, Kupferschmiede, Schlosser, Zeug- und Waffenschmiede, Schreiner, Drechsler, Tapezierer, Decorationsmaler, Dessinateure für Fabriken von Webwaaren, Stickereien, Tapeten, Buntpapier, für Töpfer, Porzellan- und Glasfabrikanten, Bildhauer, Holzschnitzer, Architekten
schen Museum« zeigte nur eine Photographie Nürnberger Zunftsymbole (2. Heft, Serie 1, No. 1; später: Nr. 62: Zwei Pokale aus dem Besitz der Goldschmiedeinnung zu Nürnberg). 330 | GNM-Akten K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 – Febr. 1866«, fol. 104f.: Protokoll vom 14. März 1865. Auch Bildkritik wurde geübt. Der Arzt und Naturhistoriker Eduard Baierlacher meinte, »man könne [...] den Maßstab, der auf den Bildern hier und da störend sei, unter den Bildern anbringen. Inspektor Eberhardt bemerkt, dieser Maßstab müsse immer gleich mitphotographirt werden, da jede Aufnahme in einer anderen Größe erfolge.« 331 | Ebd. 332 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1865, Sp. 131-134. Verfaßt wurde der von Vorstand und Lokalausschuß unterzeichnete Text vermutlich von Museumssekretär Julius Richard Erbstein. Vgl. GNM-Archiv K 732, Faszikel »Localausschuß Oct. 1863 - Febr. 1866«, fol. 104 (Protocoll über die Sitzung des Lokalausschusses v. 14. März 1865): »Von H. Dr. Frommann wird dann die vom I. Secretär entworfene Einleitung zum Prospekt des photogr. Unternehmens verlesen.« 333 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1865, Sp. 131f.
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P HOTOGRAPHIE ALS M EDIENTECHNIK u. s. w., und zwar jede Serie abgeschlossen für einen gewerblichen Zweig, höchst schätzenswerthes Material, das der nützlichsten Verwendung fähig ist.« 334
Die drei übrigen Serien sind den historischen Hilfswissenschaften (Serie 10: Münzen, Medaillen, Siegel), der Kunstgeschichte (Serie 11: Handzeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche, Miniaturen etc.) sowie der hier als Sammelund Restkategorie erscheinenden Kulturgeschichte gewidmet (Serie 12: Kulturhistorisches im Allgemeinen und besondere Seltenheiten). Diese Einteilung der Serien entfernt sich deutlich von der kulturhistorischen Systematik des Germanischen Nationalmuseums. Die Auswahl der »Photographieen« nimmt damit eine Hierarchisierung von Sammlungsobjekten nach ihrem künstlerischen und kunstgewerblichen Wert vor. Statt des programmatisch egalitären Anspruchs des Germanischen Nationalmuseums als wissenschaftlichem ›Sammelkasten‹ tritt bei dessen photographischem Unternehmen der Aspekt des nutzbringenden ›Schatzkästleins‹ hervor.
»Photographieen aus dem germanischen Museum« Die 144 Tafeln der »Photographieen aus dem germanischen Museum« ermöglichen eine Analyse der museumsphotographischen Arbeit Jakob Eberhardts. Dabei zeigt sich, daß der frühere Historienmaler noch nicht der routinierte Sachphotograph war, der in seinem Bildaufbau festen Konventionen der Darstellung folgte.335 Es fehlt an einem Grundkonzept, wie es Maren Gröning sowohl für die zeitgleichen Photographien Ludwig Angerers am Museum für Kunst und Industrie in Wien als auch für die Aufnahmen Charles Thurston Thompsons am South Kensington Museum festgestellt hat: die bildfüllende Betonung des Einzelobjekts oder kleiner, erlesener Objektgruppen sowie deren Wiedergabe auf jeweils einer großen Photographie pro Karton.336 334 | Ebd., Sp. 133f. Einteilung des photographischen Unternehmens in 12 Serien: 1.) Kirchengeräthe, Luxus- und Ziergegenstände aller Art in edlen und unedlen Metallen; 2.) Schreinwerk, Möbeln aller Art; 3.) Haus-, Küchen- und Arbeitsgeräthschaften; 4.) Waffen, Schlösser, Beschläge, Gitter etc., Metallguß; 5.) Oefen, Thon-, Fayence-, Porcellan- und Glaswaaren; 6.) Bekleidungsgegenstände, Webereien, Stickereien etc.; 7.) Buchbinder-, Cartonage-, Sattler-, Beutlerarbeiten, Lederwaaren; 8.) Bildhauerarbeiten, Schnitzwerk, Architektonisches; 9.) Ornamentales im Allgemeinen; 10.) Münzen, Medaillen und Siegel; 11.) Handzeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche, Miniaturen etc.; 12.) Kulturhistorisches im Allgemeinen und besondere Seltenheiten. 335 | Dem läßt sich eine Serie von Photographien Eberhardts aus dem Jahr 1872 entgegenstellen. Zu diesem Zeitpunkte lehrte Eberhardt als Professor für Photographie an der Nürnberger Kunstgewerbeschule. Die Aufnahmen sind stärker den Konventionen kunstgewerblicher Objektphotographie verpflichtet, technisch und handwerklich sauberer ausgeführt. (GNM-Bilderrepertorium). 336 | Gröning 2001a, S. 140. Im Vergleich dieser Aufnahmen sieht Gröning die Qualität von Angerers Arbeiten in bezug auf die Gestaltung des Objektumfelds, der Beleuchtung und der Wahl
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Abb. 21: Jakob Eberhardt, Venezianisches Glas, 16. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Die Aufnahmen Jakob Eberhardts sind weniger einheitlich gestaltet. Das betrifft etwa auch die Frage nach der Anordnung der Abzüge auf dem Karton. Bei den Nürnberger Photographien waren nämlich häufig mehrere kleinere (oder auch unterschiedlich große) Albuminabzüge auf einen Karton montiert. Teilweise wurden damit unterschiedliche Perspektiven eines einzigen Objektes wiedergegeben, teilweise aber auch Ansichten verschiedener Objekte miteinander kombiniert. Legt man das genannte Grundkonzept als Maßstab an, dann entsprach nur etwa die Hälfte der 144 Tafeln Eberhardts diesem Modell, das bis heute die Praxis der publizistischen Museumsphotographie bestimmt. Auffällig ist aber die Entwicklung, die sich zwischen der ersten und der letzten Lieferung der Tafeln abzeichnet: der Anteil der Tafeln, die dem am Kunstgewerbemuseum üblichen Bildaufbau entsprachen, nahm deutlich zu. Im ersten Heft (Juni 1865) waren es nur 9 von 36 Tafeln, im zweiten bereits 14 von 36 (August 1865), dann 27 von 36 (Dezember 1865) und mit der letzten des Ausschnitts als gleichmäßiger an. Sie liest diese Unterschiede als Differenz zwischen den Freilichtaufnahmen Thompsons, die teilweise experimentell auf inszenatorische Effekte zielten, und der bereits nüchterner wirkenden professionellen Ateliertechnik Ludwig Angerers.
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Abb. 22: Jakob Eberhardt, Reliquienbehälter in Form eines Bisamapfels mit Nielloarbeiten, 15. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Auslieferung schon 32 von 36 Tafeln (Mai 1866). Man kann daran eine Annäherung an die ästhetische Bildpraxis kunstgewerblicher Photographie ablesen, mit denen das Germanische Nationalmuseum durch die eigene Publikationsreihe in Austauschbeziehungen getreten war.337 Andererseits wird darin auch der experimentelle Charakter der Objektphotographien Jakob Eberhardts deutlich. Er zeigt sich am jeweiligen Arrangement der Objekte vor der Kamera, an den Perspektiven und der Beleuchtung der Objekte. Eine einheitliche Linie ist hier nicht zu erkennen. Die Photographien scheinen teils auf malerische Wirkung aus, teils auf eine möglichst klare Wiedergabe der Details konzentriert. Beide Ansätze gelingen in einigen Fällen überzeugend (Abb. 21 u. Abb. 22), lassen in anderen Fällen aber erkennen, daß sich Eberhardt in bezug auf die photographische Technik und die souveräne Gestaltung des Bildraums – vermutlich aber auch in der Qualität der Atelierausstattung – nicht mit den erfahrenen Berufsphotographen Angerer und Thompson messen konnte.338 Mehrere Aufnahmen sind zu wenig detailscharf, einige wirken durch einen verwaschenen Hintergrund und deutlich sichtbare Retuschen unsauber gearbeitet (Abb. 23). Die Aufnahmen entstanden teilweise unter freiem Himmel (erkennbar am klaren Schattenwurf), 337 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1865, Sp. 401f. nennt einen Austausch mit dem Museum für Kunst und Industrie in Wien und dem Steiermärkischen Verein zur Förderung der Kunstindustrie zu Graz. 338 | Vgl. auch die Bemerkung des Verwaltungsratsmitglieds Maßmann vom Oktober 1864, der »wegen des tiefen Tons der ihm vorgelegenen Eberhardtischen Photographieen, die Zweckmäßigkeit der Einrichtung« bezweifelte. GNM-Archiv K 732, Faszikel »Generalconferenz 1864«, fol. 23: Protokoll der Sitzung vom 4. Oktober 1864.
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Abb. 23: Jakob Eberhardt, Medaillen Karls V und Ferdinands I., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg teilweise in den Schauräumen der Kartause (erkennbar am Objektumfeld), teilweise in einem Atelierraum. In diesem Raum gab es einen vermutlich auf Leinwand gemalten Hintergrund, wie er in den Portraitstudios der Berufsphotographen seit den 1860er Jahren gerne eingesetzt wurde. Zumindest ein Arrangement Eberhardts erinnert eher an ein Stilleben oder eine Theaterkulisse als an die nüchtern-museale Sachaufnahme, die etwa die Bezeichnung nahelegt: »Geschnitzter Eichentisch vom 15. Jhdt.« (Abb. 24). Diese Art der photographischen Kontextualisierung verfehlt ihre Wirkung jedoch bei der Wiedergabe von zwei Fackelhaltern, weil dort das unruhige Umfeld die Wahrnehmung stark von den musealen Objekten ablenkt (Abb. 25). Ein klares und eindeutiges Konzept ist nur innerhalb der elften Serie der »Photographieen« zu erkennen (»Handzeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche, Miniaturen etc.«). Hier, bei der photographischen Reproduktion zweidimensionaler Vorlagen, gab Eberhardt stets ein einzelnes Kunstwerk wieder – und zwar als bildfüllenden Ausschnitt ohne sichtbaren Hintergrund. Bei der Wiedergabe dreidimensionaler Objekte suchte Eberhardt hingegen noch nach den jeweils am besten geeigneten Perspektiven. Zur Darstellung eines mittelalterlichen Kästchens kombinierte er für das erste Heft der »Photographieen« zwei kleinere Aufnahmen (Aufsicht und Vorderansicht) auf einer Tafel (Abb. 26); für das vierte Heft kam er – bei der Aufnahme eines anderen Kästchens – mit einer einzigen Halbseitenansicht aus (Abb. 27).
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Abb. 24: Jakob Eberhardt, Eichentisch, 15. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Abb. 25: Jakob Eberhardt, Zwei Fackelträger, 16. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Abb. 26: Jakob Eberhardt, Kästchen mit vergoldeten Bleireliefs, 13. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Abb. 27: Jakob Eberhardt, Geschnitztes Kästchen, 16. Jh., Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Die Photographie als Rechnungsposten und Kostenfaktor Im März 1866 trat August Essenwein sein Amt als Vorstand des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg an. Essenwein war als Baurat und Professor der technischen Hochschule in Graz und über die K. K. Zentral-Kommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale Österreichs mit dem Kreis des Wiener Kunstgewerbemuseums (um Rudolf Eitelberger und Jakob Falke) in Kontakt gekommen. Der Idee des Kunstgewerbemuseums stand er nahe; auch die Rolle der Photographie als Vermittler schätzte er hoch ein.339 In einem seiner ersten Beiträge im Anzeiger lieferte er unter dem Titel »Der Nutzen des germanischen Museums für die kunstindustrielle Thätigkeit unserer Zeit« ein klares Bekenntnis zur Verbindung der wissenschaftlichen Museumsarbeit mit dem praktischen Nutzen der Gewerbeförderung.340 Mit Erscheinen des vierten Heftes der »Photographieen« Ende Mai 1866 und Vervollständigung der ersten Jahresausgabe wurde eine neue Zusammenstellung der Tafeln, »nach den Materien geordnet«, angekündigt. Das im Juni veröffentlichte Verzeichnis führte nur noch 130 der ursprünglich 144 Tafeln auf und stellte diese in eine andere Ordnung.341 Diese ging nicht mehr von Gewerbezweigen, sondern von einer Gliederung nach Objektgruppen aus (z. B. Architektur, Kirchliche Geräthe, Hausmobiliar etc.), die Essenwein später zur Grundlage seiner Umgestaltung der Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums machte. Das neue Verzeichnis war aber wohl vor allem ökonomisch motiviert. Die vier Hefte waren als Lieferung á 36 Tafeln für nur jeweils einen Taler verkauft worden; mit dem neuen Verzeichnis wurde der Preis der Einzelblätter auf 1/3 Taler pro Blatt angehoben. Für die Bewertung des photographischen Unternehmens wurden nun finanzielle Fragen entscheidend. Angesichts eines dramatischen Schuldenstands des Germanischen Nationalmuseums sah August Essenwein eine Konsolidierung der Finanzen als seine erste Aufgabe an.342 Bereits im August 1866 sprach er einigen wissenschaftlichen Beamten die Kündigung aus und stellte auch die Fortführung des photographischen Unternehmens zur Disposition. Essenwein bezifferte den bisherigen Ertrag des photographischen Unternehmens in Form einer Gewinn- und Verlustrechnung und kam dabei zu dem Schluß, daß dieses dem Museum mehr geschadet als genutzt habe. Nachdem Eberhardt eine Gegenrechnung aufgestellt hatte, die einen Gewinn 339 | Essenwein hatte den Steiermärkischen Verein zur Förderung der Kunstindustrie in Graz gegründet; auch dort wurden Serien kunstgewerblicher Photographien publiziert. Vgl. zur Wertschätzung der Photographie auch: Essenwein 1867, Sp. 190. Ausführlich zum Einsatz des Mediums unter August Essenwein: siehe unten, Kapitel 4.4 u. 4.5. 340 | Essenwein 1866. 341 | Unter den 14 fehlenden Tafeln finden sich auch die beiden Aufnahmen des Eichentischs und der Fackelträger. Nur 4 der 14 ausgemusterten Tafeln entsprechen dem genannten Grundmodell der kunstgewerblichen Museumsphotographie. Daraus läßt sich folgern, daß eine Ausscheidung der in dieser Hinsicht nicht überzeugenden Aufnahmen vorgenommen wurde. 342 | Zur Reorganisation des Museums unter August Essenwein: siehe unten, Kapitel 4.2.
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aufwies, ließ der Lokalausschuß die Rechnungen durch die photographische Kommission prüfen. Aus den dabei angelegten Aufstellungen geht hervor, wie weit das Unternehmen hinter den anfänglichen Erwartungen zurückgeblieben war. Hatte man im März 1865 noch mit 30.000 Blättern gerechnet, waren schließlich nur 4462 Photographien hergestellt worden, von denen ein Drittel noch als Lagerbestand vorhanden war. Die Kommission klärte die strittigen Fragen und bestätigte in allen Punkten die Rechnungsführung Essenweins. Dabei ging es unter anderem um den zu veranschlagenden Wert der angefertigten Negative, der nach dem reinen Materialwert des Trägermaterials (Glas) berechnet wurde, weil von vielen »voraussichtlich nie mehr Kopien gemacht werden, von anderen wenige, überhaupt von allen wohl in der nächsten Zeit keine, da noch Abdrücke vorhanden sind«.343 Die Wertschätzung des photographischen Bildes im Germanischen Nationalmuseum war damit allein auf den ökonomischen Aspekt reduziert worden, und der Mehrwert der Photographie als eigener Medientechnik des Museums war – symbolisch ausgedrückt durch die Gleichsetzung der Negative mit dem Materialwert des Glases – unsichtbar geworden. Der Kommissionsbericht schloß mit den Worten: »Wir sprechen nur unser lebhaftes Bedauern aus, daß das Unternehmen nicht den gehofften großen Absatz gefunden u. dadurch dem Museum keinen pekuniären Gewinn gebracht hat.«344
343 | GNM-Archiv K 733, Faszikel »Localausschußprotokolle 1867 Januar December«: Protokoll vom 16. Februar 1867. 344 | Ebd.
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Photographien im Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums
In den Magazinkellern des Germanischen Nationalmuseums liegen umfangreiche Bestände historischer Photographien: Aufnahmen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in der Öffentlichkeit völlig unbekannt sind und innerhalb des Museums kaum beachtet werden. Sie zeigen Bauwerke, Denkmäler, kunst- und kulturgeschichtliche Sammlungsstücke aus öffentlichen und privaten Sammlungen – zumeist in nüchternen Arrangements, die sich um den Charakter des Dokumentarischen bemühen. Als Teil des sogenannten Bilderrepertoriums bildeten diese Aufnahmen – gemeinsam mit entsprechenden Zeichnungen und Druckgraphiken – Ende des 19. Jahrhunderts einen Sammlungskomplex, der die Idee eines »imaginären Museums« (André Malraux) zuspitzte: als realisiertes Museum der Abbilder innerhalb eines Museums der Dinge. Das ambitionierte Projekt, das um 1870 als eine der wichtigsten Aufgaben des kulturhistorischen Museums galt, scheiterte an der Wende zum 20. Jahrhundert; das Bilderrepertorium wurde nicht weiter kultiviert, später sporadisch durchstöbert und als Steinbruch anderer Sammlungsabteilungen ausgebeutet. Im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums überdauert es als eine Ruine der Museumsgeschichte
4.1 S AMMLUNGSARCHÄOLOGIE – A NNÄHERUNG AN EINE R UINE DER M USEUMSGESCHICHTE Der Kulturwissenschaftler Knut Ebeling sieht die »Aktualität des Archäologischen« in den Diskursen um Wissenschaften und ihre medialen Bedingungen unter anderem in einer Aporie begründet: »Weil die Archäologie die Vergangenheit im Moment ihres Auffindens zerstört, konstruiert sie diese als mediale Repräsentation neu.«1 Die Teilhabe von Medien und Archiven an der Wis1 | Ebeling 2004, S. 22. In der kulturwissenschaftlichen Debatte hat sich das Archäologische zum Sammelbecken für alternative Arten der Geschichtsschreibung entwickelt. Mindestens
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sensproduktion tritt deshalb in der ›Grabungswissenschaft‹ offensichtlicher zutage als in anderen Disziplinen. Der archäologische ›Befund‹ – das heißt: die bei der Ausgrabung beobachteten Lagebeziehungen von Erdschichten und Funden (Fundkontext) – ist nach Abschluß einer Grabung durch die Abtragung der Erdschichten und die Entnahme der Funde nicht mehr unmittelbar überprüfbar. Er muß vom Archäologen nachträglich im Rückgriff auf die Grabungsdokumentation am Schreibtisch (re)konstruiert werden. Im Zusammenspiel der geborgenen Funde mit den Geländekarten, Zeichnungen, Photographien, Nummern, Etiketten und schriftlichen Aufzeichnungen wird durch Anwendung fachspezifischer Praktiken und Begriffe ein archäologisches Forschungsobjekt geschaffen, auf das sich wissenschaftliche Diskurse fortan beziehen können. Dieses Prinzip der Wissensproduktion gilt (in abgewandelter Form) aber auch für andere Fachdisziplinen, die ihre Forschungsobjekte unter bestimmten materiellen und medialen Möglichkeitsbedingungen durch spezifische Praktiken und Diskurse konstituieren.2 Dem ›Archäologischen‹ kommt deshalb in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen um die Medialität und Materialität wissenschaftlicher Praktiken eine besondere Bedeutung zu. Dies schließt – wie Ebeling konstatiert – die Möglichkeit eines archäologischen Blicks auf die eigene Disziplin, die Archäologie, ein: »[I]n den verstaubten Kammern der archäologischen Institute dieser Erde schlummert ein mediales Wissen, das als solches erst noch ausgegraben werden will.«3 Dabei ist an die eingelagerten Medien der Grabungsdokumentation gedacht, an die zerschlissenen Grabungstagebücher, die längst überholten Geländekarten und die alten Photoplatten, die in diesen Archiven als ›Geburtshelfer‹ wissenschaftlicher Objekte und Diskurse zurückgeblieben sind. Durch eine Blickverschiebung könne »der Nebenschauplatz der Gerümpelkammer aus Gerät-
drei kanonische Klassiker haben dabei mitgewirkt: Freud, Benjamin und Foucault. Wenn Freud und Benjamin das Archäologische als Metapher gebrauchen, dann schreiben sie die Archäologie als »Spatenwissenschaft« an, was der populären Wahrnehmung (dem Klischee?) des Fachs entspricht. Bei Foucault ist die Archäologie mehr als eine Metapher, sie ist Methode – und zwar Methode eines Umgangs mit Texten bzw. den sie bedingenden Diskursformationen (Foucault 1973). Insofern entfernt sich Foucaults Archäologie von der Praxis der Archäologen, die es noch immer in der Regel mit schriftlosen Hinterlassenschaften zu tun haben. Mit Foucault setzt die enge Verknüpfung des Archäologischen (nicht: der Archäologie) mit dem Archiv ein. Zuletzt ist die Tendenz zu beobachten, die Metaphern der Archäologie und des Archivs zurückzubinden an die konkreten Praktiken des Archäologen, bzw. des Historiker im Archivs (Dazu: Ebeling/Altekamp 2004, darin v. a. der Beitrag Altekamp 2004; für das Archiv: Müller 2007.) 2 | Die Praktiken der archäologischen ›Feldforschung‹ stehen dabei den naturwissenschaftlichen Praktiken nahe, anhand derer Bruno Latur die »epistemologische Frage der Referenz in den Wissenschaften« untersucht (Latour 2000, S. 38). Zu diesem ›practical turn‹ in der Wissenschaftsgeschichte: Rheinberger 2008; S. 119ff. 3 | Ebeling 2004, S. 23.
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schaften zum Hauptschauplatz einer beispiellosen Geschichte der Entbergung der Vergangenheit avancieren.«4 Überträgt man diesen Aufruf auf eine Archäologie des Museums, so rücken dadurch die Praktiken, Medien und Materialien in den Blick, die eine Aneignung, Aufbewahrung, Erforschung und Präsentation musealer Objekte ermöglichen. Eine Archäologie des Museums müßte sich etwa den Räumen, Vitrinen, Etiketten und Objekthalterungen, den Signaturen, Karteien und Inventarbüchern, auch den Museumsphotographien und vielen weiteren bisher allenfalls marginal behandelten Aspekten der Museumsgeschichte zuwenden und diese auf ihre Funktion bei der Konstituierung musealer Objekte hin befragen.5 Dabei geht es nicht zuletzt um einen Prozeß der Bedeutungskonstruktion, der den kulturellen Wert von Dingen her(aus)stellt, indem diese gesammelt und ausgestellt werden. Aus einer archäologischen Perspektive gewinnen aber auch die Depots und Magazinräume der Museen an wissenschaftlicher Relevanz. An diesem ›anderen Teil der Sammlung‹, der nicht ausgestellt ist und von der Historiographie des Museums noch kaum erschlossen ist, zeigt sich, daß die Museen durch die enorme Masse von Objekten, die sie sich angeeignet haben, inzwischen auch »zu neuen Schauplätzen kultureller Marginalisierung« geworden sind.6 Denn das, was der Archäologe Stefan Altekamp für die Sammlungen archäologischer Objekte festgestellt hat, gilt in analoger Weise auch für die kulturhistorischen Museen: »Mit der Masse aufgegrabener archäologischer Stratifikationen haben die Mechanismen der Verwahrung, Ordnung und Repräsentation des Verwahrten nicht Schritt gehalten.«7 An der Wende zum 20. Jahrhundert wurde das Depot im Zuge der Museumsreformbewegung zum Auffangbecken solcher marginalisierter Objekte, die aus den Schauräumen entfernt wurden, damit die Qualität der verbleibenden Exponate besser zur Geltung kommen konnte.8 Zu diesen verborgenen Beständen zählen vielfach die Sammlungen von Reproduktionen und Abbildungen – die nunmehr ungeliebten Relikte der Museumskonzepte des 19. Jahrhunderts.
4 | Ebd. 5 | Diese Aspekte der Medialität des Museums sind bislang vor allem im Museum selbst reflektiert worden, durch künstlerische Auseinandersetzungen, z. B. durch die Inszenierung von Museumsetiketten in Fred Wilsons »The Label Show« (Boston, Museum of Fine Arts, 1994). Auf ein anderes Beispiel, Vid Ingelevics’ Wanderausstellung »Camera Obscured« (u. a. Hannover, Sprengel-Museum, 2004) komme ich noch zurück (Kapitel ). Zur Bedeutung von Sockel, Vitrine und Label als Medien musealer Sinnstiftung: Putnam 2001, S. 36f. 6 | Altekamp 2004, S. 230. 7 | Ebd. 8 | Siehe dazu ausführlicher unten, Kapitel 5.1.
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Ruine In einer »Re-Imagination« europäischer Museen hat der amerikanische Kulturhistoriker William M. Johnston ein Denkbild des Museums als Ruine entwickelt: »Die Museen des 19. Jahrhunderts waren bestrebt gewesen, dem Vergänglichen einen Hauch von Zeitlosigkeit zu verleihen. [...] Die unerfreuliche Überraschung, die diese Sorte von Museen erwartet, ist, daß auch sie über kurz oder lang dem Verfall geweiht sind. Auch ihre Zeit ist begrenzt. [...] Wir wissen nicht, wann und wie dies geschehen wird, aber die Vorstellung eines einst großen Museums, das mit seinen Ausstellungen, Inventaren und Vitrinen dem äußeren und inneren Verfall anheimfällt, und von Gras überwachsen wird, ist nicht bloß ein Hirngespinst.« 9
Die Vorstellung eines Museums als Ruine ist im kulturellen Bildgedächtnis mit den Gemälden des französischen Künstlers und Kurators Hubert Robert verknüpft.10 Schon in der Geburtsstunde des modernen Museums stellte Robert diesem die Vision seines zukünftigen Verfallenseins an die Seite (Abb. 28 u. Abb. 29). Im Zusammenhang mit den Planungen um die Eröffnung des Pariser Louvre als öffentlichem Museum präsentierte Robert 1796 im Pariser Salon zwei Gemälde: einen Entwurf zur zukünftigen Neugestaltung der Grande Galerie (»Projet d’aménagement de la Grande Galerie du Louvre«) und eine Vision von dessen in noch fernerer Zukunft liegender Ruinengestalt (»Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines«).11 In einem verwirrenden Zusammenfall von Zeitebenen zeigte Robert mit diesen Pendantgemälden das zeitgenössische Museumsprojekt der öffentlich ausgestellten Sammlung, Ordnung und Erhaltung historischer Zeugnisse im Moment der zukünftigen Wiederentdeckung dieses Ortes als Relikt und Ruine.12 In diesen Ruinenbildern wird die museale Dialektik von Konservierung und Verfall, Ordnung und Auflösung auf das Museum selbst zurückgespie9 | Johnston 1988, S. 260f. 10 | Auch Johnston beruft sich darauf, indem er zu bedenken gibt: »Wie sähen Hubert Roberts klassische Abbildungen der Ruinen des Altertums aus, wenn man sie in einer so trostlosen Umgebung zu betrachten hätte, wie sie auf den Bildern dargestellt ist?« (Ebd., S. 261). 11 | Dazu ausführlich: Weicherding 2001, S. 151–159. Robert gehörte einer 1795 eingesetzten Kommission an, die sich mit grundlegenden Fragen der musealen Konzeption befassen sollte, die bei der Eröffnung der königlichen Kunstsammlungen als öffentlichem Museum im Jahr 1793 zunächst ungeklärt geblieben waren. 12 | Ebd., S. 152: »Die visionären Ruinen im Werk Roberts sind nichts anderes als eine Invertierung der archäologischen Blickrichtung: Statt in der Gegenwart retrospektiv die Vergangenheit zu erschließen, eröffnet sich die Gegenwart gleichsam als zukünftige Vergangenheit.« – Die überdauernden Elemente, die die beiden Pendantgemälde Roberts verbinden, sind das (historische) Kunstwerk und der (sich jeweils in der Gegenwart damit auseinandersetzende) Künstler. Unbehelligt von Ordnung oder Unordnung stehen Künstler jeweils im Dialog mit dem Kunstwerk und den damit verkörperten überzeitlichen Idealen der Kunst.
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Abb. 28: Hubert Robert, Projet d ’aménagement de la Grande Galerie du Louvre, 1796 Musée du louvre, Paris
Abb. 29: Hubert Robert, Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines, 1796 Musée du louvre, Paris
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gelt: Ruinen der Museumsgeschichte zeugen nicht nur von Vergangenheit und Vergänglichkeit, sondern auch von der Vergänglichkeit aller Versuche, Ruinen und Relikte der Vergangenheit als Zeugnisse von Geschichte einer stabilen Ordnung zu unterwerfen. Nach Walter Benjamin zeigt sich in der Ruine »die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls«.13 Auch museale Ordnungen, die doch anscheinend den Anspruch erheben, der Auflösung historischer Ordnungen etwas entgegenzusetzen, können der Tendenz zur Auflösung ihrer eigenen Ordnung immer nur zeitweilig widerstehen, bevor sie ihrerseits ein Fall für Historiker und Archäologen werden. Wenn ein Archäologe auf eine Ansammlung von Gegenständen stößt, die zu einem vergangenen Zeitpunkt mit der Intention versenkt oder vergraben worden sind, sie zeitweise oder dauerhaft dem menschlichen Zugriff zu entziehen, spricht er von einem Depotfund.14 Museen machen hingegen immer wieder Erfahrungen mit Depotfunden anderer Art: in ihren eigenen (meist unterirdisch gelegenen) Depoträumen stoßen Mitarbeiter auf unverzeichnetes Material, das seit Jahrzehnten weitgehend unbeachtet im Museum lagert und damit noch einmal entdeckt werden kann.15 Diese sammlungsarchäologischen Funde werden, wenn sie ins aktuelle Blickfeld der Museen treten, informell bisweilen als ›UFO‹, ›Mystery Objects‹ oder ›Irrläufer‹ charakterisiert, offiziell gerne als »Alter Bestand« oder »Inventarisierungsrückstand« angeschrieben.16 Gilt das Museum als ein Ort der Erinnerung, zeigt es sich hier auch als ein Schauplatz des Vergessens.17 Nicht alles, was in einem Museum materiell verwahrt ist, ist damit als Erinnerungsobjekt dauerhaft vor dem Vergessen geschützt – das, was in den Depots abgelegt, jedoch nicht ordnungsgemäß durch Register, Inventare und Kataloge erschlossen ist, bleibt unsichtbar und bis auf weiteres vergessen. Es verharrt in einem Zustand der Latenz, in dem es gleichzeitig für die Gegenwart verborgen und für die Zukunft verfügbar bleibt.18 13 | Benjamin 1972, S. 197. 14 | Synonym: »Hortfund«. Unter diesem Eintrag in: Bray/Trump 1979, S. 182f. 15 | Eines (von vielen möglichen) Beispielen: Ende Oktober 2006 druckten viele Zeitungen eine dpa-Meldung über einen außergewöhnlichen Fund im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen am Bodensee. Es handelte sich um eine kleine Schmuckscheibe aus dem 7. Jahrhundert, die eine Christusabbildung zeigt und von der sich die Wissenschaftler Aufschluß über die frühe Christianisierung der Alemannen erhoffen. Die Scheibe wurde bei Grabungen auf dem AlemannenFriedhof in den 1920er Jahren geborgen und lagerte seitdem unentdeckt (mit rund 300.000 weiteren noch nicht aufgearbeiteten Einzelstücken) im Magazin des Museums. 16 | Als museumspraktisches Problem werden Inventarisierungsrückstände unter dem Begriff der »backlogs« in der angloamerikanischen Museumsdiskussion intensiver diskutiert als in Deutschland. Das Internet bietet anscheinend ein geeigentes Forum für die Darstellung solcher Miszellen (z. B. Jürgensen 2009). 17 | Vgl. Fehr 1990. 18 | Museale Rückstände korrespondieren mit der »paradoxen Logik« der Rests: »Der Umgang mit dem Rest genügt einer paradoxen Logik, indem man ihn entfernt, um ihn damit zur Verfü-
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Das Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums ist ein solcher Bestand. Seine materielle Präsenz im Depot der Graphischen Sammlung bleibt dem Besucher verborgen. Weil es sich bei der Graphischen Sammlung um eine Studiensammlung handelt, deren Magazine nur Mitarbeitern zugänglich sind (und also nicht durchstöbert werden können), muß der Benutzer die zur Vorlage gewünschten Blätter auf einem Bestellschein exakt adressieren können; die ›Magaziner‹ befördern dann das anhand der Inventar- und Kapselnummer auffindbare Objekt aus den Magazinräumen in den Studiensaal, der die Schnittstelle zwischen Sammlung und Besucher bildet. Die Karteikästen, Kataloge, Mikrofiche-Lesegeräte und Computer des Studiensaals, die eine Adressierung einzelner Blätter oder Konvolute erst ermöglichen, enthalten aber keine Verweise auf das Bilderrepertorium; es gibt weder Sachkatalog noch Inventarverzeichnis. Als Bestand, der im Katalogsaal nicht repräsentiert ist, bleibt das im Depot verwahrte Bilderrepertorium deshalb von der Benutzer-Oberfläche der Graphischen Sammlung abgeschnitten – ein der Benutzbarkeit weitgehend entzogenes Lagergut, das musealen Stauraum füllt. Tritt man durch die Sicherheitsschleuse in die kunstlichterleuchtete Klimakammer des sogenannten zweiten (auch: unteren) Depots, scheinen die gleichmäßig aufgestellten Aufbewahrungsschränke und Regale zunächst den geordneten Eindruck zu bestätigen, den die Graphische Sammlung an der Schnittstelle zum Besucher erweckt. Auch der Bereich, in dem sich die mehr als 200 Archivkassetten (im internen Sprachgebrauch ›Kapseln‹) des Bilderrepertoriums über zwei Regalwände verteilen, gibt sich zunächst komprimiert und überschaubar. Sobald man jedoch näher herantritt und einzelne Kapseln öffnet, erweist sich das Bilderrepertorium als unübersichtliches Konglomerat von Photographien, Handzeichnungen, Aquarellen, Holzschnitten, Kupferstichen, Zeitungs-, Magazin- und Katalogausschnitten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert (Abb. 30). Die Aufbewahrungskapseln stammen offenkundig aus unterschiedlichen Phasen der Museumsgeschichte. In Größe, Bauart und Gestaltung variieren sie mitunter erheblich. Die Kapseln sind stark verstaubt, viele sind fleckig, manche beschädigt. Auf der Unterseite und dem Kapselrücken finden sich zwar Numerierungen und Beschriftungen (oft über- und gung zu halten.« (Krajewski 2006, S. 285). Diese Ambivalenz des Aufbewahrens erkennt auch George Kubler: »Mit dem Grabkult wurden offensichtlich kontradiktorische Ziele erreicht: alte Dinge konnten abgelegt und gleichzeitig bewahrt werden. So ähnlich ist es auch heute in den Lagerhäusern, den Museumsdepots und Lagerräumen der Antiquitätenhändler. Dort warten riesige Anhäufungen alter Sachen darauf, eine Wiederverwendung zu finden und ans Tageslicht zurückzukehren. Das ist jedoch abhängig von ihrer zunehmenden Seltenheit und den weiteren Veränderungen des Geschmacks.« (Kubler 1982, S. 131). – Ähnlich der Begriff »Verwahrensvergessen«, den Aleida Assmann von F. G. Jünger übernimmt: »Dabei handelt es sich um Spuren, Reste, Relikte, Sedimente einer vergangenen Zeit, die zwar noch da sind, aber (vorübergehend) bedeutungslos, unsichtbar geworden sind. Was im derzeit physisch oder geistig unzugänglichen Latenz-Zustand existiert, kann von einer späteren Epoche wiederentdeckt, gedeutet, imaginativ wiederbelebt werden.« (Assmann 1999, S. 409).
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Abb. 30: Blick in eine Kapsel des Bilderrepertoriums Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg nebeneinander) – diese stehen aber mit der aktuellen Ordnung in keinem erkennbaren Zusammenhang. Teils verweisen sie auf frühere und inzwischen aufgegebene Ordnungen, teils auf die Wiederverwendung von Kapseln, die offenbar in anderen Bestandsgruppen aussortiert und dort durch neuere ersetzt worden sind.19 Zumindest läßt die gegenwärtige Aufstellung eine grobe Gliederung in die Bereiche Architektur, Skulptur, Malerei, Graphik und Kunstgewerbe erkennen, ohne dabei die feineren Differenzierungen vorzunehmen, die offenbar früher einmal vorgesehen waren und sich in einigen älteren Ordnungsbegriffen insbesondere für den Bereich der kunstgewerblichen Objekte andeuten. Die Kapseln der Abteilungen Architektur und Skulptur bilden eine Ausnahme. Sie sind mit computerbedruckten Etiketten versehen und nach kunsthistorischen Epochen in eine neue Nummernfolge gebracht worden. Auch im Inneren wirken diese Kapseln im Vergleich mit den übrigen nicht nur wesentlich aufgeräumter, sondern geradezu ausgeräumt – insbesondere im Bereich der Architektur finden sich bemerkenswert wenige Photographien.
19 | Beispielsweise befindet sich auf dem Rücken der Kapsel, die an der Unterseite mit »Bilderrepertorium/Astronomie, Brillen, Apotheken, Medizin, Uhren« beschriftet ist und dort gleichzeitig die Nummern 1862 (aufmontierter Papierstreifen), 60 (roter Kugelschreiber) und 124 (blauer Buntstift) trägt, eine offenbar ältere Zuordnung zur Sammlung der Portraits (Tinte auf vergilbtem Papierstreifen): »Portraits./Luitemann, Dan. – Mynsinger S. J.«
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Zeitkapseln Im Sammlungskomplex des Bilderrepertoriums überlagern sich museumshistorische Zeitschichten. Offenbar hat es wiederholt Bemühungen um eine Revision und Reorganisation des Bilderrepertoriums gegeben, die Spuren innerhalb der Ordnungsstruktur hinterlassen haben. Ohne den Rückhalt einer schriftlichen Katalogisierung bleibt die Ordnung des Bilderrepertoriums demnach fragil und variabel, unbestimmt und disponibel. Die ruinöse Tendenz zur Auflösung musealer Ordnungen tritt deshalb im Bilderrepertorium besonders augenscheinlich zutage. Das betrifft auch die Struktur der Objekte selbst, die in den Kapseln lagern. In älterer Zeit waren die Abbildungen anscheinend sorgfältig auf normierte Untersatzkartons montiert worden, die den Kapselgrößen angepaßt waren und damit die Anordnung innerhalb der Kapseln erleichterten. Heute irren bisweilen angerissene und verknickte Zeitungsausschnitte durch die Kapseln, finden sich lose Graphiken in unterschiedlichsten Größen und vereinzelt leere Untersatzbögen aus festem Karton, deren Klebespuren auf ein abwesendes Objekt verweisen, das sich von seiner schriftlichen Zuordnung freigemacht hat. Immer wieder stößt man auf Photographien unterschiedlicher historischer Machart (Salzpapiere, Albuminabzüge, Silbergelatinepositive); je älter, desto sorgfältiger montiert und aufkaschiert, je jünger, desto sorgloser in die Kapsel geworfen, wodurch sich die Photopapiere teilweise zu Konglomeraten verklebt haben. Durch die Überlagerung der Zeitschichten erinnern die Kapseln auch nur auf den ersten Blick an das Konzept von Zeitkapseln (Time Capsules), wie es etwa durch die künstlerische Umsetzung Andy Warhols bekannt geworden ist.20 Zeitkapseln zielen darauf, im Moment der Öffnung die zeitliche Distanz zum Zeitpunkt des Verschlusses blitzartig zu überbrücken. Sie gleichen in diesem Effekt archäologischen Depotfunden. Abgekapselt vom weiteren Zugriff wird ihnen bis zum Zeitpunkt ihrer Öffnung nichts mehr hinzugefügt und nichts entnommen. Die Kapseln des Bilderrepertoriums jedoch perpetuieren keinen klar umgrenzten Zeitschnitt – weder den der Anlage dieser Sammlung noch den Moment, in dem die Sammlung aufgegeben wurde. Das Bilderrepertorium war niemals vollständig abgeschlossen, sondern blieb offen für verändernde Zu- und Eingriffe. Die Materialien und Ordnungsstrukturen kamen 20 | Der Begriff der Time Capsule geht auf die Vorbereitungen für die New Yorker Weltausstellung des Jahres 1939 zurück, als eine Sammlung repräsentativer Alltagsgegenstände in einem Behälter verschlossen wurde, der erst in 5000 Jahren (6939) wieder geöffnet werden sollte und dann einen Einblick in die dann historische Kultur des 20. Jahrhunderts geben sollte. Das dahinter stehende Konzept ist allerdings wesentlich älter. Traditionell wurden Zeitkapseln (als Ansammlung von zeitgenössischen Dokumenten und Objekten) etwa bei der Fertigstellung von Kirchen in den Kugeln der Kirchturmspitzen hinterlegt. Seit 2005 organisiert das Literaturarchiv Marbach unter dem Namen »Zeitkapsel« eine Veranstaltungsreihe, bei der verborgene Kisten aus Schriftstellernachlässen vor Publikum erstmals geöffnet und gesichtet werden. Eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen: Jarvis 2003.
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immer nur zeitweise in bestimmten Konstellationen zum Stillstand. Obwohl das Bilderrepertorium in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anscheinend nicht mehr ergänzt wurde, wurde der Komplex mehrfach durchstöbert, teilweise umgeschichtet und als Steinbruch anderer Sammlungsabteilungen benutzt. Die Anmutung des Bilderrepertoriums als Ruine der Museumsgeschichte ist dadurch verstärkt worden.
Steinbruch und Abraum Ohne eine externe Katalogisierung war die Zahl der im Bilderrepertorium organisierten Blätter schon im späten 19. Jahrhundert nur annäherungsweise zu ermitteln. August Essenwein übernahm 1866 ein Bilderrepertorium mit etwa 40.000 Zeichnungen, verwarf dieses jedoch weitgehend und legte es mit einem Bestand von 2.000 Blättern neu an. 1871 wurde der Umfang dieses Bilderrepertoriums auf ca. 20.000 Blättern beziffert, 1879 war von 30.000 Blättern die Rede und 1884 wurde die Anzahl der Blätter auf 50.000 Stück geschätzt. Bis zum Zweiten Weltkrieg (wenn auch zuletzt unter anderen Vorzeichen als im 19. Jahrhundert) ist der Bestand teilweise kräftig ergänzt worden, so daß durchaus von einem Maximalbestand von mindestens 100.000 Blättern ausgegangen werden kann. Allerdings soll das Bilderrepertorium bereits im Zuge der Auslagerung während des Zweiten Weltkriegs erheblich dezimiert worden und seitdem »nur sehr lückenhaft erhalten« geblieben sein.21 Nicht mehr aktiv ergänzt, wurde der nicht durch Kataloge und Signaturen erschlossene Komplex in der Folge als eine defizitäre Vorstufe der Sammlung angesehen, als Inventarisierungsrückstand, der nachträglich aufgearbeitet werden mußte. So wurden seit den 1950er Jahren immer wieder einmal einzelne Abbildungen aus dem Bilderrepertorium »aus Rückständen inventarisiert«.22 Vor allem die Sammlungsabteilung der »Stadtansichten und Prospekte« (S.P.) erfuhr durch diese nachholende Eingliederung erheblichen Zuwachs: Früher waren viele Abbil21 | Darauf weisen Heffels/Zink 1978, S. 642 (Anm. 40) hin. Wie aber sollte ein konkreter Verlust beziffert werden, wenn keine Inventare vorhanden waren, auf die man sich vergleichend beziehen konnte? Eine Revision im eigentlichen Sinne (wie sie für die inventarisierten Bestände durchgeführt wurde) war damit von vornherein ausgeschlossen. 22 | Seit den 1950er Jahren (z. B. SP 10464) häufig wiederkehrender Provenienzvermerk in den Inventarbüchern der Abteilung SP (anfangs findet sich alternativ auch der Vermerk »älterer Bestand« /»aus älteren Beständen«). In manchen Fällen wird ein konkreter RückstandsKomplex genannt (besonders ausführlich bei SP 10597: »aus Bilderrepertorium ›Ornat, Kirchenschmuck, Monstranz‹ am 25.III. 1963 in Abteilung S.P. transferiert und inventarisiert« oder SP 11042 »aus Rückständen nachträglich inventarisiert und von Kapsel 1253 (Kirchliche Baukunst) in Kapsel 1138a transferiert, 27.IV. 1972«), in anderen Fällen bleibt die Zuordnung unklar, bisweilen wird diese Unklarheit selbst ausgedrückt (SP 10886: »aus Rückständen (Slg. Stolberg?) nachträglich inventarisiert«, analog SP 11048: »aus Rückständen (Bilderrepertorium?) nachträglich inventarisiert«).
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dungen von Architektur (Einzelgebäude und Detailansichten) im Bilderrepertorium abgelegt worden, weil der Bestand S.P. anfangs auf Gesamtansichten im Stile der Vedutengraphik ausgelegt war; viele dieser Darstellungen wurden nun nachträglich inventarisiert.23 Dazu wurde ein solches Objekt aus dem Zusammenhang des Bilderrepertoriums entnommen, gegebenenfalls auf einen neuen Untersatzkarton montiert bzw. mit Passepartout versehen und in den neuen Sammlungszusammenhang überführt. Das Objekt mußte im Inventarbuch seiner neuen Sammlungsabteilung verzeichnet werden, eine Inventarnummer erhalten und diese dem Objekt als Signatur aufgeschrieben werden, damit eine dauerhafte Verknüpfung von Objekt und Information gewährleistet war. Zur Erschließung des Objektes mußten außerdem Karteikarten geschrieben und diese in die alphabetisch oder systematisch geordneten Karteikästen eingegliedert werden. Neben der materiellen Bewegung des Objektes von einem Magazinbereich des Museums in einen anderen, waren mit einer solchen retrospektiven Inventarisierung also eine Reihe medialer Praktiken verbunden, die es verständlich machen, daß eine systematische Aufarbeitung dieser musealen Rückstände nicht erfolgt ist – obwohl doch der Begriff anscheinend diese Verpflichtung impliziert. Die Aneignung von Rückständen erfolgt stattdessen selektiv und ist meist durch die vage Hoffnung bestimmt, Objekte aufzuspüren, die vor dem Hintergrund veränderter Sammlungskonzeptionen oder aktueller Ausstellungsvorhaben interessant erscheinen. Durch diese ›Ökonomie musealer Aufmerksamkeit‹ drücken die Entnahmen aus dem Bilderrepertorium auch eine Hierarchisierung des Bestandes nach der jeweils aktuellen Wertigkeit aus. Auffällig ist in diesem Zusammenhang eine Sichtung des Bilderrepertoriums nach »Originalgrafik« in den einzelnen Kapseln. Zeichnungen und Druckgraphiken, die dabei aufgefunden wurden, wurden aus dem vorgefundenen Ordnungszusammenhang gelöst, innerhalb der Kapseln in provisorischen Mappen zusammengefaßt (beschriftet: »Originalgrafik«) und diese oben in die Kapseln eingelegt.24 Weil für diese Mappen die Rückseiten von Museumsplakaten des Ausstellungsjahres 1980 zerschnitten und gefaltet wurden, ist dieser Zugriff zeitlich datierbar.25 Diese Vorsortierung zukünftiger Inventarisierungen reflektiert den um 1980 deutlich herausgestellten Schwerpunkt der Graphischen Sammlung im Bereich der traditionellen graphischen Techniken (als künstlerischer Ausdrucksformen), dokumentiert aber auch das damalige Desinteresse an den Photographien (als 23 | Tatsächlich handelt es sich bei einer deutlichen Mehrheit der innerhalb der Abteilung SP seit den späten 1970er Jahren inventarisierten Objekte um Rückstände. Im Jahr 1983 (SP 12620-12758) sind z.B. 78,7 % aller im Inventarbuch vermerkten Objekte als Rückstände ausgewiesen. Im Vergleich: 1975 = 32,1 %, 1965 = 19,4 %, 1955 = 0 %. 24 | Zumindest habe ich diese Mappen in den Kapseln, in denen sie vorhanden waren, zumeist oben aufliegend aufgefunden. 25 | In einer Kapsel (GNM-Bilderrepertorium, Kapsel 1786) findet sich zudem der von einem Museumsmitarbeiter signierte und 1980 datierte Zettel: »Enthält durchwegs Originalgrafik/ zum Einordnen bestimmt«.
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Abbildungsmaterial), die sich als eine Art musealer Bodensatz in den Kapseln ablagerten. Der Zusammenhang von Perspektivwechsel, Beschriftungspraxis und Sammlungsbewegungen läßt sich auch am Einzelobjekt belegen . Ein Beispiel bietet eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1871 mit einer Ansicht aus Genua, die der Künstler Conradin Walter signiert, datiert und bezeichnet hat: »Genua 10/VI 71 / Sonnenuhr an der Ecke des Doms«.26 Die Zeichnung wurde zunächst unter dem Namen des Künstlers in die Kunstblätter des Kupferstichkabinetts eingereiht und mit der Signatur Hz. (für Handzeichnungen) 538 gekennzeichnet. Im 20. Jahrhundert bewertete ein späterer Bearbeiter27 die Handzeichnung jedoch als »Einfach«, woraus die Forderung »Bilderrepertorium!« resultierte. Hier wurde zunächst eine Zuordnung in den Bereich »Stein-Plastik / Mittelalter« vorgenommen; zu einem späteren Zeitpunkt ist die Zeichnung dann aber in eine Kapsel mit Abbildungen technischer Instrumente (Uhren) eingelegt worden. In dieser ist sie schließlich als »Originalgrafik« wiederentdeckt und in eine entsprechende Mappe eingelegt worden, wo sie seitdem auf weitere Bearbeitung wartet. Orientierten sich Streifzügen durch die Ruine des Bilderrepertoriums also zunächst an Schnittstellen zu den traditionellen graphischen Sammlungsabteilungen, rückte seit der Mitte der 1990er Jahre verstärkt das Medium Photographie in den Fokus des Interesses. Die 1996 möglich gewordene Verlagerung des Bilderrepertoriums in neu geschaffene Depoträume begünstigte diesen Perspektivwechsel, der mit einem allgemein gewachsenen Interesse kunst- und kulturhistorisch ausgerichteter Museen am Medium Photographie korrespondierte.28 Zusätzlich wurde die Neubewertung der photographischen Altbestände durch äußeren Druck forciert: Als der Wissenschaftsrat 1998/99 das Germanische Nationalmuseum als eine mit Bundesmitteln geförderte Forschungseinrichtung evaluierte, stellten die Gutachter (offenbar ohne von dem Bilderrepertorium zu wissen) die eindringliche Nachfrage, »ob das riesige Schatzhaus deutscher Kunst und Kultur nicht auch einmal daran denken wolle, Fotografien zu sammeln«, da bei der Begutachtung »nur das Graphische Kabinett [...] einige Irrläufer davon indirekt nachweisen« konnte.29 Im Anzeiger der Jahre 1998 und 1999 vermeldete die Graphische Abteilung sogleich, daß Praktikantinnen inzwischen mit »Ordnung und Erschließung 26 | GNM-Bilderrepertorium, Kapsel 1808 (128). 27 | Handschrift von Fritz Traugott Schulz. – Eine ausführliche Analyse der Handschriften der Museumsmitarbeiter kann hier nicht erfolgen. Ich gebe deshalb im folgenden Referenzen für die Handschriften, die im Rahmen dieser Dissertation eine Rolle spielen: August von Eye (1853-1875), vgl. Inventarbuch Portraits Nr. 1-4264; August Essenwein (1866-1892), vgl. Inventarbuch Portraits Nr. 4851-19431; Fritz Traugott Schulz (ca. 1900-1910), vgl. Zugangsregister Kupferstichkabinett Nr.1028-2144; Konrad Hofmann (ca. 1915-1940), vgl. Inventarbuch Portraits Nr. 25687-26099; Heinrich Höhn (1919-1942), vgl. Inventarbuch Historische Blätter Nr. 25666-26242. 28 | Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, 1996, S. 269. 29 | Brückner 2004, S. 7f.
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des sammlungsgeschichtlich bedeutsamen ›Bilderrepertoriums‹ beschäftigt« gewesen seien und damit »wichtige Vorarbeiten für die Begründung einer photogeschichtlichen Sammlung« geleistet hätten.30 Ein solcher Ansatz bedeutet allerdings, das Bilderrepertorium mit einem verschobenen Blick zu betrachten: ein Sammlungskomplex, der als Abbildungssammlung kulturhistorischer Objekte konzipiert (und als solcher in Vergessenheit geraten) war, findet als Reservoir photohistorischer Objekte neue Beachtung. Der Fokus verschiebt sich vom Abgebildeten (das Objekt der Photographie) zur Abbildung (die Photographie als Objekt). Dementsprechend treten bei der Neubewertung der verborgenen Photorückstände diejenigen Kriterien in den Vordergrund, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die museale Betrachtung von Photographien dominiert haben – die Stil- und Werkkategorien der Kunstgeschichte.31 Folglich wurden vor allem solche Photographien nachträglich inventarisiert, die sich etablierten photohistorischen Genres und bekannten Namen der Photogeschichte zuordnen ließen. So wurden, gleichsam als Vorschau auf eine künftigen Photosammlung, bereits 1998 erste bedeutende Fundstücke aus der alten Abbildungssammlung in einer kleinen Ausstellungsvitrine vor dem Studiensaal der Graphischen Sammlung gezeigt: Ansichten von Venedig, die Domenico Bresolin zugeschrieben werden konnten.32 Deutlich wird dabei der Versuch, sich konzeptionell an bestehenden Photomuseen und -sammlungen zu orientieren. Einige Teile des alten Bilderrepertoriums erscheinen im Rahmen dieser neuen Konzeption zum Aufbau der Sammlung besonders geeignet (v. a. die Architekturaufnahmen des 19. Jahrhunderts), andere bleiben weitgehend unbeachtet (etwa die photographischen Graphikreproduktionen). So bezeichnet vielleicht der einmal im Zusammenhang mit den Photographien aus dem Bilderrepertorium benutzte Ausdruck des »Aushubs«33 die
30 | Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, 1998, S. 308. 31 | Eine Kritik dieser eindimensionalen Betrachtung von Photographien, ihrer Reduzierung auf die ästhetische Dimension, ist häufiger formuliert worden, z.B. Krauss 2000; Crimp 2002; Starl 1997. Neuere Photogeschichten betonen daher die Multivalenz photographischer Bildproduktionen und -rezeptionen, die sich nicht auf ästhetische Aspekte reduzieren läßt (Frizot 1998b, Marien 2002). 32 | Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, 1999, S. 368. Nur zwei Jahre zuvor waren Bresolins Venedig-Aufnahmen aus der Sammlung Siegert in der Bayerischen Staatsgemäldesammlung ausgestellt worden (Ritter 1996). 33 | Im Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, 2001, S. 257 heißt es in einer Meldung zu einer gemeinsam mit dem Stadtarchiv kuratierten Ausstellung von Photographien des Nürnberger Photographen Ferdinand Schmidt: »Während der Vorbereitungszeit der Ausstellung gelang der Aushub von bisher nicht identifizierten und undatierten Fotoaufnahmen Ferdinand Schmidts, die dieser im Jahr 1902 anläßlich des 50jährigen Gründungsjubiläums des Germanischen Nationalmuseums anfertigte. Somit konnten zahlreiche Aufnahmen von Gebäudeteilen und Sammlungsräumen des Museums in einer eigenen Ausstellungssektion erstmals wissenschaftlich aufbereitet präsentiert werden.«
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Strategie am treffendsten: aus einer Ruine der Museumsgeschichte sollen die Fundamente einer photohistorischen Sammlung herausgehoben werden.34 Aus museumspraktischer Sicht erscheint der damit verfolgte Ansatz zur Begründung einer Photosammlung im Germanischen Nationalmuseum vollkommen legitim und als Nutzungskonzept bisher ungenutzter Rückstände sinnvoll. Andererseits werden dadurch jedoch sammlungsarchäologische Zusammenhänge zerstört, die aus museumshistorischer wie aus medienhistorischer Perspektive Einblicke ermöglichen, wie das Medium Photographie im Museum eingesetzt und wahrgenommen worden ist. Wenn Sammlungsbewegungen aus dem Bilderrepertorium nicht schriftlich belegt oder hinter Euphemismen wie »Rückstände« oder »Alter Bestand« verborgen bleiben – wenn also den historischen Sammlungskontexten im Moment des Auffindens keine Bedeutung beigemessen wird – lassen sich die entnommenen Photographien zwar als autonome Bilder zeigen (Modus des Kunstwerks) – bestimmte Fragen nach ihrer sammlungs- und kulturhistorischen Bedeutung aber kaum noch stellen. Ist nicht auch die Geschichte der Aneignung und Verwahrung dieser Photographien im Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums ein Kontext, der etwas über eine bestimmte Bedeutungsdimension dieser Bildobjekte aussagen kann? Und liegt nicht gerade auch in diesem Bereich das besondere Potential der Nürnberger Sammlung?
Spurensicherung Insgesamt scheint der Umgang mit musealen Rückständen in den vergangenen Jahrzehnten – analog zur Schatzsucher-Archäologie – zu sehr das bedeutende Fundstück und zu wenig die Bedeutung des Befundes im Blick gehabt zu haben. Beim ›Aushub‹ gesuchter, bekannter und interessanter Einzelstücke blieb der ›Abraum‹, der sie umgab, weitgehend unberücksichtigt. Mit Walter Benjamin wäre jedoch eine Verschiebung des archäologischen Blicks auf das »dunkle Erdreich« anzuregen, das die verborgenen Kostbarkeiten birgt: »Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.«35 Der Museologe Hans-Hermann Clemens sieht die archäologische, schichtenorientierte Grabung als Leitbild für eine museumspraktische Annähe-
34 | Tatsächlich ist es in den letzten zehn Jahren zu umfangreichen Sammlungsbewegungen aus der Architektur-Abteilung des Bilderrepertoriums gekommen. Parallel wurden ab 2001 die im Bestand der »Stadtansichten & Prospekte« (SP) vorhandenen Photographien entnommen. Diese Photographien sollen zukünftig als photohistorische Sammlung »Photo (SP)« erschlossen werden. Mit diesen Sammlungsbestand und seinen verschiedenen Provenienzen habe ich mich 2003 in meiner Master-Arbeit auseinandergesetzt (Tschirner 2003) – es handelt sich um die Inkubationszelle der Fragestellungen dieser Dissertation. 35 | Benjamin 1974, S. 100.
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rung an vernachlässigte Sammlungsbestände.36 Wenn sich einzelne Objekte identifizieren und den historischen Dokumentationssystemen (Karteien, Inventarbücher, Eingangsverzeichnisse) zuordnen lassen, ergeben sich daraus Informationen über die benachbart gelagerten Objekte und die Struktur der Ordnungs- und Aufbewahrungssysteme. Sammlungsarchäologie bedeutet also: die Anlagerung musealer Objekte in den Depots und die Zeichen und Markierungen musealer Bearbeitung als Spuren der Sammlungsgeschichte zu lesen. Im Fall des Nürnberger Bilderrepertoriums geht es dabei vor allem um eine zeitliche Bestimmung der einzelnen Objekte sowie der Kapseln, Mappen und Trennkartons, durch die sie museumshistorisch jeweils in bestimmte Ordnungsstrukturen eingebunden waren (die durch die vielfachen späteren Überlagerungen und Verwerfungen heute verschüttet sind). Ziel ist es, im Sammlungskonglomerat des Bilderrepertoriums unterscheidbare sammlungsarchäologische Konstellationen zu identifizieren, die es ermöglichen, eine Sammlungsgeschichte des Bilderrepertoriums zu schreiben. Diese Konstellationen lassen sich anhand der Spuren rekonstruieren, die durch die Praktiken der Aneignung und Bearbeitung von Abbildungen durch die Mitarbeiter des Museums auf den Objekten hinterlassen wurden (durch Stempel, die Verwendung bestimmter Untersatzbögen, handschriftlich verzeichnete Ordnungsbegriffe und Daten zu den abgebildeten Objekten, Nummern und Markierungen, spätere Ausstreichungen und Überschreibungen, nachträgliche Beschneidungen der Kartons usw.). Charakteristische Spurenprofile und wiederkehrende Muster lassen sich dabei im Verbund mit möglichen Datierungen (der Handschriften, der verwendeten Begriffe, der Objektzugänge usw.) schließlich museumshistorischen Zeitschichten zuordnen. 37 Dieser sammlungsarchäologische Befund bietet daher einen Ansatzpunkt für eine historiographische Annäherung an eine schriftlich unzureichend
36 | Clemens 2001, S. 94. 37 | Sammlungsarchäologie ist dem vom Carlo Ginzburg beschriebenen ›Indizienparadigma‹ verpflichtet – jenem epistemologischen Modell, das unscheinbare Spuren als Indizien liest, um auf die zugrundeliegende Ursachen zu schließen (Ginzburg 2002). Insofern erscheint es auf den ersten Blick widersprüchlich, wenn hier die absichtsvoll auf den Objekten angebrachten Zeichen und Markierungen als Spuren betrachtet werden sollen. Schließlich zählt die Unmotiviertheit zu den wesentlichen Attributen, die die epistemologische Rolle der Spur und ihre Aktualität im kulturwissenschaftlichen Diskurs bestimmen: »Spuren werden nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen.« (Krämer 2007, S. 16). Aber auch Zeichen können als Spuren gelesen werden, wenn an ihnen Aspekte in den Vordergrund treten, die nicht darauf angelegt sind, das ihnen später (vom Spurenleser) eine solche Bedeutung beigemessen wird. Die Zeichen und Worte einer musealen Objektbeschriftung werden als Spuren gelesen, wenn die Handschrift selbst oder die Plazierung der Beschriftung auf dem Papier zum Gegenstand der Wahrnehmung und Interpretation wird – aber auch dann, wenn die verwendeten Begriffe (d. h. Zeichen) daraufhin befragt werden, was sie implizit (d. h. unbeabsichtigt) über das Verhältnis des Museums zum Medium Photographie ausdrücken.
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dokumentierte Sammlungsgeschichte.38 Der Befund ermöglicht es, die Ordnungspraktiken und Sammlungsbewegungen im Bilderrepertorium mit den historisch veränderlichen Sicht- und Gebrauchsweisen des Mediums Photographie im Germanischen Nationalmuseum in Beziehung zu setzen und in die Historiographie der medialen Konstellationen von Museum, Photographie und Reproduktion aufzunehmen.
4.2 K ÄSTEN UND K APSELN – D IE VERSCHACHTELTEN M EDIENKONZEPTE DES 19. J AHRHUNDERTS Die Historiographie des Germanischen Nationalmuseums bietet nur vage Ansatzpunkte für das Verständnis des Bilderrepertoriums. Es gibt – auch unter den neueren, medien- und bildtheoretisch informierten Darstellungen der Museumsgeschichte – keine Publikation, die auf diesen Sammlungsbestand, seine Struktur und Geschichte eingeht.39 Zum Bilderrepertorium finden sich – anders als zum Generalrepertorium – keine Aktenfaszikel im Archiv des Museums. Falls das Bilderrepertorium in der Registratur des Museums überhaupt einmal als Ordnungsbegriff eine Rolle gespielt hat, sind die entsprechenden Schriftstücke womöglich im Zuge einer Aktenausscheidung vor dem Ersten Weltkrieg als unbedeutend angesehen und kassiert worden.40 Auch im Gesamtregister des Anzeigers, den das Germanische Nationalmuseum anläßlich seines 150jährigen Jubiläums erstellen ließ, taucht das Bilderrepertorium nicht auf. Obwohl die Arbeiten am Bilderrepertorium im chronikalischen Teil des Anzeigers für Kunde der deutschen Vorzeit (1853-1883) wiederholt
38 | Archäologie und Historiographie werden damit nicht als Gegensatzpaar aufgefaßt (wie etwa bei Ernst 2003). »Informierte Archäologie als eine Kulturtechnik der Skepsis besteht auf der Kritikwürdigkeit von Überlieferung und hält mit autonomen Evidenzen dagegen. Jede komplexe eigene Artikulation jedoch enthält zugleich die Anerkenntnis ihrer prekären Bedingtheit.« (Altekamp 2004, S. 231.) Diese Position vertritt auch Holtorf 2007, S. 344, der die Assoziation von Spurenlesen, Archäologie und einem materiellen Kern der Dinge kritisiert: »Spuren sind nicht ein verlässliches Mittel der Vergangenheitsrekonstruktion, sondern eher so etwas wie eine Ressource, die es erlaubt, durch den Akt des Spurenlesens, etwas Vergangenes auf eine bestimmte Art – oder auch auf mehrere Arten – zu repräsentieren.« 39 | Ernst 2003, S. 506 und Andrian-Werburg 2002, S. 31 erwähnen das Bilderrepertorium jeweils einmal – mit völlig unterschiedlichen Konnotationen. Hochreiter 1994 erwähnt es nicht, ebensowenig Schleier 2003, was besonders verwundert, da sich der Autor ausführlich sowohl mit dem Germanischen Nationalmuseum als auch mit Fragen der Bildforschung im Museum des 19. Jahrhunderts befaßt; anscheinend übersieht er jedoch die logische Verknüpfung dieser beiden Aspekte im Bilderrepertorium (vielleicht weil es ihm aufgrund fehlender Erwähnung in der Historiographie nicht bekannt war). 40 | Vgl. Vorbemerkung im Findbuch der GNM-Akten (Altregistratur) im Lesesaal der Graphischen Sammlung.
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erwähnt wurden, erschien der Begriff bei der Indexierung offenbar nicht als relevantes Schlagwort.41 So wie die Kataloge, Datenbanken und Verzeichnisse im Lesesaal der Graphischen Sammlung keine Verweise auf den im Depot verborgenen Bestand einer Abbildungssammlung enthalten, enthalten auch die Findbücher und Register in Archiv und Bibliothek keine Hinweise auf das Bilderrepertorium, dessen Konzeption(en) und Geschichte. Auf den Begriff des Bilderrepertoriums stößt man daher meist unvermittelt, während man Aktenfaszikel, Zeitschriftenbände oder Bücher durchstöbert. Dabei zeigen sich Widersprüche und Unklarheiten in bezug auf das damit verbundene Konzept. Einmal erscheint das Bilderrepertorium als Teil der Repertorisierungsprojekte aus der Frühzeit des Germanischen Nationalmuseums – ein anderes Mal steht es im Kontext der Neuausrichtung des Museums unter August Essenwein, die sich ja gerade durch die Abkehr vom Repertorisierungsgedanken und eine Konzentration auf die Sammlungen auszeichnete.42 Steht der Begriff also für einen Katalog von Bildquellen oder für eine Sammlung von Abbildungen? Der wichtigste Ansatzpunkt zum Verständnis des Bilderrepertoriums ist der materielle Rest der Sammlung von Abbildungen, der im Depot der Graphischen Sammlung lagert. Deshalb werden die Begriffe »Abbildungssammlung« und »Bilderrepertorium« im Germanischen Nationalmuseum häufig synonym verwendet.43 Dies wird jedoch der Historizität dieses Sammlungsbestandes nicht gerecht. Auch Begriffe können Ruinen sein, indem sich in ihnen Spuren historischer Konzepte ab- und überlagern.
Die Geburt des Bilderrepertoriums aus dem Geist des Zettelkatalogs In den Jahresberichten wird ein Bilderrepertorium im Germanischen Nationalmuseum erstmalig Anfang 1857 erwähnt. Das im Vorjahr begonnene Bilderrepertorium wird darin als eine Erweiterung und Ergänzung der schriftlichen Repertorien vorgestellt: »Als Zugabe zu diesen handschriftlichen Repertorien wurde im Laufe dieses Jahres ein Bilderrepertorium, welches bis jetzt schon über 8000 Blätter zählt, angelegt. Dasselbe besteht aus leichten Copieen und Durchzeichnungen aller für Sitten- und Culturgeschichte lehrreichen, in den Sammlungen des Museums enthaltenen Abbildungen in ihren Einzelnheiten, geordnet, in drei verschiedenen Formaten, nach dem bestehenden System des Museums, und gewährt jetzt schon einen überraschenden, sowohl sachlich als chronologisch zusammenhängenden
41 | Rök 2004. 42 | Als Teil der Repertorisierungsprojekte: Andrian-Werburg 2002, S. 31. Als Aspekt der Neuausrichtung: Ernst 2003, S. 506. 43 | Heffels/Zink 1978, S. 642.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM Ueberblick über die materiellen Lebensbedürfnisse unserer Vorfahren vom 11. bis in’s 17. Jahrhundert (1650).« 44
Es handelte sich also bei dieser ersten Fassung des Bilderrepertoriums um keine Sammlung von Abbildungen unterschiedlicher Art (wie bei dem heute erhaltenen Rest), sondern um einen von den Zeichnern des Museums zu erstellenden Bildkatalog zur sachlogischen Erschließung der bereits in den Sammlungen vorhandenen Abbildungen. Zeigte etwa eine mittelalterliche Buchillustration eine Heugabel oder ein Blasinstrument, so sollten diese Bilddetails im Sinne einer historischen Realienkunde fortan nicht mehr nur schriftlich verzeichnet werden (wie dies durch alphabetische Listen und Repertorienzettel bereits seit 1853 geschah)45 – sondern zusätzlich bildlich erfaßt und in einem Blattkatalog nach dem »System« geordnet werden. Darin folgte das Bilderrepertorium dem zentralen Anspruch des Germanischen Nationalmuseums, in seinen Repertorien alle aus einer Quelle ableitbaren Informationen über historische Personen, Orte und Gegenstände zu verzeichnen.46 Und dies galt insbesondere für die Bildquellen des Museums (die illustrierten Handschriften, die Tafelwerke, die Sammlung der fliegenden Blätter usw.), da sich viele Abteilungen der von Aufseß aufgestellten Systematik überhaupt nur durch bildliche Zeugnisse veranschaulichen ließen. Die Idee eines Bilderrepertoriums wurde im »Organismus« von 1854/55 noch nicht erwähnt. Sie ergab sich offenbar aus der musealen Praxis der Repertorisierung und aus dem Vorhandensein künstlerischer Ateliers für Reproduktion. Im Bilderrepertorium verknüpft sich die für das Gründungskonzept des Germanischen Nationalmuseums bestimmende Verzeichnungslogik der Listen und Schlagworte mit den Medienpraktiken der Artistischen Anstalt. Als ein medienpraktischer Vorlauf dieser Idee sind die Kopien der Illustrationen mittelalterlicher Bilderhandschriften zu betrachten, von denen August von Eye bereits Ende 1854 berichtet hatte.47 Diese bildlichen Exzerpte der Buchillustrationen (Durchzeichnungen auf Transparentpapier) waren jedoch wieder als Medieneinheit zusammengefügt worden, um in den Sammlungen des Museums das nicht verfügbare Originalmanuskript als Stellvertreter zu repräsentieren. Das Bilderrepertorium zielte im Gegensatz dazu auf die Auflösung solcher Einheiten. Hier wurden die einzelnen Durchzeichnungen auf normierte Blätter (in drei Standardformaten) geklebt, die dann in Kästen 44 | Dritter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855/56), S. 4. 45 | Ein Beispiel eines solchen Realindexes (für eine Schembarthandschrift aus dem Bestand der Bibliothek) ist zu sehen bei: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 573 (Abb. 330). 46 | Germanisches Nationalmuseum 1856a, §210: »Zur Erleichterung der Aufsuchung und des Citirens ist sowohl jeder Mappe, resp. jeder Abtheilung in derselben, als auch jedem Buche u. s. w., wo sich eine Mehrzahl von Abbildungen findet, ein alphabetisches Spezialregister über Personen, Orte und Gegenstände beizufügen [...] daß nicht nur der Gegenstand selbst als solcher, sondern auch Alles, was auf oder an demselben von künstlerischem oder antiquarischem Interesse sichtbar ist, aufgezeichnet und dem Register einverleibt wird.« 47 | Eye 1854. Siehe dazu oben, Kapitel 3.3. Zur Artistischen Anstalt: Kapitel 3.1.
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ähnlich den schriftlichen Repertorienzettel nach dem »System« organisiert werden konnten. Verschiedene Bilddetails einer Abbildung konnten dadurch voneinander isoliert und einzeln in der Systematik verortet werden. Die Rückbindung an die Quelle dieser visuellen Fragmente wurde durch genaue schriftliche Verweise auf die Abbildungen und Werke vorgenommen, aus denen sie abgepaust worden waren. In museumspraktischer Hinsicht wurde dies als funktionale Verbesserung gegenüber den schriftlichen Repertorien wahrgenommen: »Das eigentliche Bedürfniß dieses Werkes machte sich jedoch hauptsächlich dadurch geltend, daß man aus den bloß handschriftlichen Repertorien über die Abbildungen deren Werth und Brauchbarkeit für den Suchenden nicht stets entnehmen konnte, somit bei jeder Anfrage, zum Nachtheil der Zeit und der Originale, letzte sämmtlich aus der Bibliothek und den Mappen herbeischaffen und vergleichen mußte, was nun durch Einsicht der Copieen erspart ist.« 48
Gegründet als Ergänzung, erschien das Bilderrepertorium aufgrund dieses funktionalen Mehrwerts schon bald als eine potentielle Alternative, die nicht nur den Zugriff auf die Originale erübrigte, sondern dadurch das schriftliche Sachregister selbst zukünftig vollständig würde ersetzen können.49 Das Bilderrepertorium positionierte sich damit im Grenzbereich zwischen den Bildsammlungen des Museums und den schriftlichen Repertorien.50 Die Arbeit am Bilderrepertorium wurde zunächst intensiv vorangetrieben. Zwischen 1858 und 1865 informierten die Jahresberichte alljährlich über den aktuellen Umfang des Bilderrepertoriums. Ausgehend vom 1856 angelegten Grundstock von 8.000 Blättern wuchs es bis 1865 auf fast 40.000 Blätter an.51 Das Bilderrepertorium stand dabei auch den Besucher des Museums zur Verfügung. Aufgrund der Anschaulichkeit der Zusammenstellung erfüllte es anscheinend auch die Funktion, den Nutzen der Repertorisierung allgemein vor Augen zu führen. Als visuelles Sachregister historischer Realien verdichtete und veranschaulichte das Bilderrepertorium sowohl das System des Museums als auch das abstrakte Projekt des Generalrepertoriums. 52 48 | Dritter Jahresbericht des germanischen Nationalmuseums (für 1855/56), S. 4. 49 | Hektor 1863, S. 45: »Das Sachregister findet in dem 1856 begonnenen Bilderrepertorium seine Ergänzung und späterhin vielleicht seine volle Vertretung.« 50 | Konzeptionell zählen die Blätter des Bilderrepertoriums zu den »Arbeiten« des Museums und nicht zu den Sammlungen. Praktisch gibt es jedoch kaum einen Unterschied zwischen ihnen und den Kopien anderenorts aufbewahrter Graphiken, die wiederum als Sammlungsobjekte behandelt wurden. 51 | Vgl. die Aufstellungen in den Jahresberichten des germanischen Nationalmuseums (18581865): 13.500 Blätter (1858), 20.000 (1859), 27.000 (1860), 33.000 (1861), 35.000 (1862), 37.000 (1863), 38.000 (1864), 39.500 (1865). 52 | Germanisches Nationalmuseum 1860, S. 48f.: »Wenn wir uns durch einige Proben des Nachschlagens von der Nützlichkeit einer geordneten Zusammenstellung gleichartigen Stoffes für besondere Arbeiten und Fragen überzeugt haben, dann können wir wohl um so leichter die
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Die zweite Einrichtung des Bilderrepertoriums und die Reorganisation des Germanischen Nationalmuseums Diese erste Konzeption des Bilderrepertoriums hat offenbar nur wenig mit den heute erhaltenen Resten einer Abbildungssammlung im Depot der Graphischen Sammlung zu tun. Von den ehemals 40.000 Blättern des alten Bilderrepertoriums läßt sich darin nur ein ganz kleiner Teil auffinden: blasse Durchzeichnungen auf sprödem Transparentpapier, die offenbar später auf größere Untersatzbögen geklebt wurden, um sich dem Format des neuen Bilderrepertoriums anzupassen.53 Dieses geht in seiner Grundeinrichtung auf die Reorganisation des Museums unter August Essenwein zurück. Dieser äußerte sich 1869 sehr negativ über die Arbeiten am alten Bilderrepertorium: »Wenn ich aber die Durchführung dieses Gedankens, wie sie im Museum geschehen ist, betrachte, so muß ich erklären, daß mir eine unsinnigere Geldverschwendung, eine einsichtslosere Arbeit in den Tag hinein und ein geringeres Resultat im Verhältnisse zu den aufgewendeten Kosten bis jetzt noch nie und nirgends entgegengetreten ist.« 54
Dabei stimmte Essenwein mit der Grundidee einer Sammlung von Abbildungen historischer Objekte durchaus überein. »Leider hat man jedoch von vorn herein diese Pausen nur als Hinweisungen auf die Originalquellen betrachtet. Sie sollten eben blos flüchtig an das Original erinnern, sind daher auch sehr flüchtig gezeichnet, so dass man stets genöthigt ist, für jeden Gegenstand sich die Originalquellen selbst (d. h. das Buch, worin die Ziehung[sic!] publiziert ist) nachzuschlagen, und so, obwohl der Hinweis so klar geführt ist, dass die gesuchte Ziehung in jedem Buch augenblicklich gefunden wird, doch nicht den klaren Überblick hat, wie wenn die Ziehungen des Repertoriums selbst besser wären, so dass nur derjenige speciell nachsehen müsste, der die Absicht hat, genaue eingehende Studien über den Gegenstand zu machen.« 55
(unbegreiflicher Weise von einigen Seiten noch angezweifelte) Nützlichkeit des gleichen Verfahrens bei dem schriftlichen Material für historische Gegenstände einsehen, worüber hier an der Wand eine deutliche Erklärung mit hinzugefügten Probeblättern unter Glas zu finden ist.« 53 | Reste des alten Bilderrepertoriums finden sich etwa in den Kapseln mit historischen Waffendarstellungen (z. B. Kapsel 1840a, Kapsel 1870). Sie vermitteln eine Vorstellung dieser extremen Form künstlerischer Kärrnerarbeit. Aus den Archivalien (GNM-Akten, K. 3, Nr. 15) geht hervor, daß ein Großteil der Kopien des Bilderrepertoriums zunächst von dem Zeichner Friedrich Unger angefertigt wurden, der parallel als Hausmeister des Museums tätig war. Dieser wies im Mai 1857 in einer Eingabe mit der Bitte um bessere Entlohnung darauf hin, daß das Bilderrepertorium größtenteils von ihm gezeichnet worden sei (fol. 109). Unger nahm sich Ende 1858 das Leben (fol. 129f.); ein Verwandter Ungers wies die Schuld daran dem Museum zu, das dem Hausmeister und Zeichner unwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen geboten habe (eingelegtes Blatt nach fol. 136). 54 | Zitiert nach: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1109. 55 | Essenwein 1868b, S. 87.
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Das Bilderrepertorium war demnach aus Sicht Essenweins noch zu sehr im Bibliotheksuniversum der Zettelkataloge und schriftbasierten Verweise verankert – noch zu sehr Repertorium von historischen Bildquellen geblieben und zu wenig eine brauchbare Quellen-Sammlung von Abbildungen geworden. Die flüchtig ausgeführte zeichnerische Erfassung trübte als eine Zwischenstufe der bildlichen Reproduktion die Durchsicht auf das historische Objekt. Genau darauf zielte die Neugründung des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung. In einem 1868 von Essenwein verfaßten Überblick über die Sammlungen und Arbeiten des Germanischen Nationalmuseums existieren diese beiden Ordnungen noch parallel zueinander: »Parallel mit diesem Repertorium geht eine Sammlung grösserer Einzelblätter Photographien, Lithographien, Holzschnitte, Handzeichnungen u. s. w., welche Abbildungen von Gebäuden, Costümen, Waffen, Geräthen u. s. w. enthalten. Ursprünglich sollten blos solche Blätter aufgenommen werden, die nicht grössern zusammenhängenden Werken angehören und das Bilderrepertorium sollte später nach Absolvirung allen Materials in Büchern auch auf diese Blätter hinweisen. Man hat jedoch, als die Anzahl einmal einige Tausend betragen hatte, mit Rücksicht darauf, dass das Bilderrepertorium doch nicht geeignet ist, den Laien zur Durchblätterung zu dienen und ihm so für jede Einzelheit ein Bild der historischen Entwickelung zu geben, diese Abbildungssammlung dazu bestimmt und demgemäss, soweit sie vorhanden waren, auch Blätter (Seperatabdrucke), die in Büchern enthalten sind, dieser Sammlung einverleibt, die bereits sehr lehrreich ist und auf einzelnen Gebieten, z. B. der Architektur in ihrer ganzen Folge, dem Laien einen guten Überblick über den Entwicklungsgang gibt, dem Künstler und Kunstforscher aber viele Anregung bietet. Die Erweiterung dieser Sammlung wird sehr eifrig betrieben.« 56
Der Übergang von der alten (visuelles Repertorium historischer Abbildungen) zur neuen Konzeption des Bilderrepertoriums (Sammlung von Abbildungen historischer Objekte) war 1870 abgeschlossen. In der neuen Satzung wird damit der Auftrag verbunden, »bildliche Nachweise über verwandtes, nicht im Original oder Nachbildungen in den Sammlungen selbst befindliches Material« zu sammeln.57 Mit dieser Neuausrichtung wurde der Bezugsrahmen des Bilderrepertoriums erweitert: hatte das alte Bilderrepertorium ausschließlich Durchzeichnungen nach Bildern enthalten, die bereits in den Sammlungen des Museums (v. a. in der Bibliothek) vorhanden waren, so setzte das neue Konzept gerade darauf, das zu versammeln, was noch nicht im Museum vorhanden war. Gleichzeitig wurde das Bilderrepertorium auf eine breitere mediale Basis gestellt: nicht nur gezeichnete Kopien historischer Abbildungen, sondern Abbildungen und Reproduktionen in verschiedenen Medientechniken. Im Anfang 1870 erstellten Jahresbericht wurde herausgehoben, daß sich die Sammlung der Abbildungen durch die zuletzt zahlreichen Zugänge »immer mehr zu einem nach jeder Richtung hin brauchbaren Bilderrepertorium gestaltet« habe – womit die Aneignung des Begriffs durch das neue Konzept 56 | Ebd. 57 | 1978, S. 954 (§3).
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dokumentiert wird. Die Öffentlichkeit wird in bezug auf diese »hochwichtige Abteilung, der wir unsererseits alle Aufmerksamkeit zuwenden werden«, zur Mitwirkung aufgerufen: »Jede Abbildung (sei es Photographie, Handzeichnung, Durchzeichnung, Lithographie, Stich, Holzschnitt) eines alten Kunstdenkmales ist hiefür wichtig«.58 Der Aufruf erinnert an die SammelkastenIdeologie aus den 1850er Jahren.59 Es erscheint sinnvoll, die wesentlichen Unterschiede zur Museumskonzeption des Freiherrn von Aufseß noch einmal festzuhalten. Auf ein Schlagwort gebracht, äußerte sich in dieser neuen Ausrichtung ein Pragmatismus, der nicht an allenfalls langfristig zu erreichenden Idealen festhielt, sondern sich auf das gegenwärtig Mögliche beschränkte.60 Die institutionelle und finanzielle Krise des Museums, die sich kurz nach dem Amtsantritt Essenweins durch den Ausbruch des Preußisch-Österreichischen Krieges 1866 noch zu verschärfen drohte, trug dazu bei, die bisherigen Schwerpunkte der Museumsarbeit zu verändern. Essenwein entließ einen Großteil der dafür zuständigen Wissenschaftler und Künstler (darunter den künstlerischen Inspektor und Photographen Jakob Eberhardt)61 und entzog damit dem bisherigen Konzept der Repertorien und Reproduktionen die Basis. Essenwein forderte stattdessen eine Konzentration des Germanischen Nationalmuseums auf die »greifbaren Geschichtsdenkmäler und die Pflege der Kulturgeschichte«.62 Die Schwerpunkte des Museums sollten (in organisatorischer wie in finanzieller Hinsicht) auf einer neuen Gliederung und Aufstellung der Sammlungen liegen. An die Stelle der hochgradig differenzierten Systematik mit ihren mehreren hundert Einzelrubriken, unter denen viele nur mit Bildern oder Texten zu füllen waren, trat eine Gliederung in eine überschaubare Zahl selbständiger Abteilungen, die sich im Museum tatsächlich durch materielle Objekte darstellen ließen.63 In ihrer Gesamtheit sollten diese zunächst 32 Sammlungsab58 | Sechzehnter Jahresbericht des germanischen Museum, 1870 (für 1869), S. 3. 59 | Siehe oben, Kapitel 2.2. 60 | Entsprechend einer zeitgenössischen Tendenz, die sich unter anderem im Begriff der ›Realpolitik‹ und philosophisch-wissenschaftstheoretisch in einer Abkehr von deduktiven Ableitungen (wie denen des »Systems«) ausdrückt (Nipperdey 1998b, S. 718ff). 61 | Siehe oben, Kapitel 3.5.. 62 | Essenwein 1870/1978, S. 955f. 63 | Ebd., S. 997: »Eine Sammlung kann dem Publikum nicht nach einem rein theoretischen Systeme geordnet vor Augen geführt werden, weil das Publikum nie sich herbeilassen wird, vor Betrachtung derselben sich das System einzuprägen, um orientiert zu sein, weshalb dieser oder jener Gegenstand gerade an der oder jener Stelle erscheint, an der man ihn sonst nicht suchen würde. Vollends unklar und statt belehrend geradezu verwirrend würde aber der Eindruck sein, so lange nicht das gesammte Material zur Darstellung des ganzen Systems vorhanden ist, sondern noch allenthalben Lücken sich zeigen. Ja, gewisse Lücken lassen sich absolut gar nicht ausfüllen, weil nicht für alle Unterabtheilungen des Systemes überhaupt greifbare Monumente da sind, weil sich der geistige Theil, der ja so wichtig ist, nicht in Monumenten darstellen läßt. Bei Aufstellung der Sammlungen kommen viele praktische Erwägungen entgegen, die weit bestimmender sein müssen, als irgendein theoretisches System.«
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teilungen dem Besucher einen umfassenden kulturgeschichtlichen Überblick bieten, ausgehend von der Architektur über die plastischen Künste, die Malerei und Graphik bis hin zu den eher kunstgewerblich und kulturhistorisch bedeutenden Gegenständen. Damit war durchaus weiterhin ein gesamtdeutsches Programm kulturhistorischer Forschung und Vermittlung verknüpft, dieses war jedoch eher an einer Kunstgeschichtsschreibung des ästhetischen Historismus64 orientiert und ließ sich dadurch leichter in die deutsche Museums- und Universitätslandschaft eingliedern als das Aufseß’sche Nationalmuseum. Essenweins Reorganisation war einerseits behutsam, andererseits fundamental. Behutsam deshalb, weil er vom bisher erreichten status quo ausging und diesen zur Grundlage einer aktualisierten Zieldefinition machte. Vielfach wurden damit nur die Diskrepanzen aufgelöst, die sich im Germanischen Nationalmuseum seit 1853 zwischen Projekt und Praxis, zwischen der Logik des Generalrepertoriums und der Logistik materieller Anordnungen gezeigt hatten. So seien die von Essenwein eingebrachten Vorschläge zur Änderung der Satzungen »gerade der Ausdruck dessen [...], was sich im Anschlusse an die alten Satzungen nach und nach ergeben hat«.65 Aber gerade deshalb war die 1866 begonnene Neuausrichtung auch fundamental. Denn als enthusiastischer »Projektemacher«66 hatte es Aufseß immer abgelehnt, das auf den langfristigen Erfolg des Generalrepertoriums berechnete Museum an der Gegenwart messen zu lassen. Schließlich wurden Essenweins Pläne zur Reorganisation jedoch durchgesetzt. Die bisherigen Grundlagen der Museumsarbeit wurden 1869/70 durch eine neue Satzung, eine umfangreiche Programmschrift sowie neue Dienstordnungen komplett revidiert. Ein wichtiger Aspekt dieser Reorganisation des Germanischen Nationalmuseums war die Trennung der musealen Bestände in Schausammlungen (mit Originalen und Nachbildungen) und jeweils darauf bezogene Studiensammlungen (mit Abbildungen). Die Schausammlungen sollten sich an den Laien wenden und durch eine didaktisch durchdachte Aufstellung der Objekte kulturhistorische Entwicklungen anschaulich vermitteln; die Studiensammlungen hingegen zielten auf den Forscher und Wissenschaftler und sollten deshalb ein wesentlich umfangreicheres Material zur Verfügung stellen, an dem sich eben diese Entwicklungen erkennen und überprüfen ließen. Im Jahr 64 | Zur Einbettung dieser Neuaufstellung in die Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts: Kahsnitz 1978, S. 690-697. Essenwein orientierte sich dabei an den den kunsthistorischen Gesamtentwürfen (Franz Kugler, Carl Schnaase), »die Geschichte der künstlerischen Form als Emanation des menschlichen Geistes sahen« (S. 695). 65 | Essenwein 1870/1978, S. 955f. 66 | Zur Figur des Projektemachers und seiner epistemologischen Funktion: Krajewski 2004, v. a. S. 11-13. Projektemacher denken das zuvor nicht Gedachte und nähern es damit der potentiellen Erkenntnis an (darin liegt ihre epistemologische Dynamik), auch wenn Projekte aufgrund ihrer Dimensionen den Kritikern häufig als von vornherein zum Scheitern verurteilt erscheinen. Nicht von ungefähr verwiesen die Gegner des Aufseß’schen Unternehmens bereits in den 1830er Jahren auf einen Urtyp des Projekts – den Turmbau von Babel.
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1870 war für fast jede Abteilung der Schausammlungen eine Abteilung der Studiensammlungen angelegt worden, als deren organisatorische Einheit das neue Bilderrepertorium fungierte.67
Die Abbildungssammlung als Modell des kulturhistorischen Museums 1867 veröffentlichte August Essenwein im Anzeiger in mehreren Fortsetzungen einen Aufsatz »Über die Anlage kleiner Museen«.68 Der Text stellt – wie auch der Titel besagt – nicht das Germanische Nationalmuseum in den Vordergrund; erst am Ende kommt Essenwein auch auf die zukünftige Ausrichtung des Nürnberger Museums zu sprechen. Und dennoch handelt es sich bei dem Beitrag als Ganzem um eine erste (noch halb verdeckt formulierte) Offenlegung eines Idealplans kulturhistorischer Museen, an dem sich die spätere Reorganisation des Germanischen Nationalmuseums ausrichten sollte.69 Essenwein gibt seine Prägung durch die Kunstgewerbebewegung und deren museale Konzepte deutlich zu erkennen.70 Das nach dem Vorbild des South Kensington Museums entwickelte Sammlungs- und Vermittlungskonzept des Wiener Museums für Kunst und Industrie hatte Essenwein 1865 selbst bei der Gründung des Steiermärkischen Vereins für Kunstindustrie in Graz angewandt. Entscheidend sei dabei ein System, nach dem die gesammelten Objekte zusammengestellt und den Besuchern vor Augen geführt werden. Dieses müsse von dem Grundsatz ausgehen, daß jedes Museum als wissenschaftliches Institut in erster Linie der Belehrung und Vermittlung von Wissen diene. Schon aus der Aufstellung der Sammlungen müsse deshalb ersichtlich werden, warum diese Objekte als sammlungswürdig und ausstellungswert erachtet werden. Essenwein beschreibt das Museum damit als ein visuelles Medium, das durch die Ausstellung der Objekte sogleich deren Bedeutung vermittelt. Der Begriff der Entwicklung, das Prinzip der Serie und die Methode vergleichender Betrachtung gewinnen in diesem Ordnungskonzept eine große Bedeutung. Eine wissenschaftlich fundierte Ausstellung müsse eine gezielte Aus67 | Essenwein 1870/1978 kam bei der Besprechung der einzelnen Abteilungen häufig auf die ergänzende Abbildungssammlung zu sprechen. Besondere Bedeutung konstatiert er für die Bereiche Architektur, die Grabdenkmale, die Handzeichnungen, die Musikinstrumente, die Häuslichen Altertümer, die Abteilung Tracht und Schmuck, die Waffensammlung sowie den Bereich Erwerb und Verkehr. 68 | Essenwein 1867. 69 | Auch im Rückblick des Jahres 1884 machte Essenwein deutlich, daß es nach seiner Übernahme des Museums angesichts der Auseinandersetzung mit Aufseß und seinen Anhängern notwendig gewesen sei, das zukünftige Programm nur teilweise sehen zu lassen, um nicht noch heftigere Angriffe zu provozieren (Essenwein 1884a, S. 6). 70 | Vgl. auch den noch früheren Beitrag Essenweins im Anzeiger mit dem Titel: »Der Nutzen des germanischen Museums für die kunstindustrielle Thätigkeit unserer Zeit« (Essenwein 1866).
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wahl der »wichtigsten und interessantesten Gegenstände« treffen und diese so aufstellen, daß ihre Abfolge die historische Entwicklung bestimmter Formen und Stile veranschauliche. In diesen Überlegungen schwingt die Hypothese mit, daß sich jeder Gegenstand nach seinem Verhältnis zu dieser Entwicklungsreihe bewerten und in seiner kulturhistorischen Bedeutung bestimmen läßt. Gerade die besonders charakteristischen, form- und stilprägenden Gegenstände sieht Essenwein deshalb für jedes Museum (ob klein oder groß) als unerläßlich an. »Wenn nur einzelne Marksteine dastehen, so stehen sich diese fremd gegenüber; es bedarf zur Belehrung gerade der vermittelnden Elemente; man muß sehen, wie durch Zwischenglieder eine Form aus einer früheren, ihr scheinbar fremden nach und nach entstanden ist.«71 »Da nur allein darin der richtige Maßstab zur Beurtheilung jedes vorkommenden Gegenstandes gegeben ist, und alle diese hervorragenden Dinge nicht im Original zu haben sind, so muß man suchen, sie in Nachbildungen sich zu verschaffen. Der Gipsabguß, die Photographie, die Zeichnung und Galvanoplastik dienen hier als Vermittler.«72
Die Fragen nach der Funktion des Museums als Medium und nach der Funktion von Medien innerhalb des Museums hängen von diesem Standpunkt aus eng miteinander zusammen. Nur MedienObjekte ermöglichen es dem von Essenwein als Modell entworfenen Museum, seiner medialen Funktion gerecht zu werden: die Veranschaulichung von Entwicklungsgeschichte anhand der formalen und stilistischen Veränderungen kulturhistorischer Objekte. Damit entspricht das didaktische Ausstellungsprinzip des kulturhistorischen Museums dem der zeitgenössischen Kunstgewerbemuseen.73 Es unterscheidet sich aber in der Reichweite der gesammelten Objekte (nicht nur Kunst und Kunstgewerbe), in der Gliederung der Sammlung in einzelnen Gruppen (nicht nach Gewerbezweigen) und in der Auswahl der für die einzelnen Entwicklungsreihen besonders wichtigen Elemente (nicht nur das Herausragende und Vorbildliche). Bringt man Essenweins Überlegungen auf die Formel des idealen, des optimalen und des realisierten Museums, so ist das unerreichbare Ideal des kulturhistorischen Museums eine Sammlung, in dem der Entwicklungsgang aller Zweige der Kulturgeschichte anhand herausragender und besonders charakteristischer Originale veranschaulicht wird.74 Das optimale kulturhistorische Museum bietet möglichst viele Serien durch gezielt ausgewählte Nachbildungen und einige ergänzende Originale. Das auf dem Weg dahin realisierbare kulturhistorische Museum stellt zumindest einzelne Zweige der 71 | Essenwein 1867, Sp. 291. 72 | Essenwein 1867, Sp. 190. 73 | Mundt 1977. 74 | An anderer Stelle schreibt Essenwein: »Es gibt keine öffentliche Sammlung, die in der Lage wäre, alle kunstgeschichtlich wichtigen Stücke, oder auch nur so viele vorzuführen, daß wir die ganze Kunst- und Kulturgeschichte in ihren Werken ersten Ranges studieren könnten.« (Essenwein 1868a, Sp. 390).
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Kulturgeschichte in ihrer Entwicklung dar, indem es – je nach seinen finanziellen Möglichkeiten – neben vereinzelten Originalen und möglichst zahlreichen Nachbildungen vor allem auf Abbildungen setzt. Abschließend kommt Essenwein 1867 noch einmal explizit auf das Germanische Nationalmuseum zu sprechen (das aber auch schon zuvor das verdeckte Objekt seiner Überlegungen war). Zukünftig solle das Germanische Nationalmuseum als ein solches optimales kulturhistorisches Museum Vorbild für die kleineren Museen sein. Essenwein schreibt: »Was wir hier angedeutet, kann nach manchen Richtungen hin nicht blos für kleine, es kann auch für größere Museen Anwendung finden, und sofern das germanische Museum als ein Vorbild für manche ähnliche Institute dienen soll und will, ist in manchem oben Gesagten auch für die Kunst- und Alterthumssammlung des Museums das Programm der nächsten Jahre gegeben.«75 Begonnen worden sei damit nicht zuletzt bereits im Verborgenen: »das ist vor allem die Arbeit, die auf Ordnung und Ergänzung der bereits manches Tausend von Blättern umfassenden Sammlung von Abbildungen verwendet ist«.76 Gerade mit der Abbildungssammlung präsentiere sich das Germanische Nationalmuseum jetzt schon als Vorbild der kleineren Museen: »[W]ir können die Vereine und kleinen Museen nicht genug auf die Wichtigkeit derartiger Sammlungen aufmerksam machen. Wir können ihnen aber jetzt schon unsere Anordnung, Eintheilung, Aufbewahrungsmethode u. s. w. theilweise als Muster empfehlen.«77
Essenwein reformuliert in seinem Text »Über die Anlage kleiner Museen« den meta-musealen Anspruch des Germanischen Nationalmuseums. Aufseß und seine Mitarbeiter hatten immer wieder die Einzigartigkeit (im Grunde: ›Originalität‹) des Germanischen Nationalmuseums und seiner Struktur herausgestellt. Es war mit keinem anderen Museum, keiner ›bloßen Sammlung‹ zu vergleichen, weil sich in ihm die Gesamtheit aller Sammlungen abbilden sollte. Essenwein hingegen fordert geradezu dazu auf, Museen nach dem (neuen) Modell des kulturhistorischen Museums anzulegen, das im Germanischen Nationalmuseum in vorbildlicher Weise umgesetzt werden soll – und sich bislang insbesondere in der neu strukturierten Abbildungssammlung abzeichne. Die zu Serien geordnete Abbildungssammlung erscheint als ein kulturhistorisches Museum in nuce.
Beschriftungs- und Aneignungspraktiken Eine entscheidende Veränderung zwischen dem Plan von 1867 und dem Programm von 1870 liegt allerdings im Status der Abbildungen. 1867 sah Essenwein diese (zumindest für die kleinen Museen) als unerläßliches Element der Ausstellung an. Im Germanischen Nationalmuseum sind sie jedoch als 75 | Essenwein 1867, Sp. 392. 76 | Ebd. 77 | Ebd.
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spezieller Sammlungskomplex aus dem sichtbaren Schaubereich in die Kapseln und Mappen einer Studiensammlung verschoben worden, die für den Besucher unsichtbar bleiben. Bildete die Abbildungssammlung im Text von 1867 einen Kern der (imaginierten) kulturhistorischen Schausammlung, werden sie im Germanischen Nationalmuseum 1870 eher als deren Untergrund verstanden. Weil das Bilderrepertorium in seiner Gliederungsstruktur genau den Abteilungen der Schausammlung entsprach, konnte es dem Museum als Arbeitsgrundlage dienen, um durch den Vergleich von Abbildungen die kulturhistorischen Entwicklungslinien zu überprüfen oder überhaupt erst zu erfassen, die in der Ausstellung durch eine entsprechende Anordnung von Originalen und Reproduktionen vermittelt werden sollten. Die Neuordnung des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung reflektiert nicht nur die Reorganisation der Schausammlungen, sondern geht dieser parallel – und möglicherweise zum Teil sogar voraus. Das schon im Bestand vorhandene Abbildungsmaterial wurde umgruppiert und eine neue Ordnungsstruktur aus Kapseln und Mappen eingerichtet. Aber auch diese Ordnung war nicht von Dauer. Auch sie wurde später mehrmals überformt und verändert. Die Sammlungsgeschichte des Bilderrepertoriums gleicht einem Strudel von Neuanfängen, in den das jeweils vorhandene Material immer wieder hineingerissen wurde, um immer nur zeitweise zum Stehen zu kommen.78 Die Abbildungen waren vor den Kapseln da – Materialien gehen Konzepten voraus, bevor sie von ihnen erfaßt werden. Welche Spuren der Reorganisation Essenweins lassen sich unter diesen Bedingungen im heutigen Bestand des Bilderrepertoriums auffinden? Auf der Basis einer sammlungsarchäologischen Betrachtung sind die Materialien, aus denen sich das Bilderrepertorium formte und die historischen Konzepte, mit denen sie korrespondierten, an ihren jeweils charakteristischen Spurenmustern zu erkennen. Die älteste Schicht der Sammlung reicht bis in die 1850er Jahre – und damit noch vor die Einrichtung einer speziellen Abbildungssammlung zurück. Abbildungen kulturhistorischer Gegenstände, die zwischen 1853 und 1869 (vorrangig als Geschenke in das Museum) gelangten, wurden zunächst genau wie die entsprechenden Originalgegenstände oder Abgüsse nach den Rubriken des »Systems« katalogisiert.79 78 | In Anlehnung an Benjamin 1972, S. 29: »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.« 79 | Das Spurenmuster dieser Bestandsgruppe (rückseitiger Stempel, Zuordnung zu einer Abteilung des Systems, Beschriftungsblock auf Schauseite links unten, Ordnungsnummer auf Schauseite links oben) findet sich auf zwei Salzpapierabzügen mit Nürnberger Stadtansichten, die aus der Sammlung des Freiherrn von Aufseß stammen und damit wahrscheinlich zum Ursprungsbestand des Germanischen Nationalmuseums zählen (1853). Das letzte Auftreten dieses Spurenmusters wurde im Untersuchungsbestand auf einem Zugang von 1869 festgestellt: »2 Photographien nach Welserschen Grabdenkmalen zu Ravensburg« (ZR 1869/5830). Derzeit in: GNM-Bilderrepertorium, Kapsel 3051.
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Abb. 31: Trinkhorn aus Graz, Aufnahme um 1865 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Zu diesen Objekten zählt die Photographie eines reich verzierten Trinkhorns (Abb. 31). Es handelt sich um einen photographischen Abzug auf Albuminpapier, der auf einen festen Untersatzkarton montiert wurde. Die Beschriftung dokumentiert die Aneignung dieser Photographie durch das Museum. Mit dem obligatorischen Stempelabdruck auf der Rückseite bezeichnete das Museum den Gegenstand als seinen Besitz; gleichzeitig diente die Rückseite des Papiers der ersten Sicherung von Informationen und einer Zuordnung zur musealen Systematik (»Trinkgeschirre, Nr. 280 / Graz«), mit der sich das Museum das Objekt zu eigen machte. Auf dem Untersatzkarton wurden vorne
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die Informationen (an der Schauseite des MedienObjekts) systematisch aufbereitet, die einem zukünftigen Betrachter und Bearbeiter in den Blick gerückt werden sollten. Hier fällt einerseits die links oben mit schwarzer Tusche aufgetragene Nummer 280 auf, andererseits der links unten mit Bleistift ausgeführte Beschriftungsblock, der das abgebildete Objekte in drei kurzen Zeilen klassifiziert, benennt, datiert und lokalisiert: »Keller- u. Trinkgeschirr / Trinkhorn, sog. Greifenklaue. 15. Jhdt. - / In Graz.« Dieses Spurenmuster begegnet einem auf vielen Abbildungen des Bilderrepertoriums.80 Es zeichnet sich insbesondere auf der Schauseite durch Strenge und Formalität aus. Diese normierte Aufnahme von Grundinformationen (1. Zeile: Klassifikation innerhalb der musealen Systematik; 2. Zeile: Objektbezeichnung, Datierung; 3. Zeile: Standort des Objekts) steht sicher in Zusammenhang mit den Repertorisierungsprojekten, die das Germanische Nationalmuseum zumindest bis zur Mitte der 1860er Jahre verfolgte. Die strenge Systematik der Beschriftung ist geeignet, diese Daten in die Register und Repertorien zu übertragen. Die Photographie ist zwar das im Museum vorhandene Objekt, dient hier aber als Hilfsmittel der musealen Dokumentationsziele. Die verzeichneten Informationen verweisen stets auf das abgebildete Objekt, nicht auf die Abbildung selbst, die damit in ihrem Eigenwert strukturell ausgeblendet wird. Im Prinzip könnte ein ganz ähnlicher Beschriftungsblock am gleichen Objekt auch die auf die photographische Technik, die Datierung der Aufnahme und den Photographen verweisen. Und in einer photogeschichtlichen Publikation wäre eine entsprechende Bildunterschrift durchaus der Regelfall: Albuminabzug (um 1865) / Trinkhorn aus einer Sammlung in Graz / Unbekannter Photograph. Auf der Grundlage der Museums- und Medienkonzeption des 19. Jahrhunderts blieb eine solche Wahrnehmung von Photographien aber auch im Germanischen Nationalmuseum ausgeschlossen. Obwohl die Kataloge und Register des Museums (Bestandsübersicht von 1856, Geschenkregister im Anzeiger, altes Zugangsregister) bei allen Abbildungen sehr genau registrierten, ob es sich dabei um Federzeichnungen, Kupferstiche, Photographien usw. handelte, ging die Einordnung dieser MedienObjekte in die Systematik der Sammlungen in der Regel vom Dargestellten und nicht von Art und Technik der Darstellung aus. Ausnahmen bildeten allein jene historischen Bilder, in denen die Abbildung selbst – als Kunstwerk – zum Hauptaspekt wurde, demgegenüber der vermittelte Bildinhalt in den Hintergrund treten konnte. Deshalb mußte bei allen historischen Handzeichnungen und Druckgraphiken, die in den Sammlungsbereich des Museums fielen (der zunächst strikt auf die Zeit bis zum Jahr 1650 begrenzt war), im Einzelfall entschieden werden, ob dabei der künstlerische oder der bildinhaltliche Wert überwog. Solche musealen Interessenkonflikte zwischen der Abbildung und dem Abgebildeten entfielen bei allen jüngeren Abbildungen schon 80 | Die Beschriftung des Kartons ist der Handschrift des von 1853 bis 1875 am Germanischen Nationalmuseum tätigen Konservators August von Eye zuzuordnen. Siehe oben, Kapitel 4.1, Anm. 27.
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aufgrund der festgelegten Sammlungsgrenze.81 Die gerade in den 1860er Jahren intensiv diskutierte Frage, ob Photographien Kunstwerke sein konnten, kam für die Zuordnung im Museum gar nicht erst in Betracht. Beim jungen Bildmedium Photographie mußte im Gegensatz zu anderen (historischen) Bildmedien über einen eventuellen künstlerischen Status gar nicht erst entschieden werden. Die Anordnung der Photographie im frühen Germanischen Nationalmuseum ging damit grundsätzlich von der musealen Zuordnung des abgebildeten Objekts (hier: »Keller- und Trinkgeschirre«) aus. In den Katalogen des Museums wurden das Objekt deshalb gemeinsam mit originalen Gefäßen, Abgüssen und Abbildungen nach dem Prinzip der laufenden Nummer verzeichnet. Diese Gleichberechtigung von Abbildungen (im Katalog) erfuhr jedoch in der Ausstellung der Objekte im Museum eine notwendige Differenzierung. Im »Wegweiser« von 1861 wird beschrieben, daß die Mappen und Rollen mit den historischen Abbildungen der einzelnen Abteilungen zwar dem System folgend sortiert waren, aber nicht in den jeweils entsprechenden Räumen der Kunst- und Altertumssammlungen, sondern gemeinsam im Kunstsaal aufbewahrt wurden.82 Der Grundstock einer Abbildungssammlung im Sinne Essenweins war also bereits vorhanden und konnte in die neue Ordnung des Bilderrepertoriums überführt werden. Einige dieser Mappen, beschriftet von August von Eye, finden sich noch heute im Bestand des Bilderrepertoriums. Die darauf verwendeten Ordnungsbegriffe (z. B. »Staatsschutz./Gerichtsgebräuche, Notariatszeichen«) entsprechen exakt dem differenzierten »System der deutschen Geschichts- und Alterthumskunde«83.
81 | In diesem Zusammenhang erscheint aufschlußreich, was in der Bestandsübersicht von 1650 zur »Steingravirkunst« mitgeteilt wird, der immerhin (anders als der Photographie) eine Stelle im System zugewiesen ist. Weil auch die Lithographie im 19. Jahrhundert erfunden wurde, sind Zeugnisse lithographischer Kunst aufgrund der strikt eingehaltenen Sammlungsgrenze ebenso unmöglich wie solche der Photographie. Die Rubrik im System, die übrigens 1856 noch keine Objekte (sondern nur Verweise auf Objekte anderer Rubriken) enthält, bezieht sich daher eher auf eine Lithographie avant la lettre, Zeugnisse der Kunst und Technik des Steindrucks aus einer Epoche vor der technischen Realisation: »Bekanntlich war in der Periode, die bis jetzt das germ. Museum zur Bearbeitung sich vorgesetzt und aus der die Denkmäler in diesen Katalog aufgenommen sind, der eigentliche Steindruck noch nicht erfunden. Dennoch finden sich grade aus dieser Rubrik einige interessante Beispiele, die um so merkwürdiger sind, als sie einen neuen Beleg dazu liefern wie oft eine Zeit nah vor einer Entdeckung steht, ohne sie zu machen. Die in den Sammlungen befindlichen geätzten und gravirten Steine hätten nur abgedruckt zu werden gebraucht und man hätte Proben des Steindrucks gehabt.« (Germanisches Nationalmuseum 1856b, S. 123). 82 | Germanisches Nationalmuseum 1861, S. 36f. 83 | Die Mappe »Staatsschutz./Gerichtsgebräuche, Notariatszeichen« liegt gemeinsam mit einer Reihe weiterer alter Mappen zu den Unterabteilungen des Bereichs Staatsschutz im GNMBilderrepertorium: Kapsel 1806 (126).
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Das Museum in Kapseln Mit der Einrichtung einer zentralen Abbildungssammlung stellte das Germanische Nationalmuseum diese Ordnungs- und Beschriftungspraktiken von Abbildungen im Germanischen Nationalmuseum um - wobei die se Umstellung weniger als abrupte Änderung, sondern eher als allmählicher Übergang zu verstehen ist. Das betrifft zunächst die Einführung der Kapsel als Ordnungsinstrument. Am Untersuchungsbestand läßt sich zeigen, daß die ältere systematische Ordnung (der Mappen) durch das neue Ordnungsinstrument der Kapseln überformt wurde. Mit den vorhandenen Mappen wurden dabei die durch sie repräsentierten Unterabteilungen des Systems in den Kapseln teilweise zu neuen Oberbegriffen und Gruppen zusammengefaßt.84 So führte die neue Ordnung etwa die Bestandskomplexe »Uhren./Musikinstrumente./ Bucheinbände«85, die zuvor verschiedenen Rubriken des Systems angehörten, in einer Kapsel zusammen, weil Essenwein diese Objekte als Denkmäler aus dem Bereich der Geistesgeschichte in einem engerem kulturhistorischen Zusammenhang betrachtete.86 In anderen Fällen führten die Kapseln dort, wo sich besonders viel Abbildungsmaterial angesammelt hatte, Differenzierungen nach Materialien und Herstellungszeit ein – beispielsweise durch die Beschriftung »Silbergeschirr/16.-18. Jahrhundert«.87 Insgesamt wurde auch der Sammlungsbereich, den die Kapseln abdeckten, über die von Aufseß gesetzten Grenzen der deutschen Kulturnation und die Zeit bis 1650 hinaus erweitert. Und da sich in den Kapseln wissenschaftliches Vergleichsmaterial ansammeln sollte, ging das Museum der Kapseln hier auch weiter als die neuen Schausammlungen des Museums. Eine Kapsel ist beschriftet: »Bürgerliche Baukunst. / Frankreich. England. / Spanien. Italien«;88 eine andere: »Moderne Architektur«.89 Hierfür war vermutlich im Museum bisher nur wenig Abbildungsmaterial vorhanden; um so mehr brachte davon August Essenwein selbst ein. Bereits im Monat seines Amtsantritts (März 1866) übergab Essenwein dem Museum seine Privatsammlung als Depositum, das den Sammlungen 84 | Es finden sich keine in dieser Handschrift beschriftete Mappen (Handschrift August Essenweins, vgl. dazu oben, Kapitel 4.1, Anm. 27). Innerhalb der Kapseln verwendete Essenwein offenbar teilweise die älteren Mappen weiter, teilweise legte er Trennkartons an. Trennkartons sind bereits auf eine Ordnung des Materials in Kapseln ausgelegt. Sie erfüllen ihre Funktion, so lange die Ordnung innerhalb der Kapseln erhalten bleibt. Die meisten der erhaltenen Trennkartons erfüllen heute keine Funktion mehr. Eine große Anzahl solcher Kartons findet sich in den Kapseln mit Waffendarstellungen, z. B. Kapsel 1840a. 85 | GNM-Bilderrepertorium: Rückenetikett der Kapsel 1757 (91). 86 | Vgl. Essenwein 1870/1978, S. 998: In der Neugliederung der Abteilungen folgen Büchereinbände (Nr. 21) Musikalische Instrumente (Nr. 22) und Astronomische, geographische und mathematische Instrumente (Nr. 23) einander nach. 87 | GNM-Bilderrepertorium: Rückenetikett der Kapsel 1749 (105). 88 | GNM-Bilderrepertorium: Rückenetikett der Kapsel 1844. 89 | GNM-Bilderrepertorium: Rückenetikett der Kapsel 1623 (38).
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»einverleibt« werden sollte.90 Als Architekt, Kunstgewerbler und Kulturhistoriker hatte Essenwein durch eigene Skizzen und Zeichnungen,91 aber auch durch erworbenes Abbildungsmaterial eine eigene Sammlung zusammengebracht, die er als Arbeitsmittel sowohl für die praktische Arbeit (Entwürfe und Dokumentation), als auch für seine vergleichenden wissenschaftlichen Studien nutzte. Dem Zugangsregister nach handelte es sich bei dieser Sammlung um fast 2000 Objekte – überwiegend Reproduktionen und Abbildungen.92 Die Bemühungen des Museums, sich diese Abbildungssammlung nach dem »System« des Museums und den im »Organismus« festgelegten dokumentarischen Anforderungen »einzuverleiben«, bedeutete deshalb einen enormen zeitlichen und administrativen Aufwand. Die Objekte dieser Sammlung, die über die Kapseln des Bilderrepertoriums verstreut sind, lassen sich durch einen Stempel identifizieren, der ihnen aufgedrückt wurde. Dieser Stempel mit dem gotischen Buchstaben »E« findet sich unter anderem auf den Aufnahmen aus Ceylon (Ruinen) und Konstantinopel (Bauwerke),93 die im alten Zugangsregister einzeln als Depositum Essenweins aufgeführt sind und sich dadurch identifizieren lassen.94 Samm90 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1866, Sp. 98.: Im Anzeiger wurde diese Leihgabe als wesentliche Bereicherung der Sammlungen erwähnt: »Die Sammlungen unseres Institutes, und zwar sämmtlichen Abteilungen derselben, ist [...] manches Neue und Interessante auch dadurch zugeführt worden, daß denselben mit dem Eintritt Prof. Essenwein’s das von diesem bisher Gesammelte als Depositum einverleibt wurde. Insbesondere ist dadurch die bisher nur sehr schwache Sammlung von geometrischen und perspectivischen Ansichten, Grundrissen u. s. w. deutscher Baudenkmale um einige tausend Blätter, die noch nicht vorhanden waren, vermehrt worden.« 91 | Essenwein hatte sich übrigens bereits 1852 als Zeichner am Germanische Nationalmuseum beworben (GNM-Akten K 3, Nr. 15, fol. 1). 92 | Das Depositum wurde in mehreren Teillieferungen übergeben. Neben einigen plastischen Reproduktionen (galvanoplastische Arbeiten und Gipsabgüsse) und sehr wenigen Originalen (Bucheinbände) handelte es sich vorrangig um architektonische Zeichnungen, Photographien und Drucke, aber auch um Abbildungen von Kunstgegenständen. Die beiden größten Einzellieferungen des seit März 1866 immer wieder ergänzten Depositums sind im alten Zugangsregister des Germanischen Nationalmuseums verzeichnet unter ZR 1866/5134: »1061 architekton. Darstellungen in Zeichnung, Photographie u. Druck.; 11 Photographieen mit architekton. u. plast. Darstellungen von der Insel Ceylon.« und ZR 1866/5158: »597 Blätter in Stich, Farbendruck, Photographie u.s.w. mit Abbildungen von Kunstgegenständen u. a.« 93 | Die Aufnahmen aus Konstantinopel und Ceylon finden sich im Bilderrepertorium in der Kapsel 1850 (114b). Die nach 1920 als »Kunstgewerbe/Orientalisch« bezeichnete Kapsel umfaßt einen Großteil derjenigen Objekte, die sich nicht in die an der europäischen Kunstgeschichte orientierten, übrigen Kapseln eingliedern lassen. Japanische Waffen, persische Teppiche und Tempelruinen aus Sri Lanka (Ceylon) finden hier zusammen. 94 | In einigen Fällen korrespondiert der Stempel auch mit einer auf der Rückseite des Kartons notierten zusätzlichen Signatur mit dem Kennbuchstaben E. Die niedrigste im Untersuchungsbestand aufgefundene Zahl ist E. 66 (GNM-Bilderrepertorium, Kapsel 1816 (110), Photographie, beschriftet »Thüren, Fenster, Beschläge./Schlösser, Schloßbeschläge u. Thürklopfer«);
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lungsarchäologisch ist es interessant, daß nur ein Teil dieser gestempelten Objekte noch in der alten Form nach dem System beschriftet und numeriert worden ist. Während sich die Zuordnungen zu den Gruppen des Systems noch länger als Teil der Beschriftung von Abbildungen halten, ist der Verzicht auf die zuvor links oben aufgeschriebene Ordnungsnummer die deutlichste sichtbare Veränderung für die Neuordnung des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung. Dies erscheint als eine im Wortsinn marginale Veränderung. Sie ist jedoch das Indiz eines veränderten Verhältnisses des Germanischen Nationalmuseums zu seinem Abbildungsmaterial. Abbildungen werden nun massenhaft angeeignet. Und diese Masse kann auf die herkömmliche Weise nicht mehr bearbeitet werden. Bezeichnenderweise wird im Jahresbericht für 1868 mit der Erwähnung des großen Zuwachses der neu geordneten Abbildungssammlung zugleich die Notwendigkeit zur Revision des »Organismus« herausgestellt.95 1870 stellte Essenwein rückblickend klar, daß Abbildungen infolge ihrer massenhaften Aneignung durch das Museum seit einigen Jahren nicht mehr mit dem früheren Aufwand katalogisiert werden konnten: »Früher wurden alle neue Zeichnungen, Abbildungen u. s. w. gleichfalls mit Nummern und Katalogzetteln versehen und als Theile der Hauptsammlung betrachtet, überhaupt im Kataloge ebenso wie Originalgegenstände behandelt. Dies war möglich, so lange die Zahl der Abbildungen eine beschränkte war. Als jedoch das Direktorium die Nothwendigkeit empfand, die Sammlung dieser Abbildungen entschieden zu fördern, und als in den jüngsten Jahren die Zugänge in Folge dessen tausendweise geschahen, war es nicht mehr möglich, dieses System aufrecht zu erhalten. Die Einrichtung mußte daher so getroffen werden, daß die Blätter durch ihre systematische Ordnung einen Katalog vollständig überflüssig machten, und daß daraus nach und nach das jetzt fast alle Abtheilungen der Sammlungen begleitende Bilderrepertorium entstand«.96
In der Reorganisation des Museums bedeutete die ›Abkapselung‹ der Abbildungen demnach keine Abwertung ihrer Bedeutung für das kulturhistorische Museum. Im Gegenteil: eine »systematische Vermehrung« des Bilderreperto-
die höchste Zahl ist 1772 (GNM-Bilderrepertorium, Photographie, beschriftet: »Glasmalerei./ Zu St.Stefan in Wien. 14. Jhdt.« in Kapsel 1753 (98)). Dieses Spektrum entspricht somit ziemlich genau dem Gesamtumfang des von Essenwein im Jahr 1866 hinterlegten Depositums (Die Summierung der im alten Zugangsregister eingetragenen Abbildungen ergibt 1811 Stück). Sowohl in photohistorischer als auch in photoästhetischer Hinsicht wäre dieser Bestand heute durchaus als eine Sammlung des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken. Die sauber aufgezogenen und in vielen Fällen noch gut erhaltenen Salzpapier- und Albuminabzüge stammen teilweise von namhaften Photographen (Andreas Groll, Carlo Ponti, Pascal Sebah) und offenbaren insgesamt einen Qualitätsanspruch an das photographische Bild, der dieses Konvolut vom Gesamtbestand der Photographien im Bilderrepertorium abhebt. 95 | 15. Jahresbericht des germanischen Museums 1869 (für 1868), S. 2. 96 | Essenwein 1870/1978, S. 1021.
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riums wurde »geradezu als die wichtigste Arbeit des Museums«97 bezeichnet, wobei die Photographie als das prädestinierte Medium der neuen Konzeption erschien.98 Essenwein setzte darauf, daß dem Museum viele entsprechende photographische Abbildungen geschenkt werden würden. Die Hauptrolle, die der Photographie im Bilderrepertorium in der Folgezeit zuwuchs, beruhte zunächst nicht so sehr auf qualitativen Zuschreibungen (etwa im Vergleich zur Zeichnungen) – sondern auf der Quantität von Photographien als seriell produzierten Bildern. Die Vorstellung einer systematischen Vermehrung durch die Eingliederung von Photographien, die das Museum weder selbst herstellte, noch aktiv selektierte, ist aber nur verständlich vor dem Hintergrund eines expandierenden Marktes für Kunstreproduktionen und Photographien historischer Objekte im Zeitalter der Berufsphotographie. Die Einrichtung des Bilderrepertoriums am Germanischen Nationalmuseum erweist sich deshalb auch als ein Versuch, das durch die Photographie aufgekommene und in den 1860er Jahren zunehmend wirkungsmächtige Phänomen massenhaft verfügbarer Bilder durch Ordnungspraktiken zu beherrschen und in den Dienst des kulturhistorischen Museums zu stellen. Gleichzeitig war der Verzicht auf eine Katalogisierung dieser Abbildungen aber eine aus museologischer Sicht prekäre Entscheidung. Denn dadurch fehlte den neuen Objekten des Bilderrepertoriums eine eindeutige Signatur, auf der die langfristige Identifizierbarkeit, Lokalisierbarkeit und Adressierbarkeit eines Objekts im Museum basiert.99 Die materielle Anordnung in den Kapseln wird mit der medialen Zuordnung innerhalb eines Bedeutungssystems gleichgesetzt. Die Objekte und ihre Bedeutung stehen damit in einer fragilen Verbindung. Die heutige Gestalt des Bilderrepertoriums zeigt, daß die Hoffnung vergeblich war, eine dauerhafte Ordnung herzustellen, die das darin organisierte Material gleichzeitig (als Medium) erschließt. Retrospektiv scheint damit der zukünftige Status der Abbildungen als museale Rückstände vorgezeichnet. In einigen Kapseln findet sich auf der Innenseite des Kassettendeckels die Aufforderung: »Die Besucher werden dringend ersucht, die geordnete Reihenfolge der Blätter zu schonen und diese genau wieder in die Lage zu bringen, in welcher sie vorgefunden werden.«100 Die geordnete Einkapselung von Abbil97 | Ebd. 98 | Die Möglichkeit, zukünftig systematische Kopien durch eigene Künstler herstellen zu lassen, schloß Essenwein nicht grundsätzlich aus, sondern nur aus pragmatischen Gründen zurück. Deutlich wird dies besonders bei den Arbeiten am Wappenrepertorium (einem dem Bilderrepertorium vergleichbaren Projekt zur bildlichen Erfassung und Ordnung aller abgebildeten Wappendarstellungen, das ebenfalls in den 1850er Jahren begonnen worden war): »Indessen mußte auch diese Arbeit vorläufig sistiert werden, da sie noch auf Jahre hinaus mindestens 2 Beamte ausschließlich beschäftigt haben würde, einen zeichnenden und einen schreibenden; denn ungefähr 6 Jahre haben zwei Beamte gearbeitet, um das gegenwärtige Resultat zu erzielen.« (Essenwein 1870/1978, S. 1022). 99 | Zur informationstheroetischen Bedeutung der laufenden Nummer: Ernst 2003, S. 784. 100 | Z. B. GNM-Bilderrepertorium, Kapsel 1759 (88).
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dungen innerhalb der Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums ist die Gründungsszene der noch heute in Resten überdauernden Bilderrepertoriums, zugleich aber auch ›Urszene‹ der späteren Ruinengestalt.
Museale Konstellationen von Photographie und Reproduktion Es gibt im Bestand des Bilderrepertoriums eine Konstellation zweier Fundstücke, in denen sich unterschiedliche Konzepte der materiellen und medialen Aneignung (durch Reproduktion, photographische Abbildung, Musealisierung) überlagern. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Frage, wie Medien im Museum des 19. Jahrhunderts gebraucht und wahrgenommen worden sind. Die beiden Photographien geben anscheinend das gleiche Objekt wieder. Beide zeigen ein kunstvoll gearbeitetes Taufbecken mit auffälligen allegorischen Trägerfiguren – dies jedoch aus unterschiedlicher Perspektive und in jeweils anderer Umgebung. Der museale Beschriftungsblock links unten ordnet beide Abbildungen dem Bereich der »Altäre und Sacrarien« zu und verweist (wenn auch mit den unterschiedlichen Worten »Taufkessel« bzw. »Taufstein«) auf ein und dasselbe Objekt: das schon damals kunsthistorisch bekannte bronzene Taufbecken aus dem Hildesheimer Dom (Abb. 32 u. Abb. 33). Auf der Rückseite des kleineren Kartons findet sich eine Notiz. Darin werden Gipsabgüsse des Taufbeckens beworben, die der Hildesheimer Bildhauer Küsthardt abgeformt habe. Im Zugangsregister findet sich dazu ein Eintrag, in dem Ende 1862 der Bildhauer Friedrich Küsthardt als Geschenkgeber einer »Photographie nach dem Taufkessel im Dome zu Hildesheim« verzeichnet wurde. Der zweite, größere Karton ist wohl einer Serie von »14 Bll. photogr. Aufnahmen von architekton. u. plastischen Denkmäler zu Bamberg, Nürnberg, Regensburg u. a. O.« zuzuordnen, die dem Museum im Mai 1869 von dem Lübecker Photographen Johann Nöhring geschenkt wurde, dessen Namenszug auf dem Karton aufgedruckt ist.101 Trotz ihrer gemeinsamen Referenz (das Taufbecken aus dem Hildesheimer Dom) wurden die beiden Photographien in unterschiedlichen Kapseln des Bilderrepertoriums aufgefunden. Nach der Maßgabe des sachlogischen Nebeneinanders, auf das Essenwein bei der Einrichtung des Bilderrepertoriums gesetzt hatte, müßten die beiden Photographien in näherer Nachbarschaft zueinander stehen. Nöhrings besonders großformatige Photographie sprengt jedoch die Kapazität der üblichen Ordnungskapseln. Sie ist in einer speziell für überformatige Kartons bestimmten Kapsel aufbewahrt, deren heterogene Struktur nicht auf einen Ordnungsbegriff gebracht werden kann und deshalb lediglich mit »Bilderrepertorium« bezeichnet ist. Der Verzicht auf eine Katalogisierung des Bilderrepertoriums erweist sich damit nicht nur auf einen längeren Zeitraum der Museumsgeschichte als prekär. Schon im Moment der Einordnung in die Kapseln kann die Logik des Sachzusammenhangs durch 101 | Altes Zugangsregister des GNM: Küsthardt: S. 364 (ZR 1862/4230), Nöhring: S. 550 (ZR 1869/5824).
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Abb. 32: Friedrich Küsthardt, »Taufkessel«, 1862 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg die Logistik der materiellen Lagerung durchbrochen werden. Ordnungszusammenhänge können aber auch durch spätere Neugruppierungen verloren gehen. Küsthardts Photographie des Taufbeckens wird in einer Kapsel aufbewahrt, die im 20. Jahrhundert unter kunstgewerblich-materialtypologischen Aspekten neu gruppiert wurde. Heinrich Höhn, der das Kupferstichkabinett zwischen 1919 und 1942 leitete, beschriftete die Kapsel mit »Kunstgewerbe. / Bronce. / Kirchliches Gerät: Kreuze, Weihrauchfässer, Becken, Taufsteine, Lesepulte, Brunnen, Glocken.«102 Tatsächlich wurde in keinem der beiden Fälle die Bronzetaufe im Hildesheimer Dom photographiert. Küsthardts Aufnahme zeigt offenbar ein Exemplar jener Gipsabgüsse, für deren Ankauf er mit Übersendung der Photographie geworben hatte. Diese Differenz wird photographisch durchaus registriert – anders, als es bei einer zeichnerischen Darstellung nach einem Gipsabguß der Fall sein müßte. So gibt die stumpfe Textur des Beckens nicht die Oberfläche von Bronze, sondern Gips wieder; und die Objektumgebung 102 | GNM-Bilderrepertorium, Kapsel (106). Handschrift von Heinrich Höhn (siehe dazu oben, Kapitel 4.1, Anm. 27). Höhn durchlief ab 1909 eine klassische Ausbildung im Germanischen Nationalmuseum, zunächst als Volontär, dann als Praktikant, später wurde er Assistent und Konservator, schließlich (zwischen 1934 und 1942) war er als Hauptkonservator für das Kupferstichkabinett verantwortlich (dazu: Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1125).
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Abb. 33: Johann Nöhring (Photograph), »Taufstein«, 1868 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg erscheint im Bild durch die grobe Steinpflasterung, das Metallgestell und das Podest eher als eine Werkstattsituation – und nicht als Kirchenraum im Dom zu Hildesheim. Und bei Nöhrings Photographie fällt die Diskrepanz zwischen der aufgeklebten Beschriftung des Photographen (»Alter Taufstein, im Germanischen Museum in Nürnberg«) und der Objektbezeichnung des Museums (»Taufstein im Dome zu Hildesheim«) ins Auge (Abb. 34 u. Abb. 35). Sie läßt sich leicht aufklären. Denn bei dem Gegenstand, den Nöhring in Nürnberg photographiert hatte, handelte es sich um einen der Gipsabgüsse Küsthardts. Dieser war im Juni 1863 durch Vermittlung des Königs von Hannover in das Muse-
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Abb. 34: Beschriftungsblock zur Photographie von Nöhring um gelangt.103 Eine Handzeichnung aus dem Jahr 1868 zeigt den Abguß des Taufbeckens als Exponat des Germanischen Nationalmuseums genau hinter der Brüstung, die Nöhring mit dem Gipsabguß ablichtete.104 Solche Differenzen bieten einen Ansatzpunkt für die Frage nach einer spezifischen Betrachtungsweise von Photographien und Reproduktionen im Museum des 19. Jahrhunderts. Die vom Photographen gewählte Bezeichnung als »Alter Taufstein, im Germanischen Museum in Nürnberg« erscheint widersprüchlich: was sich ihm und seiner Kamera im Museum gezeigt hatte, war ein Gipsabguß nach einem alten Taufstein oder schlicht ein Taufstein, nicht jedoch ein alter Taufstein. Die Ungenauigkeit des Photographen reflektiert ein eher geringes Interesse an den materiellen und temporalen Differenzen zwischen Originalen und Reproduktionen. Die Beschriftung bezieht sich auf die photographisch abgebildete Form (»alter Taufstein«) und den konkreten Ort der Aufnahme (»im Germanischen Museum in Nürnberg«). Demgegenüber privilegierte das Germanische Nationalmuseum bei der Beschriftung von Abbildungen grundsätzlich die abgebildeten Objekte. In diesem Fall zeigte die Photographie jedoch einen Gipsabguß – und dieser Status des photographierten Objekts wurde auf dem Karton direkt hinter der Beschriftungszeile Nöhrings registriert (»Gypsabguß«). Weil aber auch Gipsabgüsse im damaligen Museumskonzept als Stellvertreter nicht materiell vorhandener Originale fungierten, verweist der Beschriftungsblock links unten trotzdem auf das Objekt das am Beginn dieser Verkettung von Vermittlungsschritten gesehen wird: der »Taufstein im Dome zu Hildesheim«. An diesem Beispiel zeigen sich Verflechtungen zwischen dem Germanischen Nationalmuseum, den Reproduktionstechniken des 19. Jahrhunderts und dem Medium Photographie. Die beiden Photographien, das Bilderrepertorium, der Gipsabguß im Museum, die Verzeichnungspraktiken des Museums, die Werkstatt des Gipsgießers und das bronzene Taufbecken im
103 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1863, Sp. 218. 104 | Abgebildet bei: Andrian-Werburg 2002, S. 43.
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Abb. 35: Ergänzende Beschriftung der Photographie von Nöhring Hildesheimer Dom verbinden sich als Elemente eines Bezugssystems, das in vereinfachter Form vorführt, was Bruno Latour als Prinzip der »wissenschaftlichen Referenz« beschrieben hat, nämlich eine Kette von Transformationsprozessen, die mit jedem Schritt bestimmte Anschlüsse und Formen der Bezugnahme innerhalb wissenschaftlicher Praktiken und Diskurse ermöglicht. Anders als bei einer binär gedachten Opposition von Materie und Form, Ding und Zeichen versteht Latour jedes Element innerhalb einer solchen Kette als materiell-dinglichen Bezugspunkt für das folgende und als formal-zeichenhafte Bezugnahme auf das vorausgehende Element. Im wissenschaftlichen Kontext werden solche Verkettungen als kohärent wahrgenommen, wenn sie nach Regeln erfolgen, die nachvollziehbar und überprüfbar erscheinen.105 Wissenschaftliche Referenz kann dann entlang dieser Kette »zirkulieren« (wie Latour schreibt), wenn die einzelnen Transformationsschritte die Möglichkeit bieten, die bestehende Kette der Referenz bis zu ihrem Ursprung hin kritisch zu überprüfen. »Sobald man die Erweiterung dieses Netzes jedoch an einem der beiden Enden unterbricht, es nicht mehr aufrechterhält, es vom Nachschub abtrennt, es an einem beliebigen Punkt zerschneidet, beginnt es zu lügen. Es referiert nicht mehr.«106 Übertragen auf das Forschungsfeld dieser Dissertation bedeutet dies: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergaben sich aus dem expandieren Netzwerk von Museen, Objektsammlungen, Reproduktionen und Photographien Bezugssysteme, denen (zwischenzeitlich) Kohärenz und Plausibilität zugesprochen wurde. Eine naive Gleichsetzung von Original und Reproduktion, wie sie häufig für den Umgang des 19. Jahrhunderts mit dem Medium Photographie angenommen wurde, ist daraus jedoch nicht abzulesen. Viel105 | Latour 2000. In einfacher Form deshalb, weil diese Verkettung von Reproduktionen am Prinzip der Ähnlichkeit orientiert bleibt, das gerade in den naturwissenschaftlichen Diskursfeldern, denen Latours besonderes Interesse gilt, zugunsten abstrakterer Transformationsschritte aufgegeben ist. 106 | Latour 2000, S. 92.
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mehr artikuliert sich (z. B. in der abgeänderten Beschriftung der Photographie Nöhrings, die eine Durchsicht auf das Original mit einer Sicht auf den Gipsabguß verbindet) ein sensibles Wissen um die medialen, materiellen und temporalen Differenzen zwischen Vorbildern, Nach- und Abbildungen; gleichzeitig dokumentiert die Beschriftungspraxis aber auch den Willen, beim Gebrauch von Photographien und Reproduktionen im Museum von diesen Differenzen abzusehen.107 Es findet sich auf dem Karton von Nöhrings Photographie ein jüngerer Bleistiftnachtrag aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei einer der Sichtungen der Ruine des Bilderrepertoriums mag die Differenz zwischen der museumsinternen und der externen Beschriftung aufgefallen sein. Unterhalb des alten Beschriftungsblocks wurde mit der ergänzten Datierung »Ende 19. Jh.« ganz bewußt auf den Abguß und nicht (mehr) auf das dabei reproduzierte Vorbild des Hildesheimer Taufbeckens referiert. Die Betrachtungsebene wird entlang der Kette der Referenz verschoben: vom Taufbecken zum Gipsabguß – aber nicht bis zur Photographie. Die Funktionen von Photographien und Gipsabgüssen im Museum waren im 20. Jahrhundert auseinandergetreten. Als inzwischen alltägliches Arbeitsinstrument und unverzichtbares kunsthistorisches Hilfsmittel schienen Photographien noch immer geeignet, eine Durchsicht auf den jeweils photographierten Gegenstand zu ermöglichen. Am Gipsabguß, der längst seine frühere Bedeutung als Stellvertreter nicht verfügbarer Sammlungsstücke verloren hatte und nun seinerseits als historisches Medium wahrgenommen wurde, blieb der museale Blick nunmehr hängen. In diesem Fall trägt vielleicht auch der Verlust des abgebildeten Objekts zum Perspektivwechsel bei. Küsthardts Gipsabguß des Taufbeckens ist während des Zweiten Weltkriegs zerstört worden und zählt heute zu den zahlreichen »Totalverlusten« der Abgußsammlung.108 Verluste innerhalb einer Kette der Referenz irritieren die alltägliche Praxis, die Differenzen zwischen den einzelnen Transformationsstufen zugunsten der Möglichkeit wissenschaftli107 | Auch andere Photographien Küsthardts belegen diesen Zusammenhang. Vgl. Altes Zugangsregister des GNM, S. 741 (1875/7425): »5 Blttr. Photographieen vom Kronleuchter im Dome zu Hildesheim, nach der Copie genommen.« Vgl. die 5 Photographien in Kapsel 1857 (107). Obwohl Küsthardt auf dem Karton die »künstlerische Umgestaltung der Copie« besonders erwähnte, bezieht sich der museale Zuordnungsblock auf das Original »Kronleuchter 11.Jahrh./Im Dom zu Hildesheim«. 108 | Auskunft von Frank Matthias Kammel, Sammlungsleiter am GNM. Unter den Bedingungen eines tiefgreifend veränderten Mediensystems treten die verdrängten Bestände zu Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich wieder ins Bewußtsein. Unter dem sprechenden Titel »Ungeliebtes Inventar« stellte das Germanische Nationalmuseum im Jubiläumsjahr 2002 erstmals wieder Teile seiner Sammlung von Gipsabgüssen aus. Als »greifbare Bewußtmachung« und »grundlegende Aufarbeitung« von Museumsgeschichte angekündigt, sollte die Ausstellung Gelegenheit bieten, »über Funktionen und Aufgaben von Museen in einer modernen Mediengesellschaft neu nachzudenken« (Pressemitteilung, 9.12.2002). Es blieb ein vorerst kurzes Aufflackern medialer Selbstreflexion. Katalog und Begleitheft wurden aus Kostengründen eingespart.
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cher Bezugnahme ausblendet. Verluste sind deshalb – wie auch bereits anhand von Kaulbachs Museumsfresko dargestellt – epistemologisch interessant, weil sie eine Chance bieten, diese Transformationen in ihrem jeweiligen Effekt und in ihrer Funktion wahrzunehmen.
4.3 D OPPELGÄNGER – D AS B ILDERREPERTORIUM UND DIE G ENEALOGIE DES IMAGINÄREN M USEUMS Die Einrichtung des Bilderrepertoriums um 1870 läßt sich als eine frühe Annäherung der Institution Museum an ein Potential des Mediums Photographie verstehen, das André Malraux Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff des Musée Imaginaire gebracht hat. Als Ordnung von Abbildungen historischer Objekte konnte das Bilderrepertorium als Spiegel- und Gegenbild der ausgestellten Sammlungen fungieren, mit denen das Museum in die Öffentlichkeit trat. Ein Spiegelbild deshalb, weil beide nach den gleichen Ordnungsprinzipien eingerichtet waren; ein Gegenbild, weil im Bilderrepertorium umfangreichere und grundsätzlich andere Kombinationen von Objekten möglich waren. Bevor aber geprüft werden soll, was eine Analyse des Bilderrepertoriums als imaginäres Museum zu dessen Verständnis beiträgt, steht das Konzept des Musée Imaginaire selbst im Mittelpunkt. Es ist zu fragen, in welche Perspektive dieses Konzept die Beziehungsgeschichte von Museum und Photographie stellt und in welchem Verhältnis Malraux’ Reflexionen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zu den Medien- und Museumspraktiken des 19. Jahrhunderts stehen.
André Malraux und die Vorstellung des Musée Imaginaire »Le Musée Imaginaire« war ein kunstschriftstellerisches Projekt, das André Malraux über einen längeren Zeitraum umtrieb. Begonnen Mitte der 1930er Jahren und teilweise von den parallelen Überlegungen Walter Benjamins über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« beeinflußt, formulierte Malraux seine Ideen bis zur Mitte der 1950er Jahre in verschiedenen Versionen aus.109 Die französische Erstfassung erschien 1947 in Genf (als Teil 1 einer dreibändigen »Psychologie de l‘art«), die deutsche Übersetzung kurz darauf in Baden-Baden. Beide Bücher sind mit zahlreichen Schwarzweiß-Illustrationen und einigen Farbtafeln versehen, die Malraux’ Thesen performativ vermitteln. 1951 aktualisierte Malraux seine früheren Überlegungen zum Musée Imaginaire durch eine Rekombination und Modifikation der frühren Textbausteine noch einmal in dem Buch »Les Voix du 109 | Zum Einfluß Benjamins: Benjamin 2007, S. 88–90. Zur Publikationsgeschichte: Krauss 2002, S. 390. In der Veröffentlichung von 1951 wurde die Zahl der Illustrationen deutlich reduziert. Ich beziehe mich im folgenden hauptsächlich auf die deutsche Fassung von 1949 (Malraux 1949).
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silence« (deutsch: »Stimmen der Stille«). In »Le Musée Imaginaire de la sculpture mondiale« (1952-54) setzte Malraux das Prinzip schließlich in drei Bildbänden praktisch um. Malraux geht es um die Frage, wie die Möglichkeit photographischer Kunstreproduktionen das Denken über die Kunst verändert. Seine Überlegungen stellen die Photographie und das Museum in ihren jeweiligen Effekten auf die Kunstbetrachtung in eine strukturelle Analogie. Nach Ansicht von Malraux hat sich mit der Möglichkeit photographischer Reproduktion die Wahrnehmung von Kunst verändert – genau wie dies zuvor mit der Formierung des öffentlichen Museums um 1800 geschehen war. Sowohl durch die museale als auch durch die photographische Aneignung würden Gegenständen aus ihren früheren Zusammenhängen gelöst und in einen neuen Zusammenhang eingerückt. Beide dekontextualisieren das Objekt und ermöglichten dessen Rekontextualisierung durch die Anordnung in einem visuellen Wahrnehmungsraum – sei dieser nun durch die Wände der Galeriesäle definiert oder durch die Seiten eines illustrierten Kunstbuchs. In beiden Fällen würden sehr unterschiedliche Gegenstände als Objekte vergleichender Betrachtung zusammengestellt, wodurch ihr gemeinsamer Charakter (als Kunst) überhaupt erst erkenn- und diskutierbar würde. Die Verwandlung von Gegenständen, die in jeweils spezifische Gebrauchsweisen und Zusammenhänge eingebunden waren, in Objekte visuellen Interesses (einen Transformationsprozeß, den Svetlana Alpers später als »the museum effect« beschrieben hat)110 sieht Malraux durch die photographische Reproduktion aufgenommen, fortgeführt und verstärkt – und dabei zugleich transzendiert. Malraux versteht dabei Reproduktion‹ immer als photographische Wiedergabe von Kunstwerken: »Die Reproduktion gestaltet ein imaginäres Museum, in dem Tafelbild, Fresko, Miniatur und Glasfenster dem gleichen Bezirk zugehören. All diese Miniaturen, Fresken, Glasfenster, Teppiche, skythischen Schmuckstücke, Gemälde, griechische Vasenbilder – selbst die plastischen Bildwerke – sind zu Abbildungen geworden. Was haben sie damit verloren? Ihre Eigenschaft als Gegenstände. Und was gewonnen? Die stärkste Bedeutung, die sie im Sinne eines künstlerischen Stils überhaupt gewinnen können.« 111
Das imaginäre Museum ermögliche damit eine neue Form der Kunstbetrachtung, die sich von den Grenzen des Museumsraums emanzipiert. Malraux kunsttheoretischer Ansatz verlagert das Interesse vom einmaligen, originalen Werk als materieller Ausdrucksform von Kunst auf die reine visuelle Form, die durch die Photographie ein mediales Eigenleben entwickelt. Im freier kombinierbaren Neben- und Nacheinander der photographischen Abbildungen könnten die abgebildeten Kunstzeugnisse einen gemeinsamen visuellen Stil offenbaren, der innerhalb der Wände eines Museums aufgrund der unterschiedlichen Materialien, Dimensionen und Farben verborgen bliebe. Im Umgang mit Photographien ergäben sich neue Vergleichsmög110 | Alpers 1991, S. 25–28. 111 | Malraux 1949, S. 42–44.
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lichkeiten, mit denen bisher verborgene Objektbeziehungen in den Blick treten könnten. Malraux’ Musée Imaginaire steht somit für eine Auflösung der traditionellen Systematik musealer Ordnungen und für eine kreative Kombinatorik anhand visueller Ähnlichkeiten und/oder Analogien; es steht für eine Wahrnehmung von künstlerischen Stilgemeinsamkeiten, die überhaupt erst durch den Vergleich von Photographien erkennbar werden – gleichsam für eine Präsentation von Kunst, die das Museum als privilegierten Ort der Kunstbetrachtung hinter sich läßt, die Idee des Museums entgrenzt und es fast nur noch als Reservoir photographischer Aufnahmen benötigt, die in immer neuen Kombinationen publiziert werden können.112 André Malraux war Kunstschriftsteller, Abenteurer, Kunsträuber, Revolutionär und Kulturminister.113 Ein multipler Grenzgänger – unter anderem zwischen Avantgarde und Tradition. Seine Überlegungen zum imaginären Museum nehmen kritische Wertungen an der traditionellen Institution des Museums auf, wie sie vor Malraux etwa von Paul Valéry formuliert worden sind, geben der Idee des Museums als Medium der Tradierung des kulturellen Erbes aber durch die Aktualisierung dieser Funktion im neuen Medium der photographischen Reproduktion eine positive Wendung.114 Deutlicher noch als Walter Benjamin, dessen Reflexionen im Kunstwerk-Aufsatz häufig als Kritik an der Reproduktionstechnik (miß)verstanden wurden, begrüßt Malraux diese Entwicklung als Befreiung der künstlerischen Interessen der Moderne, in der es möglich wird, sich aus einem nunmehr handhabbar gewordenen Gesamtbestand des künstlerischen Erbes aller Zeiten und Kulturen beliebige Ahnenreihen zusammenzustellen.115 Sein Musée Imaginaire eröffnet intellektuelle Experimentierfelder, die einerseits das Wissen um Kunst, andererseits aber auch den Fundus künstlerischer Ausdrucksweisen bereichern sollen. Das imaginäre Museum tritt aber nicht einfach an die Stelle des realen Museums und ersetzt dieses. Vielmehr entsteht es neben diesem und beeinflußt dadurch als Rückwirkung auch die Wahrnehmung von Kunst im Mu112 | Der Titel der englischen Übersetzung »Museum without walls« (1949) betont den Aspekt der Entgrenzung besonders. Die Ersetzung der Materialität der Kunstwerke durch die medial vermittelte Form ist häufig in Beziehung gesetzt worden zu den phototheoretischen Überlegungen des amerikanischen Arztes Oliver Wendell Holmes, der um 1860 angesichts der Stereoskopie die Materialität der Gegenstände für überflüssig erklärte, sobald sie der Photographie als Vorlage gedient hätten (in: Kemp 1999, S. 114–121). 113 | Zur Biographie Malraux’: Harris 2000. Vgl. zu »Malraux’s seemingly contradictory nature« auch Hershberger 2002, S. 269, der diese Widersprüche, Paradoxien und Ambiguitäten auch mit Malraux’ Phototheorie zusammenbringt (ebd., S. 273). 114 | Valéry 1934/1993; daran schließt etwa Adornos Museumskritik an (Adorno 1953/1998). 115 | Malraux 1949, S. 44: »Neben dem Museum eröffnet sich aber ein Gebiet künstlerischen Wissens, wie es so ausgedehnt der Mensch bisher noch nicht gekannt hat. Dieses Gebiet – das sich mit wachsendem Bestand und weiterer Ausdehnung immer mehr intellektualisiert – ist nun zum erstenmal der ganzen Welt als Erbschaft gegeben.« Malraux’ Hauptgewährsmann für diesen freien künstlerischen Umgang mit einem überkommenen Traditionsbestand ist Edouard Manet (ebd., S. 66-69).
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seum. Die Wahrnehmung des Originals wird nun zu einem Ereignis, weil es nicht mehr die einzige – und bald schon nicht mehr die typische – Möglichkeit ist, dem Kunstwerk (das zugleich durch seine Reproduktion existiert) zu begegnen. Malraux deutet dies mit einem intermedialen Vergleich an: »Das Museum entspricht nun dem, was eine Theatervorstellung gegenüber der Lektüre eines Stückes, was das Anhören eines Konzerts gegenüber dem Schallplattenkonzert bedeutet.«116 Während Malraux die Wirkung des Originals hoch einschätzt, sieht er das Denken und den Diskurs über das Kunstwerk aber stärker durch die alltäglich verfügbare Reproduktion geprägt. Darin ist eine Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit von Original und Reproduktion ausgedrückt, die sich durch die von Malraux gewählten Vergleichspaare noch verstärkt. Denn deren Relationen (Theateraufführung zu Lektüre des Stücks; Konzertbesuch zu Schallplattenkonzert) stehen in keiner eindeutigen zeitlich-kausalen Struktur zueinander. Ein Konzert ist Grundlage und Möglichkeitsbedingung der medialen Übertragung auf eine Schallplatte; einer Theateraufführung liegt hingegen immer schon ein Theaterstück zugrunde. So ist das Original (im Museum) eben doch mehr als eine Reproduktionsvorlage, weil die Wahrnehmung des Originals wiederum durch die Reproduktionen (im Kunstbuch) ausgerichtet werden kann. Von der zeitgenössischen Kunstgeschichte und aus dem Bereich der Museumspraxis scharf kritisiert,117 ist Malraux’ Konzept des Musée Imaginaire in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der wachsenden Aufmerksamkeit für medienhistorische Fragen intensiv diskutiert worden. In kunsthistorischen, phototheoretischen und museologischen Texten findet der einprägsame Begriff heute vielfache und durchaus divergente Verwendung.118 Häufig wird dabei das Konzept des Musée Imaginaire (das Malraux vor allem für das photographisch illustrierte Kunstbuch entwickelte) historisch und medientechnisch erweitert. Zurecht läßt sich fragen, ob die beschriebene Überlagerung musealer und medialer Effekte auf die Wahrnehmung von Kunst durch photographisch illustrierte Publikationen beschränkt ist. Haben imaginäre Museen ähnlicher Art nicht auch in all jenen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Wissen durch visuelle Objekte konstituiert wird (etwa 116 | Malraux 1949, S. 44. 117 | Zu den Kritikern (v. a. Ernst Gombrich und Georges Duhuit): Krauss 2002, S. 396f. 118 | Malraux ist bzw. war eine zentrale Quelle für die ›postmoderne‹ Phototheorie: Herta Wolf hat dem Konzept des imaginären Museums in ihrer zweibändigen phototheoretischen Anthologie einen breiten Raum gewidmet und dort Aufsätze von Douglas Crimp, Rosalind Krauss, Allan Sekula und Hal Foster wiedergegeben, die sich auf Malraux beziehen (Wolf 2002; Wolf 2003). Im museologischen Diskurs spielt u. a. die von Malraux verwendete Formulierung des Fragments als »Lehrmeister der Fiktion« eine Rolle (Korff 1995, S. 22f.). Aber die Betonung des Einflusses des Medienwandels auf das Museum macht Malraux in Zusammenhang mit der Idee eines virtuellen Museum und der Digitalisierung interessant (z. B. Bienert 2004, S. 49) sowie in einem allgemeineren Kontext zum Verhältnis von Museum und Medium insgesamt. Grohé 2000, S. 161 sieht das Musée Imaginaire als »Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts für das Selbstverständnis der Museen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.«
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in Archäologie, Ethnologie oder Volkskunde), die realen Sammlungen in ihrer epistemischen Funktion bereits vor langer Zeit in den Schatten gestellt? Und haben sie dies nicht auch schon vor der Entdeckung der Photographie getan – durch Kupferstiche, Handzeichnungen oder auch Abgüsse? Stand das Museum, wie Wolfgang Ernst es formuliert, nicht »immer schon im Schatten seines Doppelgängers – jenes musée imaginaire, das seit jeher vom avanciertesten Bildträger definiert wurde und als Rückkopplung jeweils die Ästhetik der realen musealen Räume vorgab«?119 Liegt nicht auch jenseits des visuellen Gedächtnisses der Bildmedien ein imaginäres Museum der bildlosen Galeriebeschreibungen, der Reiseberichte und Erzählungen, die ein Objekt in der Vorstellung des Einzelnen vor das innere Auge führen.120 Eröffnen letztlich gar die Inventare und Katalogzettel eines Generalrepertoriums mit ihren knappen, standardisierten Verweisen ein imaginäres Museum? Keine Frage: Die Vorstellung des imaginären Museums als eines andauernden Doppelgängers, der das Museum immer wieder in Unruhe versetzt, weil er es dazu nötigt, sich den jeweiligen medienhistorischen Formationen anzupassen, erscheint im Rahmen der in dieser Dissertation verfolgten Fragestellung als ein verführerisches Schlüsselkonzept.121 Aber eine mediale Historiographie des Museums sollte auch die jeweils spezifischen Differenzen zwischen Institutionen, Medientechniken und zeitgebundenen Wahrnehmungsweisen im Auge behalten, die hinter einer begrifflichen Konstante mitunter undeutlich werden. Ein Warnzeichen ist, daß die Idee des imaginären Museums in erweiterter Perspektive anscheinend dazu tendiert, in dem Begriff des Archivs aufzugehen.122 Vielleicht ist die um 1950 artikulierte Idee des Musée Imaginaire deshalb besser im Sinne einer Genealogie chronologisch und systematisch zu erweitern, deren Struktur sich in früheren oder späteren Streuungen der Idee – aber gerade durch deren graduelle Verschiedenheit –
119 | Ernst 1990, S. 54. 120 | Einen weiten, auch über den Bereich der Bildlichkeit ausgedehnten Begriff des imaginären Museums verwendet Heilmeyer 2004, S. 87. 121 | In einer Fußnote seines Romans »Siebenkäs« führte Jean Paul 1796 die Figur des Doppelgängers ein: »Doppeltgänger heißen Leute, die sich selber sehen.« Auch wenn sich das Begriffsverständnis inzwischen von dem Sehenden zum Gesehenen verschoben hat, ist in der Figur des Doppelgängers eine »Selbstbespiegelung im Sinne extremer Selbstreflexion« eingeschlossen (Bär 2005, S. 9). Verschiedene Aspekte der Figur des Doppelgängers und ihrer Rückwirkung auf kulturelle Konzepte der Vervielfältigung und Reproduktion führt Schwartz 2000, S. 39–83 zusammen. 122 | Stefan Grohe hat darauf hingewiesen, daß durch Malraux’ metaphorische Okkupation des Begriffs Museum die Spezifik des Museums als Ort verloren geht. Vgl. Grohé 2000, S. 169: »Nur wer Museen als reine Akkumulation von Bildern versteht, d. h. sie als Archive mißversteht, kann deshalb meinen, Museen seien durch technische Medien ersetzbar.« Diese auf das Archiv (als ›historischem Apriori‹ in Anlehnung an Foucault) bezogene Lesart des imaginären Museums findet sich etwa bei Krauss 2000 – einem der Grundlagentexte der ›postmodernen‹ Phototheorie.
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deutlicher fassen läßt.123 Eine solche Genealogie verbindet die Praktiken und Diskurse des Museums (um 1800) mit denen der Photographie (um 1850) und der Kunst der klassischen Moderne (um 1900) zu dem Konzept, das Andre Malraux um 1950 beschreiben konnte. Eine solche Genealogie schließt auch das Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums mit ein.
Dynamik und Ordnung: Modi und Typen imaginärer Museen Eine bekannte Illustration, die inzwischen selbst Teil des visuellen Gedächtnisses der Kunst und der Kulturwissenschaften geworden ist – weil kaum ein Beitrag, der sich mit der Idee des imaginären Museums befaßt, auf deren Wiedergabe verzichtet – zeigt André Malraux bei der Ordnung von Abbildungen (Abb. 36). Erstmals veröffentlich wurde die Aufnahme im Juni 1954 in einer Reportage von Paris Match.124 Der Photograph hat Malraux als Kurator eines imaginären Museums stilisiert. Die ausgelegten Photographien füllen einen lichten Raum, der seinen Bewohner als Kunstliebhaber und Intellektuellen ausweist. Am Rande der Anordnung photographischer Tafeln, die auf dem Boden ausgebreitet sind, lehnt der Intellektuelle, Zigarette im Mundwinkel, lässig an einem Flügel. Er scheint versonnen in die Betrachtung eines weiteren Druckbogens vertieft; seine Brille hat er abgesetzt – er hält sie in der linken Hand. Eine geringe Anzahl weiterer Bögen liegt auf dem Flügel bereit. Einzelne Kunstgegenstände und Pflanzen verteilen sich im Hintergrund der Szenerie. Die ausgelegte Ordnung der Tafeln (überwiegend doppelseitige Druckbögen mit paarig angeordneten Abbildungen) zeigt eine strenge Gliederung in übereinander angeordneten Reihen und scheint bereits weit fortgeschritten; nur in der unmittelbaren Umgebung Malraux’ wirkt sie aufgelockert bzw. aufgebrochen. Dadurch und durch die schräge Aufsicht auf das Bildmaterial spielt die Aufnahme mit dem Gegensatzpaar von Dynamik und Ordnung. Präsentiert wird hier der kreative Prozeß der Auswahl und Kombination photographischer Bilder, bzw. er wird für die Photographie inszeniert – denn zum Zeitpunkt der Aufnahme muß dieser Prozeß ja bereits weitgehend
123 | Der Übergang von ›Archäologie‹ und ›Archiv‹ zur ›Genealogie‹ vollzieht eine Denkbewegung Foucaults nach (Foucault 1996). Zu einer Anwendung einer genealogischen Analyse auf die Avantgarde, bei der der Begriff der Genealogie wieder eng an den Stammbaum zurückgebunden wird: Schmidt-Burkhardt 2005. 124 | Jarnoux/Mangeot 1954. Dort, wo die Aufnahme als Illustration verwendet wird, weichen die Bildnachweise teilweise deutlich voneinander ab. Die Aufnahme wird teils um 1947, teils auf ca. 1950 oder 1954 datiert. Das Bild wird also mit unterschiedlichen Werken Malraux’ in Verbindung gebracht, mit »Le Musée Imaginaire« (1947), »Les Voixes du Silence« (1951), »Le Musée Imaginaire de Sculpture Mondiale« (1952-54). Vermutlich zeigen die vor Malraux ausgelegten Abbildungen die Illustrationen für den zweiten Teilband des letztgenannten Werks (erschienen 1954 unter dem Titel »Des Bas-Reliefs aux Grottes sacrées«. Vgl. zu dieser Illustration auch: Geimer 2009a, S. 85.
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Abb. 36: Maurice Jarnoux, André Malraux, publiziert 1954 Paris Match abgeschlossen gewesen sein, sonst lägen die ausgewählten Abbildungen nicht schon als reproduzierte Druckbögen vor. Illustriert werden zwei unterschiedliche Modi des Musée Imaginaire, an deren Schnittstelle Malraux scheinbar operiert, indem er nämlich das unbegrenzte Potential möglicher Abbildungen durch die Zusammenstellung eine bestimmte Kombination materiell vorhandener Photographien realisiert – die erst später durch die Vervielfältigung der Druckbögen im gedruckten Kunstbuch konkretisiert wird. Die beiden Modi, die der Museumstheoretiker Gottfried Korff für das reale Museum herausgestellt hat, gelten auch für das Musée Imaginaire: es operiert im Modus der Potentialität und im Modus der Aktualität.125 Was im realen Museum das Wechselspiel von Sammlung und Ausstellung ist, ist im imaginären Museum das Wechselspiel zwischen der Gesamtheit der verfügbaren photographischen Reproduktionen und der Realisierung einer bestimmten Anordnung.126 Für eine Genealogie des imaginären Museums wären zur besseren Unterscheidung also zu differenzieren: die Idee des imaginären Museums als Möglichkeit der Auswahl und Anordnung aus einem potentiell unbegrenzten Reservoir von Abbildungen und die Realisierung eines imaginären Museums 125 | Korff 1995, S. 21; Korff 2002. 126 | Diese Unterscheidung läßt sich auch im Text festmachen. Malraux gibt zunächst eine allgemeine Beschreibung der Effekte des imaginären Museums, bevor er zu einer Bestandsaufnahme eines imaginären Museums der modernen Kunst übergeht, als dessen Fürsprecher er fungiert und das er deshalb häufig auch als »unser« imaginäres Museum bezeichnet (z. B. Malraux 1949, S. 77, 93, 107, 111).
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(oder einzelner imaginärer Museen) durch tatsächlich geschaffenene Anordnungen von Abbildungsmaterial. Ansätze zu einer medienhistorischen Differenzierung seines Konzepts lassen sich durchaus aus Malraux’ Text ableiten. Malraux pointiert seinen Vergleich zwischen realem und imaginärem Museum durch zwei Extrempositionen: den Salon Carée des Musée du Louvre und das illustrierte Kunstbuch der Avantgarde. Der Salon Carée steht bei Malraux paradigmatisch für die Ordnung der Werke im bürgerlichen Kunstmuseum (nach der Idee eines Wettstreits der Meisterwerke)127 – das Kunstbuch der Avantgarde für die Emanation einer werk- und kulturenübergreifenden Sprache der Kunst. Zwischenschritte und Seitentriebe treten vor allem in Nebenaspekten oder Fußnoten auf: Kupferstichsammlungen des 18. Jahrhunderts, die von diesen beeinflußten Gemäldegalerien, das Musée Napoleon, die Reproduktionsmuseen des 19. Jahrhunderts, das Aufkommen monographischer Sonderausstellungen, die Möglichkeit illustrierter Gesamtkataloge eines gesamten künstlerischen Oeuvres, gattungs- und künstlerübergreifende Kunstbücher. Diese, in Malraux’ Essay verstreuten Elemente lassen sich zu einer Genealogie des imaginären Museums rekombinieren. Ob Stichsammlung, Bilderrepertorium oder Photoarchiv, ob Sonderausstellung, Abgußsammlung oder Werkkatalog – die Funktionalität dieser Sammlungen von MedienObjekten beruht nicht zuletzt darauf, daß sie dem Vergleich von Objekten dienen. Malraux sieht darin ihre Hauptfunktion, denn Kunst definiert sich für ihn durch den Vergleich der formalen Strukturen von Kunstwerken. Insoweit liegen etwa André Malraux und August Essenwein rezeptionsästhetisch auf einer Linie. Aber es ist doch zu unterscheiden, worauf der Vergleich jeweils zielt. Ein Typ imaginärer Museen zielt darauf, den Vergleich von Objekten zu erleichtern – ein anderer Typ ermöglicht erst den Vergleich bestimmter Objekte. Der erste Fall ist ein prägendes Element der Museumsgeschichte (und auch ein wichtiger Aspekt der Geschichte des Germanischen Nationalmuseums): diese imaginären Museen (Abgußsammlungen, Faksimiles, Kupferstiche usw.) führen als MedienObjekte zusammen, was im Original über verschiedene Sammlungen verstreut ist – aber prinzipi-
127 | Malraux 1949, S. 11: »Ein Meisterwerk war für die damaligen Kritiker nur ein Bild, das sich in dieser Versammlung ›hielt‹. Doch diese Versammlung glich in der Vorstellung des Zeitalters dem Salon Carée des Louvre«. Der Salon Carée steht deshalb bei Malraux für den Wettstreit der Meisterwerke, den das Museum Anfang des 19. Jahrhunderts auslöste (bevor es die Meisterwerke durch die Historisierung der Kunst relativierte und sie in Schul- und Epochenzusammenhang einreihte). Malraux war vermutlich nicht bewußt, daß der Salon Carée erst um 1850 eingerichtet wurde – und zwar als bewußte Gegenbewegung zu einer rein historischen Aufstellung der Kunstwerke, als eine Art Rückbesinnung auf ein früheres Ordnungsmodell von Kunst (vgl. Kobold 2005, S. 91, Anm. 431). Joachimides 2001, S. 51f.: Der Salon Carée war bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand einer auf die Autonomie der Kunstwerks zählenden Museumskritik (Théophile Gautier).
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ell auch im Museumsraum miteinander vergleichbar wäre.128 Der für Malraux wichtigere Typ imaginärer Museum löst sich demgegenüber bewußt von den materiellen und räumlichen Bedingungen musealer Kunstbetrachtung. Dabei handelt es sich um Zusammenstellungen, deren visuelle Konstellationen sich überhaupt erst durch eine mediale Übersetzung realisieren lassen (als Kunstbuch, im weiteren Verständnis auch als Film, Datei usw.). Grundlage dieser imaginären Museen (im engeren Sinne Malraux’) ist die photographische Technik, die alles in das einheitliche Format der zweidimensionalen Abbildung überträgt und damit spezifisch gegenständliche Unterschiede nivelliert und homogenisiert. Damit werden Vergleiche zwischen Abbildungen möglich, deren Originale im realen Museumsraum nicht miteinander vergleichbar wären: »Und da die Gegenstände nun ungefähr gleiche Dimensionen gewonnen haben, verlieren sie ihr eigentliches Maßverhältnis. So wird die Miniatur dem Teppich, der Malerei, dem Glasfenster verwandt.«129 Während Malraux mit seinem Musée Imaginaire vor allem das intellektuelle Potential eines möglichen Gegenbildes des realen Museums beschwört, ist festgestellt worden, daß die meisten der realisierten imaginären Museen doch eher als Spiegelbilder der realen Museen gewirkt und damit deren Selektionskriterien, Ordnungsmodelle und Wertehierarchien affirmativ bestätigt haben.130
128 | Abgußsammlungen dienten im 19. Jahrhundert dazu, das in jeder tatsächlichen Sammlung feststellbare Fehlen wichtiger Kunstwerke zu kompensieren; in den Museen des 20. Jahrhunderts haben temporäre Sonderausstellungen eine ähnliche Funktion übernommen. Vgl. Gerchow 2001, S. 326: »Die Ausstellung im heutigen Sinn ist auch als ›Museum auf Zeit‹ zu fassen. Annähernd wie André Malraux’ ›imaginäres Museum‹ vermag eine Ausstellung Objekte zu vereinen, die in einer Sammlung alleine nicht vorhanden sind, weil sie den verschiedenen Besitzern gehören. Ausstellungen ermöglichen deshalb wechselnde themenorientierte Zugriffe, die aus einer Sammlung heraus nur sehr bedingt möglich sind.« Malraux 1949, S. 149, Anm. 2 schreibt zur Gesamtausstellung eines Künstlers: »Gesamtausstellungen wirken in gleicher Art [wie ein Gesamtkatalog, UT], sind aber doch nur ein Provisorium. Keine Ausstellung vereinigt den ›ganzen Rembrandt‹, so wie es ein ihm gewidmetes Abbildungswerk vermag. Im übrigen sind sie auch erst jüngeren Datums und Erzeugnisse der gleichen Entwicklung und Verfeinerung des künstlerischen Aufnahmevermögens.« 129 | Malraux 1949, S. 16–18. 130 | Bienert 2004, S. 49 kommt in der Bewertung des Einsatzes neuer Medien im Museum zu folgender Einschätzung: »Seit Beginn geht es offensichtlich nicht um die Entwicklung neuer Interaktionsformen zwischen der Kunst, dem Kunstverwahrer und dem Kunstbetrachter. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Optimierung konventioneller musealer Vermittlungsprozesse über den Transmissionsriemen der ›computer mediated communication‹. Die Perspektive richtet sich nicht auf das virtuelle Museum als Alternative oder Ergänzung oder Herausforderung des Museums, sondern auf eine Art digitales Äquivalent. So bleibt das virtuelle Musée imaginaire in seiner durch Malraux so visionär vorgetragenen Universalität auch weiterhin ein literarischer Topos, während es in der institutionellen Praxis um die digitale Reproduktion konkreter Sammlungskontingente geht, um die hier bereits erwähnte ›digitalisierte‹ Sammlung im Unterschied zur digitalen Sammlung.«
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Vielleicht kommt man den Wechselwirkungen zwischen dem imaginären und dem realen Museum aber näher, wenn man sie – wie die Figur des Doppelgängers – nicht als Spiegel- oder Gegenbild, sondern als beides zugleich begreift: eine Erscheinung, die dazu zwingt, sich der eigenen Identität durch Abgrenzung und Anpassung bewußt zu werden. Obwohl Malraux den Begriff des ›Imaginären‹ ganz anders verwendet als (nach ihm) der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, ergeben sich hier Berührungspunkte zu dessen, in der Medientheorie häufig rezipierten Denkansätzen. Im Beitrag über »Das Spiegelstadium als Bilder der Ichfunktion« beschreibt Lacan das Imaginäre des Ichs (das Selbstverständnis/Selbstbild) und dessen Herausforderung im Gegenüber des Spiegelbilds als Grundlage, durch das sich das Ich in einer frühen Kindheitsphase, eben dem ›Spiegelstadium‹, als Einheit konstituiert.131 Haben die Museen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielleicht ihr ›Spiegelstadium‹ durchlaufen, indem sie, herausgefordert durch Reproduktionen und imaginäre Museen, ihre Identität in der Besinnung auf das Original fanden?132
Kleine Genealogie des imaginären Museums Inzwischen wirken die imaginären Museen der Bildpublizistik und die Bildverknüpfungen des World Wide Web stärker auf die Ausstellungsinszenierungen der Museen zurück, als sich Malraux dies angesichts der konservativen Museumsästhetik im Frankreich der Zwischenkriegszeit vorgestellt haben mag.133 Aber es leuchtet doch ein, das die imaginären Museen, deren mediale Konstellationen den Grenzen des realen Museumsraums verpflichtet blieben, intensiver auf das Museum eingewirkt haben. Museumshistorisch boten sie immer wieder Anstöße zur Anpassung musealer Sammlungs-, Ordnungs- und Ausstellungspraktiken. Dies ist z. B. im 18. Jahrhundert an der Wechselwirkung zwischen den Gemäldegalerien und den Kupferstichsamm131 | Lacan 1996. 132 | Vgl. die Diskussionen um den Faksimilestreit: oben, Kapitel 3.2. 133 | Im Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg konnte Malraux der Salon Carée umso mehr als paradigmatischer Raum erscheinen, da die Ausstellungspraktiken dort noch stark dem 19. Jahrhundert verpflichtet waren und anders als in Deutschland oder den USA noch kaum von der Museumsreformbewegung erfaßt waren (vgl. Joachimides 2001, S. 239–242). Einzelne Aspekte oder ästhetische Grundsätze des Musée Imaginaire lassen sich ins reale Museum rückübersetzen: die Ausschnitte des Kunstwerks, die das Kunstbuch betont, der Blickverlauf, den der Film vorführt – sie lassen sich durch Ausstellungstechnik bis zu einem gewissen Grad auch im Museumsraum am materiellen Exponat einsetzen (durch Guckkästen, punktuelle Beleuchtung, wandernde Spots usw.). Die museumstechnische Option, durch Beleuchtung unterschiedliche Wahrnehmungseffekte eines Kunstwerks hervorzurufen, wurde allerdings schon bei der Ausstattung des Musée du Louvre 1793 berücksichtigt. Kobold 2005, S. 115: »Sieht der Rezipient die Skulptur mehrmals unter unterschiedlichen Lichtbedingungen, präsentiert sie sich ihm in verschiedenen Varianten: das multiple Kunstwerk.«
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lungen nachzuvollziehen.134 Die graphischen Kabinette enthielten vor allem Reproduktionsstiche von Gemälden und wurden deshalb auch als imaginäre Gemäldegalerien verstanden. Die leichtere Verfügbarkeit des reproduzierbaren Kupferstichs und die Angleichung der Unterschiede von Gemälden (Format, Farbe und Material) eröffnete den Sammlern von Reproduktionsstichen andere Möglichkeiten als sie der Umgang mit den Originalen bot. Unter dem Einfluß aufklärerischen und enzyklopädischen Denkens wurden die Stichsammlungen im 18. Jahrhundert in eine neue Systematik überführt, die konsequenter auf das Ziel wissenschaftlicher Belehrung ausgerichtet werden konnte, weil die in Mappen aufbewahrten Graphiken von den dekorativen und repräsentativen Funktionen der Gemäldegalerie entbunden waren. Als wissenschaftliches Ordnungsprinzip wurde eine Untergliederung in Epochen, Schulen und Künstler eingeführt – ein raum-zeitliches Inventar der Geschichte der Malerei. Das Musterbeispiel dafür ist die 1776 nach den Plänen des Grafen Durazzo eingerichtete Graphiksammlung Albertina in Wien. Bald darauf wurden in den Museen die ersten Versuche unternommen, das an der quantitativ zahlreicheren Sammlung von Reproduktionsstichen entwickelte Ordnungsprinzip als »sichtbare Geschichte der Kunst«135 auf die Hängung der Werke in den Gemäldegalerien anzuwenden. Die Neuordnung der Wiener Gemäldegalerie im Belvedere durch Christian von Mechel (1783), die Erweiterung dieser malereigeschichtlichen Ordnungsprinzipien auf die gesamten Kunstsammlungen im Musée Napoleon unter Vivant Denon (1802-1813) sowie die durch Gustav Friedrich Waagen 1830 in Berlin durchgesetzte strenge Einhaltung dieser Entwicklungslogik im Alten Museum in Berlin sind die von der Forschung am häufigsten benannten Etappen in der Durchsetzung des historischen Prinzips in den Kunstmuseen.136 Hans Belting hat diese Veränderung als Übergang von einem »Museum der Meisterwerke« zu einem »Museum der Kunstgeschichte« beschrieben.137 Die Perspektive des Ästhetikers auf ein zeitloses Ideal der Kunst (das in den Meisterwerken der griechischen Skulpturen und der Malerei Raffaels gefunden schien) wurde mit der wachsenden Zahl von Kunstwerken in den Museen verdrängt von der Perspektive des Kunsthistorikers, der das einzelne Kunstwerk durch Kategorien wie Epoche, Stil und Schule in eine Entwicklungsgeschichte der Kunst einreihte. Diese Historisierung bedeutet eine Unterordnung der Kunstwerke unter das System ihrer Aufstellung, eine Eingrenzung ihrer ästhetischen Autonomie. Der Schwerpunkt im Verhältnis des Betrach134 | Hierzu und zum folgenden v. a. Fischer 2006; vgl. auch Koschatzky 1975, S. 24f. 135 | Christian von Mechel (1783). Zitiert nach: Sheehan 2002, S. 68. 136 | Dazu auch: Macho 2000. Locher 2006, S. 315f. weist darauf hin, daß diese Entwicklungslogik stärker in den Katalogen realisiert wurde als im realen Museumsraum. Locher sieht darin eine bewußte, komplementäre Strategie, die die Unterschiede zwischen der linear-historiographischen Logik des Katalogs und den fortbestehenden, dekorativ-ästhetischen Aspekten der musealen Präsentation nicht als Diskrepanz, sondern als produktive Differenz zum wissenschaftlichen Vergleich und Verstehen von Kunstwerken betrachtete. 137 | Belting 1998, S. 63.
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ters zum Kunstwerk verschiebt sich von Kontemplation und Genuß zu Vergleich und Belehrung. Diese historisierende und relativierende Betrachtung der Meisterwerke sieht Malraux als den wichtigsten Effekt der Entstehung des modernen, bürgerlichen Museums um 1800. Malraux’ Essay zum Musée Imaginaire koppelt die Effekte des Museums und der Photographie aneinander und charakterisiert damit beide als Medien, die das verändern, was sie scheinbar neutral vermitteln. Beide changieren zwischen Transparenz und Transformation und sind so tief in der europäischen Kultur verwurzelt, so selbstverständlich geworden, das ihre Historizität und ihr Einfluß auf die Wahrnehmung – wie Malraux zunächst insbesondere für das Museum feststellt – nur noch selten reflektiert werden. »Die Rolle der Museen als Vermittler zum Kunstwerk ist für uns so bedeutend, daß wir uns kaum vorstellen können, sie existiere nicht, sie habe sogar immer und überall dort nicht existiert, wohin von moderner europäischer Kultur keine Kenntnis gedrungen ist; ebenso schwer vorzustellen ist auch, daß die Museen diese Rolle bei uns erst seit kaum zweihundert Jahren spielen. Das 19. Jahrhundert hat von ihnen gelebt; wir leben noch von ihnen und vergessen dabei ganz, daß die Museen dem Beschauer eine vollkommen neue Beziehung zum Kunstwerk aufgezwungen haben.« 138
Das Medium Museum läßt die Gegenstände, die es sich aneignet, in der Regel zwar in ihrer materiellen Substanz unverändert, sie werden aber von einem Bedeutungsgefüge umrahmt, das ihre Wahrnehmbarkeit als Objekte bestimmt. Malraux denkt dabei vor allem an die Bildwerke, die aus ihren funktionalen Bindungen (als Element im Kirchenraum, als Element eines repräsentativen Dekorationsprogramms) gelöst und im Museum nun miteinander (als Kunstwerke) verglichen werden. Malraux’ Museumsbild ist das des Kunstmuseums. Der von ihm beschriebene Effekt kann aber auch auf andere Museen erweitert werden. Museen können ihre Objekte nicht nur als autonome Kunstwerke, sondern auch als historische Zeitzeugen, als Elemente einer naturwissenschaftlichen Systematik, als Illustration einer kulturwissenschaftlichen These ausstellen – immer aber präsentieren sie die musealisierten Gegenstände als Objekte visuellen Interesses.139 Skulpturen und Gemälde, die auch außerhalb des Museums darauf ausgerichtet sind, betrachtet zu werden, sind deshalb die prädestinierten Museumsobjekte; das seit etwa 1800 als Institution etablierte
138 | Malraux 1949, S. 5. Die zitierte Stelle ist die Anfangspassage des gesamten Essays. 139 | Dies ist der schon zitierte »Museumseffekt«, wie ihn die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers beschreibt (Alpers 1991, S. 25–28). Sie erweitert damit die Beobachtung Malraux’ (auf den sie sich allerdings nicht explizit bezieht), daß die Gegenstände durch den Prozeß der Versetzung ins Museum an Bedeutung und Wert gewinnen, indem sie diesen Effekt als Prozeß der Ästhetisierung auch auf alle nicht-künstlerischen Gegenstände ausgedehnt sieht. Was auch immer diese Objekte außerhalb des Museums waren: Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände, naturhistorische Objekte – ausgestellt im Museum werden sie mit einer auf das Visuelle fokussierten Aufmerksamkeit wahrgenommen (wie Kunstwerke).
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Kunstmuseum ist nicht ohne Grund der Modelltyp der Museumsgeschichte und Museumstheorie. Die durch das Museum bewirkte qualitative Veränderung im Verhältnis zum Kunstwerk ging nach Ansicht von Malraux mit einem quantitativen Begehren einher: »Zu einer Zeit, da die künstlerische Eroberung der Welt immer weitere Fortschritte macht, ruft eine Stätte, an der das Kunstwerk nur noch als solches gilt, ruft eine Vereinigung so vieler Meisterwerke, in der doch wiederum so viele Meisterwerke fehlen, alle Meisterwerke vor das geistige Auge des Betrachters. Wie sollte diese verstümmelte Möglichkeit nicht den Gedanken an das mögliche Ganze wecken?« 140
Malraux macht damit auf einen Aspekt aufmerksam, der für die Geschichte und Entwicklung des Germanischen Nationalmuseums entscheidend war: die Diskrepanz zwischen der Idee ›Museum‹ und der Realisierbarkeit musealer Sammlungen. »Selbst bei außergewöhnlicher Anstrengung und Hartnäckigkeit bleibt ein Museum doch immer nur das Ergebnis vieler glücklicher Zufälle«, schreibt Malraux und denkt dabei an die kurze Geschichte des Musée Napoleon, mit dem Anfang des 19. Jahrhundert der Plan scheiterte, die Meistwerke der abendländischen Kunstgeschichte in einem Zentralmuseum materiell zu vereinigen.141 Aber selbst wenn ein solches Museum realisiert werden würde, gäbe das Museum als konkreter Ort und Schauplatz materieller Objekte doch immer schon vor, was darin überhaupt sichtbar werden kann. Denn Sammlungen sind an die Mobilität von Objekten gebunden.142 Tafelgemälde und einzelstehende Skulpturen kommen dem Museum mehr entgegen als die fest in einen Gesamtzusammenhang eingebundenen Fresken, Glasfenster oder Architekturelemente. Das, was gar nicht bewegt werden kann, muß im realen Museum strukturell fehlen.143 Eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich auf die Sammlung eines oder aller Museen gründet, ist nicht mit der in-
140 | Malraux 1949, S. 8. 141 | Ebd. – Zum Musée Napoleon und seinem Einfluß auf die Museumsgeschichte: Gaehtgens 1997. 142 | In Sammlungen kommen Gegenstände zeitweise oder dauerhaft zum Stillstand. Diese auch für die Museen gültige Basisdefinition Krzysztof Pomians bedeutet im Umkehrschluß: Sammlungen sind an die Beweglichkeit von Objekten gebunden. Vgl. die Definition von Pomian 1988, S. 16: »[E]ine Sammlung ist jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.« Die Definition unterschlägt jedoch, daß die Objekte auch innerhalb des Museums beweglich bleiben. So spiegeln Sammlungsbewegungen zwischen Ausstellung und Depot häufig wechselnde Zuschreibungen und Bewertungen eines Objekts. Beispiele dazu bei Geimer 2005, der hier in überzeugender Weise teilweise mit, teilweise gegen Pomian argumentiert. 143 | Malraux 1949, S. 8.
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tellektuell zugänglichen Geschichte der bildenden Kunst kongruent. Zwischen Sammlung und Wissen existiert ein notwendiges Spannungsverhältnis.
Die imaginären Museen des Germanischen Nationalmuseums Das Projekt des Germanischen Nationalmuseums spiegelt diese Wechselbeziehung von Akkumulation und Defiziterfahrung, Wissen und Sammlung. Aufseß’ Vision eines meta-musealen ›Sammelkastens‹ war durch das Generalrepertorium dezidiert darauf ausgerichtet, auch die Materialien einzuschließen, die in musealen Schauräumen keine Rolle spielen konnten (schriftliches Buchwissen, mündlich tradiertes Brauchtum, monumentale Bauwerke). Deshalb erschien ihm der Begriff des Museums zur Charakterisierung seines Projekts unzureichend.144 Das Konzept eines Reproduktionsmuseums, das sich in der Praxis des Germanischen Nationalmuseums daraus entwickelte, zielte darauf, eine vollständige Repräsentation der historischen Zeugnisse der Vergangenheit durch jeweils optimale Ersatzobjekte zu realisieren. Dies ist ein Anzeichen für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die technischen Medien wachsende Dynamik des Potentials des imaginären Museums. Die Geschichte des Germanischen Nationalmuseums zeigt aber auch, daß die Photographie dabei im Verbund mit anderen Reproduktionstechniken stand.145 Auch Malraux sieht die Reproduktionsmuseen des 19. Jahrhunderts in enger Verwandtschaft zum Musée Imaginaire: »Sie wirken intensiver als ein Werk mit Abbildungen, aber ihnen fehlt jener Virus, der alles zugunsten eines bloßen Stils zersetzt; dieser Virus entsteht aus der maßstäblichen Verkleinerung, dem Fehlen des Volumens, oft der farbigen Einheit, immer aber aus der Nähe und unmittelbaren Folge der Abbildungstafeln, die einen Stil so lebendig erscheinen lassen wie der Zeitraffer im Film eine Pflanze.« 146
Einer solchen konzentrierten Abfolge von Bildern kam die erste Idee eines Bilderrepertoriums aus Durchzeichnungen und Pausen entgegen. Sie ist als Versuch zu werten, die materiell begrenzten Möglichkeiten musealer Aufstellungssysteme medial zu überwinden. Durch die Vereinheitlichung im Me144 | Siehe oben, Kapitel 2.2. 145 | Siehe oben, Kapitel 3.1 u. 3.2. 146 | Malraux 1949, S. 149 (Anm. 9) bezieht sich dabei auf die Gipsabgüsse und Kopien des Musée des monuments français und des Musée de la Fresque: »Auch sie rücken die verstreuten Werke einander nahe. Ihre Auswahl ist viel freier als die anderer Museen, da sie ja die Originale ihrer Kopien nicht zu besitzen brauchen; an Stelle des aus ihrer Gegenüberstellung entstehenden Wettstreites der Originale gewinnen diese Museen Leben aus der Folge der Kopien, und dies um so stärker, je betonter sie historischer Kenntnis dienen wollen.« Vgl. auch Schwartz 2000, S. 262–270, der auf die das »Museum der Kopien« verweist, dessen »stattliche Genealogie« (S. 263) weitgehend in Vergessenheit geraten sei. Er sieht in solchen Museen »Orte der Indoktrination« (S. 264) und steht ihnen skeptisch gegenüber.
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dium der Zeichnung, die isolierte Erfassung einzelner Bilddetails und deren Neugruppierung als disponible Zettel, die in ihren Kästen durchblättert werden konnten, kam es der Struktur des Musée Imaginaire nahe. Wäre es nicht zu stark auf den Objektbereich der Buchillustrationen konzentriert gewesen und hätten die Zeichnungen (später vielleicht Photographien) eine bessere Durchsicht (und nicht nur Verweise) auf die reproduzierten Abbildungen geboten, hätte es durchaus eine bestimmte Form historischer Bildkunde anregen können.147 Heute, im Zeitalter digitaler Bilddatenbanken, erscheinen solche Ansätze wieder aktuell – auch wenn die möglichen Themenstellungen, die sich aus der sachlogischen Verschlagwortung solcher Datenbanken ergeben, aus Sicht der Kunstgeschichte eher zu Persiflagen einladen: »Man kann sich bereits die Dissertationsthemen ausmalen: Zitronen im niederländischen Stilleben des 17. Jahrhunderts, Hunde in der Kunst, Schwänze bei Twombly.«148 Die Ordnungskategorien, die in jedem strukturierten Sammelkasten gesetzt werden müssen, generieren Objektbeziehungen. Wenn Malraux feststellt, daß die Photographie durch die Reproduktion von Kunstwerken den Blick von den zeitlosen Meisterwerken auf die kunsthistorisch charakteristischen Objekte lenkte, weil man, nachdem die Meisterwerke einmal photographiert waren, »alles photographierte, was sich irgendwie stilistisch einordnen läßt«149 – so kann man diesen Satz (mit Blick auf das Bilderrepertorium) auch umkehren: in den Kapseln des Germanischen Nationalmuseums ordnete man alles form- und stilgeschichtlich ein, was als Abbildung verfügbar war.150 Das neue Konzept des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung verlangte mit seinem Leitmedium Photographie nach möglichst vielen Abbildungen, um durch eine möglichst dichte serielle Ordnung die besonders charakteristischen Elemente dieser Reihenfolge erkennen und die Schausammlungen daran ausrichten zu können. Deshalb blieb die Gruppierung der Kapseln auf die tatsächlich realisierbaren Entwicklungsreihen der »greifbaren Geschichtsdenkmäler«151 bezogen. Denn Essenwein verstand die von ihm gebildeten Abteilungen des Germanischen Nationalmuseums als »naturgemäße 147 | Übersicht über verschiedene Methoden der Historischen Bildkunde: Talkenberger 1997. Jäger 2009 setzt mit seinem historischen Problemaufriß zum Verhältnis der Geschichtswissenschaft zum Bild erst um 1880 an. 148 | Foster 2002, S. 446. 149 | So seien durch die photographische Reproduktion anfangs nach dem Modell der Reproduktionsgraphik vor allem die anerkannten Meisterwerke erfaßt und damit die etablierten Wertehierarchien des Museums bestätigt worden. Aber dann wurden durch die Photographie gerade jene Objektbereiche medial erschlossen, die von den traditionellen Bild- und Reproduktionstechniken nicht abgedeckt wurden: »So tritt oft das nur Charakteristische an die Stelle des Meisterwerks, und der bewundernde Betrachter weicht dem wissensfrohen Kenner. Michelangelo reproduzierte man zwar im Stich, aber man photographierte die Kleinmeister, Volkskunst und unbekannte Kunst – man photographierte alles, was sich irgendwie stilistisch einordnen läßt.« (Malraux 1949, S. 10.) 150 | Genau so eine umgekehrte Lesart schlägt auch Hershberger 2002, S. 271 vor. 151 | Essenwein 1870/1978, S. 996.
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Gruppen«152 . Materialität und Dimension der Objekte spielten dabei eine entscheidende Rolle. So war etwa die »Kleine Plastik« als besondere Gruppe aufgestellt, »Monumentale Malerei«, »Gemälde« und »Miniaturmalerei« voneinander getrennt, »Gewebe und Stickereien, Nadelarbeiten, Spitzen« hingegen als Gruppe zusammengefaßt.153 »Naturgemäß« bedeutete hier dementsprechend: dem Wahrnehmungsraum des Museums gemäß, der die kulturellen Artefakte in Objekte visuellen Interesses verwandelte.154 Das entwicklungsgeschichtliche Prinzip, das sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der Aufstellung der Kunstwerke (den paradigmatischen Objekten visuellen Interesses) bewährt hatte, wurde nach 1850 auch auf die Ordnung anderer kultureller Artefakte übertragen. Gerade in den 1860er und 1870er Jahren trugen museale Sammlungen, Ausstellungen und photographische Abbildungen in einer sich gegenseitig verstärkenden Weise dazu bei, das Modell einer »sichtbaren Geschichte der Kunst« auf einen größeren Gegenstandsbereich zu erweitern.155 Vermittelt durch die Kunstgewerbebewegung und einen ihrer Protagonisten, August Essenwein, wurde der Gedanke einer solchen visuell herstellbaren Entwicklungsgeschichte Grundlage der Reorganisation des Germanischen Nationalmuseums als kulturhistorischem Museum. Die Idee der ›Einreihung‹ eines Objekts in den geschichtlichen Entwicklungsgang verband die Schausammlungen des Museums mit den Bildfolgen in den Kapseln der Abbildungssammlung. Diese Ordnungsstruktur ist – innerhalb der jeweils zu definierenden (von Essenwein als »naturgemäß« bezeichneten) Objektgruppen – umfassend gedacht. Prinzipiell ist für jedes mögliche museale Objekt eine Stelle innerhalb dieser Systematik anhand seiner visuellen und materiellen Eigenschaften vorgegeben: »Was einmal da gewesen, hat in der geschichtlichen Reihenfolge seinen Platz.«156 Bei allem Pragmatismus scheint Essenweins Konzept des kulturhistorischen Museums die Phantasie einer totalen Ordnung musealer Objekte eingeschrieben. 152 | Ebd., S. 997. 153 | Ebd., S. 997f. 154 | Essenwein kritisierte in diesem Zusammenhang die musealen Verwandtschaften, die das frühere System des Freiherrn von Aufseß gestiftet hatten, als künstlich: »So war z. B. für die Gewebe kein anderer Platz, an dem sie in das System eingereiht werden können, als die Gewerbstechnik; für die große künstlerische Gedankenfülle, die sich in Zeichnung und Farbe auf den Geweben zeigt, ist kein Raum, ja sie müßten nach dem Systeme selbst in verschiedene Abtheilungen getrennt werden, wo sie nach ihrer Verwendung in Haus und Kirche eingereiht würden. Die Stickerei ist davon geschieden, und in innige Berührung mit Email, Glasmalerei etc. gebracht, denen sie jedenfalls ferner liegt als den Geweben. Das Email ist von der Golschmiedearbeit losgerissen, mit und an der es sich entwickelt hat, weil die Begriffe Pinselmalerei, Stoffmalerei u. s. w. künstlich herbeitheoretisiert sind, statt daß sich das System an den Entwicklungsgang gehalten hätte, den im Laufe der Jahrhunderte diese Künste genommen.« (Essenwein 1870/1978, S. 997). 155 | Zum Ausstellungswesen der 1860er und 1870er Jahre und seiner Resonanz im Germanischen Nationalmuseum: Kahsnitz 1978, S. 719–725. 156 | Essenwein [1873/74].
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Transformation und Transparenz – Effekte der Photographie im imaginären Museum Der von Malraux beschriebene »Virus« der photographischen Reproduktion, der »zersetzende Effekt«157 auf die materielle Integrität des Kunstwerks, beruht auf einem quantitativen (allgemein reproduktiven) Aspekt der Verfügbarkeit und einem qualitativen (spezifisch photographischen) Aspekt der Transformation. Die bis hierher beschriebenen Effekte im Verhältnis von Museum und Photographie beruhten vor allem auf dem Charakter des Vervielfältigungsmediums, also auf einem quantitativen Aspekt der Reproduktion. Die Bedeutung von Malraux’ Essay für die Medientheorie gründet sich aber vor allem darauf, daß er darin die Photographie nicht einfach als Vervielfältigungsmedium ansieht (als Verstärker des Museums), sondern die Veränderungen betont, die mit dem photographischen Prozeß verbunden sind (Transformator des Museums). Malraux hat die Photographie (anders als viele seiner Zeitgenossen) nicht als eine Art transparentes Medium übersehen oder ignoriert, sondern die spezifische photographische Übersetzungsleistung thematisiert und als ein produktives Element gewertet. Für die Theoriegeschichte der Photographie sind deshalb vor allem die Passagen entscheidend, in denen Malraux die photographische Reproduktion eines Kunstwerks als dessen Transformation beschreibt. Diese Effekte sind: die Homogenisierung materieller Unterschiede durch die Vereinheitlichung im Medium Photographie; die Deutung des Kunstwerks durch Ausschnitt, Perspektive und Beleuchtung; die Visualisierung imaginärer Zusammenhänge der Kunstwerke (Stilgemeinsamkeiten) durch die Vergleichbarkeit der Photographien als visuell faßbare Ausdrucksformen von Kunst.158 Malraux setzt bei seinen Illustrationen von »Le Musée Imaginaire« immer wieder auf den Überraschungseffekt, das mehrere Abbildungen ein und desselben Gegenstands durch den Wechsel von Gesamt- zu Detailansicht, durch Veränderung der Perspektive oder Beleuchtung wie ganz unterschiedliche Kunstwerke erscheinen, sogar unterschiedliche Stile erkennen lassen
157 | Malraux 1949, S. 16 u. S. 149, Anm. 9. 158 | Dazu: Geimer 2009b. Vgl. auch Malraux 1949, S. 16: »Die Reproduktion ist nicht Ursache, wohl aber wirkungskräftigstes Mittel für den Intellektualisierungsprozeß, dem wir die Kunst unterwerfen; selbst die Kniffe und Zufälligkeiten der Reproduktion leisten diesem Prozeß noch Vorschub. Die Rahmung eines Bildwerks, Aufnahmewinkel und vor allem bewußte Ausleuchtung können etwas, was sich vorher nur als anregende Vermutung anbot, zu einer Art zwingenden Gewißheit erheben. Überdies bringt die Schwarzweiß-Photographie eine gewisse ›Verwandtschaft‹ ihrer voneinander sonst noch so weit entfernten Darstellungsobjekte zustande. Mittelalterliche Werke, die unter sich so verschieden sind wie Wandteppich, Glasfenster, Miniatur, Tafelbild und Statue, schließen sich zu einer Familie zusammen, reproduziert man sie auf derselben Seite. Sie verlieren ihre Farbe, ihre Materie (die Skulptur auch einiges von ihrem Volumen), ihr Format. Damit verlieren sie alles Spezifische zugunsten einer Stilgemeinsamkeit.«
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Abb. 37: Doppelseite mit zwei Aufnahmen einer Skulptur André Malraux, Das Imaginäre Museum, Baden-Baden 1949 (Abb. 37).159 Im illustrierten Kunstbuch ist der Stil keine unmittelbar erkennbare Eigenschaft des Kunstwerks, sondern ein visueller Effekt der Reproduktion. Gerade dies aber sieht Malraux nicht als Verfälschung oder unzulässige Manipulation an, sondern als Freisetzung der im Kunstwerk latent gespeicherten Potentiale künstlerischen Ausdrucks.160 Auch Malraux’ Überlegungen lassen sich deshalb mit Bruno Latours Modell der »zirkulierenden Referenz« beschreiben.161 Sowohl die Musealisierung als auch die photographische Aneignung eines Gegenstands sind Transformationsschritte in einer Kette der Referenz. Der Prozeß der photographischen Reproduktion ist dabei (als Element dieser Kette) mit spezifischen Gewinnen und Verlusten verbunden, die bestimmte Verknüpfungen und diskursive Anschlüsse ermöglichen, andere hingegen ausschließen. Jedes Element besteht dabei aus einer dinglich-materiellen (Leinwand, Albuminpapier, lichtempfindliche Schicht) und einer zeichenhaft-medialen Komponente (Bild, visuelle Information). Aus Malraux’ Perspektive kommt es darauf an, dabei im Endergebnis den Zeichencharakter (als visuelle Form – nach seinem Verständnis das Medium von Kunst) möglichst stark zu betonen, damit die dinglich-materiellen Qualitäten der einzelnen Zwischenstufen (die Materialität des Kunstwerks aber auch der Dingcharakter der zwischengeschalteten Photographie) in der Betrachtung in den Hintergrund treten können. Malraux’ Projekt, das Projekt der Avantgarde, ist also die Verschiebung der Be159 | Die Illustrationspraxis Malraux’ untersucht: Geimer 2009a. 160 | Geimer 2009b, S. 151: »Die unreproduzierten Kunstwerke verharren demnach in einer Latenz, aus der erst die Versetzung in den Vergleichsraum der Fotografie sie erlösen kann.« 161 | Latour 2000. Siehe dazu auch oben, Kapitel 4.2.
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trachtungsebene entlang der Referenzkette. Nicht mehr das Kunstwerk ist der Halte- und Bezugspunkt dieses Blicks, sondern der künstlerische Ausdruck, für den das Kunstwerk seinerseits nur ein materieller Zeichenträger ist. »Auch das Kunstwerk, das in der Reproduktion seinen Charakter und seine Funktion als Gegenstand – selbst als Gegenstand der Weihe – verliert, ist damit nur noch Zeugnis künstlerischen Vermögens«.162 Die Zusammenstellung von photographischen Reproduktionen erlaubt also gewissermaßen einen Blick hinter das einzelne Kunstwerk auf das, was in dessen Oberfläche immer schon ausgedrückt war – aber ohne die Übersetzung in das Musée Imaginaire verborgen geblieben wäre. Malraux benutzt die Photographie als eine Art ›bildgebendes Verfahren‹ der Kunstwissenschaft. Dabei sieht Malraux dem Einsatz der Photographie anscheinend im Spektrum der technisch definierten Möglichkeiten des Mediums keine Grenzen gesetzt – weder die »Kniffe und Zufälligkeiten«, noch die gezielte Herstellung von Effekten (»bewußte Ausleuchtung«) schränken die Möglichkeiten der Bezugnahme auf den künstlerischen Stil ein – weiten diese im Gegenteil sogar noch aus.163 Jede Aufnahme eines Kunstwerks, der es gelingt, ein davon noch nicht bekanntes »Zeugnis künstlerischen Vermögen« zu visualisieren, bereichert das Reservoir an disponiblen und kombinierbaren Elementen. Die Einsicht in die mediale Transformation des Kunstwerks bleibt bei Malraux allerdings mit einer vagen Vorstellungen von photographischer Evidenz (»einer Art zwingenden Gewißheit«) verknüpft.164 Graphiken (Kupferstiche, Lithographien usw.) bleiben als solche Vermittler zum Kunstwerk aus seinem Musée Imaginaire anscheinend ausgeschlossen. Sie kommen stattdessen als Kunstwerk selbst in Betracht und damit als Gegenstand der photographischen Transformation ins imaginäre Museum. Die Einsicht in die transformativen Effekte der Photographie und die Suggestionskraft technischer Transparenz, die aus Malraux’ Einsatz von Photographien und photomechanischen Reproduktionen spricht, schließen sich hier nicht gegenseitig aus, sondern bilden in ihrer Ambiguität und Ambivalenz die Grundlage seines Musée Imaginaire.165 Gerade diese Uneindeutigkeit macht Malraux’ Essay für die Phototheorie ebenso lesenswert wie problematisch.166 Der amerikanische Kunst- und Photohistoriker Douglas Crimp hat sich in seinem Essay »Über die Ruinen des Museums« gefragt, was passiert, wenn die Photographie selbst als eigenständige Ausdrucksform von Kunst Eingang in die realen und imaginären Muse-
162 | Malraux 1949, S. 44. 163 | Ebd., S. 16. 164 | Ebd. 165 | Ebd., S. 44 spricht von der »zweideutigen Einheitlichkeit der Photographie«. 166 | Aktuelle phototheoretische Positionen (z. B. Batchen 1997, Stiegler 2006b, Geimer 2009b) setzen zur Beschreibung der spezifischen Eigenschaften des Mediums Photographie (gerade weil es die Photographie »an sich« nicht gibt) auf Ambivalenz. Ein wichtiger Impuls dazu ging von Roland Barthes Buch »Die helle Kammer« aus (Barthes 1989).
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en findet?167 Wenn also Photographien als Kunstwerke musealisiert werden – stürzt dadurch die Kohärenz zweier komplementär aufeinander bezogener Systeme zusammen?168 Oder schließt Malraux’ Musée Imaginaire die Möglichkeit ein, Photographien als Kunstwerke ihrerseits durch photographische Reproduktion zu verändern und in neue intermediale Zusammenhänge zu überführen? Malraux’ Essay gibt darauf keine eindeutige Antwort; seine Intention ging in eine andere Richtung.169 Aber es spricht wenig dafür anzunehmen, daß die Photographie, weil sie im Konzept des Musée Imaginaire als epistemische Sehhilfe fungiert, nicht auch genau in dieser Funktion auf konkrete photographische Abzüge angewendet werden kann. Imaginäre Museen der Photographie sind gängige publizistische Praxis einer kunstorientierten Photogeschichtsschreibung, die in ihren Illustrationen die Unterschiede zwischen photographischen Techniken und Materialien in der photomechanischen Reproduktion homogenisiert. Daguerreotypien, Stereoskopien, Salzpapierabzüge, Albuminpapiere werden durch ihre Reproduktion zu Elementen einer photographischen Bildgeschichte. Nicht anders als die photographierten Kunstwerke Malraux’ verlieren auch diese Photographien damit ihre gegenständlichen Qualitäten (Materialität, Dimensionen etc.), um als Gegenstand 167 | Crimp 1996. Als André Malraux seine Gedanken zum Musée Imaginaire entwickelte, war die Musealisierung von Photographien noch kein zentrales Thema der europäischen Kunstmuseen; ausgehend vom Museum of Modern Art in New York wurde die Photographie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber immer entschiedener als eine eigenständige Kunstform neben anderen wahrgenommen und in Kunstmuseen gesammelt. Zur Musealisierung der Photographie als Kunst: Philipps 2002. 168 | Crimp 1996, S. 34: »Als ein Instrument zur Reproduktion von Kunst hat die Fotografie diesen Idealismus der Kunst um eine breitere diskursive Dimension, ein imaginäres Museum, eine Kunstgeschichte, erweitert. Die Fotografie selbst wurde allerdings von Museum und Kunstgeschichte ausgeschlossen, da sie notwendigerweise die Aufmerksamkeit auf eine Welt außerhalb ihrer selbst lenkt. Somit stürzt, wenn der Fotografie als einer Kunstform unter anderen der Zugang zum Museum erlaubt wird, die epistemologische Kohärenz des Museums zusammen. Die ›Außenwelt‹ dringt ein, und die Autonomie der Kunst entpuppt sich als eine Fiktion, als Konstruktion des Museums.« Hershberger 2002 hat die Position Malraux’ gegen die Kritik Crimps verteidigt und dabei nachgewiesen, daß die Argumentation von Crimp (die Dichotomie von Hilfsmittel und Kunstwerk) durch den Text Malraux’ nicht gedeckt ist. 169 | Den vielleicht deutlichsten Hinweis gibt Malraux dazu dort, wo er vom Film spricht. Malraux differenziert hier Ausdrucksmittel (Gestaltung einer visuelle Form) und Darstellungsmittel (Medium). Kunst wird der Film erst durch Montage und Schnitt. »Darstellungsmittel ist für den Film die bewegte Photographie, Ausdrucksmittel die Aufnahmefolge.« (Malraux 1949, S. 104.) So sieht sich Malraux schließlich selbst als Kurator des imaginären Museums als eigentlichen Kunstschöpfer im Bereich der Photographie. Denn durch die Bindung an die Wirklichkeit stößt die Photographie (als Einzelbild) nur nach und nach auf die Probleme der mimetischen Malerei (ebd., S. 103). Zur Kunstform wird die Photographie erst im imaginären Museum (seinem Ausdrucksmittel): in der Abfolge der visuellen Formen, im Zwischenraum der Illustrationen.
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einer bild- und kunstorientierten Photogeschichtsschreibung umso besser faßbar zu werden.170 Vielleicht ist aber die Verflechtung zwischen dem realen Museum und dem imaginären Museum noch interessanter als ihre Unterscheidung. Als Zwischenstufe zwischen dem Raum des Museums (als Schauplatz der Objekte) und den Seiten des Kunstbuches steht zum Beispiel das Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums für die Orte, an denen konkrete materielle Dispositionen von Abbildungen angelegt sind. Wenn die Fragen nach der Materialität des Medialen und der Medialität des Materiellen ernst genommen wird, sind solche Konstellationen von MedienObjekten ein Schnittfeld museums- und photohistorischer Forschungsfelder.
Begrenzungen des imaginären Museums – Multiperspektivität, Maßstabstreue, Medienvergleich Wie verhält sich der Bestand des Bilderrepertoriums zu den von Malraux beschriebenen Kopplungseffekten von Museum und Photographie? Haben sie Objektkonstellationen hervorgerufen, die sich von den möglichen Zusammenstellungen materieller Museumsobjekte entfernen? Oder war die Bindung an die Autorität des musealen Wahrnehmungsraums so stark, daß solche Effekte eingegrenzt und systematisch ausgeschlossen wurden? Haben die photographischen Praktiken der Objektphotographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Wahrnehmung eigengesetzlicher imaginärer Museen vielleicht sogar noch im Wege gestanden? Einer der zentralen Effekte, die das Musée Imaginaire bestimmen, ist die durch die Photographie bewirkte Homogenisierung der dargestellten Objekte, die Nivellierung ihrer spezifischen Eigenschaften als materielle Gegenstände. Durch die Vereinheitlichung in der (schwarzweißen) Abbildung rücken Objekte einander nahe, die im Museumsraum nicht miteinander vergleichbar wären. Die photographische Praxis des 19. Jahrhunderts allerdings kam einer solchen Wahrnehmung nur bedingt entgegen. Die extremen Detailaufnahmen, die durch bildfüllende Ausschnitte häufig nicht mehr erkennen lassen, ob es sich um vollplastische Arbeiten, Reliefs oder vielleicht sogar Zeichnungen handelt, kamen erst im 20. Jahrhundert verstärkt auf. Die photographische Praxis der Sachphotographie zielte im 19. Jahrhundert fast immer darauf, das dargestellte Objekt in seiner Gesamtheit zu erfassen, so daß die Dimensionalität des photographierten Gegenstandes für einen Betrachter leicht zu erkennen war.171
170 | Diese Bildpraxis erzeugt bisweilen paradoxe Konstellationen, z. B. wenn die Daguerreotypien, auf die die Bildunterschriften verweisen, längst nichts mehr zu erkennen geben. Dazu ausführlicher: Tschirner 2009. 171 | Starl 2004, S. 52 sieht diese Darstellungskonvention als eine »Kundgebung von Eigentum«: »Diese Kundgebung von Eigentum beherrscht die fotografische Wiedergabe der Dinge
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Zudem stand die wechselseitige Bindung zwischen den Kapseln des Bilderrepertoriums und den Schauräumen des Museums den von Malraux beschriebenen visuellen Analogien zwischen zwei- und dreidimensionalen Gegenständen entgegen. Vielmehr zeigt sich die Tendenz, einer möglichen Auflösung musealer Ordnungen entgegenzuarbeiten. Einige Aufnahmen aus dem Bestand des Bilderrepertoriums sind so zusammengestellt, daß sie durch die Kombination von Teilansichten ein möglichst umfassendes Bild des musealen Objekts vermitteln wollen. Damit wird versucht, die als Defizit wahrgenommene Bindung der Photographie an eine einzige Perspektive auf den plastischen Gegenstand auszugleichen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel einer würfelförmigen Sonnenuhr, auf deren Kubusflächen Kompaß und Meßskalen angebracht sind (Abb. 38).172 Obwohl jede einzelne Aufnahme durch den leicht erhöhten Kamerastandpunkt die Würfelform des Gegenstands wiedergibt, entsteht erst durch die Montage der Ansichten auf einem Karton des Bilderrepertoriums die umfassende Repräsentation eines musealen Objekts. Ausgespart wird in den Photographien allerdings die sechste Würfelfläche – die Standfläche der Sonnenuhr. Erfaßt werden also nur die ausstellungsrelevanten Schauseiten. Die Kombination der Aufnahmen zielt nicht auf eine visuelle Repräsentation des Gegenstands ›an sich‹, sondern auf eine multiperspektivische Wiedergabe seiner Erscheinung als Museumsobjekt (und das heißt, mit Malraux und Alpers gesprochen: als Objekt visuellen Interesses). Der Wunsch nach einer Gesamtrepräsentation des Objekts greift auch dort, wo zunächst noch technische Probleme eine unerwünschte Fragmentierung des Objekts bewirken. Dies ist im 19. Jahrhundert noch lange bei der photographischen Wiedergabe sehr breiter Objekte der Fall, insbesondere bei Waffen. Um einen Ausgleich zwischen Detailschärfe und Objektübersicht zu erhalten, mußten hier mehrere Aufnahmen angefertigt werden. Eine Folge von vier Aufnahmen eines Gewehres setzt sich nur in der Abfolge der Kartons zum Gesamtobjekt zusammen (Abb. 39).173 Einzeln betrachtet lassen die Aufnahmen die Funktionalität des abgebildeten Gegenstands zurücktreten und lenken die Aufmerksamkeit auf die ornamentale Gestaltung. Während die Zusammengehörigkeit der Aufnahmen in diesem Fall durch die museale Numerierung auf dem Untersatzkarton sichergestellt wurde, ist sie in einem anderen Fall bereits im photographischen Abzug erfolgt. Die Aufnahme eines Objekts der Mailänder Kunstgewerbeausstellung von 1875 ist offensichtlich keine unmittelbare Wiedergabe eines musealen Exponats, sondern ein pho-
während des gesamten 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Entsprechend werden die Objekte – einzeln oder als Ensemble – immer in ihrer Gesamtheit aufgenommen.«. 172 | Photographien rückseitig beschriftet »Z. R. 2350«. Vgl. Zugangsregister des Kupferstichkabinetts, Bd. 2, ZR 2350 (Zugang von 1911): 39 Photographien von Gegenständen des GNM, Pflichtexemplare des Photographen Christof Müller. 173 | Jagdflinte aus Innsbruck (Nach alter Systematik beschriftet: Jagdwesen Nr. 71; Zugang vor 1870).
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Abb. 38: Christof Müller, Fünf Ansichten einer Sonnenuhr von Hans Ducher (Tucher) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Abb. 39: Vier Aufnahmen einer Jagdflinte aus Innsbruck, vor 1870 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg tographisches Artefakt (Abb. 40).174 Für den Kompositabzug wurden zwei Negative gemeinsam auf einem Albuminpapier auskopiert. Wie eine Beglaubigung der materiellen Integrität des abgebildeten Objekts ist gerade im Übergangsbereich der beiden Negative (erkennbar an der leichten Schattierung in der Mitte) das Siegel des Museo d’Arte Industriale angebracht. Auch dem Verlust der Maßverhältnisse werden im Bestand des Bilderrepertoriums Widerstände entgegengestellt. Die eine Möglichkeit besteht darin, die Größenangaben auf dem Karton, dem Untersatzbogen oder der Photographie schriftlich festzuhalten – dazu war das Museum jedoch in besonderer Weise auf die mit der Photographie eingelieferten Informationen angewiesen.175 Denn aus dem Bild heraus waren die Dimensionen nicht sicher zu bestimmen. Die zweite Möglichkeit ist der neben dem photographierten Objekt plazierte Maßstab. Während der Maßstab bei der graphischen Wiedergabe eines Objekts als lineare Struktur konstruiert wird und – zumeist ein wenig von der Zeichnung abgesetzt – als eine Art Bildbegrenzung fungiert, muß der Maßstab bei der Photographie als realer Gegenstand innerhalb der
174 | Flinte (ohne Beschriftung). Über das alte Zugangsregister (S. 732) zuzuordnen: ZR 1875/7343: »250 photographische Aufnahmen der vorzüglichsten Gegenstände der Mailänder Gewerbeausstellung«. 175 | So finden sich die entsprechenden Maßangaben häufiger auf den externen Informationen (aufgeklebten Katalogtexten, Beschriftungen der Geschenkgeber auf Kartonrückseiten etc.) und seltener im Beschriftungsblock des Museums.
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Abb. 40: Rossi (Photograph), Jagdflinte, Kompositabzug, 1875 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Grenzen des Bildraums positioniert werden (Abb. 41). Auf vielen Photographien des Bilderrepertoriums rückt der Maßstab als Begleiter der photographierten Objekte in den Blick: meist nur als Leiste und seltener als Stab, in unterschiedlicher Länge, mit einzelnen oder mehreren Maßskalen (»Pariser Maaß«, »Wiener Zoll«),176 häufig als bewegliches Element, bisweilen aber auch mit Nägeln an einer Tischkante fixiert. Diese Aufnahmen verweisen auf die vergessene Bildgeschichte eines ephemeren Objekts, das seine Abbildung dem Wunsch einer visuellen Sicherung der Maßverhältnisse verdankt. Ein Maßstab verweist den Betrachter auf die materielle Dimension des photographierten Objekts und damit auch auf die Autorität des Museums als Wahrnehmungsraum. Er erleichtert Vergleiche zwischen dem photographierten Objekt und vergleichbaren Sammlungsstücken und kam damit dem Gebrauch von Photographien als Stellvertreten nicht verfügbarer Originale entgegen. Im 19. Jahrhundert in der Objektphotographie intensiv eingesetzt, ist der Maßstab im 20. Jahrhundert aus den Katalogen und Publikationen der Museen weitgehend verschwunden177 – vielleicht weil man darin nun eine Art ›visuel-
176 | Das metrische System wurde erst in den 1870er Jahren in Deutschland (1870/72) und Österreich (1871/76) eingeführt. Die Koexistenz der Maßsysteme (die nach Vergleichbarkeit verlangen) wird in der Doppelangabe von »Pariser Maaß« und »Wiener Zoll« deutlich. 177 | Erhalten hat sich der Maßstab allerdings in der internen Dokumentationspraxis der Museen (Inventarisierungsphotographien).
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Abb. 41: Maßstab, Detailansicht von Abb. 31 len Parasiten‹ sah, der von der Wahrnehmung des photographierten Objekts und seiner ästhetischen Qualitäten ablenken konnte.178 Für Malraux spielte auch der Verlust der Farbe durch die für seine Zeit charakteristische Schwarzweißphotographie eine wichtige Rolle für die Eigendynamik des Musée Imaginaire. Auch das Bilderrepertorium ist fast ausschließlich im Zeitalter der Schwarzweißphotographie zusammengekommen. Nachträglich kolorierte Photographien und frühe Mehrfarbendrucke kommen zwar vereinzelt vor, sind aber die Ausnahme geblieben. Eine Vereinheitlichung macht sich aber im Bilderrepertorium auch deshalb nicht so stark bemerkbar, weil dieses im Gegensatz zum Musée Imaginaire nicht monomedial organisiert war. So wurden beispielsweise bei der Wiedergabe einer Miniaturmalerei Darstellungen in Aquarell und Photographie nebeneinander auf einen Karton montiert (Abb. 42). Durch die Möglichkeit solcher intermedialen Vergleiche können sich die von Malraux beschriebenen spezifischen Effekte photographischer Vereinheitlichung (in die auch die Kniffe und Zufälle hineinspielen) im Bilderrepertorium nicht so stark ausprägen. Die Medienvielfalt des graphisch-photographischen Übergangszeitalters der zweiten Hälfte des 178 | In den Diskussionen um das photographische Unternehmen Jakob Eberhardts (siehe oben, Kapitel 3.5) wurde der Vorschlag eines Mitglieds des Verwaltungsrats protokolliert, »den Maßstab, der auf den Bildern hier u. da störend sei, unter den Bildern anzubringen«, worauf Photograph Eberhardt auf die technische Notwendigkeit hinwies, »dieser Maßstab müsse immer gleich mitphotographirt werden, da jede Aufnahme in einer anderen Größe erfolge«. GNM-Akten K 732, Nr. 1, fol.104f. (Protokoll der Sitzung des Lokalausschusses vom 14. März 1865).
K APITEL 4.3 | D OPPELGÄNGER
Abb. 42: Buchillustration aus dem »Hallerbuch« , Aquarell und Photographie Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 19. Jahrhundert lenkte, indem die unterschiedlich abgebildeten Objekte miteinander verglichen werden sollten, doch zumindest einen Seitenblick auch auf die Unterschiede der jeweils eingesetzten Bildmedien. Das, was im monomedialen Musée Imaginaire aus dem Blickfeld gerückt ist, wird im Bilderrepertorium nicht nur offensichtlich, sondern auch greifbar: die Materialität der Bildmedien. Denn die Arbeit mit den Kapseln und Mappen, den Kartons und Untersatzbögen ist eine haptisch differenziertere Form der Medienaneignung als das Durchblättern des Buches. Erst der zweite Schritt der photographischen Reproduktion, die Vervielfältigung einer Anordnung von ›Abbildungsmaterial‹ gleicht deren Unterschiede visuell weitgehend an.
Tautologie des Bilderrepertoriums Der Umgang mit den Photographien im Bilderrepertorium zeigt, daß den Tendenzen des Musée Imaginaire zur Transformation der Objekte und zur Herstellung neuer Beziehungen entgegengearbeitet wurde. Das als Doppelgänger der musealen Objektsammlungen angelegte Bilderrepertorium fungierte eher als Spiegel- denn als Gegenbild des kunst- und kulturhistorischen Museums und steht somit für eine Bindung des Mediums Photographie an die Autorität des Museums, ein realisiertes Musée Imaginaire, für das eine tatsächlich mögliche Zusammenstellung im Ausstellungsraum der entscheidende Maßstab blieb. Aber auch die photographische Praxis des 19. Jahrhunderts kam, zum Beispiel mit dem Maßstab als Element im Bildraum, dem Interesse an einer Bindung der Photographie an den realen Wahrnehmungsraum ent-
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gegen. Es gibt im Bilderrepertorium keine entscheidenden Hinweise auf Konstellationen von Objekten, die sich von dem entfernen, was in einem Museum zusammengestellt werden kann. Sobald aber die Strukturen der Schau- und Abbildungssammlung einander angeglichen waren, bekam die Verdopplung der musealen Ordnung eine tendenziell tautologische Struktur. Es ist bezeichnend, daß von dem Bilderrepertorium in den Publikationen des Museums nie wieder so häufig die Rede war, wie zwischen 1866 und 1871. War die Abbildungssammlung vielleicht gerade im Übergangszeitraum zwischen den Museumskonzeptionen produktiv – als die Ordnung der Abbildungen zwischenzeitlich von der Aufstellung der Schausammlungen abwich? Als sich Ende des 19. Jahrhundert jedoch die Ausstellungsästhetik des Germanischen Nationalmuseums abermals änderte und neben der Veranschaulichung der kulturhistorischen Entwicklungsreihen nun auch vermehrt anschauliche Bilder kulturhistorischer Ensembles gezeigt werden sollten (historische Stuben, Stilzimmer, Epochenräume – in denen unterschiedliche Objekte nach lebensweltlichen Zusammenhängen arrangiert waren),179 entfernte sich die lineare Ordnungslogik der Kapseln des Bilderrepertoriums von der räumliche Anordnung der Exponate. Aus dieser Differenz ergaben sich aber keine produktiven Effekte. So verloren sich die Wechselbeziehungen zwischen den Kapseln des Bilderrepertoriums und den Schauräumen des Museums allmählich im Abseits der musealen Aufmerksamkeit.
4.4 D ARSTELLUNG DES G EWESENEN – A BGRENZUNGEN DES KULTURHISTORISCHEN M USEUMS Aus einer prismatischen Überschau einzelner photographischer Bildkonzepte und ihrer musealen Aneignung läßt sich noch kein photoästhetisches Programm des Bilderrepertoriums oder des Germanischen Nationalmuseums ableiten. Während die Schausammlungen des Museums seit 1870 nach dem Sammlungsprogramm Essenweins gezielt ergänzt wurden, blieb das Bilderrepertorium weiterhin ein Sammelkasten, fast ausschließlich von den Geschenken abhängig, die dem Museum übergeben wurden. Daß August Essenwein selbst über durchaus klare Vorstellungen verfügte, was eine wissenschaftlich brauchbare Abbildung auszeichnete, zeigt sich nicht zuletzt an der überdurchschnittlichen Qualität seiner eigenen Abbildungssammlung.180 Sie mußten die Form des Gegenstandes möglichst klar wiedergeben und Vergleiche ermöglichen. Aber das Konzept des Bilderrepertoriums setzte – wie bereits dargestellt – vor allem auf den quantitativen Effekt der photographischen Bildproduktion. Auf die Art der bildlichen Aneignung eines Gegenstands, auf die 179 | Deneke 1977, S. 127f. 180 | Siehe zu Essenweins Sammlung oben, Kapitel 4.2. Vgl. auch Essenweins späteren Entwurf eines historisch-kritisch editierten Quellenwerks historischer Bilder und Realien: unten, Kapitel 4.5
K APITEL 4.4 | D ARSTELLUNG DES G EWESENEN
Qualität der Objektdarstellung, konnte das Germanische Nationalmuseum deshalb allenfalls dadurch Einfluß nehmen, daß es die medientechnischen Möglichkeiten und ihre jeweilige Umsetzung öffentlich bewertete. Wie schon seit den 1850er Jahren bot der Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit dafür noch bis in die Mitte der 1880er Jahre ein Forum.181 Essenweins Reorganisation des Bilderrepertoriums als Abbildungssammlung hatte eine besondere Wertschätzung gegenüber der Photographie ausgedrückt, die damit als Leitmedium der Studiensammlung in den Vordergrund getreten war. Diese positive Haltung spiegelte sich auch in den kleineren Beiträgen des Anzeigers. Unter den »Vermischten Nachrichten« des Jahres 1871 wurde auf eine Serie von Photographien aus spanischen Sammlungen hingewiesen, die auch einige Gegenstände deutscher Kunst- und Kulturgeschichte zeigten, z. B. Gemälde, Rüstungen, Waffen.182 Die Mitteilung wurde mit einem allgemeinen Lob der Photographie verbunden. Die frühere Differenzierung der Photographie in Abbildung (dreidimensionaler Objekte) und Nachbildung (zweidimensionale Werke), die für den Mediendiskurs im Germanischen Nationalmuseum in den 1850er Jahren entscheidend war, spielte hier keine Rolle mehr: »Die Photographie, welche immermehr zur Nachbildung von Kunst- und Alterthumsdenkmalen in Aufnahme kommt, und durch die allein authentische Nachbildungen erlangt werden können, die zu wirklichen Schlüssen auf vergleichender Basis berechtigen, hat uns in jüngster Zeit das der entfernten Lage wegen der Mehrzahl unserer Kunstforscher und Kunstfreunde noch unzugängliche Spanien erschlossen.« 183
Die quantitativen Erwartungen und die qualitative Wertschätzung der Photographie gingen Hand in Hand. Die Photographie erschloß immer neue Bereiche und erweiterte damit den Bestand des imaginären Museums deutscher Kunst- und Kulturgeschichte, das zunehmend durch photographische Bilder geprägt wurde. Die Photographie wurde damit – als einzig wissenschaftliches Bildmedium – deutlich aus dem Medienensemble des 19. Jahrhunderts herausgehoben. Gegenüber diesem wachsenden Vertrauen in die Photographie, das sich auch in den Programmschriften Essenweins (1867, 1870) und im neuen Konzept des Bilderrepertoriums ausdrückte, blieb aber im Germanischen Nati181 | Bereits Mitte der 1870er Jahre werden die Rezensionen seltener, die sich differenziert und kritisch mit den unterschiedlichen Medientechniken und ihrer jeweiligen praktischen Realisierung befassen. 1884 wurden die Periodika des Germanischen Nationalmuseums umgestellt. Mit der Aufgliederung des früheren Anzeigers für Kunde der deutschen Vorzeit in einen eher als Berichtsteil der musealen Arbeit konzipierten Anzeiger des germanischen Nationalmuseums und einem wissenschaftlichen Beitragsteil Mitteilungen des germanischen Nationalmuseums verlor der Anzeiger die Bedeutung als kulturhistorisches Forum. 182 | Der Verfasser bezieht sich auf »Photographien von Lorent, die K. Quaas in Berlin in den Handel bringt«, d. h. auf Aufnahmen des Photographen Jakob August Lorent. 183 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1871, Sp. 64.
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onalmuseum die ältere medienkritischere Wahrnehmung der Photographie als Gegenposition präsent. In einer Rezension über ein Tafelwerk zur Waffensammlung des Arsenals in Wien äußerte August von Eye 1868 Kritik an einem seiner Einschätzung nach unflektierten Einsatz der Photographie zu Abbildungszwecken: »So unersetzlich die Photographie erscheint, wo es sich darum handelt, den Charakter und geistigen Ausdruck eines Kunstwerkes wiederzugeben, worin sie nach dem jetzigen Stand ihrer Vervollkommnung auch den geschicktesten Künstler übertrifft, so unzulänglich sind ihre Mittel, wenn es gilt, die technische Zusammensetzung und Ausführung irgend eines Kunstoder Gewerbezeugnisses zu verdeutlichen. Da sie bekanntlich die Zeichnung in den tieferen Schatten nicht zu verfolgen vermag, hüllt sie oft Theile der Gegenstände in einen Schleier, der das Verständnis zu sehr unterbricht, und läßt Dinge nur errathen, die man vollständig übersehen müßte. So freuen wir uns, auf einem Gebiete, auf welchem man der neueren Entdeckung bereits einen zu großen Spielraum eingeräumt, wieder einmal ein anderes, solides Verfahren angewandt zu sehen.« 184
Die Bemerkung des Kulturhistorikers Eye, der als Vorstand der Kunst- und Altertumssammlungen das Aufkommen der Medientechnik Photographie im Germanischen Nationalmuseum seit 1853 verfolgt und mitbestimmt hatte, und diese noch bis 1875 als Mitarbeiter unter August Essenwein begleitete, hält an einer ambivalenten Einschätzung der Photographie fest. Diese Haltung läßt sich durchaus aus den Medienpraktiken und -diskursen der 1850er Jahre herleiten, in denen das Potential der Photographie im Vergleich mit anderen Medien und in Abhängigkeit vom Gegenstand der Wiedergabe bestimmt wurde. Die spezifische Stärke der Photographie (den Wahrnehmungseindruck des Originals nicht zu verändern), die sich vor allem bei der Kunstreproduktion im Vergleich mit allen graphischen Techniken bemerkbar mache, sieht er zugleich als deren Schwäche an, wenn es darum geht, Zusammenhänge zu verdeutlichen, die sich mitunter nicht mit einem Blick erfassen lassen, sondern erst aus einer Summe von Detailwahrnehmungen konstruiert werden müssen. Im Vergleich dieser Äußerungen erscheint der durch die Kunstgewerbebewegung geprägte August Essenwein um 1870 als die treibende Kraft für die Wahrnehmung der Photographie als universellem Abbildungsmedium. Im Verlauf der nächsten 15 Jahre, in denen Essenwein als Museumsdirektor mit Abbildungen, Reproduktionen und Originalen umzugehen hatte, sollte sich diese positive Einstellung zum Medium Photographie verändern.
184 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1868, Sp. 339.
K APITEL 4.4 | D ARSTELLUNG DES G EWESENEN
Dynamische Konstellationen – Sammlung, Ausstellung, Photographie Die Medien Museum, Ausstellung und Photographie erlebten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen gemeinsamen Aufschwung.185 Wichtigster Motor dieser Entwicklung waren zunächst die Kunstgewerbemuseen, genauer: das Londoner South Kensington Museum. In Anknüpfung an die Londoner Weltausstellung von 1851, dem es seine Gründung verdankte, etablierte es eine produktive Verbindung von didaktischem Museumskonzept, Sonderausstellungspraxis und photographischer Dokumentations- und Publikationstätigkeit.186 Ein Meilenstein dieser Entwicklung war die 1857 in Manchester veranstaltete Ausstellung »Art Treasures of the United Kingdom«. Die Sonderausstellung erschloß durch Leihgaben aus nicht öffentlich zugänglichen Privatsammlungen ein bislang verborgenes ›Schattenmuseum‹, das herausragende kunsthandwerkliche Exponate des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zeitweise in eine vorbildliche, entwicklungsgeschichtliche Ordnung setzte – bevor sich diese, nach Ende der Ausstellung, wieder auflöste.187 In Anlehnung an die Londoner Weltausstellung von 1851 (der internationalen Leistungsschau des technischen Zeitalters) wurde die Photographie auch bei der Manchester-Exhibition (der historischen Leistungsschau des Kunstgewerbes) als Publikationsmedium eingesetzt; dabei stand den Veranstaltern zudem das Vorbild der kunstgewerblichen Photoserien Alexander von Minutolis vor Augen (»Vorbilder für Handwerker und Fabrikanten«, ab 185 | Korff 1995, S. 20f. versteht die Museumsgeschichte seit der Französischen Revolution als eine »Verschränkungsgeschichte von Museum und Ausstellung«, die – von gegenseitigem Mißtrauen geprägt – erst in der Gegenwart ihren Abschluß findet. Das Museum sei dabei der Sieger, da das Medium Ausstellung in ihr aufgehe. 186 | Hamber 1996, S. 401f. 187 | Museumsgeschichtlich ist die Manchester-Exhibition dadurch bedeutsam, weil hier erstmalig der Versuch unternommen wurde, das kunstgeschichtliche Modell einer Entwicklungsgeschichte der Formen und Stile über den engeren Bereich der Kunstwerke hinaus auf die Aufstellung kunsthandwerklich herausragender Gebrauchsgegenstände des Mittelalters zu übertragen. Ausgestellt wurden zahlreiche bislang weitgehend unbekannte Objekte aus britischen Privatsammlungen, die dadurch zumindest temporär dem kunstgeschichtlichen Ordnungsprinzip, der Methode der vergleichenden Betrachtung und der neuen, didaktischen Zielsetzung öffentlicher Museen unterworfen werden konnten. Dieser Gruppierung verstreut aufbewahrter Gegenstände war eine schriftliche Zusammenstellung und Einordnung der einzelnen Objekte vorausgegangen. Wenige Jahre vor der »Art Treasures«-Ausstellung hatte der Berliner Kunsthistoriker und Galeriedirektor Gustav Friedrich Waagen in einem dreibändigen Werk »Treasures of Art in Great Britain« auf diese der Öffentlichkeit unbekannten Bestände hingewiesen und die Sammlungsobjekte bereits aus dieser neuen, entwicklungsgeschichtlichen Perspektive beurteilt. Dieses Inventar diente den Planern der Manchester-Exhibition als Leitfaden zur Auswahl der Exponate, die (unter Mitwirkung von Waagen) nach entwicklungsgeschichtlichen (d. h. seriellen) Prinzipien aufgestellt werden sollten. Dazu: Pearce u.a. 2002, S. 8–13, Whitehead 2005, S. 26f.
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1854).188 Während Minutolis Sammlungen aber dauerhaft in Liegnitz verblieben und durch die Photographien nur mobilisiert wurden, waren die Exponate der Manchester-Exhibition nur für die Dauer der Ausstellung als Sammlung vereint. Die Photographien sicherten damit eine einmalige öffentliche Konstellation von Schaustücken und macht sie durch die Publikation – einzeln oder als Serie – als MedienObjekte ortsunabhängig verfügbar. Die mediale Konstellation der kunstgewerblichen Sonderausstellung führt damit zwei unterschiedlichen Modelle des Medieneinsatzes im Museum zusammen: das Modell des Freiherrn von Minutoli (mediale Streuung des materiell konzentrierten Sammlungsbestandes) und das Modell des Freiherrn von Aufseß (mediale Konzentration des materiell zerstreuten Sammlungsbestandes). Imaginäre Museen, Sammlungen und Ausstellungen greifen ineinander und halten damit einen Kreislauf in Bewegung, der immer mehr Objekte medial und museal zirkulieren läßt. Damit werden Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur Sammlungsbestände, sondern auch Wissensbestände dynamisch erweitert. August Essenwein war an der ersten Sonderausstellung, die im deutschsprachigen Raum nach dem Vorbild der Manchester-Exhibition durchgeführt wurde, intensiv beteiligt.189 Für die vom Wiener Alterthumsverein 1860 durchgeführte »Archäologische Ausstellung«190 wurde Essenwein neben den Kunsthistorikern Rudolf Eitelberger und Gustav Heider nicht nur als Initiator genannt – er war zudem als privater Leihgeber vertreten, veröffentlichte eine umfangreiche Besprechung der Ausstellung und fertigte dazu selbst die Zeichnungen für die Holzstöcke an, die mit dem Text abgedruckt wurden (darunter einige seiner eigenen Sammlungsstücke).191 Zu einer weiteren großen Ausstellung, die 1868 im Zusammenhang mit dem internationalen archäologischen Kongreß in Bonn gezeigt wurde, verfaßte Essenwein (inzwischen 188 | Fawcett 1995, S. 67. Siehe zu Minutoli: oben, Kapitel 1. 189 | Zum Ausstellungswesen der 1860er und 1870er Jahre und seiner Resonanz im Germanischen Nationalmuseum: Kahsnitz 1978, S. 719–725. 190 | Essenwein 1861. Der Begriff der »archäologischen« Ausstellung ist zeitgenössisch zur Abgrenzung gegenüber den Kunstausstellungen gebraucht worden. Archäologie hat in diesem Fall nichts mit Grabungszeugnissen zu tun. In dieser Begriffsverwendung fallen Archäologie, Altertumskunde und Kulturgeschichte weitgehend synonym ineins. Eine Kritik an den unklaren Begriffsfeldern formuliert Lauffer 1907, S. 9, der in seiner Analyse der »Realien als archäologische Quellen« auf den Begriff der Archäologie als eine nur provisorische Benennung zurückgreift. – An anderer Stelle benutzt Essenwein ›Archäologie‹ als Oberbegriff, der das Historische und Kulturhistorische umfaßt. Das Germanische Nationalmuseum verbinde demnach »alle Einzelzweige der archäologischen Wissenschaften [...], die eigentlichen historischen Studien mit den kulturgeschichtlichen« (Essenwein 1870/1978, S. 995). 191 | Im Nachtrag des Beitrags vermerkt Essenwein, daß er eine Wiedergabe der Holzschnitte auf separat einzulegenden Blättern (d. h. als disponible Elemente) favorisiert hatte – »die Redaction sah sich jedoch veranlaßt, sie in der gegebenen Weise in den Text einzudrucken« (Essenwein 1861, S. 167). – Als einer der Initiatoren erwähnt ist Essenwein in: Österreichische Revue 5, 1867, S. 159. Rückblickend wurde die Ausstellung hier auch als ein Ausgangspunkt für die spätere Gründung des Museums für Kunst und Industrie in Wien angesehen.
K APITEL 4.4 | D ARSTELLUNG DES G EWESENEN
Direktor des Germanischen Nationalmuseums) im Anzeiger eine begeisterte Besprechung. Gleich zu Beginn stellte er die vergleichende Betrachtung entwicklungsgeschichtlich angeordneter Objekte als die wichtigste Grundlage kunst- und kulturhistorischer Erkenntnis heraus: »Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, wie nur durch Vergleiche, durch Nebeneinanderstellung von Reihen, durch wirkliche Gegenüberstellung wichtiger Objekte eine feste Basis für so viele Thatsachen gewonnen wird, und das Studium kann somit kaum mehr gefördert werden als durch Ausstellungen, welche Dinge zeitweilig nebeneinander bringen, die sonst an weit auseinander gelegenen Orten aufbewahrt werden. Ein Museum kann eben nur Einzelnes haben. Die Gegenstände ersten Ranges, welche auf den Gang der Kunstgeschichte bestimmend eingewirkt haben, und von denen aber auch für die Beurtheilung anderer Werke allein der sicherste Anhaltspunkt gewonnen werden kann, gibt es nur wenige, und selbst die kostbarsten Sammlungen können nicht mehr als vereinzelt solche Stücke aufweisen. Kann man nun auch auf manchem Gebiete durch gute Abgüsse sich solche Reihen bilden, so genügen auf anderen Gebieten eben nur die Originale selbst.« 192
Im Rückblick auf 125 Jahre Museumsgeschichte hat der Kunsthistoriker Rainer Kahsnitz 1978 auf den irritierenden Umschwung in Essenweins Argumentation hingewiesen, der ja noch ein Jahr vor der Bonner Ausstellung in seiner Schrift »Über kleine Museen« (1867) die besondere Bedeutung von Abbildungssammlungen und Abgüssen herausgestellt hatte.193 Im Museum des 20. Jahrhunderts hatte man sich daran gewöhnt, daß in bezug auf die Sammlungsobjekte ein grundsätzliches Urteil für oder gegen die Reproduktion gefällt wird, so daß die ambivalente, differenzierte und vielleicht mitunter widersprüchliche Haltung des 19. Jahrhunderts Irritationen hervorrief. Aber vielleicht ist Essenweins Lob der Sonderausstellung eben der Einsicht geschuldet, daß eine dauerhafte Museumssammlung allein durch Originale niemals eine hinreichende Arbeitsgrundlage für vergleichende kunst- und kulturgeschichtliche Studien bieten wird. Darin sieht Essenwein allerdings auch gar nicht die Aufgabe der Schausammlungen. Sie sollen vorrangig das Wissen vermitteln, das durch Sonderausstellungen oder Abbildungssammlungen gefördert und gewonnen wird. Dabei wird die »unmittelbare Vergleichung« der Originale höher geschätzt als die mittelbare Zusammenstellung von Abbildungen – doch ist sich Essenwein wohl bewußt, daß Sonderausstellungen dieser Art nur durch günstige Konstellationen entstehen und (im Gegensatz zu den Abbildungen) nicht dauerhaft verfügbar sind. In wissenschaftlicher Hinsicht müssen Sonderausstellungen und Abbildungssammlungen (also: imaginäre Museen) dieser Einschätzung nach den Schausammlungen vorausgehen, die sich dem damit gewonnenen Kenntnisstand über kulturhistorische Entwicklungen erst durch die Eingliederung von Reproduktionen annähern können. Eine aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts naheliegende Dichotomie von Schau- und Studiensammlungen, Dauer- und Sonderausstellungen, re192 | Essenwein 1868a, Sp. 318. 193 | Kahsnitz 1978, S. 722.
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alem und imaginärem Museum wäre aber zu schematisch gedacht. Die Bereiche wurden im 19. Jahrhundert immer wieder ineinander verflochten. Das zeigt sich an der ersten Sonderausstellung, die August Essenwein 1871 als Museumsleiter im Germanischen Nationalmuseum organisierte. Aufgegriffen wurde dazu ein Thema der Kunstgeschichte, das aus räumlichen und zeitlichen Gründen nahelag: eine Ausstellung zum 400. Todestag von Albrecht Dürer. Aber nicht an eine Vereinigung von Originalen war dabei gedacht (im Sinne der heutigen künstlermonographischen Großausstellungen) – sondern an »eine kleine Ausstellung von Photographien u. s. w. nach Dürer’schen Gemälden und Handzeichnungen«.194 Photographische Reproduktionen (ein ausgestelltes imaginäres Museum) waren demnach der Ansatzpunkt dieser Ausstellung. Aber infolge der ersten Mitteilung im Anzeiger traten verschiedene Besitzer originaler Arbeiten Dürers als Leihgeber an das Museum heran. Dadurch verlagerte sich der Schwerpunkt (und das Gewicht) der Ausstellung. Die Gemälde und Handzeichnungen sowie eine »fast absolut vollständige« Privatsammlung von Holzschnitten und Kupferstichen Dürers, stellten nun in der Berichterstattung des Museums die photographischen Reproduktionen in den Schatten – zumal einige Originale (z. B. das bekannte Portraitgemälde des Hieronymus Holzschuher) dem Museum auch über die Dauer der Ausstellung hinaus als Leihgabe zugesichert wurden. 195 Trotzdem kaufte das Museum noch wenige Wochen vor Beginn der Ausstellung 149 photographische Faksimiles nach Dürer-Zeichnungen von dem bekannten Reproduktionsspezialisten Adolphe Braun, die auch in der Ausstellung gezeigt wurden.196 Im Anschluß an die Ausstellung wurden von dem Nürnberger Photographen Leyde »21 Photographien nach Handzeichnungen von der Dürer-Ausstellung« erworben – möglicherweise genau jene Unikate, die nach Ablauf der Ausstellung wieder an die Leihgeber zurück gingen.197 194 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1871, Sp. 105. 195 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1871, Sp. 145. Das Holzschuher-Portrait (heute in Berlin) wertete die Gemäldesammlung des Museums so stark auf, das sie um dieses Bild herum neu aufgestellt wurde (Strieder 1978, S. 597). 1884 verkaufte die Eigentümerfamilie das Gemälde an die Berliner Gemäldegalerie (ebd., S. 599). 196 | Altes Zugangsregister, S. 607 (ZR 1871/6196b). Brauns Kohledrucke (ab 1866) erreichten Faksimile-Qualitäten, die praktisch nicht mehr von den Vorlagen zu unterscheiden waren (Hamber 1996, S. 84). Der Name Adolphe Braun steht in der Photographiegeschichte für die im 19. Jahrhundert lukrative Verbindung von photographischem Unternehmertum und Kunstreproduktion. Braun setzte das von Swann patentierte Kohle- oder Pigmentdruckverfahren ein, bei dem anstelle des beschichteten Albuminpapiers Pigmentpapiere verwendet werden konnten, die damit optisch noch näher an die Erscheinungsform der graphischen Originale heranreichten. Zum Faksimile: siehe oben, Kapitel 3.2. 197 | Altes Zugangsregister, S. 614 (ZR 1871/6254a). Demgegenüber zielt die nur wenige Tage später verzeichnete Erwerbung von 43 Photographien nach Handzeichnungen Dürers aus dem Auktionshaus Posonyi in Wien (ebd., S. 616; ZR 1871/6275) vermutlich eher darauf, den durch die eigene Ausstellung geschaffenen Sammlungsschwerpunkt Dürer-Graphik weiter auszubauen.
K APITEL 4.4 | D ARSTELLUNG DES G EWESENEN
Ausstellungsphotographien: Auswahl einer Auswahl Photographien gingen Ausstellungen voraus, waren darin einbegriffen und gingen wieder daraus hervor. Im Gegensatz zu einem gedruckten Katalog, der in der Regel die komplette Auswahl der Exponate auflistete, konzentrierten sich die photographischen Publikationen meist auf eine Auswahl dieser Auswahl.198 Photographiert wurden dabei vorrangig die herausragenden und als besonders vorbildlich gewerteten Ausstellungsstücke – auch weil diese als direkte oder allgemein ästhetische Vorbilder vor dem Hintergrund der staatlichen Gewerbeförderung besonders gute Absatzchancen versprachen. Die Verleger und Photographen, die in diesen Austausch von Museen und Sammlern eingeschaltet waren, agierten in diesem System unter Marktbedingungen.199 Die ästhetische Werthierarchie, die das Kunstmuseum und das Kunstgewerbemuseum prägte (gegenüber der das frühe Germanische Nationalmuseum als Gegenentwurf aufgetreten war), übertrug sich durch Kunstmarkt und Verlagswesen auf die Praktiken der Objektphotographie und schlug sich damit auch im Sammelkasten des Bilderrepertoriums nieder.200 Eine größere Anzahl von Photographien aus dem Bestand des Bilderrepertoriums ist solchen photographischen Serien zuzuordnen, wie sie in den 1870er Jahren im Zusammenhang mit kunstgewerblichen Ausstellungen entstanden. Die einzelnen Blätter sind in den Kapseln der Sammlung verstreut, lassen sich aber anhand ihrer spezifischen Spurenprofile in ihrem Zusammenhang erkennen. Vor allem drei Ausstellungen sind hier zu nennen: Erstens die Ausstellung älterer kunstgewerblicher Gegenstände im Zeughaus Berlin im Jahr 1872 (mit 261 Photographien von Eduard Mey und Gustav Schucht),201 zweitens die Mailänder Gewerbeausstellung von 1874 (mit 250 Aufnahmen 198 | Beispielhaft ist hier die Sonderausstellung »The Art Wealth of England«, die das South Kensington Museum als Sonderausstellung parallel zur zweiten Londoner Weltausstellung 1862 zeigte. Neben dem vollständigen »Catalogue of the Special Exhibition of Works of Art of the Mediaeval, Renaissance, and more recent periods, on loan at the South Kenfington Museum, June, 1862« erschien ein Jahr später die photographische Auswahl der 50 herausragendsten Werke: »The art wealth of England. A series of photographs, representing fifty of the most remarkable works of art contributed on loan to the special exhibition at the south Kensington Museum 1862« (P. and D. Colnaghi, Scott and Co.). 199 | Neben der Portraitphotographie war die Kunstreproduktion aber der wichtigste Markt der Berufsphotographen des 19. Jahrhunderts (Pohlmann 1989, S. 499). 200 | Der weitaus größte Teil des Bilderrepertoriums ist der Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet. – Für das Wiener Beispiel hat Gröning 2001a, S. 134f. in einer Analyse der Photographien des Museums für Kunst und Industrie festgestellt, daß der Anteil an Abbildungen klassischer, akademischer Kunst (v. a. Handzeichnungen) als Reaktion auf das besondere Publikumsinteresse daran zwischen 1864 und 1871 kontinuierlich gestiegen war. 201 | Vgl. Altes Zugangsregister, S. 684 (ZR 1873/6901): Geschenk des Komitees für die Ausstellung im Zeughaus Berlin. Im Untersuchungsbestand der Kunstgewerbe-Kapseln konnten 199 Blätter diesem Konvolut wieder zugeordnet werden.
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von Photograph Rossi),202 drittens die im Budapester Palais Károlyi 1876 veranstalteten Ausstellung kunstgewerblicher und historischer Denkmäler (mit 143 Aufnahmen von Gyorgy Klösz).203 Die beiden erstgenannten Ausstellungen standen in direkter Beziehung zur Gründung von Kunstgewerbemuseen. Die Berliner Zeughaus-Ausstellung von 1872, in der eine große Anzahl von Sammlungsgegenständen aus der Königlichen Kunstkammer in eine kunstgewerblich-entwicklungsgeschichtliche Ordnung gestellt wurden, ist als direkte Vorläuferin des im Anschluß daran gegründeten Kunstgewerbemuseums in Berlin anzusehen.204 Die Mailänder Zusammenstellung bedeutender Zeugnisse des Kunstgewerbes aus italienischen Sammlungen zielte ebenfalls auf die Verstetigung einer Gewerbesammlung im Museo d’Arte Industriale und vertraute sogar (vergeblich) darauf, durch die Erträge aus der Reproduktion der Exponate die Museumsunterhaltung finanzieren zu können.205 Es handelt sich bei den Aufnahmen um typische Zeugnisse der professionellen Photographie des 19. Jahrhunderts – Albuminabzüge von Glasplatten, belichtet nach dem Naßkollodiumverfahren und teilweise deutlich sichtbar retuschiert. Die Bildgestaltung zielt auf das konventionelle Grundmodell der Objektphotographie: Gesamtansichten, meist frontal oder mit Blick auf die naheliegenden Schauseite aufgenommen; die Tendenz zur visuellen Freistellung wird erkennbar durch den retuschierten Hintergrund; das Bemühen um eine möglichst detailreiche Aufnahme ist nicht immer geglückt. Stärker als die Museumsphotographen der 1860er Jahre hinterlassen diese freien Unternehmer aber ihre eigenen Markenzeichen. Die Spuren einer photographischen Handschrift sind ökonomisch bedingt: Kartons und Photopapiere sind auch Werbeflächen, die durch viele Hände gehen. Klösz signiert und numeriert seine Aufnahmen im Negativ; bei den Aufnahmen von Rossi ist ein Belichtungsstreifen mit dem Namen des Photographen und der Nummer der Aufnahme mitkopiert, während ein Prägestempel des Museo d’Arte dem Albuminpapier aufgedrückt ist; auch der Photograph Mey hinterläßt den Abdruck eines Prägestempels auf dem Albumpapier, Schucht einen solchen auf dem Karton. Die didaktische Zielsetzung der Kunstgewerbebewegung verlangt nach einer Verbindung von Bild und Text. Auf die Kartons der Budapester und 202 | Vgl. ebd., S. 732 (ZR 1875/7343): Geschenk des Komitees der Industrieausstellung in Mailand. Im Untersuchungsbestand der Kunstgewerbe-Kapseln konnten 201 Blätter diesem Konvolut wieder zugeordnet werden. 203 | Vgl. ebd., S. 784 (ZR 1877/7743): Geschenk des Photographen Georg [= Gyorgy] Klösz. Im Untersuchungsbestand der Kunstgewerbe-Kapseln konnten 101 Blätter diesem Konvolut wieder zugeordnet werden. 204 | Kuhrau 2005, S. 124: »Sie war präzisen kulturpolitischen Zielen verpflichtet, denn sie stellte in ihrer Inszenierungspraxis und ihrer Systematik ein temporäres Kunstgewerbemuseum dar, das als Vorbild eines zukünftigen staatlichen Museums dienen sollte.« 205 | Nichols 1877, S. 116: »An exhibition recently opened serves as a sort of prelude. With the reproduction of the works which are to be seen there, they hope to sow the seed of a larger growth, which will develop from year to year.« Das Museo d’Arte Industriale wurde 1877 aufgelöst.
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Berliner Aufnahmen sind bedruckte Etiketten mit Kurzbeschreibungen der dargestellten Objekte aufgeklebt. Bei den Berliner Sammlungsobjekten sind dabei jeweils Maßangaben mit abgedruckt, während Klösz einen Maßstab neben den Objekten im Bild plaziert. Bei den Mailänder Aufnahmen fehlen solche deskriptiven Hinweise – die mit dem Belichtungsstreifen ins Bild kopierte Nummer führt zu keiner Information, die im Bilderrepertorium verfügbar wäre.206 Es gibt keine Angaben zu Besitzern, Objektherkunft und Datierung, nicht einmal eine Objektbezeichnung ist notiert. Erst eingereiht in die serielle Ordnung des Bilderrepertoriums werden die Mailänder Photographien als Elemente der Kunst- und Kulturgeschichte (bedingt) lesbar. Der Umgang des Germanischen Nationalmuseums mit den photographischen Serien dieser Ausstellungen ist symptomatisch für die Veränderung der Beschriftungs- und Aneignungspraktiken im Bilderrepertorium gegen Mitte der 1870er Jahre. Nach wie vor werden die Eingänge ins Museum gestempelt, um das Eigentum des Museums zu markieren (alle Photographien der oben genannten Serien tragen auf der Rückseite den kleinen Adlerstempel) – aber die manuelle und intellektuelle Aneignung der Objekte hinterläßt nun weniger Spuren. In der Regel wird nur noch eine knappe Objektbezeichnung auf dem Karton notiert, seltener Standort und ungefähre Datierung – grundsätzlich verzichtet wird jedoch auf die Kategorisierung der abgebildeten Objekte.207 War es früher üblich gewesen, jedes Objekt durch einen standardisierten Beschriftungsblock in das museale Ordnungssystem einzupassen (es museal zu formatieren), realisieren sich diese Zuordnungen nunmehr vorrangig durch den Akt der Einreihung in die Kapseln des Bilderrepertoriums.
Abgrenzung des kulturhistorischen Museums Das Germanische Nationalmuseum war um 1870 eingebunden in das von den Interessen des Marktes und des Kunstgewerbes dominierte System von Sammlungen, Ausstellungen und Photographien. Daß die Komitees der Ausstellungen in Berlin und Mailand ihre photographischen Abbildungswerke »der interessantesten Gegenstände« oder »hervorragendsten Objekte« ihrer kunstgewerblich ausgerichteten Ausstellungen dem Nürnberger Museum schenkten, war kein Zufall. Das Organ für christliche Kunst sah das Germanische Nationalmuseum in dieser Hinsicht sogar als einen Vorreiter und die jüngeren Ausstellungen in dieser Tradition. So hieß es zu der Berliner Zeughaus-Ausstellung: 206 | Möglicherweise haben die Beschreibungen in italienischer Sprache vorgelegen und sind deshalb nicht mit den Bildern verknüpft, vielleicht wartete man auf die deutschen Texte (die Etiketten und Kataloge dieser Ausstellungen sind häufig mehrsprachig). Aber diese Verbindung von Text und Bild hat nicht mehr stattgefunden. 207 | Die Reduzierung des Beschriftungsblocks auf eine Objektbezeichnung beginnt Anfang der 1870er Jahre, setzt sich aber erst mit dem Ausscheiden August von Eyes (1875) vollends durch. Zur früheren Beschriftungspraxis: siehe oben, Kapitel 4.2.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM »Nach Vorgang des Germanischen Museums in Nürnberg, des Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien und des National-Museums zu München, welche eine Auswahl der in ihrem Besitze befindlichen kunstgewerblichen Gegenstände in photographischen Abbildungen publicirt haben, hat nun kürzlich auch das Gewerbemuseum zu Berlin eine grosse Anzahl solcher Photographieen anfertigen lassen und veröffentlicht.« 208
Die Serie von Photographien nach Gegenständen des Germanischen Nationalmuseums, die 1873 publiziert wurde und auf den ersten Blick die Orientierung am Typus des Kunstgewerbemuseen fortsetzt, führte schließlich zu einer abgrenzenden Positionsbestimmung des kulturhistorischen Museums.209 Die Idee war keine gezielte Wiederaufnahme der früheren Publikationsabsichten des Museums, sondern von außen an dieses herangetragen worden. Triebkraft war das ökonomische Interesse des Nürnbergers Verleger Soldan. Im März 1873 wurde »eine Folge von 18 Blättern Photographieen nach Kunstwerken aus dem Museum« angezeigt, »die der hiesige Buchhändler Sigm. Soldan durch den Photographen Hahn hat anfertigen lassen, und die sich auf etwa 60 Blätter erstrecken und mustergültige Vorbilder für verschiedene Gewerbe bieten soll«.210 Auch Essenwein ging darauf in der beiliegenden Einleitung zur Serie ein: »Zunächst von einem praktischen Gesichtspunkt ausgehend, fasste Herr Soldan bei der von ihm getroffenen Auswahl hauptsächlich solche Gegenstände ins Auge, die in erster Linie den heutigen Bedürfnissen des Kunstgewerbes nach guten Mustern entsprechen.«211 Dann sah er sich aber genötigt, den Photographien eine Art Richtigstellung vorauszuschicken, in der er deutlich macht, warum die vom Verleger getroffene Auswahl von 60 Schaustücke nicht repräsentativ für die Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums ist: »Die Aufgabe des germanischen Nationalmuseums ist allerdings eine weitergehende. Die Sammlungen sollen auf jedem Gebiete der Kultur sich bewegen und überall das Material nebeneinander stellen, welches zum Studium des Entwicklungsganges jedes Zweiges nöthig ist. Die Frage, wie weit die Dinge mit dem heutigen Zeitgeschmack übereinstimmen, wie weit mit den künstlerischen Anschauungen Einzelner, kann gar nicht in Betracht kommen. Was einmal da gewesen, hat in der geschichtlichen Reihenfolge seinen Platz.« 212
Als kulturhistorisches Museum teilt das Germanische Nationalmuseum zwar die Ausstellungsprinzipien des kunsthistorischen bzw. des entwicklungsgeschichtlich ausstellenden Kunstgewerbemuseums, sieht sich aber im Gegen208 | Organ für christliche Kunst, 1873, S. 142. 209 | Die stark kunstgewerbliche Ausrichtung der »Photographieen aus dem germanischen Museum« (1865-66) und die Übernahme der Museumsleitung durch August Essenwein haben vermutlich die Wahrnehmung des für Teile der Öffentlichkeit noch immer unklar definierten Germanischen Nationalmuseums als einem deutschen Kunstgewerbemuseum gefördert. 210 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1873, Sp. 81. 211 | Essenwein [1873/74]. 212 | Ebd.
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satz zu diesen dazu verpflichtet, die gesamte kulturelle Überlieferung in möglichst lückenlosen Entwicklungsreihen darzustellen: »Je vollständiger diese das Gute und Schöne, das Grosse und Edle, daneben aber auch das scheinbar Unbedeutende umfasst, um so richtiger wird sie das Bild der Entwickelung der Kultur geben, um so klarer das Auf- und Absteigen, die Wellenbewegungen, wie die scheinbaren Sprünge zeigen.« 213
Eine richtige, d. h. repräsentative Darstellung kulturhistorischer Entwicklungen ist demnach nur durch ein breites Sammlungsspektrum möglich, das (über die Gegenstandsbereich der Kunst und des Kunsthandwerks hinaus) auch unscheinbare historische Gebrauchs- und Alltagsgegenstände umfaßt. Das Germanische Nationalmuseum hält damit an der Idee der Produktivität eines Sammelkastens fest. Aber auch durch diese zufälligen Objektzugänge ergibt sich nicht unbedingt eine repräsentative Auswahl. »Soweit also die Gegenstände sich nicht selbst bieten, sondern gesucht werden müssen, kann als einziger Gesichtspunkt für das Museum der geltend gemacht werden, dass man vor Allem die Dinge zu erhalten sucht, die vorzugsweise charakteristisch für ihre Epoche sind, solche deren Einfluss maassgebend für viele Andere war, sei es in dem Sinne, den wir heute gut, sei es in jenem, den wir verwerflich zu nennen berechtigt sind.« 214
Nicht das Herausragende, sondern das Charakteristische ist somit das zentrale Selektionskriterium, um den Sammelkasten in eine strukturierte Ordnung zu bringen. Im Anschluß an das Objektivitätspostulat Leopold von Rankes darf diese Auswahl die historischen Objekte nicht nach den utilitaristischen, ästhetischen oder moralischen Kriterien der Gegenwart bewerten, denn: »Die einzige direkte Aufgabe des Museums bleibt die Darstellung des Dagewesenen; und so befindet sich in unseren Sammlungen Manches, was weder schön noch zweckmässig genannt werden darf, was nicht zur Nachbildung empfohlen werden kann, aber doch seine volle Berechtigung hat, dessen Fehlen eine große Lücke wäre.« 215
Es ist überraschend, daß diese dezidierte Abgrenzung des Germanischen Nationalmuseums gegenüber den Kunstmuseen und den Kunstgewerbemuseen ausgerechnet als Einleitung zu einer Serie von Photographien kunstgewerblicher Objekte erscheint, die vom Germanischen Nationalmuseum später vergessen wurde. Erst vor wenigen Jahren wurden die Aufnahmen Johann Hahns (zusammen mit den »Photographieen aus dem germanischen Museum« Jakob Eberhardts) aus dem Kunsthandel erworben. In der Bibliothek des Museums war bis dahin kein Exemplar vorhanden. Rainer Kahsnitz glaubte, daß die 60 Photographien, die 1873 im Anzeiger als Verlagsausgabe Soldan bewor213 | Ebd. 214 | Ebd. 215 | Ebd.
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Abb. 43: Johann Hahn, »Schlüsselfelder Schiff«, Aufnahme um 1873 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg ben wurden, die Reste des photographischen Unternehmens Jakob Eberhardts waren.216 Es handelt sich aber um eine eigenständige photographische Serie. Im Vergleich zu den mitunter experimentellen Aufnahmen von 1865/66 wirken die späteren Photographien deutlich formalisierter. Ein lithographierter Rahmen auf den einzelnen Kartons gibt die Bildgröße bereits vor; es ist jeweils immer nur ein Albuminabzug annähernd gleicher Größe auf dem Karton montiert. Bildästhetisch orientieren sich die Bilder klarer am Grundmodell der bildfüllenden Wiedergabe eines Einzelobjekts, das sich deutlich von dem Hintergrund abheben soll (Abb. 43). Die dabei angewandten Retuschen treten in vielen Fällen aber wesentlich deutlicher hervor als zum Beispiel bei den 216 | Kahsnitz 1978, S. 729 Anm. 197. Zu den »Photographieen«: siehe oben, Kapitel 3.5.
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Abb. 44: Johann Hahn, Christusfigur, 15. Jh., um 1873 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg vergleichbaren Serien aus Berlin, Mailand oder Budapest. Gerade der Übergang zwischen der Stellfläche des Objekts im Raum und dem (retuschierten, raumlosen) Hintergrund wirkt sich in einigen Fällen störend aus (Abb. 44 u. Abb. 45). Unten auf den Kartons ist ein Etikett mit kurzer Objektbezeichnung (in deutscher und englischer Sprache) aufgeklebt, das neben dem Standort des Objekts (»Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg«) nun auch den davon abweichenden Herausgeber der Serie nennt – und damit auch auf den Standort der photographischen Negative hinweist (»Verlag von S. Soldan, Hofbuch- & Kunsthandlung in Nürnberg«). Der Zugang zu den Originalen und der Zugriff auf die Negative (als Grundlage der Reproduktion) driften auseinander.
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Abb. 45: Johann Hahn, Tisch, 15. Jh., um 1873 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Die Interferenzen einer von Marktinteressen beherrschten Objektauswahl photographischer Publikationen mit den Interessen des kulturhistorischen Museums haben vielleicht dazu beigetragen, daß diese Serie von Photographien für längere Zeit die letzte photographische Publikation des Germanischen Nationalmuseums bleiben sollte. Die etablierte Konstellation aus Sammlungen, Ausstellungen und Photographien brachte immer mehr herausragende und vorbildliche Objekte photographisch in Umlauf, kam damit aber der Hoffnung Essenweins auf den Niederschlag einer weitgehend repräsentativen Auswahl des ›Dagewesenen‹ im Sammelkasten des Bilderrepertoriums nicht entgegen. Die Publikationspraxis der späteren 1870er und 1880er Jahren ist deshalb im Germanischen Nationalmuseum durch eine Abkehr vom Medium Photographie geprägt. Das Verhältnis zwischen Museum und Photographie schreibt sich nicht als Fortschrittsgeschichte, die auf direktem Weg von schriftlichen Katalogen über gedruckte Tafelwerke zu photographischen Publikationen führt – sondern gleicht einem Pfad durch zerklüftete medienhistorische Formationen. Zum 25jährigen Jubiläum 1877 gab das Museum mit der Veröffentlichung »Kunst- und kulturgeschichtliche Denkmale aus dem germanischen Museum« ein traditionelles Tafelwerk mit Holzschnitten heraus. Dies hatte sicherlich einerseits ökonomische Gründe, denn die Tafeln kombinieren eine Auswahl von Druckstöcken, die in den 25 Jahren Publikationstätigkeit für Il-
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lustrationen im Anzeiger gedient hatten.217 Gelöst aus den alten Bindungen an den Text wurden diese nun zu 120 Tafeln zusammengestellt. Man habe, schreibt Essenwein, »versucht, das Material den verschiedensten Einzelgebieten der Kunst und des Lebens zu entnehmen, um möglichst vielseitige Anregung zu geben«218 . Im Gegensatz zu den Photographien von 1873 sieht Essenwein damit ein imaginäres Museum zusammengestellt, das die Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums repräsentiert: »Zugleich aber mögen schon jetzt die vorliegenden 120 Blätter zeigen, wie das Museum bemüht ist, durch Berücksichtigung aller Gebiete seine Sammlungen zu einem richtigen Spiegelbilde der gesammten Kulturentwicklung unseres deutschen Volkes zu machen.«219 Das richtige, also repräsentative, Spiegelbild der Kulturentwicklung, als das sich die Sammlungen des Museums verstehen, wird hier also noch einmal in das imaginäre Museum eines Tafelwerks gespiegelt. Dieser mediale Transfer entwickelt jedoch eine Eigendynamik (wie sie Malraux später bei den photographischen Bildbänden erkannte): zwar sind auf den einzelnen Tafeln nur Objekte eines Sammlungsbereiches zusammengestellt, die auch in den Schausammlungen beieinander stehen könnten (Abb. 46) – aber die Gesamtordnung der Tafeln löst sich von den Gruppierungen des realen Museums. »Wir haben einfach die Abbildungen in chronologischer Folge an einander gereiht und so möge der verehrte Gewinner an der Hand dieser Blätter die Kulturentwicklung von fast 2000 Jahren an sich vorübergehen sehen.«220 Das imaginäre Museum der Holzschnitte setzt jeweils chronologisch abgegrenzte Sequenzen (z. B. »Elfenbeinschnitzwerke (1300-1400)«), die in der Schausammlung in den spezifischen Entwicklungsverlauf dieser einen Abteilung eingebettet bleiben, neu zusammen. Dadurch stellt sich im Durchblättern der Tafeln der Effekt her, den Malraux mit dem »Zeitraffer im Film« verglichen hat.221 Die Entwicklung der Kulturgeschichte als Bildfolge in 120 Sequenzen.222 217 | Ergänzt um die Klischees anderer Zeitschriften, die Abbildungen von Objekten des Germanischen Nationalmuseums veröffentlicht hatten (Gewerbehalle, Kunsthandwerk, Mittheilungen der k. k. Centralcommission für Baudenkmale). 218 | Essenwein 1877: Vorwort (ohne Paginierung). 219 | Ebd. 220 | Ebd. Das Tafelwerk war nicht primär für den Buchhandel bestimmt, sondern im Rahmen des Jubiläums als Gewinn einer Lotterie zugunsten einer baulichen Erweiterung (Augustinerbau) ausgelobt. 221 | Malraux 1949, S. 149 (Anm. 9). 222 | Als Fortsetzung dieses Tafelwerks ist der »Kulturhistorische Bilderatlas: Mittelalter« anzusehen, den Essenwein 1883 als zweiten Band einer Reihe des Seemann-Verlags in Leipzig zusammenstellte (Essenwein 1883). Der Versuch, ein ›richtiges Spiegelbild der deutschen Kulturentwicklung‹ zu geben, wird hier dadurch erweitert, das neben den Objekten des Germanischen Nationalmuseums auch Objekte aus anderen Sammlungen (z. B. Statens Museum Kopenhagen, South Kensington Museum) hinzugezogen sind. Es werden wieder 120 Tafeln publiziert, diesmal jedoch im Medium Lithographie. Dazu: siehe unten, Kapitel 4.5.
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Abb. 46: Elfenbeinschnitzwerke, Zusammenstellung von Holzschnitten, publiziert 1877 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Ernüchternde Zwischenbilanz des Jahres 1884 1884 eröffnete Essenwein die neue Folge des Anzeigers des germanischen Nationalmuseums mit einer überarbeiteten Neuauflage seines 1870 verfaßten Berichts über den Stand der Sammlungen. Stellenweise läßt sich darin ein gewachsenes Bewußtsein für die Bedeutung des Originals als Vermittler kulturhistorischen Wissens im Museum erkennen. Besonders deutlich in einer Äußerung Essenweins zu den notwendigen Ausgaben zur Ergänzung der Waffensammlung (die durch die intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Feuerwaffen so etwas wie eine persönliche Angelegenheit geworden war):
K APITEL 4.4 | D ARSTELLUNG DES G EWESENEN »Könnten nicht, wo solche Summen nötig sind, Nachbildungen aus Gips oder Papiermasse genügen? Gewiß nicht. Eine Nachbildung hat bloß in jenen Fällen Wert, bei denen es lediglich auf die Form ankommt. Bei den Waffen handelt es sich um die Frage nach dem Gewichte, womit der Kämpfende belastet war, nach der Beweglichkeit, die ihm die Waffe noch ließ, nach der Widerstandsfähigkeit und der Angriffskraft, die der Mann entwickelte, wenn er bewaffnet war. Was soll davon aus einer Papier- oder Gipsnachbildung gelernt werden? Welche Nachbildung soll ein wissenschaftliches Urteil über Wert und Bedeutung einer Plattenrüstung des 15. Jahrh. gegenüber den Angriffswaffen jener Zeit gewähren, welche den Einfluß darlegen, den dieselben auf die Taktik haben mußten. Welche Nachbildung soll die fortschreitende Entwicklung der Rüstungen erklären, welche durch den Fortschritt der Feuerwaffen bedingt wurde! Für den genügen allerdings Nachbildungen, der in der Waffe nur eine Zimmerdekoration sieht. Er mag sich statt einer Rüstung, die 30 000 m. kostet, eine solche aus Papiermachée um 300 m. kaufen. Ihm kann eine solche genügen; für ernstlich wissenschaftliche Arbeiten hat sie keinen Zweck. Ja, nicht einmal ein Maler kann darnach eine zu einem Gemälde wirklich brauchbare Studie malen. Deshalb müssen wir Originale haben, was sie auch kosten mögen. Aber gerade deshalb sollen und müssen auch andere Sammlungen sie haben, die mehr als bloßer Spielerei dienen wollen, daher die Konkurrenz, daher die unerschwinglichen Preise.« 223
1870 hatte Essenwein hingegen noch bemerkt, daß sich die Ergänzungen der Waffensammlung »wol auf Nachbildungen werden beschränken müssen, wenn nicht ein günstiger Zufall uns etwa als Geschenk die Dinge zuführt, die wir sicherlich bei den heutigen Preisen, ohne Schädigung der übrigen Abtheilungen der Anstalt, in Original nicht bezahlen können. Kostbare Prunkrüstungen zu besitzen, werden wir sicher kaum hoffen dürfen; es liegt aber auch weniger in unserer Aufgabe.«224 Die sich hier andeutende Hinwendung des Germanischen Nationalmuseums zum Original läßt sich allerdings im Sammlungsbericht von 1884 nicht verallgemeinern. Noch immer entwickelt Essenwein seine jeweiligen Einschätzungen differenziert am jeweiligen Gegenstandsbereich. In anderen Sammlungsgebieten vertraut Essenwein weiterhin auf den didaktischen Wert der Reproduktionen und die ergänzende Funktion des Bilderrepertoriums als Studiensammlung. Aber die herausragende Bedeutung, die Essenwein noch 1867 und 1870 den Medientechniken Gipsabguß, Photographie, Zeichnung und Galvanoplastik »als Vermittler«225 zugeschrieben hatte, tritt doch zurück. Und auch die Bedeutung der Abbildungssammlung als Studiensammlung, die jeden Schaubereich begleitet und gewissermaßen fundiert, wird 1884 durch Auslassungen der früheren Passagen weniger deutlich artikuliert.226 Das Bilder223 | Essenwein 1884a, S. 101. 224 | Essenwein 1870/1978, S. 1016. 225 | Essenwein 1867, Sp. 190. 226 | Viele Absätze des (seinerzeit nur als Separatdruck erschienenen) Sammlungsberichts von 1870 werden unverändert in den Text von 1884 übernommen – doch die in der Vorlage noch fast an jede Abteilung angeschlossene Besprechung der spezifischen Funktion von Nach- und Abbildungen streicht Essenwein in mehreren Fällen aus der Neufassung heraus.
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repertorium erscheint nun eher als ein eigenständiger und von den Schausammlungen weitgehend unabhängiger Bereich, ähnlich den graphischen Sammlungsbeständen als eine Art Zwischenglied zwischen den Schausammlungen und der Bibliothek.227 In der Besprechung des Bilderrepertoriums wird im Bericht von 1884 die »große und weite Aufgabe dieser Bilderreihe« betont und herausgestellt, daß das Material »bereits ein sehr reichhaltiges ist.« Aber noch immer sei mehr erwünscht: »Bisher hat dasselbe nicht mehr gekostet als die Untersatzbogen, Mappen und Kapseln, darin die Blätter aufbewahrt sind; und so wird es auch ferner zu halten sein. Aber für solche werden noch etwa 10.000 m. leicht erforderlich sein, wenn die Blätterzahl auf 150.000 gebracht werden soll. Sicher aber werden wie bisher die Photographen, Künstler, die Autoren und Verleger, die uns Probedrucke, beschmutzte Exemplare ihrer Publikationen, welche wir zerschneiden können, zugehen lassen, die Sammlung selbst fördern.« 228
1870 war ein sich abzeichnender Nutzen des Bilderrepertoriums klarer gesehen worden. Das Bilderrepertorium bot nach damaliger Auskunft Essenweins »schon einen sehr zweckmäßigen Cursus der gesammten Alterthumswissenschaft, soweit sie sich durch darstellbare Monumente verfolgen läßt«.229 In einem nicht genau datierbaren »Specialprogramm des Kupferstichkabinetts« hatte Essenwein um 1870 (bei einem aktuellen Umfang von ca. 20.000 Objekten im Bilderrepertorium) eine Zielzahl von 100.000 Blatt für ein in wissenschaftlicher Hinsicht hinreichend abgerundetes Bilderrepertorium bestimmt.230 1884 war die Zahl der Blätter im Bilderrepertorium zwar auf ca. 50.000 Stück angewachsen, aber als Zielzahl wurden nun 150.000 Blätter genannt. Ein Indiz dafür, daß die Realisierung der Abbildungssammlung das Potential des imaginären Museums, das Essenwein damit verknüpfte, nicht einholte – dieses vielmehr in noch weitere Ferne rückte. Fast erscheint in der neuen Besprechung des Bilderrepertoriums dessen kostenfreie Ergänzung als das wertvollste Charakteristikum der Abbildungssammlung. Damit war das Germanische Nationalmuseum aber nicht nur von den ökonomischen MeAusgelassen sind dabei vor allem die Abschnitte, in denen den Reproduktionen schon 1870 wenig Bedeutung zugeschrieben wurde. 227 | Und als Sammlungsbestand wird es nun im Zusammenhang mit dem Kupferstichkabinett (wo die Kapseln des Bilderrepertoriums aufbewahrt werden) verortet, während es 1870 (in der Art eines imaginären Museums) räumlich nicht genau definiert worden war. Stand das Bilderrepertorium als die alle anderen Abteilungen begleitende Studiensammlung 1870 noch außerhalb der damals 32 aufgelisteten Sammlungsbereiche, ist es in der Übersicht von 1884 als 37. von insgesamt 41 Abteilungen in diese Ordnung eingerückt. Auch Archiv (Nr. 36) und Bibliothek (No. 38-41) blieben 1870 außerhalb dieser Ordnung und sind 1884 eingegliedert. 228 | Essenwein 1884a, S. 135. 229 | Essenwein 1870/1978, S. 1021. 230 | GNM-Akten K 5, Nr. 2 (»Programme Essenweins«): »Specialprogramm des Kupferstichkabinetts [1870]«.
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chanismen der Bildproduktion abhängig, sondern praktisch auf die Abfallprodukte dieses Marktes angewiesen. Die Kapseln des Bilderrepertoriums bestätigen heute den Eindruck, den Essenwein in einer Fußnote seines Berichts ergänzend mitteilte: »Freilich wird alle Förderung nicht verhüten können, daß das auf diese Weise zusammengekommene Material sehr bunt und teilweise sehr unzuverlässig ist, daß vielfache Verschiedenheiten des Maßstabes und der Behandlungsweise selbst bei den besseren Blättern den Vergleich, somit das Studium erschweren; ebenso wird manches wichtige Stück bloß deshalb nicht vertreten sein, weil es zufällig nicht im Bereiche eines Künstlers liegt, der daran Interesse nimmt und es vervielfältigen würde. Da müßten die Mittel gegeben sein, systematisch die Originale aufnehmen zu lassen. Diese Aufgabe ist indessen so groß, daß wir nicht daran denken können, die vielen Tausende aufzuwenden, so lange nicht die Sammlungen entsprechend ausgebildet sind.« 231
Als Sammelkasten und Auffangbecken für unterschiedliches und häufig zweitrangiges Bildmaterial hatte das Bilderrepertorium weder die quantitativen Hoffnungen der Repräsentativität noch die qualitativen Erwartungen auf vergleichbares Studienmaterial erfüllt. Essenweins Konzept einer optimalen Abbildungssammlung war mit den Mitteln des Museums (auf absehbare Zeit) nicht realisierbar.232 Mit dem Aufruf »Über die Herausgabe eines umfassenden Quellenwerkes für die Kulturgeschichte des Mittelalters, bestehend aus zwei Hauptabteilungen: Monumenta Iconographica Medii Aevi und Reliquiae Medii Aevi« versuchte er noch einmal, sein Projekt außerhalb des Museums zu verankern.233 Der bisher zusammengekommene Bestand des Bilderrepertoriums geriet hingegen – im Untergrund des Museums verkapselt – als Sammlung zweiter Ordnung zunehmend in den Schatten der gezielt und planmäßig ergänzten Schausammlungen. Obwohl die einlaufenden Photographien und Druckbögen weiterhin in die Kapseln des Bilderrepertoriums verbracht und zumeist mit kurzen Beschriftungen versehen wurden, waren dies nur noch schwache Reflexionen dessen, was »geradezu als die wichtigste Arbeit des Museums«234 begonnen hatte.
231 | Essenwein 1884a, S. 135. 232 | Die Ernüchterung macht sich auch in der Anschaffungspraxis des Germanischen Nationalmuseums bemerkbar. Nach dem alten Zugangsregister wurden zwischen 1867 und 1875 gelegentlich Photographien gekauft (wenngleich die Mehrzahl durch Geschenke kam). Zwischen 1875 und 1886 ist kein Ankauf von Photographien mehr verzeichnet. 233 | Essenwein 1884b. Zu diesem Projekt ausführlich: siehe unten, Kapitel 4.5. 234 | Essenwein 1870/1978, S. 1021.
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4.5 FRAGWÜRDIGE D ARSTELLUNGEN – D AS M USEUM ALS M EDIUM DER M EDIENKRITIK Was beglaubigt das photographische Bild? Die scheinbar einfache Frage läßt sich auf zwei unterschiedliche Arten verstehen. Erstens: was wird durch das photographische Bild beglaubigt? Und zweitens: durch was wird das photographische Bild beglaubigt? Es geht um den Zusammenhang von beglaubigen, beglaubigt werden und glaubwürdig sein. Begrifflich sollen diese beiden Lesarten im Folgenden über den Begriff der Authentizität und dessen Rahmung durch das Begriffspaar der Authentifizierung und Authentisierung verstanden werden. Die Photographie kann als Mittel zur Beglaubigung (aktiv) eingesetzt werden, um die Authentizität einer Sache zu beweisen (sie dient dann zur Authentifizierung); eine Photographie kann aber auch die Sache sein, deren Authentizität durch den Einsatz von Beglaubigungsmitteln (passiv) bewiesen werden soll (sie ist dann Gegenstand einer Authentisierung).235 Authentizität bedeutet zunächst einmal ganz allgemein, daß etwas das ist, was es vorgibt zu sein. Oder, vorsichtiger formuliert: daß etwas (bis auf weiteres) als das gilt, wofür es gehalten wird.236 Denn die Frage der Authentizität ist nie endgültig abgeschlossen, da sie sich durch wechselnde Zuschreibungen, Untersuchungsmethoden, Wahrnehmungsweisen ständig neu stellt.
235 | Die Unterscheidung beider Begriffe ist nicht eindeutig, im Englischen gibt es beispielsweise nur einen Begriff für beides (authentication). Die Gegenüberstellung von Authentifizierung (als aktiver Beglaubigung) und Authentisierung (als passives Beglaubigtwerden, bzw. Glaubwürdigmachung) dient dem besseren Verständnis der behandelten Relationen. Wie sich die Handlung des Beglaubigens und des Beglaubigtwerdens überschneidet, so überschneiden sich auch die semantischen Felder dieser Begriffe. Das Begriffspaar bildet aktuell als Zugriffssicherung im Bereich der IT-Technologie neue, schärfere Definitionen aus. 236 | Der Begriff der Authentizität ist erst Ende des 20. Jahrhunderts (insbesondere innerhalb der deutschen Geschichtsmuseen) zum Leitbegriff musealer Sammlungs- und Ausstellungspraxis aufgestiegen; sein semantisches Feld hat sich dabei mit den Begriffen Originalität und Objektivität überlagert. Im Museumsdiskurs des 19. Jahrhunderts spielte der Begriff keine bzw. eine andere Rolle. Wenn man aber mit Volker Wortmann Authentizität nicht begriffsgeschichtlich einengt, kann man die Authentizitätssehnsucht (d. h. Sehnsucht nach einer unvermittelten und nicht kulturell codierten Wahrnehmung der Dinge) als ein grundlegendes kulturelles Interesse verstehen, daß sich historisch immer wieder neu artikuliert hat (Wortmann 2003). Zu unterscheiden sind verschiedene Authentizitätskonzepte (Dingkonzepte, Bildkonzepte, Textkonzepte, Konzepte der Subjektphilosophie). Hoffmann 2000, S. 31–33 geht von der Wortgeschichte vor der inflationären Verwendung des Begriffs aus. Dort wird er vor allem im juristischen und philologischen Bereich verwendet und bedeutet glaubwürdig und echt – wobei immer der Bezug zu klären ist: »Ein Text ist authentisch als erste Fassung des Autors, als letzte Fassung, als Überarbeitung einer späteren Zeit, als eine autorisierte oder als eingeführte Übersetzung.«
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Die Geschichte der Kunstfälschungen bietet dafür eindrucksvolle Beispiele. Wenn man ›einem Vermeer‹ die Authentizität abspricht und ihn als Fälschung entlarvt, kann man darin durchaus ein authentisches Zeugnis des Kunstfälschers sehen – wie geschehen im Fall des Niederländers Han van Meegeren, der als genialster Fälscher des 20. Jahrhunderts gilt und dessen Gemälde inzwischen in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und in Museen gesammelt werden (gewissermaßen als authentische ›van Meegerens‹). Peter Geimer hat darauf aufmerksam gemacht, daß man diese falschen ›Vermeers‹ darüber hinaus durchaus als Objekte einer Rezeptionsgeschichte Vermeers wahrnehmen kann. Wenn einige dieser Fälschungen nach ihrem Auftauchen als besonders charakteristische Arbeiten des niederländischen Malers (also Vermeers) galten, sie diese Zuschreibung aber nach ihrer Entlarvung schnell verloren, drücke sich in ihnen auch ein jeweils zeittypischer Blick auf das Werk Vermeers aus.237 Aber auch diese Zuschreibungen können sich wieder (zwischenzeitlich?) als falsch erweisen. Glaubt man einem Bericht des Kunsthistorikers Martin Bailey aus dem Art Newspaper vom 30. September 2009, dann sind auch die Fälschungen van Meegerens inzwischen nicht mehr vor dem Verdacht sicher, doch authentische Originale des 17. Jahrhunderts zu sein.238 1960 erwarb das Londoner Courtauld Institute of Art ein Gemälde, das in diese Geschichte der Kunstfälschungen einrückt und wiederum mit einem Werk Johannes Vermeers in Zusammenhang steht: dessen Genrebild »Bei der Kupplerin« (1656, heute in Dresden). Allerdings geht es nicht um dieses Bild, sondern um das gleichnamige Bild Dirck van Baburens (»Bei der Kupplerin«, 1622, heute in Boston), das die Kunstgeschichte als direktes Vorbild von Vermeers Kunstwerk ausgemacht hat – auch deshalb, weil es auf zweien seiner Gemälde im Hintergrund als Wandschmuck dargestellt ist. Eine Version der »Kupplerin« van Baburens, die als eine Fälschung Hans von Meegeren erkannt worden war, erwarb 1960 das Courtauld-Kunstforschungsinstitut – bewußt als Beleg für das Werk dieses Meisterfälschers. Die neuesten Forschungsergebnisse hätten nun im September 2009 jedoch den Verdacht geweckt, daß es sich dabei um etwas anderes als eine Fälschung van Meegerens handeln könnte. Untersuchungen der Leinwand und der Farbpigmente datierten das Bild ins 17. Jahrhundert. Es handele sich vermutlich um eine zeitgenössische Kopie des heute in Boston aufbewahrten Originals.239 Eine scheinbare Fälschung des Vermeer-Fälschers van Meegeren entpuppt sich hier als eine Kopie, die hinter den originalen Gemälden Vermeers auftaucht, denn – wie ein Bericht im Art Newspaper spekuliert – es sei durchaus möglich, daß es sich bei dieser zeitgenössischen Arbeit um die (authentische) Kopie aus dem Besitz Vermeers handele.
237 | Geimer 2010. 238 | Bailey 2009. 239 | Wobei auch dessen Originalität nun wieder in Frage stehen könnte. Bis zum Jahr 1949 (als es aus einer englischen Privatsammlung in den Kunsthandel kam) galt nämlich ein Gemälde im Rijksmuseum in Amsterdam als Original.
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Der Artikel darf auch bei kritischer Betrachtung als glaubwürdig gelten.240 Aber selbst wenn die Geschichte nicht hinreichend authentisiert wäre, würde sie doch die richtigen Fragen nach dem Umgang mit dem Konzept der Authentizität anstoßen, die auch (und gerade) im Zeitalter der schnellen Übertragungswege des Internets an Bedeutung nicht verloren haben.241 Fragen der Authentifizierung und Authentisierung bauen auf einem komplexen Gefüge von Bedingungen auf, die sich mitunter verketten und ineinander verschlingen können. Um die Authentizität einer Sache zu beglaubigen (sie zu authentisieren), muß das Medium der Authentifizierung selbst authentisiert sein. Authentizität ist keine ontologische Qualität der Dinge, sondern eine Konstruktion, die eine bestimmte Wahrnehmungsweise ausdrückt. Fragen der Authentizität sind komplex, verworren, mehrdeutig. Was verschafft (zwischenzeitliche) Haltepunkte in diesem Strudel der Glaubwürdigkeit?
Quellenkritik als Medium der Authentifizierung (auf Zeit) Quellenkritik ist der Versuch der Geschichtswissenschaften, diesem Problem methodisch zu begegnen.242 Mitte des 20. Jahrhunderts forderte Ahasver von 240 | Obwohl die Geschichte durch verschiedene Zeitungen, Internet-Newsletter und BlogSpots zirkuliert (wobei aus dem gefälschten van Baburen zum Teil ein gefälschter Vermeer wurde), erschien mir die Quelle im Art Newspaper zunächst fragwürdig. Denn auf der Homepage des Courtauld Institutes fanden sich keinerlei Hinweis auf eine solche Entdeckung, noch auf den Seiten der sonstigen im Artikel genannten Institute. Ich habe deshalb (zwischenzeitlich) vermutet, daß der Artikel Martin Baileys vielmehr als authentisches Beispiel für einen Fake gelten kann, der darauf zielt, Diskurse über Fragen der Authentizität anzuregen. Zu dieser Vermutung trug bei, daß Martin Bailey ein Spezialist für Fakes und Fake-Debatten zu sein scheint. 1997 stieß er mit einem Artikel in The Art Newspaper eine Debatte um die Authentizität von mindestens 45 Werken van Goghs an (»The Fakes Controversy«), deren Zuschreibung nicht eindeutig gesichert sei – was viele Museen motivierte, diese mit neueren technischen Mitteln zu überprüfen. 18 Werke seien allerdings (wiederum nach Angaben Martin Baileys) offiziell als nicht-authentische oder fragwürdige ›van Goghs‹ herabgestuft worden und daraufhin aus den Schauräumen verschwunden. Zur Überprüfung meiner Vermutung habe ich eine E-Mail an Betsy Wieseman geschrieben, eine Kunsthistorikerin der National Gallery in London, die im Artikel Baileys als die Expertin benannt ist, die das Bild auf das 17. Jahrhundert zurückdatiert habe. Wieseman bestätigte mir jedoch die Authentizität und Ernsthaftigkeit des Artikels (E-Mail vom 09.12.2009). 241 | So fragte The Independent in einem auf der Meegeren-Baburen-Entdeckung bezogenen Leitartikel: »It is perhaps time to reassess the whole notion of authenticity.« (Independent 2009) – Übrigens erschien dieser Leitartikel bereits zwei Tage vor (!) der Enthüllungsgeschichte im Art Newspaper – also schon auf die Ankündigung der Enthüllung hin. 242 | Im nehme dabei im folgenden vor allem auf die Historik Johann Gustav Droysens Bezug. Droysen verwendet allerdings den Begriff der Quellen und auch den Begriff der Quellenkritik in einem etwas engerem Verständnis als es später allgemein üblich geworden ist. Unter
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Brandt auf der Basis einer soliden wissenschaftlichen Fachgeschichte von dem Historiker die »kritische Fähigkeit, die gefundenen Quellen fehlerfrei auszuwerten, d. h. ihnen durch einen Schleier von Entstellung, Lückenhaftigkeit, von Verworrenheit und Mehrdeutigkeit, von Widersprüchen, Tendenzen und Lügen ein möglichst hohes Maß von wahren Aussagen abzuzwingen.«243 Als Grundlage dieser positiven Einschätzung erscheint eine gesicherte Methodologie der Historik und eine klare Vorstellung davon, wie historische Erkenntnis gewonnen werden kann. Auch Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Geschichtsschreibung bereits zu glaubwürdigen Darstellungen historischer Sachverhalte. Die Epistemologie, die hinter diesen Erkenntnissen stand, realisierte sich dabei aber eher durch die implizite Anwendung bestimmter Regeln und Methoden, deren Staus nicht reflektiert wurde. Zumindest schrieb Johann Gustav Droysen im Vorwort zu seiner Historik: »Mich drängten zu solchen Untersuchungen namentlich Fragen an denen man, weil sie in der täglichen Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt.«244 Droysen wollte den bereits damals scheinbar selbstverständlichen Untergrund historischer Erkenntnis auf seine Grundlagen überprüfen. Denn obwohl die historische Forschung an den Universitäten bereits erfolgreich etabliert war, stand eine grundlegende »wissenschaftliche Rechtfertigung«245 der Disziplin nach Ansicht von Droysen noch aus. Droysens Historik entstand in seinen Vorlesungen der 1850er Jahre in der Absicht, die spezifischen Erkenntnismittel der Geschichtswissenschaft darzulegen. Die Anwendung der historischen Methode muß nach Droysen von einer individuellen Fragestellung ausgehen und ist dann entlang einer systematischen Abfolge wissenschaftlicher Praktiken darauf gerichtet, den durch die Frage bestimmten historischen Sachverhalt »forschend zu verstehen«.246 Diese Abfolge gliedert Droysen in Heuristik (das Auffinden des historischen Materials), Kritik (Überprüfung dieses Materials), Interpretation (der als glaubwürdig bestätigten Reste und Auffassungen historischer Sachverhalte) und Darstellung (der daraus durch den Historiker gewonnenen Erkenntnisse). Für die doppelbödige Frage nach dem Zusammenspiel von Authentifizierung und Authentisierung ist in diesem Prozeß die Kritik die entscheidende Sequenz. Dabei ist nämlich zunächst die Frage zu klären, »ob dieses Material wirklich das ist, wofür es gehalten wird oder gehalten werden will«.247 Droysen nennt dies die »Kritik der Aechtheit«. Erst im Anschluß daran kann kritisch geprüft werden, wann und in welcher Weise das in seiner Echtheit bestätigte Material seit der Zeit seiner Entstehung verändert worden ist (»Kritik »Quellenkritik« versteht Droysen nur die »Anwendung der Kritik des Richtigen auf die Quellen« – d.h. die historischen Materialien, die eine Auffassung historischer Sachverhalte zum Zweck der Erinnerung wiedergeben (Droysen 1868, S. 17 (§33)). 243 | Brandt 1998, S. 9. Erste Auflage: 1958. 244 | Droysen 1868, S. 4. 245 | Ebd., S. 3. 246 | Ebd., S. 9 (§8). 247 | Ebd., S. 16 (§30).
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des Früheren und Späteren«); schließlich ob das Material das, »wofür es als Beleg gehalten wird oder gehalten werden will«, auch glaubwürdig belegen kann (»Kritik des Richtigen«). In der Verkettung dieser aufeinanderfolgenden Schritte der historischen Forschung bietet die jeweilige Kritik des historischen Materials (als eine Form der Authentifizierung) Anschlußmöglichkeiten der weiteren Bearbeitung des dadurch authentisierten Materials. Es geht also um die Feststellung des historischen Aussagewerts, der dem vorliegenden Material durch den Historiker für seine jeweilige Fragestellung zugeschrieben werden kann – und um das kritische Aussondern der Zuschreibungen, die als unglaubwürdig fallengelassen werden müssen. Die Frage der Authentisierung setzt aber auch auf einer anderen, der epistemologischen Ebene ein. Wodurch wird die historische Kritik beglaubigt? Droysens Methodologie zielt durch die Aufstellung eines in sich kohärenten Systems also nicht zuletzt auf die Authentisierung der Methode (die historische Kritik), um damit einen gesicherten Ansatzpunkt zu gewinnen, um das historische Material (Quellen, Denkmäler, Überreste) authentifizieren zu können, d. h. um es im Anschluß an die Kritik in seinem Aussagewert für einen historischen Sachverhalt interpretieren zu können.248 Akzeptiert man die Kohärenz dieses Systems, dann ist die Überprüfung der Echtheit des Materials als erster Schritt dieser Abfolge die Grundlage weiterer Kritik und Interpretation. Zu praktischen Methoden dieser »Kritik der Aechtheit« äußert sich Droysen nur kurz. »Vollständig ist der Beweis der Unächtheit, wenn die Zeit, der Ursprung, der Zweck der Fälschung nachgewiesen ist; und das Unächte kann, so verifiziert, anderweitig ein wichtiges historisches Material werden.«249 Neben der hier aufscheinenden Einsicht in das Vermeer/van Meegeren-Problem wird eines deutlich: die Übereinstimmung von Material und Zuschreibung (»ob dieses Material wirklich das ist, wofür es gehalten wird oder gehalten werden will«) kann mit den Methoden der historischen Kritik anscheinend nicht positiv bewiesen werden, sondern wird – solange kein Beweis für das Gegenteil (die Unechtheit) erbracht ist – bis auf weiteres angenommen. Die Zuschreibung, auf der die weiteren Schritte der historischen Kritik, Interpretation und Darstellung aufbauen, kann dabei als um so sicherer gelten, je genauer und intensiver das historische Material überprüft ist. Die Glaubwürdigkeit des historischen Materials und der darauf gründenden Aussagen ist deshalb immer relativ, aber keineswegs beliebig.250 248 | Die Methodologie ist also Mittel der Authentifizierung. Die Frage, was diese wiederum authentisiert, führt auf allgemeine epistemologische und wissenschaftstheoretische Grundsätze (Systematik, Widerspruchsfreiheit etc.), die hier nicht weiter verfolgt werden sollen. Ein wichtiger Aspekt für die Schlüssigkeit der Historik Droysens ist aber sicher, daß es nicht auf die »eigentliche historische Thatsache« (Ebd., S. 18f.) zielt, sondern sich der Vermitteltheit und Relativität historischer Erkenntnis in jedem Bereich der historischen Forschung sehr bewußt bleibt und diese zur Grundlage spezifischer historischer Aussagen macht. 249 | Ebd., S. 16 (§30). 250 | Kritisch zur häufigen Gleichsetzung von ›Relativismus‹ mit ›Beliebigkeit‹, die auf einer dichotomen Gegenüberstellung zum Objektivitätskonzept beruht: Daniel 2001, S. 414f.
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Um diesen unsicheren Untergrund (der mit Variationen auch für andere Wissenschaften und deren Epistemologien gilt) methodisch abzusichern, können in der historischen Forschung unterschiedliche wissenschaftliche Überprüfungsmethoden zusätzlich zum Einsatz kommen. Am engsten mit der historischen Methodik verbunden sind jedoch die sogenannten Historischen Hilfswissenschaften. Droysen nennt lediglich die Diplomatik als Methode zur Überprüfung von Urkunden und anderen Schriftstücken. Aber daneben hat sich aus älteren Traditionen heraus bereits seit dem 18. Jahrhundert eine Reihe weiterer Hilfswissenschaften als »Werkzeug des Historikers«251 etabliert, die gerade für die Echtheitskritik des historischen Materials zum Einsatz kommen. Droysens Einsicht, daß die Authentisierung des historischen Materials (das zu sein, »wofür es gehalten wird oder gehalten werden will«) nicht definitiv bewiesen werden kann, sondern immer nur auf Zeit gilt, läßt sich mit den Hilfswissenschaften auch ins Positive wenden: Durch die Sphragistik (Siegelkunde), die Heraldik (Wappenkunde), die Paläographie (Schriftenkunde), aber auch durch Methoden anderer wissenschaftlicher Disziplinen (kunstgeschichtliche Einordnung, naturwissenschaftliche Messungen etc.) ergeben sich mitunter überhaupt erst Anhaltspunkte, wofür ein Objekt überhaupt gehalten werden kann.252
Auf der Suche nach dem Doppeladler Als einer der Begründer der Sphragistik als quellenkritischer Hilfswissenschaft gilt Friedrich Karl Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg (1818-1884).253 Er gehörte als Experte der Fächer Heraldik und Sphragistik dem Gelehrtenausschuß des Germanischen Nationalmuseums an und publizierte viele Aufsätze und kleinere Beiträge im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Unter dem Titel »Noch ein Wort über den deutschen kaiserlichen Doppeladler« erschien darin im Dezember 1868 (dem Jahr, in dem Droysens Historik erstmals publiziert wurde) ein Text, der ein Schlaglicht auf die medialen Konstellationen wirft, in denen sich eine bild- und objektorientierte historische Forschung um 1870 bewegen konnte.254 Hohenlohe-Waldenburg hatte sich seit Jahren intensiv mit dem für die Siegel- und Wappenkunde (aber auch für die Reichsgeschichte) wichtigen Symbol des Doppeladlers beschäftigt. Seine historische Frage lautete, seit 251 | Zur Geschichte der Historischen Hilfswissenschaften: Brandt 1998, S. 11–14. 252 | In Droysens Systematik fallen diese Erkenntnisse in den Bereich der Heuristik. Die Kritik setzt nämlich immer erst mit dem für die konkrete historische Frage bereits vorliegenden Material an. 253 | Vgl. Weller 1905. Auch Brandt 1998, S. 194 nennt ihn bei den Grundlagenarbeiten zur Sphragistik, äußert sich aber kritisch: »Dieser hat für die Einteilung der Siegel nach Inhalt und Form ein verzwicktes und weitschweifiges ›sphragistisches System‹ entwickelt, das von allen Lehr- u. Handbüchern wiederholt wird, für den Historiker aber durchaus uninteressant ist.« 254 | Hohenlohe-Waldenburg 1868.
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wann der Doppeladler, der als persönliches Wappen bereits seit dem späten 12. Jahrhundert verwendet wurde, als kaiserliches Symbol anzusehen war; eindeutig belegt war diese Verwendung als offizielles Reichssymbol nämlich erst durch Kaiser Sigismund im 15. Jahrhundert. Der Anzeiger hatte dieser Forschungsfrage wiederholt ein Forum geboten und mit eigenen Beiträgen darauf reagiert, für deren Erarbeitung möglicherweise auch das (alte) Bilderrepertorium des Museums eine Grundlage gebildet hatte.255 Anlaß für die Wiederaufnahme der Diskussion im Beitrag »Noch ein Wort...« war ein Hinweis auf die Grabplatte des 1291 verstorbenen Kaisers Rudolf von Habsburg und das darauf befindliche Symbol des Doppeladlers (Abb. 47).256 »Bei diesem Stande der Sache war es von großem Interesse für mich«, schrieb HohenloheWaldenburg, »als ich auf den unter Nr. 5 abgebildeten Grabstein K. Rudolf’s von Habsburg im Dome zu Speyer aufmerksam gemacht wurde und einen Abguß des Brustschildes mit dem Doppeladler erhielt.« 257
Das Auftauchen des Doppeladlers auf einem Grabdenkmal des späten 13. Jahrhunderts schien auf den ersten Blick ein Beleg für die These zu sein, daß das Symbol früher als bisher angenommen mit dem Kaisertum verbunden war. »Je wichtiger aber dieses Denkmal für die Entscheidung der vorliegenden Frage war, um so genauer mußte untersucht werden, ob wir es wirklich mit einer gleichzeitigen Arbeit zu thun haben.«258 Deutlich wird hier (im Sinne Droysens) der Übergang von der Heuristik (dem für die Fragestellung vorliegenden Material) zur Kritik. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob die Grabplatte das ist, wofür sie gehalten wird, nämlich ein Zeugnis der Zeit um 1300. Zweifel an einer solchen Zuschreibung ergeben sich für Hohenlohe-Waldenburg vor allem aus einer stilkritischen Betrachtung der Grabplatte (bei der auf die Expertise Essenweins und von Eyes verwiesen wird), aus leichten Abweichungen von der schriftlichen Überlieferung und einer nicht durchgehend gesicherten Objektgeschichte, weiter aus 255 | An den ersten »Beitrag zur Geschichte des heraldischen Doppel-Adlers« (HohenloheWaldenburg 1864) hatte der Konservator der Kunst- und Altertumssammlung Albert Erbstein mit dem Aufsatz »Numismatischer Beitrag zur Geschichte des Doppel-Adlers« angeschlossen (Erbstein 1864). Dabei könnte möglicherweise auch das alte Bilderrepertorium eine Rolle gespielt haben. Erbstein war zwischen 1862 und 1866 auch für das Bilderrepertorium zuständig (vgl. Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1118). In seinem Beitrag zeigt er, daß der Doppeladler zuerst auf Teppichmustern vorkommt und von dort aus in die heraldische Ornamentik übernommen wird. Mit der Frage nach dem Aufkommen des Doppeladlers ist ja eine Frage berührt, die für das alte Bilderrepertorium durch die gattungsübergreifende Zusammenstellung von einzelnen Bildelementen prädestiniert war. 256 | Hohenlohe-Waldenburg 1868, Sp. 383. 257 | Ebd., Sp. 383. Ein Fußnote ergänzt: »Der Abguß des Grabsteins im germanischen Museum ist Geschenk Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I. von Oesterreich.« 258 | Ebd., Sp. 383.
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Abb. 47: Grabplatte Kaiser Rudolfs von Habsburg, Original in Speyer, Holzschnitt, publiziert 1868 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg der ungewöhnlichen Form des Doppeladlers selbst sowie aus einem methodischen Bedenken gegenüber allen Erscheinungen, die dem bisherigen Wissensstand widersprechen. Auf der Gegenseite kann Hohenlohe-Waldenburg als Indizien für eine authentische Arbeit nur wenig benennen: einzig die Erwähnung eines solchen Grabdenkmals in einer authentisierten schriftlichen Quelle des frühen 14. Jahrhunderts.259 Trotz dieses deutlichen Übergewichts auf Seiten des Zweifels, wertet Hohenlohe-Waldenburg die Frage der Echtheit als nicht eindeutig entscheidbar und verknüpft dieses Zwischenresümee mit einer kritischen Sicht auf die Grundlagen historischer Forschungen: 259 | Es handelt sich dabei um die einige Jahrzehnte nach dem Tod Rudolfs entstandene »Steirische Reimchronik« Ottokars aus der Gaal. Editiert in: MGH, Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 5: Ottokars Österreichische Reimchronik (2 Teile). Hannover 1890.
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Hohenlohe-Waldenburgs Frage lautet also: auf welcher Grundlage läßt sich historische Evidenz herstellen? Wäre er dem gerade in Leipzig erschienenen »Grundriß der Historik« Droysens gefolgt (was nicht auszuschließen ist), dann hätte er nun vor dem Schritt der »pragmatischen Interpretation« gestanden: der Aufgabe, »die in der Kritik festgestellten und geordneten Reste und Auffassungen des einst wirklichen Sachverhalts« aufzufassen und daraus »das äussere Bild des einst wirklichen Sachverhalts zu reconstruiren.«261 In einem Fall wie diesem, der durch eine sehr fragmentarische Überlieferung gekennzeichnet ist, muß dabei der Zusammenhang durch den Historiker erst vorausgesetzt, zugeschrieben werden. In Droysens Worten: »Die Voraussetzung eines Zusammenhangs, in dem das fragmentarisch Vorliegende sich als in die Curve dieses Zusammenhangs passend zeigt und so durch Evidenz bestätigt, ist die Hypothese.«262 Droysen sieht Hypothese und Evidenz anscheinend in der gleichen Relation zueinander wie das oben beschriebene Verhältnis von Zuschreibung und Authentizität. Beide bedingen einander: Das Fragment sichert die Evidenz der Hypothese; und die Hypothese verleiht dem Fragment Evidenz. Ist das Auftauchen des Doppeladlers vor der frühesten historisch gesicherten Verwendung als kaiserlichem Symbol Beleg für eine frühere Verwendung des Doppeladlers durch die römisch-deutschen Kaiser (Hypothese 1) – oder Beleg für eine spätere Entstehung des Grabsteins (Hypothese 2)? Nach Auslegung von Droysens Historik wäre durchaus der Schluß zu ziehen, das beide Zusammenhänge (bis auf weiteres) als glaubwürdig gelten können, wenn die jeweilige Hypothese dem Fragment des Doppeladlers auf der Grundlage kritischer Forschung und plausibler Darstellung Evidenz zuschreibt. Hohenlohe-Waldenburg zieht hingegen einen anderen Schluß: »[O]hne urkundlichen Beweis, der selbst durch Siegel nicht immer geführt werden kann, ist es nach meinem unmaßgeblichen Ermessen meist mißlich und gewagt, im einzelnen Falle darüber unbedingt abzuurtheilen und Hypothesen aufzustellen, die so wenig Wahrscheinlichkeit für sich haben.« 263
260 | Hohenlohe-Waldenburg 1868, Sp. 384. 261 | Droysen 1868, S. 20 (§39). 262 | Ebd., S. 20 (§39). 263 | Hohenlohe-Waldenburg 1868, Sp. 384.
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Wo Droysen die zumindest auf Zeit erteilte, relative Glaubwürdigkeit betont, betont Hohenlohe-Waldenburg die grundsätzliche Fragwürdigkeit. In seiner Absage an die Interpretation des Materials schwingt aber (stärker als bei Droysen) die gegenteilige Hoffnung auf eine grundsätzliche und objektive Beweisbarkeit mit. Ein urkundlicher Beweis, der durch ein hinreichend authentisiertes Siegel bezeugt wäre, würde sein Problem scheinbar lösen. Wenn die quellenkritisch überprüfte, gesiegelte Urkunde als Musterfall der historischen Evidenz gilt, dann ist bei Hohenlohe-Waldenburg neben der Frage nach den unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Relativität historischer Erkenntnis noch etwas anderes angesprochen, nämlich die Frage: Wie lassen sich in der historischen Forschung mit Bildern und Realien Beweise führen, die an die Überzeugungskraft (Glaubwürdigkeit) eines gesiegelten urkundlichen Belegs heranreichen?
MedienObjekte des Vergleichs Nachdem Hohenlohe-Waldenburg herausgestellt hat, daß er keine der beiden möglichen Hypothesen für beweisbar hält, kommt er methodisch noch einmal auf das Feld der Kritik zurück. Die Frage nach der Authentizität der Grabplatte verschiebt sich: Es geht nicht mehr um die Zeit der Entstehung des Originals in Speyer (»ob wir es wirklich mit einer gleichzeitigen Arbeit zu thun haben«), sondern darum, ob die Grabplatte seit ihrer Entstehung unverändert geblieben ist (Droysen »Kritik des Früheren und Späteren«). Wenn sich nämlich nachweisen ließe, daß die Darstellung des Doppeladlers zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt worden ist, wäre die Entstehungszeit der Grabplatte selbst für die Fragestellung ohne Belang. Zu dieser neuen Hypothese gelangt Hohenlohe-Waldenburg durch die Methode der vergleichenden Betrachtung: »Was aber am meisten dafür spricht, daß der Speyrer Grabstein nicht der ursprüngliche, und somit der auf demselben befindliche Doppeladler für die vorliegende Frage ganz ohne Werth ist, das ist eine Vergleichung desselben, resp. unseres Holzschnittes, mit einem Bilde in der berühmten Ambraser Sammlung, wovon wir eine Abbildung des entsprechenden Theiles des Originals unter Nr. 6 mittheilen.« 264
Auf der früheren, um 1500 entstandenen Abbildung ist nämlich auf dem Brustschild Kaiser Rudolfs kein Doppeladler, sondern ein einfacher schwarzer Reichsadler zu sehen (Abb. 46). Auch wenn die vergleichende Betrachtung damit in den Augen des Sphragistikers nicht die Qualität eines gesiegelten urkundlichen Beweises erreicht (er schreibt: »Was aber am meisten dafür spricht...«), so wird dem Ergebnis dieser Kritik doch so viel Relevanz zuge-
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Abb. 48: Kaiser Rudolf von Habsburg, Holzschnitt nach einem Gemälde von Hans Knoderer, publiziert 1868 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg messen, daß sie ihn zu dem Schluß berechtigt, daß der Doppeladler auf der Grabplatte in der vorliegenden Form nicht um 1300 entstanden sein kann.265 Bei diesen Ausführungen treten stärker als im vorherigen Text die medialen Konstellationen in den Vordergrund, die den historischen Forschungsprozeß praktisch strukturieren. Denn die Fragmente historischen Materials, die hier zueinander in Beziehung gesetzt werden, sind MedienObjekte.266 Hohenlohe-Waldenburg unternimmt keinen direkten Vergleich zwischen der Grabplatte aus Speyer und dem historischen Gemälde aus der Ambraser Sammlung. Ein solcher wäre auch nur durch die Zusammenstellung der beiden Objekte an einem Ort möglich. Stattdessen vergleicht der Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg von seiner Residenz in Kupferzell aus MedienObjekte miteinander und leitet daraus Schlußfolgerungen ab, die dem Leser des Anzeigers durch Text und Bild vermittelt werden sollen.267 Dabei stiften Abgüsse und Photographien, Holzschnitte nach Photographien, Holzschnitte nach Abgüssen, vermutlich auch Abgüsse von Abgüssen den Zusammenhang einer Hypothese, die das Verhältnis der Originale in Speyer und Wien betrifft – die als ›eigentliche‹ Gegenstände des Vergleichs eigentümlich abwesend bleiben. Deutlich wird das Netzwerk von Sammlungen, Wissenschaftlern und Publikationen, die durch Austauschprozesse von Reproduktionen und Ab265 | Vgl. zur Abgrenzung von Evidenz, Wahrscheinlichkeit und Plausibilität: Stegmaier 2008, S. 17: »Wahrscheinlichkeit wird von der Wahrheit her als eingeschränkt zuverlässige Wahrheit verstanden und schließt so Zweifel ein, und Evidenz schließt Zweifel aus. Dagegen ließe sich an Plausiblem durchaus zweifeln, es kommt jedoch, solange es plausibel ist, kein Zweifel auf.« 266 | Zum Begriff der MedienObjekte: siehe oben, Kapitel 3.1. 267 | Er handelt sich damit nach der Terminologie Droysens um eine »untersuchende Darstellung« (Droysen 1868, S. 23 (§45)).
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bildungen historischer Objekte deren vergleichende Betrachtung erst ermöglichen. Zunächst erwähnt Hohenlohe-Waldenburg einen Abguß des Brustschildes, den er anfertigen ließ, nachdem er den Hinweis auf die Darstellung des Doppeladlers erhalten hatte. Diesen Hinweis konnte er einer Publikation des Germanischen Nationalmuseums entnehmen: Im September 1868 war eine Neuauflage des »Wegweisers durch die Sammlungen« erschienen (die erste nach dem Amtsantritt Essenweins), unter deren zahlreichen neu angefertigten Illustrationen auch ein Holzschnitt nach dem Abguß der Grabplatte Rudolfs von Habsburg war.268 Obwohl der Abguß dem Museum bereits 1860 vom österreichisch-ungarischen Kaiser Franz Joseph (dessen Symbol der Doppeladler war) geschenkt worden war und in der Kartäuserkirche (in der Nähe von Kaulbachs Fresko und dem Abguß des Hildesheimer Taufbeckens) an exponierter Stelle aufgestellt wurde,269 war das darauf befindliche Detail bei den Diskussionen um den Doppeladler in den Jahren 1864/65 nicht in den Blick gekommen. Erst die Vervielfältigung im Holzschnitt machte auf den Doppeladler im Brustschild des Abgusses aufmerksam. Der Medientransfer macht sichtbar, was im Original (hier also: am Gipsabguß) übersehen worden bzw. für die Fragestellung unsichtbar geblieben war. Durch den Abguß des Brustschildes (der wahrscheinlich von dem Nürnberger Abguß angefertigt wurde)270 konnte Hohenlohe-Waldenburg sicher gehen, daß der Doppeladler keine Fehlinterpretation des Zeichners oder Holzschneiders war. Er wendet damit die kritische Methode auf den Vergleich von MedienObjekten an, wobei hier dem durch einen technischen Prozeß definierten Abguß anscheinend eine größere Glaubwürdigkeit zugesprochen wurde als der zeichnerischen Erfassung und ihrer druckgraphischen Vervielfältigung. Nachdem aber die Darstellung des Doppeladlers durch den Vergleich von Abguß und Holzschnitt beglaubigt war, konnte Hohenlohe-Waldenburg den Holzschnitt in seinem Beitrag im Anzeiger wieder abdrucken lassen, um den Lesern seine Forschungsergebnisse überzeugend darlegen zu können. Auch das Vergleichsobjekt – das Gemälde aus der Ambraser Sammlung – war für Hohenlohe-Waldenburg und seine Leser im Anzeiger nur durch verschiedene Vermittlungsschritte zugänglich. Durch Vermittlung von August Essenwein wurde der Kustos der Ambraser Sammlung in Wien, Eduard von Sacken, in den Prozeß der historischen Kritik des Doppeladlers einbezogen. In seine Darstellung im Anzeiger bindet Hohenlohe-Waldenburg ein längeres Zitat aus einem Schriftwechsel zwischen Sacken und Essenwein ein:
268 | Germanisches Nationalmuseum 1868, S. 12, Fig. 2. 269 | Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, 1860, Sp. 330 u. 378 (Geschenkregister-Nr. 3435). Vermutlich wurde der Abguß direkt von der Grabplatte in Speyer genommen; es kann aber nicht ausgeschlossen werden, das zwischen dem Original und dem Abguß im Germanischen Nationalmuseum weitere Vermittlungsschritte lagen (z. B. Abgüsse, die sich bereits in Wien befanden). 270 | Es ist zwar möglich, daß Hohenlohe einen Abguß des Originals anfertigen ließ – wahrscheinlicher ist allerdings ein Rückgriff auf das Objekt im Germanischen Nationalmuseum.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM »Freiherr E. von Sacken schreibt darüber an Essenwein bei Uebersendung einer Photographie dieses Bildes: ›Was den Grabstein Rudolf’s von Habsburg anbelangt, so weiß ich nur aus schriftlichen Nachrichten – ich selbst war nicht in Speyer – daß derselbe durch die Franzosen 1689 und 1793 bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde. Schmidt sagt mir, es sei noch gegenwärtig der alte Grabstein dort, der aber sehr bedeutend restauriert ist. Ob Ihr Gypsabguß von diesem restaurierten oder einem darnach gefertigten neuen Steine sei, kann ich nicht bestimmen. Die in Wasserfarben gemalte, aber auch schon etwas verblaßte Copie in der Ambraser Sammlung, von der ich eine Photographie beilege, ist jedenfalls unter K. Maximilian I. nach dem noch intacten Steine gefertigt. [...] Die Inschrift stimmt genau mit Ihrem Holzschnitte überein, ebenso die Figur im allgemeinen, nicht so Kopf und Hände, die an dem Originale des Holzschnitts ohne Zweifel restauriert sind; auch Krone und Scepter sind anders geformt, und die Linke hält nicht den Reichsapfel, sondern die Büchse mit dem bei der Krönung gebrauchten Salböle. Auf dem Originale des Holzschnittes ist wol auch der Doppeladler auf dem Brustschilde eine neuere Restauration; denn auf unserem Bilde ist deutlich der einköpfige schwarze Adler zu sehen‹«.271
Als Medium des Vergleichs lag dem Kustos der Ambraser Sammlung demnach ebenfalls ein Holzschnitt des Abgusses vor, den er in Wien mit dem Gemälde der (angeblich) zur Zeit Kaisers Maximilians, also Anfang des 16. Jahrhunderts, noch unveränderten Grabplatte vergleichen konnte. Entscheidend für diese »Kritik des Früheren und Späteren« ist ein Bruch in der materiellen Überlieferung des Originals in Speyer, der durch schriftlich und mündlich tradierte Berichte von Zerstörungen des 17. und 18. Jahrhundert und späteren Restaurierungen beglaubigt wird. Dieser Bruch in der materiellen Identität des Originals macht die zwischen den MedienObjekten konstatierten Abweichungen zwischen dem als »Copie« bezeichneten Gemälde der Grabplatte und dem Holzschnitt des Abgusses für Sacken zu einem plausiblen Beweis gegen die historische Authentizität des Doppeladlers. Neben dem Brief Sackens fungiert eine beigelegte Photographie des Gemäldes als zusätzlicher Beleg für diese Abweichungen von der früheren Erscheinung.272 Die Photographie vermittelt damit die Möglichkeit historischer Kritik, denn durch sie wird das Ergebnis des Vergleichs – zunächst für Essenwein, dann auch für HohenloheWaldenburg – visuell nachvollziehbar. In Nürnberg kann die Photographie (nach dem Gemälde der Grabplatte) mit dem Gipsabguß (vermutlich nach dem Original in Speyer)273 sowie mit dem Holzschnitt (nach diesem Gipsabguß) verglichen werden. Um die Ergebnisse in der Darstellung nicht nur glaubwürdig, sondern dazu auch anschaulich zu vermitteln, wurde schließlich
271 | Hohenlohe-Waldenburg 1868, Sp. 384f. 272 | Die Photographie war Teil des Werkes »Kunstwerke und Geräthe des Mittelalters und der Renaissance in der k. k. Ambraser Sammlung« (ab 1864), deren 40 Tafeln als »Originalphotographien ohne Retouche« ausgewiesen wurden. 273 | Interessant in der Mitteilung Sackens ist ja auch, daß Essenwein sich offensichtlich Aufschluß darüber erhoffte, ob der Gipsabguß nach dem Original oder nach einem neuen Stein gefertigt war.
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der zweite Holzschnitt (nach der Photographie eines Details des Gemäldes) angefertigt und mit dem Text im Anzeiger abgedruckt.
»Das mahnt zur Vorsicht« Die Argumentation Hohenlohe-Waldenburgs bezieht sich letztlich auf visuell wahrnehmbare Abweichungen zwischen dem Doppeladler auf der Grabplatte in Speyer und dem einfachen Adler auf dem Gemälde in Wien. Der Forschungsprozeß des kritischen Vergleichs stützt sich aber auf die visuellen Abweichungen zwischen einem Holzschnitt bzw. einem Abguß eines Abgusses aus Speyer auf der einen Seite und dem Holzschnitt nach der Photographie des Gemäldes auf der anderen Seite. Gerade bei Hohenlohe-Waldenburg zeigt sich allerdings, daß die Frage nach dem Status von Realien (Grabplatte in Speyer) und Bildern (Gemälde in Wien) als Medien der Authentifizierung historischer Sachverhalte (Geschichte des Doppeladlers) den Blick durchaus auch auf die Frage nach den Medien lenken konnte, die in diesen Prozeß eingebunden waren (Abgüsse, Photographien, Holzschnitte). Der Einsatz dieser MedienObjekte bedeutete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Gewinn für die Möglichkeiten historischer Forschung. Durch die Verwendung von Graphiken, Abgüssen und Photographien als Medien der vergleichenden Betrachtung entsponn sich um die erhaltenen Fragmente historischen Materials ein Netzwerk von Referenzbeziehungen, das neue Anschlußmöglichkeiten, Hypothesen und (relativ) glaubhafte Darstellungen ermöglichte – insbesondere für die historiographische Erschließung von Realien und Bildern. Das Germanische Nationalmuseum war – wie dieses Beispiel zeigt – in dieses Netzwerk aus Sammlungen, Vereinen, Gelehrten und Publikationen, das Kontakt zur universitären Geschichtswissenschaft hielt, sich aber doch abseits davon entfaltete, intensiv eingebunden. Für Geschichtsforscher wie den Sphragistiker und Heraldiker Karl Friedrich Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg war das Germanische Nationalmuseum ein Medium, das durch die Vermittlung von MedienObjekten historische Kritik teilweise erst ermöglichte. In diesem expandierenden, aber »theilweise noch immer sehr dunkeln Gebiete«274 der historischen Forschung dämmerten jedoch erste medienkritische Zweifel. Hohenlohe-Waldenburg schließt in seinen Aufsatz, nachdem er die Betrachtung der Grabplatte abgeschlossen hat, eine weitere Abbildung ein. Der Holzschnitt zeigt die Mantelschließe des Grabmals einer Gräfin von Württemberg – und darauf ein Wappen mit einfachem Reichsadler. Was dies zur Fragestellung (Geschichte des Doppeladlers) beiträgt, wird nicht ganz klar. Für die Fragestellung dieser Arbeit erhellend ist dagegen die dazu von ihm gesetzte Fußnote. Sie klärt auf, das eine davon bereits existierende Abbildung so unzureichend gewesen sei, daß er selbst eine eigene Zeichnung habe anfertigen müssen. 274 | Hohenlohe-Waldenburg 1868, Sp. 384.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM »Zum Behufe dieser Abbildung ließ ich, um ganz sicher zu gehen, einen Gypsabguß des Originals fertigen. Auf demselben befand sich nun, zu meinem Erstaunen, auf der Brust des Adlers eine kleine, erhabene Figur in der Form eines Hermelinschwänzchens oder ausgezackten Blattes oder dergleichen, welches heraldische Curiosum mich veranlaßte, den Abguß mit dem Original noch selbst ganz genau zu vergleichen. Und siehe da, auf dem Original war keine Spur davon zu finden! Es muß daher wol in die noch weiche Form sich zufälliger Weise irgend ein Gegenstand eingedrückt und diesen Fehler im Abgusse veranlaßt haben. Also selbst auf Abgüsse kann man sich nicht immer unbedingt verlassen! Das mahnt zur Vorsicht.« 275
Die Kenntnis der historischen Methode einer Quellenkritik, das Interesse an der vergleichenden Betrachtung von Objekten und der Analyse ihrer visuell wahrnehmbaren Unterschiede, sowie der Umgang mit verschiedenen medialen Erscheinungsformen eines Objekts (Originale, Abgüsse, graphische und photographische Abbildungen) schufen offenbar in der hilfswissenschaftlichen Forschung und im kulturhistorischen Museum eine Gemengelage, die der kritischen Betrachtung von Medien förderlich war.276 In einem späteren Aufsatz über »Zwei Fliesen aus dem 15. Jahrhundert« dehnte Hohenlohe-Waldenburg die Mahnung gegenüber einem zu naiven Glauben an die Wiedergabetreue technisch fundierter MedienObjekte auch auf die Photographie aus. Der entscheidende Hinweis ist wiederum in einer Fußnote gegeben: »Bei der Photographie dieser beiden vertieften Fliesen habe ich zum ersten Male die Erfahrung gemacht, welche nicht allgemein bekannt sein dürfte, daß vertiefte Figuren in der Photographie erhöht erscheinen, wenn man dieselben nicht im ganz richtigen Licht betrachtet, was auch auf die nach der Photographie gefertigte beiliegende Tafel Anwendung findet. Es können dadurch leicht Mißverständnisse entstehen, wenn man die Originale nicht selbst einsehen kann, und den Abbildungen keine genaue Beschreibung der Originale beigegeben ist.« 277
Drückt sich hier noch eher beiläufig (in Fußnoten) die Erkenntnis aus, daß der Einsatz technischer Medien als Instrumente historischer Forschung aus quellenkritischer Sicht den Vergleich mit dem Original nicht erübrigen kann? Zumindest so lange diese als Medien der Authentifizierung eingeschalteten MedienObjekte nicht ihrerseits hinreichend beglaubigt sind?
275 | Ebd., Sp. 386. 276 | Sehr deutlich wird dies etwa auch in Essenweins Aufruf zur Herausgabe eines kritisch editierten Tafelwerks über die Realien und Bilder des Mittelalters. Siehe dazu unten in diesem Kapitel. 277 | Hohenlohe-Waldenburg 1875, Sp. 11f.
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Siegeln als Kulturtechnik des Beglaubigens Unter den Historischen Hilfswissenschaft ist die Sphragistik am intensivsten mit Fragen der Authentifizierung und Authentisierung befaßt. Siegeln kann als eine Kulturtechnik des Beglaubigens verstanden werden und der Siegelabdruck als ein zentrales historisches Medium der Authentifizierung. Als Abdrücke eines Siegelstempels (Typar), der als Matrize fungiert, sind Siegel (d. h. Siegelabdrücke) serielle Objekte. Sie sind das Ergebnis eines technischen und wiederholbaren Vorgangs, der auf einem Trägermaterial eine Markierung hinterläßt.278 Weil jeder einzelne Abdruck jedem anderen Abdruck der Serie ähnlich ist, beglaubigt er, daß eine Berührung mit genau diesem Siegelstempel stattgefunden habe. Im Siegelabdruck verbinden sich Aspekte der Ähnlichkeit (Ikonizität) und Berührung (Indexikalität), auf denen die historische Funktion des Siegels als Erkennungszeichen und als Medium der Authentifizierung gründet.279 Die mittelalterliche Kanzlei kannte mit dem sogenannten Vidimus eine Art der beglaubigten Kopie. Nach Ahasver von Brandt entsprach das Vidimus dem »Bedürfnis des Empfängers (Besitzers), von einer einmalig vorhandenen Urkunde beglaubigte Duplikate zu erwerben – etwa aus allgemeinen Sicherheitsgründen, oder um das Original nicht durch Versendung, Mitgabe an einen Boten, häufige Einsichtnahme usw. zu gefährden«.280 Mit dem Vidimus bestätigt ein Dritter, eine Originalurkunde gesehen und mit der Abschrift verglichen zu haben, die er nun siegelt; der Text der Originalurkunde muß dabei dem Wortlaut nach unverändert wiederholt sein, wird jedoch durch eine neue »Mantelurkunde«281 gerahmt, die durch eine festgelegte Einleitungsformel (vidimus hanc paginam...) und den Siegelabdruck den eingeschalteten Urkundentext beglaubigt.282 Aber nicht jeder Siegelinhaber war berechtigt, ein Vidimus auszustellen; nur die Inhaber eines sigilla authentica durften solche Urkunden in fremder Sache ausstellen – als Augenzeugen der Übereinstimmung von Original und Kopie. Der Autorität des sigilla authentica drückte dabei »unbedingte und unanfechtbare Beweiskraft«283 aus. Dadurch konnte 278 | Definition des Abdrucks als technisches Dispositiv: Didi-Huberman 1999, S. 14. Siehe zu einer Genealogie des Abdrucks auch: ebd., S. 30ff. 279 | Auch Fragen der Originalität und Reproduzierbarkeit werden durch das Siegel berührt. Als reproduzierbares Objekt verweist das Siegel auf den einmaligen Siegelstempel und damit auf die Person des Siegelinhabers. In der frühmittelalterlichen Herrschaftspraxis fungierte das Typar (z. B. als Siegelring) als Stellvertreter oder als »Botschaft eines Abwesenden« (Brandt 1998, S. 133). 280 | Brandt 1998, S. 96. 281 | Quirin 1991, S. 71. 282 | Brandt betont, daß der Aussteller des Vidismus keinerlei Verpflichtungen in bezug auf die vertraglichen Vereinbarungen der Urkunde übernähme – »er bezeugt lediglich, den unzerstörten und beglaubigten Text des Originals, so, wie er wiederholt ist, vor sich gehabt zu haben« (Brandt 1998, S. 96). Er versteht ihn also im Sinne eines neutralen Vermittlers. 283 | Ebd., S. 136.
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ein Vidimus das Original als rechtskräftige Zweitschrift ersetzen. Beglaubigt wurde also durch das authentisiertes Siegel, daß die Abschrift, obwohl sie nicht das Original ist, doch für dieses gehalten werden kann. Im Vidimus als einem Medium der Authentifizierung verbinden sich Augenzeugenschaft (des Siegelnden) und Abdruck (des Siegels). Das Siegel hat aber auch noch eine weitere, historisch ältere Funktion: neben der Praxis des Besiegelns (etwas beglaubigen, Echtheit bezeugen) verknüpft sich damit die Praxis des Versiegelns (etwas vor einem Zugriff schützen).284 Auch beim Verschlußsiegel geht es um Beglaubigungen: das niemand von dem Inhalt Kenntnis genommen hat; das niemand den Inhalt verändert oder verfälscht hat. Beglaubigt wird somit die Identität zweier Verschlußsachen – aber nicht als Nebeneinander im Raum (originale Urkunde und Vidimus), sondern als Nacheinander in der Zeit. Das Siegel steht dafür, daß die Nachricht, die der Verfasser versiegelte, mit der Nachricht identisch ist, die dem Empfänger vorliegt, sobald er das Siegel erbricht. Das Siegel ist somit ein Medium, das die Zeitlichkeit einer Kommunikation durch die Suggestion der Unmittelbarkeit überbrückt. Die funktionale Dopplung des Siegels als Verschluß- und Beglaubigungsmittel kann zum Problem werden: ein Siegel, das erbrochen wurde, kann anschließend nichts mehr beglaubigen.
Rückprojektionen: Das Gemälde als Photographie – die Grabplatte als Gipsabguß Noch einmal zurück zum Verhältnis zwischen der Grabplatte Rudolfs von Habsburg und dem Gemälde in der Ambraser Sammlung. Es ist das eine, wenn das Gemälde als Instrument der historischen Kritik eingesetzt wird, um in der Frage nach der Authentizität des dargestellten Doppeladlers zu bezeugen, daß dieser Teil der Grabplatte um 1500 anders ausgesehen hat, als er sich heute zeigt. Es ist aber eine ganz andere Frage, ob das Gemälde zugleich beglaubigt, daß die Grabplatte genau so ausgehen hat, wie sie darauf abgebildet worden ist. Und noch eine andere Hypothese steht hinter der Annahme, das dieses Gemälde nicht nur ein authentisches Abbild der Grabplatte ist – sondern als authentisches Portrait Kaiser Rudolfs von Habsburg angesehen werden kann.285 Worauf stützt sich diese durchaus verbreitete Hypothese, die zunächst einmal (wie alle Hypothesen) fragwürdig ist? Die Bedeutung, die der Grabplatte Rudolfs in der Geschichte des mittelalterlichen Portraits (und damit in der Kunstgeschichte wie in der Geschichts284 | Ebd., S. 142. 285 | Das Gemälde ist inzwischen im Besitz des Kunsthistorischen Museums in Wien. Es wird heute Hans Knoderer zugeschrieben – Sacken schrieb es Kaspar Rosentaler zu. Das Gemälde wurde 2006 als wichtigste Leihgabe auf der Mittelalter-Schau »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« in Magdeburg gezeigt.
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wissenschaft) zukommt, begründet sich nur teilweise durch das Erscheinungsbild des Grabdenkmals (Spuren besonders detaillierter und individualisierter Bearbeitung) – mindestens ebenso bedeutsam ist jedoch ein historischer Text, in dem diesem Bildwerk eine besondere Wirklichkeitsnähe zugeschrieben wird. Es handelt sich um eine Erzählung, die mit Volker Wortmann als typische »Authentisierungslegende« bezeichnet werden kann. Darunter sind Erzählungen zu verstehen, die eine privilegierte Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand behaupten, durch die jeweils ein bestimmtes Bild durch seine angeblich besonderen Entstehungsumstände als besonders glaubwürdig anzusehen und von den grundsätzlich geteilten Zweifeln gegenüber der Wahrheit von Abbildungen auszunehmen sei.286 In diesem Fall handelt es sich um die Anekdote aus der »Steirischen Reimchronik«, die auch Hohenlohe-Waldenburg als ein Indiz für die Authentizität der Grabplatte angesprochen hatte. Ihm war es dabei allerdings vor allem um den zeitlichen Beleg für die Existenz des Denkmals am Anfang des 14. Jahrhunderts gegangen und weniger um die darin enthaltene Bildlegende. Die Anekdote erzählt von einem Steinmetz, der noch zu Lebzeiten des Kaisers ein so lebensechtes Portrait aus Stein geschlagen habe, wie es noch keines gegeben habe; er soll sogar, als er hörte, das sich im Gesicht des Kaisers eine Runzel zeigte, die auf dem steinernen Abbild nicht zu sehen war, diesem nachgereist sein, um die Veränderung zu sehen und die Nachbildung an das Urbild anzupassen.287 Diese Anekdote machte schon um 1860 die besondere Bedeutung dieser Grabplatte aus, die dadurch mit Zuschreibungen besetzt und mit Bedeutung aufgeladen war. Das Organ für christliche Kunst nahm eine kurze Mitteilung über die Überführung des Abgusses ins Germanische Nationalmuseum zum Anlaß, den Wert der Grabplatten insgesamt herauszustellen: »Die Grabmäler sind um so werthvoller, als sie die einzigen Portraits aus einer Zeit sind, wel286 | Wortmann 2003 hat in seiner Untersuchung »Authentisches Bild und authentisierende Form« herausgearbeitet, daß Bilder kulturgeschichtlich immer dann als authentisch angesehen worden sind, wenn sie die erkenntniskritischen Vorbehalte, die seit Platon gegen die Wahrheit der Bilder artikuliert worden sind, durch darauf bezogene Authentisierungsdiskurse scheinbar entkräftet werden konnten. In älterer Zeit übernahmen mündlich oder schriftlich tradierte Legenden diese Funktion: die bildtragenden Berührungsreliquien der Christenheit (Schweißtuch der Veronika, Grabtuch von Turin) bilden den Modellfall eines authentischen Bildes (vera icon), in der sich das Dargestellte nicht als künstlerische Darstellung zeigt, sondern unvermittelt mitteilt. Ein anderes Beispiel ist die bewußte Stilverweigerung, die vorgibt, auf jede Form der Inszenierung und Einflußnahme zu verzichten – aber letztlich doch immer ästhetisches Format ist. Authentisierungsstrategien halten das Paradox unvermittelter Vermittlung aufrecht und behaupten die Möglichkeit einer Darstellung, die »den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert« (S. 14). Mit der Photographie wird diese über Jahrhunderte vor allem auf einzelne Bilder bezogene Authentisierungsstrategie in technische Termini überführt – und dafür grundsätzlich für jedes photographisch hergestellte Bild anwendbar. 287 | MGH, Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 5,1: Ottokars Österreichische Reimchronik, Hannover 1890, S. 508f.
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che weder Porträtmaler noch Photographen hatte.«288 Unter diesen Portraits galt (teils durch die Spuren, teils durch die Anekdote) das von Rudolf als das, was der Vorstellung einer photographischen Ähnlichkeit am nächsten kam. Eduard von Sacken, der nicht nur Kustos der Ambraser Sammlung in Wien war, sondern auch als eine Art Haushistoriograph des österreichischen Kaiserhauses fungierte, hat sich (möglicherweise angeregt durch die über das Germanische Nationalmuseum vermittelte Frage nach dem Doppeladler) später noch einmal intensiv mit dem Grabmal Rudolf von Habsburgs beschäftigt. 1882 veröffentlichte er den Aufsatz »Ueber die authentischen Porträts König Rudolfs von Habsburg und dessen Grabsteine«. Darin findet sich eine interessante Übertragung der technisch fundierten Konzepte von authentischer Darstellung auf historische Bildwerke. Sacken macht darin zunächst noch die Differenz zwischen den unterschiedlichen historischen Konzepten von Portraitähnlichkeit deutlich, deutet aber gleich darauf an, daß sie für diesen einen Ausnahmefall nicht gelten. Obwohl sich in den Bildwerken des 13. Jahrhunderts ein gegenüber der früheren Zeit stärkeres »Streben nach Naturwahrheit« bemerkbar mache, könne, so Sacken, dabei aber von »eigentlichen Porträts« noch nicht gesprochen werden. »Wir wären sonach kaum berechtigt, ein gleichzeitiges Bildnis Rudolfs von Habsburg von so völliger Naturtreue und durchgreifender Individualisierung zu erwarten, wie wir sie heute von einem Porträt fordern, dennoch gab es ein solches, wie wir weiter unten sehen werden; es ist noch zum Teil erhalten und ergänzt sich durch eine alte getreue Copie desselben.« 289
Das Muster der Authentisierungslegende, wie sie Volker Wortmann analysiert hat, wird hier sehr deutlich: die Behauptung einer besonderen Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand (und zwar als Ausnahme von der Regel). Es gäbe außergewöhnlich viele Portraits Rudolfs, »die aber unter sich sehr unähnlich sind, den König mit sehr verschiedenen Gesichtszügen, theils bärtig, theils unbärtig darstellen«290 – und auch einige der in historischen Quellen als besonders lebensnah beschriebenen Portraits sind nicht mehr oder nur durch unzureichende Abbildungen erhalten, die »keine deutliche Vorstellung von dem Aussehen Rudolfs« geben.291 Dann kommt er, über die Anekdote der Reimchronik, auf die Grabplatte aus Speyer zu sprechen und die Zerstörungen, die sie im 17. und 18. Jahrhundert haben. Die wenigen unbeschädigten Stellen hätten bei der Wiederauffindung im 19. Jahrhundert durch die sorgfältige und detaillierte Wiedergabe ganz der Anekdote der Reimchronik entsprochen. Gegenwärtig läge die Platte, von einem Bildhauer restauriert,
288 | Organ für christliche Kunst 10, 1860, S. 216. 289 | Sacken 1882, S. 428. 290 | Ebd., S. 427. 291 | Ebd., S. 429.
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in der Krypta des Speyrer Domes.292 Als Zwischenfazit und Wendepunkt der Darstellung stellt Sacken fest: »Bei dem Zustande, in welchem der Grabstein aufgefunden wurde, ist er nicht geeignet, uns eine deutliche Vorstellung von der Physiognomie zu geben. Aber glücklicherweise wurde er vor seiner Verstümmelung zu Anfang des XVI. Jahrhunderts, getreu und in gleicher Größe abgebildet und dieses Bild ist in den Kunsthistorischen Sammlungen des Allerh. Kaiserhauses (in der Ambraser-Sammlung) noch erhalten.«293
Die folgende Beschreibung des Gemäldes ist zugleich eine vergleichende Kritik mit der Grabplatte aus Speyer, wobei Sacken hier nicht offenlegt, welche Medien ihm als Grundlage des Vergleiches dienen. Er konstatiert, daß der Maler »den Stein nicht ganz von vorne aufgenommen, sondern etwas von links, so dass der Kopf im Dreiviertelprofile erscheint« und dadurch auch Teile der äußeren Umrahmung der Grabplatte nicht mit abgebildet hat, stellt also Unterschiede fest, die er aber – ähnlich der Beschreibung einer Photographie – als Wahl einer bestimmten Perspektive und eines Bildausschnitts charakterisiert. Für die Exaktheit der Abbildung spräche z. B. ein Vergleich der dem »Originale völlig entsprechende[n] Schrift in Charakteren, welche der Zeit von Rudolfs Tode zukommen«.294 Hier wird also eine Hilfswissenschaft (die Paläographie) als Medium der Authentifizierung herangezogen, um durch die Übereinstimmung, die sogar das wiedergegebene Schriftbild als authentisch ausweist (für die Zeit um 1300), einen weiteren Beleg für die außergewöhnliche Abbildtreue des Gemäldes zu liefern. Die Kritik zusammenfassend, zieht Sacken in bezug auf das Gemälde die Schlußfolgerung: »Nachdem es mit den noch erhaltenen Teilen des Grabsteines ganz genau übereinstimmt, so ist anzunehmen, dass das Gleiche auch in Bezug auf die Gesichtszüge der Fall ist, es somit ein authentisches Porträt Rudolfs darstellt«.295 Damit projiziert er ein medienhistorisch bedingtes Modell der exakten Kopie auf das historische Material zurück – und zwar nicht nur auf das in dieser Hinsicht kritisch untersuchte Gemälde, sondern auch auf die Steinbearbeitung der Grabplatte selbst. Denn wenn das Gemälde zweihundert Jahre nach Rudolfs Tod dessen authentisches Portrait darstellen soll, ist die Grabplatte als ebenfalls authentisches Bild und gleichsam transparentes Medium darin schon eingeschlossen. Das Gemälde wird wie eine Photographie wahrgenommen – und die Grabplatte wie ein Abguß. Diese Konstellation erinnert an die Photographien des Hildesheimer Taufbeckens im Bilderrepertorium des Germanischen Nationalmuseums.296 Auch dort schien eine mittels Photographien und Gipsabgüssen vermittelte Durchsicht auf das Original möglich. Dabei blieben jedoch die einzelnen Schritte und Transformationen 292 | Ebd., S. 434. 293 | Ebd., S. 435. 294 | Ebd., S. 436. 295 | Ebd. 296 | Siehe oben, Kapitel 4.2.
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entlang der Reproduktionskette überprüfbar, weil die drei unterschiedlichen Manifestationen des Hildesheimer Taufbeckens gleichzeitig vorhanden waren. Die Durchsicht auf die Gesichtszüge Rudolfs von Habsburg entzieht sich jedoch einer solchen Überprüfbarkeit und wird stattdessen lediglich behauptet. Eine Authentisierung durch vergleichende Betrachtung (wie sie Sacken für den Vergleich von Gemälde und Grabplatte durchführt), ist aber zwischen der Grabplatte und Rudolf nicht möglich. Was die Behauptung eines authentischen Portraits hingegen (weiterhin) allein beglaubigen soll, ist die (nach den strengen Grundsätzen der historischen Kritik kaum im Sinne einer photographischen Ähnlichkeit zu interpretierenden) Legende aus der Reimchronik. Diese überlagert sich aber hier mit dem erhaltenen Original, dem authentischen Gemälde, der historisch-kritischen Methode und der Vorstellung photographischer Transparenz zu einer undurchsichtigen Konstellation, die verdeckt, daß die scheinbar so schlagenden visuellen Belege und Argumente vergleichender Betrachtung für die Ausgangsfrage nach einem authentischen Portrait Kaiser Rudolfs gar keinen neuen Erkenntnisgewinn bedeuten. Das bedeutet nicht, daß die kritische Prüfung, die Sacken an »seinem« Gemälde in Wien durchführt, nicht überzeugend wäre. Der Vergleich der Lettern und kleinen Details zwischen der Grabplatte und dem Gemälde ist ein durchaus glaubhafter Beleg für die Abbildtreue des Gemäldes. Belegt ist damit aber nur, daß der Maler die Grabplatte in ihren Details um 1500 vermutlich genau so darstellen wollte, wie er sie gesehen hat. Man kann das Gemälde, das Sacken ja auch schon 1868 als »Copie« bezeichnet hatte, durchaus als eine Art Vidimus ansehen – ein durch vergleichende Kritik beglaubigtes Dokument eines historischen Zustands der Grabplatte aus Speyer. Problematisch ist jedoch die zweite Beglaubigung (ein zweites Vidimus), die der Historiker dem Gemälde als authentischem Portrait Kaiser Rudolfs ausstellt, ohne hier ein Augenzeuge der Übereinstimmung von Original und Kopie zu sein (oder sein zu können). Er stellt damit das Gemälde über die Dokumentation eines historischen Zustandes hinaus als authentisches Bild des ursprünglichen Zustand des Originals dar, das damals wiederum ein authentisches Portrait des Kaisers dargestellt habe. Das Gemälde wird in dieser Wahrnehmung zu einem Garanten des ursprünglichen Originals, zu einer Art Verschlußsiegel, das die zeitliche Distanz zwischen der Entstehungszeit des Originals (Ende des 13. Jahrhunderts), der exakten Abbildung (um 1500) und der Gegenwart Sackens (1882) überbrückt und damit die Zuschreibungen auf sich zieht, die das Original durch den historischen Bruch um 1800 (Bruch seines Verschlußsiegels) nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann. Offensichtlich agiert Eduard von Sacken in dieser Konstellation nicht als unbeteiligter Historiker (in der Art des vorgeblich neutralen Inhabers eines sigillum authenticum), sondern als Kustos einer Sammlung, der die Zuschreibungen gegenüber dem historischen Original (als authentisches Portrait) auf die Gemäldekopie in Wien überträgt und damit ›sein Kunstwerk‹ mit zusätzlicher Bedeutung auflädt. Nachdem diese Schlußfolgerung gezogen ist, reicht Sacken beiläufig eine Bemerkung nach, die anscheinend weniger auf die Beweisführung als auf die Darstellung und photographische Wiedergabe des Gemäldes in seiner Pub-
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likation bezogen ist, aber die bisherige auf Transparenz gestützte Argumentation doch erheblich trübt. Sacken kommt noch einmal auf das Gemälde zu sprechen: »Leider ist auch dieses bedeutend schadhaft, indem das Bild durch Feuchtigkeit und Abreibung scharf gelitten hat. Im Gesichte fehlen alle Details, die Schärfe der Zeichnung ist dahin, die Züge erscheinen nur mehr in allgemeinen Umrissen, obschon noch deutlich genug, um von dem Aussehen des Dargestellten eine ziemlich klare Vorstellung zu erhalten. Die Heliogravüre konnte bei diesem Zustande des Bildes wohl nicht besser werden, als sie nach vielen Bemühungen ausgefallen ist.« 297
Gerade das, was für den geradezu photographischen Portraitcharakter beider Bildwerke entscheidend war, die Gesichtszüge auf dem Gemälde aus Wien, gleichen in dieser Beschreibung eher einer verblaßten Photographie, ohne Details, unscharf und nur in allgemeinen Umrissen erkennbar. Sie liefern kein klares Bild Rudolfs von Habsburg, sondern sind vielmehr Bildschemen, aus denen eine »ziemlich klare Vorstellung« gebildet werden kann. Vielleicht stellt Sacken dieser Bemerkung deshalb einen allerletzten Nachsatz hinterher, der wiederum auf die Beweiskraft der schriftlichen Quellen zurückführt: »Das Porträt, welches uns Grabstein und Bild geben, entspricht auch den Schilderungen der Chronisten über das Aeussere des Königs.«298 Am Ende bleibt die Authentizität der Darstellung trotz der scheinbar doppelten Evidenz von Gemälde und Grabstein letztlich eine Frage der doppelten Zuschreibung: Zuschreibung durch die historischen Quellen und Zuschreibung durch den Historiker. Entscheidend für die Evidenz oder die Authentizität, die einem historischen Fragment zugeschrieben wird, bleibt die Schlüssigkeit der Hypothese, die der Historiker damit verknüpft. Es ist durchaus glaubwürdig belegt, daß es in der Zeit um 1300 ein besonderes Interesse nach individualisierter Darstellung gab (die überzeugend als Teil eines politischen Herrschaftsprogramms Kaiser Rudolfs interpretiert worden ist);299 und es ist ebenso glaubhaft, daß der Grabplatte Kaiser Rudolfs dabei eine besondere Bedeutung zukam. Dieser Sachverhalt wäre – im Sinne Droysens – das kritisierte historische Material, das interpretiert und dargestellt werden kann. Damit liegt die ›Wahrheit des Historikers‹ – hier ganz im Sinne Droysens – aber hinter der sichtbaren Oberfläche der Grabplatte, die sich seinem Zugriff längst entzogen hat. Problematisch ist es jedoch (wie es häufig geschieht), diese besondere Portraitähnlichkeit der historischen Bildwerke ausgerechnet durch die Grabplatte aus Speyer oder das Gemälde aus Wien zu illustrieren – ohne deren besonderen Kontext hinreichend zu reflek-
297 | Sacken 1882, S. 437. 298 | Ebd., S. 437. 299 | Körner 1998, S. 119.
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tieren.300 Der scheinbar so wirkungsmächtige visuelle Beleg bleibt in diesem Fall eine eher frag- als glaubwürdige Hypothese von zweifelhafter Evidenz.
Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Verbindung von Originalität und Authentizität Es muß im Fall der Grabplatte noch eine weitere Wendung des historischen Materials verfolgt werden. Sackens Aufsatz macht auf das Auseinanderfallen zweier Arten von Originalität und Authentizität aufmerksam, auf die Differenz zwischen der materiellen Echtheit des originalen Rests und der historischen Zeugenschaft des ursprünglichen Originals. Bei allen Betrachtungen Sackens blieb die Grabplatte in Speyer zweifelsfrei das Original und das Gemälde in Wien die Kopie oder ein Abbild davon. Aber als authentisches Zeugnis für die ursprüngliche Erscheinung der Grabplatte um 1300 galt nun nur noch das Gemälde. Die dem Gemälde zugeschriebene Augenzeugenschaft eines historischen Zustands, den das Original nicht mehr zeigt, verschiebt die materielle Zeugenschaft des Originals, das vor allem noch die Spuren seiner eigenen Geschichte dokumentiert (Zerstörung und Restaurierung).301 Während sich die Authentizität (materielle Echtheit, Dauer) der Grabplatte in Speyer dadurch ausdrückt, das es sich verändert und gewandelt hat und die Spuren historischer Ereignisse trägt, gründet sich die Authentizität (historische Zeugenschaft, Ursprung) des Gemäldes in Wien auf der Vorstellung eines scheinbar von den Spuren der Geschichte unbelasteten Kunstwerks. Ohne die historische Abbildung, die von Sacken in der Art einer technisch-exakten photographischen Kunstreproduktion wahrgenommen wurde, wäre die Differenz zwischen dem gegenwärtigen und dem ursprünglichen Original gar nicht so sehr als Bruch in der materiellen Identität des Kunstwerks wahrgenommen worden. Das Original in Speyer hätte die sichtbaren Spuren seiner Geschichte getragen und durch seine materielle Einzigartigkeit zugleich für das gestanden, was von seinem Ursprung her mit dem Objekt verknüpft war. Damit sind eine Reihe von Schlüsselworten aus einer Passage Walter Benjamin zum »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« genannt: 300 | Ebd., S. 115: Körner illustriert seinen Aufsatz zu Fragen der »Signifikanz von Verismus und Stilisierung im Grabbild des 13. Jahrhunderts« – in Kenntnis der späteren Veränderungen und Transformationen – mit Abbildungen des Grabmals und schreibt zu den Veränderungen der späteren Zeit in einer Fußnote nur lapidar: »Die Restaurierung betraf vor allem Nase, Mund und Kinn und muß bei der Beurteilung des Kopfes eingerechnet werden.« 301 | Das Original mag durch seine Objektgeschichte kein authentisches Zeugnis der Zeit um 1300 mehr sein, doch dafür ist es als Original ein authentisches Zeugnis z. B. für Fragen nach der deutsch-französischen Geschichte, Erinnerungskultur, Restaurierungspraktiken usw. Auch das ist Heuristik (im Sinne Droysens): eine Kombination (von Zuschreibung und Sachverhalt), »die, was nicht historisches Material zu sein scheint, durch richtige Einordnung dazu macht« (Droysen 1868, S. 15 (§26)).
K APITEL 4.5 | F RAGWÜRDIGE D ARSTELLUNGEN »Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduktion des Kunstwerks gebracht werden kann, mögen im übrigen den Bestand des Kunstwerks unangetastet lassen – sie entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt. Wenn das auch keineswegs vom Kunstwerk allein gilt sondern entsprechend z. B. von einer Landschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht, so wird durch diesen Vorgang am Gegenstande der Kunst ein empfindlicher Kern berührt, den so verletzbar kein natürlicher hat. Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache.« 302
Vielleicht ist damit auch der Zusammenhang beschrieben, der sich am Beispiel der Grabplatte andeutet: das Auseinanderfallen in ein gegenwärtiges Original und seine durch Reproduktion fixierten historischen Zustände fördern, indem die Veränderungen des Originals im Laufe der Zeit wahrnehmbar und als Verlust erfahrbar werden, die Sehnsucht nach einem ursprünglichen und unveränderlichen Original außerhalb der historischen Zeit. Die massiven Zerstörungen des 17. und 18. Jahrhundert sind zum ersten Mal Mitte des 19. Jahrhunderts restauriert worden. Zu diesen Arbeiten nahm Sacken in einer Fußnote Stellung: »Bildhauer G. Renn in Speier hat bei der Restaurierung die fehlenden Teile des Gesichtes nicht ganz glücklich ergänzt, dem König in die Rechte das Scepter (wozu die Indicien durch die erhaltene Blattspitze gegeben waren), in die Linke den Reichsapfel (für den keine Spur vorhanden war) gegeben, auf dem Brustschilde den zweiköpfigen Adler angebracht. So erscheint der als Geschenk Sr. Maj. des Kaisers Franz Josef im germanischen National-Museum zu Nürnberg befindliche Gipsabguss des Grabsteines (Die Samml. des germ. Mus. 1868, S. 12, Fig. 2.) An der nach diesem angefertigten Gipsbüste im Museum zu Speier wurde richtig der einköpfige Adler wieder hergestellt.« 303
Sacken mißt also die Veränderungen des Originals am Maßstab der Gemäldekopie aus Wien – und zwar im Sinne einer »Kritik des Richtigen« Droysens.304 Eine vollständige Übereinstimmung mit dem quasi photographischen Dokument in Wien wäre in dieser Wahrnehmung ein Ausweis der Richtigkeit. Weil der Doppeladler von der Brustplatte verschwunden ist, ist die Gipsbüste in Speyer ›richtiger‹ als der Nürnberger Abguß – obwohl der einfache Adler nicht abgegossen, sondern eigens modelliert werden mußte (da er ja nur auf dem Gemälde vorhanden war). Das Gemälde wird aber in diesem Fall als Maßstab der Kritik auch zur Grundlage einer Veränderung des Originals. So 302 | Benjamin 2007, S. 14 faßt zusammen: »Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.« 303 | Sacken 1882, S. 441 Anm. 23. 304 | Droysen 1868, S. 17 (§32).
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Abb. 49: Photographie der Grabplatte, Zustand 1900/40 Bildarchiv Foto Marburg Abb. 50: Lithographie der Grabplatte, Zustand Anfang 19. Jh. Brockhaus Bilder-Conversationslexikon 1839 wurde die Grabplatte in Speyer in mindestens einer weiteren Restaurierung abermals verändert. Photographien aus dem Bildarchiv Foto Marburg zeigen schon zwischen 1900 und 1940 wieder den ›richtigen‹ einfachen Adler, für den der ›falsche‹ Doppeladler vom Brustschild der Grabplatte entfernt wurde (Abb. 49). Inwieweit auch die im 19. Jahrhunderts angeblich nicht ganz glücklich ergänzten Teile des Gesichts in einem späteren Zugriff nach dem Vorbild des Abbildes aus Wien ›korrigiert‹ worden sind – dies zu klären, bedürfte einer näheren vergleichenden Untersuchung. Erkennbar steht jedoch hinter solchen Eingriffen in die historische Substanz der Wunsch, das Original wieder mit der scheinbar verlorenen historischen Authentizität aufzuladen. Der Reichsapfel in der linken Hand Rudolfs allerdings ist (obwohl als Ergänzung des 19. Jahrhunderts erkannt) nicht durch die ursprüngliche Salbbüchse ersetzt worden, wie sie das Gemälde zeigt. Ist also durch die Ablagerung und Tilgung historischer Spuren eine Art Komposit-Original entstanden, das auch die Unterschiede der MedienObjekte in Nürnberg, Speyer und Wien reflektiert? Das »Brockhaus-Bilder-Conversationslexikon« von 1839 zeigt den Grabstein vor der Restaurierung durch den Bildhauer Renn (Abb. 50). Auf dieser graphischen Wiedergabe ist auf der Brustplatte weder der einfache noch der doppelte Adler zu sehen, sondern etwas, das an die zufälligen Bildspuren des »ausgezackten Blattes oder dergleichen« erinnert, das 1868 bei dem Sphragistiker Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg Zweifel an der scheinbar selbstverständlichen Glaubwürdigkeit technischer Reproduktionsmedien geweckt hatte: Das mahnt zur Medienkritik!
K APITEL 4.5 | F RAGWÜRDIGE D ARSTELLUNGEN
Essenweins Monumenta-Projekt: Medienkritik an der Schwelle des photographischen Zeitalters Die medienkritischen Beobachtungen Hohenlohe-Waldenburgs bezogen sich auf Zufälle (Einschlüsse von Objekten in den Abgußvorgang) und besondere Konstellationen (Photographien, die unter einem bestimmten Winkel von der menschlichen Wahrnehmung abwichen) – also genau auf jene »Kniffe und Zufälligkeiten«, in denen André Malraux später eine produktive Grundlage seines Musée Imaginaire erkennen sollte.305 Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß diese Abweichungen vom erwarteten Ergebnis eine grundsätzliche Skepsis hervorgerufen haben. Bei August Essenwein, dem Direktor des Germanischen Nationalmuseums ist eine solche Entwicklung hingegen nachweisbar. Essenwein, der in der Frage um den Doppeladler 1868 als Vermittler von Abgüssen, Photographien und Holzschnitten (wahrscheinlich auch als Zeichner) in Erscheinung getreten war, hatte zwischen 1870 und 1884 eine allmähliche Wende vom entschiedenen Fürsprecher der Photographie zu einem ernüchterten Benutzer vollzogen.306 In einer 1884 publizierten Denkschrift zeigte er sich nun als Medienkritiker – und insbesondere als Gegner des photographischen Versprechens dokumentarischer Treue.307 Das Projekt der »Monumenta Iconographica Medii Aevi und Reliquiae Medii Aevi«, das sich mit dem lateinischen Namen auf die »Monumenta Germaniae Historica« berief und auf ein Quellenwerk der bildlichen und gegenständlichen Zeugnisse des Mittelalters zielte, war ähnlich langfristig angelegt wie die einstigen Nürnberger Planungen zum Generalrepertorium. Durch die Betonung eines erweiterten Quellenverständnisses, das Texte, Bilder und Realien umfassen müsse, um die »Kenntnis der Zustände unserer Vorzeit« zu verbessern und mit der Vision, den »idealen Gesamtbesitz der Nation« zusammenzufassen, schloß Essenwein hier an die Ziele an, die Aufseß mit dem Projekt des Generalrepertoriums verbunden hatte und die er selbst um 1870 aus dem Germanischen Nationalmuseum verbannt hatte. Essenwein verknüpfte mit dem neuen Projekt die Hoffnung auf repräsentatives und wissenschaftlich verwertbares Material für vergleichende Studien, die sich mit dem Bilderrepertorium nach 1870 durch das unstrukturiert zusammengekommene und unzuverlässige Material nicht erfüllt hatten. Die Idee des imaginären Museums, die im Germanischen Nationalmuseum durch schriftliche (Generalrepertorium), gegenständliche (Reproduktionsmuseum) und bildliche Zusammenstellungen (Bilderrepertorium) gewandert war, wurde nun aus dem Museum ausgelagert und auf ein Publikationsprojekt übertragen. Die Überlegungen zu der nun vorgestellten quellenkritischen Unternehmung waren vermutlich bei der Zusammenstellung des Materials zum Tafelwerk »Kulturhistorischer Bilderatlas: Mittelalter« gereift, das 1883 ver305 | Siehe oben, Kapitel 4.3. 306 | Siehe oben, Kapitel 4.4. 307 | Essenwein 1884b.
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öffentlicht wurde.308 Essenweins Aufruf zur Einrichtung einer Kommission für dieses geplante Quellenwerk fand, gerade im Zusammenhang mit dem kurz zuvor veröffentlichten »Kulturhistorischen Bilderatlas«, auch in der Historischen Zeitschrift Beachtung. Rezensent Ehrenberg bemerkte kritisch über den Atlas, dieser sei »etwas mannigfaltig und wenig einheitlich geworden; von Übereinstimmungen der Maße ist keine Rede, geschweige denn von Gleichheit der Reproduktionsweise«.309 Er verstand jedoch das ganze Werk eher als eine Demonstration für die Notwendigkeit des in der Denkschrift geforderten Quellenwerks. Besonders beeindruckte ihn ein Beispiel, mit dem Essenwein auf fehler- und mangelhafte Abbildungen aufmerksam machte: »E. macht auf die fehlerhaften Abbildungen, die man früher zufolge der noch wenig entwickelten Technik durchgängig, mitunter leider auch noch jetzt, kultur- und kunstgeschichtlichen Abhandlungen beizugeben pflegte, aufmerksam und beweist dies u. a. durch die Zusammenstellung von drei verschiedenen Abbildungen einer und derselben Figur (Taf. 15 Fig. 5. 8 u. 9.). die in fast unglaublicher Weise voneinander abweichen.« 310
Was dem Rezensenten hier gewissermaßen die Augen öffnete und seinen Blick schärfte, ist eine Kritik bildlicher Darstellungen, die zwar an Droysens »Kritik des Richtigen« denken läßt – aber gerade dadurch verblüffte, das bei den deutlich sichtbaren Unterschieden der Abbildungen kein gültiger Maßstab für die Richtigkeit mitgeliefert wurde. Die Evidenz solcher geradezu ›unglaublichen‹ Abweichungen belegt damit die Notwendigkeit des geforderten, kritisch vorgehenden Quellenwerkes. Denn einzeln betrachtet (und damit nicht auf diese Weise kritisierbar) könnte jede der drei Abbildungen als glaubwürdig erscheinen. Gerade dies macht Essenweins Gegenüberstellung für Ehrenberg so überraschend. Für Essenwein ist allerdings die damit aufgeworfene Frage, welche Glaubwürdigkeit die Lithographien im »Bilderatlas« für sich beanspruchen können und wie auf einer allgemeineren Ebene ein verbindlicher Maßstab ›richtiger‹ Abbildungen definiert werden kann, der hier entscheidende Punkt. Essenwein artikuliert in seiner Denkschrift einen grundsätzlichen Zweifel an der Verläßlichkeit und Vergleichbarkeit des in immer größeren Mengen für historische Fragestellungen zur Verfügung stehenden Bildmaterials. Dabei bestreitet er nicht,
308 | Essenwein 1883. Mit 120 Lithographien von historischen Objekten und Bildern, die nun (im Gegensatz zur Publikation von 1877) auch teilweise über den Bestand des Germanischen Nationalmuseums hinausgriffen, zielte die Publikation auf unterhaltende Belehrung. Essenwein macht deutlich, damit auch den populären Wunsch nach »getreuer Widergabe« zu bedienen: die historischen Zeugnisse »im Bilde vor sich zu haben, das lebendiger zu ihm spricht, als jede Beschreibung« (S. 4). 309 | Ehrenberg 1885, S. 262. 310 | Ebd., S. 261f.
K APITEL 4.5 | F RAGWÜRDIGE D ARSTELLUNGEN »daß bereits vieles Einzelne, darunter sehr Wichtiges, mehr oder weniger gut, zum Theil vorzüglich veröffentlicht ist [...]. Aber weil nur manches mangelhaft und selbst bei äusserlich zuverlässiger Erscheinung notorisch unzuverlässig ist, weil so vieles nur skizzenhaft angedeutet ist, so verliert derjenige, welcher das Erschienene benützen will, das Vertrauen zu allem, und ist genötigt, in jedem einzelnen Falle nicht bloß den inneren Wert der Quelle zu prüfen, sondern vor allem jenen der Publikation; er ist mit einem Worte genötigt, immer auf die Originalquellen zurückzugehen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, auf Grund der benützten Vorarbeiten Irrtümer weiter zu verbreiten.« 311
Schon wenige ungenügende Abbildungen erschüttern demnach das notwendige Vertrauen in das gesamte Material, zumal die Unterscheidung zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Abbildungen äußerlich kaum zu treffen ist. Und selbst die für sich zuverlässigen Darstellungen böten aufgrund der jeweils subjektiven und unterschiedlichen Darstellungsweise keine sichere Grundlage für die vergleichende Betrachtung.312 Essenweins Skepsis an den methodischen Grundlagen im Umgang mit historischem Bildmaterial ergibt sich aus seiner Arbeit im Museum, der dort gebotenen Möglichkeit des kritischen Vergleichs, sicher auch aus den Erfahrungen mit dem Bilderrepertorium – vor allem aber auch aus Essenwein kulturhistorischer Forschungs- und Aufstellungsmethode der Stil- und Formentwicklung. Denn diese ist auf MedienObjekte angewiesen, um in den historischen Fragmenten einen Zusammenhang zu erkennen, der ihnen (durch die Hypothese der kulturhistorischen Entwicklung) Evidenz verleiht. Durch das wechselseitige Verhältnis von Evidenz und Hypothese ist diese vergleichende Forschung auf historische Kritik besonders angewiesen, um nicht »Irrtümer weiter zu verbreiten«. Diese besondere Sensibilität für MedienObjekte äußert sich darin, daß Essenwein betont, der Kulturhistoriker müssen in jedem einzelnen Fall nicht nur den Inhalt und Wert der bildlichen oder gegenständlichen Quelle auf seine Richtigkeit prüfen, sondern vor allem den Wert und die Richtigkeit der bildlichen Darstellung dieser Quelle. Es geht also nicht nur um eine Kritik des Objekts als der ›eigentlichen‹ Quelle, sondern auch um eine Medienkritik, um durch das MedienObjekt diese Quelle überhaupt erst wissenschaftlich behandeln zu können. »Dies würde ganz anders sein, wenn eine umfassende Serie von Publikationen vorhanden wäre, deren offizieller Ursprung die Garantie böte, daß alles, was in der Serie vorliegt, mit 311 | Essenwein 1884b, S. 1. 312 | Ebd., S. 2: »Endlich ist die Darstellungsweise jedes Einzelnen wieder subjektiv: einer giebt flott malerische Bilder, ein anderer zwar sorgfältigere, aber ganz trockene; einer giebt die Erscheinung im ganzen, der andere legt auf sorgfältigste Detailbehandlung Wert, ein anderer nicht. Einer zeichnet geometrisch in Grund- und Aufriß, ein anderer perspektivisch; einer giebt Maße an, ein anderer nicht; einer zeichnet in Originalgröße, ein anderer giebt die Sache vergrößert, andere sie nach bestimmter oder unbestimmter Proportion, viel oder wenig verkleinert wieder u. s. w. Kurz ist eine Mannigfaltigkeit der Darstellungsweise, die geradezu verwirrend ist und einen sicheren Vergleich ausschließt.«
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM unbedingtem Vertrauen zu jedem Zwecke benützt werden kann und daß überhaupt nur in Ausnahmefällen die Herbeiziehung des Originals zum Vergleiche notwendig ist«. 313
Um eine feste Grundlage für wissenschaftliche Forschungen (wieder)zugewinnen, schwebt Essenwein eine Art Qualitätssiegel historischer Abbildungen vor. Hier spricht sich auch erneut ein Unbehagen gegenüber der Kommerzialisierung der Bildproduktion aus und den damit verbundenen Interferenzen zwischen den verlegerischen Auswahlkriterien und den wissenschaftlichen Kriterien des kulturhistorischen Museums.314 Die Kommission, die Essenwein sich nach der Art der Zentralkommission der Monumenta Germaniae Historica als Gruppe einberufener Wissenschaftler vorstellt, soll diese Probleme lösen, um damit im Endergebnis Bildmaterial bereitzustellen, das unter historischkritischen Gesichtspunkten geprüft, verläßlich miteinander verglichen und interpretiert werden kann.315 Deshalb müsse die Kommission insbesondere aus Historikern bestehen – »vor allem aber durch die selbstverständliche Einführung ihrer kritischen Methode in die gesamten Arbeiten«.316 Diese Betonung der kritischen Methode ist insofern konsequent, weil die Unzuverlässigkeit des Materials als Hauptgrund für Essenweins methodischen Zweifels im Umgang mit Bildmaterial anzusehen ist. Deshalb beschäftigt sich sein Vorschlag auch damit, was er unter verläßlichen Abbildungen versteht und wie dabei Vergleichbarkeit gewahrt bleiben soll. Die Monumenta-Initiative steht für den Versuch, eine museumsspezifische Form kulturgeschichtlicher Forschung ortsunabhängig zu machen und 313 | Ebd., S. 1f. 314 | Ebd., S. 2: »Es sind für manche Einzelfragen fast mehr Materialien hervorgezogen, als mindestens für den ersten Blick nötig scheinen, für andere Fragen fast gar nichts. Von dem, was hervorgezogen ist, kann nicht immer behauptet werden, das es das beste und für die Frage entscheidendste ist, sondern nur, daß es das dem Herausgeber nächst gelegene ist.« Vgl. dazu auch Essenweins Richtigstellung zu den Photographien von Kunstwerken des Germanischen Nationalmuseum (um 1873): siehe oben, Kapitel 4.4. 315 | Die Kommission müsse den gesamten Prozeß steuern und überwachen: das überhaupt vorliegende Material systematisch erforschen, miteinander vergleichen und das für die Veröffentlichung Wichtigste bestimmen, hätte sodann »die Grundsätze aufzustellen, nach denen es gleichmäßig und gleichförmig aufzunehmen und aufzuzeichnen ist, entsprechende Künstler auszuwählen, jedem seine bestimmte Aufgabe zuzuteilen, deren Arbeiten zu überwachen und zu prüfen, die Vervielfältigung zu überwachen« , schließlich auch unter Mitwirkung von Fachgelehrten zur Erläuterung der Bildtafeln das Werk zu publizieren (ebd., S. 2). In Umrissen zeichnet Essenweinen das Projekt nach, daß sich im frühen Germanischen Nationalmuseum mit der Artsitischen Anstalt verknüpft hatte (siehe dazu oben, Kapitel 3.1). 316 | Essenwein 1884b, S. 3. Kunstforscher und Künstler können und sollen in der Kommission vertreten sein, aber der Schwerpunkt soll auf den Historikern liegen. Die Betonung der kritischen Methode und der systematischen Herangehensweise macht den Anspruch deutlich, »daß es sich um eine Veröffentlichung handelt, welche, vollständig von leichter populärer Behandlungsweise entfernt, den höchsten Ansprüchen der Wissenschaft [...] gerecht werden will«.
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als historisch-kritisches Quellenwerk innerhalb der Geschichtswissenschaft zu verankern. Sie steht für den Versuch, das imaginäre Museum, das dem Zugriff des kulturhistorischen Museums durch die Marktmechanismen als Forschungsbasis zu entgleiten schien, noch einmal an die Ordnungsmechanismen des realen Museums zurückzubinden.317 Denn die vorgeschlagene Gliederung der »Monumenta« entspricht weitgehend der Ordnung des Museums, genauer: des Germanischen Nationalmuseums und seiner Gruppierung nach Materialien und Größen.318 Zwar wären in einer Publikation freiere Zuordnungen möglich und sogar wünschenswert (wie auch Essenwein konstatiert), aber dies sieht Essenwein aus praktischen Gesichtspunkten nicht mit dem Anspruch der Vergleichbarkeit vereinbar. Da die Objekte jeder Gruppe in gleichem Maßstab und mit durch die Anwendung der jeweils gleichen Reproduktionstechnik wiedergegeben werden sollen, geben die Originale durch ihre Materialität und Dimension auch die Ordnung der Abbildungen vor. Wie in seinen Sammlungsberichten legt Essenwein auch hier bei den Vorschlägen zu den einzelnen Gruppen eine sehr differenzierte Wahrnehmung unterschiedlicher Medientechniken an den Tag, deren Vor- und Nachteile er jeweils im Verhältnis zur Gruppe der Originale und deren besonderen Eigenschaften bestimmt. Für ›Glasgemälde‹ kommen andere Reproduktionstechniken zum Einsatz als für ›monumentale Skulpturen‹ oder für die Gruppe ›kleine plastische Werke in Elfenbein etc.‹. Dabei sind zumeist mehrere Schritte medialer Transformation ineinander verschachtelt. Diese Vorschläge werden aber mit Bestimmtheit vorgetragen, als wären sie das Ergebnis ausführlicher praktischer Studien (was sie vielleicht auch sind). So könne etwa bei den Wandgemälden, »natürlich nichts anderes die Grundlage bilden kann als Pausen der Originale, die sodann photographisch verkleinert werden, um die entsprechende Zeichnung zu erhalten. Was sich diesem Vorgange entzieht, ist aus freier Hand von dem Originale selbst und mit Benützung von Photographien, die nach dem Originale aufgenommen sind, nachzuholen, während als Publikationsmittel lithographischer Farbendruck benützt werden kann.«319 Noch verzweigter wird der optimale Reproduktionsprozeß bei den Glasmalereien vorgestellt: »Die Reproduktion muß in der Weise geschehen, daß originalgroße Pausen über die Fenster selbst gemacht werden, in denselben Schatten und anderes, was sich der Arbeit des Pausens entzieht, vor den Originalen nachgeholt werden. Ein Teil der Sachen muß in Originalgröße durch Lithographie oder Autographie auf den Stein gebracht werden, andere Teile bedürfen der Verkleinerung, welche durch Photographie nach den Originalpausen vorzunehmen ist. Die ersten Abdrücke sowohl der originalgroßen, sowie der photolithographisch verkleinerten
317 | Vgl. Ernst 2003, S. 532–537. 318 | Die Ordnung der »Monumenta Iconographica« entspricht weitgehend der Ordnung der Abteilung »Historische Blätter« im Kupferstichkabinett des Germanischen Nationalmuseums. 319 | Essenwein 1884b, S. 7.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM Kontur- und Schattenblätter werden dazu benützt, nach den Originalen kolorierte Farbenblätter herzustellen, nach denen Farbendrucke gefertigt werden können.« 320
Es ist auffällig, daß Essenwein der Photographie keinesfalls schon aufgrund ihrer technischen Verfaßtheit den Status eines authentischen oder besonders privilegierten Darstellungsmediums zugesteht. Die Photographie spielt in diesen medialen Konstellationen zwar eine Rolle (hier teils als Zeichenvorlage, teils zur Verkleinerung einer Zeichnung dienend) – aber sie bleibt in den vielfach vermittelten Prozeß der Reproduktion als im Ergebnis unsichtbares Hilfsmittel eingeschlossen. Als Medium einer unmittelbaren Erfassung, einer technisch verbürgten Authentizität, kommt die Photographie für Essenwein nicht (mehr) in Betracht. Selbst bei den Handzeichnungen, bei denen die Stärken des Mediums im Diskurs des Germanischen Nationalmuseums immer hervorgetreten waren, läßt Essenwein sie nur noch als Hilfsmittel gelten: »Die Wiedergabe gerade der Handzeichnungen läßt sich auf leichte Weise durch die verschiedenen Techniken bewerkstelligen, welche, auf die Photographie gegründet, sie eben doch nur als Hilfsmittel benützen«.321 Und auch als bevorzugtes Medium zur Transformation dreidimensionaler Objekte in zweidimensionale Bilder hat die Photographie nach Ansicht von Essenwein vor dem Hintergrund der höheren Aufgabe verläßlicher Treue ausgedient: »Die Photographie wird auch hier als Hilfsmittel zu Grunde gelegt werden müssen, die Ausführung selbst jedoch in Holzschnitt oder Xylographie zu geschehen haben.«322 Die Bevorzugung der graphisch-manuellen Techniken der Reproduktion gründet sich aber nicht etwa – wie noch Anfang der 1870er Jahre bei August von Eye – darauf, daß damit die Details und charakteristischen Elemente der Abbildung deutlicher betont werden können (also ein Mehrwert gegenüber der photographischen Erfassung entsteht), sondern auf der Einschätzung, daß durch das jeweilige Maßnahmenbündel die Abbildung der Erscheinung des Originals, zum Beispiel seiner Farbigkeit, besser angenähert werden kann.323 Besonders deutlich wird die kritische Wendung gegen die Photographie bei den Gemälden, bei denen sich Essenwein ebenfalls für lithographischen Farbendruck ausspricht: »Dagegen müßten wir eine Reproduktion durch die Photographie oder Lichtdruck nach den Originalen als absolut unannehmbar bezeichnen. Wer, ohne von der Photographie zu leben, deren neuere glänzende Resultate genauer untersucht hat, weiß vollständig, daß die vorzügliche Wiedergabe auf Kosten der dokumentarischen Treue erreicht ist, daß die Vorzüglichkeit nur durch Handretouchen des Negativs oder dadurch erreicht wird, daß man einen Abdruck 320 | Ebd. 321 | Ebd., S. 9. 322 | Ebd., S. 10 323 | Deutlich etwa bei den Handzeichnungen: »[...] durch welche aber die Farben der Tinte wie des Pergaments oder Papieres, bei mehrfarbig gezeichneten jede einzelne Farbnuance leicht wiedergegeben werden kann« (ebd., S. 9).
K APITEL 4.5 | F RAGWÜRDIGE D ARSTELLUNGEN vollständig grau in Grau übermalt und darnach ein neues Negativ herstellt, welches abermals retouchirt wird, bevor man Abdrücke davon macht. Es ist also die photographische Aufnahme nach dem Originale nur als Hilfsmittel benützt, obwohl die Wiedergabe mit der Prätention auftritt, ein wirkliches Spiegelbild zu sein. Als Hilfsmittel freilich zur Wiedergabe soll die Photographie auch uns bei dieser, ebenso wie bei allen folgenden Aufnahmen dienen. Aber die Treue des Arbeiters, welcher sie benützt, soll genauer Kontrolle unterworfen werden und letztere soll nicht überflüssig erscheinen, weil man glaubt, die Natur, die ja nicht lügen kann, habe das Bild selbst wiedergegeben.« 324
Weil nach dieser Auffassung auch photographische Abbildungen dem Erscheinungsbild des Originals immer durch manuelle Bearbeitung angenähert werden müssen, zieht es Essenwein vor, die Medien einzusetzen, die sich auch als manuelle Bearbeitungen ausweisen. Die positive Haltung gegenüber die Photographie, mit der Essenwein 1866 am Germanischen Nationalmuseum begonnen hatte, hat sich damit vollständig in ihr Gegenteil verkehrt. Und es zeigt sich in dieser scharfen Absage eine Art moralischer Kritik an der Photographie und der technisch begründeten Suggestion von Treue.325 Die Photographie ist eben gerade nicht das, was sie zu sein vorgibt – kein Spiegelbild, sondern nur die Grundlage einer manuellen Rekonstruktion. Authentisch ist die Photographie demnach für Essenwein nur, wenn sie als unsichtbares Hilfsmittel im Dienst der Dokumentation verborgen bleibt. Diese Sichtweise weist zwar damit auf die Zukunft des Mediums Photographie im Germanischen Nationalmuseum voraus (Hilfsmittel der Dokumentation), ist aber gleichwohl eine museale Perspektive, die vielleicht als Station im Übergang zu einem Zeitalter weitgehend unreflektierter photographischer Evidenz betrachtet werden kann. Auch Essenwein stellt nämlich die besonderen Qualitäten der Photographie, ihre »dokumentarische Treue« gar nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr richtet sich seine Kritik ja gerade darauf, daß diese zugunsten glänzender Resultate verloren ginge, die eine unvermittelte Wiedergabe eben nur vortäuschen. Aber damit behält die Vorstellung einer idealen Photographie, die solche Resultate ohne manuelle Retuschen erzielt, als Maßstab einer optimalen Wiedergabe ihre Autorität. Technische Verbesserungen und/oder ein wissenschaftlich kontrollierter Medieneinsatz bilden daher einen Ausweg aus Essenweins medienkritischen Bedenken. Beides zusammen sollte an der Wende zum 20. Jahrhundert dazu führen, daß eine kritische Wahrnehmung seltener wurde, wie sie im kulturhistorischen Museum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade auch deshalb ausdrücken konnte, weil die Photographie noch nicht die technischen Desiderate eingelöst
324 | Ebd., S. 8. 325 | Lorraine Daston und Peter Galison haben in ihrer Untersuchung des Übergangs älterer Konzepte der Naturtreue zum mechanisch verstandenen Modell von Objektivität gerade die moralische Dimension dieses neuen wissenschaftlichen Ideals betont: sie liegt in der selbstverordneten Nichtintervention, in der Selbstdisziplinierung des Wissenschaftlers. (Daston/ Galison 2002, z. B. S. 65).
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hatte, die das Medium bereits durch den Auftritt der Daguerreotypie um 1839 versprochen hatte.
Geschichtswissenschaft und Photographie im 20. Jahrhundert Das Monumenta-Projekt, das auf eine Dauer von etwa 40 Jahren angelegt war,326 wurde nicht realisiert. Der Ansatz einer historisch-kritischen Bildforschung und die damit angestoßene Fragen nach der Glaub- oder Fragwürdigkeit der Photographie, nach dem Status von Bild- und Reproduktionsmedien im historischen Forschungsprozeß, wurde vorerst nicht weiter verfolgt.327 Vermutlich zählten medienkritische Betrachtungen dieser und ähnlicher Art zunehmend zu jenen Fragen der historischen Forschung, »an denen man weil sie in der täglichen Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt« (wie Droysen für noch viele Fragen der Historik konstatierte).328 Gerade die sich zum Ende des Jahrhunderts verstärkenden Tendenzen zur Trennung hilfswissenschaftlicher Forschung und historiographischer Darstellung (Tendenzen, die Droysen kritisierte) mögen dazu beigetragen haben, daß die Historiker an den Universitäten das Problem der Medialität von Authentifizierung und Authentisierung ausblendeten, das für den Kernbereich ihrer Forschungsfragen (schriftliche Quellen) längst gelöst schien (Beweiskraft der gesiegelten Urkunde) oder durch die Spezialisten der Hilfswissenschaft (Paläographie, Diplomatik) gelöst und kritisch aufbereitet wurde. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Fragen nach dem Einsatz technischer Medien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem aus dem Bereich der Historischen Hilfswissenschaften in die Disziplin hineingetragen wurden. Geschichtswissenschaft war noch stark hilfswissenschaftlich geprägt – und damit nicht nur auf Bibliotheken, sondern auch auf Archive und Museen angewiesen, an denen das historische Material aufgefunden, geprüft, aufbereitet und in Buchform überführt wurde. So kam es 1885 in der Historischen Zeitschrift zu einer Auseinandersetzung um die geeigneten Medien zur Abbildungen von Urkunden für paläographische Tafelwerke.329 Wie bei der 326 | Essenwein 1884b, S. 19. 327 | Brandt 1998, S. 15 beklagte das Fehlen eines entsprechenden Werkes. Bei den aktuellen Diskussionen um Bildkunde und historische Bildforschung in der Geschichtswissenschaft, die durch das Schwerpunktthema des Deutschen Historikertages 2006 als eine Grundlagenfrage des Fachs erkannt worden ist, kam Essenweins Monumenta-Entwurf nicht in den Blick – auch nicht bei einer gezielten Suche nach historischen Ansätzen in der Fachgeschichte. Jäger 2009 nennt Essenwein nicht – vielleicht auch weil er als im engeren Sinne nicht zur Fachgeschichte gezählt wird. »Was fehlte, war ein methodisches Instrumentarium, um Bilder als Bilder zu bearbeiten – etwas, das auch die Kunstgeschichte erst langsam Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte.« 328 | Droysen 1868, S. 4. 329 | Ernst 2003, S. 241–270 hat den Disput um die geeigneten Methoden der Urkundenphotographie aus seiner medienarchäologischen Perspektive überzeugend als »Einbruch der Bilder
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vergleichenden Kritik Sackens angedeutet, liegt die besondere Perspektive der Paläographie darin, die Schrift einer Urkunde nicht primär als Text, sondern als visuelle Quelle anzusehen, die durch die Form der Buchstaben Aufschlüsse über die zeitliche Datierung einer Urkunde erlaubt.330 Sie bietet damit eine Grundlage zur Beurteilung der Authentizität von Urkunden und ist ein Medium der Authentifizierung. Im Zusammenhang mit der dadurch angestoßenen Frage nach einer möglichst authentischen Wiedergabe von Urkundenschriften wurde hier (anhand der Gegenüberstellung: Lichtdruck oder Pause) 1885 auch der Status der Photographie diskutiert. Die etwa zeitgleiche Position Essenweins, dessen Kritik an der Photographie sich vor allem auf den falschen Schein der objektiven und neutralen Wiedergabe richtete, spielte dabei keine entscheidende Rolle. Stattdessen treten noch einmal die beiden unterschiedlichen Philosophien auf, die bis in die 1870er Jahre auch den Mediendiskurs im Germanischen Nationalmuseums geprägt hatten und nicht eindeutig aufgelöst worden waren, weil sowohl dem technischen (Lichtdruck) als auch mit dem manuell vermittelten Bild (Pause) jeweils spezifische Vor- und Nachteile zuerkannt wurden (bei Wahrnehmung von Grauzonen und Übergängen).331 Aber auch hier deutete sich in der Debatte von 1885 eine allmähliche Auflösung zugunsten der Photographie an. Seitens der Historischen Zeitschrift ergriff der Herausgeber Heinrich von Sybel Partei für die photographische Vervielfältigung. Zwar räumte er den meisten der gegen die Photographie vorgebrachten Kritikpunkten (Undeutlichkeit der entscheidenden Details, Abbildung unwichtiger materieller Spuren, Notwendigkeit von Retuschen) ihre Berechtigung für eine Kritik der einzelnen vorliegenden Lichtdruck-Tafeln ein, stütze sein Urteil aber auf die grundsätzlichere Frage, wodurch »die bessere Chance für die bessere Leistung«332 geboten sei: »Nimmt man all diese Punkte zusammen, so sieht man wohl, daß allerdings bei dem Lichtdruck die menschliche Thätigkeit und mit ihr ein subjectives Irren nicht ausgeschlossen ist, daß sie aber durch die fortschreitende Verbesserung der Technik schon jetzt auf einen sehr geringfügigen Spielraum beschränkt ist. Sofort drängt sich nun die Frage auf: wo ist ein solcher Spielraum größer, bei dem Lichtdruck, wo es nur auf die Verbesserung kleiner, im Vergleich zum Ganzen spärlicher Fehler ankommt, oder bei der Autographie, wo der ganze Text durch Menschenhand geschrieben, und zwar zuerst bei der Durchpausung und dann nochmals bei der Übertragung auf den Stein geschrieben wird? Die Frage stellen, heißt sie beantworten.« 333
in den Text der Historie« beschrieben. Er stellt dabei auch fest, daß die Photographie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von mehreren Autoren als nicht mehr wegzudenkende Grundlage der paläographischen Forschung verstanden wurde. 330 | Brandt 1998, S. 65. 331 | Siehe dazu oben, Kapitel 3.3. 332 | Sybel 1885, S. 474 333 | Ebd., S. 473f.
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P HOTOGRAPHIEN IM B ILDERREPERTORIUM
Und heißt: den Weg vorzuzeichnen, auf dem die Historiker (wie neben und vielleicht auch schon vor ihnen die Kunsthistoriker)334 im Zuge des technischen Fortschritts der Photographie darin ein unersetzliches und zunehmend alltägliches Hilfsmittel der Kritik erkannten – und dieses schließlich immer weniger reflektierten. Schon bei Droysen spielt die Photographie eine besondere Rolle. Obwohl er die Geschichtswissenschaft explizit gegenüber der Vorstellung einer Photographie historischer Wirklichkeit abgrenzte335 und zudem auf die für die Disziplin entscheidenden Unterschiede zwischen Richtigkeit und Wahrheit hinwies, gestand er der photographischen Ähnlichkeit ein privilegiertes Verhältnis zur Richtigkeit zu.336 Die Photographie spielt deshalb in der historischen Kritik nicht nur dann eine Rolle, wenn ein photographisches Bild als Quelle kritisch auf ihren historischen Aussagewert geprüft werden muß – sondern kann als ein prägendes Modell der Alltagserfahrung von Richtigkeit, Wirklichkeit und objektiver Wiedergabe bei jeder kritischen Prüfung des historischen Materials involviert sein. Die Wertschätzung der Photographie wird etwa bei Ahasver von Brandt deutlich, wenn er die quellenkundliche Gruppe der Überreste mit Photographien vergleicht: »Für den Überrest scheint fast immer eines charakteristisch: er gibt ein objektives Bild – der Lichtstrahl der Begebenheit trifft das Auge des Betrachters unmittelbar, ungebrochen –, aber er gibt meist nur eine ›Momentaufnahme‹, um im photographischen Bild zu sprechen. Mit ›feststehender Kamera‹, unter einem durch den Zweck festgelegten Blickwinkel wird aufgenommen; alles, was die einmalige ›Einstellung‹ erfaßt, wird reproduziert, alles, was zeitlich davor oder danach, räumlich außerhalb liegt, bleibt ›unbelichtet‹.« 337
Anders als im 19. Jahrhundert gab nicht mehr die gesiegelte Urkunde den visuellen Medien das Modell historischer Evidenz vor – sondern die visuelle Evidenz der optischen Medien war zu einem Modell der historischen Tatsache geworden.
334 | Besonders Hermann Grimm und Bruno Meyer machten sich schon seit den späten 1860er Jahren entschieden für einen systematischen Einsatz der Photographie in der kunsthistorischen Lehre stark (Reichle 2002, S. 42–50; Ullrich 2009, S. 95–100). 335 | Droysen 1971, S. 34f.«Die historische Wissenschaft ist so wenig eine Photographie aller dieser Wirklichkeiten, wie die Naturwissenschaft eine Sammlung aller Einzelheiten der natürlichen Welt. Beide Wissenschaften sind Betrachtungsweisen des menschlichen Geistes, sind dessen Formen, die sittliche, die natürliche Welt wissend zu fassen und zu haben.« 336 | Ebd., S. 61: »Die photographische Ähnlichkeit ist rein äußerlich und momentan, sie ist richtig, aber nicht wahr, denn sie gibt nur diesen einen Moment, nur einen von vielen, die sich ergänzen und berichtigen, – der künstlerische Geist versteht diese vielen Momente zusammenzufassen und so das wahre Wesen des Dargestellten zu reproduzieren«. 337 | Brandt 1998, S. 60.
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Photographien und Reproduktionen als Rückstände der Museumsgeschichte
August Essenweins Sammlungs- und Bauprogramme, die eine inhaltliche Verbindung von historischem Baukörper, historistischer Dekoration und Schausammlung im Sinne eines monumentalen ›Gesamtkunstwerks‹ anstrebten, galten Ende des 19. Jahrhunderts als vorbildlich für kunst- und kulturhistorische Museen.1 Im Germanischen Nationalmuseum wurde diese enge Wechselbeziehung zwischen Bauwerk und Sammlung auch durch die Übertragung der Museumsleitung an einen Architekten verkörpert. Wie Essenwein war auch dessen Nachfolger, Gustav Bezold (Direktor von 1894-1920), ausgebildeter Architekt. Der neogotische Südwestbau, der im Jubiläumsjahr 1902 eingeweiht wurde, stand noch deutlich in dieser Bautradition und macht deutlich, daß Bezolds Ausbauprojekte zunächst an diese Programme anknüpften.2 In der zweiten Hälfte seiner Amtszeit machten sich jedoch in Sammlungs- und Bautätigkeit Tendenzen einer museologischen Neuorientierung bemerkbar, die sich durch eine stärkere Hinwendung zur Kunstgeschichte vom kulturhistorischen Gesamtprogramm Essenweins absetzten und schließlich um 1919/20 in einen Richtungsstreit um die Zukunft des Germanischen Nationalmuseums mündeten. Dieser erneute Konflikt um das Germanische Nationalmuseum ist der individuelle Ausdruck des museumsübergreifenden Reformdiskurses, der Ende des 19. Jahrhunderts in den Kunstmuseen und den naturwissenschaftlichen Museen begonnen hatte.3 Die Kritik richtete sich vor allem gegen die undiffe1 | Die Idee des Museums als Gesamtkunstwerk wird zum ersten Mal 1830 mit der Glyptothek in München verwirklicht. August Essenwein überträgt den Ansatz durch historistische Dekorationen auf die historischen Räumlichkeiten der Kartause und die von ihm geplanten Erweiterungsbauten. Ab etwa 1880 geriet dieser Typ monumentaler Museumsbauten allmählich in die Kritik. (Vgl. Joachimides 2001, S. 41–43, Plagemann 1967, S. 196f; ausführlich zum Sammlungs- und Bauprogramm Essenweins: Bahns 1978b.) 2 | Bahns 1978b, S. 465. 3 | Einen ausgezeichneten Überblick über die Museumsreformbewegung im Bereich der Kunstmuseen bietet: Joachimides 2001, S. 41–43; zum Reformprozeß in den Naturkundemuseen:
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renzierte ›Sammelwut‹ des 19. Jahrhunderts und die dadurch erzeugte Überfülle musealer Schauräume, in denen sowohl die wissenschaftliche als auch die ästhetische Bedeutung der ausgestellten Objekte hinter der Masse des Gezeigten verborgen blieb. Die Forderungen richteten sich also auf eine schärfere Selektion: sowohl was die Sammlungskonzeption, die Aufnahme neuer Museumsobjekte, betraf – aber auch durch eine interne Selektion zwischen der öffentlichen Schausammlung (Ausstellung) und der wissenschaftlichen Studiensammlung (Depot). Im Germanischen Nationalmuseum wurden die Anregungen und Forderungen der Museumsreformbewegung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts allmählich aufgenommen. Der Richtungsstreit um 1919/20 entzündete sich an der Frage, in welcher Weise diese Reformansätze im kulturhistorischen Museum umgesetzt werden sollten. Vorausgegangen waren öffentliche Diskussionen um die Zukunft des Museums, die vor allem in der Lokalpresse, teilweise aber auch in überregionalen Publikationsorganen ausgetragen wurden.4 Der Streit wurde zu einem »ideellen Kampf« stilisiert, bei dem es im Wesentlichen um die Frage ging, ob die Kunstsammlungen isoliert oder im Kontext ihres kulturgeschichtlichen Zusammenhangs ausgestellt werden sollten – mithin um die Einheit des kunst- und kulturgeschichtlichen Museumskonzepts.5 Daß eine Reorganisation der Sammlungen dringend notwendig war, wurde angesichts überfüllter Schauräumen und gedrängter Aufstellung von keiner Seite bestritten. Bezold hatte seit Jahren darauf gedrängt, diese Probleme durch einen Galeriebau für die stark angewachsenen Kunstsammlungen zu entschärfen.6 Das am Vorbild der Kunstmuseen orientierte Bauprojekt wurde nicht zu Unrecht Köstering 2006. Die Forderungen richteten sich (verkürzt formuliert) auf klarere Selektionskriterien, die Aufgliederung der Bestände in eine öffentliche Schausammlung (zur didaktischen Vermittlung von Wissen durch ästhetische Präsentation) und eine magazinierte Studiensammlung (als Grundlage fachwissenschaftlicher Forschungen). Im Naturkundemuseum artikulierte sich der Trend v. a. durch die Herstellung lebensecht inszenierter »biologischer Gruppen« (im Gegensatz zur früheren systematisch-evolutionären Präsentation); im Kunstmuseum (nach verschiedenen Zwischenstufen) vor allem durch die Isolierung des Kunstwerks von seiner Umgebung – sozusagen als ›Inszenierung seiner Autonomie‹. 4 | Vgl. Deneke/Kahsnitz 1978, S. 1163f. 5 | Der Trend zur Ästhetisierung der Museen fand Kritiker und Gegner (vgl. Korff 1984, S.88). Für das Germanische Nationalmuseum legte der Kurator Walter Stengel 1919 ein alternatives Ausstellungskonzept vor, das auf chronologische Gliederung nach Epochen der politischen Geschichte, Rekontextualisierung der Objekte in ihren historischen Funktionszusammenhängen und Ensemblebildung setzte (Stengel 1919, v. a. S.45). Der Vorschlag ist sichtlich von dem Programm Otto Lauffers beeinflußt, der 1907 in der Museumskunde das Fehlen eigener Sammlungs- und Ausstellungskonzepte für historische Museen beklagt hatte (Lauffer 1907). Stengels Konzept wurde allerdings nicht umgesetzt. 6 | Mit dem Bau des seit 1910 geplanten Gebäudes konnte erst 1916 begonnen werden. 1920 wurde der nach Entwürfen des Architekten Bestelmeyer errichtete Galeriebau eingeweiht (Bahns 1978a, S. 470ff).
K APITEL 5 | Ü BERGÄNGE
als programmatischer Ausdruck einer Bevorzugung der Kunst gewertet. Diese angebliche Preisgabe der einheitlichen Museumskonzeption rief nun heftige Kritik hervor, die schließlich Bezold 1920 zum Rücktritt als Direktor veranlaßten.7 In einer ausführlichen Darlegung seiner nicht umgesetzten Pläne, die – zwischen Rechenschaftsbericht und Abrechnung – an die Denkschriften seiner Vorgänger erinnert, reagierte Gustav von Bezold auf diese Kritik. Seine Argumentation rekurriert auf das System von Aufseß, das »in manchen Stücken abgeändert, aber niemals ganz verlassen worden« sei.8 Im Gegensatz zu den Kritikern, die meist eine historisch-chronologische Neuausrichtung des Museums in Form kulturgeschichtlicher Gesamtbilder einzelner Zeitabschnitte forderten, wollte Bezold am systematischen Ansatz seiner Vorgänger festhalten, der zwar bisweilen visuell weniger reizvoll, dafür didaktisch wertvoller sei.9 Es müsse sich aber nicht das Museum dem System, sondern das System dem Museum anpassen. Die besonders umfangreichen Sammlungen – wie diejenigen zur Kunst – müßten deshalb auch eine größere Ausstellungsfläche beanspruchen und damit das Korsett eines einheitlichen kulturgeschichtlichen Programms sprengen. Den Kunstsammlungen räumte Bezold zudem gegenüber anderen Abteilungen eine herausragende kulturgeschichtliche Bedeutung ein, denn während die Sammlungen materieller Zeugnisse lediglich archäologischen oder historischen Wert hätten (unter diesen hebt er die volkskundlichen Hausaltertümer hervor)10, besäßen nur Kunstwerke als Zeugnisse geistiger Inhalte durch ihre emotionale Anmutung einen Gegenwartswert.11 Deutlich stellte er die Originalität der Exponate als zentralen Aspekt musealer Präsentation heraus und erteilte universalen Ansätzen eine Absage: »Jene können museal nie vollkommen vorgeführt werden und runden sich nur zu Bildern, wenn neben den Originalen Kopien das Fehlende ersetzen, die Altertümer können und wollen Quellen sein, nicht nur für den Forscher, sondern auch für die Belehrung der Laien, welche auch Anspruch darauf haben, daß ihnen in den geschlossenen Bildern nur Echtes vorgeführt
7 | Hierzu und zum folgenden: Bezold 1920. 8 | Ebd., S. 1. 9 | Ein historisches Museum im strengen Sinne könne es ohnehin nicht geben, da niemals die Geschichte selbst, sondern immer nur ihr äußerer Schein anhand der erhaltenen materiellen Zeugnisse ausgestellt werden könne. »Mit einigen Kaiserurkunden, Siegeln, Münzen und Schwertern veranschaulicht man keine politische Geschichte, mit einigen Handschriften, die der Besucher nicht in die Hand bekommt, nicht das geistige Leben der Zeit.« (Ebd., S. 4). 10 | »[S]ie ist die größte, die archäologisch wichtigste [Gruppe] und die, welche durch Anschauung am reichsten und unmittelbarsten wirken kann« (ebd., S. 8). 11 | Bezold (ebd., S. 7) ist in der Wortwahl offensichtlich von dem Diskurs der Denkmalpflege beeinflußt, wie er unter anderem in Alois Riegls 1903 erschienenen Aufsatz »Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen, seine Entstehung« durch die Unterscheidung in »Erinnerungswerte« (Alterswert, Historischer Wert) und »Gegenwartswerte« (Gebrauchswert, Kunstwert) geprägt wurde (Riegl 1903/1995).
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R ÜCKSTÄNDE DER M USEUMSGESCHICHTE werde. Ich erkenne den lehrhaften Wert guter Kopien an, niemals aber sollen sie mit Originalen vermengt ausgestellt werden.« 12
Damit definierte er das Germanische Nationalmuseum primär als eine Begegnungsstätte mit originalen Objekten. Seine Pläne zur Reorganisation der Sammlungen konnte Bezold nicht mehr verwirklichen, doch war darin bereits der zukünftige Weg des Museums vorgezeichnet. Mit Ernst Heinrich Zimmermann (1920-34) wurde nach Bezold nun erstmalig ein Kunsthistoriker Direktor des Germanischen Nationalmuseums. Das kulturhistorische Gesamtprogramm Essenweins wurde zwar nicht völlig aufgegeben, zerfiel aber in der Folgezeit – durchaus symptomatisch für den Typus des kunst- und kulturhistorischen Museums – im Wesentlichen in einen kunsthistorischen und ein volkskundlich geprägten Teil.
5.1 J UBILÄUM – R EFLEXION EINES HISTORISCHEN M USEUMS DER R EPRODUKTION Am 16. Juni 1902 schenkte der Kaiser dem Germanischen Nationalmuseum einen drei Meter hohen Schrank. Darin befanden sich etwa 900 Siegel – keine Originale, sondern galvanoplastische Nachbildungen, mit Silber überzogen.
Jubiläumsgaben Musealisierung, die Eigentumsübernahme durch das Museum, kann sich in einem schlichten Akt der Verwaltung vollziehen, als Einschreibung in die Registratur, mitunter auch (wie an den Zugängen für das Bilderrepertorium gezeigt) durch den schlichten Akt des Stempelns. Musealisierung kann aber auch öffentlich zelebriert werden. Die Jubiläumsgabe Kaiser Wilhelms II. wurde als ein Ereignis wahrgenommen – als eine symbolische Geste, die Wertschätzung ausdrückte. Im Zusammenhang dieser Arbeit noch wichtiger ist aber die Frage, welche Einschätzung des Germanischen Nationalmuseums die Gabe zum Ausdruck brachte.13 Wilhelm II. verlas eine für diesen Anlaß angefertigte Stiftungsurkunde, ließ dann den Schrank öffnen, wies die anwesenden Fürsten selbst auf einige besondere interessante Stücke hin und überließ dem Archivrat Posse weitere Erklärungen. Otto Posse war einer der ersten Archivare Deutschlands, der für seine historischen Forschungen moderne Reproduktionstechniken einsetz-
12 | Bezold 1920, S. 5. 13 | Für die Darstellung des Jubiläums und des Geschenkaktes: Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, 1902, S. XIX-XLIX; GNM-Akten K 788 (Sammlung von Tageszeitungen vom Juni 1902); GNM-Akten K 41 (Akten zum 50-jährigen Jubiläum).
K APITEL 5.1 | J UBILÄUM
te.14 Als Staatsarchivar hatte er in Dresden ein galvanoplastisches Atelier und eine Photowerkstatt einrichten lassen und im Lauf von dreißig Jahren eine umfangreiche Sammlung von Kaisersiegeln in Form von Galvano-Kopien zusammengebracht, die in chronologischer Ordnung von den Karolingern bis zum Ende des Alten Reiches reichte. Auf dieser Sammeltätigkeit beruhte sein später, zwischen 1909 und 1913, herausgegebenes fünfbändiges Abbildungswerk über die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, das noch immer als Klassiker der Sphragistik gilt.15 Auch wenn das Jubiläumsgeschenk des Kaisers im Archiv des Germanischen Nationalmuseums bis heute als »Sammlung O. Posse« geführt wird, trat der bürgerliche Sammler in den Berichten der Tages- und Fachpresse gegenüber dem kaiserlichen Stifter in den Hintergrund. Der Geschenkgeber ist Akteur der Musealisierung. Man könnte noch an weiteren Jubiläumsgaben des Jahres 1902 zeigen, daß einer der wesentlichen Gründungsgedanken des Germanischen Nationalmuseums, der zwischenzeitlich an Attraktion verloren hatte, im Zuge des Jubiläumsjahres aktualisiert wurde: der Nation einen Repräsentationsraum zu bieten. Damit wurde auch die Idee einer meta-musealen Sammlung von Sammlungen aufgerufen, die nicht nur historische Originalgegenstände aufnimmt, sondern auch und gerade Kopien und Abbildungen von Objekten anderer Sammlungen umfaßt. Wiewohl das Museum von dieser Konzeption eines Reproduktionsmuseums gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich abgerückt war, Kunstwerke in den Vordergrund der Sammeltätigkeit getreten waren und sorgfältiger als früher zwischen originalen, nach- und abgebildeten Objekten differenziert wurde,16 erschienen Reproduktionen im Erinnerungs14 | Graber 2004. Siehe auch: Posse 1887/1974, S. 5–7. Posse war ein entschiedener Befürworter des Einsatzes von Photographie für die paläographische Forschung und äußerte sich scharf gegen die Meinung, die Pause biete bessere Ergebnisse als die photographische Wiedergabe von Urkunden. 15 | Posse 1909-1913. Die Lichtdrucktafeln geben offenbar die galvanoplastischen Reproduktionen der Originalsiegel wieder. In seiner Vorrede nimmt Posse auf das Geschenk Kaiser Wilhelms II. an das Germanische Nationalmuseum Bezug, der bei diesem Anlaß bestimmt hätte, der Sammlung noch weitere Verbreitung zu verschaffen. 16 | Hans Bösch, der unter August Essenwein die Position des Zweiten Direktors einnahm, gab 1890 im Vorwort zum »Katalog der im germanischen Nationalmuseum befindlichen Originalskulpturen« dieser neuen Wertschätzung des Originals Ausdruck: »Das germanische Museum legt bei allen Abteilungen seiner Sammlungen das Hauptgewicht auf die Originaldenkmäler, da in den weitaus meisten Fällen nur diese dem Forscher das gewähren, was er haben muß, um ein richtiges Bild über irgend eine Frage der deutschen Vergangenheit zu erhalten. Nachbildungen können die Originale nicht ersetzen; sie sind meist nur ein nicht genügendes, nur selten ein voll entsprechendes Auskunftsmittel, um Lücken, welche auf andere Weise nicht zu füllen sind, nicht offen stehen zu lassen.« (Bösch/Leitschuh 1890, S. 3) Diese Entwicklung hatte sich unter August Essenwein ab Ende der 1870er Jahre durch eine getrennte Aufstellung der Originalskulpturen und der Gipsabgüsse angebahnt – dabei war aber die Wertschätzung der Originale (die in einem neuen Sammlungsbau zur Ausstellung kamen) als Medium der Darstellung kulturhistorischer Entwicklungen zunächst noch erhalten geblieben (ich widerspreche
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jahr 1902 offenbar vielen Geschenkgebern als besonders geeignete Jubiläumsgaben für das Germanische Nationalmuseum.17 Es liegt auf der Hand, welche Vorteile die Übergabe von Reproduktionen den Geschenkgebern bot: Indem das Original an seinem Platz verbleibt, ist die ausgestellte Reproduktion (sofern diese als solche gekennzeichnet ist) immer ein Verweis auf diesen abwesenden Gegenstand, seinen Standort und Besitzer. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Verfügbarkeit von Reproduktionen. Es ist mit vergleichsweise geringem Aufwand möglich, Sammlungskomplexe zusammenzustellen, die dem Museum als eine geordnete Sinneinheit übergeben werden können. Damit wird ein Bedeutungsüberschuß hergestellt, der mit einem Einzelobjekt nicht möglich wäre; zudem werden dem Museum bestimmte Ordnungspraktiken vorgegeben und damit eine der möglichen Wahrnehmungsweisen privilegiert. Zur Fünfzigjahrfeier des Museums jedenfalls entschieden sich viele Geschenkgeber nicht für ein historisches Originalstück, sondern für Reproduktionen. Diese beiden Arten der Jubiläumsgabe finden sich mustergültig gegenübergestellt durch die Geschenke der beiden prominentesten Festgäste – Kaiser Wilhelm II. und Prinzregent Luitpold von Bayern: der Kaiser schenkte dem Museum den Schrank mit den Siegelkopien; der Prinzregent übergab die Originalpartitur von Richard Wagners Oper »Die Meistersinger von Nürnberg«. Beide Geschenke sind es wert, im Hinblick auf eine Geschichte der Originalität im Museum näher betrachtet zu werden. In dieser Konstellation zweier Jubiläumsgaben aus dem Jahr 1902 zeichnen sich längerfristige Entwicklungslinien ab: während in der Frühzeit des Germanischen Nationalmuseums eine Sammlung der Kaisersiegel vermutlich als für den Auftrag des Museums bedeutsamer eingeschätzt worden wäre als ein einzelner Beleg für die Ordnungskategorie ›Tonkunst‹ (unabhängig davon, ob es sich um Original oder Reproduktionen handelt), standen sie fünfzig Jahre später fast gleichberechtigt nebeneinander; in der Folgezeit kehrte sich die Wertschätzung seitens des Museums um. Als Fritz Traugott Schulz im Rahmen des 75jährigen Jubiläums 1927 auf die Fünfzigjahrfeier des Germanischen Nationalmuseums zurückblickt, hebt er von den damaligen Geschenken ausschließlich Wagners Originalpartitur hervor18 und verleiht damit dem gewandelten Selbstverständnis hier der Ansicht von Stafski 1978, S. 610–612, der schon in dieser getrennten Aufstellung durch Essenwein eine Einsicht in den Vorrang des Originals erkennt). 17 | Das preußische Kultusministerium schenkte dem Germanischen Nationalmuseum 72 Meßbildaufnahmen von Baudenkmalen Westpreußens »in zwei riesigen Mappen«, der Vorstand des Vereins zur Wiederherstellung der Marienburg eine Schmuckkapsel mit 20 Photographien der Marienburg, die Königliche Staatssammlung Stuttgart einen Abguß der Grabplatte Herzogs Eberhard im Bart, die Großherzögliche Kunst- und Altertumssammlung Karlsruhe stellte den Abguß des Kruzifixes Niclas von Leyens in Aussicht, der Kopernikus-Verein Thorn Photographien dreier für die Geschichte Nürnbergs bedeutsamer Urkunden (Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, S. XLV). 18 | Schulz 1927, S. 7.
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des Museums Ausdruck, das sich nicht mehr als Mittelpunkt einer quellenkundlichen Forschung (Aufseß) oder als Präsentationsraum historischer Entwicklungsreihen (Essenwein) definierte, sondern (wie die meisten anderen Museen dieser Zeit auch) als Begegnungsstätte mit Originalzeugnissen der Kunst- und Kulturgeschichte. In den 1920er Jahren waren Reproduktionen aus dem Diskurs des Germanischen Nationalmuseums bereits weitgehend ausgeschlossen. Diese Tendenz läßt sich bis in die Gegenwart fortschreiben: die Originalpartitur ist heute eine der Zimelien des Germanischen Nationalmuseums und weit über Nürnberg hinaus ein begehrtes Exponat für Sonderausstellungen geworden.19 Demgegenüber liegt die Siegelsammlung Posse in den alten Schubkästen (aber ohne den Schrank) in kaum mehr als leidlicher Ordnung in den Magazinen des Archivs verborgen.20 Umkehrbarkeit gehört zum Charakteristikum des Abdrucks: von einem Siegel (Positiv) kann ein Abdruck (Negativ) genommen werden, der unter bestimmtem technischen Voraussetzungen und mit entsprechendem Verfahrenswissen als Matrize eines weiteren Abdrucks (Positiv) fungieren kann. Abgüsse oder galvanoplastische Reproduktionen, die auf diese Art verfertigt werden, sind zwar nicht mehr aus der Berührung mit dem einen Stempel hervorgegangen, bleiben aber mit diesem durch eine genealogische Kette von Berührungen verbunden. Otto Posses Kaisersiegel sind, so betont eine zeitgenössische Mitteilung, »nach den unmittelbar von den Siegeln genommenen Abdrücken auf galvanischem Wege hergestellt und echt versilbert«.21 Eine Berührung, die mittels technischer Verfahren Ähnlichkeit herstellt, verbürgt durch diese Ähnlichkeit anscheinend zweierlei: erstens, daß der berührte und abgeformte Gegenstand da war (Präsenz); zweitens, daß der berührte und abgeformte Gegenstand so war (Erscheinung). Auch wenn die Differenz zwischen Vorbild und Nachbildung durchaus bewußt blieb (bei der Sammlung Posse wird diese Differenz zwischen Wachssiegel und Galvanokopie durch die Versilberung sogar noch betont), stellte sich doch die Frage, warum sich ein historisches Museum (im Verständnis des Jahres 1902) für die minimalen Differenzen interessieren sollte, die zwischen dem historischen Abdruck eines Siegels und seinem technisch reproduzierten Doppel bestehen.22
19 | Das Germanische Nationalmuseum zeigte die Originalpartitur zuletzt im Juli 2009 (parallel zu den Bayreuther Festspielen); als ein zentrales Exponat auch bei der Ausstellung »Wagners Welten« (Stadtmuseum München, November 2003 bis Januar 2004). 20 | Von Besuchern wird die Siegelsammlung Posse (die als Studiensammlung über den Katalog erschlossen ist) kaum benutzt: ein Archivmitarbeiter, der mir die Sammlung zeigte, konnte sich nicht daran erinnern, daß schon einmal danach gefragt wurde (Gespräch, 04.07.2006). 21 | Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine, 1902, S. 145. 22 | Diese Frage wurde in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Begründung eines Deutschen Historischen Museums in Berlin diskutiert. Das kulturpolitisch kontrovers diskutierte Museumsprojekt zielte auf genau die Lücke, die zwischen den kunsthistorisch und den volkskundlichen Museen im 20. Jahrhundert entstanden war: ein überregionales historisches Mu-
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Die Originalpartitur von Richard Wagners Oper »Die Meistersinger von Nürnberg« bildet dazu eine Kontrastfolie. Das Geschenk des Prinzregenten erfüllt auf den ersten Blick geradezu mustergültig jenes am einzigartigen Original und am »Geniekult«23 orientierte Museumskonzept, von dem sich das Germanische Nationalmuseum in seiner Gründungszeit bewußt distanziert hatte, das aber im 20. Jahrhundert auch den kulturhistorischen Museen in Deutschland die Selektionsprinzipien vorgeben sollte. Die authentische Materialität des Papiers und der Tinte (Originalität im Sinne historischer Echtheit) verbindet sich über die Handschrift des Künstlers mit einem Kunstwerk (Originalität im Sinne eines schöpferischen Aktes). Durch die materielle Dauer hätte sich das Stück Papier zudem bereits 1902 mit einer nennenswerten Objektgeschichte verknüpfen lassen, namentlich mit dem mehrfachen Wechsel des Eigentümers – Richard Wagner, Ludwig II., Prinzregent Luitpold.24 Eine solche Sichtweise auf das originale Objekt in seiner einzigartigen Historizität entspricht den an Begriffen der Authentizität und Aura orientierten Konzepten, die in den 1980er Jahren für die historischen Museen populär wurden: Museumsobjekte als materielle Zeitzeugen historischer Ereignisse.
Sammlungsschrank und Siegelsammlung In den historisch-antiquarischen Sammlungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Siegel gerne gesammelt. Freiherr von Aufseß brachte zur Gründung des Germanischen Nationalmuseums eine ansehnliche Siegelsammlung ein, die sich in der Frühzeit des Museums zu einem der Aushängeschilder der Anstalt entwickelte.25 Als Abdrücke waren sie – neben Münzen und Medaillen – bevorzugte Reproduktionsobjekte, von denen in den Werkstätten des Germanischen Nationalmuseums zahlreiche Abgüsse und Kopien angefertigt wurden.26 Ihr serielles Vorkommen begünstigte den Dublettentausch mit anderen sammelnden Institutionen, namentlich Archiven.27 Gleichzeitig kamen sie den Repertorisierungsbemühungen entgegen: zu den verschiedenen Spezialrepertorien, die als Grundlage eines zukünftig zu verwirklichenden Generalrepertoriums bald nach der Gründung in Angriff genommen wurden, zählte selbstverständlich auch ein Siegelrepertorium. Gleichzeitig forderten Siegel aber auch die Ordnungspraktiken des Germanischen Nationalmuseums heraus. Sie durchkreuzten die Aufgliederung seum. Vgl. die Textsammlung Stölzl 1988, z. B. den Beitrag von Stephan Waetzoldt: »Braucht ein historisches Museum Originale?« (S. 179-182) 23 | Vgl. Waetzoldt in: ebd., S. 179. 24 | Richard Wagner hatte die Partitur dem bayerischen König Ludwig II. 1868 zu dessen dreiundzwanzigsten Geburtstag feierlich übergeben und seitdem mit der schon seinerzeit populären Geschichte des Hauses Wittelsbach verknüpft. 25 | Anzeiger des germanischen Nationalmuseums, 1856, S. 204-206. 26 | Deneke/Kahsnitz 1978, S. 21. 27 | Veit 1978b, S. 522 Anm. 9.
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der Museumssammlung in Archiv, Bibliothek, Kunst- und Altertumssammlungen. Da sich Siegel häufig an den Urkunden befanden und das Museum genügend Achtung vor dieser historischen Verbindung hatte, um sie nicht zugunsten einer streng systematischen Ordnung voneinander zu trennen, war ein Teil der Siegel dem Archiv zugehörig.28 Die losen Siegel hingegen zählten zu den Altertumssammlungen – und nicht zu den Kunstsammlungen. Damit wurde eine Gewichtung zugunsten ihrer historischen und gegen ihre künstlerische Bedeutung vorgenommen. Die Verbindung der zwischen dem Archiv und den Altertumssammlungen verstreuten Siegel zu den in anderen deutschen Sammlungen vorhandenen Siegeln sollten die Repertorien herstellen. Und über die Zettelkästen des Generalrepertoriums sollten – über eingeschaltete Zettel – Siegel auch in ihren vielfältigen historischen Bezügen nachgewiesen werden: als Zeugnis historischer Personen und ihrer Taten, als Zeugnis des Rechtslebens, als Bildträger usw. Aufseß’ Nachfolger Essenwein hingegen ordnete die Siegel in ein kulturhistorisches Gesamtprogramm ein, das den kunsthistorischen Quellenwert privilegierte und die Sammlung der Rubrik »Plastik« zuschlug, weil die Siegel hier einen Zeitabschnitt repräsentieren konnten, zu dem es nur wenige andere Zeugnisse gab: »Vor Allem ist es der Entwicklungsgang der Plastik, den uns die Siegel selbst aus einer Zeit vor Augen führen und durch viele Repräsentanten erkennen lassen, aus der wir sonstige Denkmäler fast gar nicht oder nur in geringer Zahl haben.«29 Die Frage nach den musealen Praktiken der Erfassung, Aneignung, Ordnung und Präsentation von Siegeln scheint mir deshalb ein geeignetes Indiz für die jeweilige Verortung des Museums zwischen historischen, kulturhistorischen und kunsthistorischen Konzepten. An diese sphragistische Tradition des Germanischen Nationalmuseums knüpfte die kaiserliche Jubiläumsgabe an. Öffentliches Interesse erregte das Geschenk aber vor allem deshalb, weil es sich um eine Gabe des Kaisers handelte – und weil die Sammlung in einem auffälligen Sammlungsmöbel präsentiert wurde, der die Einzelelemente zu einem eindrucksvollen Gesamtobjekt machte.30 Die beiden Illustrationen, die die Gartenlaube druckte, lassen kein einziges individuelles Siegel erkennen; stattdessen rückt das Möbelstück 28 | Die Zuordnung zwischen den unterschiedlich verwahrten Siegeln sollten die Repertorienzettel herstellen. Im Umgang mit der erhaltenen historischen Substanz (z. B. die Verbindung von Urkunde und Siegel) zeigte sich das Germanische Nationalmuseum in der Regel äußerst sensibel (vgl. die Anweisungen an den Archivar: Germanisches Nationalmuseum 1856a, § 138). Gegenbeispiele stammen eher aus dem Bereich privater Sammler (Veit 1978b, S. 526f nennt das Beispiel eines Siegelsammlers, der diese im Original von den Urkunden riß). 29 | Essenwein 1870/1978, S. 1001; vgl. auch S. 1015 u. 1020. 30 | Der Schrank war während der Feierlichkeiten in der Art eines kultischen Objekts auf einer Estrade (das heißt: auf einer Erhöhung, die üblicherweise Thron, Altar oder Grabdenkmal aus dem Raumgefüge erhebt) an der Stirnseite einer neogotischen Festhalle aufgestellt, flankiert von zwei Büsten: links Prinzregent Luitpold von Bayern, rechts Kaiser Wilhelm II. – Der von der Dresdner »Kunst- & Luxus-Möbel-Fabrik« Friedrich hergestellte Schrank war wenige Tage vor dem Jubiläum als Eilfracht in einem Eisenbahnwaggon nach Nürnberg geschafft worden.
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Abb. 51: Sammlungsschrank der Siegelsammlung Otto Posse, Aufstellung beim Festakt, Juni 1902 Die Gartenlaube in den Vordergrund: einmal als geschlossener Schrank im Festsaal (Abb. 51), einmal mit weit geöffneten Flügeltüren und von jedem Bildhintergrund freigestellt als funktionales Objekt (Abb. 52). Auch in der offiziellen Bekanntmachung, die anscheinend den meisten Presseberichten zugrundegelegt wurde, sind die Beschreibungen des Behälters (Schrank) weitaus detaillierter als die des Behaltenen (Siegelsammlung).31 Nach kurzer sachlicher Beschreibung der Sammlung, des Sammlers und der vorgenommenen Ergänzungen tritt das Sammlungsmöbel in den Vordergrund. Der Schrank wird in seinen einzelnen Elementen und Funktionen detailliert beschrieben und hervorgehoben als »Prunkschrank«, der durch die Ähnlichkeit mit einem Altar einen »prächtigen Anblick« bot.32 Explizit wird auf eine Widmungsinschrift hingewiesen, die – ausgeführt in goldenen Buchstaben nach der historischen Vorlage des »Codex Aureus« von Echternach – Gewicht: 280 Kilogramm. Vgl. Eilfrachtbrief in: GNM-Akten K 41, Akten zum 50-jährigen Jubiläum. 31 | Die Presseberichte unterscheiden sich vor allem durch ihre jeweilige Länge. Die Fassung der Augsburger Abendzeitung vom 17.06.1902, S. 3 wurde als öffentliche Bekanntmachung ausgewiesen (diese Ausgabe findet sich in einer Sammlung von Zeitungen und Zeitungsausschnitten zum Jubiläum unter: GNM-Akten K 778). 32 | Augsburger Abendzeitung, 17.06.1902, S. 3. In: GNM-Akten K 778.
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Abb. 52: Sammlungsschrank der Siegelsammlung Otto Posse, geöffneter Zustand Die Gartenlaube das Geschenk mit dem Geschenkgeber und dem Geschenknehmer verknüpft: »Museo Germanico Wilhelmus II., Imperator, Imperatorum sigilla«.33 Die Verwendung des Lateinischen betont die Dauerhaftigkeit einer Verbindung Nationalmuseum – Wilhelm II. – Kaisertum; die goldenen Minuskeln rufen durch ihre Bezugnahme auf das Echternacher Evangelienbuch zudem einen historischen Geschenkakt auf, in dessen Tradition sich die gegenwärtige Schenkung stellt: Otto III. (der junge Kaiser, der auf Kaulbachs Fresko zu Karl dem Großen in die Gruft steigt) und Kaiserin Theophanu hatten der Abtei Echternach Ende des 10. Jahrhunderts einen Prachteinband geschenkt.34 Zunächst ohne festen Buchblock, wurde dieser um 1030 mit einem Evangeliar befüllt und verbunden. Durch seine reiche Ausstattung an Zierseiten, Miniaturen und Initialen zählt der »Codex Aureus« noch heute zu den bekanntesten Zeugnissen mittelalterlicher Buchkunst. Einband und Buchblock stehen dabei in einem sich wechselseitig verstärkenden Wirkzusammenhang: die Pracht des Einbandes erhebt die Handschrift, und deren prächtige Ausstattung veredelt die Umhüllung. Als materielle Einheit bezieht sich die Vereinigung von Einband und Buchblock auf ein Drittes: die Botschaft des Evangeliums. Im Gegensatz zu Kaiser Wilhelms II. Schrank mit den Kaisersiegeln ging dem 33 | Ebd. 34 | Zum »Codex Aureus« als historischer Stiftung: Hess 2002, S. 42.
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Evangeliar zwar seine Einfassung voraus, wurde sogar zum Anreiz der Herstellung und zum verpflichtenden Maßstab der Gestaltung – dennoch zeigt sich in beiden Fällen eine ähnliche Konstellation von Behälter und Behaltenem: im Inneren ein Werk der Gelehrsamkeit und Wissenschaft, das auf ein unsichtbares Ideal bezogen ist (Evangelium, Kaisertum), außen ein kunstvolles Gehäuse, mit dem sich der Name eines Mäzens in das Gefüge einschreibt. Das Germanische Nationalmuseum erwarb den »Codex Aureus« 1955 »unter beträchtlichen Anstrengungen« für 1,2 Millionen DM.35 Eine der ersten Aktionen nach der Musealisierung war die Aufteilung der Bucheinheit in zwei Museumsdinge: den kunstgewerblichen Gegenstand (Einband, Kunstgewerbe, Signatur KG 1138) und das Manuskript (Buchblock, Bibliothek, Signatur Hs. 156142). Damit ist erneut das Problem musealer Ordnungspraktiken berührt, das bereits im Kontext der Siegel berührt wurde: Das Museum tendiert dazu, die Gegenstände im Zuge ihrer Musealisierung einer verschachtelten Sammlungssystematik zu unterwerfen und Komplexe in einzelne Musealien aufzulösen. Was sich aber selbst als Schachtel, Behälter, Gehäuse für andere Objekte ausgibt (Vitrinen, Rahmen, Schränke), wird gewissermaßen zum blinden Fleck musealer Sammlungen und zum Problemobjekt, sobald es nicht mehr als zeitgemäßes (vorgeblich neutrales) Präsentationsmittel, sondern seinerseits als historisch bzw. veraltet wahrgenommen wird.36 Auch das Ensemble aus Schrank und Siegelsammlung entzog sich dieser Problematik letztlich nicht: die reproduzierten Siegel wurden unter Beibehaltung der durch die Schubkästen vorgegebenen Ordnung von dem Sammlungsmöbel getrennt. Diese Aufteilung des Gesamtobjekts erfolgte nach 1917/18 – also erst in der Zeit nach dem Ende des Kaiserreichs. Zuvor verbot es aber allein der Respekt vor dem Geschenkgeber, die gestiftete Einheit des Geschenks aufzulösen.
Verschränkung von Museum und Historiographie Zurück zum Stiftungsakt vom 16. Juni 1902. Während Kaiser Wilhelm II. im Festsaal des Germanischen Nationalmuseums die Schenkungsurkunde verliest, kommt es zu einer eigentümlichen Vervielfältigung. Indem der Kaiser seinen Namen auf der Urkunde verliest, ist er gleichzeitig körperlich anwesend, in Form einer Büste dargestellt, als gesprochener Name im Raum, als 35 | Bei der Erwerbung war das Museum auf öffentliche Zuschüsse angewiesen. Bundespräsident Heuss mahnte dabei an, das Germanische Nationalmuseum habe »den Akzent nicht auf die Unika, so wunderbar sie sein mögen, zu legen, sondern auf das qualitätsvoll Typische der Kulturgeschichte« (Brief an Museumsdirektor Grote, 16.02.1954, zitiert nach Burian 1978, S. 129f., Anm. 8). 36 | Künstler haben diesen blinden Fleck des Museums immer wieder durch Installationen und Projekte ins Bewußtsein gerufen, bei denen sich häufig Dopplungseffekte einstellen: ein Mikrokosmos (Box/Kasten/Vitrine) innerhalb eines Mikrokosmoses (Museum) (z. B. Joseph Cornell, Fred Wilson). Dazu: Putnam 2001, v. a. S. 14-19.
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geschriebener Name in Tinte auf dem Pergament, in goldenen Minuskeln auf dem Schrank, durch das rechtskräftige (originale) Siegel auf der Urkunde repräsentiert, durch das (nachgebildete) Siegel Teil des Geschenks. Und wenn man zudem mit Ernst Kantorowicz auf die zwei Körper des Königs verweist, die auch bei Wilhelm II. in den sterblichen Körper der Person und den dauerhaften Körper der öffentlichen Funktion auseinanderfallen, ergibt sich im Verbund mit den vielen hundert Siegel-Kopien verblichener deutscher Kaiser und Könige eine Vervielfältigung des Kaisers, die sich im Moment der Streuung dennoch in der Halle konzentriert.37 Der Kaiser füllt damit aber keinen beliebigen Raum, sondern einen Museumssaal, der in besonderer Weise für die Zukunft des Germanischen Nationalmuseums stand. Der Festsaal war Teil eines Neubaus (Südwestbau), der im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten eingeweiht und eröffnet wurde, und mit dem sich die Hoffnung verband, das in der Vergangenheit immer wieder virulente Raumproblem des Germanischen Nationalmuseums zumindest auf absehbare Zeit zu entschärfen. Die Eröffnung oder Grundsteinlegung eines neuen Bautraktes begegnet auch in früheren und späteren Jubiläumsfeiern als typisches Element, um die Erinnerungsveranstaltung durch eine Zukunftsperspektive als Schwellenereignis zu konstituieren.38 Die Festhalle, die bereits als »Waffensaal« bezeichnet wurde, obwohl während des Kaiserbesuchs höchstens ein Teil der dafür vorgesehenen Harnische und Waffen aufgestellt war, zeichnete sich durch ein neogotisches Dekorationsprogramm aus, das den Raum in intensive Beziehung zu den dafür vorgesehenen Ausstellungsstücken treten lassen sollte, um Objekte, Architektur und Dekoration zu einem kulturhistorischen Gesamtbild zu verbinden.39 75 Jahre später, im Rahmen eines weiteren Jubiläums und einer weiteren Festschrift, wurde die Beziehung zwischen der sakralen Raumwirkung und den profanen Sammelstücken als dissonant wahrgenommen, der Mißklang aber auf den »übersteigerten Helden- und Waffenkult« zurückgeführt, der sich während der Regierungszeit Wilhelms II. formiert habe.40 Der Ort der Feierlichkeiten (neogotischer Waffensaal) stellt sich somit als ein entsprechend vorbereitete Umgebung dar, um den Kaiser in seiner Präsenz und seinen multiplen Repräsentationen aufzunehmen. Indem das Museum gewissermaßen zum Behälter Wilhelms II. und des durch ihn verkörperten Kaisertums wird, kommt es zu einem Umschlag: Präsentiert sich der im Auf37 | Didi-Huberman 1999, S. 43 behandelt dieses Verhältnis von Streuung und Zentrierung im Zusammenhang mit der römischen Münzprägung: »Der Vorgang der Prägung – des Abdrucks von einem Stempel – zentralisiert und disseminiert die Macht Cäsars zugleich.« 38 | Jubiläen sind Ereignisse besonderer Zeitlichkeit. Sie organisieren die zeitliche Differenz zwischen Erinnerungsanlaß und Erinnerungszeitpunkt und ermöglichen durch den Rückblick auf einen Ursprung die Projektion von Entwicklungslinien in die Zukunft. Jubiläumszyklen strukturieren damit auch die Eigengeschichten von Institutionen (z. B. Museumshistoriographie), indem sie institutionelle Leitideen sichtbar machen (vgl. Müller 2004, v. a. S. 7). 39 | Bahns 1978b, S. 462f. 40 | Willers 1978, S. 847.
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trag Wilhelms verfertigte Schrank als Gehäuse einer historischen Sammlung (kaiserliches Mäzenatentum als Rahmen wissenschaftlicher Museumsarbeit), so ist innerhalb dieser Rahmung der Kaiser doch auch zugleich inneres Objekt – Behälter und Behaltenes zugleich. Das Museum als Gehäuse eines wilhelminischen Kaisertums und seiner historischen Legitimation, das durch Zuwendungen die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit am Germanischen Nationalmuseum garantiert? Der zeremonielle Akt der Übergabe, die Auswahl der Sammlungsstücke und die Beschaffenheit des sie umgebenden Sammlungskörpers sprechen dafür, das Geschenk des Kaisers als ein Modell für ein »Museum Germanicum« zu interpretieren, wie es sich der Hohenzollernkaiser für die Zukunft nur wünschen könnte: als staatstragendes Geschichtsmuseum – als Schrein einer deutschen Geschichte, die im Kaiserreich scheinbar ihre Vollendung gefunden hat.41 Da ist erstens der Schrank, der an die Kabinett- oder Kunstschränke des 16. bis 18. Jahrhunderts erinnert. Solche Schränke waren gleichsam Wunderkammern im Kleinen; bisweilen wurden sie im Gleichlaut mit dem Sammlungsraum auch einfach »Kabinett« genannt. Wilhelms Schrank kombiniert die für Kabinette typischen Schubkästen und Fächer (Sammlungsfunktion) mit großzügigen Präsentationsflächen (Ausstellungsfunktion).42 Insofern läßt sich eine Analogie herstellen zur Doppelfunktion des modernen Museums als Sammlungs- und Ausstellungsmedium. Versteht sich das Museum aber bereits selbst als Mikrokosmos, das auf einen außermusealen Makrokosmos verweist, wird dem Museum hier ein Mikrokosmos eingestellt, der auf das Museum verweist. Wie das Museum durch die Selektion der aufzunehmenden Gegenstände, die Vorgabe einer Systematik, die Anordnung der Schaustücke und Studienobjekte die Wahrnehmung der Dinge im Museum prägt, so auch der Schrank: beide drücken ihr Siegel auf und hinterlassen einen Eindruck. Und da sind zweitens die Nachbildungen der Siegel – nicht irgendwelcher Siegel, sondern der Siegel aller deutschen Kaiser und Könige, in chronologischer Reihung einsortiert. Die Entscheidung für ein klassisches Feld Historischer Hilfswissenschaften akzentuiert deutlich die Funktion des Germanischen Nationalmuseums als die eines historischen Museums (einige sahen diese durch den starken Zuwachs der Kunstsammlungen im späten 19. Jahrhundert gefährdet). Die Auswahl der Siegel (Kaiser und Könige) und ihre Ordnung (chronologisch) gibt der historischen Forschung am Germanischen 41 | Der amerikanische Historiker Rudy Koshar sieht den Versuch, die preußische Dynastie in die übergeordnete Geschichte des deutschen König- und Kaisertums einzuschreiben, als einen zentralen Aspekt der Erinnerungspolitik Wilhelms II. Es handelt sich dabei auch um die Umwandlung einer existierenden Erinnerungslandschaft in nationale Monumente (Koshar 2000, S. 24f.). 42 | Zur sammlungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Funktion von Schränken ist neben der Arbeit über Carl von Linnés Herbarschrank (Müller-Wille 2001) der Ausstellungskatalog über die Schränke der Tübinger Universität zu nennen: te Heesen/Demandt 2007. Zur Kulturgeschichte des Schranks darin: te Heesen 2007.
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Nationalmuseum eine bestimmte Richtung vor, fokussiert diese auf eine Geschichte der großen Männer, auf Haupt- und Staatsaktionen, die das Erscheinungsbild des wilhelminischen Universitätsfachs Geschichte prägten, auf die sich das Germanische Nationalmuseum aber niemals hatte beschränken wollen. Die Ergänzungen der Sammlung Otto Posses durch die Siegel der Hohenzollern schließlich ist die Vorführung einer staatstragenden Historiographie – ein Sammlungs- und Ausstellungsprogramm, das eine Zäsur überbrückt, an der Posse als Sammler durchaus festgehalten hatte (seine Sammlung reichte nur bis 1806). Der Schrank stellt die Ordnung der Siegel her und etabliert einen zwischen 800 und 1902 konstanten Bezugspunkt: das deutsche Kaisertum. Und auf dem Schrank, über den Schubkästen und Präsentationsflächen, markieren goldene Lettern den Punkt, auf den die Beschäftigung mit der Geschichte des Kaisertums sich zu beziehen hat: Wilhelmus II. Auf einer Schwelle der Museumsgeschichte, während seiner Fünfzigjahrfeier, als das Germanische Nationalmuseum gleichzeitig auf den Ursprung zurück- und in die Zukunft vorausblickt, stellt Kaiser Wilhelm II. dem Museum mit seiner Jubiläumsgabe das Modell eines zukünftigen Nationalmuseums ein, das sich kulturpolitisch in den Dienst des Kaiserreichs stellt und sich damit endgültig mit dem kleindeutschen Nationalstaat identifiziert und mit der universitären Geschichtswissenschaft versöhnt.43
Verschwinden eines unzeitgemäß gewordenen Geschenks Es ist anders gekommen: ein Schaukasten staatstragender Historiographie ist das Germanische Nationalmuseum niemals geworden. Spätestens nach 1918 war das Museum gezwungen, sich in einem veränderten politischen Umfeld zu positionieren. Nach Ende des Kaiserreichs blieb mit dem Schrank anscheinend nicht viel mehr als ein sperriger Sammlungsgegenstand zurück, mit dem das Museum – zumal Kulturzeugnisse des Historismus nicht in sein Sammelgebiet fielen – anscheinend nicht recht umzugehen wußte. Vor der Abdankung Wilhelms II. war der Schrank in der Kartäuserkirche ausgestellt worden.44 Wie auch Kaulbachs Fresko, dürfte er jedoch in einem Ausstellungssaal, der sich (abgesehen von wenigen Reminiszenzen an die Idee einer »Ehrenhalle der Kulturnation«) durch eine dichtgedrängte Ansammlung von Vitrinen zur Ausstellung kirchlicher Geräte auszeichnete, eher deplaziert gewirkt haben. Dort um 1917/18 zuletzt nachweisbar, und 1920 in dem niemals realisierten Programm zur Neuaufstellung der Sammlungen durch den scheidenden Direktor Bezold zumindest noch einmal erwähnt,45 spielte der Schrank im 43 | Burian 1978, S. 191-218 berührt in seiner Untersuchung zur Beziehung des Germanischen Nationalmuseums zur Nation in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) die Zeit zwischen 1902 und 1918 kaum. 44 | Deneke/Kahsnitz 1978, S. 60 (Bildunterschrift zu Abb. 55). 45 | Bezold 1920, S. 10.
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Konzept seines Nachfolgers Zimmermann (der erste Kunsthistoriker, der das Germanische Nationalmuseum leitete) offenbar keine Rolle mehr. Während die »Siegelsammlung O. Posse« zumindest als verborgener Bestand im Depot des Museums überdauert und damit das Schicksal des Bilderrepertoriums teilt, findet sich von dem Schrank, der die Sammlung einst umhauste, keine Spur mehr.46 Diese Bewegungen von Objekten, die mit Verschiebungen der ihnen zugeschriebenen Bedeutung korrespondieren und das jeweilige Selbstverständnis des Museums reflektieren, fallen in die Zeit der Museumsreformbewegung. Der Schrank und sein Inhalt verkörperten genau das »Übermaß von Historie«47, das nicht nur Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« kritisiert hatte, sondern Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein zentraler Ansatzpunkt für die Reform der Museen geworden war. In dieser Zeit wandte sich das Germanische Nationalmuseum von den klassischen Sammel- und Arbeitsgebieten der Historischen Hilfswissenschaft ab und den kunsthistorischen und volkskundlichen Gegenstandsbereichen und Ordnungskonzepten zu. Die Betonung des chronologisch-historischen Aspekts, die sich in der Kaiser-Siegelsammlung als Option für ein zukünftiges Nationalmuseum angedeutet hatte, wurde in der Aufstellung der Sammlungen im 20. Jahrhundert kaum repräsentiert;48 es dominierte teils die Ästhetik des Musentempels, teils die der Heimatstube. Auch diese Entwicklung des Germanischen Nationalmuseums hatte sich bereits auf der Fünfzigjahrfeier des Museums angedeutet. Im Obergeschoß des Südwestbaus, direkt über der Festhalle, in der Wilhelm II. sein Jubiläumsgeschenk übergab, war eine volkskundliche Abteilung eröffnet worden, deren besondere Neuerung in der Präsentation komplett zusammengestellter und begehbarer Bauernstuben lag.49 Nachdem die Schenkungsurkunde verlesen 46 | Eine Verlustanzeige des Schrankes ist jedoch nicht aktenkundig; der Museumsphotograph konnte sich erinnern, einen entsprechenden Schrank zu seiner Anfangszeit im Museum (1960er Jahre) in der Werkstatt gesehen zu haben (Auskunft Rainer Schoch, Leiter der Graphischen Sammlung, 06.10.2006). 47 | Nietzsche 1874/1985, S. 99. An dieser Stelle macht Nietzsche der Historie gerade zum Vorwurf, daß sie dem Menschen »durch Beseitigung einer umhüllenden Atmosphäre nicht mehr erlaubt, unhistorisch zu empfinden und zu handeln.« Damit bezieht sich Nietzsche auf die notwendigen Illusionen, die Mythen, die das historische Bewußtsein zerstört. – Sammlungsschränke hüllen jedoch die Exponate ein und geben damit eine bestimmte (hier: historische) Wahrnehmungsweise vor. 48 | Kahsnitz 1977, S. 168f. betont, daß eine solche Ausrichtung auch nicht dem eher auf »bürgerliche Altertümer« konzentrierten Sammlungsbestand entsprochen hätte: »Wohl deshalb war es für die Idee des Pantheons, das die Größe des deutschen Geistes hätte sichtbar machen können, oder als Ruhmeshalle der deutschen Geschichte wenig geeignet und blieb trotz aller Ehrenhallen, die es in seinen vielfältigen Gebäuden barg, in stärkerem Maße bloße Sammlung.« 49 | Zur Einrichtung der Bauernstuben im Germanischen Nationalmuseum: Deneke 1978, S. 924–929.
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war, wurde mit den anderen fürstlichen Gästen auch der Kaiser hinaufgeführt. Er zeigte sich sehr zufrieden mit den kulissenartigen Installationen bäuerlicher Lebenswelt, war bester Laune und »zu kräftigen Scherzen« aufgelegt.50 Der Schrank mit den Kaisersiegeln war – zunächst nur für den Moment – vergessen.
5.2 M USEALISIERUNG – D IE D YNAMIK MUSEALER R ÜCKSTÄNDE Als Hermann Lübbe das Museum Anfang der 1980er Jahre zum Sinnbild des zeitgenössischen Geschichtsbewußtseins erklärte und dafür den Begriff der Musealisierungskultur prägte, schloß er implizit an eine Tradition europäischer Museumskritik an, die »das Museale« als Inbegriff künstlerischer und gesellschaftlicher Stagnation diskreditiert hatte.51 In bilderstürmerischer Agitation hatte Filippo Tommaso Marinetti in seinem »Manifest des Futurismus« (1909) dazu aufgerufen, die verstaubten Räume bürgerlicher Museen zu fluten, um die Kunst vergangener Zeit dem Fluß des Werdens und Vergehens auszusetzen, vor dem sie künstlich abgeschottet worden war: »Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! ... Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen.«52 Und Paul Valéry beschrieb Museen in seinem Essay »Das Problem der Museen« (1934) als künstliche Orte, an denen jede Kunstbetrachtung zwangsläufig zu einem oberflächlichen Ritual erstarre. Indem das Museum unvergleichliche Kunstwerke auf engstem Raum zusammen zwinge, schaffe es eine unüberbrückbare Distanz zu den Werken, die für andere Orte und andere Rezeptionssituationen geschaffen seien. »Der Mensch von heute«, so Valéry resignierend, sei längst nicht mehr in der Lage, »diese immer voller werdenden Speicher zu nutzen«.53 Abseits der »lebensverströmenden Bewegtheit der Straße« sah der Kulturpessimist in Museen nurmehr verwirrende Orte der Betäubung und Trauer, der Verlorenheit und Verzweiflung angesichts eines unwiderruflich vergangenen Lebens der Kunst. An diese Skepsis anschließend, gab Theodor Adorno dem Museumsdiskurs deutscher Kulturphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinen Einleitungssätzen zum Essay »Valéry Proust Museum« (1955) den Ton vor: »Der Ausdruck ›museal‹ hat im Deutschen unfreundliche Farbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen der Betrachter nicht mehr lebendig sich verhält und die selber absterben. Sie werden mehr aus historischer Rücksicht aufbewahrt als aus gegenwärtigem Bedürfnis. Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation.« 54 50 | GNM-Akten K 778 (Augsburger Abendzeitung, 17.06.1902, S. 3). 51 | Lübbe 1982. 52 | Marinetti 1909. 53 | Valéry 1934/1993, S. 171f. 54 | Adorno 1953/1998, S. 181.
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Museumskritik dieser Prägung sieht das Museum als einen Ort außerhalb der zeitlichen und kulturellen Dynamik der Gegenwart. Daß aber ein durchaus lebhaftes Interesse der Gegenwart an der besonderen kulturellen Tradition besteht, vergangene kulturelle Traditionen in Form ihrer materiellen Rückstände zu erhalten, ist der Ausgangspunkt von Hermann Lübbes Musealisierungsthese. Beginnend mit seinem Vortrag »Der Fortschritt und das Museum« (1982) ging es Lübbe deshalb darum, das gegenwärtige Interesse und Vergnügen an historischen Gegenständen nicht als Gegensatz, sondern als eine spezifische Form der Modernisierung herauszuarbeiten.55 Gleichwohl ließ seine Beschreibung von Musealisierung als Kompensationsphänomen die kulturpessimistische Semantik anklingen, die das Museale mit Stillstand und Stagnation assoziiert: Musealisierung als fundamentale Trennscheide zwischen Bewegung und Stasis, als abschließender Akt, der in nostalgischer Absicht das in Vergessenheit Geratende endgültig zur Vergangenheit (v)erklärt. Lübbes kulturphilosophisches Konzept von Musealisierung überblendet einen museumspraktischen Begriff, der spätestens seit der Museumsreformbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr (nur) für die materielle Aneignung von Gegenständen durch das Museum steht, sondern auch für das komplexe Geflecht von Praktiken (Selektion, Registrierung, Inventarisierung, Katalogisierung), durch das bestimmte Gebrauchsweisen der Objekte im Museum erst möglich werden (Erhaltung, Forschung, Ausstellung).56 Die funktionale Vielfalt des Museums ist deshalb in der Musealisierungsdebatte auf einen einzelnen Aspekt verengt worden: die dauerhafte Erhaltung materieller Überreste. In dieser Zuspitzung auf die konservierende Funktion wird das Museum aber zu einem Ort, der Phänomene verrückter Zeitlichkeit produziert, indem bereits veraltete Gegenstände in einem »Zustand erstarrten Verfalls«57 erhalten werden – als anachronistische Einschlüsse im Fluß der Zeit. Auch wenn ein wesentlicher Reiz des Museums auf der Möglichkeit anachronistischer Irritationen beruht, wird eine darauf reduzierte Sichtweise der komplexen Zeitstruktur des Museums nicht gerecht. In den spezifischen Umgangsweisen mit seinen Objekten ist das Museum auch ein Ort, der auf soziale, kulturelle und mediale Veränderungen reagiert, sich anpaßt und damit den Blick auf die scheinbar so unveränderlichen Museumsobjekte immer wieder neu ausrichtet. Das Museum umgibt die Objekte mit einem materiellen und medialen Ensemble, das die Dinge als Bedeutungsträger erst zur Erscheinung bringt. Die Gestelle, Vitrinen, Beschriftungstafeln, Beleuchtungsapparaturen, Computerstationen, Wandbespannungen musealer Räume, die ausgetauscht und neu arrangiert werden können, überführen damit auch die Wahrnehmung der Objekte in eine komplexe Temporalstruktur, durch die sie im Museum eben nicht in einer Sphäre der Stagnation zur Ruhe kommen, sondern beweglich bleiben für die Veränderungen in der Zeit. 55 | Zuletzt: Lübbe 2004. 56 | Waidacher 1999, S. 187ff. 57 | Ebd, S. 386.
K APITEL 5.2 | M USEALISIERUNG
Das »Zeitphänomen Musealisierung«58 rekurriert also auf einer Vorstellung des Museums, die bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts in die Kritik geraten und durch die Museumsreformbewegung in gewisser Weise dynamisiert worden war.
Raumgefüge und Bedeutungshierarchie »Wir wollen kein Museum, das dasteht und wartet, sondern ein Institut, das thätig in die künstlerische Erziehung unserer Bevölkerung eingreift.«59 Bereits in seiner Antrittsrede als Direktor der Hamburger Kunsthalle hatte Alfred Lichtwark 1887 ein Programm zur Veränderung musealer Ziele und Praktiken angedeutet, das sich scharf von einem älteren Museumsmodell absetzte, das nach langer Erfolgsgeschichte nun von einer immer größeren Zahl von Entscheidungsträgern in den Museen als rückständig empfunden wurde: das Modell des Sammelkastens und Staubeckens beweglich gewordener Kulturgüter. Auf einem Festvortrag im Rahmen der Jubiläumsfeier, die das Germanische Nationalmuseum im Jahr 1902 anläßlich seines 50-jährigen Bestehens veranstalte, sprach Lichtwark auch über den neuen Bildungsanspruch des Museums, der sich nicht mehr vorrangig auf das Historische und Wissenschaftliche stützen, sondern das Ästhetische und Künstlerische in den Vordergrund stellen sollte. Lichtwark stellte die traditionelle Verkoppelung von musealer Sammlung und wissenschaftlicher Forschung als historisch bedingte Verbindung zur Disposition, die durch eine Engführung der Ordnung der Gegenstände (im Museum) und der Ordnung des Wissens (in den Wissenschaften) die spezifischen Handlungsspielräume musealer Sammlungs- und Ausstellungspraktiken einschränke. Die »weiten Hallen des Thatsachenspeichers, dessen Ausdehnung kein Einzelner zu überschauen vermag«60 seien für die wissenschaftliche Erkenntnis unersetzlich gewesen (und seien es im Zusammenspiel mit der universitären Forschung noch immer). Weil sie sich aber nicht an das Auge der breiten Bevölkerung richteten, sieht Lichtwark sie nicht als geeignet an, die Bildungsziele des Museums darauf aufzubauen. Die im Museum dicht nebeneinander gereihten Fragmente erschienen »dem Laien als toter Stoff, nur an anderer Stelle aufs Neue dem Verstauben ausgesetzt«.61 Museen sollten nicht länger auf den fachkundigen Kenner warten, der den flächig vor ihm ausgebreiteten Sammlungsbestand für seine wissenschaftlichen Interessen zu nutzen weiß; sie sollten stattdessen selbst den angesammelten Traditionsbestand aktiv erschließen, um dem Laien das daran besonders Wertvolle und Bedeutende vor Augen zu führen. 58 | So der Titel eines Sammelbandes, der zur Hochzeit des Musealisierungsdiskurses alle wesentlichen Akteure versammelte (Zacharias 1990). 59 | Zitiert nach: Joachimides 2001, S. 104. 60 | Lichtwark 1902, S. 145. 61 | Ebd.
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Ein Jahr später, im September 1903, fand in Mannheim die Konferenz »Das Museum als Volksbildungsstätte« statt. Die diffusen Bemühungen einzelner Museumsreformer ließen dort erstmals die Dynamik einer gerichteten Reformbewegung erkennen.62 Dabei wurde insbesondere das Verhältnis von Museumsraum und Exponat thematisiert. Alfred Lichtwark, der gleich zweimal an das Rednerpult trat und zur Funktion der Museen als Bildungsstätten sowie zur Frage der Museumsbauten sprach, machte deutlich, daß man »nicht große, sondern gute Sammlungen« bräuchte – und Gebäude, die nicht auf äußere Repräsentation, sondern auf die innere Funktion des Museums gerichtet seien, um den »Besitz durch geschmackvolle Aufstellung zur Wirkung« zu bringen.63 Verabschiedet werden sollte in Mannheim die Epoche wahlloser Akkumulation – eine museale Anstauphase, in der die randvoll gefüllten Staubecken der Museen allmählich zu Staub-Ecken geworden waren. Stattdessen wurde der Ruf nach Umleitungen, Filtern und vorgeordneten Sperren laut, die dem Museum nur noch einen ausgesuchten Teil der materiellen Überreste zufließen lassen sollten. Als wichtigstes Selektionskriterium wurde dabei (sowohl für Kunst- als auch für Naturkundemuseen) die ästhetische Qualität der Sammlungsstücke hervorgehoben, weil der ästhetischen Anschauung eine besondere erzieherische Wirkung zugesprochen wurde. Im Gegensatz zur überkommenen horizontalen Wissensordnung sollten Museen (gerade wenn sie sich als Volksbildungsstätten verstanden) nun eine vertikale Bedeutungshierarchie zur Anschauung bringen. An dieser Richtschnur wurden nicht nur die möglichen Zugänge gemessen, sondern auch die bereits im Staubecken versammelten Bestände neu bewertet. Die Differenzierung musealer Raumtypen – die topologische Implementierung dieser Bedeutungshierarchie – war die wahrscheinlich folgenreichste Neuerung der Museumsreform. In Deutschland vollzog sich die Ablösung des homogenen Raumkonzepts (Stauraum als Schauraum) durch eine vertikale Struktur heterogener Stauräume bereits bis 1914; mit der Internationalisierung des Museumswesens seit den 1930er Jahren wurde diese Raumordnung zum globalen Modell, das die Sammlungs- und Ausstellungspraxis vieler Museen bis heute prägt.64 Der erste Schritt war die bereits in Mannheim geforderte Aufteilung der Bestände in Studien- und Schausammlungen sowie eine darauf abgestimmte Neuordnung des zur Verfügung stehenden Raumes.65 Die Zahl der Schauräume war zu reduzieren, die dafür ausgewählten Exponate nicht zu gedrängt aufzustellen, damit diese Raum und Zeit erhielten, beim ästhetisch interessierten Besucher einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Die Aufstellung in den Studiensälen sollte einem wissenschaftlich vorgebilde62 | Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen 1904. 63 | Lichtwark 1904, S. 118f. 64 | Joachimides 2001, S. 239ff. 65 | Die bereits um 1870 im Germanischen Nationalmuseum erfolgte Aufgliederung in Schauund Studiensammlungen trennte lediglich die Originale und Nachbildungen (Schausammlungen) von den Abbildungen (Studiensammlung). Anfang des 20. Jahrhunderts sollten in jeder Abteilung nur die besten Objekte in der Schausammlung verbleiben.
K APITEL 5.2 | M USEALISIERUNG
ten Besucher hingegen weiterhin die Möglichkeit bieten, Vergleiche zwischen möglichst vielen Exemplaren eines Objekttyps anzustellen, die auf engstem Raum nach fachwissenschaftlichen Kriterien angeordnet wurden.66 Ein wechselnder Ausstellungsbetrieb erlaubte Umschichtungen zwischen Schau- und Studienräumen, um dem Besucher einen größeren Teil der Sammlung vorführen zu können, ohne ihn gleichzeitig durch die Masse der Exponate zu überfordern. Bauten und Einrichtungen, die auf diese neuen Grundsätze abgestimmt waren, sollten die Rhythmik des Museumsbesuchs neu takten. In einem System von Kanälen dynamischer Bewegung und Becken kontemplativen Stillstands sollte sich der Blick des Betrachters in die ausgestellten Dinge versenken können.67 Auf ästhetisch-affektiver Ebene sollten dadurch genau die kulturellen Werte vermittelt werden, auf denen die Selektion der Schaustücke für den Bedeutungsraum Museum beruhte. In Ausformung und Modifikation der in den Museen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffenen topologischen Struktur lassen sich heute vier räumliche Dispositive zur Aufbewahrung und Anordnung von Sammlungsgut differenzieren: Ausstellungshalle, Schausammlung, Studiensammlung und Depot. Bezogen auf die öffentliche Sichtbarkeit und Zugänglichkeit der darin aufgestellten Bestände bilden diese Räume eine vertikale Schichtung, bezogen auf die Masse der darin verwahrten Objekte eine Pyramidalstruktur (mit dem Depot als breiter Basis und der Ausstellungshalle als Spitze).
Sammlungsbewegungen und Stillstand Zwischen den Nutzräumen des Museums finden Bewegungen statt: zwischen Studiensammlung und Schausammlung, vom Depot in die Ausstellungshalle oder umgekehrt. Solche Sammlungsbewegungen können konservatorisch begründet sein, etwa wenn lichtempfindliche Objekte (wie Photographien und Graphiken) nur kurzfristig an die Oberfläche treten und dann wieder in Studiensammlung oder Depot verschwinden. Vielfach bringen die Bewegungen 66 | Nach Kuntz 1996, S. 117f. sei die im Diskurs um 1900 beschworene Chance einer neuen musealen »Volksbildung« jedoch nicht eingelöst wurden. Stattdessen habe die Teilung dazu verführt, »den Vergleich den Wissenschaftlern, das lebensnahe Panorama dagegen dem Volk zu überlassen«. 67 | Lichtwark 1904, S. 119: So hatte Lichtwark kritisiert, daß nach dem Modell des monumentalen Speichers, der eine repräsentative Fülle ausstellte, letztlich alle Sammlungsräume zu Korridoren verkommen waren, die der Besucher durcheilte ohne in ihnen zu verweilen. Für die neue Museumsarchitektur forderte er eine strikte Trennung von Korridor und Schausaal. Über Korridore, die von Exponaten freizuhalten waren, sollten die Besucher den Schauräumen zugeleitet werden und dort zum Stillstand kommen, um mit den besonders bedeutenden Kunstwerken in Ruhe in Kontakt zu treten: »Wer aus dem Zuge der Besucher, den der Korridor leitet, in einen Saal tritt, ist aus dem Strom, der ihn mitzieht, erlöst, seine Bewegungen verlangsamen sich, er fühlt sich nicht mehr fortgerissen. Wenn er sich vor ein Kunstwerk stellt, fühlt er nichts mehr von der Flut, die über die Korridore strömt.«
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jedoch veränderte Konstellationen zwischen den dauerhaft im Museum abgelegten Gegenständen und den ihnen mit der Zeit zu- und abgesprochenen Bedeutungen zum Ausdruck. Aufgrund dieses dynamischen Wechselspiels des Deponierens und Exponierens hat Gottfried Korff Museen nicht als Speicher, sondern als Generatoren verstanden wissen wollen. Gegen eine im Zuge der Musealisierungsdebatten erneut zutage tretende Engführung des Museums auf Formen des Bewahrens betonte Korff die Doppelnatur des Museums als Ort des Sammelns und des Ausstellens: »Museumsarbeit besteht – so gesehen – in zwei unterschiedlichen Modi: einmal im Modus der Potentialität (als umfassendes Depot der Sachkultur, als Speicher angesammelter und bewahrter Realien) und zum anderen im Modus der Aktualität (als der von einer jeweiligen Position, von einer jeweiligen Gegenwart aus neu dimensionierte und neu perspektivierte Bestand an verfügbar gehaltenem Sinn).« 68
Durch diese Doppelfunktion mobilisierten diese Bewegungen aus den Magazinen in die Ausstellungsräume etwas an und mit den Dingen, was Korff mit einem Begriff Aby Warburgs als »mnemische Energie« bezeichnet. Einen ähnlichen Zusammenhang von Bewegung, Zuschreibung und Erinnerung hat der Literaturhistoriker Stephen Greenblatt in seinem Essay »Resonanz und Staunen« als »kulturelle Energie« der Dinge beschrieben. Greenblatt widmete die Anfangsseiten seines Essays einem runden Priesterhut, den er als Exponat in einer Glasvitrine in der Bibliothek des Christ Church College in Oxford betrachtete. Ein Hinweisschild identifizierte das Exponat als einen Kardinalshut, der – wie das Schild weiter verriet – seit dem 16. Jahrhundert mehrfach den Besitzer wechselte und erst im 19. Jahrhundert für das College erworben wurde, das sich seinem Gründer historisch verbunden fühlte. Über die merkwürdige Wanderschaft des Hutes durch die Zeit räsonierend, stellt Greenblatt fest, »daß kulturelle Artefakte nicht stillstehen, sondern in der Zeit existieren und daß sie mit persönlichen und institutionellen Konflikten, Verhandlungen und Aneignungen verknüpft sind.«69 Davon ausgehend wendet sich Greenblatt – in einer klassisch literaturwissenschaftlich geprägten Aneignungsweise – einer zeitgenössischen Biographie zu, die es ihm erlaubt, den Hut als »Element innerhalb der komplexen symbolischen Entwicklung« zu sehen. Der Hut war als Requisit theatralischer Rituale in unterschiedliche Praktiken der Machtrepräsentation und Verspottung eingebunden, bevor er schließlich abermals in einer Zone der Schaustellung, dem Schaukasten der Bibliothek, in ein neues Feld sozialer Praxis eintrat. Das »Charisma«, das dem Hut auf dem Kopf Kardinal Wolseys einst angehaftet habe, sei mit der Zeit entleert und gesteigert, auf Dauer aber erschöpft worden, bevor es im Schaukasten des Oxforder College auf dem Niveau eines kuriosen Prestigeobjekts zur Stagnation gebracht worden sei. »Und so strahlt er durch seine Glasvitrine 68 | Korff 2002, S. 170. 69 | Greenblatt 1995, S. 7.
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noch heute ein winziges Quentchen kultureller Energie aus.«70 Aber ist die kulturelle Energie, das in der Vitrine gebrochene, geheimnisvoll verwandelte und zur Stagnation gebrachte Charisma wirklich etwas, was den Dingen (hier: dem Hut) anhaftet – oder ist diese Wahrnehmung nicht vielmehr an die Rahmung des Huts durch die Glasvitrine geknüpft, die ihn zum Exponat macht und an das komplexe mediale Geflecht, das diese Konstellation mit der Texttafel, dem Bibliotheksraum, den dort vorhandenen Büchern und der Atmosphäre des Oxforder College verbindet? Peter Geimer hat (auch mit Blick auf Greenblatt) der geheimnisvollen Faszination gerade der alltäglich erscheinenden Museumsdinge nachgespürt und (über diesen hinausgehend) versucht, den »Mechanismus ihrer Magie zu beschreiben«.71 Die von ihm beschriebenen Hüte, Jacketts, Schreibfedern, zerbrochene Vasen, Gehstöcke, Kutschen, Wasserhähne, die sich in ihrer sichtbaren Materialität in nichts von vergleichbaren Objekten unterscheiden, die nicht bewahrt und ausgestellt werden, hätten solange einen besonderen Status, der sie aus dieser Masse unscheinbaren und namenlosen Materials heraushebt, solange ihnen eine geschichtliche Zeugenschaft zugeschrieben werde. Diese historische Zeugenschaft sei allerdings kein dauerhaft stabiler Zustand, keine Eigenschaft der Dinge – sondern eine »fragile Konstellation«, die Dinge und ihre Zuschreibungen miteinander in Beziehung hält. Geimer bezeichnet diese fragile und wandelbare Konstellation, die sich um die Dinge ansammelt, allmählich wieder verglüht oder abrupt ausgeknipst werden kann, im Rückgriff auf Walter Benjamin als Aura: »Die Aura [...] ist weder in den Dingen noch liegt sie in der Summe der wechselnden Zuschreibungen. Ihre Sphäre ist eher ein Vorstellungsraum, der zwischen dem Gegenstand und seinen Zuschreibungen vermittelt.«72
Die Wiederentdeckung der musealen Rückstände Wenn das Museum eine vermittelnde Instanz zwischen den Dingen und ihren kulturellen Zuschreibungen ist, dann müssen die kulturellen Bewegungen, wie sie Greenblatt beschreibt, im Museum nicht zum Stillstand kommen. Als Rückhalteraum auch für diejenigen Objekte, an denen das gegenwärtige Interesse gesunken ist, fördert das Museum damit zirkuläre Prozesse des Entdeckens, Vergessens und Wiedererscheinens von Dingen als Träger kultureller Bedeutung. Auch die ›Rückstände‹ im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums, auf die diese Arbeit immer wieder gestoßen ist – das Bilderrepertorium, die Abgüsse, die Fälschungen und Sammlungsschränke – können von der Dynamik musealer Bewegungen wieder erfaßt werden und in neuen Perspektiven als bedeutungsvolle Exponate wiederentdeckt werden. Vielleicht liegt die 70 | Ebd., S. 8. 71 | Geimer 2005, S. 115. 72 | Ebd., S. 116.
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zukünftige Bedeutung dieser Reproduktionen, Photographien, alten Kapseln und Karteikästen gerade darin, daß sie als Fundament und Negation der Konzepte verstanden werden können, durch die sich die Institution Museum an der Wende zum 20. Jahrhundert in Abgrenzung zu den älteren Museumskonzepten des 19. Jahrhunderts neu definierte. Wenn diese Rückstände, die zwischenzeitlich als ungeliebte Inventare verborgen und teilweise verdrängt waren, heute als Objekte der Museumsgeschichte wiederentdeckt werden, rücken sie als Ausstellungsobjekte genau in die Bedeutungsräume ein, die sich durch Abgrenzung zum Reproduktiven und Medialen als Refugien der Originalität und Authentizität stilisiert haben. Darin liegt ein kritisch-reflexives Potential. Wie nach dem Modell des Kunstwerks und seiner Aura der Einzigartigkeit in den letzten 25 Jahren auch das historische Objekt und der Alltagsgegenstand als authentisches Original und Träger einer individuellen Überlieferungsgeschichte (Dinggeschichte) entdeckt worden ist,73 kann man im Museum auch Reproduktionen wie Originale betrachten, auf denen sich vom Moment ihrer Herstellung an individuelle Zeitspuren angelagert haben. Als prädestinierte Objekte einer musealen Selbstreflexion kann man solche Rückstände aber auch zum Anlaß nehmen, um die musealen und medialen Konstellationen zu thematisieren und damit die Konstruktionsbedingungen auf den Prüfstand zu stellen, durch die Konzepte wie Originalität, Authentizität und Objektivität ihre Überzeugungskraft erst entfalten.
5.3 V ERBORGENE B ILDRÄUME – M USEUMSPHOTOGRAPHIE UND S ELBSTREFLEXION In der paradoxen Denkfigur einer unvermittelten Vermittlung überschneiden sich Konzepte und Praktiken von Museum und Photographie. Der Photohistoriker Michel Frizot hat in der scheinbaren Transparenz des Mediums Photographie auch eine »praktische Philosophie« erkannt, die in der Ablösung der frühen Papiernegative durch die Glasplatte als transparentem Bildträger nach 1850 wurzelt und das photographische Bild zum Symbol eines unmittelbaren Zugangs zur Wirklichkeit machte.74 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war diese unmittelbare Wiedergabe aber eher noch die Vision einer photographischen Praxis, die für diesen Eindruck auf nachträgliche Hilfsmittel wie z. B. Retuschen angewiesen blieb. Die Geschichte der Photographie im Germanischen Nationalmuseum hat auch gezeigt, daß die besondere Transparenz des Mediums nicht in jedem Fall als der bestmögliche 73 | Die Übertragung des Aura-Konzept auf das historische Relikt: Korff 1984, S. 90–92; kritisch dazu: Hoffmann 2000, S. 35–37: »Wenn der Aura-Begriff auch nie ausschließlich das Kunstwerk meinte, wie Gottfried Korff betont, so ist er ohne das Kunstwerk nicht verständlich.« (S. 37). 74 | Frizot 1998a, S. 95.
K APITEL 5.3 | V ERBORGENE B ILDRÄUME
Blick auf das Original wahrgenommen wurde, daß darin zudem immer wieder einzelne Trübungen und Verzerrungen auffielen und daß schließlich die Transparenz selbst als ein Trugbild angesehen wurde. Weil sich diese Kritik aber in erster Linie auf die verborgenen manuellen Eingriffe in den technischen Prozeß bezog, dessen Ergebnisse einen falschen Schein technisch verbürgter Transparenz erzeugte, blieb damit die besondere Glaubwürdigkeit des technischen Bildes unangetastet. Diesen Zuschreibungen verliehen die medientechnischen Verbesserungen Ende des 19. Jahrhunderts neue Überzeugungskraft. Die Wiedergabe des Farbspektrums wurde verbessert, Momentaufnahmen und Bewegungsstudien entstanden, das Meßbild bot eine sichere Berechnungsgrundlage photographischer Aufnahmen (Photogrammetrie) und die Erfindung des photomechanischen Rasterdrucks (Autotypie) ließ die medienkritischen Zweifel hinter einer zuvor unbekannten Masse von technisch erzeugten und vervielfältigten Bildern verschwinden.75 Lorraine Daston und Peter Galison haben in ihren Analysen medizinischer Atlanten die Wandlungen des historischen Konzepts von Originalität verfolgt und dabei festgestellt, daß sich die Photographie bis etwa 1900 als Garant und Maßstab von Objektivität und Neutralität etabliert hatte, an dem andere Medientechniken (etwa auch Gipsabgüsse) gemessen wurden.76 Die archäologische Methode der Kopienkritik, bei der alle manuellen Kopien als mehr oder weniger gelungene Abweichungen von diesem Ideal exakter Reproduktion verstanden wurden,77 ist dafür ebenso ein Indiz wie Droysens Gleichsetzung von Photographie und Richtigkeit.78 Zumindest in der Alltagswahrnehmung wurde dieser Status der Photographie – ohne daß jede einzelne Photographie dies einzulösen hätte – als Modell einer neutralen Wiedergabe etabliert, die »den Blick weder trübt noch aspektiert«.79 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten sich im Zuge der Museumsreform in den nun großzügiger eingerichteten Schauräumen neue Formen der Inszenierung. Hier zeigen sich Entsprechungen einer »praktischen Philosophie« der Transparenz, Neutralität und Objektivität: die Vollglasvitrine,80 die weiße Wand des Ausstellungsraums81 und, wie ich abschließend zeigen möchte, die Museumsphotographie.
75 | Zur Bedeutung der Autotypie: Peters 2007. 76 | Daston/Galison 2002, S. 78: »Um 1900 übte die Fotografie als das Symbol von neutraler, extrem genauer Wahrheit eine mächtige ideologische Kraft aus. Auch wenn die Leute es mittlerweile schon besser hätten wissen müssen, haftete der Fotografie ein unauslöschlicher Schein von Ehrlichkeit an.« 77 | Siehe oben, Kapitel 3.4. 78 | Siehe oben, Kapitel 4.5. 79 | Wortmann 2003, S. 14. 80 | Putnam 2001, S. 14-16, 36 u. 101, Karwatzki/John 1994. 81 | O’Doherty 1982.
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Wechselwirkungen von Museumsphotographie und Bilderrepertorium Die Neubegründung eines eigenen Ateliers für Museumsphotographie fällt im Germanischen Nationalmuseum nicht von ungefähr in die Zeit der 1920er Jahre – also in die Phase, in der die Forderungen der Museumsreform nach einer stärkeren Betonung der Ästhetik der Exponate auch in Nürnberg umgesetzt wurden.82 Auch anderenorts wurden gerade zwischen 1910 und 1930 photographische Ateliers in den Museen eingerichtet; in manchen Fällen (wie in Nürnberg oder auch im Bristish Museum) wurde dabei an eine verschüttete Tradition aus der Mitte des 19. Jahrhunderts angeknüpft. Ähnlich der Funktion von Photographie im frühen Kunstgewerbemuseum ab den 1850er Jahren, konnte die Photographie auch in der Reformzeit der Museen dazu beitragen, die nun als Basis der Museumsarbeit aufgewertete Entscheidung über die Selektion musealer Objekte zu legitimieren, indem sie den besonderen ästhetischen Wert der Schaustücke photographisch vermittelte. Wie die nun zum Symbol des Museums werdende Vitrine den darin gezeigten Gegenstand durch die Rahmung der Betrachtung und die Herstellung von Distanz in ein ästhetisches Objekt verwandelt (der von Svetlana Alpers beschriebene »museum effect«) und durch das transparente Material Glas dazu tendiert, bei der Betrachtung ausgeblendet zu werden, so versetzt auch die Museumsphotographie das Objekt in einen Rahmen intensiver Betrachtung. Ab 1921 wurden die Neuerwerbungen des Germanischen Nationalmuseums nicht mehr in der schriftlichen Form einer gedruckten Liste, sondern als illustrierter Bildband veröffentlicht.83 Vor dem Hintergrund der neuen technischen Möglichkeiten photomechanischer Bildreproduktionen hatte das Museum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits die Zusammenarbeit mit externen Photographen intensiviert, um Reproduktionsvorlagen für seine Veröffentlichungen zu erhalten.84 Spätestens ab 1920 stand auch im Germanischen Nationalmuseum wieder ein eigenes Atelier für Museumsphotographie zur Verfügung. Der ehemalige Infanteriesergeant Konrad Hofmann, der zunächst als Aufseher des Museums eingestellt und anscheinend als ›Oberpräparator‹ für die Photographie angelernt worden war, arbeite bis 1940 teilweise zu Dokumentationszwecken, vor allem aber für die immer reichlicher illustrierten Publikationen des Museums.85 Die Einrichtung eines eigenen Photoateliers garantiert eine stärkere Kontrolle sowohl der Zirkulation der Abbildungen als auch der Darstellungsweise. 82 | Zur Museumsreform in Nürnberg: Kahsnitz 1978, S. 746–749. 83 | Germanisches Nationalmuseum 1925. 84 | Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts arbeitet das Germanische Nationalmuseum vor allem mit dem Photographen Christoph Müller zusammen. Vgl. GNM-Akten K 770, Faszikel »Müller«. 1906 bot Müller 700 Photographien von Sammlungsobjekten aus dem Germanischen Nationalmuseum an und legte Musterbücher für Nachbestellungen im Museum aus. 85 | Vgl. GNM-Akten K. 287c, Nr. 35 (Personalakte Konrad Hofmann).
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Die Museumsreformbewegung fällt auch mit dem Beginn der Musealisierung von Photographie als Kunst zusammen. Durch die Amateurphotographie und den von Künstlern getragenen Piktoralismus, der sich durch eine Annäherung des Mediums an die Formsprache der Malerei auszeichnete, hatte das Medium als Kunstphotographie (in Abgrenzung zur Berufsphotographie) ein eigenes Stilbewußtsein entwickelt.86 Auch wenn diese Photographien nicht ins Sammlungsprofil des Germanischen Nationalmuseums fielen, wirkte die damit verbundene Differenzierung musealer Gebrauchsweisen auch auf die Sichtweise des Mediums im Museum zurück. Künstlerisches Selbstbewußtsein und dokumentarische Transparenz (die von den Berufsphotographen des 19. Jahrhunderts noch nicht als binäre Opposition aufgefaßt wurde) schienen zwei völlig gegensätzliche Modi photographischer Praktiken zu bezeichnen.87 Zwischen 1897 und 1914 reflektierten die beiden Aufsätze von Heinrich Wölfflin über die Frage »Wie man Skulpturen photographieren soll« eine Verunsicherung der Kunstgeschichte gegenüber einem Medium, dem plötzlich ein interpretatorischer Eigenwert zugesprochen wurde.88 Die Gegenstrategie war ein festes Regelwerk »richtiger Perspektiven«, nach denen sich der Photograph richten sollte. Dieser Versuch, die Medialität der Photographie durch feste Regeln zu beherrschen, gilt auch in besonderer Weise für die Museumsphotographie. Die Institutionalisierung der Museumsphotographie, die sich auch im Germanischen Nationalmuseum an den kunsthistorisch definierten Leitlinien photographischer Kunstreproduktion orientierte, wirkte auch auf die Gebrauchsweise und Wahrnehmung des Bilderrepertoriums zurück. Oberpräparator Hofmann war neben seiner Tätigkeit als Photograph auch für die Beschriftung der Objekte des Bilderrepertoriums zuständig. Nachdem das Bilderrepertorium zu Anfang des 20. Jahrhunderts in der Art eines kunsthistorischen Apparats nach Künstlern und Schulen sowie nach einer kunstgewerblichen Materialtypologie neu sortiert worden war, stieg mit der Wiederaufnahme eines eigenen Photoateliers die Zahl der Photographien von Objekten aus eigenem Bestand deutlich an. Viele dieser Abzüge weisen Schnittmarken, Retuschen und Eingriffe in die Bildstruktur auf, die sie als Reste einer auf die photomechanische Publikation gerichteten Bildproduktion kennzeichnen. Die Funktion des Bilderrepertoriums war unklar geworden; es fungierte zunehmend als Auffangbecken der Abfallprodukte des photographischen Ateliers. Hier deutet sich ein Übergang an: von der Photographie als Sammlungsobjekt (zweiter Klasse) hin zum Gebrauch als Hilfsmittel musealer Arbeit. Gemessen am Maßstab des administrativen Gebrauchswerts erklärte deshalb ein leitender Beamter das Bilderrepertorium im Jahr 1938 für überholt, indem er den logistischen Vorteil des potentiell reproduzierbaren Negativs (im Photoarchiv) gegenüber dem Abzug (im Bilderrepertorium) 86 | Mit der Amateurphotographie und ihrer Orientierung an der künstlerischen Unschärfe beginnt die Musealisierung der Photographie als Kunst (dazu: Philipp 1994). 87 | Gröning 2001b, S. 17. 88 | Wölfflin 1997a; Wölfflin 1997b.
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hervorhob: »So wird die Abteilung der Abbildungen und Photographien von Kunstwerken und kulturgeschichtlichen Gegenständen zusehends mehr überholt durch einen rasch anwachsenden Vorrat an photographischen Platten, von denen ja jederzeit nach Bedürfnis Abzüge gemacht werden können.«89 Das Bilderrepertorium erschien aber nicht nur in administrativer Hinsicht defizitär, sondern auch als ästhetisch überholt und in seiner Zusammenstellung von graphischen und photographischen Abbildungen als nicht mehr zeitgemäß. Auf den Inhalt der Kapseln traf vermutlich in noch verstärkter Weise ein Urteil zu, wie es Heinrich Wölfflin über die Abbildungssammlung seines Lehrers Jacob Burckhardt fällte, als er dieses in den 1940er Jahren rückblickend als »schwaches und heterogenes Material« bezeichnete.90 Die Photographien des Bilderrepertoriums entsprachen in der häufig konventionellen Herangehensweise der Berufsphotographie, die auf ungewöhnliche Perspektiven und Effekte bei der Wiedergabe der Objekte meist verzichtete, zwar dem dokumentarischen Gestus der Museumsphotographie – doch zeigen sich in ihnen noch die Spuren eines Prozesses, in dem um das Arrangement der Objekte, um die Wahl geeigneter Blickwinkel und um die gebührende Nachbereitung photographischer Sach- und Reproduktionsaufnahmen noch gerungen wurde.91 Überholt worden war das Bilderrepertorium aber auch von den photographisch illustrierten Buchpublikationen, die durch die Möglichkeit photomechanischer Vervielfältigung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher geworden waren. Der Bestand von 50.000 Abbildungen, der 1884 in den Kapseln des Bilderrepertoriums organisiert und bis um 1940 vielleicht auf 100.000 Stück angewachsen war, stand in keiner Relation mehr zu der Masse des Bildmaterials, die Mitte des 20. Jahrhunderts in den illustrierten Katalogen einer durchschnittlichen Kunstbibliothek leicht mehr als eine Million photographisch hergestellter Bilder umfassen konnte. Aus medienhistorischer Sicht werden die Photographien des Bilderrepertoriums aber gerade durch diese Differenz interessant. Einmal, indem an ih89 | Höhn 1938, S. 24. 90 | Amato 2000, S. 59. Nach Amato war Burckhardt bemüht, Reproduktionen möglichst kostengünstig zu erwerben und setzte damit – ähnlich der Sammlungsstrategie Essenweins – eher auf Masse als auf Qualität. Neben Photographien sammelte er weiter Reproduktionsstiche. Das Bildmaterial habe ihm lediglich als Gedächtnisstütze gedient: »Hinter der Abbildung sah der Kunstkenner immer das eigentliche Werk mit all seinen künstlerischen Werten, die durch die Qualität einer Reproduktion nicht beeinträchtigt werden konnten.« (S. 57). Wenn Amato damit schließt, daß dieses Sammelsurium für die Hörer der Vorlesungen eher unbefriedigend gewesen wäre, gibt sie damit allerdings nur die retrospektive Einschätzung Heinrich Wölfflins (aus dem Jahr 1944) wieder. 91 | Photographen wie Franz Stoedtner und Richard Hamann stehen hingegen für einen kunsthistorischen geschulten Blick des Photographen und für die enge Verflechtung von Kunstgeschichte und Kunstreproduktion (Haffner 2007, S. 121–124). Auch im Bestand des Bilderrepertoriums, das sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Richtung eines kunsthistorischen Lehrapparats entwickelte, sind verschiedene Aufnahmen von Stoedtner und Hamann (Foto Marburg) vorhanden.
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nen die Materialität von Bildern (ihr Status als kulturelle Artefakte) deutlicher erkennbar wird als in der scheinbar ubiquitären photomechanisch vervielfältigten Illustration. Zum anderen, weil in ihnen der Bildraum, der die Objekte in der Photographie umgibt, noch nicht neutralisiert und zum Verschwinden gebracht worden ist.
Camera Obscured Der kanadische Kurator Vid Ingelevics zeigte 2003 in der Wanderausstellung »Camera Obscured« eine Auswahl von historischen Museumsphotographien, die er in den Photoarchiven großer Museen aufgespürt hatte. In verborgenen Bildräumen von Kunst- und Naturkundemuseen in Europa und den Vereinigten Staaten war er auf ein weitgehend unbekanntes visuelles Erbe der Museen gestoßen, das aufgrund fehlenden Interesses und mangelnder Pflege allmählich zu verschwinden drohte, weil für diese musealen Gebrauchsgüter nicht der besondere konservatorische Schutz galt, unter den die Museen ihre Sammlungsgegenstände üblicherweise stellen. Während sich am Germanischen Nationalmuseum zeigen läßt, wie die Photoarchive (mit eigenen Negativen) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die älteren Bildarchive (mit gesammeltem Abbildungsmaterial) verdrängten, erscheint inzwischen auch ein Großteil der in den heutigen Photoarchiven lagernden Aufnahmen als in technischer und ästhetischer Hinsicht überholt und veraltet. Insbesondere die dokumentarischen Aufnahmen, die bis etwa 1960 mit Großformatkameras entstanden, wurden, wie Ingelevics feststellte, in einem prekären Zustand der Funktions- und Bedeutungslosigkeit in den letzten Jahrzehnten weder betrachtet noch beachtet. In Passepartout und Rahmen an die weiße Wand eines Ausstellungsraums gehängt, lassen einzelne dieser institutionellen Museumsphotographien retrospektiv einen ästhetischen Wert erkennen, der in den übervollen Archivräumen verborgen geblieben war. In der Aneignung durch Ingelevics, als Exponate seiner Ausstellung »Camera Obscured«, entfalten einige dieser in dokumentarischer Absicht verfertigter Aufnahmen ein spezifisches Potential zur Bespiegelung des Verhältnisses von Museum und Photographie, das den Kunstphotographien eines Thomas Struth kaum nachsteht.92 Ingelevics agiert als Kurator und Selektionskünstler; so zeigt »Camera Obscured« keinen repräsentativen Querschnitt historischer Museumsphotographie, sondern ganz bewußt jene prekären Einblicke in das, was einem Museumsbesucher gemeinhin verborgen bleiben soll. Er wählt gerade nicht die typischen Photographien der Objektdokumentation, sondern die (eher als Begleiterscheinung der museumsphotographischen Praxis entstandene) Dokumentationen der Arbeitsweise und Praktiken des Museums aus. Ingelevics versteht die Photoarchive gerade durch diese Perspektiven als eine Art »Museum der Museen«93, das 92 | Struth 1993. 93 | Ingelevics 2004, S. 2.
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»den Blick des Museums auf sich selbst in seinen Verschiebungen über die Zeit repräsentiert«.94 Sichtbar werden Transporte von Exponaten, Präparations- und Restaurierungsarbeiten, die Bemühungen um lebensechte Anordnungen im Diorama, kurzum: die handgreiflichen Dimensionen jener Praktiken, mit denen Museen die Deutungen und Bedeutungen ihrer Sammlungen konstruieren. Wenn das Museum dabei im 20. Jahrhundert lange den Eindruck erwecken wollte, ein neutraler Vermittler zwischen dem Besucher und dem Objekt zu sein und die Museumsphotographie zu dieser Wahrnehmung beitrug, indem sie die Museumsobjekte im Bild von jeglichem Kontext isolierte, geben Ingelvics’ Museumsphotographien den Blick auf die Konstruktionsbedingungen von Neutralität und Objektivität preis. Eine der gezeigten Museumsphotographien ist für die Fragestellung dieser Arbeit besonders interessant, weil sich darin zwei Aspekte überlagern: die photographische Dokumentation der Museumsarbeit und die photographische Dokumentation als Museumsarbeit. Reflektieren die meisten Exponate von »Camera Obscured« die Medialität des Museums im Spiegel des Mediums Photographie, rückt hier einmal die Medialität der Photographie selbst ins Blickfeld. Die 1924 entstandene Aufnahme aus dem Photoatelier des Metropolitan Museum of Art gewährt einen seltenen Blick hinter die Kulissen der Museumsphotographie; sichtbar wird die Arbeit an einem Stil betonter Sachlichkeit, der darauf angelegt ist, als Stil unsichtbar zu bleiben (Abb. 53). In fast klinischer Präzision führen die Photographen in ihren weißen Kitteln offenbar genau reglementierte Verrichtungen aus, um den Raum, der ein Objekt im Museum zwangsläufig umgibt, im Bild zum Verschwinden zu bringen.95 Der Mitarbeiter links arrangiert ein helles Tuch oder einen Karton als Hintergrund für die Aufnahme einer Vase, die auf einem beweglichen Gestell im Raum positioniert ist; der Mitarbeiter rechts reguliert eine Vorrichtung für eine Großbildkamera, die diese senkrecht auf einen flächigen Sammlungsgegenstand ausrichtet, der auf eine helle Unterlage gelegt ist. Die Begrenzungen des szenischen Raums sind nicht exakt zu bestimmen. Unter einer offen sichtbaren Oberlichtkonstruktion ragen die Auswölbungen einer darunter gelegenen Kuppelhalle in das Atelier, das sich in der Photographie als flexibler Funktionsraum ohne repräsentative Ansprüche präsentiert. Auf Rollen gelagerte Gestelle, bewegliche Scheinwerfer und Kameratische werden ins Bild gesetzt, quer durch den Raum laufende Kabel werden sichtbar und ein halb aufgezogener Vorhang, der nichts verdeckt, sondern lediglich als Element möglicher Raumgestaltung zur Verfügung steht. Das Atelier des Metropolitan Museums präsentiert sich hier als ein Dispositiv aus beweglichen Elementen, das der konkreten Aufnahmesituation angepaßt werden kann, aber im Ergebnis immer darauf zielt, ein Objekt visuell von 94 | Ebd., S. 1 95 | Links im Bild Museumsphotograph Edward Milla, der das Atelier im Metropolitan Museum von 1920-1953 leitete. Vid Ingelevics hat Milla inzwischen ein eigenes Ausstellungsprojekt gewidmet. Dazu: Ingelevics 2005.
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Abb. 53: Edward Milla (Studio), Photostudio im Metropolitan Museum of Art, 1924 Metropolitan Museum of Art möglichst allen kontextuellen Bezügen freizustellen – auch vom Kontext eines realen Museumsraums. Die hier sichtbar werdenden Praktiken von Museumsphotographie waren darauf angelegt, möglichst alle Spuren einer konkreten Verortung aus dem Bildraum zu tilgen. Die Konstruktion eines unverstellten Blicks auf das Objekt erforderte somit die Ausschaltung aller Zwischeninstanzen – und dies schloß die Zwischeninstanz des Museums (mit seinen Wänden, Podesten, Sockeln und Vitrinen) und auch des photographischen Ateliers ein. Museumsphotographie verbirgt also selbst jene räumliche Konstellation des Atelierraums, in der die so transparent erscheinende photographische Objektwelt der Museen durch serielle Gestaltungsprozesse allererst fabriziert wird. Die Aufnahmen erscheinen als neutrale Dokumentation der Objekte, weil die im Atelierraum entstandenen Photographien in ihrem bildnerischen Arrangement nur wenig variieren und damit die Aufmerksamkeit ganz auf die visuellen Differenzen zwischen den photographierten Objekten fokussieren.
Der stumpfe Blick Der Ausgangspunkt dieser Arbeit waren die Bilder von Charles Thurston Thompson, mit denen sich Photographie und Museum um 1850 als Spiegelbilder in einer Konstellation begegnet waren, die gegenseitige Reflexionen
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Abb. 54: Charles Thurston Thompson, Venetian Mirror, 1853 Victoria & Albert-Museum, London ermöglicht hatten (Abb. 54). Nachdem es in der zweiten Jahrhunderthälfte zu verschiedenen Berührungen im epistemologischen Feld des Museums gekommen war, hatten sich die Inszenierungspraktiken des Ausstellens und Photographierens von Museumsobjekten um 1930 auf ein gemeinsames Ziel hin angenähert. Museum und Museumsphotographien schienen nunmehr als wechselseitige Garanten von Transparenz und Neutralität miteinander verschränkt. Wollte das Museum einen scheinbar unverstellten Blick auf die Dinge ermöglichen, indem es seinen Charakter als Rahmen und Medium dieser Betrachtung verbarg, so vermittelte die Museumsphotographie diese Art des Wahrnehmens durch die Inszenierung eines unverstellten Blicks im Atelierraum. Die sachlich erscheinende, raum- und kontextlose Ästhetik dieser Aufnahmen wirkte wiederum auf die Gestaltung musealer Räume zurück. Alexis Joachimides hat das »moderne Museumsparadigma«, das sich ab etwa 1930 als internationaler Standard der Ausstellungsästhetik durchsetzte, als »Atelierraumsituation« bezeichnet. Der Ausstellungsraum orientierte sich damit am Ideal eines neutralisierten Wahrnehmungsraums von Kunst, der die künstlerische Autonomie ausgesuchter Schaustücke unterstrich, indem sie
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durch weite Leerräume und weiße Wände voneinander isoliert wurden.96 Als Atelierraum nimmt diese Gestaltung aber auch auf einen idealen Zeitpunkt Bezug: das Kunstwerk soll im Museum so erscheinen wie zu dem Zeitpunkt, als es der Künstler schuf. Originalität und Authentizität; Zeit und Raum verschränken sich in dieser scheinbar neutralen Raumgestaltung. Da die Darstellung ohne jeden erkennbaren Rahmen und vor weißem Hintergrund erfolgt, entsprechen diese Räume auch den Sehgewohnheiten eines Publikums, das Kunst inzwischen vornehmlich durch Bildbände rezipierte.97 Atelierraum, Galeriesaal und Bildband eint eine einheitliche und damit normativ wirkende Ästhetik. In dieser Konstellation waren Photographie und Museum für das gegenseitige Potential, die Medialität des anderen im Spiegelbild in den Blick zu nehmen, zwischenzeitlich blind geworden (Abb. 55). Seit Brian O’Doherty mit seinen Essay zum White Cube den Mythos des neutralen Galerie- und Museumsraumes dekonstruiert und dessen konstituierende Funktion bei der Kunstrezeption betont hat,98 eröffnet sich der Blick auch auf die Verwicklung der Photographie in die Genese der uns noch immer präsenten Museumsästhetik des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund neuer Ansätze der Museumstheorie und -praxis sowie durch die notwendige Neupositionierung der Photographie in einem durch die digitalen Medien veränderten Medienensemble wird das Verhältnis von Museum und Photographie zum Gegenstand historischer Reflexionen. Als dokumentarisches Bild und kulturelles Artefakt spiegeln die historisch veränderlichen Wahrnehmungs- und Gebrauchsweisen des Mediums Photographie auch das jeweilige Selbstverständnis der Institution Museum.99 Sie können zum Ansatzpunkt einer Mediengeschichte des Museums werden.
96 | Joachimides 2001 sieht die allmähliche Durchsetzung der »Atelierraumsituation« nach dem Ersten Weltkrieg als eine zweite Welle der Museumsreformbewegung (v. a. S. 255). 97 | Ullrich 2009, S. 57f. 98 | O’Doherty 1982. 99 | Diese Betrachtungsweisen entwickelt Karin Becker aus ihrer Untersuchung des Bildarchivs des Nordischen Museums in Stockholm (Becker 1997, S. 236–238).
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Abb. 55: Konrad Hoffmann (Photograph), Spiegel, Aufnahme nach 1920 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net Oktober 2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst Februar 2012, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
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Kultur- und Medientheorie Clemens Apprich, Felix Stalder (Hg.) Vergessene Zukunft Radikale Netzkulturen in Europa Januar 2012, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1906-5
Rainer C. Becker Blackbox Computer? Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine Dezember 2011, ca. 394 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1555-5
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Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen September 2011, 494 Seiten, kart., 250 Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-728-8
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Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) März 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7
Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf (Hg.) Paradestück Militärmusik Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik Januar 2012, ca. 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1655-2
Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Dezember 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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